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ANFÄNGE
1533 - 1541
Der 1. Band der Calvin-Studienausgabe präsentiert die weit
über ihre Zeit hinaus wirksam gewordenen programmati-
schen Schriften, die die Reformation in Genf auf den Weg
gebracht haben. Sie werden im lateinischen bzw. französi-
schen Original - zum Teil erstmals - in einer neu erarbeite-
ten deutschen Übersetzung vorgestellt.
z- Auf diese Weise erhalten die Leserinnen und Leser ein sehr
genaues, facettenreiches Bild der Lebensgeschichte des
~
jungen Calvin und zugleich einen Einblick in die Probleme
der gegenwärtigen Forschung.
<C Die Auswahl beginnt mit der berühmten Pariser Rektorats-
u rede (Nikolaus Cop), die Calvin zur Flucht aus Frankreich
nötigte. Das Widmungsschreiben des 27jährigen Flüchtlings
an König Franz 1., das allen Ausgaben der »Institutio« vor-
angestellt ist - ein Glanzstück humanistischer Beredtsam-
keit - , gibt einen bewegenden Einblick in die Situation der
verfolgten Protestanten und zugleich eine Probe der ge-
schliffenen Argumentation Calvins. Dessen Anfange als
Reformator werden durch die Vorrede zur französischen
Olivetanbibel, die Kirchenartikel an den Genfer Magistrat,
den ältesten reformierten Bekenntnisentwurf und die Kon-
troverse mit Petrus Caroli dokumentiert.
neukirchener
CALVIN-STUDIENAUSGABE
Herausgegeben von
Eberhard Busch, Alasdair Heron, Christian Link,
Peter Opitz, Ernst Saxer,
Hans Scholl
CALVIN-STUDIENAUSGABE
Band 1
Reformatorische Anfänge (1533-1541)
Teilband 1/1
Neukirchener
© 1994
Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH
Neukirchen-Vluyn
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Hartmut Namislow
Satz und Druckvorlage: Gottfried W. Locher
Gesamtherstellung: Breklumer Druckerei Manfred Siegel KG
Printed in Germany
ISBN 3-7887-1483-2
Calvin, Jean:
Calvin-Studienausgabe / hrsg. von Eberhard Busch ... -
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener
NE: Busch, Eberhard [Hrsg.]; Calvin, Jean: [Sammlung]
Daß Gott durch uns verherrlicht sein will, hat man im Zeitalter der
Reformation allenthalben gewußt. Niemand hat diesen Satz jedoch in
einer Weise aus jener inneren Notwendigkeit vertreten, mit der die
Wahrheit, die gestern und heute dieselbe ist, das eigene Jahrhundert
herausfordert, und darum mit einer Streitbarkeit, die sich jedem Wider-
stand zu stellen bereit ist, wie Calvin. Seine Theologie steht - schon
infolge des kulturell und politisch sehr anders bestimmten Raumes, in
dem sie zu wirken hatte - vor Aufgaben und Herausforderungen, die
mit dem Aufbruch der deutschen Reformation nicht ohne weiteres
vergleichbar sind. Wer Eigenart und Gestalt, vor allem aber die beweg-
te Geschichte des außerdeutschen Protestantismus verstehen will, wird
bei Calvin an dessen Wurzeln geführt.
Die Studienausgabe, deren erster Band wir hier vorlegen, will diese
Wurzeln im Blick auf die gegenwärtigen Aufgaben der Ökumene neu
freizulegen helfen. Sie will den Umgang mit wichtigen Schriften Cal-
vins erleichtern und nicht zuletzt durch die den Texten vorangestellten
historischen Einleitungen die Ergebnisse der Forschung zusammentra-
gen und weiterführen.
Die Schwierigkeiten, die sich jedem in den Weg legen, der sich einge-
hender mit Calvin beschäftigen will, liegen indessen nicht nur darin
begründet, daß uns eine zuverlässige kritische Gesamtausgabe heute
noch fehlt. Sie melden sich meist schon an einer weit vordergründigeren
Stelle: Sowohl das klasische, an Seneca und Cicero geschulte Latein,
in dem Calvin mit Vorliebe zu schreiben pflegte, als auch das zeitge-
nössische Französisch stehen uns längst nicht mehr in einem Maße zu
Gebote, als daß wir den pointenreichen Stil und die geschliffene theo-
logische Argumentation ohne Mühe am Original verfolgen und mit-
vollziehen könnten. Wer Calvin heute zum Sprechen bringen will, muß
ihn übersetzen. Diese Aufgabe haben wir uns in dankbarem Rückgriff
auf vereinzelte ältere Vorlagen - im angelsächsischen Sprachraum ist
man hier offenbar in einer sehr viel günstigeren Lage - an erster Stelle
zum Ziel gesetzt. Einer sinnentsprechenden Wiedergabe haben wir
dabei im Zweifelsfalle den Vorzug vor einer wortgetreuen »Verdeut-
schung« gegeben.
Bei der Auswahl der Schriften kam es uns darauf an, all die Themenbe-
reiche zu dokumentieren, die für den Theologen Calvin, für das Wer-
den und Wachstum der Genfer Reformation und für das Verständnis
der von Calvin geprägten Kirchen in besonderer Weise charakteristisch
und wichtig sind. Daß die Institutio in dieser Ausgabe nicht erscheint,
meinten wir angesichts der vorhandenen, in den letzten Jahren noch
einmal nachgedruckten Editionen von Bernhard Spiess (Fassung von
1536) und Otto Weber (Fassung von 1559) verantworten zu können.
So steht uns folgender Aufriß des Ganzen vor Augen: In den ersten
VI Vorwort
Christian Link
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Siehe dazu H. SCHOLL, Glaube und Spiritualität der Hugenotten, GBDHV Bd.
19, Heft 1, Sickte 1986, Iff.
2 Zu Faber Stapulensis siehe G. BEDOUELLE, Lefevre d'Etaples et I'Intelligence
des Ecritures, THR CUI, Geneve 1976. Zu Gerard Roussel siehe CH. SCHMIDT,
Gerard Roussel - Predicateur de la reine Marguerite de Navarre, Strasbourg
1845, Reprint, Geneve 1970.
3 Siehe H. DÖRRlES, Calvin und Lefevre, ZKG 44, 1925, 544ff.
2 Pariser Rektoratsrede vom J. November J533 - Einleitung
Franz I weilte vom März bis Ende des Jahres 1533 nicht in Paris. Die
Geschäfte am Hof in Paris führte unterdessen Margareta von Navarra.
Sowohl die Integristen wie die humanistischen Reformer in Paris witter-
ten in dieser Situation Morgenluft. Der Schüler Lefivres, Gerard Rous-
sei, Hofprediger der Margareta von Navarra, predigte in diesen
Monaten, besonders im Spätsommer 1533, mit Rückenstärkung seiner
Brotherrin unter großem Zulauf in reformerischem Geiste auf den
Kanzeln von Paris. Die scholastischen Integristen ihrerseits blieben
nicht müßig. Sie benutzen die Abwesenheit des Königs, um seiner
gelehrten Schwester und Humanistenfreundin einen Streich zu verset-
zen: Ihr Buch »Le miroir de I 'iime pecheresse« wird von der Universi-
tät zensiert. Sie selber und ihr reformgesinnter Hofprediger Roussel
werden in einem Schultheater verulkt und ziemlich offen angegriffen.
Der Hof veranlaßt gerichtliche Untersuchungen. Calvin, eben von
Orleans nach Paris umgezogen, berichtet in einem Brief, wahrschein-
lich in der zweiten Hälfte Oktober, seinem Freund Franr;ois Daniel
auch zu Händen anderer Bekannter in Orleans ausführlich über diese
Geschehnisse. 4
Zu den reformerisch-humanistischen Kräften gehörte in diesem turbu-
lenten Jahr in Paris auch der designierte Rektor der Universität, der
Mediziner Nicolas Cop, einer der vier Söhne des alten Leibarztes
Franz I und ein Freund des Erasmus, Guillaume COp5. Nach altem
Brauch hatte der Rektor am Allerheiligentag, gewissermaßen zum Se-
mesterbeginn, eine Rede zu halten. Sie fand vor versammelter Univer-
sität und kirchlichen Würdeträgern am 1. November 1533 wahrschein-
lich in der Kirche der Franziskaner statt. Nicolaus Cop hielt die Rede
in Form einer Predigt über die Seligpreisungen, nach Mt 5, dem
Evangelientext des Tages. Die Rede spricht deutlich mitten in die
Spannungen der universitären und kirchlichen Kreise hinein.
In diesen letzten Jahren und Monaten tritt auch Johannes Calvin ans
Licht der Öffentlichkeit. Die ältesten Quellen, einige wenige Briefe an
Schul- und Studienfreunde, gehen bis ins Jahr 1530 zurück. 1532 er-
scheint sein Kommentar zu der Seneca-Schrijt »De Clementia«, mit
dem er sich als Humanist in der Auseinandersetzung mit Erasmus
einen Namen machen wollte. Nach seinen Studien in Paris, Bourges
und Orleans erscheint Calvin im September 1533 wiederum in Paris
zur Abrundung seiner schon recht weit gediehenen humanistischen
Bildung. Eine alte Tradition, sie ist in der zweiten Fassung der Vita
Calvins von Theodor Beza 1575 erstmals greifbar,6 will, daß Calvin
der Verfasser oder wenigstens Mitverfasser der Rektoratsrede war.
Die ältesten Calvinbiograjien, von den engsten Mitarbeitern Calvins
kurz nach dessen Tod 1564 verfaßt, 7 wissen davon nichts.
4 CO 10/2, 27-30.
5 Zu Guillaume Cop, gest. 1532, siehe Biographisches Lexikon der hervorragen-
den Ärzte aller Zeiten, hg. von A. HIRSCH, 2. Aufl, Bd. 2, 102, Berlin/Wien
1930, 102.
6 CO 21, 123: suggessit eam (i.e. concionem) Calvinus.
7 Beza: CO 21, 21-50; Colladon: CO 21,51-118.
Pariser Rektoratsrede vom 1. November 1533 - Einleitung 3
In der Zeit zwischen 1564 und 1575 haben die Nachlaßverwalter Cal-
vins in dessen Papieren ein Manuskript entdeckt, das wahrscheinlich
Colladon, einer der Freunde und engsten Mitarbeiter Calvins in Genf
als Rede über die Seligpreisungen Mt 5, 3ff identifizierte, aber für des-
sen Entstehung fälschlich das Jahr 1534 angab. Es handelte sich um
die am I. November 1533 gehaltene Pariser Rektoratsrede. Heute exi-
stiert in Calvins Handschrift, recht sorgfältig geschrieben, nur noch
der Eingang der Rede, ca. ein Viertel des Textes.
Der Text galt dann bis ins 19. Jahrhundert hinein als verloren. Er
wurde in der Bibliotheque Publique et Universitaire de Geneve unter
der Bezeichnung ms fr. 145 no. 63 wiederentdeckt, von A. L. Herminjard
erstmals publiziert in »Correspondance des reformateurs dans les pays
de languefram;aise«, t. 3, 418-420, Genfund Paris 1870. Die Heraus-
geber des CR haben das Fragment in der Folge in CO 9, 873-876
abgedruckt. 8
Endlich fanden die Herausgeber der CO im Archiv der Thomaskirche
in Straßburg in einem Codex unter der Bezeichnung »Varia ad hist.
reform.« Vol. IX. fol. 334 eine vollständige Abschrift der Rede. Das
Dokument trägt den Titel »In illud Math V. Beati pauperes spiritu«.
Das Dossier weist auf Bucers Nachlaß hin, und der fragliche Text
trägt, offensichtlich von der Hand des Bucerschen Sekretärs Konrad
Hubert geschrieben, die Bemerkung: »Est concio nescio cuius«. Die
Straßburger Herausgeber der CO reihten diesen erfreulichen Fund
sofort in den in Bearbeitung befindlichen Band CO 10/2 (Calvin-
Korrespondenz), S. 30-36 ein. 9 Das Genfer Fragment (G) ist sorgfälti-
ger geschrieben als der offensichtlich eilig geschriebene vollständige
Straßburger Text (S). Zudem haben sich bei der Wiedergabe von S in
CO einige Druckfehler eingeschlichen. Die beiden Texte G und S
weisen aber auch sonst viele Verschiedenheiten auf
Peter Barth hat 1925 in den OS I, 4-10 erstmals eine Textausgabe mit
einer genauen Feststellung aller Varianten publiziert. Einen entschei-
denden Schritt in der Erforschung der Rede brachte anläßlich des
Calvin-Jubiläums 1964 ein Aufsatz von Jean Rott, indem er S eindeutig
als Handschrift von Nicolas Cop nachweisen konnte. 10 Jean Rott bietet
daselbst auch eine weitere Verbesserung der Textgestalt unter genauer
Berücksichtigung der Varianten.
3. Der Inhalt, die Vorlagen und die Wirkung der concio academica
August Lang hat vor bald 100 Jahren in einem sehr verdienstvollen
Aufsatz die direkten Quellen zu einigen Hauptgedanken der concio
Cops entdeckt und nachgewiesen. 12 Die Einleitung der Rektoratsrede,
die unter dem Leitbegriff »philosophia christiana« steht, weist deutli-
che Anklänge an die Vorreden des Erasmus zum Neuen Testament auf
In dessen 3. Auflage von 1524 steht eine der Vorreden unter dem Titel
»Erasmi paraclesis, id est adhortatio ad christianae philosophiae
studium«13. A. Lang stellt die Parallelen synoptisch nebeneinanderJ4
Es handelt sich z. T um wörtliche oder fast wörtliche Übernahmen,
z. T um mehr oder weniger genaue inhaltliche Anklänge: Die
philosophia christiana ist die größte und wichtigste Sache, sie über-
trifft alle Künste und Wissenschaften. Zum Heile des Menschen hat sie
Gott selbst durch seine Menschwerdung den Menschen übermittelt. Sie
dient nicht zuletzt dazu, den menschlichen Willen auf die rechte Bahn
zu leiten. Also ein ganz ins Christliche eingetauchter Humanismus
prägt den Eingang der concio, der aber (noch völlig unreformatorisch?)
im Anruf der seligsten Jungfrau endet. Zwar kritisiert die concio in
humanistischer Weise oft scharf die Scholastik, aber nirgends wird das
Papsttum als solches in Frage gestellt.
In ihrem zweiten Teil,f5 dem Hauptteil der Rede, trifft sich die concio
mit der von Martin Bucer 1525 bis 1527 ins Lateinische übersetzten
Kirchenpostille LuthersJ6 Die Überschneidungen und Übernahmen
gehen hier quantitativ und qualitativ noch über die Abhängigkeit von
Erasmus im ersten Teil der Rede hinaus. Hier erfolgen auch die schärf-
sten Ausfälle gegen die sophistischen Wortklaubereien der Scholasti-
ker, die die Schuld trügen am wüsten Geschrei, das die Zeit erfülle.
Das Thema des ersten Teils, die philosophia christiana, wird zwar
weitergezogen, aber nun überraschend verbunden, ja gefollt mit Lu-
thers Zentrallehre von Gesetz und Evangelium. Die Lutherpredigt vom
Allerheiligentag 1522 umfaßte einige Ausführungen zur Heiligen-
verehrung und zum Gebet for die Verstorbenen aus Anlaß des Tages
und wendet sich zuletzt dem Text, d. h. den Seligpreisungen zu. Die
theologische Mitte bilden Ausfohrungen zum Verhältnis von Seligprei-
sung und Gesetz. Hier setzt die concio academica ein und folgt zu-
nächst eng dem Luthertext. Dann löst sie sich von ihrer Vorlage und
behandelt recht eigenständig, veranlaßt durch den Evangelientext, die
Lohnfrage. Lohn richtig verstanden verweist auf das Beispiel eines
Sohnes, der seinem Vater alles zuliebe tut, ohne sich aber so das Erbe
verdienen zu wollen, das er ja von selbst empfängt. In der Erklärung
12 A. LANG, Die Bekehrung Johannes Calvins, in: SGTK, Bd. 11, Heft 1, Leipzig
1897; Neudruck, Aalen 1972.
13 Text der Paraklesis (1516) siehe: Erasrnus von Rotterdarn, Ausgewählte Schrif-
ten, Lateinisch und Deutsch, hg. von W. WELZIG; 3. Bd.: In Novum Testarnen-
turn Praefationes, hg. von G. B. WINKLER, Darrnstadt 1967, 2-37.
14 A. LANG, a.a.O., 46.
15 CO 10/2,31-34 = OS I, 5-9 oben.
16 WA 10 III, 400-407 = Wittenbergerdruck einer Predigt wohl vorn 1.11.1522;
siehe dazu die Synopse von A. LANG, a.a.O., 49-52.
6 Pariser Rektoratsrede vom 1. November 1533 - Einleitung
der ersten Seligpreisung betont die concio, auch hier die Vorlage mehr
und mehr verlassend, es gehe darum, das Herz nicht an die Kreaturen
zu hängen, sondern sich Gott hinzugeben. Dieser Gedanke wird dann
zu einem Ausblick auf den Richterstuhl Christi weitergezogen und
verschärft, um schließlich in einem erneuten Hinweis auf die göttliche
Gnade, die allein menschliche Zweifel und Schwächen heilen kann, zu
enden.
Im letzten TeiW verläßt die Predigt ihre Vorlagen vollständig und legt
die letzten zwei Seligpreisungen aus im Blick auf die Sorgen und
Gefahren der Stunde: Wer das Evangelium so versteht, wie es die
concio darlegt, dem droht jetzt Verfolgung um der Gerechtigkeit wil-
len. Der rechte Christ wird aber dem Beispiele Christi folgen und wird
in diesem unglückseligen Zeitalter lieber mit dem Wort der Wahrheit
als mit Gewalt und Schwert den Frieden erhalten. Dann wird sich aber
auch die Verheißung der Seligpreisung erfüllen: Freut euch, denn euer
Lohn im Himmel ist groß.
Mag die concio in der ersten Hälfte durch ihre Abhängigkeit von den
Vorlagen auch manchmal etwas uneben wirken, so verfügt sie doch
über viel mitreißende Kraft. Der Aufbau ist klar und ihre Aussage
stark und deutlich. Sie wurde auch sofort und sicher zurecht als An-
griffaufdie konservative Scholastik der Sorbonne und als Propagierung
reformatorischer Ideen empfUnden. N Cop wurde umgehend von den
Franziskanern, in deren Kirche wahrscheinlich die concio erklang,
beim Parlament der Häresie bezichtigt. Franz I wurde in Südfrank-
reich, wo er eben unter anderem zur Erörterung der Religionsfrage
mit dem Papst zusammengetroffen war, über diese Vorgänge benach-
richtigt. Er verlangte brieflich, daß der Rektor zur Verantwortung
gezogen werde. Aus den Reihen des Parlamentes scheint aber Cop
seinerseits auf dem laufenden gehalten und gewarnt worden zu sein.
Einige Wochen nach der Rede verläßt Cop Parisfluchtartig und begibt
sich nach Basel in seine Vaterstadt. Es finden sich aber keine Nach-
richten über eine Begegnung Cops in Basel mit dem später ebenfalls
dort eintreffenden Calvin. Wahrscheinlich hatte Cop Basel bald wie-
der verlassen. Ist er, eventuell veranlaßt durch das königliche Edikt
von Concy 1535, wieder nach Paris zurückgekehrt? Jedenfalls er-
scheint im Wintersemester 1535/36 sein Name wieder auf der Liste der
Professoren der Pariser Universität! Nach diesem Dokument fUngierte
er vom Winter 1535/36 an wiederum als Medizinprofessor und ist
dann, am Anfang einer aussichtsreichen Laufbahn, im Winter 1539140
unerwartet gestorben. Er starb eines natürlichen Todes./ 8
25 K. MÜLLER, a.a.O., 238. CO 31, 22: »Ac prirno quidern, quurn superstitionibus
papatus rnagis pertinaciter addictus essern, quurn ut facile esset e tarn profundo
luto rne extrahi, anirnurn meum, qui pro aetate nirnis obduruerat, subita
conversione ad docilitatern subegit.«
26 So F. WENDEL, Calvin. Source et Evolution de sa pensee religieuse, Paris 1950,
22f.; A. Ganoczy, Le jeune Calvin. Genese et evolution de sa vocation reforma-
tri ce, Wiesbaden 1966, 67f.; u. a.
27 J. ROll, a.a.O.
28 F. WENDEL, Calvin. Source et Evolution de sa pensee religieuse, Neukirchen
1968 (deutsche, überarbeitete Fassung von Source et Evolution de sa pensee
religieuse, 1950), 27f; A. GANOCZY / S. SCHELD, Die Hermeneutik Calvins.
Geistesgeschichtliehe Voraussetzungen und Grundzüge, VIEG 114, Wiesba-
den 1983, 129-131.
29 J. N. TYLENDA, Calvin's first reformed sermon? Nicholas Cop's discourse - 1
November 1533, in: WThJ, Vol. XXXVIII, Philadelphia / Pennsylvania 1976,
300-318.
30 J.-U. HWANG, Der junge Calvin und seine Psychopannychia, EHS Reihe XXIII,
Bd. 407, Frankfurt a. M. 1991,59-78.
Pariser Rektoratsrede vom 1. November 1533 - Einleitung 9
Hans Scholl
Textausgaben
CO 10/2, 30-36
OS I, 4-10
J ROTT, Investigationes historicae - Gesammelte Aufsätze zur Kir-
chen- und Sozialgeschichte, Articles rassembles et reedites par MARlJN
DE KROON et MARC LIENHARD, Tome II, Strasbourg 1986, 281-287
Literatur
[CO 10/2, 30] Magna quaedam res est ac longe praestantior quam dici
aut animo et cogitatione comprehendi possit, christiana philosophia.
Uni haec homini a Christo divinitus (div. a ehr.) data est, quae veram
et certissimam felicitatem explicaret. Hac una nos esse Dei filios intel-
ligimus et credimus: haec suo splendore et praestantia universam mun-
di sapientiam obscuravit. Hac qui excellunt tantum prope reliquae
hominum multitudini praestare mihi videntur, quantum homines beluis 10
antecellunt. Nimirum quum ii (hi) maiora longe et praestantiora quam
reliqui animo (mente) complectantur. Admirabile enim et sanctum ge-
nus illud philosophiae esse oportet, quod ut hominibus traderet Deus
homo fieri voluit, quum immortalis esset, mortalis.
Vere profecto hoc mihi videor esse dictums, nulla re magis amorem 15
Dei erga nos innotescere (+ posse) quam quod verbum suum nobis
reliquerit. Quae enim aut proprior (propior) aut certior cognatio esse
potuerit? Quod si caeteras (reliquas) artes [et] disserendi rationem
(artem) , naturae scientiam, atque eam quae de moribus est propter
utilitatem et laudamus et miramur (mir. et laud.), quae potest cum hoc 20
genere philosophiae conferri, quod voluntatem Dei omnibus philo-
sophis diu quaesitam, nunquam inventam exponit? quod sola Dei gratia
peccata remittit? spiritum sanctum, qui corda omnium sanctificat et
vitam aetemam adfert, omnibus Christianis pollicetur? Hoc studium
qui non laudaverit, haud sane scio quid laudandum [31] putet. Si enim 25
oblectatio animi requiesque curarum quaeritur, quae spectent [et valeant]
5 ad bene beateque vivendum, christiana philosophia abunde suppeditat I
motus animi turbulentos quasi habenis quibusdam coercet. Quum (+ igi-
tur) tanta sit evangelii laus et dignitas, non parum gaudeo mihi datam
Die christliche Philosophie2 ist eine große Sache und viel vortreffli-
cher, als daß sie einfach in Worte gefaßt oder von Geist und Verstand
begriffen werden könnte. Sie ist allein dem Menschen von Christus
offenbart zur Darlegung des wahren Glückes. Durch sie allein erken-
nen und glauben wir, daß wir Gottes Kinder sind. Durch ihren Glanz
und durch ihre Vorzüglichkeit hat sie die ganze Weisheit der Welt in
10 den Schatten gestellt. Die sich aber durch sie auszeichnen, stechen
meiner Meinung nach so von der übrigen Menge der Menschen ab, wie
sich Menschen von den Tieren unterscheiden. 3 Natürlich umfassen sie
auch mit dem Geiste Erhabeneres und Vortrefflicheres als die übrigen.
Wunderbar und heilig also muß diese Art von Philosophie sein, für die,
15 um sie den Menschen zu übermitteln, Gott selber Mensch, und ob-
schon er unsterblich ist, sterblich werden wollte.
In der Tat scheint mir nichts die Liebe Gottes uns gegenüber besser
anzeigen zu können, als daß er uns sein Wort zurückgelassen hat. Denn
welche Verwandtschaft hätte näher und sicherer sein können? Wenn
20 wir die übrigen Künste und Wissenschaften, die Naturwissenschaft
und die Sittenlehre wegen ihrer Nützlichkeit loben und bewundern, so
bleibt doch zu fragen: Was kann von dem allem mit dieser Philosophie
verglichen werden, die den Willen Gottes darlegt, der von allen Philo-
sophen je und je erforscht, aber nie ergründet wurde? Nämlich, daß
25 allein die Gnade Gottes die Sünden vergibt, und daß der Heilige Geist,
der die Herzen aller heiligt und das ewige Leben bringt, allen Christen
verheißen ist. Wer den Eifer um diese Sache nicht rühmen will, von,
dem weiß ich nicht, was er noch rühmen könnte. Denn wenn die
Erquickung des Geistes und die Ruhe vor Sorgen gesucht wird, was ja
30 zum guten und glücklichen Leben dient, dann taugt dazu die christliche
Philosophie bestens. Sie zügelt die turbulenten Bewegungen der Seele
wie mit einem Halfter4. Darum, weil das Lob und die Würde des
Evangeliums so beschaffen ist, freut es mich nicht wenig, daß ich nun
Gelegenheit habe, es zu erklären und daß ich da in der Stellung bin, wo
dies gewissermaßen von Amtes wegen von mir gefordert wird.
Aber wo soll in der ganzen Fülle von Themen unsere Rede anfangen
und wo enden? Nun, da die Sache größer ist, als daß ich sie mit einer
Rede umfassen könnte, werde ich den Vers des Evangeliums auslegen,
der heute in der Kirche gelesen wird. 5 Aber bevor ich an die Aufgabe
herantrete, möchte ich, daß ihr mit mir in glühendem Gebete von
Christus erbittet, dem höchsten und besten, der der wahre Fürsprecher
10 beim Vater ist, er möge unseren Sinn durch seinen reichen Geist er-
leuchten. Wie er der Ruhm des Vaters ist, des Schöpfers aller Güter, so
soll auch unsere Rede nur ihn loben, ihn kundtun, ihn atmen und ihn
bringen. Wir bitten, er möge in unsere Seelen eindringen und er möge
uns mit dem Tau himmlischer Gnade benetzen. Daß wir das erreichen,
15 hoffe ich mit der feierlichen Verherrlichung der seligsten Jungfrau auf
den Lippen: Gegrüßt seist du, Gebenedeite. 6
Zuerst müssen wir sogleich prüfen, welches der Scopus dieses Evange-
liums sei und wohin alles ziele. Das aber wird uns aus der Beschrei-
20 bung des Evangeliums und des Gesetzes und dann aus der Verglei-
chung beider Größen leicht ersichtlich.? Das Evangelium ist also die
gute Botschaft und die heilbringende Predigt von Christus, daß er von
Gott dem Vater gesandt sei, um uns allen zu helfen und uns das ewige
Leben zu vermitteln. Das Gesetz ist in Vorschriften gefaßt; es droht
25 und zwingt, und es verheißt keine Gnade. Das Evangelium dagegen
wirkt nicht mit Drohungen und auferlegt keine Gebote, sondern es
lehrt Gottes überaus große Güte uns gegenüber. Wer also das Evange-
lium rein und ehrlich auslegen will, der muß alles an der Beschreibung
des Gesetzes und des Evangeliums ausrichten. Wenn man diese Art der
30 Auslegung nicht befolgt, wird man sich nie richtig in der christlichen
Philosophie bewegen. Diesem Fehler verfallen die üblen Sophisten8
ständig, die leeres Stroh dreschen, mit Wortklaubereien um sich wer-
fen, aber nichts über den Glauben, nichts über die Liebe Gottes, nichts
über die Vergebung der Sünden, nichts über die Gnade, nichts über die
35 Rechtfertigung und die wahren guten Werke vorzutragen haben; viel-
mehr benörgeln sie alles böswillig, verderben es und pferchen es mit
5 Mt 5, 1-12 als Evangelientext zum Allerheiligenfest nach der Perikopenordnung
des Missale Romanum.
6 Die (traditionelle) Anrufung Marias im Eingang der Predigt ist im Autograph
von späterer Hand gestrichen. Schon G. ROUSSEL hat in seiner Predigttätigkeit
diese Anrufung nicht mehr verwendet. Siehe dazu GANOCZY, 69, Anm. 298.
Bei den in Frankreich erschienen Lutherschriften fmdet sie sich z.T. noch bis
1525; Siehe dazu 1. ROTT, a.a.O., 37, Anm.46.
7 Hier beginnt der z.T. wörtliche Einfluß der Lutherpostille, siehe oben, S. 5,
Anm.16.
8 Die integristischen Scholastiker, von denen die Predigt hier handelt, sitzen
unter Cops Kanzel!
14 Concio academica
id (hoc) est, sophisticis coercent. Vos rogo, quotquot hic adestis, ut has
haereses, has in Deum contumelias nunquam aequo animo feratis.
Sed unde digressa est eo redeat nostra oratio. [32] Videndum nobis
[est] ne Christum hoc loco ab evangelii ratione aberrasse existimemus.
Nam praeceptis agere videtur, [atque] ut pauperes simus (+ spiritu),
mites, mundo corde (mundi corde, mites), pacifici, praecipere. Quin
etiam mercedem nobis proponit (promittit), quum praemiis nemo duci
(duci nemo) debeat, sed gratis operam dare Christo, solam Dei gloriam
quaerere, nihil formidine poenae aut gehennae agere. Sed haec (sie)
apud se cogitant qui divinam philosophiam per transennam [tantum] 10
legerunt, qui supremis (supernis) labris illam degustarunt, qui in evan-
gelio nihil promoverunt, qui, ut cum Paulo dicam, putantes se sapientes
stulti facti sunt. Quin potius densissimam fugat caliginem, nos tenebris
liberat, ut qui corporis oculos aliquando (aliq. eorp. oe.) aperuit nunc
mentis oculos aperiat. Nam quae praecepta non satis explicate Mosi 15
scripta erant (sunt, + hoc loco) explicatius docet. Itaque hoc evangeli-
um nihil praecipit, sed (+ solam) Dei bonitatem, misericordiam et
beneficia exponit. Ac ne quis miretur quod b praemia mercedis nomine
comprehendat: Gaudete, inquit, quia merces vestra copiosa est in coe-
lis, aurium operam paulisper nobis accommodate. Dei beneficia merce- 20
dis nomine plerumque significantur, licet alia ratione nobis contingant,
nempe sola Dei gratia, non nostrarum virtutum aut nostrae dignitatis
causa. Verum quia, dum nostra officia nostras virtutes longe vincunt,
illis etiam satisfaciunt, mercedis nomine continentur. Quod si simili uti
licet, rem totam multo dilucidiorem reddemus: filius familias totis 25
viribus patri placere nititur, omnia sua officia in illum refert, sed non
quae tanta sint ut haereditatem mereantur, quam nihilorninus accipit,
mercedemque adpellare possis, non quod debita sit sed quod filii erga
patrem officiaplus satis compenset. Ita merces in sacris plerumque
usurpari solet. Alias quis intelligat vitam aetemam mercedem? Quis 30
25 Worte Lohn bezeichnet. Mag uns anderes auch durch die Vernunft!
zukommen, der Lohn erreicht uns allein aus Gottes Gnade und nicht I,
aufgrund unserer Qualitäten oder Würdigkeit. Obwohl nun unsere Pflich- i
ten unsere Kräfte bei weitem übersteigen, werden doch auch jene Kräf-
te, um ihnen genüge zu tun, mit dem Wörtlein Lohn erfaßt. Aber wenn
30 man einen Vergleich brauchen will, kann man alles viel klarer darstel-
len: Der Sohn der Familie versucht mit allen Kräften dem Vater zu
gefallen und richtet all seine Geschäfte nach dem Vater, aber nicht um
damit das Erbe zu verdienen, welches ihm sowieso zufallt. So kann
man auch vom Lohn sprechen, nicht weil er geschuldet wäre, sondern
35 weil der Lohn die Dienste des Sohnes dem Vater gegenüber mehr als
genug entschädigt. Und so pflegt man in heiligen Dingen das Wort
Lohn auch meist zu gebrauchen. Denn wer möchte das ewige Leben
sonst schon als Lohn verstehen? Und wer wäre so geistlos, das ewige
9 Die beste Verteidigung der Reformation ist ihr Angriff auf die spätmittelalterli-
chen scholastischen Neuerungen. Diese Argumentationsfigur liegt hier vor. Sie
wird von Calvin häufig gebraucht werden, siehe z. B. das Widmungsschreiben
zur Institutio 1536 an Franz I., in diesem Band S. 59ff.
10 Die Vorstellung und Rede vom Lohn wird hier vom Luthertext abweichend in \
der Fo~ vo~ge~agen, wie sie später b~i Calvin oft auf?'itt .. Die Brücke bildet,
für CaivIn Wichtig, der Gedanke der KIndschaft: Das KInd Ist des Vaters Erbe.
Siehe Inst. 111,18,2. In Inst. 111,18 setzt sich Calvin grundsätzlich mit dem I
Lohngedanken in seiner ganzen Vielschichtigkeit auseinander. Die Schluß-!
fassung dieses Kapitels in der Institutio von 1559 umfaßt Ausführungen aus
allen früheren Auflagen.
16 Concio academica
11 Bei calvinischer Verfasserschaft der Rede könnte man hier einen Reflex einer
vorhergehenden »Bekehrung Calvins« erkennen.
12 Der Kindschaftgedanke erscheint bei Calvin oft in dieser Form: Das Kind kann,!
anders als der Knecht, auch mit unvollkommenen Werken vor Gott den Vater!
treten. Der Vater freut sich auch so über das Kind. Siehe die Grundlegung der \
Ethik in Calvins Freiheitslehre lnst. III,19,S (OS IV 285,29-34).
18 Concio academica
sal. Denn die nennt Christus selig, die darin betrübt sind, die an ihren
Kräften verzweifeln und trotzdem nach dem vollkommenen Leben
trachten, die alles bewegen und sich allein darum mühen, recht zu sein
und die Mitmenschen zum besseren Leben und zum Festhalten an der
Gerechtigkeit mitzureißen. Das sind die, die nach der Gerechtigkeit
hungern und dürsten, und die darum auch, weil Gottes Wort untrüglich
ist, satt werden sollen.
Das ist nicht verwunderlich: wenn nämlich das Evangelium ihre Ge-
wissen gefestigt und beruhigt hat über die Vergebung der Sünden und
10 die Liebe Gottes, dann sind sie doch wohl von Gott angenommen.
Darum kann einem Christenmenschen nichts Schöneres und Besseres
widerfahren. Wird aber das nicht begriffen, dann bewegen sich die
Menschen notwendigerweise weiterhin in krassem Irrtum. Denn wel-
cher Gottesdienst, welche Frömmigkeit, welche Religion kann beste-
15 hen bei schwankendem Gewissen? Daher heißt uns Paulus im Römer-
brief, alle Zweifel des Gewissens niederzuschlagen mit der ausführli-
chen Begründung, daß die Versöhnung und die Rechtfertigung nicht
von unserer Würdigkeit und auch nicht von unseren Verdiensten ab-
hänge. Denn in den Psalmen lesen wir: »Selig sind die, deren Fehler
20 gesühnt und deren Sünden bedeckt sind. Glücklich der Mann, dem .
Gott die Sünde nicht zurechnet« (ps 32,1). Oder nach einer umfassen-
den Ausführung über Gottes Gerechtigkeit: »Wo bleibt nun der Ruhm?
Er ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das der Werke?
Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz. So halten wir nun
25 dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke« (Röm
3,27f). Aber was könnte noch klarer gesagt werden als das, was er am
Anfang des 4. Kapitels schreibt: »Was sagen wir denn von unserem·
Vater nach dem Fleisch, Abraham, was er gefunden habe? Ist Abraham .
durch die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm, aber nicht vor Gott.
30 Was sagt denn die Schrift? Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm
zur Gerechtigkeit gerechnet.« (Röm 4,1-3) Auf das hin erklärt Paulus
uns gerecht wegen Christus, nicht zu Unrecht. Andernfalls wäre alles
vollständig unsicher, wenn unsere Gerechtigkeit von der Würdigkeit
unserer Werke, sei es der moralischen oder der zeremoniellen abhinge.
35 Etwas Neues lehrt das Evangelium, was das Gesetz nie gewährleisten
kann, nämlich die Gewißheit, daß Gott uns wohlgesinnt ist. Das Gesetz
erwähnt die Barmherzigkeit Gottes, aber nur unter einer bestimmten
Voraussetzung: nämlich wenn es erfüllt wird. Das Evangelium ver-
heißt die Vergebung der Sünden und die Rechtfertigung umsonst. Denn
40 wir sind bei Gott nicht angenommen, weil wir dem Gesetz genüge tun,
sondern allein wegen der Verheißung Christi. Wer daran zweifelt, der
kann nicht fromm leben und bereitet sich das Feuer der Hölle. Wenn
nun der Herr nur denen die Gebrechen des Körpers heilte, die glaubten,
so vergibt er nur denen die Sünden, die zum Glauben gekommen sind.
45 Darum sind wir dann unglücklicher als alle Lebewesen, wenn wir
zweifeln, daß Gott die Sünden vergeben wird. Ich sehe genau, daß der
fleischliche Mensch nicht weiß, ob er Haß verdient oder Liebe. Paulus
sagt: »Der fleischliche Mensch versteht nicht, was göttlich ist, aber der
20 Concio academica
Dei sunt, sed spiritualis omnia diiudicat, omnia cognoscit. Quod qui
negant, totum evangelium evertunt, Christum prorsus sepeliunt, om-
nem verum Dei cultum tollunt, quia Deus cum dubitatione co li non
potest. Sumque ex evangelio in earn adductus opinionem, ut homini
christiano nihil magis impium accidere posse existimem dubitatione:
quae si nos aliquando obruit et cruciat, clarnandum nobis est: Domine
adiuva incredulitatem nostrarn. Ergo, licet pauperes spiritu, qui lugent,
9 qui esuriunt et sitiunt iustitiarn, de suis I viribus desperent, certi tarnen
sunt de gratia Dei, de remissione peccatorum, de iustificatione.
Sed ad evangelium redeamus. Beati pacifici, quoniam filii Dei 10
vocabuntur. 0 rem dignarn in qua Christiani ornnes elaborent. Quid
pace, quid tranquillitate melius? Si gentes quae Deum ignorabant tanti
pacem fecenmt, ut templum illi exaedificari summa diligentia curaverint,
quantum homini christiano in pace conservanda, in concordia inter
dissentientes sarcienda, laborandum est? Gentes pacem expetebant ut 15
in tranquillo viverent. Christiani multo maiora et meliora exspectant,
qui se filios Dei fore intelligant. Sed ii praesertim qui paci spiritual i
operarn dederint, sine qua pax mundi vana est nulliusque momenti. Pax
mundi in eo consistit ut malum externum tollatur: in bonis est externis,
cum vicino arnico, sed interim radix discordiae relinquitur qua inimici 20
sumus Deo. Iarn ubi inimicitia adversus Deum, qui potest pax mundi
diu consistere? Beati igitur sunt qui pacem animis conciliant, qui in
ecclesia dissensiones tollunt, ornnia [35] verbo veritatis placant, nullis
minis agunt. Qui enim verbo Dei non credunt, qui possunt cruciatu
moveri? Nonne oportet nos Christum ducem optimum imitari, qui 25
quum ornnes gentes, ornnes Iudaeos perdere potuerit, verbo tarnen
allicere maluit? Atque utinarn hoc nostro infelici saeculo verbo potius
quarn gladio pacem in ecclesia sarciarnus. Sane aut Satanas non vincitur,
Pariser Rektoratsrede vom 1. November 1533 21
geistliche Mensch beurteilt und versteht alles.« (I Kor 2,14f) Wer das
leugnet, der stößt das ganze Evangelium um und begräbt Christus von
neuem,13 allen wahren Gottesdienst hebt er auf, denn Gott kann nicht
mit Zweifeln geehrt werden. Ich bin vom Evangelium her zu dieser
Einsicht gekommen: Ich halte dafür, es gebe für den Christenmenschen
nichts Verderblicheres als den Zweifel. Wenn der uns zu Zeiten befällt
und plagt, dann sollen wir rufen: »Herr hilf meinem Unglauben!«
(Mk 9,23) Darum gilt von den geistlich Armen, die trauern, die hun-
gern und dürsten nach der Gerechtigkeit, die an ihren Kräften verzwei-
10 feIn, daß sie dennoch der Gnade Gottes, der Sündenvergebung und der I
Rechtfertigung gewiß sind.
Aber kehren wir zum Evangelium zurück. 14 »Selig sind die Friedferti-
gen, denn sie sollen Söhne Gottes heißen« (Mt 5,9). Oh herrliche Sa-
che, an der alle Christen arbeiten. Was ist besser als Frieden und Ruhe?
15 Wenn die Heiden, die Gott nicht kannten, so viel vom Frieden hielten,
daß sie höchste Mühe darauf verwandten, ihm einen Tempel zu errich-
ten, wie viel mehr muß es da den Christen ein Anliegen sein, den
Frieden zu erhalten und die Eintracht unter Zerstrittenen wieder aufzu-
richten. 15 Die Völker streben nach Frieden, um in Ruhe leben zu kön-
20 nen. Die Christen halten Ausschau nach etwas viel Besserem und
Größerem, da sie wissen, daß sie Kinder Gottes werden sollen. Aber
sie sind es, die sich besonders um den geistlichen Frieden mühten,
ohne den der Friede der Welt eitel ist und belanglos. Der Friede der
Welt besteht darin, daß äußeres Übel beseitigt wird, in äußerlichen
25 Gütern ruht er mit befreundeten Nachbarn. Aber unterdessen bleibt die
Wurzel der Zwietracht bestehen, nämlich daß wir mit Gott verfeindet
sind. Wo aber schon Feindschaft gegen Gott herrscht, wie sollte da der
Friede in der Welt lange Bestand haben? Selig also die, die Frieden
stiften für die Seelen, die in der Kirche Zwietracht wegräumen und
30 alles durch das Wort der Wahrheit zur Ruhe bringen und nicht mit
Drohungen um sich schlagen. Denn die, die dem Worte Gottes keinen
Glauben schenken, wie sollten die durch Folter dazu bewegt werden?
Müssen wir nicht vielmehr einfach Christus als den besten Führer
nachahmen? Obschon er alle Heiden und Juden hätte verderben kön-
35 nen, wollte er sie dennoch lieber mit dem Wort anlocken. Wir sollen
also in unserem unglückseligen Jahrhundert den Frieden in der Kirche
viel eher mit dem Wort als mit dem Schwert aufrichten, denn zweifels-
13 »Christus von neuem begraben«, eine wichtige Argumentationsfigur bei Calvin
besonders in seinem Kampf gegen den Nikodemitismus; siehe CO 6, 609f und
dazu H. SCHOLL, Reformation und Politik, Stuttgart 1976, 71.
14 Hier beginnt der Schlußteil der Predigt. Der Text wird wieder aufgenommen,
aber nun werden nur noch die letzten beiden Seligpreisungen berücksichtigt,
die die Verfolgungssituation im Auge haben. Das eben ist der aktuelle Kontext
der Rektoratsrede. Hier kommt sie zu ihrem Skopus.
15 Eine Anspielung auf AUGUSTIN, De civitate Dei III, 25. Zur religiösen Vereh-
rung des Friedens in der Antike siehe C. KOCH, Art. »Pax«, in: RECA XVIII.4,
Sp. 2430-2436. Calvin hat sich bei seiner Arbeit zu Senecas De c1ementia
1531/32 intensiv mit Augustin beschäftigt. Siehe dazu E. SAXER, Aberglaube,
Heuchelei und Frömmigkeit, Zürich, 1970, 200f.
22 Concio academica
aut verbo Dei. Quum fortis armatus custodit atrium suum etc. Fortior
Christus est, non humana ratio, non hominum afflictiones. Quod qui
non assentiuntur, non tam Christum quam perditissimos Pharisaeos
sequuntur. Quis nescit, Christum liberum benevolum promptum animum
requirere? Beati igitur pacifici qui verbo veritatis inter dissentientes
conciliant.
Magis ac magis beati qui persequutionem patiuntur propter iustitiam.
Romani suum laudant Regulum, qui ut fidem servaret extremum ac
longe omnium miserrimum tulit supplicium. Athenienses Socratem
satis mirari non possunt, qui tanta animi constantia mori non dubitave- 10
rit, apud iudices accusatus quod gentiles deos contemneret. Verum
quis tales viros felices existimave it qui iustitiam Dei ignorabant, suam
non Dei quaerebant gloriam? Non desunt qui ob maledicta in bonos
viros, contumelias in principes, persequutionem patiantur, quos nullo
loco beatos Dominus norninavit. Beati sunt qui, dum iustitiam Dei 15
quaerunt, persequutionem patiuntur. Porro iustitiam Dei quaerunt qui
verbo Dei adhaerent, qui nugas hominum et somnia contemnunt, qui I
10 ne latum unguem ab evangelio in suis concionibus recedunt, qui illud
Pauli diligenter sequuntur: Etiamsi nos aut angelus e coelo praedicave-
rit vobis evangelium praeter id quod praedicavimus vobis, anathema 20
sit: quemadmodum enim diximus, et nunc dico: si quis praedicaverit
vobis evangelium praeter id quod accepistis, anathema sit. Felices
enim et beatos esse oportet qui his nominibus persequutionem patiun-
tur. Ne igitur famae et nomini ita consulamus, ut in cultu Dei, in
voluntate Dei explicanda, in veritatis praedicatione [36] frigidiores 25
simus. Beati, inquit, eritis quum probra in vos iecerint homines, et
insectati vos fuerint, et dixerint omne malum adversus vos mentientes,
propter me. Quid igitur dissimulamus, ac non potius verum dicimus?
An aequum hominibus potius placere quam Deo? An timendi qui cor-
pus perdere possunt, animum minime? 0 ingratum hominum genus, 30
quod ne vel minimam afflictionem illius nomine pati velit qui pro
omnium peccatis mortuus est, qui morte aetema et Satanae vinculis suo
sanguine nos liberavit. Haereticos, seductores, impostores, maledicos
mundus et improbi eos appellare solent qui pure et sincere animis
fidelium evangelium insinuare contendunt, atque obsequium Deo se 35
praestare putant. Verum felices sunt et beati qui haec aequo animo
ferunt, qui in afflictionibus gratiam habent Domino, qui forti animo
magnoque calamitates ferunt. Gaudete, inquit, quia merces vestra co-
piosa est in coelis.
Pariser Rektoratsrede vom 1. November 1533 23
ohne wird der Satan nicht besiegt, es sei denn mit dem Worte Gottes.
»Wie sehr ein Starker auch, in Waffen strotzend, sein Haus bewacht,
etc.« (Lk 11,21) Christus ist stärker; nicht Menschengeist, nicht mensch-
liche Unterdrückung. Wer da nicht beistimmt, der folgt nicht Christus
nach, sondern den verderblichen Pharisäern. Wer wüßte nicht, daß
Christus einen freien, gutwilligen und entschlossenen Geist fordert?
Selig also die Friedensstifter, die mit dem Wort der Wahrheit zwi-
schen Streitenden vermitteln.
Noch seliger aber, »die Verfolgung erdulden um der Gerechtigkeit
10 willen«. (Mt 5,10) Die Römer rühmen ihren Regulus l6 : um die Treue
zu wahren, nahm er die äußerste und die allerschwerste Pein auf sich.
Die Athener können ihren Sokrates 17 nicht genug bewundern, der unter
großer Seelenfestigkeit keinen Moment vor dem Tode zurückschreck-
te, als er vor Gericht angeklagt war, er verachte die heimischen Götter.
15 Wahrlich, wer sollte solche Märmer selig preisen, die die Gerechtigkeit
Gottes nicht kannten und ihren eigenen Ruhm und nicht den Ruhm
Gottes im Auge hatten? Gewiß gibt es Leute, die wegen der Verflu-
chung guter Menschen und wegen der Verachtung der Obrigkeit Ver-
folgung erdulden; die preist der Herr aber nirgends selig. Selig sind
20 allein die, die auf der Suche nach der göttlichen Gerechtigkeit Verfol-
gung erleiden. Und die sind es, die nach der göttlichen Gerechtigkeit
trachten, die dem Worte Gottes anhängen, die Wahngebilde und mensch-
liche Träume für nichts halten und auch nicht fingersbreit vom Evan-
gelium abweichen in ihren Reden; die dem Worte des Paulus gern
25 Folge leisten: »Aber auch wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch
ein anderes Evangelium predigen würde, denn das ihr empfangen habt,
der sei verflucht!« (Gall,8f) Glücklich also und selig, wer in solchen
Dingen Verfolgung erleidet. Darum wollen wir nicht um Ruhm und
Namen so besorgt sein, so daß wir im Gottesdienst, in der Auslegung
30 des göttlichen Willens und in der Verkündigung der Wahrheit kühler
werden. Es heißt: »Selig seid ihr, wenn die Menschen euch Böses tun
und euch verfolgen um meinetwillen und sie euch alles Böse lügne-
risch nachsagen.« (Mt 5,10) Warum sollten wir also leisetreten und
nicht vielmehr einfach die Wahrheit sagen? Oder ist es etwa besser,
35 den Menschen mehr zu gefallen als Gott? Oder sind die zu fürchten,
die den Leib verderben können, aber nicht die Seele? Oh undankbares
Menschengeschlecht, das auch nicht das Geringste erdulden will im
Namen dessen, der für die Sünden aller gestorben ist, der uns vom
ewigen Tod und den Banden des Teufels durch sein Blut befreit hat!
40 Die Welt und die Bösen bezeichnen die als Häretiker, Verfiihrer, Böse-
wichter und Verfluchte, die den gläubigen Seelen nur das Evangelium
rein und lauter einzuträufeln sich mühen; und damit meinen sie noch,
Gott besonders gehorsam zu sein. Wahrhaft selig und glücklich, wer
solches mit Gleichmut erträgt, für Trübsal Gott dankt und mit festem
45 und starkem Mute Widrigkeiten auf sich nimmt. »Freut euch, denn
euer Lohn im Himmel wird groß sein.« (Mt 5,12)
16 HORAZ, cannina III, 5.
17 PLATON, Kriton.
24 Concio academica
10 Mit QUACK, a.a.O., (117-) 125 vertreten wir die Abhängigkeit von Faber gegen
VP, 20, die als Vorbild die Vorrede des Stephanus zur Vulgata - Ausgabe von
1530/32 - annehmen. Für Fabers Vorbild sprechen die gegenüber Stephanus
neuen Elemente in der Betrachtung des Alten Testamentes, die dann auch bei
Calvin auftauchen, so die radikale Verderbnis des Menschen, das Gesetz als
Abschattung zukünftigen Heils und das Alte Testament als Verheißung, ebenso
auch die Betonung des Glaubens und des himmlischen Eintretens Christi für
uns. Eine Zusammenfassung findet sich bei QUACK, a.a.O., 121f. Das Original
konnte nach dem in Genfbefindlichen Exemplar in Fotokopie durch die freund-
liche Vermittlung von Frau Dr. 1. BACKUS verglichen werden; ebenso verdanke
ich ihr de!.l-Hinweis auf: B. T. CHAMBERS, Bibliography of French Bibles,
Geneve 1983. Zu Calvin und Faber: GANOCZY, 54f. 74f; SAXER, a.a.O., 207.
Bei GANOeZY/SCHELD, a.a.O., 30-37 finden sich Angaben zu Fabers christolo-
gischer De,utung des Alten Testamentes.
Zum Einleitungssatz Calvins sehe ich das Vorbild im Vorwort Fabers zu sei-
nem Evangelien-Kommentar von 1522, das mit den Worten beginnt: »Ceux-lit
sont vraiment dignes du nom de chretien, nom saint et venerable, qui aiment
Notre Seigneur Jesus-Christ et sa parole ... «, zitiert nach: G. BEDOUELLE,
Lefevre d'Etaples et l'intelligence des Ecritures, Travaux d'Humanisme et Re-
naissance CUI, Geneve 1976. BEDOUELLE beurteilt Lefevres Stil als »lyrisme
christologique«; das dortige Beispiel entspricht durchaus auch dem Stil der
Vorrede Calvins. - Weiteres zu Faber und Calvin in Anm. 23 und 26.
11 SO QUACK, a.a.O., 125 und VP, 20-22.
12 GANOCZY, 85. In HBBW läßt sich die Bekanntschaft der Schrift Bullingers
schon 1534 durch Bucer in Straßburg und Schuler in Ravensburg nachweisen.
30 Calvins Vorrede zur Olivetanbibel (1535) - Einleitung
13 OS III, 404,5-7/ Inst. 11, 10,2 = Inst. 1539 VII, 1; Übersetzung O. WEBER.
1539 nimmt Calvin das Thema dann ausdrücklich wegen der Auseinanderset-
zung mit den Täufern und mit Servet auf (Inst. 11, 10, 1). Dabei setzt sich Calvin
doch in einem wichtigen Punkt von Bullinger ab, wenn er die Verschiedenheit
des alten und neuen Bundes nicht in den accidentia (so Bullinger), sondern in
der administratio Gottes sieht. - In der Inst. 1536 erscheint Jer 31, 3lff beim
Thema der Sündervergebung (OS I, 195), und beim tertius usus legis, wo vom
Gesetz gesprochen wird, das den Gläubigen ins Herz geschrieben ist, d.h. nur
unter den positiven Aspekten des neuen Bundes (OS I, 62).
14 So J. BOHATEC, Bude und Calvin, Graz 1950, 36f. 5lf.
15 Z. B. GANOCZY, 137.
16 WA 6, 513-515. Promesse in der Vorrede CO 9, 793.797.799.801. 803. 807.
811; promis CO 9,801. 803. 813.
17 GANOCZY/SCHELD, a. a. 0., 38-40. 44; QUACK, a.a.O.,llOf. 125. -Zum Thema
der Weisheit (sapientia) auch BOHATEC, a.a.O., 42-47 u.ö., sowie SAXER, a.a.O.,
175f. 228-232. und Anm. 22.
Calvins Vorrede zur Olivetanbibel (1535) - Einleitung 31
4. Zusammenfassung
Die Vorrede ist sozusagen eine Theologie Calvins in nuce. All die
genannten Elemente kommen in und vor allem nach der Institutio von
1536 erneut und immer stärker zum Tragen und werden von Calvin
systematisch ausgearbeiter werden. Den in der Institutio 1536 verwen-
deten Katechismus-Grundriß läßt Calvin schon 1537 zugunsten eines
immer mehr an Heilsgeschichte und Credo orientierten Aufrisses fal-
len, der hier seine erste Gestalt gefunden hat. Im weiteren zeigt die
Vorrede eine erstaunlich selbständige Verarbeitung vieler Quellen der
theologischen Entwicklung Calvins. Bemerkenswert ist, daß noch sämt-
liche Gedanken über Kirche, Amt und kirchliche Praxis fehlen. Hier
spricht Calvin noch ganz als der individuelle Fromme und Christus-
Ernst Saxer
CO 9, 787-822.
J PANNIER, Jean Calvin. Epitre a tous amateurs de Jesus-Christ, avec
Introduction sur une edition franr;aise de l'Institution des 1537,
Publications de la Societe Calviniste de France No. 2, Paris 1929.
La vraie piete. Divers traites de Jean Calvin et Confession de foi de
Guillaume Farel, Textes presentees par I BACKUS et C. CHIMELLJ,
Histoire et Societe No. 12, Genf 1986 (Fassung in modernisiertem
Französisch) = VP.
Literatur
-
G. BEDOUELLE, Lefovre d'Etaples et l'intelligence des Ecritures, Travaux
d'Humanisme et Renaissance CLII, Geneve 1976.
G. W LOCHER, Calvin spricht zu den Juden, in: ThZ 23 (1967), 180-
196.
J QUACK, Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur
Aufklärung, Gütersloh 1975.
E. SAXER, Aberglaube, Heuchelei und Frömmigkeit. Eine Untersuchung
zu Calvins reformatorischer Eigenart, SDGSTh 28, Zürich 1970.
(Praefatio>
wie wenn er sein besonderer Feind und Gegner gewesen wäre, bis hin
zum Ausspruch, daß er es bereue, ihn geschaffen zu haben (Gen 6,6).
Nachdem er in eine solche Verwirrung gestürzt worden war, wurde er
fruchtbar in seiner fluchbeladenen Nachkommenschaft und zeugte ein
Geschlecht, das seinesgleichen war: lasterhaft, verkehrt, verdorben,
leer und entblößt von allem Guten, reich im Überfluß an Bösem.
Dennoch wollte der Herr der Barmherzigkeit, der nicht einfach liebt,
sondern selbst Liebe und Mildtätigkeit ist, noch immer in seiner grenzen-
losen Güte den lieben, der der Liebe nicht würdig ist. Er hat die
10 Menschen ganz und gar nicht vertrieben, zugrunde gerichtet und ver-
nichtet, wie es ihre Sünde forderte, sondern er hat sie in Sanftmut und
Geduld erhalten und ertragen, um ihnen eine Frist und Zeit zu geben,
sich ihm wieder zuzuwenden und sich wieder zu dem Gehorsam bereit-
zufinden, von welchem sie sich ab gewandt hatten. Und so sehr er sich
15 auch verbarg und schwieg, wie wenn er sich vor ihnen hätte verstecken
wollen, indem er sie den Wünschen und Gelüsten ihrer Begierde nach-
laufen ließ, ohne Gesetze, ohne Lenkung, ohne irgend eine Zurecht-
weisung durch sein Wort, hat er ihnen nichtsdestoweniger genügend
Hinweise überlassen, Hinweise, die sie anstacheln sollten, ihn zu su-
20 chen, zu ertasten und zu finden, um ihn zu erkennen und gebührend zu
ehren.
Denn er hat überall, an allen Orten und in allen Dingen, seine Zeichen
und Wappen aufgerichtet, sogar als Wappenschilder von solch klarer
Erkennbarkeit, daß niemand vorgeben konnte, aus Unwissen einen so
25 erhabenen Herrn nicht zu erkennen, der so umfassend seine Großartig-
keit verherrlicht hatte, als er in allen Teilen der Welt, am Himmel und
auf der Erde, die Herrlichkeit seiner Macht, Güte und Weisheit
hingeschrieben und gleichsam eingegraben hat. Der heilige Paulus hat
darum sehr zutreffend gesagt, daß der Herr sich nie ohne Bezeugung
30 gelassen hat, selbst gegenüber jenen, welchen er noch keine Kenntnis
seines Wortes vermittelt hatte, da doch alle Werke der Schöpfung, vom
Himmelsgewölbe bis zum Mittelpunkt der Erde, für alle Menschen
Zeugen und Botschafter seiner Herrlichkeit sein konnten, um sie anzu-
locken, ihn zu suchen, und, nachdem sie ihn gefunden hätten, ihm
35 Andacht und Ehrerbietung zu erweisen, der Würdigkeit eines so guten,
so mächtigen, so weisen und ewigen Herrn entsprechend, und sogar
jedes (Schöpfungswerk) an seinem Ort zu dieser Suche beitrug (Röm
I ,19ft). Denn die Vögel besangen Gott, die Tiere riefen ihn an, die
Elemente erzitterten vor ihm, die Berge erklangen von ihm, die Flüsse
40 und Quellen warfen ihm zärtliche Blicke zu, die Gräser und Blumen
lächelten ihn an, so sehr, daß es wahrhaftig nicht darum ging, ihn weit
weg zu suchen, da doch jeder ihn bei sich selbst finden konnte, als bei
solchen, die alle von seiner Kraft, die in uns wohnt, getragen und
erhalten werden.
45 Um jedoch seine unendliche Güte und Milde gegenüber den Menschen
noch umfassender kundzutun, hat er sich nicht damit zufrieden gege-
ben, sie alle durch solche Lehren zu unterweisen, wie wir erklärt ha-
ben, sondern er hat im besonderen ein bestimmtes Volk seine Stimme
38 Praefatio
hören lassen, welches er aus Wohlwollen und freier Gnade aus allen
Nationen der Erde erwählt und ausgesucht hat. Das sind die Kinder
Israels, denen er durch sein Wort klar gezeigt hat, welch ein (Gott) er
sei, und durch seine wunderbaren Werke klargemacht, wozu er imstan-
de sei. Denn er hat sie aus der Knechtschaft des Pharao, des Königs
von Ägypten, herausgeholt, unter welcher sie gefangen und unter-
drückt waren, um sie zu erlösen und in Freiheit zu setzen. Er hat sie auf
ihrer Flucht Tag und Nacht begleitet, (selbst) wie ein Flüchtling in
ihrer Mitte weilend. Er hat sie in der Wüste genährt. Er hat sie zu
10 Eigentümern des verheißenen Landes gemacht, er hat ihnen Siege und
Triumphe in die Hände gegeben. Und wie wenn er für die anderen
Nationen nichts gewesen wäre, hat er ausdrücklich der Gott Israels
genannt werden wollen, und dieses sollte sein Volk heißen, unter der
Bedingung, daß sie nie einen anderen als ihn anerkennten und keinen
15 anderen Gott annähmen. Und dieser Bund ist bestätigt und gültig ge-
macht durch glaubwürdige Mittel, durch die Urkunde und Bezeugung,
die er ihnen übergeben hat.
Dennoch ließen sich die Menschen, die alle ihre fluchbeladene Art
spürten und sich als wahre Erben der Sünde ihres Vaters Adam erwie-
20 sen, wegen derartiger Ermahnungen nicht im geringsten bewegen und
haben nicht auf die Lehre, womit Gott sie warnte, gehört. Die Werke
der Schöpfung, denen Gottes Herrlichkeit und Pracht eingeschrieben
war, haben nichts genützt, um die Heiden zur Verherrlichung desjeni-
gen, von dem sie zeugten, zu veranlassen. Das Gesetz und die Prophe-
25 ten (wiederum) hatten nicht die Kraft, die Juden auf den rechten Weg
zu führen. Alle sind sie blind für das Licht, taub für die Warnungen,
verhärtet für die Gebote gewesen.
Es ist wohl wahr, daß die Heiden, erstaunt und überwältigt von soviel
Güte und Wohltaten, die sie vor Augen sahen, gezwungen waren, den
30 verborgenen Wohltäter zu erkennen, von welchem soviel Gutes her-
kam. Aber anstatt dem wahren Gott die ihm geschuldete Ehre zu er-
weisen, haben sie sich einen Gott nach ihrem Belieben, und so wie ihre
verrückte Fantasie in ihrer Aufgeblasenheit und Täuschung ihn er-
träumte, erdichtet; und nicht nur einen, sondern so viele ihre tollkühne
35 Vermessenheit hat erdichten und errichten können, derart, daß es kein
Volk und keine Gegend gab, die sich nicht neue Götter machte, wie es
sie gut dünkte. Von da an hat der Götzendienst die Herrschaft über-
nommen, der heimtückische Kuppler, der die Menschen dazu brachte,
sich von Gott abzuwenden und sich an eine Menge Götzenbilder zu
40 hängen, denen sie selbst Gestalt, Namen und Wesen gegeben hatten.
Was nun die Juden betrifft, So viele Botschaften und Mitteilungen, von
Gott durch seine Diener gesandt, sie auch empfangen und aufgenom-
men hatten, sie haben ihm dennoch sofort die Treue gebrochen, leicht-
hin sich von ihm abgewandt, sein Gesetz, das sie haßten und nur
45 unwillig einhielten, verletzt und verachtet, sich von seinem Hause
entfernt, sind bis zum Überdruß anderen Göttern nachgelaufen und
trieben so nach der Weise der Heiden entgegen seinem Willen Götzen-
dienst.
40 Praefatio
Parquoy pour approcher les hommes de Dieu tant Iuifz que gentilz, il
estoit mestier que une nouvelle alliance feust faicte, certaine, asseuree,
et inviolable. Et pour icelle establir et confirmer, estoit besoing d'ung
mediateur, qui intercedast et se interposast entre les deux parties pour
les accorder, sans lequell'homme demeuroit tousiours en l'ire et indigna-
tion de Dieu: et n'avoit aucun moyen de se relever de la malediction,
misere et confusion en laquelle il estoit tresbuche. C'estoit nostre
seigneur et sauveur Iesus Christ vray et seul eternel filz de Dieu: lequel
devoit estre envoye et donne aux hommes de par le pere, pour estre
instaurateur du monde, autrement dissipe, destruict et desoie, auquel 10
depuis le commencement du monde a tousiours este l'esperance de
recouvrer la perte faicte en Adam. Car mesme a Adam incontinent
apres sa ruyne, pour le consoler et reconforter fut donne la promesse,
que par la semence de la femme seroit brisee la teste du serpent. Qui
estoit a dire que par Iesus Christ nay d'une vierge, la puissance de 15
Satan seroit abatue et rompue.
799 Depuis icelle promesse fut plus amplement re- I nouvelIee a Abraham,
quand Dieu luy dit, que par sa semence toutes les nations de la terre
seroient beneistes. C'estoit que de sa semence sortiroit Iesus Christ
selon la chair, par la benediction duquel, tous hommes (de quelque 20
region qu'ilz fussent) seroient sanctifiez. Et derechef fut continuee a
Izahak en mesme forme et mesmes parolles. Et apres souventesfois
denoncee, repetee, et confirmee par le tesmoingnage de divers prophetes,
iusque a demonstrer pleinement pour plus grande fiance, de qui il
devoit naistre, en quel temps, en quellieu, quelles afflictions et mort il 25
devoit soum·ir, la gloire en laquelle il devoit resusciter, quel seroit son
regne, a quel salut il conduyroit les siens.
Premierement nous a este predit en Isaiah, comment il devoit naistre
d'une vierge, disant: Voicy, la vierge sera enceinte, et enfantera ung
filz, et appelleras le nom d'iceluy Emmanuel. En Moseh nous est 30
descrit le temps, quand le bon Iakob disoit: Le sceptre ne sera point
oste de la lignee de Iehudah, ne le conducteur de son exercite iusque a
ce que celuy vienne qui doibt estre envoye. Et iceluy sera l'attente des
gentz. Ce qui a este verifie au temps que Iesus Christ est venu au
monde. Car les Romains apres avoir desvestu les Iuifz de tout gouverne- 35
ment et conduicte avoient environ trente sept ans auparavant ordonne
Herode roy sus eulx: lequel estoit estranger ayant son pere Antipater
Idumien, et sa mere Darabie. Il estoit quelqe fois advenu que les Roys
estoient faillis aux Iuifz: mais iamais n'avoient este veuz sans conseil-
liers, gouverneurs, et legislateurs comme adonc. Et une autre description 40
en est faicte en Daniel, par la supputation des septantes sepmaines. Le
lieu de sa naissance nous a este clairement monstre par Micheah,
disant: Et toy Bethlehem Ephrata, tu es la plus petite entre les mille de
Calvins Vorrede zur Olivetanbibel (1535) 41
Städten Judas, aus dir wird derjenige kommen, der Herrscher in Israel
sein wird, und sein Ursprung ist von Beginn an, von den Tagen der
Menschheit« (Mi 5,1). Von den Trübsalen, die er für unsere Errettung
ertragen, und dem Tod, den er für unsere Erlösung erdulden mußte,
haben Jesaja und Sacharja ausführlich und zuverlässig gesprochen. Die
Herrlichkeit seiner Auferstehung und die Beschaffenheit seines Rei-
ches und die Gnade des Heils, die er seinem Volk bringen sollte, sind
ausführlich von Jesaja, Jeremia und Sacharja behandelt worden.
In solchen Verheißungen, verkündigt und bezeugt durch diese heiligen,
10 von Gottes Geist erfüllten Personen, haben die Kinder und Erwählten
Gottes Ruhe und Trost gefunden, und damit haben sie ihre Hoffnung
genährt, gestützt und aufrecht erhalten, darauf wartend, daß es der
Wille des Herrn sei, das sehen zu lassen, was er ihnen versprach.
Manche Könige und Propheten unter ihnen haben sehnlich gewünscht,
15 dies erfüllt zu sehen. Indes ließen sie dennoch unterdessen nicht davon
ab, mit dem Glauben in ihren Herzen und ihrem Geist das zu umfassen,
was sie nicht vor Augen sehen konnten. Und um sie noch mehr auf alle
Weisen in der langdauernden Erwartung dieses großen Erlösers zu
bestärken, hat Gott ihnen sein geschriebenes Gesetz übergeben. Darin
20 waren verschiedene Zeremonien, Reinigungen und Opfer enthalten.
Diese Dinge waren Gedoch) nur Abbilder und Schatten der großen
Güter, die in Christus, der allein deren Inhalt und Wahrheit war, kom-
men sollten. Denn das Gesetz konnte niemanden zur Vollendung füh-
ren, es zeigte nur und wies wie ein Erzieher auf Christus und führte zu
25 ihm hin, der dessen Ende und Erfüllung war, wie der heilige Paulus
sagt (Gal 3,24; Röm 10,4). In ähnlicher Absicht hat er ihnen mehrmals
zu verschiedenen Zeiten Könige, Prinzen und Hauptleute gesandt, um
sie aus der Gewalt ihrer Feinde zu erretten, sie in gutem Frieden zu
regieren, ihnen das Verlorene wiederzubringen, ihr Reich blühen zu
30 lassen und sie mit großen Verheißungen unter allen anderen Völkern
herauszuheben, um ihnen einen kleinen Vorgeschmack der großen
Wunder zu geben, die sie durch diesen großen Erlöser, in welchem die
ganze Kraft und Macht des Reiches Gottes entfaltet werden würde,
erfahren sollten.
35 Aber als die Zeit erfüllt war, und der von Gott bestimmte Zeitpunkt
fallig, da ist dieser so sehr verheißene und erwartete Erlöser gekom-
men und hat alles zu unserer Erlösung und unserem Heil Notwendige
vollendet und erfüllt (Gal 4,4). Er ist nicht nur den Israeliten gegeben
worden, sondern allen Menschen aus allen Völkern und Gegenden,
40 damit die menschliche Natur durch ihn mit Gott versöhnt würde, so
wie es in dem Buch, das nun folgt, 1 vollständig enthalten und offen
dargelegt ist. Wir haben es so getreu, wie es uns nur möglich war,
entsprechend dem Sinn und der Eigenart der griechischen Sprache
übersetzt, damit alle Christen und Christinnen, die der französischen
45 Sprache mächtig sind, das Gesetz, das sie halten und den Glauben, dem
sie folgen sollen, hören und kennen. Das erwähnte Buch wird Neues
Testament genannt im Blick auf das Alte, welches, soweit es auf dieses
hier hinführen und sich beziehen sollte, in sich schwach und unvollen-
det war und deswegen abgeschafft und aufgehoben ist. Aber dies hier
ist der neue und ewige (Bund), der nie altern und nie verfallen wird, da
Jesus Christus dessen Mittler gewesen ist; er hat ihn unterzeichnet und
bestätigt durch seinen Tod, in welchem er die völlige und gänzliche
Vergebung aller Untreue, die noch unter dem ersten Bund geblieben
war, zustande gebracht hat (Hebr 9). Die Schrift nennt ihn (sc. den
neuen Bund) auch Evangelium, d. h. gute und frohe Nachricht, denn in
10 ihm ist erklärt, daß Christus, der einzige und ewige Sohn des lebendi-
gen Gottes von Natur, Mensch geworden ist, um uns durch Annahme
an Sohnes Statt zu Kindern Gottes, seines Vaters, zu machen (Röm
8,15; Gal 4,5). So ist er unser alleiniger Heiland, in welchem ganz
allein unsere Erlösung, Friede, Gerechtigkeit, Heiligung, Heil und Le-
15 ben ruhen: der rur unsere Sünden gestorben, fiir unsere Rechtfertigung
auferstanden ist; der zum Himmel gefahren ist, um uns dort einen
Zugang zu verschaffen und fiir uns und in unserem Namen (davon)
Besitz zu ergreifen, und um immer vor seinem Vater als unser Fürspre-
cher und ewiger Hohepriester zugegen zu sein; der zu seiner Rechten
20 sitzt als König, zum Herrn und Meister über alles eingesetzt, um alle
Dinge im Himmel und auf der Erde wiederherzustellen, wozu alle
Engel, Erzväter, Propheten und Apostel nie das Wissen und Können
gehabt hätten (Hebr 7 und 8). Denn dazu waren sie von Gott nicht
bestimmt.
25 Und wie der Messias so oft im Alten Testament durch mehrere Zeug-
nisse der Propheten verheißen worden war, so ist auch durch sichere
und unbezweifelbare Zeugnisse erklärt worden, Jesus Christus und
kein anderer sei der, welcher kommen solle und erwartet wurde. Denn
Gott der Herr hat durch seine Stimme und seinen Geist, durch seine
30 Engel, Propheten und Apostel, ja durch alle seine Schöpfungswerke
uns dessen so genügend gewiß gemacht, daß keiner widersprechen
könnte, ohne seiner Macht zu widerstreben und sich dagegen aufzuleh-
nen. Als erstes hat der ewige Gott durch seine eigene Stimme, die ohne
jeden Zweifel die unwiderrufliche Wahrheit ist, uns davon Zeugnis
35 gegeben, mit dem Wort: »Hier ist mein geliebter Sohn, an dem ich
Wohlgefallen gefunden habe; diesen höret« (Mt 3,17; 17,5). Der Heili-
ge Geist ist uns in unseren Herzen dessen mächtiger Zeuge, wie der
heilige Johannes sagt (I Joh 5,6). Der Engel Gabriel, zur Jungfrau
Maria gesandt, sagte zu ihr: »Siehe, du wirst in deinem Leib empfan-
40 gen und wirst einen Sohn gebären und ihn Jesus nennen. Denn dieser
wird groß sein und Sohn des Allerhöchsten genannt werden. Und Gott
der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird
ewig über das Haus Jakobs herrschen, und seine Königsherrschaft wird
kein Ende haben« (Lk 1,31ft). Die gleiche Botschaft erging im wesent-
45 lichen an Joseph, danach auch an die Hirten, denen gesagt wurde, daß
der Heiland geboren sei, welcher ist Christus, der Herr. Und diese
Botschaft wurde nicht nur von einem Engel gebracht, sondern durch
die große Menge der Engel bestätigt, die alle zusammen dem Herrn
46 Praefatio
Ehre erwiesen und Friede auf Erden ankündigten (Lk 2,1lff). Simeon
der Gerechte hat es in prophetischem Geist laut bekannt; denn als er
das kleine Kind in den Armen hielt, sprach er: »Nun läßest du, 0 Herr,
deinen Diener nach deinem Wort in Frieden (dahingehen). Denn meine
Augen haben dein Heil gesehen, das du im Angesicht aller Völker
bereitet hast« (Lk 2,25ff). Johannes der Täufer hat ebenfalls davon
gesprochen, wie es gebührte. Als er ihn zum Jordanfluß kommen sah,
sagte er: »Dies ist das Lamm Gottes, hier ist der, welcher die Sünden
der Welt beseitigt« (Joh 1,29). Petrus und alle Apostel haben bekannt,
10 bezeugt und gepredigt, alles, was zum Heil gehört und von den Prophe-
ten vorausgesagt wurde, sei in Christus, dem wahren Sohn Gottes,
Wirklichkeit geworden. Und die, welche Gott dazu bestimmt hatte, bis
zu unserer Zeit Zeugen zu sein, haben es durch ihre Schriften umfas-
send dargelegt, wie die Leser es ausreichend werden feststellen kön-
15 nen.
Alle diese Zeugnisse passen so gut und stimmen derart überein, daß bei
einer solchen Übereinstimmung leicht zu erkennen ist, daß sie die
sicherste Wahrheit sind. Wären sie Lügen, so könnten sie nicht derart
zusammenstimmen. Indessen geben nicht nur der Vater, der Sohn und
20 der Heilige Geist, die Engel, die Propheten und die Apostel Zeugnis
von Jesus Christus, sondern auch seine wunderbaren Werke zeigen
seine unvergleichliche Kraft. Kranke, Hinkende, Blinde, Taube, Stum-
me, Gelähmte, Aussätzige, Mondsüchtige, Besessene und besonders
die von ihm auferweckten Toten haben davon Kunde gegeben. In
25 seiner Kraft hat er sich auferweckt, in seinem Namen die Sünden
vergeben. Deshalb sagte er nicht ohne Grund, daß die Werke, die sein
Vater ihn hatte tun lassen, genügend gute Zeugen für ihn seien (Joh
5,36). Darüber hinaus sind selbst die Bösen und Feinde seiner Herr-
lichkeit, wie Kaiphas (Joh 11,49), Pilatus und dessen Frau (Mt 27,19),
30 durch die Kraft der Wahrheit gezwungen worden, etwas davon zu
bekennen und anzuerkennen. Die Zeugnisse der Teufel und unreinen
Geister will ich nicht anführen, da Jesus Christus sie ja zurückgewie-
sen hat (Mk 1,25 u.a.).
Kurz, alle Elemente und alle Werke der Schöpfung haben Jesus Chri-
35 stus die Ehre gegeben. Auf seinen Befehl hin haben sich die Winde
gelegt (und) das erregte Meer sich besänftigt (Mt 8,26par); der Fisch
hat in seinem Bauch den Doppeldrachmen gebracht (Mt 17,24); um
von ihm Zeugnis zu geben, sind die Felsen zersprungen, die Sonne hat
sich verfinstert, die Gräber haben sich geöffnet und mehrere Tote sind
40 auferstanden (Mt 27,51ff). Und es gab nichts im Himmel und auf
Erden, das nicht bezeugt hätte, Jesus Christus sei sein Gott, Herr und
Meister, der erhabene Gesandte des Vaters, zu uns hemiedergesandt,
um das Heil der Menschen zu bewirken.
Alle diese Dinge sind uns angekündigt, gezeigt, aufgeschrieben und
45 bestätigt worden in diesem Testament2, durch welches Jesus Christus
2 Hier wie öfters muß das Wort »Testament« in dreifacher Weise verstanden
werden: als Neues Testament, als Bund und als Vermächtnis.
48 Praefatio
ses heritiers au royaume de Dieu son pere, et nous deeiaire son vouloir
(comme ung testateur a ses heritiers) pour estre mys en execution.
Or nous sommes tous appellez a cest heritage sans acception de per-
sonnes, masle ou femelle, petit ou grand, serviteur ou seigneur, maistre
ou disciple, eiere ou laicz, Ebrieu ou Grec, Franyoys ou Latin, nul n'en
n'est reiecte quiconque par certaine fiance recevra ce qui luy est envoye,
embrassera ce qui luy est presente, bref qui recongnoistra Iesus Christ
pour tel qu'il est donne du pere.
Et pourtant tous et toutes qui portons le nom de Chrestiens et Chres-
tiennes, nous laisserons nous ravir, cacher, et corrompre ce Testament? 10
lequel si iustement nous appartient, sans lequel ne povons pretendre
aucun droict au royaume de Dieu, sans lequel nous ignorons les grandz
biens et promesses que Iesus Christ nous a faictes, la gloire et la
beatitude qu'il nous a preparee? Nous ne syavons ce que Dieu nous a
commande ou defendu, nous ne povons discerner le bien d'avec le mal, 15
la eiairte des tenebres, les commandemens de Dieu des constitutions
des hommes. Sans L'evangile tous sommes inutiles et vains, sans
L'evangile nous ne sommes Chrestiens, sans l'evangi1e toute richesse
est paovrete, sagesse est folye devant Dieu, force est foiblesse, toute
iustice humaine est damnee de Dieu. Mais par la cognoissance de 20
L'evangile nous sommes faictz enfans de Dieu, freres de Iesus Christ,
combourgeoys des sainctz, citoyens du royaume des cieulx, heritiers de
Dieu avec Iesus Christ, par lequel les paovres sont faictz riches, les
foibles puissans, les folz sages, les pecheurs iustifiez, les desolez con-
solez, les doubteux certains, les serfz affranchis. L'evangile est parolle 25
de vie et verite. C'est la puissance de Dieu au salut de tous croyans. Et
la eief de la science de Dieu: que ouvre la porte du royaume des cieulx
aux fideles, les desliant de pechez: et la ferme aux incredules, les lyant
en leurs pechez. Bienheureux sont tous ceulx qui l'oyent et la gardent.
Car par cela ilz monstrent qu'ilz sont enfans de Dieu. Malheureux sont 30
ceulx qui ne la veulent ne ouyr ne ensuyvre: car ilz sont enfans du
diable.
o Chrestiens et Chrestiennes, entendez icy et apprenez: car certes
l'ignorant avec son ignorance perira: et l'aveugle suyvant l'autre aveugle
809 tombera avec luy en la fosse. 11 n'y a que une voye a I vie et salut, c'est 35
la foy et certitude des promesses de Dieu, qui ne se peult avoir sans
L'evangile: par l'ouye et intelligence duquella vive foy est baillee, avec
certaine esperance et parfaicte charite en Dieu, et amour ardente envers
son prochain. OU est donc vostre esperance si vous contemnez et
desdaignez de ouyr, veoir, lire, et retenir ce sainct Evangile? Ceulx qui 40
ont leurs affections fichees en ce monde pourchassent par tous moyens
Calvins Vorrede zur Olivetanbibel (1535) 49
uns zu seinen Erben des Reiches Gottes, seines Vaters, macht und uns
seinen Willen eröffnet, wie ein Erblasser seinen Erben, damit er zur
Ausführung gelange.
So sind wir alle zu diesem Erbe berufen, ohne Ansehen der Person
(Röm 2,11), Mann und Frau, klein und groß, Diener oder Herr, Lehrer
oder Schüler, Kleriker oder Laie, Jude oder Grieche (Gal 3,28), (nur)
des Französischen oder (auch) des Lateins kundig, keiner wird davon
ausgeschlossen, der mit sicherer Zuversicht empfangt, was ihm gege-
ben, und umfaßt, was ihm überreicht wird, kurz, der Jesus Christus als
10 den, welcher vom Vater gesandt ist, anerkennt.
Und nun, wollen wir alle, die wir den Christennamen tragen, uns dieses
Testament rauben, verheimlichen und verderben lassen? Das uns derart
rechtmäßig gehört, ohne das wir kein Recht auf Gottes Königreich
geltend machen können und die großen Güter und Verheißungen nicht
15 kennen, die Jesus Christus rur uns erwirkt hat, die Herrlichkeit und
Seligkeit, die er fiir uns bereitet hat? Wir wissen (von uns aus) nicht,
was Gott uns befohlen oder verboten hat, wir können das Gute nicht
vom Bösen, das Licht nicht von der Finsternis, die Gebote Gottes nicht
von menschlichen Satzungen unterscheiden. Ohne das Evangelium sind
20 wir alle unbrauchbar und nichtig; ohne das Evangelium sind wir keine
Christen; ohne das Evangelium ist aller Reichtum Armut, unsere Weis-
heit Torheit vor Gott, alle menschliche Gerechtigkeit von Gott ver-
dammt. Aber durch die Kenntnis des Evangeliums werden wir Kinder
Gottes (Gal 4,6), Brüder Jesu Christi, Mitbürger der Heiligen (Eph
25 2,9), Bürger des Himmelreiches (phil 3,20), Erben Gottes zusammen
mit Jesus Christus (Röm 8,17), durch welchen die Armen reich, die
Schwachen mächtig, die Törichten weise, die Sünder gerecht, die Ver-
zweifelten getrost, die Zweifler gewiß und die Unfreien frei gemacht
worden sind. Das Evangelium ist das Wort des Lebens und der Wahr-
30 heit, die Macht Gottes zum Heil allen Glaubenden (Röm 1,16) und der
Schlüssel zur Gotteserkenntnis, der den Gläubigen die Tür zum Him-
melreich öffnet, indem es sie von den Sünden freispricht, und es den
Ungläubigen verschließt, indem es sie in ihren Sünden festhält (Mt
18,18). Selig sind alle, die es hören und bewahren (Lk 11,28); denn
35 dadurch zeigen sie, daß sie Gottes Kinder sind. Unselig sind die, wel-
che es nicht hören und befolgen wollen; denn sie sind Kinder des
Teufels.
Christen und Christinnen, hört hier und lernt; denn mit Sicherheit wird
der Unwissende mit seiner Unkenntnis zugrunde gehen, und der Blin-
40 de, der einem anderen Blinden folgt, wird mit ihm in die Grube fallen
(Lk 6,39). Es gibt nur einen Weg zum Leben und Heil, den Glauben
und die Gewißheit der Verheißungen Gottes, was nur durch das Evan-
gelium zu erlangen ist, durch dessen Hören und Erkennen der lebendi-
ge Glaube gegeben wird, mit einer sicheren Hoffnung und vollkomme-
45 nen Zuwendung zu Gott und einer brennenden Liebe zu seinem Näch-
sten. Wo ist also eure Hoffnung, wenn ihr es verschmäht und verachtet,
dieses heilige Evangelium zu hören, zu betrachten, zu lesen und zu
bewahren? Die, welche mit ihren Gelüsten an dieser Welt hangen,
50 Praefatio
jagen mit allen Mitteln hinter dem her, was nach ihrer Überzeugung zu
ihrem Glück gehört, ohne Rücksicht auf Mühen, Leib, Leben und Ruf.
Und all dies geschieht im Dienste dieses unglücklichen Leibes, dessen
Leben so nichtig, elend und unsicher ist. Wenn es nun um das ewige
und unzerstörbare Leben geht, die unschätzbare ewige Seligkeit, um
alle Schätze des Paradieses, wollen wir uns da nicht anstrengen, um sie
zu erlangen? Die, welche sich einem Handwerk zuwenden, wie niedrig
und gewöhnlich es auch sei, setzen so viel Mühe und Arbeit daran, es
zu erlernen und zu beherrschen, und die, welche als die Gelehrtesten
10 angesehen werden wollen, quälen sich Tag und Nacht ab, um etwas
von den menschlichen Wissenschaften zu verstehen, welche doch nur
Wind und Rauch sind (Koh 1,17). Wieviel sollen wir uns demgegenüber
beim Studium dieser himmlischen Weisheit, die alles in der Welt über-
steigt und bis in die Geheimnisse Gottes eindringt, einsetzen und an-
IS strengen, (Geheimnisse,) die es ihm gefallen hat, durch sein Wort zu
offenbaren (Eph 1,7).
Was könnte uns also von diesem heiligen Evangelium entfernen und
entfremden? Beschimpfungen, Verfluchungen, Schande, Verlust welt-
licher Ehren? Doch wir wissen sehr wohl, daß Jesus Christus, dem wir
20 nachfolgen sollen, wenn wir seine Jünger sein wollen, diesen Weg
gegangen ist, und es anzunehmen gilt, verachtet, verspottet, erniedrigt
und vor den Menschen verworfen zu werden, und dafür beim Gericht
Gottes geehrt, gewürdigt, verherrlicht und erhöht zu werden. (Oder)
Verbannung, Ächtung, Verlust von Besitz und Vermögen? Doch wir
25 wissen bei der Verbannung aus einem Land sehr wohl, daß die (ganze)
Erde Gott eigen ist, und wenn wir auch überall vertrieben werden, doch
nicht außerhalb seines Herrschaftsbereiches sind; daß dann, wenn wir
entblößt und arm sind, wir einen Vater haben, der reich genug ist, um
uns zu ernähren, und auch, daß Jesus Christus arm geworden ist, damit
30 wir ihm in Armut nachfolgten. (Oder) Unglück, Gefangnis, Foltern
und Qualen? Doch wir wissen durch das Beispiel Jesu Christi, daß dies
der Weg ist, auf welchem wir zur Herrlichkeit gelangen. (Oder) schließ-
lich der Tod? Aber er nimmt uns nicht jenes Leben, das wirklich
wünschenswert ist (vgl. Röm 8,35ft).
35 Kurz, wenn wir Jesus Christus bei uns haben, wird es für uns nichts
derart Verfluchtes geben, daß es nicht durch ihn gesegnet würde, nichts
so Abscheuliches, daß es nicht geheiligt würde, nichts so Schlimmes,
daß es uns nicht zum Guten ausschlagen würde (Röm 8,28). Lassen
wir uns nicht entmutigen, wenn wir alle Mächte und Gewalten der
40 Welt gegen uns gerichtet sehen. Denn die(se) Verheißung kann uns
nicht im Stich lassen, daß der Herr in der Höhe alle Versammlungen
und Anstrengungen der Menschen, die sich gegen ihn verschwören
wollten, verlacht (ps 2,4). Seien wir nicht verzweifelt, wie wenn alle
Hoffnung verloren wäre, wenn wir vor unsern Augen die wahren Die-
45 ner Gottes sterben und zugrunde gehen sehen. Denn Tertullian hat
wahrheitsgetreu gesagt, und es ist immer bestätigt worden und wird bis
zum Ende der Zeiten gelten, daß das Blut der Märtyrer der Same der
Kirche ist.
52 Praefatio
Wir haben aber einen noch besseren und sichereren Trost: unsere Au-
gen von dieser Welt abzuwenden und alles beiseite zu lassen, was wir
vor uns sehen können, und so in Geduld das große Gericht Gottes zu
erwarten. Durch dieses wird in einem Augenblick alles, was die Men-
schen je gegen ihn angestiftet haben sollten, niedergeschlagen, ver-
nichtet und umgestürzt. Das wird geschehen, wenn das Reich Gottes,
das wir jetzt (nur) in der Hoffnung sehen, offenbar werden, und Jesus
Christus in seiner Herrschermacht mit seinen Engeln erscheinen wird.
Dann werden die Guten und die Bösen vor dem Richterstuhl dieses
10 großen Königs erscheinen müssen. Die, welche in diesem Bund fest
verharrt und den Willen dieses guten Vaters befolgt und beachtet ha-
ben, werden zu (dessen) Rechten sitzen wie wahre Kinder und Segen
empfangen: die Erfullung ihres Glaubens, das ewige Heil. Und ebenso
wie sie sich nicht geschämt haben, Jesus Christus anzuerkennen und zu
15 bekennen, als er vor den Menschen verachtet und verschmäht war,
werden sie nun Teilhaber seiner Herrlichkeit und ewig mit ihm gekrönt
sein. Aber die Entarteten, Widerspenstigen und Verworfenen, die die-
ses heilige Evangelium verschmäht und abgelehnt haben, und beson-
ders jene, die sich, um ihre Würden, Vermögen und hohen Stellungen
20 zu behalten, nicht mit Jesus Christus gedemütigt und erniedrigt und um
der Menschenfurcht willen die Gottesfurcht aufgegeben haben, wie
falsche Kinder und diesem Vater ungehorsam, (sie) werden zur Linken
sein, in die Verdammung gestoßen und so als Lohn ihres Unglaubens
den ewigen Tod erhalten (vgl. Mt 25,31ff).
25 Da ihr nun aber gehört habt, daß das Evangelium euch Jesus Christus
anbietet, in welchem alle Verheißungen und Gnaden Gottes erfüllt
sind, und der euch erklärt, daß er vom Vater gesandt ist, zur Erde
herabgestiegen ist, mit den Menschen gesprochen hat, alles, was zu
unserm Heil (nötig) war, vollendet hat, wie es im Gesetz und den
30 Propheten vorausgesagt worden ist, so muß es für euch ganz sicher und
offenkundig sein, daß euch dadurch die Schätze des Paradieses geöff-
net sind, die Reichtümer Gottes ausgebreitet und das ewige Leben
offenbart. Denn dies ist das ewige Leben, den einen wahren Gott zu
erkennen und den, den er gesandt hat, Jesus Christus (Joh 17,3), in
35 welchem er Anfang, Mitte und Ziel unserer Erlösung begründet hat.
Dieser ist Isaak, des Vaters vielgeliebter Sohn, der geopfert worden
und doch der Macht des Todes nicht unterlegen ist (Gen 22). Er ist der
wachsame Hirte Jakob, der sich so sorgfältig um die Schafe in seiner
Obhut kümmert (Gen 30). Er ist der gute und erbarmensvolle Bruder
40 Joseph, der sich in seiner Hoheit nicht geschämt hat, seine Brüder
wiederzuerkennen, so niedrig und verkommen sie auch waren (Gen
45). Er ist der große Priester und Bischof Melchisedek, der ein für
allemal ein ewiggültiges Opfer gebracht hat (Hebr 7,23). Er ist der
erhabene Gesetzgeber Moses, der sein Gesetz durch seinen Geist auf
45 die Tafeln unseres Herzens schreibt. Er ist der treue Hauptmann und
Anführer Josua, der uns ins verheißene Land führt. Er ist der edle und
siegreiche König David, der jede widerspenstige Macht seiner Hand
unterwirft. Er ist der großartige und triumphierende König Salomo, der
54 Praefatio
C'est le fort et vertueux Samson qui par sa mort a acable tous ses
ennemys.
Et mesme tout ce qui se pourroit penser ou desirer de bien est trouve en
ce seul Iesus Christ. Car il s'est humilie pour nous exalter, il s'est
asservy pour nous affranchir, il s'est apaovry pour nous enrichir, il a
este vendu pour nous racheter, captif pour nous delivrer, condarnne
pour nous absouldre, il a este faict malediction pour nostre benediction,
oblation de peche pour nostre iustice, il a este desfigure pour nous
figurer, il est mort pour nostre vie. Tellement que par luy rudesse est
adoulcie, courroux appaise, tenebres esclaircies, iniustice iustifiee, foi- 10
blesse vertueuse, desconfort console, peche empesche, mespris mesprise,
crainte asseuree, debte quictee, labeur allege, tristesse resiouye, malheur
bienheure, difficuIte facile, desordre ordonne, division unie, ignominie
anoblie, rebellion assubiectie, menace menacee, embusches desbuschees,
assaulx assaillis, effort efforce, combat combatu, guerre guerroyee, 15
vengeance vengee, torment tormente, damnation damnee, abysme
abysme, enfer enferre, mort morte, mortalite immortelle. Bref miseri-
corde a englouty toute misere, et bonte toute malheurete. Car toutes ces
choses qui soloient estre armes du diable pour nous combatre et aguillon
de la mort pour nous poindre, nous sont tournez en exercice desquelz 20
nous povons faire nostre profit. Si que nous nous povons glorifier avec
L'apostre, disans: 0 enfer Oll est ta victoire? 0 mort Oll est ton aguiIIon?
Dont est faict que par ung tel esperit de Christ promis cl ses esleuz, ne
vivons plus, mais Christ en nous, et sommes par esprit assis entre les
815 ce1estes, entant que le monde I ne nous est plus monde, toutesfois que 25
conversions en iceluy, mais estant contens en tout, soit pays, lieux,
conditions, abiIIemens, viandes, et teIles autres choses. Et sommes
confortez en tribulation, ioyeulx en tristesse, glorieux en vitupere,
abondans en paovrete, eschauffez en nudite, patiens es maulx, vivans
en mort. 30
Voila, toute la sapience que peuvent les hommes comprendre, et I
817 doivent apprendre en ceste vie, cl laquelle ne Ange, ne homme, ne mort,
ne vivant, ne peuIt adiouster ne diminuer. Pourtant c'est le but Oll il
nous fauIt arrester et limiter nostre entendement, sans rien y mesler du
nostre, ne recevoir doctrine quelconque qui y soit adioustee. Car celuy 35
qui ose entreprendre de enseigner une siIIabe ouItre, ou par dessus ce
qui nous y est enseigne, doibt estre en malediction devant Dieu et son
Eglise.
Et vous Roys, princes et seigneurs chrestiens, qui estes ordonnez de
Dieu pour punir les iniques, et entretenir les bons en paix selon la 40
parolle de Dieu, cl vous appartient de faire publier, enseigner, et entendre
Calvins Vorrede zur Olivetanbibel (1535) 55
sein Reich in Frieden und Wohlstand regiert. Er ist der starke und
kraftvolle Samson, der durch seinen Tod all seine Feinde erdrückt hat.
Und so ist alles, was man sich an Gutem auch immer erdenken oder
wünschen könnte, in dem einen Jesus Christus zu finden. Denn er hat
sich erniedrigt, um uns zu erhöhen; er hat sich zum Knecht gemacht,
um uns zu befreien; er ist arm geworden, um uns reich zu machen
(11 Kor 8,9); er ist verkauft worden, um uns loszukaufen, gefangen, um
uns zu erlösen, verdammt, um uns freizusprechen; er ist zum Fluch
geworden (GaI3,13) uns zum Segen, ein Sündenopfer uns zur Gerech-
10 tigkeit; er ist entstellt worden, um uns wiederherzustellen, gestorben,
damit wir leben. So werden durch ihn die Härte gemildert, der Zorn
besänftigt, die Finsternisse erhellt, die Ungerechtigkeit gerechtgespro-
chen, die Schwäche gekräftigt, die Trostlosigkeit getröstet, die Sünde
verhindert, die Mißachtung mißachtet, die Furcht vertrauensvoll, die
15 Schuld bezahlt, die Mühsal leicht, die Traurigkeit erfreut, das Unglück
beglückt, die Unordnung geordnet, das Getrennte vereint, die Schande
geadelt, der Aufruhr unterworfen, die Drohung bedroht, die Anschläge
aufgedeckt, die Angriffe überwältigt, die Anstrengung überwunden,
der Kampf bekämpft, der Krieg bekriegt, die Rache gerächt, die Be-
20 drängnis bedrängt, die Verdammung verdammt, der Abgrund zugrunde
gerichtet, die Hölle besiegt, der Tod getötet, die Sterblichkeit unsterb-
lich. Kurz, die Barmherzigkeit hat alles Elend verschlungen und die
Güte alles Unglück. Denn all diese Dinge, die ganz und gar Waffen des
Teufels waren, um uns zu bekämpfen, und ein Stachel des Todes, um
25 uns zu stechen, sind für uns in Übungen verwandelt worden, aus wel-
chen wir unsern Nutzen ziehen können, so daß wir mit dem Apostel
uns rühmen können: »Hölle, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Sta-
chel?« (I Kor 15,55) Daher kommt es, daß durch einen solchen, von
Christus seinen Erwählten versprochenen Geist, nicht mehr wir leben,
30 sondern Christus in uns (GaI2,20), und wir im Geist neben den Himm-
lischen thronen, derart, daß die Welt für uns nicht mehr Welt ist, auch
wenn wir noch in ihr wandeln, aber in allem zufrieden, betreffe es
Heimat, Orte, Lebensumstände, Kleider, Nahrung und andere solche
Dinge. Wir sind standhaft in Trübsalen, fröhlich in der Traurigkeit,
35 stolz unter der Verurteilung, überreich in der Armut, erwärmt in der
Blöße, geduldig in Übeln, lebend im Tod.
Hier ist die ganze Weisheit, welche die Menschen verstehen können
und in diesem Leben erlernen sollen, an welcher weder Engel noch
Mensch, weder Toter noch Lebender etwas hinzufügen oder verklei-
40 nern können. Darum ist sie das Ziel, wo wir unserm Begreifenwollen
Halt gebieten und Grenzen setzen müssen, ohne etwas von uns aus
darunter zu mischen noch irgendeine ihr dazugefügte Lehre anzuneh-
men. Denn wer es unternimmt, auch nur eine Silbe anders oder über
das uns darin Gelehrte hinaus zu lehren, muß vor Gott und seiner
45 Kirche verflucht sein (vgl. Gall,9).
Und ihr Könige, Prinzen und christliche Obrigkeiten, die ihr von Gott
dazu bestimmt seid, gemäß dem wahren Worte Gottes die Übeltäter zu
bestrafen und die Guten zu erhalten, an euch ist es, diese heilige, so
56 Praefatio
par tous vos pays, regions, et seigneuries, ceste saincte doctrine tant
utile et necessaire, affin que par vous Dieu soit magnifi6, et son Evangile
exalt6, come de bon droict il appartient que tous Roys et royaumes en
toute humilite obeissent et servent a sa gloire.
819 I 0 vous tous qui vous nommez evesques et pasteurs du paovre peuple,
voyez que les brebis de Iesus Christ ne soyent privees de leur propre
pasture. Et qu'il ne soit prohibe ne deffendu, qu'un chascun chrestien
ne puisse librement en son propre langaige lire, traicter, et entendre ce
sainct Evangile, veu que Dieu le veult, Iesus Christ le commande. Et
pour ce faire a envoye ses apostres et serviteurs par l'universel monde, 10
leur donnant grace de parler toutes langues: affin que en tous langaiges
ilz preschassent a toute creature. Et les a faictz debteurs aux Grecz et
barbares, aux saiges et simples, affin que nulz ne fussent excluz de leur
doctrine. Certes si vous estes vrayement vicaires, successeurs et
imitateurs d'iceulx, vostre office est de faire comme eulx, veillans sus 15
le troppeau, cerchans tous moyens qu'il est possible, qu'un chascun soit
instruict en la foy de Iesus Christ, par la pure parolle de Dieu. Ou
821 autrement la sentence lest desia prononcee et enregistree, que Dieu
demandera leurs ames de voz mains.
Le Seigneur des lumieres par son sainct esperit vueille de ce sainct et 20
salutaire Evangile enseigner les ignorans, fortifier les foibles, illuminer
les aveugles, et faire regner sa verite en tous peuples et nations, affin
que le monde universei ne congnoisse qu'un Dieu et ung seul saulveur
Iesus Christ: une foy, et ung Evangile. Ainsi soit il.
Calvins Vorrede zur Olivetanbibel (1535) 57
nützliche und nötige Lehre in all euren Ländern, Gebieten und Herr-
schaftsbereichen zu veröffentlichen, zu lehren und zu verstehen, damit
durch euch Gott gepriesen und sein Evangelium erhöht werde, wie es
sich denn mit gutem Recht gehört, daß alle Könige und Königreiche in
aller Demut seiner Herrlichkeit gehorchen und dienen.
o ihr alle, die ihr euch Bischöfe und Hirten des armen Volkes nennt,
sorgt dafür, daß die Schafe des Herrn Jesus Christus nicht ihrer wahren
Weide beraubt werden, und daß es keinem Christen verwehrt oder
verboten sei, frei in seiner eigenen Sprache dieses Evangelium zu
10 lesen, zu erörtern und zu verstehen, da doch Gott es will, Jesus Chri-
stus es befiehlt. Dazu hat er seine Apostel und Diener in die ganze
weite Welt gesandt und ihnen die Gnade gegeben, in allen Zungen zu
sprechen, damit sie in allen Sprachen jedem Geschöpf predigten; und
er hat sie Griechen und Barbaren, Weisen und Unweisen zu Schuld-
15 nern gemacht (Röm 1,14), damit niemand von ihrer Lehre ausgeschlos-
sen würde. Wahrhaftig, wenn ihr wirklich deren Stellvertreter, Nach-
folger und Nachahrner seid, ist es eure Pflicht, es jenen nachzutun,
über der Herde zu wachen, und nach jedem Mittel zu suchen, welches
ermöglicht, daß jedermann durch das reine Wort Gottes im Glauben an
20 Jesus Christus unterrichtet wird. Andernfalls ist das Urteil, daß Gott
ihre Seelen von euren Händen fordern wird (Ez 34,10), schon gespro-
chen und aufgeschrieben.
Der Herr allen Lichtes wolle durch seinen heiligen Geist mit diesem
heiligen und heilbringenden Evangelium die Unkundigen lehren, die
25 Schwachen stärken, die Blinden erleuchten und seine Wahrheit in allen
Völkern und Staaten herrschen lassen, damit die ganze Welt nur einen
Gott kenne, einen einzigen Heiland Jesus Christus, einen Glauben und
ein Evangelium. Amen.
3. Widmungsschreiben der Institutio
(1536)
2. Die Apologie
4 Der Text dieser» Plakate« ist bei J. CRESPIN, Histoire des Martyrs I, Toulouse
1885, 298-302, dokumentiert: »Articles veritables sur les horribles, grands et
importables abus de la Messe papale, inventee directement contre la Sainte
Cene de notre Seigneur, seul Mediateur et seul Sauveur Jesus-Christ.« Dazu:
V.L. BOURILLY IN. WEISS, Jean du Bellay. Les protestants et la Sorbonne, in:
Bulletin de I'Histoire du Protestantisme fran"ais, 53, 1904, 106ff.; L. FEBVRE,
L'Origine des Placards de 1534, in: Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance,
Bd.VII, 62ff.; sowie CADIER, 61ff.
5 Vgl. das folgende Widmungsschreiben, S. 66ff., sowie den Rückblick in der
Vorrede zum Psalmenkommentar von 1558, CO 21,24. Seinem Sekretär Ch. de
Jonvilliers diktierte Calvin später: »A I'occasion des placards la furie s'enflamba
si grande contre les fideles que ceste cause fut rendue odieuse, ou bien qu'on
craignist de donner nulle faveur iL ceux qu'ils appellent Lutheriens«, CO 10,39.
6 HERMINJARD, III, 272.
62 Widmungsschreiben der Institutio (1536) - Einleitung
Man geht davon aus, daß sich Calvin unter dem Eindruck der Verfol-
gungen des Jahres 1535, inzwischen selbst aus Frankreich vertrieben
und als Flüchtling Anfang 1535 in Basel angekommen, zur Abfassung
des Briefes an den König entschloß. Mit der Sammlung der Materiali-
en zur Institutio hatte er längst begonnen, auch muß die Ausarbeitung
der ersten Fassung damals schon recht weit fortgeschritten gewesen
sein. Vorausgegangen war dem Brief eine lateinische Vorrede zur
französischen Bibelübersetzung seines Vetters Olivetan (März oder
April 1535)12. Der Brief selbst trägt das Datum des 13. August 1535.
Da die Basler Verleger Thomas Platter und Balthasar Lasius die
Institutio auf der (am 7. September beginnenden) Franlifurter Buch-
messe präsentieren wollten, ist es wahrscheinlich, daß sie Calvin zu
10 Widmungsschreiben S. 83ff.
11 Dies sind die »klassischen« Merkmale der Kirche nach CA VII (BSLK 61,7-9).
Man darf vermuten, daß Calvin den Leitsatz Luthers: »abscondita est Ecclesia,
latent sancti« (Oe servo arbitrio, WA 18,652) gekannt hat. Erst die späteren
Ausgaben der Institutio (1559: IV, 1,3) legen das Gewicht auf die sichtbare
Gestalt der Kirche.
12 Vgl. Einleitung zu: Calvins Vorrede zur Olivetanbibel (1535), in diesem Band
S.27ff.
64 Widmungsschreiben der Institutio (1536) - Einleitung
Christian Link
Textausgaben
13 Über den Eindruck des Briefes auf den König - ob er ihn, was Th. Beza
bezweifelt, auch nur gelesen hat - wissen wir nichts. Immerhin aber gibt es
eine briefliche Notiz der Königin Margareta aus dem Jahr 1540, in der sie
Calvin mitteilt: »Der König ist wunderbarerweise befriedigt über die guten
Dienste, die Sie und die anderen ihm ... geleistet haben; er hat Sie in guter
Erinnerung. Ich bitte Sie, dem König auch weiterhin zu Diensten zu sein, wie
Sie es bisher getan haben.«; zit. nach 1. PANNIER, Jean Calvin: EpItre au Roi
(1541), Paris 1927, XXII.
14 1.W. MARMELSTEIN, Etude comparative des textes latins et franyais de I'Institu-
tion de la religion chrestienne par Jean Calvin, in: Neophilologiese Bibliotheek
No. 5, Groningen, Den Haag 1921; sowie P. BARTH, Fünfundzwanzig Jahre
Calvinforschung 1909-1934, in: ThR.NF 6, 1934 (161-175.146-167), 166f.
15 So die Angaben von OS III, S. VIf.
16 Vgl. ebd. XLIX, sowie PANNIER, a.a.O., XXVIIIff.
Widmungsschreiben der Institutio (1536) - Einleitung 65
Übersetzungen
Literatur
Die folgende Übersetzung hält sich an den lateinischen Text von 1536
in der Fassung von OS J In <> sind Erweiterungen und Ergänzungen
des französischen Textes von 1541 nach der Ausgabe von J Pannier
vermerkt.
Epistula nuncupatoria a
a Die französische Sonderausgabe aus dem Jahr 1541 trägt den Titel: »EPISTRE
AV TRESCHRESTIEN ROY DE FRANCE, FRANCOYS PRE-mier de ce
nom: en laquelle sont demonstrees les causes dont procedent les troubles qui
sont auiourd'huy en I'Eglise. Par Jean Calvin. Habac I. IVSQVES A QVAND
SEIGNEVR? M.D.XLI.«
b Die Widmung der französischen Ausgabe (1541) lautet: »A TRES HAULT,
TRES PUISSANT et tres illustre Prince, Franyois, Roy de France tres chrestien,
son Prince et souverain Seigneur, Jean Calvin, paix et salut en Dieu.«
c la plus simple forme d'enseigner, qu'i! m'a este possible.
d que premierement j' avoye delibere.
e confession de Foy.
Widmungsschreiben
Als ich zum ersten Mal Hand an dies Werk legte, dachte ich an nichts
weniger, hervorragendster König, als an die Abfassung einer Schrift,
die Eurer Majestät einmal überreicht werden sollte. Ich hatte mir nur
vorgenommen, einige Grundbegriffe vorzutragen, um all die zu wahrer
Frömmigkeit heranzubilden, die heute von religiösem Eifer ergriffen
10 sind. Und diese mühevolle Arbeit wollte ich hauptsächlich für unsere
Franzosen auf mich nehmen, von denen sehr viele, wie ich sah, nach
(Jesus) Christus hungern und dürsten, sehr wenige aber auch nur mit
den bescheidensten Kenntnissen ausgerüstet sind. Daß ich mir dies zum
Ziel gesetzt habe, dafür spricht das Buch selbst, ist es doch auf eine
15 (möglichst) einfache und elementare Form der Lehre zugeschnitten.
Dann aber mußte ich wahrnehmen, daß die Verblendung einiger bös-
williger Leute in Eurem Reich ein solches Maß angenommen hat, daß
es für die gesunde Lehre dort keinen Raum mehr gibtl. So schien es mir
der Mühe wert zu sein, mit ein und demselben Werk denen eine Unter-
20 weisung zu geben, die zu unterrichten ich mir (in erster Linie) vorge-
nommen hatte, und zugleich Euch gegenüber ein Bekenntnis (unseres
Glaubens) abzulegen, das Euch ein Urteil über die Art unserer Lehre
erlaubt, gegen die jene Verblendeten mit einer solchen Wut entbrannt
sind, daß sie heute mit Feuer und Schwert Euer Reich durcheinander
25 bringen. Denn ich gestehe ohne Scheu: Ich habe hier nahezu die Sum-
me eben jener Lehre zusammengefaßt, die diese Leute, hört man auf ihr
Geschrei, mit Gefangnis, Verbannung, öffentlicher Ächtung, ja mit
dem Feuertod bestrafen und zu Land und Wasser ausrotten wollen. Ich
weiß wohl, welch schreckliche Beschuldigungen man an Euer Ohr und
30 Herz herangetragen hat, um Euch unsere Sache so verhaßt wie nur
möglich zu machen. Doch muß Eure (Sanftmut und) Milde 2 Euch auch
Anspielung auf das Edikt vom 29. Jan. 1535, das die Vernichtung (»extermi-
nation«) der Häretiker anordnete: Am 15. Febr. 1535 mußte E. de la Forge, ein
Freund Calvins, in Paris den Scheiterhaufen besteigen. - Vgl. den BriefFranz' I.
an die deutschen Fürsten vom I. Febr. 1535 (HERMINJARD, III, 249ff.). Das
Edikt von Coucy (16. Juli 1535), demzufolge die »Häretiker« in den folgenden
sechs Monaten ihren Irrtum abschwören sollten, verschaffte den Evangelischen
eine kurze Atempause.
2 Lat.: Clementia. Seneca hat in seiner von dem Humanisten Calvin kommentier-
ten Schrift »Oe clementia« (CO 5) die »Milde« gegen die Untertanen zur
68 Epistula nuncupatoria
dies zu erwägen gebieten: Wenn schon die bloße Erhebung der Anklage
genügen sollte, dann wird es keine Unschuld mehr geben, weder in
Worten noch in Taten.
Gewiß könnte jemand, um Euch mißgünstig zu stimmen, nun argumen-
tieren, diese Lehre, von der ich Euch Rechenschaft abzulegen versuche,
sei längst durch die Stimmen aller Stände verurteilt und durch öffentli-
chen Entscheid vieler Gerichte zu Boden geschlagen. Doch sagte er
damit nichts weiter, als daß sie teils durch Parteilichkeit und Macht
unserer Gegner gewaltsam niedergeworfen, teils durch Lügen, Täu-
10 schungsmanöver und Verleumdungen hinterhältig, ja betrügerisch unter-
drückt worden ist. Es ist (nackte Macht und) Gewalt, ohne Verhör
Bluturteile gegen eine Sache zu fallen; es ist Betrug (und Verrat), ihr,
ohne daß sie's verdient, Aufruhr und Frevel nachzusagen. 3 Damit nie-
mand glaube, wir führten zu Unrecht über diese Dinge Klage: Ihr selbst,
15 edelster König, könnt unser Zeuge sein, mit welch lügenhaften Ver-
drehungen sie Tagfür Tag bei Euch vorgeführt wird, als hätte sie nichts
anderes im Auge, als alle Königreiche und Verfassungen umzustürzen,
den Frieden zu untergraben, alle Gesetze abzuschaffen, Herrschaftsge-
biete und Besitztümer zu zerstückeln, kurz, alle Dinge auf den Kopf zu
20 stellen. Und doch ist das, was ihr hört, ja nur der allerkleinste Teil.
Schreckliche Dinge nämlich werden unters Volk gestreut. Wären sie
wahr, die ganze Welt müßte diese Lehre und ihre Urheber mit Fug
und Recht des tausendfachen Feuer- und Kreuzestodes für würdig
erachten.
25 Wer mag sich da noch wundem, daß der Haß der Öffentlichkeit gegen
sie entbrannt ist, wo man all diesen noch so absurden Anschuldigungen
Glauben schenkt? Das ist's, weshalb sich alle Stände einmütig in der
Verurteilung unserer Person und Lehre zusammenfinden und verschwö-
ren! Von dieser Gesinnung angesteckt (und fortgerissen) verkünden die
30 bestellten Richter Urteile, die sie als Vorurteile schon von zu Hause
mitgebracht haben, und glauben, ihre Pflicht schon dann ordnungsge-
mäß zu erfüllen, wenn sie niemanden aufs Schafott führen lassen, es sei
denn, er wäre durch sein eigenes Geständnis oder durch zuverlässige
Zeugenaussagen überführt. Aber welches Verbrechens? Dieser verdamm-
35 ten Lehre, behaupten sie. Aber mit welchem Recht verdammt? Das
wäre doch die Aufgabe der Verteidigung: nicht die Lehre als ganze
abzuleugnen, sondern sie als wahr in Schutz zu nehmen! Hier aber wird
uns die Möglichkeit, auch nur den Mund aufzutun, abgeschnitten. Dar-
um ist es keine unbillige Forderung von mir, Ihr möget, unbesiegbarer
40 König, von dieser Sache vollständig Kenntnis nehmen. Denn bisher ist
Kardinaltugend des Herrschers erhoben: Wahre Größe und Majestät zeige sich
nicht im schrankenlosen Gebrauch der Macht, sondern in der Sorge fiir das
Wohl der Gesamtheit. VgI. M. POHLENZ, Die Stoa, 3. Auflage, Göttingen 1964,
303ff; Q. BREEN, John Calvin: A Study in French Humanism, Grand Rapids.
Mich., 1931.
3 In dem Anm. 1 zitierten Memorandum verteidigt sich Franz I. gegen den
Vorwurf religiöser Verfolgung mit dem Argument, es handle sich um Aufstän-
dische, die er als »ansteckende Pest« (HERMINJARD, a.a.O.) gnadenlos nieder-
zuwerfen das Recht und die Pflicht habe.
70 Epistula nuncupatoria
sie nur ganz verworren und ohne jedes rechtliche Verfahren, mehr mit
ohnmächtiger Leidenschaft als (maßvoll und) mit dem gesetzlich gebo-
tenen Ernst verhandelt worden.
Glaubt nicht, es komme mir dabei auf meine persönliche Verteidigung
an, um fiir mich selbst eine wohlbehaltene Rückkehr in mein Vaterland
zu erwirken. 4 Auch wenn ich mit aller einem Menschen zustehenden
Liebe an ihm hänge, kann ich es, wie die Dinge jetzt stehen, 5 doch ohne
große Beschwerde entbehren. Nein, es ist die gemeinsame Sache aller
Frommen, ja Christi selbst, die ich führe. Sie liegt heute in Eurem Reich
10 auf alle erdenkliche Weise zerrissen und niedergetreten in einem bejam-
mernswerten Zustand am Boden, freilich weit mehr durch die Tyrannei
einiger Pharisäer als mit Eurem Wissen (und Wollen). Es trägt jedoch
nichts aus, hier darzustellen, wie das gekommen ist; gewiß ist: sie liegt
schwer geschlagen am Boden. So weit nämlich haben die Gottlosen es
15 gebracht, daß die Wahrheit Christi, wenn sie nicht schon verjagt und
zerstreut zugrunde gegangen, sich wie begraben und keiner Beachtung
wert verbergen muß, und daß vollends die arme Kirche, durch grausa-
mes Morden ausgezehrt, durch Verbannung vertrieben oder durch Dro-
hungen und Terror eingeschüchtert, nicht einmal mehr den Mund auf-
20 zutun wagt. Und selbst jetzt noch rennen sie wie gewohnt mit Irrsinn
und Verbissenheit kräftig gegen die schon wankende Mauer an und
stürzen sich auf die Trümmer, die sie geschlagen haben. Niemand tritt
unterdessen auf den Plan, der sich mit seinem Schutz solchem Wüten
entgegenstellte. Und wenn schon einige Leute den Anschein erwecken
25 wollen, sie seien der Wahrheit besonders gewogen, dann plädieren sie
dafiir, mit dem Irrtum und Unverstand wenig erfahrener Menschen
Nachsicht zu üben. Ja, so reden sie, nennen Irrtum und Unverstand, was
doch die gewisseste Wahrheit Gottes ist, nennen unerfahrene Leute, die
unser Herr immerhin der Geheimnisse seiner himmlischen Weisheit fiir
30 wert gehalten hat. So sehr schämen sich alle des Evangeliums.
An Euch aber ist es, huldreichster König, Ohren und Herz einer derart
berechtigten Schutzschrift nicht zu verschließen, zumal eine so wichti-
ge Sache auf dem Spiel steht: wie nämlich Gottes Ehre auf Erden
unangetastet bleiben, wie Gottes Wahrheit ihr Ansehen behalten, wie
35 das Reich, für Christus wohlverwahrt und geschützt, unter uns Bestand
haben soll. Diese Sache ist Eures Gehörs wohl wert, wert Eurer gericht-
lichen Klärung, wert Eures Richterstuhls, so gewiß den wahren König
das Bewußtsein ausmacht, in der Verwaltung seines Reiches Gottes
Diener zu sein. Denn wer zu einem anderen Zweck regiert, als damit
40 Gottes Ehre zu dienen, der übt nicht Herrschaft aus, sondern Räuberei.
Auch täuscht sich selbst, wer für sein Reich dauerhaftes Gedeihen
erwartet, es sei denn, es werde mit Gottes Szepter, das heißt mit seinem
exeidere non potest, quo edietum est: dissipatum iri populum, ubi
defeeerit prophetia (Prov. 29).
Nee te ab hoc studio abdueere debet humilitatis nostrae eontemptus.
Nos quidem, quam paupereuli simus et abieeti homunciones, probe
nobis eonseii sumus. Coram Deo miseri peeeatores, in hominum eon-
speetu despeetissimi mundi (si vis) exerementa quaedam et reieeta-
menta, aut si quid adhue vilius nominari potest, ut, quo apud Deum
gloriemur, nihil restet, praeter unam eius miserieordiam, qua salvi nullo
nostro merito faeti sumus; apud homines vero, praeter nostram infrrmita-
tem, quam vel eonfiteri, summa inter eos ignominia est. Sed doetrinam IO
nostram supra ornnem mundi gloriam sublimem, supra ornnem potesta-
tem invietam stare oportet; quia non nostra est, sed Dei viventis ae
Christi eius, quem pater regem eonstituit, ut a mari usque ad mare
dominetur, et a fluminibus usque ad terminos orbis terrarum, et sie
quidem dominetur, ut totam terram eum ferreo suo atque aereo robore, 15
eum splendore aureo et argenteo, sola oris sui virga pereussam, non
seeus eomminuat, quam figulina vaseula, quemadmodum de magnifieen-
tia regni ipsius vatieinantur prophetae (Dan. 2 res. 11. Psa1.2).
Reclamant quidem adversarii, falso nos praetendere verbum Dei, euius
seeleratissimi simus eorruptores. Haee vero, quam sit non modo malitiosa 20
ealurnnia, sed insignis quoque impudentia, ipse eonfessionem nostram
legendo, pro tua prudentia iudieare poteris. Nonnihil tamen hie etiam
dieendum est, quod tibi ad leetionem ipsam viam sternat. Paulus
24 (Rom.12), eum ad fidei analogiamk ornnem prophetiam for- I matam
esse voluit, eertissimam amussim posuit, qua probari seripturae interpre- 25
tatio debeat. Ad hane itaque fidei regulam si nostra exigantur in manibus
est vietoria. Quid enim melius atque aptius fidei eonvenit, quam agno-
seere nos ornni virtute nudos, ut a Deo vestiamur, ornni bono vaeuos, ut
ab ipso impleamur, nos peeeati servos, ut ab ipso liberemur, nos eaeeos
ut ab ipso illuminemur, [13] nos claudos, ut ab ipso dirigamur, nos 30
k et sirnilitude
Widmungsschreiben der Institutio (1536) 73
heiligen Wort regiert6 , kann doch der Spruch des Himmels nicht hinfal-
lig werden, in dem es heißt: »Wo die Weissagung aufhört, wird das
Volk sich zerstreuen« (Spr 29,18).
Keine Geringschätzung unseres niedrigen Ansehens darf Euch von
diesem Bemühen abhalten. Denn wir wissen wahrhaftig nur zu gut, was
für armselige und kümmerliche Menschen wir sind: vor Gott beklagens-
werte Sünder, in den Augen der Menschen die verachtetsten Geschöp-
fe, eine Art »Auswurf und Kehricht«? der Welt (wenn man will) oder
noch etwas Verächtlicheres, wenn man denn einen Namen dafür finden
10 könnte. Darum bleibt uns vor Gott nichts, womit wir uns rühmen
könnten als allein seine Barmherzigkeit8, durch die wir ohne unser
Verdienst das Heil erworben haben9; vor den Menschen nichts als
unsere Schwachheit lO , deren bloßes Eingeständnis bei ihnen als Gipfel
der Schmach gilt. Unsere Lehre aber muß über alle Herrlichkeit der
15 Welt erhaben dastehen, unbesiegbar über aller Macht. Denn sie ist nicht
unser, sondern des lebendigen Gottes und seines Christus, den der
Vater zum König eingesetzt hat, daß er »herrsche von Meer zu Meer,
von den Flüssen bis an die Enden des Erdkreises«l1, und seine Herr-
schaft so ausübe, daß er die ganze Erde in ihrer Festigkeit aus Eisen und
20 Erz, ihrem Glanz von Silber und Gold (Dan 2,32) mit dem bloßen »Stab
seines Mundes« schlägt (Jes 11,4) und wie »Töpfergeschirr« zerbricht
(Ps 2,9), so wie es die Propheten von der Herrlichkeit seines Reiches
weissagen.
Unsere Gegner allerdings wenden ein, wir nähmen Gottes Wort fälsch-
25 lich für uns in Anspruch und richteten es dadurch aufs frevelhafteste
zugrunde. 12 Doch werdet Ihr in Eurer Klugheit beim Lesen unseres
Bekenntnisses selbst beurteilen können, daß dies nicht nur eine böswil-
lige Verleumdung, sondern obendrein eine ausgemachte Unverschämt-
heit ist. Dennoch will ich schon an dieser Stelle einiges Wenige sagen,
30 was Euch den Weg zur Lektüre ebnen mag. Wenn Paulus von aller
Weissagung verlangt, daß sie dem »Maßstab des Glaubens« (Röm
12,6) entspricht, so gibt er uns die sicherste Richtschnur an die Hand,
an der die Auslegung der Schrift gemessen werden muß.!3 Wenn man
daher nach dieser Regel unsere Aufstellungen prüft, dann ist der Sieg
35 auf unserer Seite. Denn was entspricht dem Glauben besser und genau-
er als die Erkenntnis, daß wir aller Vorzüge entblößt sind, damit Gott
uns bekleide? leer an allem Guten, damit er uns fülle? wir Knechte der
Sünde, damit er uns frei mache? wir blind, damit er uns erleuchte? wir
6 Vgl. hierzu Inst. (1536) VI,3 (CO 1,228ff.); Inst. (1559) IV,20 bes. 6 und 9ff.
7 I Kor 4,13.
8 II Kor 10,17 (Die Hinweise finden sich in der französischen Fassung).
9 Tit 3,5-7.
10 II Kor 11,30; 12,5 und 9.
11 Ps 72,8.
12 Alfonsus de Castro, Adversus ornnes haereses, Paris 1534, lib. I c.4 f.8 E ff.
13 Die Prinzipien seiner eigenen Schriftauslegung hat Calvin im Widmungsschreiben
an Grynäus dargelegt: CO 10/2 (Nr. 191) = HERMINJARD, IV,74ff. - Dazu: D.
SCHELLONG, Calvins Auslegung der synoptischen Evangelien, München 1969,
13ff.
74 Epistula nuncupatoria
andere mit Ruten gepeitscht, andere zum Gespött (durch die Straßen)
geführt, andere verbannt, andere entsetzlich gefoltert, wieder andere
können nur flüchtend davonkommen. 24 Mangel an den notwendigsten
Dingen drückt uns alle, wir werden mit den schrecklichsten Verwün-
schungen verflucht, mit Lästerungen zerfleischt, auf unwürdigste Wei-
se behandelt. Werft nun einen Blick auf unsere Widersacher (ich spre-
che vom Stand der Priester, auf deren Wink und Wille hin sich die
anderen mit uns verfeinden) und überlegt einen Augenblick mit mir,
was für ein Eifer diese Menschen treibt. Leichthin erlauben sie sich und
10 anderen, die wahre Religion, wie sie in der Schrift überliefert ist und
jedermann bekannt sein sollte, zu ignorieren, zu vernachlässigen, ja zu
verachten. Es macht ihrer Meinung nach wenig aus, was einer von Gott
und Christus hält oder nicht, wenn er nur kraft des »impliziten Glau-
bens«25, (wie sie sich ausdrücken), seine Gesinnung dem Urteil der
15 Kirche unterwirft. Es ficht sie nicht sonderlich an, ob Gottes Ehre dabei
mit offenkundigen Lästerungen befleckt wird, (solange nur niemand
ein Wort gegen die Autorität unserer heiligen Mutter Kirche laut wer-
den läßt). Warum führen sie mit solcher Wut und Verbissenheit ihren
Kampf für die Messe, das Fegefeuer, die Wallfahrten und dergleichen
20 Windbeuteleien? Warum behaupten sie gar, ohne den sozusagen expli-
zitesten Glauben an diese Dinge werde es keine heilsame Frömmigkeit
geben, wo sie doch nichts von alledem aus dem Wort Gottes beweisen
können? Ja warum? Aus keinem anderen Grund, als weil »ihr Gott der
Bauch«26 und ihre Religion die Küche ist; nimmt man ihnen die, so
25 würden sie sich nicht mehr für Christen, ja nicht einmal mehr für
Menschen halten. Denn wenn auch die einen im Luxus schwelgen,
während sich die andern von mageren Brotkrusten nähren: sie leben
doch alle aus ein und demselben Topf, der ohne dieses Brennmaterial
nicht bloß kalt würde, sondern ganz und gar zu Eis erstarrte. Je mehr
30 einer von ihnen daher für seinen Bauch besorgt ist, desto heftiger
streitet er für seinen Glauben. Zuletzt haben es alle nur auf diesen einen
Punkt abgesehen, entweder ihre Herrschaft ungeschmälert oder ihren
Bauch wohlgemllt zu behalten. Bei niemandem findet sich auch nur das
leiseste Zeichen eines unverfälschten, lauteren Eifers.
35 Und dennoch hören sie nicht auf, unsere Lehre anzugreifen, ihr alle nur
möglichen Namen anzuhängen und sie in Verruf zu bringen, um sie
24 Die Schilderung bezieht sich auf die erste systematische Verfolgung der
»Lutheriens« nach der sog. Plakataffäre (17.10.1534), die gleichermaßen vom
Parlament wie vom König ausging. Vgl. Calvins Vorrede zur Psalmenauslegung,
CO 21,24, sowie: J.PANNIER (Hg), Jean Calvin: Epitre au Roi, Paris 1927, S.
IXff; 61ff.
25 Die von der Hochscholastik - Thomas, STh 11-11 qu.2, a.5-8; G. BIEL, Collecto-
rium in sent. III. Dist.25 qu. unica E ff. - ausgebildete Lehre von der »fides
implicita« besagt, daß im Glauben an den »Kirchenglauben« alle einzelnen
Offenbarungswahrheiten »eingeschlossen« sind. Die Reformation hat diese Lehre
energisch bekämpft, namentlich Calvin, der das Element der Erkenntnis (cogni-
tio) ausdrücklich in die Definition des Glaubens hineinnimmt: Inst. (1559)
III,2,3.
26 PhiI3,19.
78 Epistula nuncupatoria
verhaßt oder wenigstens verdächtig zu machen. Neu nennen sie sie und
noch in den Windeln liegend, machen sich lustig über sie, als wäre sie
zweifelhaft und ungewiß.27 Durch was für Wunder sie denn beglaubigt
sei, wollen sie wissen28 , fragen, ob es denn angehe, daß sie sich gegen
den Konsens so vieler heiliger Kirchenväter 29 und gegen uraltes Her-
kommen30 behaupten sollte. Sie drängen uns zu dem Eingeständnis, sie
für schismatisch zu erklären, da sie ja zum Kampf gegen die Kirche
rüste31 . Denn andernfalls müßte die Kirche während vieler Jahrhunder-
te, in denen man nichts dergleichen vernommen habe, ja wie tot gewe-
losen sein. 32 Endlich, erklären sie, brauche es überhaupt nicht vieler
Argumente, denn was es mit unserer Lehre auf sich habe, könne man an
ihren Früchten erkennen, an dem großen Schwarm von Sekten näm-
lich33 , an der Welle aufrührerischer Wirren34 oder an der erschrecken-
den Freizügigkeit zu jeder Art Laster35 , die sie mit sich gebracht habe.
15 Es ist wahrhaftig ein Leichtes, bei der gutgläubigen und unerfahrenen
Menge über unsere verlassene Sache herzufallen! Wenn aber umge-
kehrt das Recht zu reden auch einmal an uns käme, dann würde die
Glut, mit der sie aus vollen Backen derart gegen uns losschäumen,
schon ein wenig abkühlen!
20 (1) Zum ersten: Wenn sie unsere Lehre neu nennen, beleidigen sie Gott
aufs schwerste. Sein heiliges Wort hat es nicht verdient, der Neuheit
beschuldigt zu werden. Daß sie ihnen freilich neu ist, denen auch
Christus und das Evangelium neu sind, das bezweifle ich keinen Au-
genblick. Wer aber weiß, daß die Predigt des Paulus: »Jesus Christus
25 sei um unserer Sünde willen gestorben und um unserer Rechtfertigung
willen auferweckt« (Röm 4,24) durchaus alt ist, der wird bei uns nichts
Neues entdecken. Daß sie so lange unbekannt geblieben und vergraben
war, ist die Schuld menschlicher Gottlosigkeit. Jetzt, da sie uns durch
Gottes Güte neu geschenkt wird, sollte sie wenigstens nach dem Recht
30 der Heimkehr ihre alte Autorität geltend machen dürfen.
(2) Es kommt aus derselben Quelle ihrer Unwissenheit, daß sie unsere
Lehre für zweifelhaft und ungewiß halten. Hier trifft in der Tat zu,
worüber der Herr durch seine Propheten Klage führt: »Ein Ochse kennt
seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herren«, sein Volk aber
35 kenne ihn nicht (Jes 1,3). Laßt sie nur immer über deren Ungewißheit
spotten: wenn sie ihre Lehre einmal mit dem eigenen Blut und dem
Einsatz ihres Lebens besiegeln müßten, dann könnte man sehen, was
sie ihnen wert ist! Unsere Zuversicht ist ganz anders: sie kennt keine
Furcht vor den Schrecken des Todes, ja nicht einmal vor Gottes eige-
40 nem Richterstuhl.
27 A. de Castro, a.a.O. (Anm. 12) c.14 f.29 D E.
28 Ebd. c.14 f.29 F.
29 Ebd. c.7f.15 E.
30 VgL Iudocus Clichtoveus, Antilutherus, Paris 1524, lib.I, c.12 f.24f.
31 J.Eck, Enchiridion, c.1 A 6 b.
32 Ebd. c.l A 5 a; A. de Castro, a.a.O. c.14 f.29 F.
33 J.Eck, aaO. c.1 A 5 b.
34 Franz I. an die deutschen Fürsten, HERMINJARD, III, 25lf.
35 Clichtoveus, Antilutherus, c.l. f.4.
80 Epistula nuncupatoria
o Einschub: Ils pourroient icy avoir plus d'apparence si I'Escriture ne nous eust
advertiz, quel est l'usage It5gitirne des miracIes. Car S. Mare dit, que ceux qu'on
faictz les Apostres, ont este faictz pour confmner leur predication. Pareillement
Saint Luc dit, que nostre Seigneur en ce faisant, a voulu rendre tesmoignage a la
parole de sa grace. A quoy respond ce que dit I' Apostre. Que le salut adnonce
par I'Evangile a este confmne en ce que Dieu en a testifie par signes et vertuz
miraculeuses. Quand nous oyons que ce doivent estre seaux pour se eller
I'Evangile, les convertirons-nous a destruire son authorite? Quand nous oyons
qu'ilz sont destinez a establir la verite, les appliquerons-nous a fortifier le
mensonge? Pourtant il fault que la doctrine, laquelle precede les miracIes,
comme dit I'Evangeliste, soit examinee en premier lieu. Si elle est approuvee:
lors elle pourra bien prendre confmnation par les miracIes. Or c'est une bonne
enseigne de vraye doctrine, comme dit Christ, si elle ne tend point en la gloire de
hommes mais de Dieu. Puis que Christ afferme que teile doibt estre l'espreuve:
c' est mal prendre les miracIes, que de les tirer a autre fm, que pour illustrer le
Nom deDieu.
Widmungsschreiben der Institutio (1536) 81
(3) Wunder von uns verlangen kann man nur im Unverstand. Denn wir
schmieden uns doch nicht irgendein neues Evangelium zurecht, son-
dern halten an dem einen fest, dessen Wahrheit all die Wunder erhärten
wollen, die Christus und die Apostel je vollbracht haben. Etwas Einzig-
artiges allerdings haben die Gegner uns voraus: sie können ihren Glau-
ben mit Wundem bestätigen, die bis zum heutigen Tage anhalten. Oder
richtiger: sie bringen Wunder vor, die dazu angetan sind, einen einiger-
maßen gut gebauten Verstand ins Wanken zu bringen, so abgeschmackt
und lächerlich sind sie, so eitel und verlogen. Und selbst wenn sie
IO tatsächlich über die Maßen wunderbar wären, dürften sie Gottes Wahr-
heit gegenüber doch gar nicht ins Gewicht fallen, weil ja Gottes Name
immer und überall geheiligt sein will, sei es im Wunderzeichen oder in
der natürlichen Ordnung der Dinge. (Ihr Schwindel könnte vielleicht
ein besseres Aussehen haben, wenn uns die Schrift nicht an den legiti-
15 men Gebrauch der Wunder erinnerte. Denn Markus lehrt, daß die Zei-
chen der Apostel nur eben zu Bestätigung ihrer Predigt geschehen
sind36 . Ebenso heißt es bei Lukas, daß unser Herr Wunder geschehen
ließ, um »für das Wort seiner Gnade Zeugnis abzulegen«3? Dem ent-
spricht das Wort des Apostels, das im Evangelium verkündigte Heil sei
20 durch das »Zeugnis Gottes mit Zeichen und machtvollen Taten« be-
kräftigt worden38 . Wenn wir also hören, daß es sich hier um Gefäße
handelt, das Evangelium zu versiegeln: dürfen wir sie dann einfach
umkehren, um die Autorität des Evangeliums zu zerstören? Sollen wir,
was zur Bestätigung der Wahrheit bestimmt ist, zur Befestigung der
25 Lüge gebrauchen? Nein, man muß vielmehr an erster Stelle die Lehre
prüfen, die nach dem Bericht des Evangelisten jedem Wunder voraus-
geht. Erst wenn sie sich bewährt hat, kann sie ihre Bestätigung durch
Wunder erfahren. Es ist aber ein treffliches Kennzeichen aller wahren
Lehre, ob sie, wie Christus sagt, Gottes oder der Menschen Ehre sucht39 .
30 Wenn Christus dies Kennzeichen zum Beweisgrund erhebt: dann macht
man von den Wundem einen falschen Gebrauch, wenn man sie zu
einem anderen Zweck heranziehen wollte, als um Gottes Namen zu
verherrlichen4o .) Außerdem gilt es zu bedenken, daß auch der Satan
seine eigenen Wunder hat41 : mag hier auch mehr Blendwerk im Spiel
35 sein als wirkliches Können, so sind sie doch dazu angetan, unvorsichti-
ge und unerfahrene Leute zum Besten zu halten. Magier und Zauberer
haben sich immer durch Wunder berühmt zu machen gewußt; staunen-
erregende Wunder haben dem Götzendienst Nahrung gegeben, ohne
daß darum der Aberglaube von Zauberern und Götzendienern bei uns
40 Anerkennung gefunden hätte.
36 Mk 16,20.
37 Apg 14,3.
38 Hebr 2,4.
39 Joh 5,41-44 (lat. Fassung seit 1539: Joh 7,18; 8,50).
40 Lev 13; gemeint ist: Dtn 13 ,2ff.
41 11 Thess 2,9.
82 Epistula nuncupatoria
Auch die Donatisten versuchten im Altertum die Einfalt des Volkes mit
diesem Rammbock zu erschüttern: sie hätten Macht, Wunder zu wir-
ken. Darum geben wir unsern Gegnern jetzt dasselbe zur Antwort, was
damals Augustin den Donatisten erwiderte: Der Herr hat uns vorsichtig
gemacht gegen diese Wundertäter, da er ja voraussagte: es würden
»falsche Propheten auftreten, um durch gewaltige Zeichen und Wunder
auch die Auserwählten, so es möglich wäre, in die Irre zu führen«
(Mt 24,24).42 Auch Paulus hat uns gewarnt, das Reich des Antichrist
werde »mit machtvollen Taten, mit allen Zeichen und Wundem der
10 Lüge« kommen (11 Thess 2,9). Unsere Wunder aber, wenden sie ein,
stammen doch nicht von Götzenbildern, nicht von Scharlatanen oder
falschen Propheten, sondern von dem Heiligen selbst! Als ob wir nicht
wüßten, daß es Satans Kunst ist, sich »in einen Engel des Lichts« zu
»verkleiden«!43 Die Ägypter haben vor langer Zeit dem bei ihnen
15 bestatteten Jeremia Opfer und andere göttliche Ehrungen dargebracht: 44
war das nicht Mißbrauch eines heiligen Propheten Gottes zum Götzen-
dienst? Und doch erreichten sie mit dieser Verehrung seines Grabes,
daß sie von Schlangenbissen geheilt wurden. Was sollen wir dazu
sagen? Nichts weiter, als daß Gottes höchst gerechte Strafe immer darin
20 bestanden hat und bestehen wird, denen, welche »die Liebe zur Wahr-
heit nicht angenommen« haben, »kräftige Irrtümer« zu schicken, »da-
mit sie der Lüge glauben« (11 Thess 2,lOf.). Wunder also fehlen uns am
allerwenigsten, nicht einmal solche, die unbestritten sind und sich kei-
nem Spott auszusetzen brauchen. Was aber unsere Gegner vor ihren
25 Wagen spannen, sind reine Blendwerke des Satans, da sie das Volk von
dem wahren Dienst ihres Gottes zu leerem Schein verfiihren45 .
(4) Völlig zu Umecht führen sie des weiteren die Kirchenväter gegen
uns ins Feld 46 (ich verstehe darunter die alten Schriftsteller aus einer
noch besseren Zeit), als hätten sie in ihnen Fürsprecher ihrer Gottlo-
30 sigkeit. Denn wäre mit ihrer Autorität der Streit ausgefochten, der
Löwenanteil des Sieges fiele uns zu. Da es aber auch jenen Vätern
ungeachtet des Vielen, was sie ausgezeichnet und weise verfaßt ha-
ben, in einigen Fällen erging, wie es Menschen zu ergehen pflegt,
(sich nämlich zu irren), beten diese frommen (und gehorsamen) Söh-
35 ne - wendig, wie sie bei ihrer Begabung, Urteilsfähigkeit und Gesin-
nung nun einmal sind - (gemäß ihrer eigenen Doktrin) nur deren
Ausrutscher und Irrtümer an. Was sie vortrefflich gesagt haben, be-
achten sie entweder nicht oder verheimlichen und entstellen es, so daß
man getrost sagen kann: sie kennen nur eine Sorge, den Mist aus dem
illis eurae flüsse, in auro legere stereora. Tum improbis clarnoribus nos
obruunt, eeu Patrum eontempores et adversarios. Nos vero adeo illos
non eontemnimus, ut si id praesentis instituti esset, nullo negotio mihi
lieeat meliorem eorum partern, quae hodie a nobis dieuntur, ipsorum
suffragiis eomprobare. Sie tarnen in eorum seriptis versarnur, ut semper
meminerimus omnia nostra esse, quae nobis serviant, non dominentur,
nos autem unius [17] Christi (1 Cor. 3) eui per omnia sine exeeptione
parendum sit. Hune delectum qui non tenet, nihil in religione constitutum
habebit, quando multa ignorarunt saneti illi viri, saepe inter se eon-
flietantur, interdum etiarn secum pugnant. Non sine causa, inquiunt, a IO
Solomone (Prov. 22) admonemur, ne transgrediarnur antiquos terminos,
quos posuerunt patres nostri. At non eadem est regula in agrorum
limitibus et obedientia fidei, quarn sie comparatarn esse oportet, ut
obliviseatur populum suum, et domum patris sui (Psal. 45). Quod si
tantopere gestiunt UAAllYOpti:;Etv, eur non apostolos potius quarn alios 15
quosvis Patres interpretantur, a quibus praescriptos terminos nefas sit
revellere? Sie enim interpretatus est Hieronymus, euius verba in suos
eanonesretulerunt.
Quod si eorum, quos intelligunt, fixos esse volunt terrninos, eur ipsi
quoties libet adeo lieenter transgrediuntur? Ex patribus erant, quorum 20
alter (Aeatius, in Tripert. historia) dixit: Deum nostrum non edere
neque bibere, itaque non habere opus ealieibus neque discis; alter
28 (Ambrosius lib. 1. de I offieiis): sacra aurum non quaerere neque auro
placere, quae auro non emuntur. Transgrediuntur ergo limitern, eum in
saeris suis tantopere auro, argento, ebore, marmore, lapillis, serieis 25
delectantur, nec rite Deum eoli putant, nisi omnia luxu diffluant. Pater
erat (Spiridion Tripert. hist. lib.1. e.10) qui dixit: ideo se libere earnes
edere, quo die eaeteri abstinebant, quia Christianus esset. Itaque fines
transiliunt, eum diris animarn devovent, quae per quadragesimarn earnem
gustaverit. Patres erant (Tripert. hist. lib. 5.e.1) quorum unus dixit: 30
Widmungsschreiben der Institutio (1536) 85
Gold herauszulesen. 47 Und dann überschütten sie uns mit ihrem maß-
losen Geschrei, als seien wir die Verächter und Widersacher der
Kirchenväter. Dabei sind wir soweit davon entfernt, sie zu verachten,
daß es mir - wenn es jetzt ginge - ohne jeden Aufwand möglich wäre,
den größten Teil der heute von uns vertretenen Auffassungen mit
ihren Stimmen zu belegen. Dennoch bewegen wir uns in ihren Schrif-
ten nie anders als im Bewußtsein dessen, daß »alles unser« ist, dazu
bestimmt, uns zu dienen, nicht über uns zu herrschen, wir aber »allein
Christus gehören« (I Kor 3,21-23), dem wir in allen Stücken ohne
10 Ausnahme Gehorsam schuldig sind. Wer sich an diese Regel nicht
hält, wird in Fragen der Religion keinen Boden unter die Füße bekom-
men, da doch auch diese heiligen Männer vieles nicht gewußt haben,
oft miteinander im Streit liegen und sich bisweilen sogar selbst wider-
sprechen. Nicht ohne Grund, sagen sie, warnt uns Salomo davor, die
15 »uralten Grenzen« zu überschreiten, »die unsere Väter gesetzt haben«
(Spr 22,28).48 Aber man kann doch nicht gut ein und dieselbe Regel
auf die Grenzlinien der Äcker und auf den Gehorsam des Glaubens
anwenden! Denn dieser Gehorsam muß so gerüstet sein, daß er »sein
Volk und das Haus seines Vaters vergißt« (Ps 45,11). Wenn sie aber
20 schon eine solche Freude am Allegorisieren haben, warum nehmen
sie dann nicht lieber die Apostel statt irgendwelcher anderer Männer
als jene Väter in Anspruch, deren festgesetzte Grenzsteine zu verrük-
ken Frevel ist? So nämlich hat Hieronymus die Stelle interpretiert,
dessen Aufstellungen sie doch in ihr Kirchemecht aufgenommen ha-
25 ben. 49
Wenn sie aber die Grenzsteine derer, die sie für Kirchenväter ansehen,
unverrückt haben wollen, warum setzen sie sich selbst, sooft es ihnen
paßt, derart willkürlich darüber hinweg? Kirchenväter waren es, von
denen einer (Achatius) feststellte: Unser Gott ißt und trinkt nicht,
30 deshalb braucht er auch weder Kelche noch Schüsseln50 ; ein anderer
(Ambrosius): Was heilig ist, fragt nicht nach Gold, und was mit Gold
nicht erkauft wird, kann auch durch Gold nicht gefallen51 . Da ist es also
eine Grenzüberschreitung, wenn sie sich bei ihren Zeremonien derma-
ßen an ihrem Gold, Silber, Elfenbein, Marmor, Edelsteinen und seide-
35 nen Kleidern gefallen und eine richtige Gottesverehrung nur dann für
möglich halten, wenn alles von Luxus überfließt. Es war ein Kirchenva-
ter (Spiridion), der erklärte: er esse in aller Freiheit gerade an den Tagen
Fleisch, an denen die anderen fasten, weil er ein Christ sei. 52 Über diese
Grenzen setzen sie sich daher hinweg, wenn sie jemanden mit dem
40 Bann verfluchen, weil er während der vierzigtägigen Fastenzeit Fleisch
oder anderen Seite hin eine Entscheidung zu treffen, ohne klare und
einleuchtende Schriftzeugnisse für sich zu haben. 62 Diese Grenze haben
sie vergessen, als sie eine solche Unmenge an Verordnungen, Rechts-
bestimmungen und Lehrentscheidungen ohne irgendeine Grundlage in
Gottes Wort erließen. Ein Kirchenvater war es (Apollonius), der Monta-
nus unter anderen Ketzereien auch die vorwarf, daß er als erster (den
Christen) Fastengebote auferlegt hätte. 63 Auch über diese Grenze sind
sie weit hinausgeschritten, indem sie das Fasten mit den allergenauesten
Vorschriften zur unverbrüchlichen Pflicht gemacht haben. 64 Ein Kirchen-
10 vater (Paphnutius) bestritt das Recht, den Klerikern die Ehe zu verbie-
ten und erklärte die eheliche Gemeinschaft mit der eigenen Frau für
Keuschheit,65 und Kirchenväter haben seiner Überzeugung beigestimmt.
Von diesen Grenzen haben sie sich losgesagt, als sie ihren Priestern das
Zölibat auferlegten. Ein anderer Kirchenvater (Cyprian) hat seine Stim-
15 me dafür erhoben, daß man allein auf Christus hören solle, von dem uns
(durch unsern himmlischen Vater) gesagt ist: »Den sollt ihr hören«66;
deshalb dürfe man nicht gelten lassen, was andere vor uns gesagt oder
getan hätten, sondern was Christus geboten habe, der unter allen der
erste ist. 67 An diese Grenze halten sie weder sich selbst, noch erlauben
20 sie andern, daran festzuhalten, da sie an Christi Stelle sich und den
anderen längst andere Autoritäten als Lehrer vorsetzen. 68 Alle Kirchen-
väter haben einmütig verdammt und sich mit einer Stimme dagegen
verwahrt, das heilige Gotteswort mit Spitzfindigkeiten von Sophisten
in Berührung zu bringen und es in den Streit der Dialektiker hin-
25 einziehen zu lassen. 69 Aber halten sich unsere Gegner etwa an diese
Grenzen? Tun sie ihr Leben lang etwas anderes, als das einfache Wort
der Schrift in endlose Antithesen und mehr als sophistische Streitfragen
zu verwickeln und in Fesseln zu schlagen? Wenn heute die Kirchenvä-
ter aus ihren Gräbern aufstünden und derartige Kunststücke hören
30 müßten (die diese Leute als spekulative Theologie ausgeben), sie wür-
den alles andere eher für möglich halten, als daß hier von Gott die Rede
ist. Doch wie breit müßte mein Vortrag ausholen, wollte ich Punkt für
Punkt durchmustern, mit welcher Willkür sie das Joch der Väter ab-
schütteln (für deren treue Söhne sie doch angesehen sein wollen).
35 Wahrhaftig, Monate und Jahre würden mir dazu nicht reichen! Und nun
62 In der angegebenen Schrift »Über die Gnade des Neuen Bundes« finden sich
diese Sätze nicht; vgl. jedoch: Augustin, De peccatorum meritis et remissione et
de Baptismo parvulorum, lib.1I c.36; MPL 44,186; CSEL 60,128.
63 So Eusebius in seiner »HistoriaEcc1esiastica« V.18: GCS 9 1,472.
64 Maßgebliche Quelle ist auch hier das Decretum Gratiani 111 (De consecratione,
dist.lII, can.9); CIC (Anm. 49) 1353ff.
65 Angeführt nach Cassidorus, Historia tripartita, 11,14; MPL 69,933. Zu den
Gewährsmännem s. CIC, FRIEDBERG, a.a.O. 105.
66 Mt 17,5.
67 Cyprian, Ep. 63,14 (an Caecilium); MPL 4,383; CSEL 311,712.
68 Vgl. etwa I.Clichtoveus, Propugnaculum 111, c.4, f.135f., oder A. de Castro,
Adversus omnes haereses, I c.5, f.l0 D.
69 Insbesondere Tertullian, De praescriptione haereticorum 7, ed. F. OEHLER, 1851/
54, S.8ff; Augustin, De doctrina christiana 11,31; MPL 34,57f.
90 Epistula nuncupatoria
wagen sie es mit einer Unverschämtheit, daß man von Sinnen kommen
und weinen möchte, uns zurechtzuweisen, daß wir uns über die alten
Grenzen hinwegsetzen!
(5) Auch damit richten sie nichts aus, daß sie uns auf das Herkommen
verweisen. Denn es hieße höchst ungerecht mit uns verfahren, wollte
man (uns zwingen), uns nach dem Herkommen zu richten. Gewiß,
wenn die Urteilskraft der Menschen fehlerfrei wäre, müßten die Guten
den Maßstab fUr das Herkommen abgeben. Doch allzuoft pflegt es ganz
anders zuzugehen. Was man nämlich die Menge tun sieht, das behaup-
10 tet sich als Gewohnheitsrecht. Und es hat kaum jemals so gut mit der
Menschheit gestanden, daß das Bessere den Beifall der Mehrheit gefun-
den hätte. So entsteht aus den persönlichen Fehlern vieler einzelner in
den meisten Fällen ein öffentlicher Irrtum aller oder richtiger: ein
gemeinsamer Konsens in den Fehlern, und das - so wollen es diese
15 guten Leute - soll nun als Gesetz gelten! Wer Augen hat zu sehen, sieht
ja, daß nicht nur ein Meer von Übeln den Erdkreis überschwemmt hat:
es sind viele gefährliche Seuchen, die ihn befallen haben, alles stürzt
dem Abgrund zu, und man muß die Sache der Menschheit entweder fUr
verloren geben oder aber Hand anlegen oder besser noch: Gewalt brau-
20 chen gegen solch übergroße NoUo Und nun verweigert man das Heil-
mittel aus keinem anderen Grund, als weil wir uns längst schon an diese
Übel gewöhnt haben. Mag in der menschlichen Gesellschaft der öffent-
lich anerkannte Irrtum immerhin seinen Platz behaupten: in Gottes
Reich muß man jedoch allein auf Gottes ewige Wahrheit hören und
25 schauen, der keine Vorschrift etwas anzuhaben vermag, stamme sie aus
einer noch so langen Reihe von Jahren, aus altem Herkommen oder aus
einem gemeinsamen Komplott. So hat dereinst Jesaja die Auserwählten
Gottes gelehrt: »Nennt nicht alles Einmütigkeit, was dieses Volk Ver-
schwörung nennt!« (Jes 8,12), das heißt: macht keine gemeinsame
30 Sache mit der Verschwörung des Volkes und mit seinem Komplott,
»fUrchtet euch nicht vor dem, was es fUrchtet, laßt euch nicht davor
grauen; haltet vielmehr den Herrn der Heerscharen heilig: er sei eure
Furcht und euer Schrecken!« (Jes 8,12t) Daher sollen sie uns jetzt nur
vergangene Jahrhunderte und Beispiele der Gegenwart vorhalten, so
35 viel sie wollen: wenn wir den Herrn der Heerscharen heilig halten,
braucht uns das nicht sonderlich zu erschrecken. Denn wenn sich auch
viele Jahrhunderte in gleicher Gottlosigkeit zusammenfinden, so ist
(der Herr) doch stark genug, um bis ins dritte und vierte Glied Vergel-
tung zu üben;71 wenn selbst der ganze Erdkreis sich zu einerlei Bosheit
40 verschwören wollte, so hat er doch durch die Tat bewiesen, was fUr ein
Ende auf die wartet, die mit der Menge sündigen. Denn er vernichtete
70 In dem als Beleg angeführten Decretum Gratiani I, dist. VIII, heißt es in Kanon 3
(»Gewohnheitsrecht«): »Eine verderbliche Gewohnheit ist mit der Wurzel aus-
zureißen«, in Kanon 9: »Gottes Wahrheit darf sich nicht nach dem Brauch der
Menschen richten.« - Das Problem, das sich hier fur die Reformationszeit
stellte, ist im Eingang zum 11. Teil des Augsburger Bekenntnisses formuliert:
BSLK 84,1-18.
71 Ex 20,5; Dtn 5,9.
92 Epistula nuncupatoria
durch die Sintflut das ganze Menschengeschlecht und ließ nur N oah mit
seiner kleinen Familie übrig bleiben (Gen 7,23), der durch seinen einzig
dastehenden Glauben »die ganze Welt verurteilen« sollte (Hebr 11,7).
Alles in allem, ein verdorbenes Herkommen ist wie eine allgemeine
Epidemie: die Einzelnen kommen ebenso darin um wie die, die in der
Masse sterben.
(6) Mit ihrem Dilemma bringen sie uns keineswegs so sehr in Bedräng-
nis, daß sie uns zu dem Eingeständnis nötigen könnten: entweder sei
die Kirche eine geraume Zeit lang wie tot gewesen, oder aber wir lägen
10 jetzt mit dieser Kirche im Streit. Denn ganz sicher hat die Kirche
Christi gelebt, und sie wird leben, solange Christus zur Rechten des
Vaters regiert: durch seine Hand wird sie gehalten, durch seinen Schutz
gerüstet, durch seine Kraft gestärkt. Denn er wird ohne Zweifel zu
seinem einmal gegebenen Wort stehen: den Seinen »bis an der Welt
15 Ende« nahe zu sein (Mt 28,20). Gegen sie führen wir auch jetzt keinen
Krieg, so gewiß wir den einen Gott und Christus unsern Herrn mit dem
ganzen Volk der Glaubenden einmütig anbeten und verehren, so wie
ihn von jeher alle Frommen angebetet haben. Unsere Gegner aber
entfernen sich erheblich von der Wahrheit, wenn sie als Kirche nur das
20 anerkennen, was sie mit ihren Augen gegenwärtig zu sehen bekommen,
und ihr Grenzen zu ziehen· versuchen, in die sie sich wirklich nicht
einschließen läßt. Hier liegen die Angelpunkte, um die der Streit sich
dreht: Sie behaupten erstens, die Kirche trete immer in Erscheinung und
zwar auf äußerlich sichtbare Weise,n und sie verankern diese Erschei-
25 nungsform zweitens im Stuhl der römischen Kirche und in deren Priester-
stand. 73 Wir dagegen behaupten, die Kirche könne auch ohne jede
sichtbare Gestalt Bestand haben, und jener äußere Glanz, den sie in
ihrem Unverstand bewundern, mache keinesweg ihre Gestalt aus, son-
dern ein ganz anderes Kennzeichen, nämlich die reine Predigt des
30 Wortes Gottes und der rechtmäßige Gebrauch der Sakramente. 74 Sie
brausen auf, wenn man ihnen die Kirche nicht gleich mit dem Finger
zeigen kann. Wie oft aber geriet sie unter dem jüdischen Volk derma-
ßen in Verfall, daß kein äußerer Schein mehr sichtbar war? In welcher
Gestalt, meinen wir denn, hätte sie erstrahlt, als Elia klagte, er sei
35 »allein übrig geblieben«? (I Kön 19,14) Wie lange mußte sie sich seit
der Ankunft Christi ohne äußere Gestalt im Verborgenen halten? Wie
oft wurde sie seitdem durch Krieg, Aufruhr und Häresien in einer
Weise bedrängt, daß sie mit nichts mehr glänzen konnte? Hätten sie
etwa, wenn sie damals gelebt, auch nur an das Dasein einer Kirche
40 geglaubt? Elia aber vernahm, daß siebentausend Männer übriggeblie-
ben waren, die ihre Knie nicht vor Baal gebeugt hatten. So dürfen auch
wir nicht daran zweifeln, daß Christus seit seiner Himmelfahrt immer
auf Erden regiert hat. Wenn aber die Frommen damals mit ihren Augen
irgendeine äußere Gestalt hätten suchen wollen, wären sie da nicht auf
der Stelle mutlos geworden? (In der Tat hält schon Hilarius seiner Zeit
als größten Fehler vor, daß sie, verblendet durch ihre törichte Vereh-
rung der Bischofswürden, nicht einmal merke, welche Pest sich jedes-
mal unter dieser Maske verbirgt. Denn er spricht sie folgendermaßen
an: Ich ermahne euch, hütet euch vor dem Antichrist! Ihr verschließt
euch zu sehr in euren Mauem, sucht die Kirche Gottes in der Schönheit
eurer Gebäude und meint, dort sei die Gemeinschaft der Glaubenden zu
10 finden. Gibt es da noch einen Zweifel, daß der Antichrist gerade hier
seinen Sitz haben muß? Die Gebirge, Wälder und Seen, die Gefängnis-
se und Einöden sind mir weit sicherer und vertrauenerweckender. Denn
dort haben sich die Propheten verborgen und geweissagt.7 5 Was verehrt
denn die Welt heutzutage an diesen gehörnten Bischöfen, außer daß sie
15 für die hervorragendsten Menschen die hält, die in den größten Städten
residieren? Trennen wir uns doch von einem so törichten Glauben!)
Überlassen wir es vielmehr dem Herrn, der »allein die Seinen kennt«
(11 Tim 2,19), ob er bisweilen auch die äußere Gestalt seiner Kirche
dem Blick der Menschen entziehen will. Ich gebe zu, das ist eine
20 furchtbare Strafe Gottes über die Erde. Doch wenn die Gottlosigkeit der
Menschen es so verdient, warum stemmen wir uns dann der göttlichen
Gerechtigkeit entgegen? So hat der Herr in den vorangegangenen Zeit-
altern die Undankbarkeit der Menschen vergolten. Denn weil sie seiner
Wahrheit nicht gehorchen wollten und sein Licht ausgelöscht hatten,
25 ließ er sie mit verblendeten Sinnen zum Spielball unsinniger Lügen
werden und in tiefe Finsternis versinken, so daß nichts mehr das Ge-
sicht der wahren Kirche verriet. Und doch hat er unterdessen die Sei-
nen, zerstreut und versteckt, wie sie waren, mitten in Irrtum und Fin-
sternis bewahrt. Was Wunder! Hat er sie doch selbst in den Wirren der
30 babylonischen Gefangenschaft und in den Flammen des feurigen Ofens
zu bewahren gewußt. 76
Wie gefährlich es aber ist, daß sie die Gestalt der Kirche nach, ich weiß
nicht, was für leerem Prunk beurteilt wissen wollen, das will ich lieber
nur mit wenigen Worten andeuten, statt ausführlich schildern; meine
35 Rede müßte sich sonst ins Endlose verlieren. Der römische Papst, sagen
sie, der den apostolischen Stuhl innehat, und die übrigen Bischöfe
repräsentieren die Kirche und müssen für die Kirche gehalten werden;
deshalb können sie nicht irren. Aus welchem Grund? Weil sie Hirten
der Kirche sind und dem Herrn geweiht. Hirten waren auch Aaron und
40 die übrigen Vorsteher Israels. Aaron aber und seine schon zu Priestern
ernannten Söhne sind dennoch in schweren Irrtum gefallen, als sie das
(goldene) Kalb verfertigten (Ex 32,4). Hätten dem Volk nach dieser
Logik nicht jene vierhundert Propheten die Kirche repräsentieren müs-
sen, die den Ahab belogen? (I Kön 22,llff.) Doch die Kirche stand auf
77 Eugen IV (1431-1447) hatte am 18.l2.1431 die Synode von Basel aufgelöst und
fur 1433 nach Bologna einberufen. Daraufhin erhob die Versammlung gegen
den Papst, der die Auflösungsbulle nicht zurücknahm, Anklage wegen Unge-
horsams und erklärte ihn am 25.7.1439 für abgesetzt.
78 Herzog Amadeus von Savoyen wurde am 5.11.1439 zum Gegenpapst (Felix V)
gewählt, fand jedoch außerhalb Savoyens kaum Anerkennung und konnte 1449
zur Abdankung bewegt werden.
79 Von Martin V (1417-1431) und Eugen IV; mit der Leitung wurde der reform-
freundliche Kardinal Julian Cesarini betraut.
80 Nach der Einigung Eugens mit Friedrich III, am 7.2.1447.
98 Epistula nuncupatoria
es ihm doch zu seiner äußeren Würde an nichts fehlte? Ist es nicht durch
zwei Bullen feierlich ausgeschrieben, unter dem Vorsitz eines Legaten
des römischen Stuhls mit der Weihe eröffnet, in allen Stücken in
vollkommener Ordnung abgehalten und bis zuletzt in gleicher Würde
zu Ende geführt? Oder sollen sie zugeben, daß Eugen mit seinem
ganzen Anhang, von dem sie doch alle ihre Weihen herleiten, ein
Schismatiker war? Entweder also müssen sie die Gestalt der Kirche
anders definieren, oder wir werden sie, soviel ihrer sind, (gemäß ihrer
eigenen Lehre), für Abtrünnige halten, da sie sich mit Wissen und
10 Willen von Häretikern haben ordinieren lassen. Wenn man es niemals
zuvor erfahren hätte, daß die Kirche nicht an äußeren Prunk gebunden
ist, dann könnten sie uns dafür das beste Beweisstück sein, sie, die sich
unter dem klingenden Namen »Kirche« in ihrem Hochmut so lange der
Welt feilgeboten haben, während sie doch eine tödliche Pest für die
15 Kirche waren.
Von ihrer Lebensfiihrung will ich gar nicht erst reden, auch nicht von
den traurigen Schandtaten, von denen ihr Leben voll ist. Sie sagen ja
selbst von sich, sie seien Pharisäer, die man hören müsse, aber nicht
nachzuahmen brauche. 81 Die Lehre aber, gerade die Lehre, der sie es
20 nach ihren Worten verdanken, daß sie Kirche sind, werdet Ihr, Majestät,
unschwer als eine Folterkammer der Seelen, als Brandfackel, Ruin und
Untergang der Kirche erkennen, wenn Ihr nur einen Teil Eurer Muße
darauf verwenden wollt, unsere Schrift zu lesen.
(7) Schließlich handeln sie nicht gerade aufrichtig, wenn sie voll Miß-
25 gunst daran erinnern, welch gewaltige Unruhen, Tumulte und Streitig-
keiten die Verkündigung unserer Lehre nach sich gezogen habe und
was für Früchte sie auch jetzt noch bei vielen trage. Doch wird die
Schuld an diesen Übeln ihr völlig zu Unrecht zur Last gelegt; man hätte
sie auf die Bosheit des Satans abwälzen müssen. Denn das ist sozusa-
30 gen der Genius des göttlichen Wortes, daß es sich niemals erheben
kann, während der Satan ruhig im Schlafe liegt. Ja, hier liegt sogar das
sicherste und vor allem glaubwürdigste Kennzeichen, das es von lügne-
rischen Lehren unterscheidet. Die nämlich verraten sich leicht dadurch,
daß sie in jedermanns Ohren bereitwillig Eingang finden und mit dem
35 Beifall der Welt aufgenommen werden. So trieb der Herr dieser Welt
manche Jahrhunderte hindurch, in denen alles in tiefe Finsternis gehüllt
war, sein Spiel und seinen Scherz mit den Menschen, saß da in tiefem
Frieden, gerade wie ein zweiter Sardanapal 82, und ließ sich's wohl sein.
Was hätte er auch anders tun sollen als lachen und scherzen, da er so
40 ruhig und unangefochten im Besitz seines Reiches war? Sobald aber
das Licht aus der Höhe aufstrahlte und seine Finsternis ein wenig
zerriß; sobald jener »Stärkere« sein Reich in Unruhe versetzte und
der Hand viele falsche Apostel auf, um die Kirchen zu zerstören, die er
aufgebaut hatte (I1 Kor 11,13; Gal1 ,6f.). Einige predigten das Evange-
lium »aus Neid und Streitsucht«, nicht in lauterer Gesinnung, sondern
sogar mit der bösen Absicht, »seinen Fesseln neue Trübsal zuzuwen-
den« (Phil 1,15ff.). An IDanchen Orten machte das Evangelium keine
rechten Fortschritte. Alle »suchten das Ihre, nicht, was Jesu Christi
ist«.8 7 Andere wandten sich wieder zurück wie Hunde »zu dem, was sie
gespieen haben«, und wie Schweine »zur Suhle im Kot«.8 s Sehr viele
nahmen die Freiheit des Geistes zum Vorwand für die Zügellosigkeit
10 des Fleisches (I1 Petr 2,18). Auch schlichen sich viele falsche Brüder
ein, die bald nachher zu einer Gefahr für die Gläubigen wurden. Unter
den Brüdern selbst erhob sich mancherlei Streit. Was sollten die Apo-
stel da machen? Etwa das Evangelium eine Zeitlang unter Verschluß
halten, es vollends aufgeben und im Stich lassen, weil sie ja sahen, daß
15 es eine Pflanzstätte von so viel Streit, Mutterboden so vieler Gefahren
und Anlaß zu so viel Ärgernissen war? Nein, in derartigen Bedrängnis-
sen kam ihnen zu Hilfe, daß Christus ein »Stein des Anstoßes« und ein
»Fels des Ärgernisses« ist, »gesetzt zum Fall und zum Auferstehen für
viele und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird« (Jes 8,14; Röm
20 9,33; I Petr 2,6; Lk 2,34). Mit solchem Vertrauen gerüstet schritten sie
mutig durch alle Gefahren vorwärts, die ihnen durch Tumulte und
Angriffe drohten. Dieselbe Gesinnung muß auch uns aufrecht halten, da
es nach dem Zeugnis des Paulus für immer zum Evangelium gehört,
daß es »denen, die verloren gehen, ein Geruch des Todes zum Tode«
25 ist, »denen aber, die gerettet werden, ein Geruch des Lebens zum
Leben« (I1 Kor 2,15f.). .
Doch ich wende mich wieder Euch zu, großmütiger König. Laßt Euch
nicht beeindrucken von den leeren Beschuldigungen, mit denen unse-
re Widersacher sich mühen, Euch in Schrecken zu setzen: als suche
30 und trachte dieses neue Evangelium (wie sie es nennen) nach nichts
anderem als einer Gelegenheit zu Aufruhr und nach Straflosigkeit für
alle möglichen Verbrechen. Denn unser Gott ist »nicht ein (Gott) der
Unordnung, sondern des Friedens« (I Kor 14,33), und der Sohn Got-
tes kein »Diener der Sünde« (Gal 2,17), sondern »gekommen, um die
35 Werke des Teufels zu zerstören« (I Joh 3,8). Man klagt uns zu Un-
recht solcher Bestrebungen an, wozu wir nie auch nur dem leisesten
Verdacht Anlaß gegeben haben: Wir sollen es auf den Umsturz der
Königreiche abgesehen haben, wir, von denen man niemals ein auf-
rührerisches Wort vernommen hatS9 , wir, deren Leben von jeher als
40 ruhig und einfach bekannt ist, da wir es unter Euren Augen geführt
haben, und die auch jetzt; aus ihrer Heimat verbannt, nicht aufhören,
für Euch und Euer Reich alles Gedeihen zu erflehen. Wir sollen uns
die straflose Freiheit zu-jeglichem Laster zum Ziel setzen, wir, in
87 Phil 2,21.
88 II Petr 2,22 (vgl. Spr 26,11).
89 Vgl. hierzu auch Calvins Vorrede zur (französischen) Olivetan-Bibel (»EpItre a
tous amateurs de Jesus-Christ«) vom Juni 1535; in diesem Band S. 27ff.
104 Epistula nuncupatoria
deren Lebensführung sich bei allem, was man vielleicht tadeln kann,
doch nichts findet, was solchen Hohn verdient. Auch sind die Fort-
schritte, die wir durch Gottes Gnade im Evangelium gemacht haben,
nicht so erfolglos geblieben, daß unser Leben diesen Verleumdern
nicht ein Beispiel an Keuschheit, Güte, Mitleid, Selbstbeherrschung,
Geduld, Bescheidenheit und jeder anderen Tugend geben könnte. Daß
wir tatsächlich mit aufrichtigem Herzen Gott fürchten und verehren,
liegt offen am Tage, da wir mit unserm Leben wie mit unserm Sterben
nur seinen Namen zu heiligen suchen. Selbst der Haß kann nicht
10 umhin, das Zeugnis der Unschuld und bürgerlichen Untadeligkeit
manchem unter uns auszustellen, den man für genau das mit dem
Tode bestraft hat, was man ihm zu seinem besonderen Lob hätte
anrechnen müssen. Sollten aber einige unter dem Vorwand des Evan-
geliums Aufruhr anstiften90 (bisher freilich hat man nichts davon
15 erfahren, daß es solche Leute in Eurem Reich gibt); sollten andere
(und solche kenne ich in Fülle) die Freiheit der Gnade Gottes zum
Vorwand für die Freizügigkeit ihrer Laster brauchen, so gibt es ja
Gesetze und gesetzliche Strafen, mit denen man sie nach Verdienst
empfindlich in die Schranken weisen kann, wenn dabei nur nicht
20 unter der Hand das Evangelium Gottes wegen der Nichtswürdigkeit
verbrecherischer Menschen in einen üblen Ruf gerät. Ihr habt die
ansteckende Feindschaft unserer Ankläger nun ausführlich genug dar-
gelegt bekommen, königliche Majestät, um Euer Ohr nicht allzu leicht-
gläubig ihren Anschuldigungen zu leihen, - ich fürchte sogar, allzu
25 ausführlich.
Denn diese Vorrede hat nun fast schon das Ausmaß einer förmlichen
Schutzschrift erreicht, und doch wollte ich hier nicht schon die Punkte
der Verteidigung zusammenstellen, sondern lediglich Euer Herz ge-
neigt machen, die Prozeßführung selbst anzuhören. Noch freilich ist
30 dieses Herz uns abgeneigt und entfremdet, ja, ich muß wohl hinzufü-
gen, sogar von Zorn entbrannt. Doch haben wir das feste Vertrauen,
seine Gunst wiedererlangen zu können, wenn Ihr nur einmal mit Ruhe
und Wohlwollen unser Bekenntnis hier lesen wollt, das uns vor Eurer
Majestät verteidigen soll. Sollten aber die Einflüsterungen übelwol-
35 lender Menschen Eure Ohren in einer Weise beschlagnahmen, daß die
Beschuldigten keine Gelegenheit mehr finden, sich selbst zu verant-
worten, und sollten dann jene rücksichtslosen Furien unter Eurer
Zulassung weiterhin mit Gefängnis, Peitschen, Folter, Gütereinziehung
und Scheiterhaufen gegen uns wüten, dann werden zwar auch wir wie
40 die zur Schlachtbank bestimmten Schafe in allen Stücken zum Äußer-
sten getrieben, doch so, daß wir »unsere Seelen in Geduld fassen«
90 Anspielung auf die Exzesse und Unruhen, die mit dem Einzug der Wiedertäufer
in Münster (1534) ausgebrochen waren.
106 Epistula nuncupatoria
(Lk 21,19) und auf die starke Hand unseres Herrn warten, die ohne
Zweifel zur rechten Zeit da sein und sich gewappnet ausstrecken wird,
um die Armen aus ihrer Bedrängnis herauszureißen und an ihren
Verächtern Rache zu üben. Der Herr, der König aller Könige, befesti-
ge Euren Thron mit Gerechtigkeit und Euren Stuhl mit Recht, mäch-
tigster und erlauchtester König!
91 In der ersten lateinischen Ausgabe fehlt die Jahreszahl; in den späteren Ausga-
ben (seit der Straßburger von 1539) ist hinzugefügt: »Anno MDXXXVI«. Da
die erste Ausgabe samt der Vorrede jedoch bereits im März 1536 die Druckerei
in Basel verlassen hat, muß es in Übereinstimmung mit den französischen
Fassungen von 1541 und 1545 heißen: 1535.
4. Artikel zur Ordnung der Kirche
(1537)
Von den drei Schriften, die 1536/37 der Neuordnung der Genfer Kir-
che dienen sollten, 1 bildeten die »Articles« die organisatorische Grund-
lage. Diese »Articles bailles par les presche urs«, wie sie durch den
Ratsschreiber bezeichnet wurden, 2 bestehen aus vier Vorschlägen, die
dem Rat unterbreitet und am 16. Januar 1537, mit einer Ausnahme,
vom Kleinen Rat und vom Rat der Zweihundert angenommen wurden. 3
Die »Articles« sind noch keine eigentliche Kirchenordnung, es sind
Vorschläge an den Rat, der seit der Vertreibung des Bischofs dessen
Regierungsgewalt auch in kirchlichen Angelegenheiten besaß. 4 Sie ver-
suchen, einer im Entstehen begriffenen reformierten Kirche eine theo-
logisch verantwortliche Gestalt zu geben. Angesichts der labilen poli-
tischen Verhältnisse in Genf erwiesen sich diese Vorschläge allerdings
bald einmal als ein zu großer Schritt. Beim Rat nicht durchsetzen
konnte sich der Vorschlag einer monatlichen Feier des Abendmahls,
der eigentlich schon als Konzession an die Verhältnisse gedacht war.
Es sollte bei einer viermal im Jahr stattfindenden Abendmahlsfeier
bleiben. 5 Damit wollte man in dieser Sache nicht von Bern, auf dessen
politische Unterstützung Genf nach seiner Loslösung von Rom ange-
wiesen war, abweichen. Die anderen Vorschläge wurden zwar akzep-
tiert, ihre Verwirklichung, besonders die geforderte öffintliche Beeidung
der Einwohnerschaft, wurde aber nur zögernd an die Hand genommen
und scheiterte, als sie schließlich vom Rat angeordnet wurde, am
Widerstand eines großen Teils der Bevölkerung. 6
2. Die Verfasserschaft
Der Text gibt sich als gemeinsam erarbeitete Forderung der Prediger
zu erkennen. Der teilweise umständliche Stil spricht gegen Calvins
3. Theologische Schwerpunkte
7 Vgl. OS 1,24.
8 OS 1,145f.149.161. Vgl. dazu HERMINJARD IV,156.
9 OS 1,89f. Vgl. HERMINJARD IV,159.
10 »... ubi tarnen cunque verbum Dei sincere praedicari atque audiri, ubi sacrarnenta
ex Christi institutio administrari ... « OS 1,91. Vgl. dazu die Fonnulierung von
CA VII: »Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure
docetur et recte administrantur sacrarnenta.« BSLK (9. Aufl., Göttingen 1982,
61,4ff.).
11 Vgl. OS V, 14,26-31 lInst. IV,I,10.
12 Vgl. OS I,86.91f.
13 Vgl. neben OS 1,91 auch die Ausfuhrungen von 1543 in Inst. IV, 12. Es geht
darum, die Kirchendisziplin wie eine »väterliche Rute« zu gebrauchen, sie »in
Milde und gemäß der Sanftmut des Geistes Christi« auszuüben. OS V, 213,3-5.
Artikel zur Ordnung der Kirche (1537) - Einleitung 111
4. Der Text
Peter Opitz-Moser
Literatur
OS 1,369 [CO 1011,5] Nous tres honnores seigneurs, 11 est certain que une esglise
ne peut estre dicte bien ordonnee [6] et reiglee synon en la quelle la
saincte Cene de nostre Seigneur est souuentefoys celebree et frequentee.
Et ce auecq si bonne police que nul ne ose presumer de soy ny presenter
synon sainctement et en singuliere Reuerence. Et pour ceste cause est
necessayre pour bien maintenir lesglise en sonjntegrite la discipline de 10
l'excommunication par laquelle soyent corrigez ceux qui ne se veulent
renger amyablement et en toute obeyssance a la saincte parolle de
Dieu. Dauantage cest vne chose bien expediente a ledification de lesglise
de chanter aulcungs pseaumes en forme doraysons publicqs par les
quelz on face prieres aDieu ou que on chante ses louanges affin que les 15
cueurs de tous soyent esmeuz et jncites a former pareilles' oraysons et
rendre pareiIles louanges et graces aDieu dune mesme affection. Tierce-
ment jl est fort requis et quasi necessaire pour conseruer le peuple en
peurete de doctrine que les enffans des leur jeune eage soyent tellement
instruicts que ilz puissent rendre rayson de la foy affin que on ne laisse 20
deschoyr la doctrine evangelique, ains que la sentence en soyt diligem-
ment retenue et baiIlee de main en main et de pere en filz. Finablement
la tirannie que az exerce le !b en matiere de mariages et les loyx jniques
quil y a impose font quil suruient beaucop de controversies pour les
quelles vuyder il seroyt [7] bon aduiser de fere certaynes ordonnances 25
par les quelles on eust a se y gouuemer et quant jl aduiendroyt quelque
different, mettre bon ordre ales appayser.
370 I Or pour le trouble et confusion qui estoyt au commencement en ceste
ville deuant que leuangiIIe y futz dung accord receu et recogneu jl na
este possible de reduyre tout du premier coup a bon ordre, veu que 30
mesme lignorance du peuple ne le pouuoyt porter. Mays maintenant
quil az pleuz au Seigneur de vng peu mieux establir jcy son regne, jl
nous az semble aduis estre bon et salutayre de conferer ensemble
touchant ces choses et apres auoyr advise entre nous par la parolle du
Seigneur, ayant inuocque son nom et jmplore lassistence de son esprit 35
a Im Text steht irrtümlich »parolIes«, was zeigt, daß es sich wohl um eine
Abschrift handelt.
b Das Wort »pape« ist ausgelassen und durch ein Ausrufezeichen ersetzt.
Artikel zur Ordnung der Kirche und
des Gottesdienstes in Genf, dem Rat
vorgelegt von den Predigern (1537)
Sehr geehrte Herren! Es ist sicher, daß man eine Kirche nicht als
wohl geordnet und gut geleitet bezeichnen kann, wenn in ihr nicht das
heilige Abendmahl unseres Herrn häufig gefeiert und gut besucht wird,
und zwar auf solche Art und Weise, daß man sich dort nur in Heiligkeit
und mit besonderer Ehrfurcht einzufinden wagt.
Aus diesem Grund, um die Kirche unversehrt zu erhalten, ist die Aus-
10 übung der Exkommunikation nötig, durch welche all diejenigen zu-
rechtgebracht werden sollen, die sich nicht gütlich und in allem Gehor-
sam dem Wort Gottes unterordnen wollen.
Weiter ist es zur Auferbauung der Kirche eine überaus nützliche Sache,
einige Psalmen als öffentliche Gebete zu singen, und so Bitten an Gott
15 zu richten, oder ihn singend zu loben. Damit sollen die Herzen aller
dazu ermuntert werden, ähnliche Gebete zu formulieren und Gott in
ähnlicher ·Weise, mit gleicher innerer Berührtheit, zu loben und zu
danken.
Um das Volk in der reinen Lehre zu erhalten, ist es drittens dringend
20 erforderlich, um nicht zu sagen notwendig, die Kinder von klein auf so
zu unterrichten, daß sie Rechenschaft über den Glauben ablegen kön-
nen, damit die Lehre des Evangeliums nicht in Vergessenheit gerät,
sondern ihr Inhalt sorgfältig bewahrt und von Hand zu Hand und vom
Vater auf den Sohn weitergegeben wird.
25 Und zuletzt: die Tyrannei, die der Papst auf dem Gebiet des Eherechts
ausgeübt hat, und die ungerechten Gesetze, die er darüber aufgestellt
hat, lassen viele Streitigkeiten aufkommen. Um sie auszuräumen, wäre
es gut, gewiße Grundsätze festzulegen, nach denen man sich richten,
und wenn auf diesem Gebiet ein Streit entsteht, ihn in guter Ordnung
30 schlichten kann.
Wegen der Unordnung und Verwirrung, die in dieser Stadt herrschte,
bevor das Evangelium hier allgemein angenommen und anerkannt wor-
den ist, war es nicht möglich, alles auf einmal in die richtige Ordnung
zu bringen. Die Unwissenheit des Volkes hätte es nicht verkraftet.
35 Aber jetzt, wo es dem Herrn gefallen hat, seine Herrschaft hier etwas
mehr zu festigen, schien es uns gut und nützlich zu sein, die diesbezüg-
lichen Dinge miteinander zu besprechen. So haben wir uns bei dieser
Frage nach der rechten Ordnung durch das Wort des Herrn beraten
lassen, haben seinen Namen angerufen und die Hilfe seines Geistes
116 Articles
gesucht. Daraufhin haben wir beschlossen, euch das, was wir uns,
entsprechend der Erkenntnis, die uns der Herr gegeben hat, überlegt
haben, in Form von Artikeln zu präsentieren. Dabei bitten wir euch im
Namen Gottes, daß es euch beliebe, nun eurerseits eure Aufgabe nicht
zu vernachläßigen: daß ihr, wenn ihr erkennt, daß unsere Vorschläge
aus dem heiligen Wort des Evangeliums stammen, euch darum be-
müht, sie als Regeln in eurer Stadt einzuführen und in Geltung zu
erhalten. Denn dann hat ja der Herr selbst durch seine Güte euch den
Ursprung dieser Anordnungen erkennen lassen, durch welche seine
10 Kirche instand gehalten wird. Diese muss nämlich unbedingt so genau
wie möglich seinem Wort entsprechen, weil dieses Wort doch die
gewiße Regel aller Leitung und Regierung, besonders aber der Leitung
der Kirche ist.
Es wäre äußerst wünschenswert, daß die Feier des heiligen Mahls Jesu
15 Christi mindestens jeden Sonntag stattfllilde, wenn die Gemeinde als
Ganzes versammelt ist. Denn hier erhalten die Gläubigen einen gros-
sen Trost, und es erwächst daraus in jeder Beziehung viel Frucht. Dies
einmal im Blick auf die Verheißungen, die unserem Glauben hier
angeboten werden: daß wir wirklich des Leibes und des Blutes Jesu
20 teilhaftig gemacht sind, seines Todes, seines Lebens, seines Geistes
und aller seiner Güter. Aber auch im Blick auf die Ermahnungen, die
uns hier begegnen: daß wir die wunderbaren Dinge als uns verliehene
Gnadengaben Gottes anerkennen und im Lobpreis rühmen, und daß
wir schließlich christlich leben sollen, in Frieden und brüderlicher
25 Einheit miteinander verbunden, wie Glieder eines einzigen Leibes. Es
wurde nämlich von Jesus tatsächlich nicht zu dem Zweck eingesetzt,
daß wir uns zwei oder dreimal im Jahr daran erinnern sollten, sondern
zu häufiger Betätigung unseres Glaubens und unserer Liebe. Daher soll
die christliche Gemeinde davon Gebrauch machen, wenn sie zusam-
30 menkommt, wie wir in Apostelgeschichte 2 geschrieben finden: die
Jünger unseres Herrn verharrten im Brechen des Brotes, also in der
Feier des Abendmahls. 1 So hielt man es stets auch in der alten Kirche,
bis der Greuel der Messe eingeführt wurde, in welcher, an Stelle dieser
gemeinsamen Teilnahme aller Gläubigen, der schreckliche Frevel auf-
35 kam, daß einer für alle opfert. Damit ist das Abendmahl völlig zerstört
und abgeschafft worden. Wegen der noch großen Schwachheit des
Volkes würde aber die Gefahr bestehen, daß man dieses heilige und
erhabene Geheimnis verachtet, wenn es zu oft gefeiert würde. Deshalb
scheint es uns gut zu sein, zu warten, bis das schwache Volk stärker
40 wird, und das heilige Mahl einmal im Monat an einem der drei Orte,
wo jetzt gepredigt wird, zu feiern, also in Saint-Pierre, Rive und Saint-
Gervais. Dies aber so, daß es im ersten Monat in Saint-Pierre, im
zweiten in Rive, im dritten in Saint-Gervais gefeiert wird und man
dann in der Reihe wieder von vom beginnt. Dennoch soll es nicht nur
45 für ein Quartier der Stadt, sondern für die ganze Kirche stattfinden. Zu
diesem Zweck soll man einen passenden Zeitpunkt wählen und ihn
Apg2,42.
118 Articles
fault que ceste ordonnance aye lieu en nostre esglise. Encores les
raysons mesmes surquoy elle est fondee et les fruicts qui en prouiennent
nous deburoyent esmouuoyr a en vser quant jl ny auroyt pas si expres
commandement. Cest premierement que Iesuchrist nest pas blaspheme
et deshonore comment si son eglise estoyt vne conjuration de gens
peruers et dissoluz en tous vices. Secondement que ceulx qui recoipuent
telle correction, ayans honte et confusion de leur peche viennent a se
recognoesre et se amender. Tiercement que les aultres ne sont pas
corrompuz et peruertis de leur conuersation mays plustost par leur
exemple sont aduertiz de ne cheoyr en pareilles faultes. 10
Ceste usance et praticque a dure anciennement quelque temps en lesglise
auecq singuliere vtilite et aduancemant de la crestiente, jusques a ce
que aulcungs meschans evesques ou plustost brigans tenans places
deuesque lont tournee en tirarmye et en ont abuse aleurs mauuayses
cupidites. Tellement que cest aujourduy lune des choses les plus 15
pernicieuses et mauldictes quon voye au royaulme du pape que lexcom-
munication, combien que ce soyt vne des choses des plus prouffitables
et salutayres que ayt donne nostre Seigneur a son esglise.
373 IOr ceste faulte est aduenue par ce que les pseudos euesques ont rauy a
lassemble des fideles [10] et tire a eux la cognoissance et puissance 20
dexcommunier. Laquelle veritablement ne leur appartenoyt pas par la
parolle. Et apres auoyr vsurpe ceste domination ils lhont conuertie en
toute perversite.
Apres doncques auoyr considere que vne esglise ne peulz consister en
son vray estat sans garder ceste ordonnance du c et quil seroyt fort a 25
craindre que le contempnement ne futz pugny par vne grande vengance
de Dieu, jl nous az semble aduis estre expedient quelle futz remise sus
en lesglise et exercee selon la reigle que nous en auons en lescripture.
Et neantmoins quon mist daultre part bon ordre de ne tomber en
jnconuenient de la deprauer et corrumpre par mauuays usaige. 30
Et pour ce faire nous auons deslibere requerir de vous que vostre
playsir soyt ordonner et eslire certaynes personnes de bonne vie et de
bon tesmoignage entre tous les fideles, pareillement de bonne constance
et que ne soyent poent ayses a corrumpre, lesquelz estans departis et
distribues en tous les quartiers de la ville, ayant loil sus la vie et 35
gouuernement dung chascun et sil voyent quelque notable vice a
reprendre en quelque personne, quil en communiquent auecq quelcung
des ministres pour admonester quicunque sera celluy lequel sera en
faulte et lexorter fraternellement de se corriger. Et si on veoyt que
telles remonstrances ne profitent rien, le aduertir que on signiffiera a 40
lesglise son obstination. Et lors sil se recognoyt, voyla desja vng grand
prouffit de ceste discipline. Sil ny veult entendre, jl sera temps que le
ministre estant aduoue de ceux qui auront ceste charge denunce
daß man ihn zur Besserung hat fUhren wollen und daß alles nichts
genützt hat. Dann wird man wissen, ob er in seiner Herzenshärte ver-
harren will, und danach erst ist die Zeit gekommen, ihn zu exkommu-
nizieren. Das heißt, daß er als einer betrachtet wird, der aus der Ge-
meinschaft der Christen ausgeschlossen ist und in seiner Beschämung
eine Zeit lang unter der Gewalt des Teufels steht, solange, bis er seine
Buße und Reue zu erkennen gibt. 5 Zum Zeichen dafür soll er vom
Abendmahl ausgeschlossen werden, und den anderen Gläubigen soll
man raten, nicht mehr näheren Umgang mit ihm zu pflegen. Er soll es
10 jedoch nicht unterlassen, der Predigt beizuwohnen, um immer wieder
die christliche Verkündigung zu hören. So soll unablässig erprobt wer-
den, ob es dem Herrn gefallt, ihm das Herz zu berühren um ihn auf den
richtigen Weg zurückzubringen.
Auf diese Weise sind die Fehler zu korrigieren, die in der vorhin
15 erwähnten Aufzählung des heiligen Paulus genannt sind, und solche,
die ihnen gleichen. Wenn andere, wie Nachbarn oder Eltern, von Feh-
lern Kenntnis haben, bevor die erwähnten Beauftragten sie wahrneh-
men, können sie selber die Ermahnung vornehmen. Wenn sie aber
sehen, daß sie keinen Erfolg damit haben, sollen sie es den Beauftrag-
20 ten melden, damit diese ihr Amt erfüllen können.
Dies scheint uns eine gute Weise zu sein, in unserer Kirche die Exkom-
munikation wieder einzufUhren und sie unverfalscht zu handhaben.
Über diese Zurechtweisung hinaus hat die Kirche nicht zu gehen. Wenn
es aber solch freche, von aller Scheu verlassene Menschen gibt, die nur
25 darüber lachen, daß sie exkommuniziert sind, und sich nicht darum
kümmern, im Stand des Kirchenausschlusses zu leben und zu sterben,
wird es an euch sein, zu sehen, ob ihr eine solche Verachtung und
Verspottung Gottes und seines Evangeliums länger ertragen und straf-
los hinnehmen wollt.
30 Im weiteren bestehen deutliche Verdachtsmomente, ja gleichsam of-
fensichtliche Beweise dafür, daß es noch manche Bewohner in dieser
Stadt gibt, die keineswegs dem Evangelium beigepflichtet haben, son-
dern ihm widersprechen soviel sie nur können und in ihren Herzen
jeglichen gegen Gottes Wort streitenden Aberglauben pflegen. Es wäre
35 daher eine förderliche Sache, zuerst einmal zu wissen, wer sich über-
haupt zur Kirche Jesu Christi bekennen will und wer nicht. Wenn es
nämlich nötig ist, diejenigen durch die Exkommunikation aus unserer
Gemeinschaft auszuschließen, die tatsächlich und mit gutem Grund
vorher als deren Glieder angesehen wurden, um wieviel notwendiger
40 ist es dann, diejenigen, die man als Glieder annehmen soll, von denen
zu unterscheiden, die man nicht als solche anzuerkennen hat.
Zudem ist es sicher, daß es keine größere Scheidung gibt als die im
Glauben. Wenn daher nur wegen ihrer Fehler diejenigen aus der Ge-
meinschaft ausgeschlossen werden müssen, welche mit uns im Glau-
6 Eph 5, 19.
126 Articles
bezeugen konnten. Denn wir sehen, daß die Schrift immer das Be-
kenntnis mit dem Glauben verbindet und uns lehrt: Wenn wir in Wahr-
heit »mit dem Herzen zur Gerechtigkeit glauben«, dann sollen wir
auch »mit dem Mund zur Seligkeit bekennen«, was wir glauben.?
Wenn diese Regel überhaupt jemals geeignet und angemessen war, so
ist sie gerade heute ganz besonders notwendig. Denn wir stellen fest,
daß die meisten das Wort Gottes gering schätzen und daß die Eltern es
vernachlässigen, ihre Kinder im Weg Gottes zu unterweisen. Hier
herrscht bei vielen eine unglaubliche Unverständigkeit und Unkennt-
10 nis, die man in der Kirche Gottes auf keinen Fall dulden darf.
Als Gegenmaßnahme schlagen wir nun eine kurze und leichtverständ-
liche Zusammenfassung des christlichen Glaubens vor, die alle Kinder
lernen sollen. Zu bestimmten Zeiten im Jahr sollen sie dann vor die
Pfarrer kommen, um befragt und geprüft zu werden und weitere Erklä-
15 rungen zu erhalten, den Fähigkeiten jedes Einzelnen angemessen, bis
man sie als genügend unterrichtet ansieht. Es ist somit an euch, den
Eltern zu befehlen, Mühe und Sorgfalt darauf zu verwenden, daß ihre
Kinder diese Zusammenfassung lernen und zur angeordneten Zeit vor
den Pfarrern erscheinen.
20 Der letzte Punkt: Weil der Papst bei den Eheangelegenheiten unglaub-
liche Verwirrung gestiftet hat, indem er nach eigenem Gutdünken Ab-
stufungen machte und auf ungerechte Weise und gegen alle Vernunft
Unterscheidungen einführte, ist es erforderlich und nötig, die Streitig-
keiten, die oft genug daraus entstanden sind, durch das Wort Gottes
25 auszuräumen. Damit die Sache sicherer gehandhabt wird, haben wir
nun beschlossen, euch zu bitten, daß ihr bestimmten Personen aus
eurem Kreis die Aufgabe und die Vollmacht erteilt, alle Fälle, die
vorgebracht werden, zu richten und zu entscheiden. Auch einige Pfar-
rer sollen ihnen zugesellt werden, um sie besser davon zu unterrichten,
30 was dem Wort Gottes entsprechend zu tun sei. Diese Beauftragten
sollen, mit dem Rat der besagten Pfarrer, zuerst Regeln fur die gemein-
hin auftretenden Fälle aufstellen und nach diesen dann Recht sprechen.
Selbstverständlich sollen sie sie zuerst euch vorlegen, damit sie von
euch gutgeheissen werden, bevor man sie anwendet.
35 Und nun, sehr geehrte Herren, bitten wir euch inständig und einmütig
im Namen Gottes: Wenn ihr seht, daß diese Weisungen und Ermah-
nungen wirklich dem Wort Gottes entspringen, so sollt ihr sie nicht als
die unsrigen, sondern als Weisungen dessen annehmen, von dem sie
stammen. Zugleich bitten wir euch zu erwägen, von welcher Wichtig-
40 keit und Bedeutung sie sind, um der Ehre Gottes die ihr angemessene
Stellung zu geben und die Kirche unversehrt zu erhalten. Wenn ihr dies
erwägt, werdet ihr nicht zögern, all das sorgfältig auszuführen. Denn
ihr seht: Dies ist nicht einfach bloß eure Pflicht, es ist vielmehr zu-
gleich auch notwendig, wenn euer Volk in guter Ordnung leben soll.
45 So darf euch denn auch die Schwierigkeit nicht ängstigen, die in diesen
Dingen liegt, und auf die jemand euch hinweisen könnte. Denn wir
dürfen die Hoffnung haben, daß Gott in seiner Güte unser Unterneh-
men gedeihen lassen und zu einem guten Ende bringen wird, wenn wir
uns dazu bereit finden, seinem Auftrag zu folgen. So habt ihr es ja
bisher selbst in allen Angelegenheiten zur Genüge erfahren, wo der
Herr euch die Gnade verliehen hat, seine Ehre zu suchen. Er helfe euch
durch seine Macht, alles gut zu Ende zu bringen.
5. Genfer Katechismus und
Glaubensbekenntnis (1537)
1. Historische Einleitung
Vgl. zum Folgenden DANKBAAR, 45-56; sowie CADIER, 86-98 und PARKER,
57-66.
132 Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) - Einleitung
2 Wir verwenden in unserer Ausgabe das Titelblatt der frz. Ausgabe, die Kate-
chismus und Glaubensbekenntnis enthält (OS 1,367).
3 O. LABARTHE, La relation entre le premier catechisme de Calvin et la premiere
confession de foi de Geneve, These de licence no. 525, Faculte autonome de
theologie protestante, Geneve 1967 (dactylogr.), 1-2 sowie OS 1,367.
4 LABARTHE, a.a.O., 1-2,10.
5 OS 1,426.
6 OS 1,367.
7 LABARTHE, a.a.O., 2; VP, 42, fur Beza resp. Colladon CO 21, 30-31 resp. 59.
WENDEL, 36, meinte darauf fußend noch, daß die Kirchenordnung »durch den
Entwurf einer Confession und eines Catechisme ergänzt [wurden], die beide in
Zusammenarbeit von Calvin und Farel abgefasst zu sein scheinen. Der Inhalt
des Catechisme war im wesentlichen der im vorhergehenden Jahr erschienenen
Institutio entnommen; die Confession wiederum stellte ein Art Zusammenfas-
sung des Catechisme dar.« - Diese traditionelle Sicht ist u.a. bereits durch die
Arbeit von LABARTHE überholt und stimmt auch inhaltlich nicht, wie im fol-
genden von uns nachgewiesen wird. Ohne auf die Problematik einzugehen,
wird Calvin als Verfasser der Confession wieder vorausgesetzt bei A.E.
MCGRATH, Johann Calvin. Eine Biographie, (eng!. 1990) dt. von GABRJELE
BURKHARD, Zürich 1991, 132. H.H. ESSER, Die Stellung des »Summaire« von
Guillaume Farel innerhalb der frühen reformatorischen Bekenntnisschriften, in:
Reformiertes Erbe. Festschrift flir G.W. Locher zu seinem 80. Geburtstag, Bd.
1, Zürich 1992,93-114 = Zwa Bd. XIXIl, urteilt wesentlich richtiger: »Entste-
hen der Genfer Confession unter maßgeblichem Einfluß Farels«. Bei PETER /
GILMONT 1,46 wird zu Confession und Katechismus nun ebenfalls so geurteilt:
Die Confession ist von Farel, der Katechismus von Calvin verfaßt und der
Katechismus erst nach der Confession gedruckt worden.
8 LABARTHE, a.a.O., 2,6; VP, 41.
9 LABARTHE, a.a.O., 17-18; VP, 42.
Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) - Einleitung 133
Die Editoren der Confession in den Opera Calvini votieren bereits for
die Autorschaft Farels. 10 Sie stützen sich dabei vor allem auf sprachli-
che Beobachtungen. Labarthe ist dann in ausfohrlichen sprachlichen
Vergleichen der wichtigsten Texte wie Unser Vater, 10 Gebote und
Apostolikum zum Ergebnis gelangt: Die Texte des Katechismus sind
eine nahezu wörtliche Übersetzung des Textes der Institutio von 1536.
Die entsprechenden Texte in der Confession aber decken sich mit
Farels Texten in seiner Liturgie von 1533 und seiner kurzen Glaubens-
erklärung von 1534.1 1 Ebenso konnte Labarthe nachweisen, daß der
Begriff »(extrait de I? instruction = (Auszug aus der) Unterweisung«
im Titel der Confession sich nicht notwendigerweise azif einen Kate-
chismus zu beziehen braucht, sondern auch allgemein als (die neue,
evangelische) Lehre verwendet wird. Somit kann das Bekenntnis durch-
aus vor dem Katechismus von 1537 abgefaßt worden sein. Dies würde
sich dann auch mit der von Beza respektive Colladon angegebenen
Reihenfolge der Abfassung - Confession, Kirchenordnung, Katechis-
mus - decken.
Wir fogen diesen Argumenten noch einiges zum inhaltlichen Vergleich
von Katechismus und Confession an. Die Abschnitte der Confession
sind:
Gegen die These, die Confession sei ein Auszug aus dem Katechismus,
sprechen nun entscheidend die folgenden Gründe:
a) Weder die Institutio von 1536 noch der Katechismus kennen einen
besonderen Artikel» Vom Wort Gottes«. Dieser Einsatz ist vielmehr für
die gerade für Farel wichtige zwinglische Tradition (z.B. Berner The-
sen von 1528) bezeichnendJ2
b) Calvin spricht von Verderbnis und Heil des Menschen und behan-
delt erst danach das Gesetz als vollkommene Regel der Gerechtigkeit,
im Sinne einer heilsgeschichtlichen Darstellung; Farel spricht zuerst
vom Gesetz und dann von der Verurteilung des Menschen. Ebenso
behandelt Calvin die Erlösung durch den Glauben vor dem Apostoli-
kum, die Confession erst danach (7-11).
c) Ab 14-21 stimmt die Reihenfolge der behandelten Gegenstände in
Katechismus resp. Corifession überein mit der einen Ausnahme, daß
bei Calvin die Behandlung des Pfarramtes an die Sakramentsartikel
angeschloßen wird, bei Farel erst gegen Ende in einem Zusammen-
hang (19-21), der seinem Sommatre entspricht.
d) Der für den Katechismus so wichtige Abschnitt über die Erwählung
fehlt bei Farel.
e) Der extrem polemische Ton der Artikel über die Messe (16) und die
Papstkirche (18) entspricht nicht Calvins Art der Auseinandersetzung.
Unter Berücksichtigung all dieser Argumente scheint es uns gerecht-
fertigt, die Confession als Werk Farels anzusehen. Sie soll hier aber
aufgenommen werden, um den ersten reformatorischen Anlauf in Gerif
vollständig zu dokumentieren und die Erforschung evtl. calvinischen
Einflusses und Gemeinsamkeiten mit dem Katechismus im einzelnen zu
erleichtern.
12 Vgl. dazu G.W. LOCHER, Die zwinglische Refonnation im Rahmen der euro-
päischen Kirchengeschichte, Göttingen 1979, 413-418. - Der Einsatz beim
Wort Gottes findet sich bei Calvin erst in der Conf. GaB. von 1559; s. dazu OS
II,297ff.
Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) - Einleitung 135
13 os 1,37-41.
14 Zum Römerbrief vgl. v.a.: A. GANOCZY, Calvin als paulinischer Theologe, in:
Calvinus Theologus. Die Referate des Europäischen Kogresses flir Calvin-
forschung, 1974, hg. von W.H. NEUSER, Neukirchen 1976, 39-69, v.a. 60-63.
Die von Calvin hier erstmals verwendeten religionsphilosophischen Gedanken
erscheinen dann ab 1539 in der Institutio:
- I, 3, I religiöse Anlage (Calvin zitiert dort als »Ethnicus ille« Cicero, De nat.
deorum und Tusc., vgl. OS III,38).
- I, 3,3 das viehische Vergessen Gottes (Calvin erwähnt dort explizit Platon als
Quelle, vgl. OS III,40).
15 Die Belegstellen in Inst. 1536 sind OS 1,63 und OS 1,86.88.98. Zur Erwäh-
lungslehre im Katechismus vgl. WENDEL, 234-235 (dort auch der Hinweis auf
den möglichen Einfluß von Bucers Paulusbriefkommentar von 1536 und des-
sen Evangelienkommentar von 1530/1536).
Die Prädestinationsaussagen Calvins sind inhaltlich neu wie dann ab 1539. Es
ist nicht mehr allein, wie noch Inst. 1536, die Versicherung der Erwählung des
Christen in Christus und die Kirche als Gemeinschaft der Erwählten. Das war
eine lutherische Betonung. Jetzt kommen Gesichtspunkte zum Tragen, die
typisch calvinisch sind:
- Ausgangspunkt: praktisches Interesse am Erfolg der Predigt
- Ratschluß Gottes auch zur Verwerfung
- der Mensch soll in seinen Grenzen bleiben
- Erwählte und Verworfene liefern »argument et matiere« zum Lobpreis von
Gottes Ehre
- Christus ist das Pfand der Erwählung
16 Vgl. dazu E. SAXER, Vorsehung und Verheißung Gottes. Vier theologische
Modelle (Calvin, Schleiermacher, Barth, Sölle) und ein systematischer Ver-
such, SDSTh 34, Zürich 1980,36-37.
136 Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) - Einleitung
der Institutio, nicht jedoch 1536. Dort wird zwar die Parallele Taufe -
Beschneidung mit Gen 17 begründet, der Bundesbegriftjedoch fehltJ7
d) Die an den Artikel über die Erwählung anschliessenden Abschnitte
über Glauben und Werke, Buße und Wiedergeburt enthalten Elemente
aus der Institutio 1536 Kap. I Ende und Kap. 11 Anfang sowie aus der
Auslegung des Apostolicums und aus Kap. V Sie sind aber in vielem
neuformuliert und bilden eine erste Zusammenfassung der Lehre Cal-
vins über die Art und Weise der Heilsaneignung, und damit eine Vor-
stufe zum späteren Buch 111 der Institutio, das dannja in der Endfassung
auch die Erwählungslehre einschließt. Möglicherweise hat hier der
Aufbau der Confession 6-11 auf dieses neue Konzept eingewirkt. 18
e) Die neuen Kapitel im Aufbau der Institutio 1539 haben alle ihr
Vorbild in entsprechenden Abschnitten des Katechismus von 1537. Der
in ihnen enthaltene Stoffwar 1536 noch in Schema des lutherischen
Katechismus-Aufbaus verteilt untergebracht und wird 1539 nun the-
matisch in folgenden Kapiteln abgehandelt:
I: Erkenntnis Gottes
II: Selbsterkenntnis undfreier Wille
IV Glaube
V Buße
VI: Rechtfertigung
VII: Alter und Neuer Bund
VIII: Prädestination und Providenz
XVIII: Vom Leben des Christenmenschen 19
4. Zusammenfassung
Ich halte den Katechismus von 1537 in wesentlichen Punkten für einen
Neuansatz in Calvins Denken, unter Aufnahme von Elementen seiner
5. Zur Übersetzung
Ernst Saxer
Textausgaben
Literatur
BARTH, 365-402.
0. LABARTHE, La relation entre le premier catechisme de Calvin et la
premiere confession de foi de Geneve, These de licence no. 525, Faculte
autonome de theologie protestante, Geneve 1967 (dactylogr.) 1-2 (hier
weitere ältere Literatur).
A. D. PONT, Confossion ofFaith in Calvin's Geneva, in: W v. Spijker (Hg.),
Calvin: Erbe und Auftrag, FSfür WHNEUSER, Kampen 1991, 106-116.
INSTRUCTION ET CONFESSION
DE FOY DONT ON USE EN
LEGLISE DE GENEVE
1. Pier. 2,2
OS 1,378 Comme enfans naguaires nez, desirez le laict raysonnable et qui est sans
fraude
3,15
Soyez appareillez a respondre a chascun qui vous demande rayson de
lesperance qui est en vous
4,11 10
Si quelcun parle, que ce soit les parolI es de Dieu
[CO 12,33] Que tous hommes sont nez pour cognoistre Dieu.
Comme aynsi soit quon ne trouve nul des hommes, comment quil soyt
barbare et plainement sauvaige, qui ne soit touche de quelque opinion
de religion il appert que nous sommes tous creez a ceste fin que nous 15
cognoissions la maieste de nostre Createur: layant cogneue, que layons
sur tout en estime et lhonorions de toute crainte amour et reverence.
Mais laissant la les infideles lesquelz ne cherchent autre chose que
deffacer de leur memoire celle opinion de Dieu laquelle est plantee en
leurs cueurs, il nous fault penser, nous qui faisons profession de piete, 20
que ceste vie caduque et qui bientost finera ne doibt estre autre chose
quune meditation dimmortalite. Or on ne peult trouver nulle part vie
etemelle et immortelle sinon en Dieu. Il fau1t doncques que la principale
eure et solicitude de nostre vie soit de ehereher Dieu et aspirer a luy de
toute affection de cueur et ne reposer ailleurs quen luy seu1. 25
»Seid zur Antwort bereit gegenüber jedem, der von euch Rechen-
schaft über eure Hoffnung fordert« I Petr 3,15
non, ilz sont liez par ceste cogitation qui tousiours leur revient a
lentendement, cest quil y a quelque divinite par la puissance de laquelle
ilz consistent ou tresbuschent, estans estonnez de penser a une si grande
puissance, affin quilz ne la provocquent contre eulx mesmes par trop
grand mespris, ilz lont tellement quellement en quelque veneration.
Toutesfois cependant vivant desordonneement et reiectant toute
hone stete ilz demonstrent une grande seeurite a contempner le iugement
de Dieu. En oultre parce quilz nestiment pas Dieu par son infinie
mai este mays par la folIe et estourdie vanite de leur esperit, en ce ilz se
destournent du vray Dieu. Pourtant de quelque grande eure quilz 10
sesforcent apres de servir aDieu, ilz ne proffitent rien puisquilz adorent
non pas le Dieu etemel mais les songes et resveries de leur cueur au
lieu de Dieu. Or la vraye piete ne gist pas en la crainte, laquelle bien
voluntiers fuyroit le iugement de Dieu, mais pourtant quelle ne le peult
fayre en a horreur: mais elle consiste plustost en un pur et vray zele qui 15
ayme Dieu tout ainsi comme Pere et le revere tout ainsi comme Sei-
gneur, embrasse sa iustice, aye horreur de loffenser plus que de mourir.
Et tous ceulx qui ont ce zele ilz nentreprenent point de forger ung tel
Dieu quilz vuellent selon leur temerite, mais ilz cherchent la cognois-
sance du vray Dieu de luy mesmes et ne le concoivent point aultre que 20
tel quil se manifeste et declare a eulx.
diese Menschen, ob sie wollen oder nicht, die Vorstellung, die sich
ihnen immer wieder aufdrängt, nicht los werden, nämlich, daß es eine
Gottheit gibt, durch deren Macht sie stehen oder fallen, verehren sie
diese so gewaltige Macht, derer sie mit Erstaunen gedenken, wie es
5 ihnen gerade irgendwie einfällt, damit sie sie nicht durch allzu große
Mißachtung gegen sich aufbringen. Obschon sie nun zügellos leben
und alle Ehrbarkeit von sich weisen, zeigen sie dennoch eine große
Sicherheit im Verachten des Gerichtes Gottes. Und weil sie zudem
Gott nicht entsprechend seiner unendlichen Majestät, sondern gemäß
10 der verrückten und törichten Eitelkeit ihres Geistes einschätzen, wen-
den sie sich damit vom wahren Gott ab. So sehr sie sich auch bemühen,
Gott zu dienen, es nützt ihnen nichts, da sie nicht den ewigen Gott,
sondern nur Einbildungen und Träumereien anbeten. Indes ruht die
wahre Frömmigkeit nicht in der Furcht, die so gerne dem Gerichte
15 Gottes entfliehen will und es gerade deshalb fürchtet, weil es vor ihm
kein Entrinnen gibt. Sie besteht vielmehr in einem reinen und echten
Eifer, der Gott nun eben als den Vater liebt und als den Herrn verehrt,
seine Gerechtigkeit annimmt und mehr fürchtet, Gott zu erzürnen als
zu sterben. Alle, die diesen Eifer besitzen, versuchen nicht, sich toll-
20 kühn einen Gott nach ihrem Willen auszudenken, sondern suchen die
Erkenntnis des wahren Gottes bei ihm selbst und erfassen ihn nicht
anders, als er sich ihnen offenbart und zu erkennen gibt.
381 I De lhomme.
Du liberal arbitre.
so gewaltigen Glanz. Doch sündigen wir darin nicht allein durch unse-
re Blindheit, sondern unsere Verkehrtheit ist derart, daß es nichts gibt,
was sie nicht falsch und verkehrt auffaßt, wenn es gilt, die Werke
Gottes zu achten, und dabei die himmlische Weisheit, die in ihnen
erstrahlt, ins Gegenteil verkehrt. Man muß also zum Wort Gottes kom-
men, wo uns Gott durch seine Werke sehr gut beschrieben ist, weil
diese Werke hier nicht nach der Verkehrtheit unseres Urteils, sondern
nach der Regel der ewigen Wahrheit gewürdigt werden. Wir lernen
dort, daß unser einiger und ewiger Gott Ursprung und Quelle allen
10 Lebens, aller Gerechtigkeit, Weisheit, Kraft, Güte und Milde ist, daß
nur von ihm alles Gute kommt und demzufolge jeder Lobpreis rechtens
wieder zu ihm zurückkehren soll. Und obwohl dies alles anjeder Stelle
des Himmels und der Erde offenkundig ist, erkennen wir doch schließ-
lich erst wahrhaft, wohin alles zielt, welchen Wert alles besitzt und in
15 welchem Sinn wir es verstehen müssen, wenn wir auf uns selbst zu-
rückgehen und bedenken, wie der Herr sein Leben, seine Weisheit,
seine Stärke in uns offenbart und seine Gerechtigkeit, Milde und Güte
an uns ausübt.
Vom Menschen.
20 Ursprünglich war der Mensch nach dem Bilde Gottes und ihm ähnlich
erschaffen worden, damit er in seinen Zierden, mit denen Gott ihn so
großmütig bekleidet hatte, deren Urheber bewundere und mit gebüh-
render Dankbarkeit verehre. Doch weil der Mensch, im Vertrauen auf
eine derartige Überlegenheit seiner Natur, und im Vergessen, woher
25 sie kam und wer ihr Bestand gab, alle Anstrengungen unternahm, sich
losgelöst von seinem Herrn zu erheben, mußte er all jener Gaben
Gottes beraubt werden, derer er sich in wahnwitziger Überheblichkeit
rühmte, damit er, aller Herrlichkeit entkleidet und entblößt, jenen Gott
erkenne, der ihn durch seine Großmut reich gemacht und den er zu
30 verachten gewagt hatte. Deshalb werden wir alle, die wir aus dem
Samen Adams stammen, weil die Gottesebenbildlichkeit in uns aus-
gewischt ist, als Fleisch vom Fleisch geboren. Denn obschon wir aus
Seele und Leib bestehen, nehmen wir immer nur das Fleisch wahr, so
daß wir, auf welchen Teil des Menschen wir unsere Augen auch hin-
35 wenden mögen, nichts anderes sehen können, als war für Gott unrein,
ruchlos und abscheulich ist. Denn die menschliche Klugheit, blind und
in unendlichen Irrtümern befangen, stellt sich immer der Weisheit
Gottes entgegen; der Wille, auf Böses gerichtet und von Leidenschaft
verdorben, haßt nichts so sehr wie dessen (Gottes) Gerechtigkeit; die
40 (menschlichen) Kräfte, unfähig zu allen guten Werken, streben wie
rasend dem Unrechten zu.
V om freien Willen.
Die Schrift bezeugt oftmals, daß der Mensch ein Knecht der Sünde ist.
Das will besagen, daß sein Geist der Gerechtigkeit Gottes derart ent-
144 Instruction et confession de foy
Du peche et de la mort. 10
Die Schrift bezeichnet als Sünde sowohl die Verderbtheit der mensch-
lichen Natur, welche die Quelle aller Laster ist, als auch die bösen
15 Gelüste, die ihr entstammen, und die Missetaten, die daraus folgen,
wie Mord, Raub, Ehebruch und anderes dieser Art. Wir, Sünder von
Mutterleib an, sind von Geburt an dem Zorn und der Rache Gottes
unterworfen. Sind wir herangewachsen, häufen wir ein immer schwe-
reres Gericht Gottes auf uns. Schließlich streben wir durch unser gan-
20 zes Leben immer mehr dem Tode zu. Denn wenn es keinen Zweifel
gibt, daß Gottes Gerechtigkeit alle Ungerechtigkeit verabscheut, was
können wir dann, wir Erbärmliche, die wir mit einer so gewaltigen Last
der Sünde beladen und von unendlichem Unrat besudelt sind, von
Gottes Angesicht anderes erwarten als ganz gewiß eine Abweisung,
25 entsprechend seiner Empörung? Diese Vorstellung ist, obwohl sie den
Menschen vor Schrecken niederschlägt und mit Hoffnungslosigkeit
überhäuft, dennoch für uns notwendig, damit wir, unserer Selbstge-
rechtigkeit entkleidet, des Vertrauens auf unsere eigene Kraft entleert,
zurückgewiesen in aller Erwartung des Lebens, uns aufgrund der Ein-
30 sicht in unsere Armut, Erbärmlichkeit und Schande vor dem Herrn
niederwerfen und ihm durch die Erkenntnis unserer Ungerechtigkeit,
Ohnmacht und Verlorenheit allen Ruhm der Herrlichkeit, der Kraft und
des Heils geben.
35 Durch diese Erkenntnis unserer selbst, die uns unsere Nichtigkeit zeigt,
wird uns, wenn sie wahrhaft in die Herzen gedrungen ist, der Zugang
zur wahren Erkenntnis Gottes leicht gemacht. Er selbst hat uns gleich-
sam eine erste Pforte seines Reiches geöffnet, wenn er diese beiden
schlimmsten Übel zerstört hat: die Hoffnung, vor seiner Rache sicher
40 zu sein, und das falsche Vertrauen in uns selbst. Nun beginnen wir, die
Augen, die bisher an die Erde gebunden und verhaftet waren, zum
Himmel zu erheben, und seufzen zum Herrn, die wir in uns selbst
ruhten. Und zugleich offenbart sich uns, den Bedrückten und Verwun-
derten, der Vater der Barmherzigkeit in seiner unaussprechlichen Güte
146 Instruction et confession de foy
EXODE20. 20
Je suys le Seigneur ton Dieu, qui tay tyre hors de la terre dEgypte et de
la mayson de servitude. Tu nauras point de dyeux estrangiers devant
maface.
2. Mose 20
Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Lande A"gypten, aus
dem Sklavenhause herausgeführt habe; du sollst keine anderen Götter
vor meinem Angesicht haben.
25 Der erste Teil dieses Gebotes ist so etwas wie ein Eingangswort zum
ganzen Gesetz; denn wenn Gott sich äußert, er sei der Herr, unser Gott,
so erklärt er sich als der, welcher das Recht zum Gebieten hat und
dessen Gebot Gehorsam heischt. So spricht er durch seinen Propheten:
»Bin ich Vater, wo ist die Liebe? Bin ich Herr, wo ist die Furcht von
30 mir?« (Mal 1,6) Entsprechend vergegenwärtigt er seine Wohltat, wo-
durch unsere Undankbarkeit nachgewiesen ist, wenn wir seiner Stim-
me nicht gehorchen. Denn mit derselben Güte, mit der er einst das
jüdische Volk aus der Knechtschaft geführt hat, befreit er auch alle
seine Knechte aus dem immerwährenden Ägypten der Gläubigen, d. h.
35 von der Macht der Sünde.
Sein Verbot, fremde Götter zu haben, bedeutet, daß wir nichts von
dem, was ihm eigen ist, jemand anderem als ihm zuschreiben sollen.
Und er fugt hinzu: vor meinem Angesicht und erklärt damit, daß er als
Gott nicht allein durch ein äußeres Bekenntnis, sondern in reiner Wahr-
40 heit aus dem Inneren des Herzens anerkannt werden will. Dies alles ist
Gott allein eigen und kann, ohne Gott zu berauben, auf niemanden
übertragen werden, woraus folgt, daß wir ihn allein anbeten, daß wir
uns mit unserem ganzen Vertrauen und all unserer Hoffnung auf ihn
148 Instruction et confession de foy
chose qui soit bonne et saincte et que nous luy rendions la louange de
toute bonte et sainctete.
Car ie suis le Seigneur ton Dieu, puissant, ialoux, visitant liniquite des
peres sur les enfans en la tierce et quarte generation en ceulx qui me
hayssent, [40) etfaysant misericorde en mille generations a ceulx qui 20
mayment et gardent mes commandemens.
Cecy est autant comme sil disoit quil est seul auquel nous nous debvons
arrester et quil ne peult souffrir compaignon, mesmes quil vengera sa
maieste et gloire si aulcuns la transferent aux images ou a autre chose:
et non pas cela une fois seulement, mais aux peres, enfans et nepveuz, 25
cest a dire en tous temps, comme aussi perpetuellement il manifeste sa
misericorde et benignite a ceulx qui ont amour a luy et gardent sa Loy.
En quoy il nous declaire la grandeur de sa misericorde, laquelle il
estend en mille generations, ou seulement il a assigne quatre generations
a sa vengeance. 30
allein stützen, daß wir anerkennen, wie alles Gute und Heilige von ihm
kommt, und ihm den Lobpreis fiir alle Güte und Heiligkeit darbringen.
Du sollst dir kein Bild machen noch irgend ein Abbild, weder dessen,
was oben im Himmel, noch dessen, was unten aufErden, noch dessen,
was in den Wassern unter der Erde ist; du sollst sie nicht anbeten noch
verehren.
Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein mächtiger, eifersüchtiger Gott,
20 der die Schuld der Väter heimsucht bis in die dritte und vierte Genera-
tion an den Kindern derer, die mich hassen, der aber Barmherzigkeit
übt auf tausend Generationen hinaus an den Kindern derer, die mich
lieben und meine Gebote halten.
Das bedeutet dasselbe, wie wenn er sagte, daß er der einzige ist, an
25 dem wir uns festhalten sollen, und daß er niemand seinesgleichen
neben sich duldet, und ebenso, daß er seine Majestät und Ehre mit
Gewißheit rächen wird, wenn sie auf Bilder oder andere Dinge übertra-
gen werden, und dies dann nicht nur ein einziges Mal, sondern an den
Vätern, den Kindern und Enkeln, und das heißt: zu aller Zeit, so wie er
30 auch fortwährend sein Erbarmen und seine Milde all jenen, die ihn
lieben und seine Gesetze halten, offenbart. Darin erklärt er uns die
Größe seiner Barmherzigkeit, die er über tausend Generationen er-
streckt, während er nur vier Generationen seiner Rache aussetzt.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz brauchen;
35 denn der Herr wird den nicht als unschuldig ansehen, der seinen
Namen unnütz braucht.
Hiemit verbietet Gott, daß wir seinen heiligen und geweihten Namen
beim Schwören dazu mißbrauchen, Nichtigkeiten oder Lügen zu erhär-
ten; denn die Schwüre sollen nicht unserem Belieben oder unserer
40 Begierde dienen, sondern nur einer gerechten Notwendigkeit, wenn es
etwa gilt, die Ehre Gottes aufrechtzuerhalten, oder wenn etwa bekräf-
tigt werden muß, was aufbauend wirkt. Er verbietet entschieden, daß
150 Instruction et confession de foy
nous ne polluons en aucune chose son sainct et sacre nom, mais que
plustost nous le prenions reveremment avec toute dignite selon que sa
385 sainctete requiert, soit que nous iurions I ou en quelque propoz que
nous tenions de luy. Et puisque le principal usage de usurper ce nom
gist en invocation dicelluy, entendons quelle nous est icy commandee.
Finalement il denonce icy punition affin que ceulx ne se pensent povoir
eschapper sa vengeance lesquelz auront prophane la sainctete de son
nom par pari ures et autres blasphemes.
wir seinen heiligen und geweihten Namen durch irgend etwas be-
schmutzen; wir sollen vielmehr seinen Namen ehrfürchtig mit all der
Würde, die seine Heiligkeit verlangt, gebrauchen, sei dies nun beim
Schwur oder bei anderem Anlaß, wo wir uns auf ihn berufen. Und da
der hauptsächliche Gebrauch dieses Namens in der Anrufung (Gottes)
besteht, müssen wir verstehen, welche uns hier befohlen wird. Schließ-
lich zeigt er hier die Bestrafung an, damit jene, die die Heiligkeit
seines Namens durch Flüche und andere Lästerungen entweihen, nicht
glauben sollen, sie könnten seiner Rache entrinnen.
10 Gedenke des Ruhetages, daß du ihn heilig haltest. Sechs Tage sollst du
arbeiten und all dein Werk tun, aber der siebente Tag ist der Ruhetag
des Herrn, deines Gottes. Da sollst du nichts von deiner Arbeit tun,
weder du, noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch dein Knecht, noch
deine Magd, noch dein Vieh, noch der Fremdling, der innert deiner
15 Tore ist. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht
und das Meer und alles, was in ihnen ist, und er ruhte am siebenten
Tag; darum segnete der Herr den Ruhetag und heiligte ihn.
Wir sehen, daß es drei Gründe zur Festsetzung dieses Gebotes gegeben
hat. Denn erstens hat der Herr mit dem Ausruhen am siebenten Schöp-
20 fungstag dem Volk Israel das geistige Ausruhen versinnbildlichen wol-
len, durch das die Gläubigen von ihrer Arbeit ablassen, um den Herrn
in ihnen wirken zu lassen. Zweitens wollte er, daß ein bestimmter Tag
festgesetzt werde, an dem sie sich versammelten, um sein Gesetz zu
vernehmen und ihm Gottesdienst zu halten. Drittens wollte er, daß den
25 Knechten und allen, die in Unfreiheit leben, ein Tag der Ruhe gegeben
werde, damit sie etwas Erholung von ihrer Mühsal hätten; doch ist dies
wohl eher Folge als Hauptursache.
Was den ersten Grund betrifft, so besteht kein Zweifel, daß er in
Christus aufgehoben ist; denn er ist die Wahrheit, durch deren Gegen-
30 wart alle Sinnbilder verschwinden; er ist der Leib, durch dessen An-
kunft alle Schattenbilder aufgegeben werden. Deshalb versichert Pau-
lus, daß der Sabbat einst der Schatten der kommenden Wirklichkeit
war (Kol 2,17). Diese Wahrheit erklärt er an anderer Stelle, wenn er
uns in Kapitel 6 des Römerbriefs lehrt, daß wir mit Christus begraben
35 sind, damit wir durch seinen Tod unserem verderblichen Fleisch ab-
sterben (Röm 6,4-7); und das geschieht nicht an einem Tage, sondern
unser ganzes Leben hindurch, bis wir, uns selber völlig abgestorben,
mit dem Leben Gottes erfüllt sind. Deshalb sei Christen die ängstliche
Beobachtung von Tagen fern.
40 Weil die beiden folgenden Gründe jedoch nicht unter die alten Schat-
tenbilder gerechnet werden können, sondern allen Zeiten angehören,
muß auch nach der Abschaffung des Sabbats immer noch weiter von
uns eingehalten werden, daß wir an bestimmten Tagen zusammenkom-
men, um das Wort Gottes zu hören, um das Brot des Abendmahles zu
45 brechen und um öffentlich zu beten; auch muß Knechten und Arbeitern
Erholung von ihrer Mühsal gewährt werden. Zudem ist auch unsere
152 Instruction et corifession de foy
Honore ton pere et ta mere affin que tes iours soient prolongez sur la 15
terre, laquelle le Seigneur ton Dieu te donnera.
Par cecy nous est commandee la piete envers noz peres et meres et
ceulx qui sont constituez sur nous en mesme degre comme les princes
et magistratz: cest a scavoir que nous leur facions toute reverence
obeissance et recognoissance, et tous les services quil nous est possible: 20
car ceste est la volunte du Seigneur, que nous rendons la semblable a
ceulx qui nous ont mis en ceste vie. Et ne peult challoir silz sont dignes
ou indignes que cest honneur leur soit porte, car quelz quilz soient ilz
nous sont donnez pour pere et mere par le Seigneur lequel a voulu quon
les honore. Mais il fault aussi noter cecy incidemment, cest quil ne 25
nous est pas commande de leur obeir sinon en Dieu. Pourtant il ne fault
pas pour leur complaire transgresser la Loy du Seigneur, car silz nous
commandent rien contre Dieu en ce nous ne les devons pas reputer
pour pere et mere, mais comme estrangiers, lesquelz nous veullent
retirer de lobeissance de nostre vray Pere. Et cestuy cy est le premier 30
commandement avec promesse (comme dict S. Paul aux Ephes. 6,2.)
par laqueIle, quand le Seigneur promect benediction de la presente vie
aux enfans qui auront servy et honore leurs peres et meres par teIle
387 observation quil est convenable, pareillement ill declare que trescertaine
malediction est preste a ceulx qui leur sont rebelles et desobeissans. 35
Tu ne tueras point.
15 Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf daß du lange lebest in dem
Lande, das der Herr, dein Gott dir geben wird.
Hier ist uns alle Gewalt und Beleidigung untersagt, und allgemein
40 jeder Angriff, durch den der Leib unseres Nächsten verletzt werden
könnte. Denn wenn wir uns daran erinnern, daß der Mensch nach dem
Bilde Gottes erschaffen wurde, so müssen wir ihn für heilig und ge-
weiht halten, so daß er nicht verletzt werden kann, ohne daß das Bild
Gottes in ihm nicht auch verletzt würde.
154 Instruction et con/ession de /oy
Tu ne paillarderas point.
Tu ne desroberas point.
Par eeey le Seigneur meet eomme une bride a toutes noz eupiditez,
lesquelles oultrepassent les limites de eharite. Car tout ce que les
aultres eommandemens deffendent de eommeetre par oeuvre eontre la
reigle de dileetion, eestuy ey deffend de le eoneevoir au eueur. Pourtant 35
en ce eommandement sont eondamnees hayne envye malveillanee, tout
ainsi eomme auparavant homieide. Laffeetion lubrique et interieure
souilleure du eueur sont autant deffendues eomme seortations. Ou par
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 155
Der Herr verbietet uns hier jede Art von Ausschweifung und Unzucht,
denn er hat Mann und Weib allein durch das Gesetz der Ehe vereint.
Und wie diese Gemeinschaft durch seine Machtvollkommenheit ver-
bunden ist, so heiligt er sie auch durch seinen Segen. Damit ist offen-
kundig, daß jede andere Verbindung außer der Ehe vor ihm verflucht
ist. Also müssen all jene, die nicht die Gabe der Enthaltsamkeit besit-
zen (die gewiß eine besondere Gabe ist und nicht im Vermögen eines
jeden liegt), der Zügellosigkeit ihres Fleisches durch das ehrbare Mittel
10 der Ehe entgegentreten, denn die Ehe ist in jedem Fall ehrbar. Gott
verdammt hingegen die Wüstlinge und Ehebrecher (Hebr 13,4).
Hier ist uns ganz allgemein verboten und untersagt,paß einer die Güter
des anderen an sich reiße. Denn der Herr will, daß sein Volk sich
15 fernhalte von allen Räubereien, durch die Schwache belastet und unter-
drückt werden, und von allen Arten von Täuschung, durch die die
einfachen Leute in ihrer Arglosigkeit ausgenützt werden. Wenn wir
also unsere Hände von Diebstahl rein und schuldlos bewahren wollen,
müssen wir auf alle Kniffe und Listen nicht weniger verzichten als auf
20 gewaltsamen Raub.
35 Hiermit legt der Herr all unseren Begierden, die die Grenzen der Näch-
stenliebe überschreiten, gleichsam einen Zügel an. Denn alles das, was
durch die anderen Gebote als tätiger Verstoß gegen die Regel des
Liebesgebotes verboten ist, verbietet dieses Gebot, im Herzen zu he-
gen. So verdammt dieses Gebot Haß, Neid und Mißgunst ebenso, wie
40 vorher den Mord. Geile Empfindungen und innerliche Befleckungen
des Herzens sind ebenso verboten wie die Laster selbst. Vorher wurden
156 Instruction et confession de foy
La somme de la Loy.
schon Habgier und List verboten, hier der Geiz; zuvor Verleumdung
untersagt, hier ist auch die Bosheit inbegriffen.
Wir sehen, wie allgemein der Sinn dieses Gebotes ist und wie weit er
sich erstreckt. Denn der Herr fordert ein wundervolles und uneinge-
schränkt brennendes Gefühl der Bruderliebe, und er will, daß diese
Liebe nicht durch die geringste Begt':hrlichkeit nach Gut und Vorteil
unseres Nächsten erschüttert werde. Das Gebot besagt also im Ganzen:
Wir sollen so sehryon Liebe erfüllt sein, daß wir von keiner Begierde,
die dem Liebesgebot entgegengesetzt ist, verlockt werden sollen, und
10 daß wir bereit sind, einem jeden noch so gerne das Seine zukommen zu
lassen. Auch müssen wir einen jeden so achten, daß ihm zuteil wird,
was wir durch die Pflicht unseres Amtes gehalten sind, ihm zu gewäh-
ren.
15 Unser Herr Jesus Christus hat uns genügend klargelegt, worauf alle
Gebote des Gesetzes zielen, als er gelehrt hat, daß das ganze Gesetz in
zwei Hauptpunkten zusammengefaßt ist. Der erste besteht darin, daß
wir den Herrn, unsren Gott, mit unserem garIZen Herzen, unserer gan-
zen Seele und unserem garIZen Vermögen lieben sollen. Der zweite
20 besteht darin, daß wir unsren Nächsten lieben sollen wie uns selbst. Er
hat diese Auslegung dem Gesetz selbst entnommen; denn der erste
Satz findet sich im 5. Buch Mose, Kapitel 6 (Dtn 6,5), der zweite im 3.
Buch Mose Kapitel 19 (Lev 19,18).
25 Wir haben darin das Vorbild eines heiligen gerechten Lebens und
sogar ein vollkommenes Abbild der Gerechtigkeit, dergestalt, daß je-
mandem, der das Gesetz Gottes lebte, vor dem Herrn nichts mangelte,
was zur Vollkommenheit gefordert wird. Um dies zu bezeugen, ver-
spricht er denen, die sein Gesetz erfüllen, nicht nur die großen Segnun-
30 gen des irdischen Lebens, von denen im 3. Buch Mose, Kapitel 26
(Lev 26,3-13) und im 5. Buch Mose, Kapitel 27 (Dtn 28,1-14)1 die
Rede ist, sondern auch die Belohnung des ewigen Lebens (Lev 18,5).
Jenen hingegen, die in ihrem Tun nicht alles erfüllen, was ihnen durch
das Gesetz geboten ist, verkündet Gott die Vergeltung durch einen
35 ewigen Tod. Mose ruft bei der Verkündung des Gesetzes Himmel und
Erde zu Zeugen an, daß er dem Volke das Gute und das Böse, das
Leben und den Tod vorgelegt habe (Dtn 30,19).
Wenn nun auch das Gesetz den Weg des Lebens aufzeigt, müssen wir
doch sehen, was uns diese Darlegung nützen kann. Zweifellos, wenn
Schon in der ersten Ausgabe von 1537 findet sich die Angabe Dtn 27 (freundli-
che Mitteilung von Frau A. ZILLENBILLER). Es muß sich um einen Irrtum
Calvins oder einen Druckfehler handeln. Ab 1539 (lnst. II,8,4) zitiert Calvin im
selben Zusammenhang dann Dtn 28.
158 Instruction et confession de foy
unser Wille ganz danach beschaffen und darauf eingerichtet wäre, dem
göttlichen Willen zu gehorchen, dann genügte die bloße Kenntnis des
Gesetzes zum Heil. Aber weil unsere fleischliche und verdorbene Na-
tur in allem gegen das geistige Gesetz Gottes kämpft und durch die
Lehre des Gesetzes in nichts gebessert wird, bleibt nur, daß das Gesetz,
das zum Heil gegeben war, wenn es gute und bereitwillige Hörer
gefunden hätte, zum Anlaß ilir Sünde und Tod wird. Denn weil wir alle
davon überzeugt sind, daß wir dessen Übertreter sind, offenbart uns
das Gesetz umso deutlicher die Gerechtigkeit Gottes und enthüllt da-
10 mit zugleich unsere eigene Ungerechtigkeit. Je mehr es uns folglich bei
einer Gesetzesübertretung antrifft, desto mehr erweist es uns eines
schweren Urteils Gottes schuldig. Und wenn uns die Verheißung ewi-
gen Lebens genommen ist, bleibt uns nur noch der Fluch, der uns allen
durch das Gesetz zuteil wird.
Wie der barmherzige Vater uns durch das Wort des Evangeliums seinen
Sohn darbietet, so ergreifen wir ihn im Glauben und anerkennen ihn als
uns gegeben. Es ist gewiß, daß das Wort des Evangeliums alle Menschen
40 zur Teilhabe an Christus aufruft, doch verachten manche, durch Unglau-
ben blind und verstockt, diese so einzigartige Gnade. Allein die Gläubi-
gen ziehen darum Nutzen von Christus; sie allein empfangen ihn als den
zu ihnen Gesandten, weisen ihn nicht zurück, da er ihnen geschenkt wird
und folgen ihm nach, da sie von ihm angerufen werden.
160 Instruction et confession de foy
De lelection et predestination.
11 ne fault pas estimer que la foy chrestienne soit une nue et seule
cognoissance de Dieu ou intelligence de lEscripture, laquelle voltige
au cerveau sans toucher le cueur: teIle qua acoustume destre lopinion
des choses lesquelles nous sont confirmees par quelque probable raison.
Mais cest une ferme et solide confiance de cueur par laquelle nous
392 arrestons I seurement en la misericorde de Dieu qui nous est promise
par lEvangile. Car ainsy la diffinition de la foy doibt estre prinse de la
substance de la promesse, laquelle foy tellement sappuye sur ce
fondement que iceluy oste incontinant [48J elle ruineroit ou plus tost \0
sesvanoiroit. Pourtant quand le Seigneur par la promesse evangelique
nous presente sa misericorde, si certainement et sans nulle hesitation
nous nous confions en luy qui faict la promesse, nous sommes dictz
apprehender sa parolle par foy. Et ceste diffinition nest point diverse de
celle de lapostre (Heb. 11,1) en laquelle il enseigne la foy estre la 15
subsistence des choses a esperer et la demonstrance des choses non
apparentes: car il entend une certaine et seure possession des choses
qui sont promises de Dieu et une evidence des choses non apparentes,
cest a scavoir de la vie etemelle, de laquelle nous concevons espoir par
la confiance de la divine bonte qui nous est offerte par lEvangile. Or 20
comme ainsi soit que toutes les promesses de Dieu soient en Christ
confirmees et par maniere de dire tenues et accomplies, il appert sans
doubte que Christ est le perpetuel obiect de la foy, auquel elle contemple
toutes richesses de la misericordie divine.
Man darf nur nicht meinen, der christliche Glaube sei allein ein bloßes
Kennen Gottes oder Verstehen der Schrift, das im Gehirn geschieht
und das Herz nicht berührt. Derart ist gewöhnlich unsere Auffassung
der Dinge, derer wir durch einen einigermaßen überzeugenden Grund
sicher sind. Der christliche Glaube ist vielmehr eine starke und uner-
schütterliche Zuversicht des Herzens, durch die wir sicher in der Barm-
herzigkeit Gottes ruhen, die uns durch das Evangelium verheißen ist.
Denn so muß die Bestimmung dessen, was Glaube ist, dem Wesen der
10 Verheißung entnommen werden, und der Glaube stützt sich so sehr auf
diese Grundlage, daß er, wenn sie weggenommen würde, sofort zu-
sammenstürzen und verschwinden müßte. Der Herr bringt uns ja durch
die evangelische Verheißung sein Erbarmen entgegen; und wenn wir
uns ohne Zweifeln und Zögern ihm, der die Verheißung gegeben hat,
15 anvertrauen, dann, so heißt es, ergreifen wir sein Wort im Glauben.
Diese Erklärung ist nicht verschieden von der des Apostels, wenn er
lehrt: Der Glaube ist die Daseinsweise2 dessen, was man erhofft, und
der Aufweis dessen, was nicht sichtbar ist (Hebr 11,1). Denn er ver-
steht darunter den gewissen und sicheren Besitz dessen, was uns von
20 Gott verheißen wird, und die Veranschaulichung des Unsichtbaren,
nämlich des ewigen Lebens, das wir aufgrund unseres Vertrauens auf
die göttliche Güte erhoffen, die uns mit dem Evangelium gegeben ist.
Da es so ist, daß alle Verheißungen Gottes in Christus bestätigt und
gleichsam eingehalten und erfüllt sind, ist unbezweifelbar Christus der
25 immerwährende Gegenstand des Glaubens, der in ihm alle Reichtümer
der göttlichen Barmherzigkeit anschaut.
Wenn wir aufrichtig in uns selbst bedenken, sie sehr unser Denken
blind für die Geheimnisse Gottes ist, und wieviel Mißtrauen unser
30 Herz in allen Dingen hegt, so werden wir nicht bezweifeln, daß der
Glaube die Fähigkeit unserer Natur weit übersteigt und eine einzigarti-
ge und kostbare Gabe Gottes darstellt. So folgert 3 denn der heilige
Paulus: Wenn niemand Zeugnis vom Willen des Menschen geben kann
außer dem Geist des Menschen, der in ihm ist, wie könnte dann der
35 Mensch des göttlichen Willens gewiß sein (I Kor 2,11)? Und wenn die
Wahrheit Gottes schon bei jenen Dingen, die wir von Auge sehen, in
uns schwankt, wie könnte sie stark und beständig sein, wenn der Herr
Dinge verheißt, die das Auge nicht sieht und der Verstand des Men-
schen nicht im geringsten erfaßt?
2 Die Übersetzung »Daseinsweise« für subsistence ist u.E. sowohl hier wie auch
in der trinitätstheologischen Begrifflichkeit (wo Calvin subsistentia statt persona
braucht, u.E. im Anschluß an Thomas von Aquin, vgl. S Th I 29 a2 b) genauer
als die üblich gewordene Wiedergabe von subsistentia als »Seinsweise«. Wir
hoffen dazu eine separate Studie zu veröffentlichen.
3 frz. Text lies: argue statt: aruge (Druckfehler nur in OS und nicht in CO).
164 Instruction et confession de /oy
Puis quil est manifeste que Christ est le perpetuel obiect de la foy, nous
ne pouvons autrement cognoistre que cest que nous recevons par la foy
sinon que nous regardions en luy. Or il nous a pourtant este donne du
Pere affin que nous obtenions en luy vie etemelle, comme il dict (leh. 15
17,3.) ce estre la vie etemelle que cognoistre un Dieu le Pere et celluy
quil a envoye Iesus Christ. Et derechief (lehan 11,26.): Qui croira en
moy iamais ne mourra, et sil est mort il vivra. Toutesfois affin que cecy
se face il fault que nous qui sommes contaminez de taches de peche
soions nectoiez en luy, car rien de souille nentrera au royaume de Dieu. 20
11 nous faict doncques ainsi participans de soy, affin que nous qui
sommes en nous pecheurs soyons par sa iustice reputez iustes devant le
throsne de Dieu. Et en ceste maniere estans despouillez de nostre
propre iustice nous sommes vestuz de la iustice de Christ, et estans
iniustes par noz oeuvres nous sommes iustifiez par la foy de Christ. 25
Car nous sommes dictz estre iustifiez par foy, non pas que nous recevions
dedans nous quelque iustice, mais parce que la iustice de Christ nous
est attribuee tout ainsi que si elle estoit nostre, nostre propre iniquite ne
nous estant point imputee. Tellement quon peult en un mot vrayement
appeller ceste iustice la remission des pechez: ce que lapostre declaire 30
evidemment quand souventesfois il compare la iustice des oeuvres
avec la iustice de la foy et enseigne lune estre destruicte par lautre
(Rom. 10,3., Philip. 3,9.). Or nous verrons au Symbole par quelle
maniere Christ nous a merite ceste iustice et en quoy elle gist, auquel
symbole toutes les choses sur lesquelles nostre foy est fondee et appuyee 35
sont recitees par ordre.
Comme Christ par sa iustice intercede pous nous envers le Pere, affin
que luy estant comme nostre pleige nous soions reputez pour iustes,
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 165
Daß wir durch den Glauben zum Gehorsam gegen das Gesetz geheiligt
40 werden.
So wie Christus durch seine Gerechtigkeit vor dem Vater für uns
eintritt, damit wir mit ihm als unserem Bürgen als gerecht befunden
166 Instruction et confession de foy
394 ainsi par la participation de son esperit I il nous sanctifie a toute purete
et innocence. Car lesperit du Seigneur [50] sest repose sur luy sans
mesure, lesperit (dis ie) de sapience, dintelligence, de conseil, de force,
de science et crainte du Seigneur, affin que nous tous puysions de sa
plenitude et recevions grace pour la grace qui luy a este donnee. Ceulx
donques se decoyvent qui se glorifient de la foy de Christ estans du
tout destituez de la sanctification de son esperit: car lEscripture enseigne
Christ nous estre faict non seulement iustice, mais aussi sanctification.
Pourtant sa iustice ne peult estre receue de nous par foy, que nous
nembrassions pareillement celle sanctification: car le Seigneur par une 10
mesme alliance, laquelle il a faict avecques nous en Christ, promect
quil sera propice a noz iniquitez et quil escripra sa Loy en noz cueurs
(leremie 31,33., Heb. 8,10. et 10,16.).
Ce nest doncq pas une oeuvre de nostre puissance que lobservation de
la Loy, mais cest oeuvre de vertu spirituelle, par laquelle se faict que 15
noz cueurs sont nectoyez de leur corruption et sont amoliz pour obeir a
iustice. Or maintenant lusage de la Loy est bien aultre aux chrestiens
quil puisse estre sans foy: car ou le Seigneur a engrave en noz cueurs
lamour de sa iustice, la doctrine exterieure de la Loy (laquelle seulement
auparavant nous accusoit dimbecillite et de transgression,) est maintenant 20
une lampe pour guider noz piedz affin que ne desvoions du droict
chemin, nostre sagesse par laquelle nous soions formez instituez et
encouragez a toute integrite, nostre discipline laquelle ne nous souffre
estre dissoluz par licence mauvaise.
De penitence et regeneration. 25
Es ist nun leicht zu verstehen, warum die Buße immer mit dem Glau-
30 ben an Christus verbunden ist und warum der Herr versichert, daß
niemand in das himmlische Königreich hineinkommen kann, außer
wer von neuem geboren sein wird (Joh 3,3). Denn Buße bedeutet die
Umkehr, durch die wir die Verderbtheit der Weit beiseite lassen und
auf den Weg des Herrn zurückkehren. Und da Christus ganz und gar
35 nicht der Sünde Diener ist, so bekleidet er uns, wenn er uns von allen
Flecken der Sünde gereinigt hat, nicht dazu mit der Teilhabe an seiner
Gerechtigkeit, damit wir eine so große Gnade zugleich durch neue
Schandflecke entweihen, sondern damit wir, angenommen als Gottes
Kinder, unser Leben in Zukunft dem Ruhm unseres Vaters weihen.
40 Die Wirkung dieser Buße hängt von unserer Wiedergeburt ab, welche
aus zwei Dingen besteht: der Abtötung unseres Fleisches, nämlich der
Verdorbenheit, die mit uns erzeugt ist, und der Erneuerung des Lebens
im Geiste, durch welche die Natur des Menschen in ihrer Unversehrt-
heit wiederhergestellt wird. Wir müssen also in unserem ganzen Leben
45 danach trachten, daß wir, der Sünde und uns selbst abgestorben, für
Christus und seine Gerechtigkeit leben. Und im Blick darauf, daß diese
168 Instruction et confession de foy
veu que ceste regeneration nest iamais accomplie tant que nous sommes
en la prison de ce corps mortel, il fault que le soing de penitence nous
soit perpetuel iusques a la mort.
Le Simbole de la Foy.
Dessus a este dict que cest que nous obtenons en Christ par foy.
Maintenant oyons que cest que nostre foy doibt regarder et considerer
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 169
Wie die Gerechtigkeit des Glaubens und die Gerechtigkeit der guten
Werke zusammengehören.
Es besteht kein Zweifel, daß gute Werke, die von einer solchen Rein-
heit des Gewissens ausgehen, Gott angenehm sind; denn da er in uns
seine Gerechtigkeit wiedererkennt, kann er nicht anders als sie billigen
und annehmen. Dennoch heißt es sich davor in Acht nehmen, daß wir
10 nicht durch eitles Vertrauen auf diese guten Werke dahin gebracht
werden, zu vergessen, daß wir allein durch den Glauben an Christus
gerechtfertigt werden. Denn es gibt vor Gott keine Gerechtigkeit der
Werke außer jener, die seiner Gerechtigkeit entspricht. Deshalb genügt
es nicht, daß jemand, der durch Werke gerechtfertigt zu werden sucht,
15 einige gute Werke fertigbringt, sondern er muß einen vollendeten Ge-
setzesgehorsam vorweisen, von welchem sicher (auch) jene noch weit
entfernt sind, welche mehr als alle anderen am meisten Gewinn aus
dem Gesetz des Herrn gezogen haben.
Ja, sogar wenn die Gerechtigkeit Gottes sich mit einem einzigen guten
20 Werk begnügen wollte, so würde der Herr nicht einmal unter seinen
Heiligen dieses einzige gute Werk finden, dessen Gerechtigkeit er rüh-
men könnte, weil es verdienstlich wäre. Denn, wie erstaunlich dies auch
erscheinen mag, so ist es dennoch die volle Wahrheit, daß kein Werk
von uns ausgeht, das ganz vollkommen getan und von keinem Flecken
25 verunreinigt wäre. Deshalb müssen wir, die wir alle Sünder sind und von
zahlreichen Resten von Sünde gezeichnet, außerhalb 'lIlSer gerechtfertigt
werden, das heißt, wir brauchen immer Christus, damit seine Vollkom-
menheit unsere Unvollkommenheit bedecke, damit seine Reinheit unse-
re Unsauberkeit abwasche, damit sein Gehorsam unsere Ungerechtigkeit
30 auswische, damit uns schließlich seine Gerechtigkeit unverdient ange-
rechnet werde, ohne jedes Ansehen unserer Werke, die auf keinen Fall
soviel gelten, daß sie vor dem Gericht Gottes bestehen könnten. Aber
wenn unsere Mängel, die sonst unsere Werke vor Gott beflecken könn-
ten, auf solche Weise bedeckt werden, so sieht der Herr in ihnen nur eine
35 vollständige Reinheit und Heiligkeit. Daher ehrt er sie mit großen Na-
men und Lobsprüchen, denn er nennt sie gerecht, nimmt sie als gerecht
an und verspricht ihnen eine unermeßliche Belohnung. So müssen wir
endlich zusammenfassend feststellen, daß die Gemeinschaft mit Christus
so viel gilt, daß durch sie nicht nur wir unverdient als gerecht angenom-
40 men, sondern auch unsere Werke als gerecht angenommen und mit
ewigem Lohn vergolten werden.
Das Glaubensbekenntnis.
Schon vorher ist gesagt worden, was wir durch Christus im Glauben
erhalten. Hören wir jetzt, was unser Glaube in Christus anschauen und
170 Instruction et confession de foy
Ce que nous avons par avant enseigne, que Christ est le propre obiect
de nostre foy, apparoist facillement de ce que toutes les parties de
nostre salut sont icy representees en luy. Nous lappellons Iesus, duquel 30
tiltre il a este honore par revelation celeste, car il a este envoye pour
sauver son peuple de leurs pechez. Pour laquelle raison lEscripture
afferme (Act. 4,12.) quil na point este donne autre nom aux hommes
auquel illeur faille obtenir salut. Le tiltre de Christ signifie quil a este
pleinement arrouse de toutes les graces du S. Esperit, lesquelles en 35
lEscripture sont designees par le nom dhuille, pourtant que sans icelles
nous defaillons comme secz et steriles.
Or il a par ceste unction este constitue Roy de par le Pere, pour se
assubiectir toute puissance au ciel et en la teITe, affin que nous feussions
en luy roys, ayans domination sur le diable, peche, mort et enfer. 40
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (J 537) 171
Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels
20 und der Erde.
Diese Worte lehren uns nicht nur zu glauben, daß Gott ist, sondern
vielmehr zu erkennen, wie unser Gott ist und zu vertrauen, daß wir zur
Zahl jener gehören, denen er verheißt, (ihr) Gott zu sein und die er als
sein Volk annimmt. Ihm wird Allmacht zugeschrieben, wodurch ange-
25 zeigt wird, daß er alle Dinge durch seine Vorsehung lenkt, durch
seinen Willen leitet, durch seine Kraft und Macht führt. Wenn er der
Schöpfer des Himmels und der Erde genannt wird, so ist darunter zu
verstehen, daß er alles, was er einmal erschaffen hat, ständig erhält,
trägt und belebt.
Was wir vorher gelehrt haben - daß Christus der eigentliche Gegenstand
unseres Glaubens ist -, ist daraus leicht ersichtlich, daß hier all unser
Heil in ihm dargestellt wird. Wir nennen ihn Jesus, eine Benennung, mit
der er durch himmlische Offenbarung geehrt wurde, denn er wurde
35 gesandt, um sein Volk von ihren Sünden zu erretten. Aus diesem Grunde
versichert die Schrift, es sei auch kein anderer Name den Menschen
gegeben, durch den sie das Heil erlangen sollten (Act 4,12). Der Chri-
stus-Titel bedeutet den mit der Fülle der Gnaden des Heiligen Geistes
Gesalbten, die in der Schrift durch das Öl symbolisiert sind, weil wir
40 ohne sie vertrocknet und unfruchtbar zugrunde gehen müßten.
Durch diese Salbung ist er zum König gemacht worden, dem Vater
gleich, um sich alle Macht im Himmel und auf Erden zu unterwerfen,
damit wir in ihm Könige seien und so Gewalt über Teufel, Sünde, Tod
172 Instruction et confession de foy
Nous avons icy comment le Filz de Dieu nous a este faict Iesus, cest a
398 dyre Sauveur, et Christ, cest a dire oinct I pour Roy qui nous conservast, 15
et [54] pour Sacrificateur qui nous reconciliast avec le Pere. Car il a
vestu nostre chair, affin que estant faict Filz dhomme il nous fist avec
soy filz de Dieu, et que ayant receu sur soy nostre pouvrete il nous
transferast ses richesses, ayant prins nostre imbecillite il nous confirmast
de sa vertu, ayant recu nostre mortalite quil nous donnast son immorta- 20
lite, estant descendu en terre quil nous eslevast au ciel.
11 est ne de la vierge Marie, affin aquil feust recogneu le vray Filz de
Abraham et de David, qui avoit este promis en la loy et aux prophetes,
et vray homme, en toutes choses semblable a nous excepte seulement
peche, qui ayant este tente de toutes noz infirmitez aprint den avoir 25
compassion. Luy mesmes toutesfois a este conceu au ventre de la
vierge par la vertu du S. Esperit merveilleuse et inenarrable a nous,
affin quil ne nasquist entache daucune corruption charnelle mais saincti-
fie de souveraine purete.
15 Der empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau
Maria.
Hier steht, wie der Sohn Gottes für uns Jesus, d.h. Retter, wurde, und
Christus, d.h. gesalbt zum König, der uns bewahren, und zum Hohe-
priester, der uns mit dem Vater versöhnen sollte. Denn er hat unser
20 Fleisch angenommen, damit er als Menschensohn uns mit sich zum
Gottessohne mache; er hat unsere Armut auf sich genommen, um seine
Reichtümer auf uns zu übertragen; er hat unsere Schwachheit ange-
nommen, um uns durch seine Kraft zu stärken; er hat unsere Sterblich-
keit auf sich genommen, um uns seine Unsterblichkeit zu geben; er ist
25 zur Erde herabgestiegen, um uns zum Himmel zu erheben.
Er wurde von der Jungfrau Maria geboren, damit er als der wahre Sohn
Abrahams und Davids gelte, der durch das Gesetz und die Propheten
verheißen war, und als wahrer Mensch, in allem uns gleich außer in
Bezug auf die Sünde. Er wurde mit allen menschlichen Schwachheiten
30 in Versuchung gefiihrt und lernte, mit ihnen Mitleid zu haben. Er
wurde im Schoße der Jungfrau durch die wunderbare und unaussprech-
liche Kraft des Heiligen Geistes empfangen, damit er von keiner fleisch-
lichen Verderbtheit befleckt, sondern von erhabener Reinheit geheiligt
geboren wurde.
35 Der gelitten hat unter Pontius Pi/atus, gekreuzigt, gestorben und be-
graben wurde, niedergefahren ist zur Hölle.
affin que la fureur de Dieu enflambee contre nous feust esteincte et que
nostre iniquite feust purgee.
Mais il ny arien en celle redemption qui soit sans mystere. Il a souffert
soubz Ponce Pilate, lors iuge du pars du ludee par la sentence duquel il
a este condampne comme criminel et malfaicteur, affin que par ceste
condemnation nous feussions delivrez et absoulx au consistoire du
grand luge. Il a este crucifie affin de soustenir en la croix, que estoit
mauldicte en la Loy de Dieu, nostre malediction laquelle noz pechez
meritoient. Il est mort affin de vaincre par sa mort la mort laquelle nous
estoit contraire, et de lengloutir, laquelle autrement nous eust engloutiz 10
et devorez. [55] Il a este ensevely affin que estans participans de luy
399 par lefficace I de sa mort nous soions ensevelis a peche, estans delivrez
de la puissance du diable et de la mort. Ce quil est dict estre descendu
aux enfers signifie quil a este afflige de Dieu, et quil a soustenu et
sentu la rigeur horrible de son iugement pour sopposer a son ire et 15
satisfaire a sa iustice pour nous: ainsi souffrant et portant les peines qui
estoient deues a nostre iniquite, non pas a luy qui oncques neut peche
ne macule.
Non pas que le Pere ait iamais este courrouce a luy, car comment se
feust il indigne contre son Filz bien ayme, auquel il a prins son bon 20
plaisir? Ou comment luy, eust il par son intercession appaise le Pere
lequel il eust eu courrouce? Mais il est dict avoir soustenu la pesanteur
de lire de Dieu en ce sens, cest a scavoir pour autant que estant frappe
et afflige de la main de Dieu il a sentu tous signes de courroux et
vengeance de Dieu iusques a estre contraint de crier en angoisse: Mon 25
Dieu, mon Dieu, pourquoy mas tu delaisse?
Au tiers iour es! resuscite des mors, est monte es cieulx, est assis a la
dextre de Dieu le Pere tout puissan!: de la viendra iuger les vift et les
mors.
Preis für unsere Erlösung vergossen, damit der uns gegenüber entflamm-
te Zorn Gottes gelöscht und wir von unserer Ungerechtigkeit gereinigt
würden.
Doch ist in dieser Erlösung nichts ohne göttliches Geheimnis. Er hat
gelitten unter Pontius Pilatus, damals Richter im Lande Judäa, der ihn
wie einen Verbrecher und Bösewicht verdammte, damit wir durch
diese Verdammung frei würden und vor dem Sitz des großen Richters
straflos ausgingen. Er ist gekreuzigt worden, um am Kreuze, das nach
dem Gesetz verflucht war, unsere Verfluchung zu erdulden, die unsere
\0 Sünden verdienten. Er ist gestorben, um durch seinen Tod den Tod zu
besiegen und zu verschlingen, unsren Feind, der sonst uns alle ver-
schlingen und verzehren würde. Er ist begraben worden, damit wir, die
wir durch die Wirksamkeit seines Todes mit ihm vereint sind, mit
unseren Sünden begraben und von der Gewalt des Teufels und des
15 Todes erlöst würden (Röm 6,4-9). Die Aussage »niedergefahren zur
Hölle« bedeutet, daß er von Gott geschlagen wurde und die furchtbare
Strenge des göttlichen Gerichtes ertragen und erfahren mußte, indem er
sich dem Zorn Gottes entgegenstellte und seiner Gerechtigkeit für uns
Genüge tat. So hat er die Strafe, die unsere Ungerechtigkeit verdiente,
20 erduldet und getragen, obwohl an ihm niemals Sünde oder Befleckung
war (Jes 53,9).
Nicht daß der Vater jemals gegen ihn erzürnt gewesen wäre, denn wie
hätte ihn jemals sein vielgeliebter Sohn, an dem er Wohlgefallen ge-
funden hat, mißfallen können? Wie hätte sonst der Sohn durch seine
25 Vermittlung den Vater versöhnen können, wenn dieser ihm gezürnt
hätte? Die Aussage, daß er das ganze Gewicht des Zornes Gottes
getragen habe, ist aber so zu verstehen: Als er von der Hand Gottes
getroffen und geschlagen worden war, hat er alle Zeichen des Zornes
und der Rache Gottes an sich erfahren, bis die Angst ihm den Schrei
30 abzwang: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
(Mk 15,34).
Der am dritten Tag auferstanden ist von den Toten, aufgefahren zum
Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort
wird er kommen zu richten die Lebendigen und die Toten.
Wenn uns gelehrt wird, an den Heiligen Geist zu glauben, so ist uns
30 damit auch geboten, von ihm das zu erwarten, was ihm in der Heiligen
Schrift zugeschrieben wird. Denn durch die Kraft seines Geistes wirkt
Christus alles Gute, was es auch sei. Durch sie schafft, erhält, versorgt
und belebt er alle Dinge; durch sie rechtfertigt, heiligt, reinigt und ruft
er uns und zieht uns zu sich, damit wir Heil erlangen. Es ist also der
35 Heilige Geist, der, wenn er so in uns wohnt, uns mit seinem Licht
erleuchtet, damit wir erfahren und vollständig erkennen, welch gewal-
tige Schätze göttlicher Güte wir in Christus besitzen; der unsere Her-
zen im Feuer glühender Liebe zu Gott und dem Nächsten entbrennen
läßt; der täglich mehr tmd mehr die Laster unserer Begierde abtötet und
40 vernichtet, so daß gute Werke, wenn es etwas davon in uns gibt, die
Früchte und Auswirkungen seiner Gnade sind. Ohne ihn gäbe es in uns
nur Finsternis des Verstandes und Verderbtheit des Herzens.
178 Instructian et canfessian de fay
Nous avons desia veu la fontaine dont sort lEglise laquelle nous est icy
401 propose a croire a ceste fin que nous ayons I confiance que tous les
eleuz par le lyen de la foy son conioinctz en une Eglise et societe et en
un peuple de Dieu, duquel Christ nostre Seigneur est le conducteur et
prince et chief comme dun corps, ainsi que en luy ilz ont este eleuz
devant la constitution de monde affin quilz feussent tous assemblez au
royaulme de Dieu. Ceste societe est catholique cest a dire universelle,
car il ny en a point deux ou trois: mais tous les eleuz de Dieu sont
tellement unis et conioinctz en Christ, que comme ilz dependent dun 10
chief ainis ilz croissent comme en un corps, estans adherans entre eulx
lun a lautre dune teIle composition comme les membres dun mesme
corps, estans vrayement faictz un et tant quen une mesme foy, esperance
et charite ilz vivent dun mesme esperit de Dieu, appellez a un mesme
heritage de vie etemeIle. Elle est aussi saincte, car tous ceulx qui sont 15
eleuz par letemelle providence de Dieu a ce quilz feussent adoptez
comme membres de lEglise, sont tous sainctifiez du Seigneur par
regeneration spirituelle.
La demiere particule explique encores plus clairement quelle est ceste
Eglise, cest a scavoir que tant vault la communion des fideles que, de 20
quelconque don de Dieu que un deulx ait receu, tous en sont faictz
aucunement participans: combien que par la dispensation de Dieu ce
don soit peculierement donne a un et non pas aux aultres. Tout ainsi
comme les membres dun mesme corps par quelque communite
participent tous entre eulx de toutes choses quilz ont, et toutefois ilz 25
ont chascun a part soy peculieres proprietez et divers offices. Car
(comme dict a este) tous les eleuz sont assemblez et formez en un
corps. Or nous croyons la saincte Eglise et sa communion par teIle
condition que asseurez par ferme foy en Christ nous ayons confiance
que nous sommes membres dicelle. [58] 30
Sur lequel fondement consiste et est appuye nostre salut, veu que la
remission de pechez est la voie pour approcher de Dieu et le moyen qui
nous retient et conserve en son royaulme. Car en la remission des
pechez toute la iustice des fideles est contenue, laquelle ilz obtienent 35
non point par aucun leur merite mais par la seule misericorde du
Seigneur, quand estans oppressez, affligez et confuz de la conscience
de leurs pechez ilz sont abbatuz par sentiment du iugement de Dieu, se
402 desplaisent en eulx mesmes et comme soubz I un pesant faiz gemissent
et travaillent, et par ceste haine et confusion de peche ilz mortifient 40
leur chair et tout ce qui est de eulx mesmes. Mais affin que Christ nous
acquist remission des pechez gratuite il la luy mesmes rachaptee et
poyee du pris de son propre sang, auquel nous devons chercher toute la
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 179
Wir haben schon gesehen, aus welcher Quelle die Kirche entspringt.
Hier wird uns der Glaube an sie vorgeschrieben, damit wir darauf
vertrauen, daß alle Erwählten durch das Band des Glaubens in einer
Kirche, einer Gemeinschaft und einem Volk Gottes verbunden sind,
dessen Anführer und Fürst und Haupt gleichsam eines Leibes Christus,
unser Herr, ist, wie denn in ihm sie auch vor der Erschaffung der Welt
erwählt wurden, um vollzählig im Reiche Gottes versammelt zu wer-
10 den. Diese Gemeinschaft ist katholisch, d. h. allgemein; denn es gibt
nicht deren zwei oder drei, sondern alle von Gott Erwählten sind derart
in Christus vereint und verbunden, daß sie von einem Haupt abhangen,
auch wie in einem Leib wachsen, unter sich auf dieselbe Weise zusam-
menhangen wie die Glieder eines Leibes, darin wahrhaft geeint, daß sie
15 im selben Glauben, in derselben Hoffnung und in derselben Liebe aus
demselben Geiste Gottes leben und zu derselben Erbschaft des ewigen
Lebens berufen sind. Diese Gemeinschaft ist auch heilig; denn alle, die
durch die ewige Vorsehung Gottes dazu erwählt sind, als Glieder der
Kirche angenommen zu werden, sind durch den Herrn geheiligt in
20 einer Wiedergeburt aus dem Geist.
Der letzte Satzteil erhellt schließlich noch klarer, was die Kirche ist,
nämlich eine so feste Gemeinschaft der Gläubigen, daß dann, wenn
einer unter ihnen irgend eine Gabe Gottes empfangt, alle in bestimmter
Weise daran teilhaben, auch wenn durch Gottes Anordnung diese Gabe
25 jemandem im Besonderen und nicht anderen gegeben wird, genau so,
wie die Glieder desselben Leibes an allem miteinander gemeinschaft-
lich teilhaben, und dennoch jedes Glied seine besonderen Eigenarten
und verschiedenen Aufgaben hat. Denn, wie schon gesagt, alle Erwähl-
ten sind zu einem Leib versammelt und geschaffen. Wir glauben damit
30 an die heilige Kirche und ihre Gemeinschaft in solcher Weise, daß wir
darauf vertrauen, versichert durch den festen Glauben an Christus,
Glieder dieser Kirche zu sein.
Auf dieses Fundament ist unser Heil gegründet. Die Vergebung der
35 Sünden ist ja der Weg, uns Gott zu nahen, und das Mittel, das uns in
seinem Reich festhält und bewahrt. Denn in der Vergebung der Sünden
ist alle Gerechtigkeit der Gläubigen enthalten, die sie nicht durch ir-
gend ein eigenes Verdienst, sondern allein durch die Barmherzigkeit
Gottes erlangen. Bedrückt, betrübt und bestürzt im Bewußtsein ihrer
40 Sünden, durch das Empfinden des göttlichen Gerichtes niedergeschla-
gen, mißfallen sie sich selbst und seufzen und mühen sich wie unter
einer schweren Last. Mit derartigem Haß und Bestürzung über die
Sünde töten sie ihr Fleisch ab und alles, was von ihnen selbst her-
kommt. Damit aber Christus uns die Vergebung der Sünden umsonst
45 erwerbe, hat er sie selbst erkauft und mit dem Preis seines eigenen
180 Instruction et confession de foy
Blutes bezahlt. Darin müssen wir die ganze Reinigung und Genugtu-
ung für sie suchen. Wir werden also gelehrt, zu glauben, daß durch die
göttliche Großmut, wobei das Verdienst Christi für uns eintritt, uns
Vergebung der Sünden und Gnade zukommt, uns, die wir berufen und
dem Leib der Kirche eingefügt sind, und daß anderswie keine Verge-
bung der Sünden gewährt wird, weder durch ein anderes Mittel noch
gegenüber anderen, angesichts dessen, daß es außerhalb dieser Kirche
und Gemeinschaft der Heiligen kein Heil gibt.
Wenn der Glaube (wie wir gehört haben) eine sichere Überzeugung
von Gottes Wahrheit ist, die uns weder betrügen noch täuschen noch
leer oder falsch sein kann, werden alle jene, welche diese Gewißheit
182 Instruction et confession de foy
ilz artendent quil adviendra que Dieu accomplira ses promesses, les-
quelles a leur opinion ne peuvent estre que veritables. Tellement que
en somme Esperance nest sinon laetente des choses lesquelles la foy a
creu estre promises de Dieu veritablement. Ainsi la Foy eroit Dieu
estre veritable: Esperanee artend que en temps opportun il demonstre
sa verite. La Foy croit Dieu nous estre Pere: Esperanee artend quil se
porte touiours pour tel envers nous. La Foy croit la vie etemelle nous
estre donnee: Esperance artend que quelque fois elle sera revelee. La
Foy est le fondement sur lequel Esperanee sappuye: Esperance nourrist
et entretient la Foy. Car eomme personne ne peult rien artendre et 10
esperer de Dieu sinon celluy qui premierement aura ereu a ses promesses,
ainsi dautre part il fault que limbecillite de nostre Foy (affin que
comme lasse elle ne deffaille point) soit soustenue et eonservee par
esperer et artendre patiemment.
De orayson. 15
Comme ainsi soit que orayson ait quelque similitude dune communi-
eation entre Dieu et nous, par laquelle nous exposons devant luy noz
desirs, ioyes, souspirs et en somme toutes les eogitations de nostre
cueur, il fault diligemment regarder, toutes fois et quantes que nous 35
invoquons le Seigneur, que nous deseendions au profond de nostre
cueur et de la nous le requerions, non point du gosier ou de la langue.
Car eombien que la langue proffite aucunes fois en orayson, ou pour
retenir lesprit plus ententif en la eogitation de Dieu, ou bien affin que
eeste partie de nostre corps, qui est speeialement destinee a exalter la 40
gloire de Dieu, soit oeeupee semblablement avee le eueur a mediter la
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 183
erfaßt haben, ebenso sicher auch erwarten, daß Gott seine Verheißun-
gen erfüllen wird, die ihrer Überzeugung nach nicht anders als wahr
sein können. Derart ist die Hoffnung also nichts anderes als die Erwar-
tung jener Dinge, die der Glaube als von Gott in Wahrheit verheißen
glaubt. So glaubt der Glaube, daß Gott wahrhaft ist; die Hoffnung
erwartet, daß er zu gegebener Zeit seine Wahrheit zeigt. Der Glaube
glaubt, daß Gott unser Vater ist; die Hoffnung zählt darauf, daß er sich
uns gegenüber immer als solcher erweist. Der Glaube glaubt, daß uns
das ewige Leben gegeben wird; die Hoffnung erwartet, daß es einmal
10 offenbart werden wird. Der Glaube ist das Fundament, auf dem die
Hoffnung ruht; die Hoffnung nährt und stützt den Glauben. Denn wie
niemand etwas von Gott erwarten oder erhoffen kann, ohne zuerst
seinen Verheißungen geglaubt zu haben, so muß anderseits die Schwach-
heit unseres Glaubens (damit er auch in Müdigkeit nicht verzage)
15 durch Hoffen und geduldiges Erwarten gestärkt und bewahrt werden.
Vom Gebet.
seine Güte zu betrachten, hat dennoch der Herr durch seinen Propheten
(Jes 29,13; Mt 15,8.9) erklärt, was ihr Gebrauch ohne innere Beteili-
gung verursacht, als er die schwerste Bestrafung für alle verkündete,
die ihn mit den Lippen preisen, während ihr Herz ihm fern ist. Wenn
weiter das wahre Gebet, das flir uns der Weg ist, Gott nahe zu kom-
men, nichts anderes sein soll als ein aufrichtiges Gefiihl unseres Her-
zens, so müssen wir dabei auf jeden Gedanken an unseren eigenen
Ruhm, jede Einbildung eigener Würdigkeit und jedes Vertrauen auf
uns selbst verzichten, so wie der Prophet uns ermahnt, nicht im Ver-
\0 trauen auf unsere Verdienste, sondern auf die große Barmherzigkeit
des Herrn zu beten, damit dieser uns um seiner Liebe willen erhöre,
weil sein Name über uns ausgesprochen ist (Dan 9,18-19; Bar 2,11-
15). Die Erkenntnis unseres Elends soll uns jedoch nicht vom Zugang
zu Gott abschrecken. Das Beten ist ja weder dazu gelehrt, daß wir uns
15 anmaßend vor Gott erheben, noch dazu, daß wir die eigene Würdigkeit
preisen, sondern damit wir unsere Not bekennen und unser Unglück
beseufzen, so wie Kinder vor dem Vater vertrauensvoll ihre Klagen
ausbreiten. Ein solches Gefiihl soll uns Ansporn sein, uns immer mehr
zum Beten anzutreiben und anzustacheln. Zwei Dinge sollen uns auf
20 wunderbare Weise zum Gebet bewegen: als erstes das Gebot Gottes,
wodurch er uns zu beten befiehlt, und dann die Verheißung, mit der er
uns versichert, daß wir alles, worum wir bitten, erlangen werden. Denn
die, welche Gott anrufen und ihn bitten, empfangen eine einzigartige
Tröstung, weil sie wissen, daß sie damit etwas Gott Wohlgefälliges
25 tun. Zugleich haben sie im Vertrauen auf seine Wahrheit die Gewiß-
heit, erhört zu werden, sagt er doch (Mt 7,7): Bittet, und es wird euch
gegeben werden, klopft an, und es wird euch aufgetan werden, suchet,
und ihr werdet finden und im Psalm (Ps 50,15): Rufe mich am Tage
der Not, so will ich dich erretten und du sollst mich preisen. In diesem
30 Satz hat er die bei den Weisen des Gebetes zusammengefaßt, nämlich
die Anrufung oder Bitte und den Dank. Durch die erstere decken wir
vor Gott die Wünsche unseres Herzens auf; durch die andere anerken-
nen wir die Wohltaten, die er uns erweist. Und von beiden Weisen
haben wir beharrlich Gebrauch zu machen; denn wir sind von solcher
35 Armut und Bedürftigkeit bedrängt, daß dies auch fiir die Besten Anlaß
genug ist, unabläßig zu seufzen, zu klagen und in aller Demut den
Herrn anzurufen. Anderseits sind die Wohltaten, die der Herr in seiner
Güte über uns ausgießt, so umfassend, und die Wunder seiner Werke,
wohin wir auch blicken mögen, zeigen sich derart gewaltig, daß uns
40 nie ein Anlaß zum Loben und Danken fehlen kann.
Dieser Vater voll Milde hat uns nicht nur ermahnt und ermuntert, ihn
in jeder Notlage zu suchen, sondern er wollte angesichts dessen, daß
wir nicht einmal erkennen, worum wir bitten sollen und was wir nötig
45 haben, uns in unserer Unkenntnis beistehen und hat aus dem Seinen
das ersetzt, was unserer geringen Fähigkeit abging. Durch dieses Wohl-
186 Instruction et con/ession de /oy
Als erstes zeigt sich für jedes Gebet die Regel, daß es sich im Namen
Christi an Gott richten muß, da in einem anderen Namen keines für ihn
annehmbar wäre. Denn da wir Gott unseren Vater nennen, ist es ja
gewiß, daß wir dabei den Namen Christi in Anspruch nehmen. Weil ja
20 sicherlich kein Mensch auf Erden würdig ist, vor Gott zu treten und vor
seinem Angesicht zu erscheinen, hat uns dieser gütige himmlische
Vater, um uns von der Beschämung zu befreien, die uns mit gutem
Grund verstören muß, seinen Sohn Jesus als Mittler und Fürsprecher
vor ihm gegeben. Durch seine Führung können wir uns kühn ihm
25 nahen, in vollem Vertrauen auf diesen Vermittler, daß nichts von dem,
worum wir in seinem Namen bitten, uns verweigert werde, weil eben
der Vater ihm nichts verweigern kann. So ist sogar der Thron Gottes
nicht nur ein Thron der Majestät, sondern ebenso ein Thron der Gnade,
vor welchem wir in seinem Namen frei und kühn erscheinen dürfen,
30 um Barmherzigkeit zu erlangen und Gnade zu finden, wenn wir ihrer
bedürfen. Und tatsächlich haben wir, so wie die Anordnung des Geset-
zes, Gott anzurufen und die Verheißung, daß alle, die ihn anrufen,
erhört werden, auch ebenso das Gebot, ihn im Namen Christi anzuru-
fen und die gegebene Verheißung, zu erhalten, worum wir in seinem
35 Namen bitten (Joh 14,13 und 16,23).
Hier wird hinzugefügt, daß Gott unser Vater in den Himmeln ist.
Damit wird seine wunderbare Majestät (die unser Geist in seiner Be-
schränktheit nicht auf andere Weise erfassen kann) angezeigt, da es ja
vor unseren Augen nichts Hervorragenderes und Majestätischeres gibt
40 als den Himmel. Darum bedeutet diese Wendung ebenso viel, wie
wenn er erhaben, mächtig und unbegreiflich genannt würde. Wenn wir
dies hören, müssen wir also jedesmal unsere Gedanken nach oben
richten, sooft Gott erwähnt wird, um uns unter ihm nicht etwas Fleisch-
liches oder Irdisches vorzustellen und um ihn nicht an unserem Be-
45 griffsvermögen zu messen oder seinen Willen unseren Gefühlen ent-
sprechen zu lassen.
188 Instruction et confession de foy
La premiere demande.
Ton nom soit sainetifie.
La seconde. 15
Ton regne advienne.
Le regne de Dieu est de conduire et gouvemer les siens par son Sainct
Esperit, affin de manifester en toutes leurs oeuvres les richesses de sa
bonte et misericorde: au contraire de abisrner et confondre les reprouvez
qui ne se veullent rendre subiectz a sa domination et prostemer leur 20
maudicte arrogance, affin que clairement il apparoisse quil ny a nulle
puissance qui puisse resister a la sienne. [64] Nous prions doncques
que le regne de Dieu advienne, cest a dire que le Seigneur de iour en
iour multiplie le nombre des ses fideles, lesque1z celebrent sa gloire en
toutes oeuvres, et que continuellement il espande plus largement 25
laffluence de ses graces sur eulx, par lesquelles il vive et regne en eulx
de plus en plus, iusques a ce que les ayant parfaictement conioinctz a
soy il les remplisse du tout. Pareillement que de iour en iour par
nouveaulx accroissernens il esclarcisse sa lurniere et sa verite dont
Sathan et les mensonges et tenebres de son regne soient dissipez et 30
aboliz. Quand nous prions en ceste maniere: que le royaume de Dieu
advienne, pareillement nous desirons quil soit finalernent parfaict et
accornply cest a scavoir en la revelation de son iugement, auquel iour il
sera luy seul exalte et sera toutes choses en tous, apres avoir recueilly
et receu les siens en gloire et avoir desrnoly et abbatu du tout le regne 35
de Sathan.
La tierce demande.
Ta volunte soit faicte eomme au eiel aussi en la terre.
Par laquelle nous demandons, tout ainsi quil faict au cie1, aussi quen
408 terre il gouveme et conduise tout selon I sa bonne volunte, conduisant 40
toutes choses a teIle issue que bon luy sernblera, usant a son bon plaisir
de toutes ses creatures et se assubiectissant toutes voluntez. En quoy
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 189
Gottes Name meint den Ruhm, der ihm um seiner Eigenschaften willen
unter den Menschen zukommt, nämlich seiner Weisheit, Güte, Macht,
Gerechtigkeit, Wahrheit und Barmherzigkeit. Wir bitten also darum,
daß seine Herrlichkeit in solchen Eigenschaften geheiligt werde, nicht
etwa, weil sie selbst wachsen oder abnehmen könnte, sondern damit
sie von allen heilig geachtet werde, indem sie wahrhaft anerkannt und
gepriesen wird, und daß bei allem, was Gott auch tue, seine Werke so
10 herrlich erscheinen, wie sie sind: daß also Gott in seinen Strafen für
gerecht gehalten wird, in seinem Vergeben für barmherzig, in der
Erfüllung seiner Verheißungen für wahrhaftig, ja, daß es nichts gibt,
aus dem sein Ruhm nicht hervorleuchtet wie darin eingegraben, und
sein Lob darum in allen Menschen und allen Sprachen erklingen soll.
Das Reich Gottes besteht darin, die Seinen durch den Heiligen Geist zu
führen und zu regieren, damit in all ihren Werken der Reichtum seiner
Güte und Barmherzigkeit offenbar werde, und anderseits darin, die
20 Verworfenen, die sich seiner Herrschaft nicht unterziehen und ihren
verfluchten Hochmut nicht ablegen wollen, in den Abgrund zu stoßen
und zuschanden zu machen, damit es klar wird, daß es keine Macht
gibt, die der seinen widerstehen könnte. Wir beten also, daß Gottes
Reich komme, womit gemeint ist, daß der Herr von Tag zu Tag die
25 Zahl seiner Gläubigen, die seinen Ruhm in all ihren Werken verherrli-
chen, vervielfache, und ständig den Überfluß seiner Gnade immer
mehr auf sie ausgieße, durch den er in ihnen mehr und mehr herrscht,
bis er sie, vollkommen mit sich verbunden, ganz und gar erfüllt, und
entsprechend, daß er von Tag zu Tag durch weitere Verbreitung sein
30 Licht und seine Wahrheit heller erstrahlen lasse, wodurch Satan und
die Lügen und Dunkelheiten seines Reiches vertrieben und kraftlos
gemacht werden. Wenn wir so beten, daß Gottes Reich komme, wün-
schen wir auch, daß es endlich vollendet und erfüllt werde, nämlich
durch die Offenbarung seines Gerichtes, an welchem Tag er allein
35 gepriesen und alles in allem sein wird, nachdem er die Seinen in
Herrlichkeit aufgenommen und empfangen und das Reich Satans gänz-
lich zerstört und zerschlagen hat.
40 Damit bitten wir, daß er genau so, wie er es im Himmel tut, auch auf
Erden alles nach seinem guten Willen regiert und führt, alle Dinge zu
dem ihn gut dünkenden Ende führt, nach seinem Wohlgefallen von all
seinen Schöpferwerken Gebrauch macht und sich den Willen aller
190 Instruction et confession de /oy
unterwirft. Indem wir darum bitten, verzichten wir auf all unsere eige-
nen Wünsche, ergeben uns dem Herrn und übergeben ihm alles, was an
GefUhlen in uns ist, mit der Bitte, daß er die Dinge nicht nach unserem
Verlangen führe, sondern so, wie er erkennt, daß es förderlich ist. Wir
bitten also nicht nur darum, daß er unsere seinem Willen widerspre-
chenden Wünsche nichtig und wirkungslos mache, sondern vielmehr
auch darum, daß er in uns einen neuen Geist und ein neues Herz
schaffe, und die unsrigen auslösche und zunichte mache, so daß keine
Regung von Begierde sich mehr in uns erhebt, sondern nur ein volles
10 Einverständnis mit seinem Willen. Zusammengefaßt bedeutet dies, daß
kein Eigenwille, sondern der Wille seines Geistes in uns wirkt, durch
dessen Eingebung wir lernen, alles zu lieben, was ihm angenehm, und
alles zu hassen und zu verabscheuen, was ihm mißfallt.
Damit bitten wir ganz allgemein um alle Dinge, die für die Befriedi-
gung der Bedürfnisse unseres Leibes unter den Bedingungen dieser
Welt nötig sind, nicht nur, was Nahrung und Kleidung angeht, sondern
um alles, was nach Gottes Erkenntnis dazu dient, daß wir unser Brot in
20 Frieden essen können. Durch diese Bitte vertrauen wir uns (um es kurz
zu sagen) der Vorsehung des Herrn an und unterstellen uns seiner
Fürsorge, damit er uns nähre, versorge und bewahre. Denn diesem
guten Vater ist es nicht zu wenig, auch unseren Leib in seine Obhut
und Fürsorge zu nehmen, um unser Vertrauen in ihn durch diese leich-
25 ten und geringen Dinge zu üben, darin eben, daß wir alles, was wir
nötig haben, von ihm erwarten, bis zum letzten Brotkrümel und Was-
sertropfen. Daß wir indessen unser Brot täglich und nur für den gegen-
wärtigen Tag erbitten, das bedeutet, daß wir nicht mehr wünschen
sollen als was wir Tag für Tag zum Leben nötig haben, im Vertrauen
30 darauf, daß unser Vater, der uns heute genährt hat, es uns auch morgen
an nichts fehlen lassen wird. Selbst wenn wir augenblicklich in einem
gewissen Überfluß leben, ist es angebracht, immer um unser tägliches
Brot zu bitten, im Bewußtsein, daß aller Lebensunterhalt nur soweit
besteht, als der Herr ihn durch den Segen, den er ihm einflößt, gedei-
35 hen und zum Nutzen werden läßt, und daß alles, was wir in Händen
haben, nur insoweit unser ist, wie Gott uns dessen Gebrauch von
Stunde zu Stunde gewährt und Stück um Stück zuteilt. Daß wir es
unser eigen nenne dürfen, läßt Gottes Güte noch größer erscheinen, die
es das unsrige sein läßt, ohne daß es uns aufgrund irgend eines Anrech-
40 tes geschuldet würde. Wenn wir schließlich darum bitten, daß es uns
gegeben werde, bedeutet dies, daß alles, was uns aufirgendeine Weise
zukommt, schlicht eine Gnadengabe Gottes ist, auch wenn wir es schein-
bar durch unsere Tätigkeit erworben haben.
192 Instruction et confession de foy
La cinquiesme demande.
Remectz nous noz debtez comme nous remectons a noz debteurs.
La sixiesme demande.
Ne nous induitz point en tentation, mais delivre nous du malin. Amen.
Damit bitten wir darum, daß uns Gnade und Vergebung gewährt wer-
de, was alle Menschen ohne jede Ausnahme nötig haben. Weiter nen-
nen wir unsere Sünden Schulden, weil wir ihretwegen Gott Strafe
schulden wie eine Bezahlung, und doch könnten wir dafür keinerlei
Genugtuung leisten, wenn wir nicht durch seine Vergebung freigespro-
chen wären, die eine freie Verzeihung aus Barmherzigkeit ist. Wir
erbitten, sie solle so geschehen, wie wir es unseren Schuldnern gegen-
10 über tun, nämlich so, wie wir jenen verzeihen, durch welche wir auf
irgendeine Weise verletzt oder durch ungerechte Handlungen gekränkt
oder mit Worten beschimpft worden sind. Diese Bedingung ist nicht
angefügt, als ob wir durch die Vergebung, die wir anderen gewähren,
Gottes Vergebung uns gegenüber verdienten, sondern es ist ein von
15 Gott gegebenes Merkmal, um uns darin zu bestärken, daß Gott uns so
gewiß in Glauben annimmt, wie wir in unserem Gewissen gewiß sind,
daß wir anderen Gnade erweisen, wenn unser Herz garIZ rein von allem
Haß, Neid und Rachegefühl ist; umgekehrt tilgt Gott dadurch auch all
jene aus der Zahl der Kinder, die, zur Rachsucht geneigt und unwillig
20 zum Verzeihen, ihre Feindschaften in ihren Herzen fest verwurzelt
bleiben lassen. Sie sollen es dadurch ja nicht wagen, ihn als ihren Vater
arIZUfUfen und zu verlangen, daß der Unwille, den sie den Menschen
gegenüber nähren, nicht auf sie falle.
De la perseverance en orayson.
Finalement il nous fault bien observer cecy, cest que nous ne vueillons
lier Dieu a certaines circonstances, comme mesmes en ceste oraison
nous sommes enseignez de ne luy mectre aucune loy, ne imposer
quelque condition. Car premier que luy faire aucune priere pour nous
avant toutes choses nous disons: Que sa volunte soit faicte: ou desia
nous sousmectons nostre volunte a la siene, affin que comme par une
bride estant arrestee et retenue elle ne presume de le vouloir renger et
assubiectir soubz soy. Si ayans les cueurs formez en ceste obeissance
nous permectons que soyons gouvemez au bon plaisir de la providence 10
divine, facilement nous apprendrons de perseverer en oraison et dacten-
dre en pacience le Seigneur, en differant noz desirs a lheure de sa
volunte: estans asseurez que, encores quil ne nous apparoisse point,
toutesfois il nous est tousiours present, et que en son temps il declarera
quil naura aucunement eu les aureilles sourdes a noz prieres, comment 15
quelles semblassent aux hommes estre de luy mesprisees. Et si en la fin
mesmes apres longue actente nostre sens ne peult comprendre que ce
sera que nous aurons proffite par prier et nen sente point aucun fruict,
ce neantmoins nostre foy nous certifiera ce que nostre sens ne pourra
appercevoir, cest que nous aurons obtenu tout ce qui nous estoit expe- 20
411 Idiant, et ainsi fera que nous possedions en pauvrete abondance, en
affliction consolation. Car encores que toutes choses nous deffaillent,
toutesfois iamais Dieu ne nous delairra, dautant quil ne peult point
frustrer lactente et pacience des siens. Et il nous sera seul assez pour
toutes choses, dautant quen soy il contient tous biens, lesquelz au 25
temps advenir il nous revelera plainement.
Endlich müssen wir dies gut beachten, daß wir Gott nicht an bestimmte
Umstände binden sollen,5 so wie wir eben in diesem Gebet gelehrt
werden, ihm kein Gesetz aufzuerlegen noch eine Bedingung zu stellen.
Denn bevor wir ihm irgend eine Bitte fiir uns vorlegen, sagen wir vor
allen Dingen: Sein Wille geschehe, womit wir bereits unseren Willen
dem seinen unterstellen, damit er, wie durch einen Zügel festgemacht
und zurückgehalten, sich nicht anmaßt, Gott zu beherrschen und sich
zu unterwerfen. Wenn wir uns mit Herzen, die in solchem Gehorsam
10 geformt sind, nach dem Wohlgefallen der göttlichen Vorsehung leiten
lassen, werden wir es leicht lernen, im Gebet auszuharren und in Ge-
duld den Herrn zu erwarten, wobei wir unsere Wünsche auf den Zeit-
punkt seines Willens aufschieben, und dabei ganz sicher sind, daß er
uns immer nahe ist, auch wenn er sich uns jetzt nicht zeigt, und zu
15 seiner Zeit klarmachen wird, daß er nie taube Ohren für unsere Gebete
hatte, mochten sie auch bei den Menschen als von ihm mißachtet
erscheinen. Und wenn am Ende nach langem Warten unser Verstand
nicht begreifen kann, was das Beten genützt haben soll und davon kein
Ergebnis spürt, wird dennoch unser Glaube uns dessen gewiß machen,
20 was unser Verstand nicht wahrzunehmen vermag, daß wir doch alles
erhalten haben, was wir brauchten, und wird es so richten, daß wir in
der Armut Reichtum und in der Betrübnis Trost besaßen. Denn selbst
wenn uns alles fehlen sollte, Gott wird und dennoch nie verlassen, wie
er ja auf keinen Fall die Erwartung und Geduld der Seinen zu enttäu-
25 schen vermag. Er allein wird uns alle anderen Dinge ersetzen, wie er ja
in sich alle Güter enthält, die er uns in einem zukünftigen Zeitpunkt
voll und ganz offenbaren wird.
que si elle nest appuyee de tous costez et soustenue par tous moiens
soubdain elle est esbranlee en toutes pars, agitee et vacilante. Or elle
est aussi par les sacremens exercee envers les hommes, quand elle sort
en confession publique et est incitee a rendre louanges au Seigneur.
Du baptesme.
daß er sofort erschüttert wird und wankt und schwankt, wenn er nicht
von allen Seiten und mit allen Mitteln gestützt und gestärkt wird. Er
wird dann auch vor den Menschen durch die Sakramente geübt, wenn
er in ein öffentliches Bekenntnis ausmündet und dadurch zum Lob des
Herrn angeregt wird.
Ein Sakrament ist also ein äußerliches Zeichen, durch welches der Herr
uns seinen uns gegenüber gütigen Willen darstellt und bezeugt, um die
10 Schwachheit unseres Glaubens zu stärken, oder (kürzer und klarer
gesagt) ein Zeugnis der Gnade Gottes kundgemacht durch ein äußerli-
ches Zeichen. Die christliche Kirche hat nur zwei Sakramente in Ge-
brauch, nämlich die Taufe und das Abendmahl.
15 Die Taufe ist uns von Gott dazu gegeben, damit sie erstens unserem
Glauben an ihn und zweitens unserem Bekenntnis vor den Menschen
diene. Der Glaube schaut auf die Verheißung, durch welche uns der
barmherzige Vater die Gemeinschaft mit seinem Christus anbietet,
damit wir, mit ihm bekleidet, Anteil an all seinen Gütern haben sollen.
20 Indessen stellt die Taufe im besonderen zwei Dinge dar: Das eine ist
die Reinigung, die wir durch das Blut Christi erhalten, das andere die
Abtötung unseres Fleisches, die wir in seinem Tod empfangen haben.
Denn der Herr hat geboten, daß die Seinen zu Vergebung der Sünden
getauft werden (Mt 28,19; Act 2,38). Und der heilige Paulus lehrt (Eph
25 5,26.27), die Kirche sei durch ihren Gemahl Christus geheiligt und
durch das Wasserbad im Wort des Lebens gereinigt. Weiter erläutert er
(Röm 6,3-11), wie wir in den Tod Christi getauft sind, nämlich in
seinem Tod begraben, damit wir in einem neuen Leben wandeln. Mit
all dem ist jedoch nicht gemeint, daß das Wasser Ursache oder auch
30 bloß Werkzeug der Reinigung und Wiedergeburt sei, sondern nur, daß
die Kenntnis dieser Dinge in diesem Sakrament empfangen wird, in
der Absicht, daß uns gesagt wird, wir würden all die Gaben des Herrn,
an die wir glauben, auch wirklich empfangen, erhalten und erreichen,
sei es, daß wir dann zu ersten Mal davon erfahren, oder daß wir es
35 schon wissen und dann noch mehr überzeugt werden.
Die Taufe dient ebenfalls unserem Bekenntnis vor den Menschen;
denn sie ist ein Kennzeichen, durch welches wir öffentlich bekanntge-
ben, daß wir zum Volke Gottes gezählt werden wollen, um Gott in ein
und derselben Religion mit allen Gläubigen zu dienen und zu ehren.
40 Weil es im Übrigen so ist, daß durch die Taufe vor allem der Bund
Gottes mit uns bestätigt wird, taufen wir mit gutem Recht auch unsere
Kinder, die an dem ewigen Bund teilhaben, durch welchen der Herr
verheißt, er werde nicht nur unser Gott, sondern auch der unserer
Nachkommen sein (Gen 17,1-14).
198 Instruction et confession de foy
De la cene du Seigneur.
Puis que le Seigneur a voulu que tant sa parolle que ses sacremens
414 soyent dispensez par le ministere des hommes, I il est necessaire quil y
ait des pasteurs ordonnez aue Eglises, lesquelz enseignent le peuple, et 10
en publiq et en prive, de pure doctrine et administrent les sacremens et
par bon [71] exemple instruissent tous a sainctete et purete de vie.
Ceulx qui mesprisent ceste discipline et cest ordre sont iniurieux non
seulement aux hommes mais aDieu, et mesmes comme heretiques se
retirent de la societe de lEglise, laquelle nullement ne peult consister 15
sans tel ministre. Car ce que le Seigneur a une fois testifie (Math.
10,40.) nest pas de petite importance, cest que quand les pasteurs quil
envoye sont receuz, luy mesmes est receu, et pareillement quil est
reiecte quand ils sont reiectez. Et affin que leur mini stere ne feust
contentible, ilz sont garnis dun mandement notable de lyer et deslyer, 20
ayant promesse adioustee que quelconques choses quilz auront lye ou
deslye en terre sont liees ou deliees au ciel (Math. 16,19.). Et Christ
mesme en un aultre lieu (Ieh. 20,23.) expose que lier cest retenir les
pechez, et deslier cest les remectre. Or lapostre declare quelle est la
maniere de deslier quand (Rom. 1,16.) il enseigne lEvangile estre la 25
vertu de Dieu a salut a chascun croyant, et aussi de lier, quand il dict,
(2 Corinth. 10,4-6) les apostres avoir vengeance preste contre toute
desobeissance. Car la somme de lEvangile est que nous sommes serfz
de peche et de mort, et que nous en sommes desliez et delivrez par la
redemption qui est en Christ lesus, et que ceulx qui ne ·le recoivent 30
pour redempteur sont reserrez comme par nouveaulx liens de plus
griefve damnation.
Mais ayons souvenance que celle puissance, laquelle en lEscripture est
actribuee aux pasteurs, est toute contenue et limitee aux mini stere de la
parolle, car Christ na pas donne proprement ceste puissance aux hommes, 35
mais a sa parolle de laquelle il a faict les hommes ministres. Pourtant
quilz osent hardiment toutes choses par la parolle de Dieu, de laquelle
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 201
Da der Herr gewollt hat, daß ebenso wie sein Wort auch seine Sakra-
mente durch den Dienst von Menschen ausgeteilt würden, muß es
10 beauftragte Pfarrer in der Kirche geben, die das Volk öffentlich und
privat in der reinen Lehre unterweisen, die Sakramente verwalten und
durch ein gutes Beispiel alle zur Heiligkeit und Reinheit des Lebens
anleiten. Diejenigen, welche diese Lebensweise und Ordnung verach-
ten, beleidigen nicht nur die Menschen, sondern Gott, und entfernen
15 sich als Ketzer von der Gemeinschaft der Kirche, die keinesfalls ohne
ein solches Amt bestehen kann. Denn es ist von nicht geringer Wich-
tigkeit, was der Herr einmal bezeugt hat (Mt 10,40): Wenn die Pfarrer,
die er aussendet, aufgenommen werden, wird er selbst aufgenommen,
und entsprechend abgewiesen, wenn sie abgewiesen werden. Und da-
20 mit ihr Dienst nicht bestritten werde, sind sie mit der hervorragenden
Vollmacht ausgestattet worden, zu binden und zu lösen, der die Ver-
heißung mitgegeben ist, daß alle Dinge, die sie auf Erden binden oder
lösen, auch im Himmel gebunden oder gelöst sind (Mt 16,19). Christus
selbst erläutert an einer anderen Stelle, daß Binden das Festhalten in
25 Sünden, Lösen das Erlassen der Sünden bedeute (Joh 20,23). Auf
welche Weise das Lösen geschieht, erklärt der Apostel, wenn er lehrt,
das Evangelium sei die Kraft Gottes zum Heil für jeden, der glaubt
(Röm 1,16), und ebenso das Binden, wenn er sagt, die Apostel seien
bereit, jeden Ungehorsam zu strafen (11 Kor 10,6). Denn die Summe
30 des Evangeliums8 besteht darin, daß wir Sklaven von Sünde und Tod
sind und daß wir durch die Erlösung in Christus davon gelöst und
befreit sind, und daß diejenigen, welche ihn nicht als Erlöser anneh-
men, wie durch neue Fesseln einer noch schwereren Verdammung
festgebunden sind.
35 Aber denken wir daran, daß diese Macht, welche in der Schrift den
Pfarrern zuerkannt wird, völlig im Dienst des Wortes enthalten und
darauf begrenzt ist. Denn Christus hat diese Macht genau genommen
nicht Menschen gegeben, sondern seinem Wort, zu dessen Dienern er
die Menschen gemacht hat. Darum sollen sie alle Dinge kühn durch
8 Calvin braucht diese Formel der »summa Evangelii« schon in Inst. 1536 in
verschiedenen Zusammenhängen, fur diese Stelle hier findet sich das inhalt-
liche Vorbild OS I, 171: » ... summa Evangelii ... poenitentia et peccatorum
remissione.« Vgl. dazu E. SAXER, Aberglaube, Heuchelei und Frömmigkeit.
Eine Untersuchung zu Calvins reformatorischer Eigenart, SDGSTh 28, Zürich
1970, 87f. Einmalig ist hier der zusätzliche Hinweis auf die Verdammung der
Nichtgläubigen.
202 Instruction et con/ession de /oy
Comme ainsi soit que nous ayons une sentence generale de Sainct
Paul, cest a scavoir que toutes choses soient faictes aux Eglises decente-
ment et par ordre, il ne fault pas nombrer entre les traditions humaines 15
les observations civiles par lesquelles, comme par quelques liens, en
lassemblee des chrestians lordre et honestete consiste ou la paix et
concorde soit retenue. Mais plustost illes fault refferer a celle reigle de
lapostre, pourveu quon ne les pense estre necessayres a salut, ne quelles
lient par religion les consciences, ne quelles soient rapportees au service 20
de Dieu, ne quon mecte aucune piete en icelles. Mais il fault grandement
et virilement resister a celles, lesquelles, comme estant necessaires a
servir et honorer Dieu, sont faictes soubz le nom de loix spirituelles
pour lier les consciences, car elles ne destruissent pas seulement la
liberte, laquelle Christ nous a acquis, mais elles obscurcissent aussi la 25
vraye religion et violent la maieste de Dieu, qui veult seul regner par sa
parolle en noz consciences. Cecy doncques soit ferme et arreste que
toutes choses sont nostres, mais que nous sommes a Christ (1 Corinth.
3,21-23.) et que Dieu est servi en vain la ou sont enseignees les doctrines
qui sont commandemens des hommes (Math. 15,1-20.). 30
De excommunication.
Du magistrat.
wenn sie sich nicht bessern, macht sie sie bereits ihrer Verdammung
gewiß. Diese Kirchenzucht ist unter den Gläubigen notwendig, weil
die Kirche, da sie ja der Leib Christi ist, nicht durch solche stinkenden
verfaulten Glieder, die ihrem Haupt Schande machen, beschmutzt und
verseucht werden darf; erst recht auch, damit die Heiligen nicht (wie es
zu geschehen pflegt) durch den Umgang mit den Bösen verdorben und
geschädigt werden. Diesen selbst nützt es ebenfalls, daß ihre Bosheit
so gestraft wird; denn andernfalls würden sie durch Nachsicht nur noch
verstockter; so aber lernen sie, beschämt durch ihre Schande, sich zu
\0 bessern. Wenn dies erreicht ist, nimmt die Kirche sie mit Wohlwollen
wieder in ihre Gemeinschaft auf und läßt sie an jener Einheit teilhaben,
von welcher sie ausgeschlossen worden waren. Damit indes niemand
hartnäckig das Urteil der Kirche verachte oder sich wenig darum schert,
vom Spruch der Gläubigen verdammt worden zu sein, bezeugt der
15 Herr, daß ein solches Urteil der Gläubigen nichts anderes als die Ver-
kündigung seines eigenen Spruches ist und daß im Himmel bestätigt
wird, was sie auf Erden tun (Mt 18,17f). Denn ihrer ist das Wort
Gottes, durch welches sie die, welche sich bessern, in Gnaden wieder
aufnehmen können.
Der Herr hat nicht nur bezeugt, daß der Stand der Obrigkeiten von ihm
gebilligt wird und ihm wohlgefallig ist, sondern er hat ihn uns darüber
hinaus sehr empfohlen und seine Würde mit höchst ehrenvollen Titeln
ausgezeichnet. Denn er versichert, daß es ein Werk der Weisheit ist,
25 daß die Könige regieren, die Räte gerechte Anordnungen treffen und
die irdischen Großen Richter sind (Prov 8,15-16). Anderswo nennt er
sie Götter, weil sie sein Werk tun (Ps 82,6-7). Noch an anderer Stelle
heißt es, daß sie an Gott und nicht an eines Menschen Stelle Gericht
üben (Dtn 1,17 und 11 Chr 19,5-7). Und der heilige Paulus nennt unter
30 den Gaben Gottes die Oberen (Röm 12,8). Dort, wo er dies dann
ausführlich behandelt (Röm 13,1-7), lehrt er sehr klar, daß ihre Macht
von Gott angeordnet ist und daß sie Diener Gottes sind, um die, welche
Gutes tun, zu loben und die Rache des Zornes Gottes an den Bösen zu
vollstrecken. Fürsten und Obrigkeiten sind also verpflichtet, sich Re-
35 chenschaft zu geben, wem sie in ihrem Amte dienen, und nichts zu tun,
was Dienern und Statthaltern Gottes unwürdig ist. Sozusagen all ihre
Fürsorge soll sich darauf erstrecken, die öffentliche Gestalt der Religi-
on in echter Reinheit zu bewahren, das Leben des Volkes durch vor-
zügliche Gesetze zu regeln und fiir Wohl und Ruhe ihrer Untertanen
40 sowohl im öffentlichen wie im privaten Leben zu sorgen. Dies kann
aber nur durch Gerechtigkeit und Gericht erreicht werden. Beides wird
ihnen als Wichtigstes durch den Propheten empfohlen (Jer 22,3). Ge-
rechtigkeit besteht darin, die Unschuldigen zu schützen und zu stützen,
zu bewahren und zu befreien. Gericht besteht darin, der Frechheit der
45 Bösen zu widerstehen, Gewalttätigkeit zu verhindern und die Verbre-
chen zu bestrafen.
206 Instruction et confession de foy
Isaie 5 (v.l3)
Mon peuple a este captif, pourtant quil na pas eu science.
Die Untertanen haben dafür die Pflicht, ihre Oberen nicht nur zu ehren
und zu achten, songern deren Heil und Wohlergehen dem Herrn durch
Gebete anzuempfehlen und sich bereitwillig ihrer Herrschaft zu unter-
stellen, ihren Erlassen und Anordnungen zu gehorchen und die von
ihnen auferlegten Verpflichtungen nicht abzulehnen, seien dies Steu-
ern, Zölle, Abgaben oder ähnliche Leistungen, oder bürgerliche Ämter
und Aufträge, und alles weitere dieser Art. Wir müssen auch nicht bloß
jenen Oberen Gehorsam erweisen, welche rechtmäßig und pflichtge-
treu ihres Amtes walten, sondern auch jene ertragen, die tyrannisch
10 ihre Macht mißbrauchen, bis wir auf gesetzesmäßigem Weg von ihrem
Joch befreit werden. Denn wie ein guter Fürst ein Zeugnis göttlicher
Wohltat zur Bewahrung des Heils der Menschen ist, so ein schlechter
und böser eine Geißel Gottes, um die Sünden des Volkes zu strafen. In
jedem Fall soll dies ganz allgemein gelten, daß sowohl den einen wie
15 den anderen die Macht von Gott gegeben ist und wir ihnen nicht
Widerstand leisten können, ohne Gottes Anordnung selbst zu widerste-
hen.
Allerdings muß immer eines vom Gehorsam gegenüber den Oberen
ausgenommen werden: Er darf uns nicht vom Gehorsam gegenüber
20 jenem abbringen, vor dessen Erlassen auch die Gebote der Könige
zurücktreten müssen. Der Herr ist der König der Könige, und wenn er
seinen hochheiligen Mund öffnet, müssen alle auf ihn allein weit vor
allen anderen hören. Demnach sind wir zwar den Menschen untertan,
die über uns gesetzt sind, aber nicht anders als in ihm. Wenn sie etwas
25 gegen ihn befehlen, soll man sich nicht darum kümmern noch sich
etwas daraus machen, sondern es gelte vielmehr dieser Spruch: »Man
muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.« (Act 4,19)
»Mein Volk ist gefangen worden, weil es ihm an Einsicht fehlte.« (Jes
5,13)
30 »Wie wird ein Junger den rechten Weg finden? Wenn er darauf achtet
gemäß deinem Wort.« (ps 119,9)
CONFESSION DE LA FOY
Als erstes beteuern wir, daß wir allein der Schrift als Richtschnur
10 unseres Glaubens und unserer Religion folgen wollen, ohne irgend
etwas darein zu mengen, das menschlichem Sinnen entsprungen ist,
und halten daran fest, daß wir fiir unsere geistliche Leitung keine
andere Lehre. annehmen als die, welche uns durch eben dieses Wort
gelehrt wird, ohne irgendwelche Zutaten oder Abstriche, so wie es
15 unser Herr befiehlt.
Exode 20.
Ie suis le Seigneur ton Dieu, qui tay tyre hors de la terre dEgipte, de la 10
mayson de servitude. Tu nauras point daultres dieux devant moy. [87]
Tu ne te feras aucune ymage ne semblanee des ehoses qui sont au eiel
las sus, ne en la terre ca bas, ne es eaues dessoubz la terre. Tu ne leur
feras inelination et ne leur serviras, ear ie suis le Seigneur ton Dieu,
fort, ialoux, visitant liniquite des peres sur les enfans en la troisiesme et 15
quatriesme generation de eeulx qui me hayssent, et faisant miserieorde
en milles generations a eeulx qui mayment et gardent mes eommande-
mens. Tu ne prendras point le nom du Seigneur ton Dieu en vain, ear
Dieu ne tiendra point pour innoeent eeluy qui prendra son nom en vain.
Aye souvenanee du iour du repoz pour le sanetifier: six iours tu travaitc 20
leras et feras toute ton oeuvre, le septiesme eest le repoz du Seigneur
ton Dieu. Tu ne feras aucune oeuvre, ne toy, ne ton filz, ne ta fille, ne
ton serviteur, ne ta ehambriere, ne ton bestial, ne lestrangier qui est
dedens tes portes: ear en six iours Dieu a faiet le eiel et la terre, la mer
et tout ce qui est en ieeulx, et sest repose au septiesme iour: pourtant il 25
a beneist le iour du repoz et la sanetifie. Honore ton pere et ta mere
affin que tes iours soient prolongez sur la terre laquelle le Seigneur ton
Dieu te donnera. Tu ne tueras point. Tu ne paillarderas point. Tu ne
desroberas point. Tu ne diras point faulx tesmoignage eontre ton pro-
ehain. Tu ne eonvoiteras point la maison de ton proehain et ne desi- 30
reras point sa femme, ne son serviteur, ne sa ehambriere, ne son beuf,
ne son asne, ne aultre chose qui soit a luy.
4. Lhomme en sa nature.
Da er allein der Herr und Meister ist, der die Herrschaft über unsere
Gewissen inne hat, und so sein Wille auch die einzige Richtschnur
aller Gerechtigkeit ist, bekennen wir, daß unser ganzes Leben nach den
Geboten seines heiligen Gesetzes gestaltet werden soll, da darin alle
Gerechtigkeit vollkommen enthalten ist, und daß wir keine andere
Regel befolgen sollen, um gut und gerecht zu leben, noch um ihm zu
gefallen andere gute Werke erfinden sollen als die darin enthaltenen,
wie hier folgt:
10 Exodus 20
Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus
dem Sklavenhaus herausgeruhrt habe. Du sollst keine anderen Götter
neben mir haben. Du sollst dir kein Bild noch Abbild machen, weder
von dem, was oben am Himmel, noch unten auf Erden, noch in den
15 Wassern unter der Erde ist. Du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht
dienen; denn ich bin der Herr, dein Gott, stark und eifersüchtig, und
suche die Schuld der Väter heim an den Kindern derer, die mich
hassen, bis zur dritten und vierten Generation; aber erweise mich barm-
herzig auf tausend Generationen an denen, die mich lieben und meine
20 Gebote halten. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht
mißbrauchen; denn Gott wird den nicht für unschuldig ansehen, der
seinen Namen mißbraucht. Gedenke des Ruhetages, um ihn zu heili-
gen: Sechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk tun, der siebente
aber ist der Ruhetag des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit
25 tun, weder du, noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch dein Diener
noch deine Dienerin, noch dein Vieh, noch der Fremdling, der inner-
halb deiner Tore ist. Denn in sechs Tagen hat Gott Himmel und Erde
erschaffen, das Meer und alles, was in ihnen ist; und er ruhte am
siebenten Tage; darum hat er den Ruhetag gesegnet und ihn geheiligt.
30 Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du länger lebest in dem
Lande, das der Herr, dein Gott, dir geben wird. Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst kein
falsches Zeugnis gegen deinen Nächsten ablegen. Du sollst nicht gelü-
sten nach dem Hause deines Nächsten, du sollst nicht begehren nach
35 seiner Frau, seinem Diener, seiner Dienerin, seinem Ochsen, seinem
Esel oder irgend etwas anderem, das sein eigen ist.
Wir anerkennen, daß der Mensch von Natur aus völlig blind in seinem
verfinsterten Verstand und voller Verderbnis und Verkehrung des Her-
40 zens ist, so daß er von sich aus nicht das Geringste vermag, um die
wahre Erkenntnis Gottes zu erfassen, wie es sich gehört, noch auch
sich etwas Gutem zuzuwenden. Im Gegenteil, wenn er von Gott in
seiner eigenen Natur belassen wird, kann er nur in seiner Unkenntnis
212 Instruction et confession de foy
Puis que lhomme est naturellement (ainsi comme dit a este) despourveu
et desnue en soy de toute lurniere de Dieu et de toute iustice, nous
recongnoissons quen soymesmes il ne peult attendre que lire et la
malediction de Dieu, et pourtant quil doibt chercher autre part quen soy
le moyen de son salut. 10
6. Salut en Jesus.
Nous confessons doncques que Iesuchrist est celuy qui nous a este
donne du Pere, affin quen luy nous recouvrions tout ce qui nous deffault
en nousmesmes. Or tout ce que Iesuchrist a faict et souffert pour nostre
redemption, nous le tenons veritable sans aucune doubte, ainsy quil est 15
contenu au Symbole qui est recite en lEglise, cest assavoir:
Ie croy en Dieu, le Pere tout puissant, createur du eiel et de la terre, et
en Iesuchrist son seul Filz, nostre Seigneur, qui a este conceu du Sainct
Esprit, nay de la vierge Marie, a souffert soubz Ponce Pilate, a este
crucifie, mort et ensepvely, est descendu aux enfers, le tiers iour est 20
resuscite des mortz, est monte es cieulx, est assis a la dextre de Dieu le
Pere tout puissant, et de la viendra iuger les vifz et les mors. Ie croy au
Sainct Esprit, la saincte Eglise universelle, la communion des sainctz,
la remission des pechez, la resurrection de la chair, la vie etemelle.
Amen. 25
7. Iustice en Iesus.
8. Regeneration en Iesus.
Da der Mensch also, wie eben festgestellt, vollständig bar allen Lichtes
und aller Gerechtigkeit Gottes ist, anerkennen wir, daß er von sich aus
nichts anderes erwarten kann als Gottes Zorn und Fluch und deshalb
anderswo als bei sich selbst das Mittel zu seinem Heil suchen muß.
Wir bekennen also, daß es Jesus Christus ist, der uns vom Vater gege-
ben worden ist, damit wir in ihm all das wieder erlangen, was uns fehlt.
Wir halten also alles, was Jesus Christus zu unserer Erlösung getan und
gelitten hat, ohne jeden Zweifel :fiir wahr, so wie es im Bekenntnis
15 enthalten ist, das in der Kirche im Gebrauch ist, nämlich:
Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels
und der Erde, und an Jesus Christus, seinen einzigen Sohn, unseren Herrn,
der empfangen worden ist durch den Heiligen Geist, geboren von der
Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und
20 begraben, hinabgestiegen in die Unterwelt, am dritten Tag auferstanden
von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes,
des allmächtigen Vaters, und wird von dort kommen, um die Lebenden
und Toten zu richten. Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige allge-
meine Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden,
25 die Auferstehung des Fleisches, das ewige Leben. Amen.
So anerkennen wir alles, was daraus folgt, als uns durch Gott in Jesus
Christus gegeben: Erstens sind wir, unserer Natur nach Feinde Gottes
und seinem Zorn und Gericht unterworfen, mit ihm versöhnt und durch
30 das Eintreten Jesu Christi wieder in Gnaden angenommen, da wir ja
nun in dessen Gerechtigkeit und Unschuld die Vergebung unserer Übel-
taten haben und durch sein vergossenes Blut gereinigt und von allen
unseren Flecken gesäubert sind.
35 Zweitens sind wir durch seinen Geist zu einer neuen, geistlichen Natur
wiedergeboren, was bedeutet, daß die schlechten Begierden unseres
214 Instruction et confession de foy
Et affin que toute gloire et louenge rendue aDieu (comme elle est
deue), et que nous puissions avoir vraye paix et repoz en noz conscien-
ces, nous entendons et confessons que nous recevons tous les benefices
de Dieu cy dessus recitez par sa seulle [90] clemence et misericorde,
sans aulcune consideration de nostre dignite ou merite de noz oeuvres, 25
ausquelles nest deue aucune retribution que de confusion etemelle.
Neantmoins que nostre Seigneur, par sa bonte nous ayant receu en la
communion de son filz Iesus, ales oeuvres que nous faisons en foy
422 plaisantes et I agreables: non point quelles le meritent, mais pourtant
que, ne nous imputant point limperfection qui y est, il ne recongnoist 30
en icelles synon ce qui procede de son esprit.
11. Foy.
Fleisches durch seine Gnade abgetötet sind, damit sie nicht mehr in uns
regieren, sondern im Gegenteil unser Wille demjenigen Gottes gleich-
gestaltet wird, um seinem Weg zu folgen und nach dem zu trachten,
was ihm angenehm ist, weil wir ja durch ihn vom Dienst der Sünde
befreit worden sind, unter deren Macht wir von uns aus gefangen
gehalten wurden, und durch diese Befreiung fahig und geneigt ge-
macht worden sind, gute Werke zu tun, und nicht anderswie.
Damit alle Ehre und alles Lob Gott erwiesen werde, wie es ihm ge-
bührt, und damit wir wahren Frieden und wahre Ruhe in unseren
Gewissen finden, sind wir überzeugt und bekennen, daß wir all die
25 vorher erwähnten Wohltaten Gottes aus seiner Milde und Barmherzig-
keit allein empfangen, ohne irgendwelche Berücksichtigung unserer
Würde oder eines Verdienstes unserer Werke, welchen keine andere
Belohnung zukommt als ewige Beschämung. Nichtsdestoweniger sind
unserem Herrn, der uns durch seine Güte in die Gemeinschaft seines
30 Sohnes Jesus aufgenommen hat, die Werke, die wir im Glauben tun,
wohlgefällig und angenehm: nicht weil sie es verdienten, sondern in-
dem er uns deren Unvollkommenheit nicht anrechnet und in ihnen nur
das anerkennt, was aus seinem Geist hervorgeht.
35 Wir bekennen, daß der Zugang, den wir zu solch großen Schätzen und
Reichtümern der über uns ausgegossenen Güte Gottes haben, durch
den Glauben geschieht, wenn wir, fest im Vertrauen und in der Gewiß-
heit des Herzens, den Verheißungen des Evangeliums glauben und
Jesus Christus annehmen, so wie er uns vom Vater dargestellt und uns
40 durch das Wort Gottes beschrieben wird.
216 Instruction et confession de foy
14. Sacremens.
15. Baptesme.
Le baptesme est ung signe exterieur par lequel nostre Seigneur testifie
quil nous veult recepvoir pour ses enfans, comme membres de son Filz
Iesus. Et pourtant en iceluy nous est representee la purgation de noz
pechez que nous avons au sang de Iesuchrist, la mortification de nostre 35
chair que nous avons par sa mort, pour vivre en luy par son esprit. Or
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 217
12. Die alleinige Anrufung Gottes und Christi Eintreten für uns
Wie wir erklärt haben, daß wir Hoffuung und Vertrauen für unser Heil
und alles Gute nirgendwo anders als in Gott durch Jesus Christus
finden, so bekennen wir auch, daß wir ihn in all unseren Nöten im
Namen Jesus Christi anrufen sollen, unseres Mittlers und Fürsprechers,
durch den wir Zugang zu ihm haben. Ebenso sollen wir anerkennen,
daß alle Güter von ihm allein herkommen und ihm dafür Dank sagen.
Daß die Heiligen für uns eintreten, verwerfen wir hingegen als eine
abergläubische, der Schrift widersprechende menschliche Erfmdung,
10 die ja eigentlich nur dem Mißtrauen entspringt, Christi Eintreten für
uns genüge nicht.
Da das Gebet nicht frei von Heuchelei und Erdichtung ist, wenn es
nicht aus der inneren Neigung des Herzens kommt, sind wir überzeugt,
15 daß alle Gebete in verständlicher Weise gesprochen werden sollen.
Aus diesem Grunde lernen wir das Gebet unseres Herrn, um recht zu
verstehen, worum wir ihn bitten sollen.
Unser Vater, der du bist in den Himmeln. Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden so wie im Him-
20 mel. Gib uns heute unser tägliches Brot, und vergib uns unsere Verge-
hen, so wie wir jenen vergeben, die sich an uns vergehen; und führe
uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Amen.
Wir sind überzeugt, daß die Sakramente, welche unser Herr in seiner
25 Kirche angeordnet hat, für uns Übungen des Glaubens sein sollen,
sowohl um ihn zu kräftigen und in den Verheißungen Gottes zu bestär-
ken, als auch um ihn vor den Menschen zu bezeugen. Und es gibt nur
zwei in der christlichen Kirche, die durch Gottes Urheberschaft festge-
setzt worden sind: die Taufe und das Mahl unseres Herrn; darum
30 verdammen wir als Erfindung und Lüge, was unter der Herrschaft des
Papstes von sieben Sakramenten geglaubt wird.
Die Taufe ist ein äußeres Zeichen, durch welches unser Herr bezeugt,
daß er uns als seine Kinder annehmen will, als Glieder seines Sohnes
35 Jesus. Darum wird uns in ihr die Reinigung von unseren Sünden, die
wir durch das Blut Jesu Christi haben, und die Abtötung unseres Flei-
sches, die wir durch seinen Tod haben, um in ihm durch seinen Geist zu
218 Instruction et confession de foy
puis que noz enfans appartiennent a une teIle alliance de nostre Sei-
gneur, nous sommes certains que a bon droict le signe exterieur leur est
communique.
La cene de nostre Seigneur est ung signe par lequel soubz le pain et le
vinil nous represente la [92] vraye communication spirituelle que nous
avons en son corps et son sang. Et recongnoissons que sei on son
ordonnance elle doibt estre distribuee en la compaignie des fideles,
affin que tous ceulx qui veullent avoir Iesus pour leur vie en soyent
participans. Or daultant que la messe du pape a este une ordonnance IO
mauldicte et diabolique pour renverser le mistere de ceste saincte cene,
nous declairons quelle nous est en execration comme une idolatrie
condarnnnee de Dieu, tant en ce quelle est estimee ung sacrifice pour la
redemption des ames, que pource que le pain est en icelle tenu et adore
comme Dieu: oultre les aultres blasphemes et superstitions execrables, 15
qui y sont contenues, et labuz de la Parolle de Dieu, qui y est prinse en
vain sans aucun fruict ne edification.
18. Eglise.
Das Mahl unseres Herrn ist ein Zeichen, durch welches er uns unter
Brot und Wein die wahre geistliche Gemeinschaft darstellt, welche wir
in seinem Leib und Blut haben. Und wir anerkennen, daß es gemäß
seiner Anordnung in der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeteilt wer-
den soll, damit alle, die Jesus als ihr Leben besitzen wollen, daran
10 Anteil haben. Insofern dagegen die päpstliche Messe eine verfluchte
und teuflische Einrichtung gewesen ist, um das Geheimnis dieses heili-
gen Mahles zu zerstören, erklären wir, daß sie für uns eine Abscheu-
lichkeit ist, ein von Gott verdammter Götzendienst, sowohl darin, daß
sie für ein Opfer zur Erlösung der Seelen gehalten wird, weil darin das
15 Brot für Gott gehalten und angebetet wird, wie darüber hinaus wegen
der weiteren Lästerungen und abergläubischen Scheußlichkeiten, die
darin enthalten sind, und wegen des Mißbrauchs von Gottes Wort, das
darin vergeblich gebraucht wird, ohne jede Frucht und Erbauung.
Obschon es nur eine Kirche Jesu Christi gibt, anerkennen wir doch,
daß die Vereinigungen der Gläubigen notwendig erweise auf verschie-
dene Orte verteilt sind, deren Versammlungen jeweils den Namen
Kirche tragen. Aber soweit all diese Vereinigungen sich nicht im Na-
220 Instruction et confession de foy
19. Excommunication.
Nous ne reputons point auItres pasteurs de [94] lEglise que les fideles
ministres de la Parolle de Dieu, et repaissans les brebis de Iesuchrist
par icelle en instructions, admonitions, consolations, exhortations, repre-
hensions, daultre part resistans a toutes faulses doctrines et tromperies 30
du diable, sans mesler parmy la pure doctrine des Escriptures leurs
songes, ne folles imaginations. Et ne leur attribuons auItre puissance,
ne auctorite, synon de conduire, regir et gouvemer le peuple de Dieu a
eulx commis, par icelle Parolle, en laquelle ilz ont puissance de
commander, deffendre, promectre et menasser, et sans laquelle ilz ne 35
peuvent et ne doibvent rien attenter. Or comme nous recevons les vrays
ministres de la Parolle de Dieu comme messagiers et ambassadeurs de
Dieu, lesquelz il fault escouter comme luy mesmes, et reputons leur
Gen/er Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537) 221
30 Bei uns gilt niemand anders als Pfarrer der Kirche als die treuen Diener
am Worte Gottes, welche damit die Schafe Jesu Christi mit Unterwei-
sungen, Ermahnungen, Tröstungen, Aufmunterungen und Tadeln näh-
ren und anderseits allen falschen Lehren und Betrügereien des Teufels
widerstehen, ohne unter die reine Lehre der Schriften ihre Einbildun-
35 gen und verrückten Phantasien zu mischen. Und wir schreiben ihnen
keine andere Macht noch Amtsgewalt zu, außer das ihnen anvertraute
Volk Gottes zu führen, zu lenken und zu regieren, und zwar durch eben
dieses Wort Gottes, mit welchem sie die Macht haben, zu befehlen, zu
verbieten, zu versprechen und zu drohen, und ohne welches sie nichts
40 vermögen und nichts anstreben sollen. Wie wir indessen einerseits die
wahren Diener am Worte Gottes als Boten und Gesandte Gottes anneh-
men, auf die man hören muß wie auf ihn selbst, und ihren Dienst als
222 Instruction et confession defoy
21. Magistratz.
Wir halten die Hoheit und Herrschaft sowohl der Könige und Prinzen
10 wie auch der anderen Obrigkeiten und Oberen für eine heilige Sache
und eine gute Ordnung Gottes. Und da sie mit ihrer Amtsausübung
Gott dienen und einer christlichen Berufung folgen, sei es im Verteidi-
gen der Leidenden und Unschuldigen oder im Wiedergutmachen und
Bestrafen der Schlechtigkeit der Ruchlosen, müssen wir ihnen auch
15 unsererseits Ehre und Achtung zollen, Gehorsam und Unterordnung
erweisen, ihre Befehle ausfUhren und die uns auferlegten Abgaben
leisten, alles soweit es uns möglich ist, ohne Gott zu mißachten. Insge-
samt sollen wir sie als Vertreter und Statthalter Gottes auf Erden ach-
ten, welchen man keinesfalls widerstehen darf, ohne Gott selbst zu
20 widerstehen, und ebenso ihr Amt als einen heiligen Auftrag Gottes,
den er ihnen gegeben hat, um uns zu regieren und zu lenken. Darum
sind wir überzeugt, daß alle Christen verpflichtet sind, Gott um das
Wohlergehen der Oberen und Herren jener Länder in welchen sie
leben, zu bitten, ihren Gesetzen und Ordnungen zu folgen, soweit sie
25 nicht den Geboten Gottes zuwiderlaufen, für das Gute, die Ruhe und
den allgemeinen Nutzen zu sorgen und sich um die Aufrechterhaltung
der Ehre der Oberen und der Ruhe des Volkes zu bemühen, ohne
irgend etwas anzustiften oder zu betreiben, das Verwirrung oder Zwie-
tracht erregen könnte. Wir erklären im Gegenteil, daß alle, die sich
30 ihren Oberen gegenüber treulos verhalten und keine wahre Hingabe an
das öffentliche Wohl des Landes ihres Aufenthaltes zeigen, dadurch
ihre Treulosigkeit gegen Gott erweisen.
6. Gegen die Verleumdungen
des P. Caroli (1545)
1. Der Text
Als Calvin 1536 mit der Reorganisation der Genfer Kirche begann,
war die Lage alles andere als geklärt. Er selbst charakterisiert sie
rückblickend mit: »Alles war in Aufruhr«.4 In dieser Zeit der ersten
Auseinandersetzungen in Genf kamen die Anklagen des Peter Caroli,
der die drei Gefährten Calvin, Farel und Viret des Antitrinitarismus
beschuldigte, sehr ungelegen und stellten deren auch sonst schon ge-
nug umkämpfte Arbeit grundlegend in Frage. Eine Zerstrittenheit in
einem so zentralen Punkt wie der Trinitätslehre hätte, so die Ein-
schätzung Calvins, das Ende der evangelischen Sache in Genf be-
deutet. 5
Peter Caroli war als an der Sorbonne ausgebildeter Theologe ins
evangelische Lager geflüchtet. Er wirkte zuerst in Neuenburg, und
dann zusammen mit Viret in Lausanne als Pfarrer. Nachdem er dort
eigenmächtig das Gebet für die Verstorbenen wiedereingeführt hatte
und dafür zur Rechenschaft gezogen worden war, ging er mit seinem
Vorwurf des Arianismus gleichsam zum Gegenangriff über. 6
Von ihm ist, aus der Sicht der Reformatoren, ein sehr unvorteilhaftes
Bild übermittelt. Mehrmals wechselte er das konfessionelle Lager und
schwor seinem jeweils früheren Bekenntnis ab. 7 Weniger die Wechsel-
haftigkeit des Caroli oder dessen theologische Kritik an Calvin als
vielmehr die anmaßende und kirchenschädigende Weise, wie er diese
kundtat, war es, was Calvin zur Überzeugung kommen ließ, daß es ihm
mehr um seinen eigenen Ruhm als um die Sache Gottes zu tun war. 8
Nach Gesprächen in Lausanne und Bernfand am 14. Mai 1537 unter
Berner Leitung eine Synode statt, in deren Folge die Angeschuldigten
von den Vorwürfen Carolis freigesprochen wurden und sich dieser
wieder Rom zuwandte. 9 Trotzdem hatte der Streit für Calvin unange-
nehmen Folgen. Caroli hatte ihn in Lausanne gleichsam ultimativ
aufgefordert, die drei altkirchlichen Symbole, das Apostolikum, das
Nizänum und besonders das sich gegen die Arianer wendende
Athanasianum, des sich bekanntlich als heilsnotwendiges Glaubens-
4 CO 9,892.
5 CO 10/2,87. BriefCalvins an einen Bemer Pfarrer (Februar 1537).
6 Vgl. ebd., 85f.
7 Charakterisieren die Herausgeber der CO Caroli als » ... vir vana ambitione
agitatus, opinibus inconstans, moribus levis« (CO 7,XXX), so nehmen sie das
Bild auf, das Calvin in der vorliegenden Schrift von ihm zeichnet, ein Bild, wie
es sich für die Genfer Reformatoren aufgrund von Carolis Verhalten und ange-
sichts der Heftigkeit seiner Polemik notwendigerweise ergeben mußte. Vgl.
außer der Schrift Calvins die verschiedenen Briefe zum Carolistreit in CO 101
2,81-128. Nimmt man etwa den Brief Carolis an Papst Paul III von 1537
(HERMINJARD IV,248-251) und den Brief an Farel von 1543 (CO 11,544ff.) als
Hintergrund, ist Calvins Tonfall zumindest verständlich. Ein Versuch, den
Blickwinkel Carolis stärker einzubeziehen, findet sich bei BÄHLER (Petrus
Caroli und Johannes Calvin).
8 CO 7,294f; CO 10/2,85f.
9 CO 7,325.337.
Gegen die Verleumdungen des P. Caroli (1545) - Einleitung 227
10 Das Athanasianum beginnt mit den Worten: »Quicumque vult salvus esse ... «,
Enchiridion Symbolorum, Hg. H. DENZINGER, Freiburg i.Br. 1965,41.
11 Vgl. CO 10/2,374-396.
12 So berichtet Calvin in einem Brief an Farel ausfuhrlich über die Gespräche in
Straßburg, in welchen es um die Wiederaufnahme des Caroli ging: »Also,
wenn ich nachwies, wie boshaft er gehandelt, so konnte ich doch das nicht
erreichen, daß er keinen Grund zum Angriff auf uns gehabt zu haben schien ....
Niemand von den Unsem zweifelte an unserer Schuldlosigkeit, aber alle quäl-
ten sie mich der Bekenntnisse wegen, weil wir nicht hatten unterschreiben
wollen ... «. Wie sehr das Auftreten des Caroli in Straßburg, der Calvin alle
Schuld am Streit in Lausanne und an seiner Rückkehr zum Katholizismus
zuschob, diesem zu schaffen machte, wird ebenso deutlich: »Dort fiel ich in
schwere Sünde, denn ich konnte nicht maßhalten. Die Galle hatte sich meiner
Stimmung so bemächtigt, daß ich vor Bitterkeit überfloß nach allen Seiten hin
... Hätte ich Dich vor mir gehabt und mit Dir reden können, ich hätte das ganze
Unwetter auf Dich losgelassen, das sich nun über andere ergossen hat«. Trotz-
dem schließt Calvin seinen Bericht mit versöhnlichen Worten: »Es bleibt uns
jetzt nur noch übrig, da wir ihn einmal in Gnaden aufgenommen haben, bestän-
dig in solcher Gesinnung gegen ihn zu bleiben. Denn da wir ihn nicht weg-
weisen durften, müssen wir ihn wenigstens mit allem Eifer bei uns festhalten.
Das kann aber nicht anders geschehen, als wenn Du alle Deine Freunde davon
abhältst, hochmütig gegen ihn zu sein.« CO 10/2,396-399. Zitiert nach
SCHWARZ, I, 127ff.
228 Gegen die Verleumdungen des P. Caroli (1545) - Einleitung
1545, wobei seine ganze bisherige bittere Erfahrung mit Caroli die
Schärfe der Polemik erklärt.
Calvins Schrift hat den Charakter einer »Gerichtsrede« und zeugt von
seiner humanistisch-rhetorischen Bildung.!3 Geschickt kombiniert er
sachbezogene Argumentation mit der Rede »ad hominem«, bezieht sich
auf Quellen und Zeugen, appelliert an das gesunde Urteil des Hörers
bzw. Lesers, und weiß auch, was zu seiner Zeit als Stilmittel galt,
geeignete, weil den Gegner geschickt charakterisierende »Schimpf-
wörter« am passenden Ort und in angemessener Weise einzusetzen.!4
Entscheidend für Calvin sind allerdings stets Sachargumente. Im Un-
terschied etwa zum vornehmen Stil des Briefes gegen Sadolet, in dem
ja nicht minder wichtige Dinge verhandelt werden, ist sein emotiona-
les Involviertsein dennoch deutlich spürbar.
Zutreffend am Vorwurf des Caroli ist nicht Calvins Abweichen von der
kirchlichen Trinitätslehre in Richtung Arianismus oder Modalismus,
sondern dessen Relativierung des theologischen Status dieser Bekennt-
nisse. Da das in der Schrift zur Sprache kommende Wort Gottes allein
letzte Autorität zu beanspruchen vermag, kommt für Calvin keiner
sprachlichen Formulierung, und sei es diejenige eines kirchlich be-
glaubigten Bekenntnisses, eine Letztgültigkeit zu. Daß daraus keine
Geringschätzung der theologischen Tradition folgt, zeigt Calvins Ar-
gumentation ebenso deutlich. Parallel zu seiner Relativierung der tri-
nitätsbezogenen Bekenntnisse geht aber von Anfang an seine »Ortho-
doxie« in der Sache. Caroli nötigte ihn zu einer ausführlichen Darle-
13 Vgl. M.F. QUINTILlAN, Institutionis Oratoriae libri XII. Wie Calvins beiläufige
Erwähnung zeigt (CO 7,317), eine auch zwischen Caroli und ihm unbestrittene
Grundlage jeglicher Bildung. Calvins ganze Schrift ist eine gekonnte Durch-
ftihrung dessen, was Quintilian zum »genus iudicialis« (Inst. Orat. III 9) und
zur »narratio« (Inst. Orat. IV 2) lehrt.
14 Die Erklärung tur die in unseren Ohren befremdend klingenden Titel, mit wei-
chen Calvin seinen Gegner versieht (Hund, Esel, Schwein, Krähe), greift zu kurz,
wenn sie einfach auf damalige rohere Sitten verweist. Es geht dabei vor allem um
ein gewandeltes Sprachempfmden. Vgl. etwa die Fülle der Belege von »Hund«
zur Bezeichnung eines »bellenden« oder »beissenden« Menschen im Thesaurus
Linguae latinae, BerlinlLeipzig 1912, Vol. 111,258. Dazu auch Quintillian, Inst.
Orat. VI 3,57-59. Wenn Caroli nicht mehr Frömmigkeit besitzt »als ein Hund
oder ein Schwein«, so nimmt Calvin damit einen traditionellen Topos auf zur
Behauptung, daß Caroli letztlich, in epikuräischer Weise (vgl. etwa Horaz,
Epistolae 1,4), trotz seines vordergründigen Kampfes fiir dogmatische Richtig-
keit, von ganz anderen Dingen bestimmt ist als von der Gottesfrage. Vgl. auch
Calvins entsprechende Beschreibung der Epikuräer: Inst. I, II ,4; Kommentar zur
Apg 17, 18 (CO 48, 405). Zudem erweist sich der Unterschied zu unserem
Sprachgebrauch oft als gar nicht so groß. Wenn Caroli als »Krähe« bezeichnet
wird, »die sich mit fremden Federn schmückt«, so wird bei dieser auch heute
geläufigen Metapher von uns einfach der Tiername verschwiegen, obwohl er
impliziert ist; ein Paradiesvogel hat dies nämlich nicht nötig.
Gegen die Verleumdungen des P. Caroli (1545) - Einleitung 229
Peter Opitz-Moser
Literatur
- Zum Carolistreit:
Text und Einführung mit Angabe der Quellen und älterer Literatur:
CO 7,XXX-XXXIV293-340.
E. BAHLER, Petrus Caroli und Johannes Calvin, in: Jahrbuchfür Schwei-
zerische Geschichte Bd 29 (1904), 41-168.
J RILLIET, Calvin, Paris 1963, 65-68.
A. GANOCZY, Jl2-Jl6.
W NIJENHUIS, Calvin's Attitude Towards the Symbols of the Early
Church During the Conflict with Caroli, in: Ecclesia Reformata. Studies
on the Reformation, Leiden 1972, 73-97.
R. C. GAMBLE, Calvin's Theological Method The Case of Caroli, in:
Calvin, Erbe undAuftrag, FSfür WH NEUSER, hg. v. W VAN'TSPIJKER,
Kampen 1991, 130-137.
K. BARTH, 420-471.
- Zur Trinitätslehre:
E.E. WARFIELD, Calvin's Doctrine ofthe Trinity, in: Calvin and Augu-
stine, Philadelphia 1956, 189-284.
J KOOPMANS, Das altkirchliche Dogma in der Reformation, München
1955.
HH ESSER, Hat Calvin eine »leise modalisierende Trinitätslehre« ? In:
Calvinus Theologus, hg. v. WH NEUSER, Neukirchen 1976, 113-129.
T.F. TORRANCE, Calvin's Doctrine ofthe Trinity, in: Calvin Theological
Journal, 25/2 (1990),165-193.
15 Im Text wird die Aufuahme der wichtigsten Aussagen in die Institutio von
1539 nachgewiesen, der leichteren Verifizierbarkeit wegen unter Angabe des
Abschnitts der Institutio von 1559 und der Seitenzahl in den Opera Selecta.
Adversus P. Caroli calumnias
CO 7,311 Hic surrexit Calvinus qui totarn suarn orationem divisit in tres partes.
Primum enim conquestus est de malitia et improbitate Caroli, qui nulla
causa adductus, sed impulsus furore diabolico, aut mera invidia instiga-
tus, ecclesiarn sic turbaret, impediret cursum regni Christi, homines
non innoxios modo, sed praeclare de tota ecclesia meritos inhumaniter
proscinderet; deinde ad causarn transiit, in qua sic praefatus est: De hac
quaestione nobis litern movit Carolus, qualis sit Deus, et quae in Deo
sit personarum dinstinctio. Ego autem altius incipio. Quaero enim ab
eo an credat aliquem esse Deum? Testor enim Deum et homines, nihilo 10
eum plus habere fidei quarn canem vel porcum. Et hic tarnen Epicureus,
qui nullo pietatis sensu afficitur, Dei zelum simulat, dum nobis mo-
lestiarn de quaestionibus hoc tempore supervacuis facessit. Quid enim
opus est ea vocare in disceptationem, de quibus inter nos optime conve-
nit? Et simul, ex quo tempore et qua occasione ad istud certarnen 15
subito exarsisset Carolus, clare disseruit. Quia tarnen periculum erat ne
cui scrupulus iniectus esset, aut ne aliquando diceretur, tanti criminis
insimulatos flüsse Genevenses, nec purgatos, confessionem edidit ab
omnibus suis collegis receptarn, quae sic ad verbum habe bat.
Gegen die Verleumdungen des
Peter Caroli
Nun begann Calvin mit seiner Rede, die er insgesamt in drei Teile
gliederte. Als erstes beklagte er sich über die Bosheit und Unredlich-
keit des Caroli, der ohne Grund, vielmehr aus teuflischer Rachsucht
oder bloßem Neid, die Kirche auf diese Weise durcheinanderbringe
und den Lauf des Reiches Christi hindere, indem er Männer auf unvor-
nehme Weise beschimpfe, die nicht bloß unschuldig seien, sondern
sich deutlich um die ganze Kirche verdient gemacht hätten. Danach
10 ging er zum Streitpunkt über, indem er folgendes vorausschickte: »Caroli
hat mit uns Streit angefangen in der Frage, wie Gott sei und welche
Unterscheidung der Personen in ihm sei. Ich fange dagegen noch grund-
legender an. Ich will nämlich von ihm wissen, ob er denn überhaupt
glaubt, daß irgendein Gott sei! Gott und Menschen rufe ich nämlich
15 dafür als Zeugen an, daß er nicht mehr Glauben hat als ein Hund oder
ein Schwein. 1 Und dennoch gibt dieser Epikuräer, der durch keine
Frömmigkeit berührt ist, Eifer für Gott vor, indem er uns mit Fragen
belästigt, die zur Zeit völlig überflüssig sind. Oder wozu ist es nötig,
über etwas zu streiten, worüber bei uns aufs beste Übereinstimmung
20 herrscht?« Zugleich zeigte er deutlich, unter welchen Umständen und
durch welchen Anlaß Caroli plötzlich diesen Streit entfacht hatte. Weil
dennoch die Gefahr bestand, daß jemandem hätten Zweifel aufkom-
men können, oder daß einmal hätte gesagt werden können, den Gen-
fern sei ein derartiger Vorwurf gemacht worden und sie hätten sich
25 nicht davon befreit, legte er ein BekenntrIis ab, das von allen seinen
Kollegen übernommen wurde und wörtlich folgendermaßen lautete: 2
1 Vgl. Anmerkung 14 der EinleiIung.
2 Dieses Bekenntnis zur Trinitätslehre, das auch in CO 9,703-707 abgedruckt ist,
erweitert die Aussagen der ein Jahr früher (1536) erschienenen Institutio, ohne
sie sachlich zu verändern. Allerdings waren dort die Ausfiihrungen zur Trinitäts-
lehre knapp gehalten (vgl. OS 1,70-75), was aber nicht bedeutet, daß diese fur
Calvin 1536 noch eine theologisch untergeordnete Rolle gespielt hätte. So stellt
er ja schon in dieser ersten Fassung der Institutio, die strukturell noch nicht von
der Trinitätslehre bestimmt ist, sowohl den ersten (OS 1,76) wie den zweiten
(OS 1,77) und dritten (OS 1,85) Artikel ausdrücklich in den trinitarischen Zu-
sammenhang. Die Kontroverse mit Caroli bewirkte einerseits einen verschärf-
ten Ton gegenüber 1536 (vgl. etwa OS III 135,26-136,7), andererseits fanden
die notwendig gewordenen Erweiterungen dann, sachlich und teilweise wört-
lich, Eingang in die Institutio von 1539. Dort geht es neu darum, »Ut ab
omnibus improborum calumniis veritas asseratur« (OS III 136,37f). Auf die
entsprechenden Stellen wird im folgenden aufmerksam gemacht. Der Text
wird dabei nach OS und nach der Kapitelzählung der endgültigen Institutio von
1559 angegeben.
232 Adversus P. Caroli calumnias
eingeführt werden, bekennen wir, daß wir den zum Gott haben, in
dessen Namen wir getauft worden sind. 18
Damit steht deutlich fest, daß der Vater, der Sohn und der Geist in
einem Wesen Gottes sind, weil wir ja im Namen des Vaters, des
Sohnes und des Heiligen Geistes getauft werden. 19 Andererseits aber
zeigt sich in den Schriften auch eine gewisse Unterscheidung des Va-
ters vom Wort und des Wortes vom Geist. Es ist nämlich klar gesagt,
daß der Vater durch den Sohn alles geschaffen hat, daß er denselben in
die Welt gesandt, dem Tod ausgeliefert, von den Toten auferweckt,
10 ihm einen Namen gegeben hat, der über allen Namen ist, so daß, wenn
jemand nicht offenkundig das Wort Gottes zurückweisen will, er sich
dem nicht einfach entziehen kann. Der Vater ist ja weder auf die Erde
gekommen, noch hat er unser Fleisch angenommen, noch ist er gestor-
ben, noch wurde er auferweckt. Ferner gab auch Christus zu verstehen,
15 daß er sich vom Geist unterscheidet, als er versprach, einen anderen
Tröster zu senden. 20 Sodann hindert jene Unterscheidung die einfach-
ste Einheit Gottes nicht. Es kann vielmehr gerade aus ihr erwiesen
werden, daß der Sohn mit dem Vater ein Gott ist, weil er zugleich mit
ihm den einen Geist hat, der Geist andererseits nicht etwas vom Vater
20 und vom Sohn Verschiedenes ist, weil er ja der Geist des Vaters und
des Sohnes iSt. 21 Zusammenfassend gesagt: Wir erkennen in dem ewi-
gen, geistlichen, unendlichen Wesen Gottes, welches wir vorhin be-
kannt haben, den Vater mit dem Wort und dem Geist, aber so, daß wir
nicht den Vater mit dem Wort, oder das Wort mit dem Geist vermi-
25 schen. Die Torheit des Arius, welcher dem ewigen Sohn seine Gottheit
raubte, zugleich aber auch des Macedoniers, der unter Geist nur die
über den Menschen ausgegossenen Gnadengaben verstand, mißbilli-
gen wir und schließen wir aus. 22 Dem Irrtum des Sabellius, der keine
Unterscheidung zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Geist zuließ,
30 sind wir dabei ebensowenig zugetan.
Was Christus im besonderen anbelangt, behaupten wir, daß er aus zwei
Naturen besteht. Bevor er nämlich Fleisch annahm, war er jenes ewige
Wort, aus dem Vater vor aller Zeit gezeugt, wahrer Gott, mit dem
Vater ein Wesen, eine Macht und Majestät, ja selbst >Jehova<, der sein
35 Sein von sich selbst hatte und anderen die Kraft des Seins eingehaucht
hat. Denn er hat ja von sich selbst bezeugt, daß er die Ehre, mit der er
im Fleisch ausgezeichnet wurde, von Anfang an beim Vater besessen
habe, vor der Gründung der Welt. Dies lehrt auch Paulus von ihm,
indem er schreibt, er sei in der Gestalt Gottes gewesen. 23 Unter dem
40 Wort >Gestalt< versteht er seine Majestät. Seine Macht aber bezeugt er
selbst in diesen Worten: >Ich und der Vater wirken bis jetzt. <24 Darüber-
hinaus bezeugen es die Schriften allenthalben, wenn sie sagen, daß
durch ihn der Erdkreis gegründet sei,25 daß in ihm das Leben war,26 und
vieles derartiges. 27 Mehr anzufügen ist hier nicht nötig. Wenn er näm-
lich Gott ist, dann kommt ihm auch alles zu, was Gottes ist. Daher
waren die Arianer töricht, die, während sie ihn als Gott bekannten, ihm
die Substanz Gottes nicht zugestanden.
Unter der Bezeichnung >Wort< verstehen wir auch nicht einen bloßen
flüchtigen und leeren Laut, der in die Luft gesandt wird, so wie es die
10 Offenbarungsworte waren, die den Vätern und Propheten zuteil wurden,
sondern die ewige bei Gott wohnende Weisheit, aus welcher alle Offenba-
rungsworte und Prophetien stammen. Die alten Propheten haben nämlich
nicht weniger als die Apostel und alle, die für die Menschen im Dienst der
Wahrheit Gottes standen, aus dem Geist Christi geredet. 28 Deshalb drük-
15 ken die Schriften, auch wenn sie zeigen, daß die Eigentümlichkeiten zu
unterscheiden sind, dennoch, indem sie Christus manchmal zuteilen, was
nur von Gott, und manchmal, was nur vom Menschen gesagt werden
kann, deren Verbindung, die in Christus besteht, so gewissenhaft aus, daß
sie die Eigenart der einen auch der anderen zuteilen. So, wenn sie sagen,
20 Gott habe die Kirche durch sein Blut erworben, und der Sohn des Men-
schen sei im Himmel gewesen in der Zeit, in welcher er auch auf der Erde
war: eine Redeweise, welche von den Alten >idiomaton koinonia< genannt
wurde. Am deutlichsten beschreiben aber jene Stellen das wahre Wesen
Christi, die zugleich seine beiden Naturen umfassen, wie sie am häufigsten
25 im Johannesevangelium vorkommen. 29 Wir bekennen also, daß Christus,
wahrer Gott und wahrer Mensch, der Sohn Gottes ist, auch hinsichtlich
seiner Menschheit, wenn auch nicht nach menschlicher Weise. 3o Dies ist
nämlich sowohl deutlich in den Schriftzeugnissen enthalten als auch von
der alten Kirche übereinstimmend anerkannt worden.
30 Alle diejenigen, welche die Wahrheit der göttlichen Majestät Christi
aufzuheben oder zu verringern oder auch nur zu verdunkeln versuchen,
verachten wir wie Gottlose. Die Marcioniten31 , die ihm nur einen Schein-
leib andichteten, wie auch die Manichäer32 , die meinten, er sei mit
einem himmlischen Leib angetan gewesen, lehnen wir klar ab. Aber
35 auch dem Apollinarius 33 stimmen wir nicht zu, der ihm den halben Teil
seiner Menschheit nahm. Endlich verurteilen wir auch den Irrtum des
Nestorius 34, der die Göttlichkeit von der Menschlichkeit trennte und
einen zweifachen Christus erfand.«
24 Joh 5,17.
25 Hebr 1,2.
26 Joh 1,4.
27 Vgl. OS III,119,32-127,8 (passim) /Inst. 1,13,9-13.
28 1 Petr 1,11; Vgl. OS III, 117,1-9 lInst. 1,13,7.
29 Vgl. OS III,459,6-461,1 / Inst. II,14,1-3.
30 Vgl. OS III,463,14ff.lInst. II,14,4.
31 Vgl. OS III,450, 1Off. / Inst. II,13,2.
32 Vgl. OS III,451,14ff.lInst. II,13,2.
33 Vgl. OS III,499,13ff. /Inst. II,16,12.
34 Vgl. OS III,463,18ff. lInst. II,14,4.
240 Adversus P. Caroli calumnias
315 I Cui obseero non satisfaetum esset tam plena et perspieua eonfessione?
Quid enim est quod iudex non omnino iniquus in ea desideret? Ex ea
eerte apparet quam proeul ab Arianismo et Sabellianismo abfuerint.
Atqui tanta fuit Caroli vel impudentia vel rabies, ut initio deeem eireiter
loeis eam impugnare eonatus sit, quemadmodum Sorbonistis solenne
est, plenis bueeis haereses et sehismata erepare, quoties volunt aliquid
damnaturn. Validis tamen responsionibus deieetus turpiter pedem
reduxit; nee aliud sibi reliquum feeit ad eriminandum, quam quod
nomina trinitatis et personarum illie taeerentur, deinde quod Christus
praediearetur Iehovah, qui essentiam haberet a se ipso. Sed de his quia 10
postea suo loeo traetabitur, in praesens plura dieere omitto.
Tertia pars orationis exeusationem eontinebat, quod postulante Carolo
symbolis subseribere reeusarent. Calvino quidem et aliis propositum
nequaquam erat symbola abiieere aut illis derogare fidem, sed quia sie
aggressus erat eos Carolus, suspeetam sibi esse eorum fidem, donee 15
symbolorum subseriptione eam probassent, nolebant in praeteritum
tempus tali invidia gravari. Et sane, quid aliud hoe erat quam iugulum
porrigere? Quanquam non tam eos movebat, sui respeetus quam mini-
sterii, quod his eunieulis impetebatur ab homine nequam et seelerato.
Sperabat enim hae speeie infame redditum iri Farelli nomen, ut quidquid 20
haetenur egisset in promovendo Christi regno, pessum iret. Deinde
nolebant hoe tyrannidis exemplum in eeclesiam induei; ut is haeretieus
haberetur qui non ad alterius praeseriptum loquutus esset. Hue enim
ineubuerat Carolus, nullum absque tribus symbolis esse Christianum.
Quid autem eontentiosius, inquit Augustinus ad Paseentium, quam ubi 25
de re eonvenit, de voeabulis litigare? Falsum ergo est quod ait, Calvinum
adversus tria symbola declamitasse. De symbolo Athanasii ioeatus est
in hune modum: Pronuneiasti, Carole, versum illum: Hane fidem qui-
eunque non tenuerit, salvus esse non poterit. Tu autem non tenes.
Neque enim, quum diu luetatus esses, ad quartnm versum pervenire 30
potuisti. Quid si nune te mors intereipiat? et diabolus teeum agat, quod
eoneeptis verbis te aetemo exitio devoveris, nisi armatus sis praesenti
huius fidei eustodia. De symbolo Nieaeno ita loquutus est: Quid si
Gegen die Verleumdungen des P. Caroli (1545) 241
Wer, ich bitte euch, wäre von einem solchen ausflihrlichen und klaren
Bekenntnis nicht befriedigt? Was ist es, das ein nicht völlig feindseli-
ger Beurteiler in ihm vermissen könnte? Aus ihm wird gewiß ersicht-
lich, wie weit sie von Arianismus und Sabellianismus entfernt waren.
Die Unverschämtheit und Streitsucht des Caroli war aber so groß, daß
er es zuerst an etwa zehn Stellen zu bekämpfen versuchte; wie es ja bei
den Sorbonnisten Brauch ist, gleich aus vollem Mund Häresie und
Schisma zu schreien, sooft sie irgendetwas verurteilt haben wollen.
Durch gutbegründete Antworten bedrängt, zog er sich jedoch schmäh-
10 lieh zurück, und so blieb ihm für seine Anklage nur noch dies übrig,
daß sie dort die Wörter» Trinität« und »Personen« nicht gebrauchten,
und daß Christus »Jehova«, der sein Wesen von sich selbst hat, ge-
nannt sei. Weil davon aber nachher an seinem Ort ausführlicher die
Rede sein wird, sage ich jetzt noch nicht mehr dazu.
15 Der dritte Teil der Rede enthielt die Rechtfertigung dessen, daß sie die
von Caroli geforderte Unterzeichnung der Symbole zurückwiesen. Cal-
vin und die anderen hatten nämlich keinesfalls die Absicht, die Symbo-
le abzuschaffen oder ihnen den Glauben zu entziehen, aber weil Caroli
sie mit den Worten angegriffen hatte, daß ihm ihr Glaube solange
20 fragwürdig sei, bis sie ihn durch die Unterzeichnung der Symbole
bewiesen hätten, wollten sie nicht, daß alles Bisherige einer solchen
üblen Nachrede ausgesetzt würde. Denn was war das anderes als ein
Sichausliefern? Dabei ging es ihnen allerdings weniger um sich selbst
als um ihr Amt, welches mit diesem Hinterhalt von einem nichtsnutzi-
25 gen und verbrecherischen Mann angegriffen wurde. Er hoffte nämlich,
daß aufgrund dieses Verdachtes der Name Farel einen schlechten Ruf
bekäme, damit das, was dieser bisher für das Reich Christi geleistet
hatte, zugrunde gehen würde. Im weiteren wollten sie ein solch tyran-
nisches Beispiel nicht in der Kirche Einzug halten lassen, daß schon
30 derjenige als Häretiker angesehen würde, der nicht nach der Vorschrift
eines anderen spricht. Darauf nämlich bestand Caroli, daß niemand
ohne die drei Symbole ein Christ sein könne. »Was zeugt aber mehr
von Streitsucht«, sagt Augustin in seiner Schrift an Pascentius, »als
dort, wo in der Sache Übereinstimmung herrscht, um Worte zu strei-
35 ten?«35 Es ist daher falsch, wenn er behauptet, daß sich Calvin gegen
die drei Symbole ausgesprochen habe. Zum Athanasianum hat er fol-
gendes scherzend bemerkt: »Du hast, Caroli, jenen Vers zitiert: »Wer
diesen Glauben nicht festhält, kann nicht gerettet werden«. Du aber
hältst ihn selbst nicht. Du konntest nämlich, trotz langen Bemühens,
40 nicht zum vierten Vers vordringen. 36 Was, wenn dich jetzt der Tod
erreichen und der Teufel so mit dir verfahren würde, wie du es wörtlich
über das ewige Verderben geschworen hast, wenn du gegenwärtig
nicht mit dem Schutz dieses Glaubens ausgerüstet bist?« Zum Nyzä-
nischen Symbol sagte er dies: »Was, wenn ich leugne, daß diese For-
35 PL 33,1040.
36 Caroli wurde auf der Synode während seines feierlichen Zitierens des Athana-
sianums von seinem Gedächtnis im Stich gelassen (CO 7,311).
242 Adversus P. Caroli calumnias
mel, die du mir aufdrängen willst, wirklich von der Synode von Nyzäa
stammt? Es ist nämlich nicht glaubhaft, daß sich die heiligen Väter,
während sie in größtmöglicher Kürze die notwendigsten Dinge zusam-
menfassend formulieren wollten, sich dabei noch mit weitläufigen
Umschreibungen beschäftigt haben. Du siehst aber, daß hier redundant
geredet wird: Gott von Gott, Licht von Licht, wahrer Gott von wahrem
Gott. Wozu diese Wiederholungen? Etwa um der Betonung oder des
besseren Ausdrucks willen? Du siehst also, daß dies ein Lied ist, das
sich besser zum Singen als zur Bekenntnisformel eignet, wo jede über-
10 flüssige Silbe fehl am Platz ist. Was bedeutet es, daß Augustin, der ein
tiefer Verehrer der Nyzänischen Synode war, die Aussage »Ich glaube
an die heilige Kirche« heftig bekämpft? Er sagt nämlich, das sei eine
fehlerhafte Rede. 37 Hätte er dies etwa getan ohne eine ehrenbezeugende
Einleitung vorauszuschicken, wenn er der Meinung gewesen wäre, daß
15 es von diesen Autoren stamme? Ja, er beschuldigt sogar diejenigen, die
so sprechen, der Unwissenheit. Du aber willst alle Glaubenden dahin
bringen, daß sie dir in diesem Irrtum sogar zustimmen.«
Weiter ging Calvin im Abschwächen der Autorität der Symbole nicht,
das können alle bezeugen, die anwesend waren. 38 Denn er wollte damit
20 nur die Dreistigkeit und Hartnäckigkeit des Caroli etwas zurückdrän-
gen. Dieser Hund gibt ja sogar selbst zu, daß Calvin nicht im Sinne
hatte, den Symbolen den Glauben zu entziehen. In seinen Worten, das
heißt mit sorbonnischer Eleganz, läßt er Calvin nämlich folgendes
sagen: »Weder glaube ich, noch bezweifle ich.« Auch wenn Calvin
25 diese Worte niemals gebraucht hat, nehme ich wohl an, daß der Gegner
sie ihm zugesteht. Und schließlich war die Antwort Calvins, nicht so
sehr auf die Sache, als, wie man dies nennt, auf den Menschen ge-
mürizt. Wie der Streit nachher verlief, kann aus der Beschaffenheit der
Fragen selbst und aus dem Charakter der Parteien geschlossen werden.
30 ( ••• )
Nun ist es Zeit, daß ich die Argumente des Caroli widerlege, mit
welchen er das vorhin erwähnte BekenntrIis aufs heftigste tadelt, oder
vielmehr unter dem Vorwand, es zu widerlegen, mit sich selbst streitet.
Größtenteils wendet er nämlich nichts gegen das BekenntrIis ein, son-
35 dem er führt den Samosatener, Servet und andere Häretiker39 an, die
das fiir ihn tun sollen, Leute, mit welchen Farel nichts mehr gemein-
sam hat, als Caroli mit Christus, oder Christus mit Belial. Ganz einfach
und mit wenigen Worten will ich seiner Dreistigkeit begegnen, so daß
318 reprirnam, ut I omnes agnoscant canern esse qui procul latret, rnorsu
autern non attingat quos irnpetit. Initio insurgit adversus hanc praefatio-
nern, ubi testantur pii viri talern se concipere Deum qualis scripturis
describitur. Sanctos enirn patres audiendos clamitat. Quasi vero alia
lege audiri se voluerint Athanasius, Hilarius, Ambrosius, Augustinus,
Cyrillus, quam si ex scripturis loquantur, aut quidquam ab eorum doctri-
na diversum profiteatur in sua confessione Calvinus. Toties sancti illi
viri, dum sua probare volunt, ad sirnplicern scripturae definitionern
provo cant. Toties adrnonent, credendum non aliud esse quam quod
scripturis continetur. Et hic nugator hac rnacula eos aspergit, quasi nos 10
a pura scripturae doctrina revocent. Quin etiam magno crirnini ducit
haereticis Hilarius, quod propter eorum proterviam cogatur subiicere
periculo humani loquii (sunt enim haec eius verba) quae rnentium
religione contineri oportuerat. Fatetur enirn hoc esse nihil aliud quam
agere illicita, ineffabilia loqui, inconcessa praesumere; et postquam 15
patrern, filium et spiritum nominavit, subnectit extra significantiam
sermonis esse, extra sensus intentionem, extra intelligentiae conceptio-
nern quidquid ultra quaeritur. Et in libro de Conciliis felices Galliae
episcopos praedicat qui aliam confessionem non audissent, quam simpli-
cem illam et plebeiam quae Symbolo apostolorum continetur. Confessio 20
autem haec quam Carolus impugnat, si ad veterum scripta exigatur,
deprehendetur per omnia convenire. Nam et nihil habet quod veterum
suffragiis probari non possit, et nihil de summa re tradunt veteres quod
non hic confirmetur.
Secunda calumnia est de vocabulis. Miratur enim cur tam pertinaciter 25
nomina personarum et trinitatis Calvinus refugiat. Atqui respondeo,
nec Farellum, nec Calvinum, nec Viretum ab his vocibus unquam
abhorruisse. Scripta autem Calvini toti mundo testantur eum libenter
semper usum esse, ac etiam reprehendisse eorum superstitionem qui
eas vel odissent, vel fugerent. Quod autem illis uti in confessione 30
supersederunt, et Carolo importune urgenti negarunt se usuros, ad id
duabus causis movebantur. Nolebant enim consensu suo approbare
tyrannidem hanc, ut quum de re satis superque constaret, fides verbis
Gegen die Verleumdungen des P. Caroli (1545) 245
alle erkennen, daß er ein Hund ist, der zwar von feme bellt, mit seinem
Biß diejenigen aber nicht zu fassen bekommt, welche er verfolgt. Zu
Beginn erhebt er sich gegen das Vorwort, wo die frommen Männer
sagen, daß sie Gott so denken wollen, wie er in den Schriften beschrie-
ben wird. Die heiligen Väter soll man hören, ruft er. Als ob Athanasius,
Hilarius, Ambrosius, Augustinus, Cyrill unter einer anderen Voraus-
setzung gehört werden wollten als der, daß sie aufgrund der Schriften
redeten, oder als ob Calvin in seinem Bekenntnis irgend etwas von
ihren Lehren Verschiedenes gesagt hätte. Sooft diese heiligen Männer
10 ihre Lehren beweisen wollen, berufen sie sich auf die einfachen Aussa-
gen der Schrift. Ebensooft erinnern sie daran, daß nichts anderes zu
glauben sei, als was in den Schriften enthalten ist. Und dieser Schwät-
zer befleckt sie mit dem Makel, daß sie uns von der reinen Lehre der
Schrift abhalten wollten. Ja, Hilarius rechnet es den Häretikern sogar
15 als großes Verbrechen an, daß er wegen ihrer Anschuldigungen ge-
zwungen war, »etwas der Gefahr des menschlichen Redens auszuset-
zen«, so lauten nämlich seine Worte, »worüber mit ehrfürchtigem Ge-
müt geschwiegen werden sollte«. Er meint nämlich, daß dies nichts
anderes sei, als »Unzulässiges tun, Unaussprechliches sagen, Uner-
20 laubtes sich anmaßen«. Nachdem er den Vater, den Sohn, den Geist
erwähnt hat, fügt er bei, daß »außerhalb der Ausdrucksmöglichkeit des
Redens, außerhalb des Bereiches des Denkens, außerhalb des begriffli-
chen Fassungsvermögens« sei, »was darüber hinaus gesucht wird«.40
Und im Buch »Von den Konzilien« preist er die französischen Bischö-
25 fe glücklich, weil sie noch kein anderes Bekenntnis gehört hätten, als
jenes einfache und geringe, welches im apostolischen Symbol enthal-
ten iSt. 41 Dieses Bekenntnis aber, wie sehr es Caroli auch angreift, wird
sich, welm es an den Schriften der Alten gemessen wird, als ihnen
völlig konform erweisen. Denn ebenso, wie es nichts enthält, was nicht
30 durch Aussagen der Alten belegt werden könnte, so überliefern die
Alten in ihren Hauptpunkten nichts, was nicht auch hier bekräftigt
wäre.
Die zweite falsche Anklage bezieht sich auf die Wörter. Er wundert
sich nämlich, weshalb Calvin so beharrlich die Begriffe »Person« und
35 »Trinität« übergeht. Nun antworte ich: weder Farel noch Calvin noch
Viret sind jemals vor diesen Wörtern zurückgeschreckt. Die Schriften
Calvins zeigen ja der ganzen Welt, daß er sie immer gern gebraucht
hat, ja sogar den Aberglauben derjenigen getadelt hat, welche sie ent-
weder hassen oder meiden. 42 Dazu aber, daß sie diese im Bekenntnis
40 übergingen und sich angesichts des unverschämten Drängens des Caroli
weigerten, sie zu gebrauchen, wurden sie aus folgenden Gründen ver-
anlaßt. Sie wollten nämlich nicht mit ihrer Zustimmung eine solche
Tyrannei gutheißen, daß der Glaube an Worte und Silben gebunden
würde, obwohl die Sache mehr als hinreichend feststeht. Der Haupt-
aut syllabis esset alligata. Sed praecipua ratio illis fuit, ut furioso
homini eam iactantiam eriperent, quam ipse animo et spe praesumpserat.
Hoc enim, sicuti dixi, erat eius consilium: tota piorum virorum doctrina
in suspicionem tracta, autoritatem eorum quoquo modo labefactare.
Neque id dissimulanter agebat. Nam in consessu satis frequenti inter
319 certa- I minis praeludia ita cum Vireto egerat: Tum mihi suspecta esse
desinet tua fides, quum tribus Symbolis subscripseris. Quo scilicet
verbo innuebat, suspectam se in praeteritum tempus velle facere. Id
porro ne cui dubium sit, luculento testimonio comprobarunt, dum Helve-
ticam confessionem, absque mora aut controversia, coram ipso Carolo 10
sunt amplexi. Cuius hoc est quintum caput: De Deo sic sentimus:
Unum essentia, trinum personis, etc. Nec aliud refero quam quod publicis
actis curiae Bemensis consignatum est. Et non multo post tempore,
quis esset interior animi sui sensus, apud ecclesiae Bemensis pastores
familiariter professi sunt, hac formula ad verbum illis edita: 15
Quoniam voces istas trinitatis et personarum plurimum ecclesiae Chri-
sti commodare intelligimus, quo et vera patris, filii et spiritus sancti
distinctio clarius exprimatur et contentiosis melius occurratur, usque
adeo nos ab his non abhorrere scitote, ut libenter eas amplexemur, sive
ex aliis audiendae sive a nobis usurpandae sint. Itaque quod antehac 20
semper a nobis factum est, in posterum quoque nos operam daturos,
quoad licebit, recipimus, ne earum usus in ecclesia aboleatur. Nam
neque ab iis in scriptis, in enarrationibus scripturae, in concionibus ad
populum abstinebimus ipsi, et alios docebimus ne superstitiose refugiant.
Si quis autem praepostera quadam religione teneatur, quominus libere 25
usurpare ipsas ausit, quanquam eiusmodi superstitionem nobis non
probari testamur, cui corrigendae non sit defuturum nostrum studium,
quia tamen nobis non videtur haec satis firma causa, cur alioqui vir
pius et in eandem religionem nobis sensu consentiens repudietur, eius
imperitiam hac in parte eatenus feremus, ne abiiciamus ipsum ab 30
ecclesia, aut tanquam male de fide sentientem notemus.
Haec certe voluntaria piorum virorum professio abunde eos a frivolis
Caroli criminationibus liberat ut supervacuum sit illis copiosius respon-
dere. Et certe illum non modo abundare, sed etiam abuti otio apparet,
quum de,verbis texit verbosam disputationem, et grarnmatici larvam ad 35
tempus induit, ut persuadeat Calvino ab his vocibus non superstitiose
Gegen die Verleumdungen des P. Caroli (J 545) 247
grund aber war der, diesem wütenden Menschen den Ruhm zu entrei-
ßen, welchen er selbst für sich zu erwarten hoffte. Es war nämlich, wie
gesagt, seine Absicht, die ganze Lehre der frommen Männer in Ver-
dacht zu bringen, um deren Autorität in irgendeiner Weise zu untergra-
ben. Das tat er nämlich nicht unbemerkt. In der Versammlung hatte er
ja häufig genug im Vorfeld des Streitgespräches so mit Viret geredet:
»Dann erst wird dein Glaube mir nicht mehr verdächtig sein, wenn du
die drei Symbole unterschrieben hast.« Womit er natürlich zu verste-
hen gab, daß er ihn hinsichtlich der vorangehenden Zeit verdächtig
10 machen wollte. Damit diese aber niemandem zweifelhaft sei, hatten sie
ein klares Zeugnis abgegeben, indem sie das Helvetische Bekenntnis
ohne Verzögerung und Widerrede vor Caroli selbst anerkannten. Des-
sen fünftes Kapitel lautet: »Von Gott denken wir so: Ein Wesen, drei
Personen ... «43 Ich berichte nur, was in den öffentlichen Akten des
15 Berner Rathauses steht. Und nur wenige Zeit später bekannten sie vor
den Pfarrern der Berner Kirche näher, was sie im Innersten meinten in
der folgenden, wörtlich so von ihnen abgefaßten Form: 44
»Weil wir sehen, daß die Wörter >Trinität< und >Personen< der Kirche
Christi sehr viel nützen, weil mit ihnen die wahre Unterscheidung des
20 Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes deutlicher ausgedrückt
und den Streitsüchtigen besser begegnet werden kann, sollt ihr wissen,
daß wir vor ihnen keineswegs zurückschrecken, sondern sie vielmehr
gern annehmen, sei es, daß wir sie bei anderen hören oder auch selbst
verwenden. Daher werden wir uns auch weiterhin, wie bisher, darum
25 bemühen, daß wir sie, soweit es erlaubt ist, annehmen, so daß ihr
Gebrauch in der Kirche nicht abgeschafft wird. Wir werden uns ihrer
nämlich weder in unseren Schriften, noch in den Schriftauslegungen,
noch in den Reden zum Volk enthalten und zugleich andere lehren, sie
nicht abergläubisch zu meiden. Wenn jemand aber gewisse falsche
30 Bedenken hegt, so daß er nicht wagt, sie freimütig zu gebrauchen, so
bezeugen wir, daß wir diesen Aberglauben nicht gutheißen können,
und danach streben werden, ihn zu korrigieren. Weil dies uns dennoch
kein himeichender Grund dafür zu sein scheint, einen sonst frommen
und hinsichtlich der Verehrung Gottes mit uns übereinstimmenden
35 Menschen zurückzuweisen, werden wir aber seine diesbezügliche Un-
wissenheit insofern erdulden, als wir ihn nicht aus der Kirche aus-
schließen, oder als einen bezeichnen, der schlecht über den Glauben
denkt.«
Dieses sicherlich freiwillige Bekenntnis der frommen Männer befreit
40 sie völlig von den frechen Anschuldigungen des Caroli, so daß es
überflüßig wäre, diesen ausführlicher zu begegnen. Allerdings kommt
hier nicht nur der Gebrauch, sondern auch der Mißbrauch seiner wis-
senschaftlichen Betätigung zum Vorschein, wenn er eine weitschweifi-
ge Abhandlung über Worte abfaßt und sich zeitweise als Grammatiker
45 gebärdet, um Calvin davon zu überzeugen, daß man sich vor diesen
43 Confessio Helvetica prior (1536); Calvin zitiert den Beginn von Artikel 6.
44 Ebenfalls: CO 9,707f.
248 Adversus P. Caroli calumnias
cavendum, quum probe sciret Calvinum libere illis uti et semper usum
esse, quum ipse coram vidisset ab eo et collegis confessionem Helveti-
cam approbari. Sed est in eo scilicet diligens ut primis ultima responde-
ant, hoc est, ne unquam ridiculo more ineptire desinat.
Alia est calumnia quod in confessione Samosateni impium errorem
investigat. Samosatenus autem astute ludebat in verbi appellatione,
vocale intelligens verbum aut decretum Dei de humano genere redimen-
do. ludicent autem, me tacente, lectores, num huic errori suffragetur
320 confessio, quae nominatim patrem et filium et spiri- I tum, tres in una
Dei essentia hypostases atque subsistentias esse asserit, quae Christi et 10
spiritus divinitatem tot luculentis elogiis praedicat; rursum, quae de
personali distinctione sic disserit, ut nihil amplius a sano homine deside-
rari queat. At Carolum male habet quod non tribuerint Farellus, Viretus
et Calvinus naturam subsistentern verbo et spiritui. Quasi vero non hoc
quoque disertis verbis in confessione sit expressum, ubi habetur, Chri- 15
stum duabus constare naturis, quia verbum sit ex patre ante saecula
genitum et humanam naturam homo factus induerit; item verbi appella-
tione non intelligendam fluxam et evanidam vocem, cuiusmodi et oracula
et prophetiae fuerunt, sed perpetuam sapientiam apud Deum residen-
tem, unde et oracula et prophetiae omnes prodierunt. Hic quum Carolus 20
minime haberet ubi infigeret dentem, irritam tamen mordendi cupidita-
tem prodere maluit, quam tacitus hunc locum praeterire. At operae
pretium est audire quo tandem vinculo pios et orthodoxos viros cum
scelesto haeretico copulaverit. Arium, inquit, et Macedonium aperte
damnant, Samosateni nullam faciunt mentionem; eius nomini dum 25
parcunt, an non oblique eum approbant? 0 frigidum calumniatorem et
ieiunum. An illic haereticorum omnium catalogum recensent qui unquam
fuerunt? Cerinthum omittunt et Ebionem et Eutychem et Eunomium et
Photinum et alios complures, quibus nihilo plus favent quam Ario. Ne
Carolus quidem ipse cum effraeni sua impudentia aliter dicere audebit. 30
Quorsum ergo attinebat propter suppressum hominis nomen istas lites
movere, quum res probe et solide explicata foret?
Alia calumnia est quod negat distinctionem patris a filio, et rursum filii
a spiritu in confessione satis clare tradi. Qua in re magis etiamnum
quanta rabie feratur ostendit. Nam quum in confessione palam damnetur 35
Gegen die Verleumdungen des P. Caroli (1545) 249
Eine andere falsche Anklage ist diese: dadurch, daß die Verfasser des
25 Bekenntnisses sagen, der Vater und der Sohn und der Geist seien ein
Gott, fürchtet er, sie würden in der Gottheit eine einzige Person anneh-
men. Woher aber diese Befürchtung? Gewiß nicht aus der Formulie-
rung. Wer von den Orthodoxen hat denn nicht so gesprochen? Als
Grund gibt er an, daß sie hartnäckig die Namen »Trinität« und »Perso-
30 nen« meiden. Konnte aber nicht die Tatsache, daß sie vorher versichert
hatten, in Gott seien drei verschiedene Hypostasen oder Seinsweisen,
zur Zerstreuung dieses Verdachts genügen? Wenn er über Wörter strei-
ten will, so drückt »Hypostase« in der Tat besser das aus, was Caroli
will, als »Person«. Außerdem fügt er hinzu, sie würden leugnen, daß
35 Christus aus dem Wesen des Vaters geboren sei. Dabei sagt das Be-
kenntnis auch dieses klar, daß der Sohn aus dem Vater geboren ist vor
der Zeit, und nicht aus einem anderen, sondern aus demselben Wesen
ist. Was bezweckt er mit diesem Wüten, daß er in einer so klaren und
deutlichen Angelegenheit noch irgendeine Befürchtung oder irgendei-
40 nen Verdacht zu haben vorgibt? Und hierauf, kaum zu glauben, ergreift
46 Calvin benutzt hier ein Beispiel fiir einen Syllogismus aus der Rhetorik
Quinitilians (Inst. Orat. 7.8.6.).
47 Damit kann der Theologe Lucian von Antiochien (ca. 240-312), Gründer der
antiochenischen Schule und Lehrer des Arius gemeint sein, oder aber der
heidnische, die Christen verachtende Rhetor und Satiriker Lucian von Samosata
(ca. 120-180).
252 Adversus P. Caroli calumnias
mit Recht auf den Sohn zutrifft. Ja im zehnten Buch der >Schätze< zieht
er sogar die Schlußfolgerung, daß der Vater von sich selbst nichts hat,
was nicht der Sohn auch von sich selbst hat.«52 Diese Darlegung ist zwar
kurz und schlicht, aber eine noch deutlichere wird niemand mit beson-
nenem Geist und gesundem Menschenverstand fordern. Wenn also alle
aufrichtig und wie gebildete Menschen urteilen würden, würde ich
kein Wort mehr beifugen. Da es aber einige unbequeme und ungebil-
dete Männer gibt, die sich nie zufrieden geben, was tust du mit deren
Eigensinn oder vielmehr Unfreundlichkeit? Weil Calvin dennoch, als
10 er hörte, daß er an dieser Stelle von einigen wenigen Nacheiferern des
Caroli immer noch angegriffen wurde, eine Rechtfertigung verfaßte,
welche Freund und Feind zufriedenstellen oder wenigstens den Mund
stopfen sollte, so wird es nicht überflüssig sein, daraus auch etwas
anzufuhren, das zum derzeitigen Unternehmen paßt. »Was das be-
15 trifft«, sagt er, »daß sie gleichsam mit göttlichem Verdikt diejenigen
Häretiker nennen, die sagen, Christus, sofern er Gott ist, sei von sich
selbst, ist die Antwort leicht. Ich behaupte nämlich, daß beides wahr
ist, sowohl daß Christus vom Vater ist, wie er ja die zweite Person ist,
als auch daß er von sich selbst ist, insofern wir nämlich nur sein
20 göttliches Wesen betrachten. Denn wie von den rechtgläubigen Kir-
chenvätern immer angenommen worden ist und auch aufgrund der
Schriften zutreffend gesagt werden kann, daß Christus vom Vater ist,
ebenso stimme ich dem zu, was die Schrift überall von seinem Wesen
aussagt und dieselben heiligen Schriftsteller ebenfalls bekennen. Und
25 dies ist, was nach Angabe des Hilarius die östlichen Bischöfe definiert
haben: >Wenn jemand die zeitlose Hypostase des Sohnes vom Vater
auf das Wesen Gottes bezieht, das nicht gezeugt werden kann, und
sozusagen den Sohn Vater nennt, sei er verurteilt.<53 Dasselbe sagt
auch Augustin: >Die Benennungen, welche die Beschaffenheit oder die
30 Macht, oder das Wesen Gottes bezeichnen, oder alles, was von Gott an
und fur sich gesagt werden kann, treffen auf alle Personen gleicherma-
ßen zu. Es gibt also keine Bezeichnung fur die göttliche Natur, die auf
den Vater zutreffen würde, auf den Sohn und den Geist aber nicht.(54
Dasselbe steht auch im funften Buch >Von der Trinitätc >Das müssen
35 wir besonders beachten: alles, was von Gott an und fur sich gesagt
wird, wird hinsichtlich des Wesens gesagt, was bezüglich eines ande-
ren, nicht hinsichtlich des Wesens, sondern der Relation; so groß ist
die Kraft desselben Wesens im Vater, im Sohn und ihm Heiligen Geist,
daß alles, was von den Einzelnen an und fur sich gesagt wird, nicht
40 mehrfach, sondern einfach zu verstehen ist.(55 Aber warum rede ich, als
ob die Sache unklar wäre? Cyrill argumentiert, daß Christus sterblich
und vergänglich wäre, wenn er das Leben und die Unsterblichkeit nicht
von sich selbst hätte. 56 Dennoch will ich es noch deutlicher sagen. Der
52 PG 75,119-139, bes. 138f.
53 PL 10,499.
54 PL 101,21.
55 PL 42,916ff.
56 PG 75,823.
256 Adversus P. Caroli calumnias
pater et filius sint simul principium, hac solutione utitur, quod hoc solo
numerum insinuant, quatenus sunt ad invicem, non autem quod ad se
sunt. Item in Psal. 109: Si pater principium est, inquit, et filius princi-
pium, suntne duo principia? Minime. Sicut enim pater est Deus, ita et
filius Deus; itaque uterque est principium. Et, Homil. 38. de Columba
et spiritu, copiose tractat quantum intersit relative aut substantialiter de
Deo loqui.
Nunc ad Carolum redeo. Fingit Calvinum in synodo Bemensi in eas
angustias redactum esse, ut misere sudaret nec se posset extricare;
quasi haec solutio, qua tune quoque usus est Calvinus, adeo sit perplexa 10
vel intricata. Sed iterum admonendi sunt lectores quarn vel obliviosus
sit, vel non compos mentis, qui Calvino in memoriarn reducit synodum
Bemensem, quum synodo Lausarmensi se interesse fingat, quae tempore
praecessit. Vt tarnen hoc illi condonem, quod difficile sit tarn multa
325 Imendacia contexere, quin repugnantia interdum appareat, argumenta 15
eius qualia sint expendarnus. Christus, inquit, genitus est a patre, ergo
non est a se ipso. Item: Christus est filius Dei, ergo ab eo est qui eum
genuit: Pater autem alius est ab eo, ergo habet esse ab alio. Concludit
esse blasphemiarn, quum dicitur Christum esse ase ipso. Atqui, armon
videt se aerem verberare, quum non aliud tandem colligere possit, 20
quarn personae non convenire quod Calvinus recte de essentia praedica-
vit? Quod si contradictionem quaerit in verbis Calvini, quaerat eandem
in Augustino et Cyrillo et aliis, quibus tantum se deferre simulat.
Verum operae pretium est notare argutarn obiectionem qua Calvinum
constringit. Praefaris, inquit, te dicturum de iis quae ad Christum peculia- 25
riter attinent; ergo proprietatem hanc esse affirmas secundae personae.
Quid hoc sophismate putidius? Narn quod illic Christus nominatur
Iehova, an hoc illi proprium est? ac non potius cum patre et spiritu
sancto commune? Multa, inquarn, illic habentur ex aequo tribus personis
communia. Carolus autem particularn unarn arripit ex qua frigidarn 30
cavillationem struat. Quorsum ergo, dicet quispiarn, spectant haec
Calvini verba? Nempe ad incamationem, de qua illic disserit. Hoc
enim proprium est filii Dei, quod camem nostrarn induit, ut deus esset
ac homo, unitis, non confusis naturis.
Gegen die Verleumdungen des P. Caroli (1545) 259
der Ursprung sind, sich dieser Lösung bedient, daß die Mehrzahl nur
dort vorkommt, wo es um die gegenseitige Beziehung geht, nicht aber
wo sie in sich selbst betrachtet werden. 59 Dasselbe zu Ps 109: >Wenn
der Vater der Ursprung ist<, sagt er, >und der Sohn der Ursprung, gibt
es dann etwa zwei Ursprünge? Keineswegs. Gleich wie nämlich der
Vater Gott ist, so ist auch der Sohn Gott. Daher sind beide gemeinsam
Ursprung. <60 Und in der Homilie 38, von der Taube und dem Geist,
behandelt der ausführlich den Unterschied zwischen einem Reden von
Gott hinsichtlich der Relation und hinsichtlich des Wesens. 61 «
10 Nun komme ich auf Caroli zurück. Er erdichtt<t, daß Calvin in der
Synode von Bem derart in die Enge getrieben worden sei, daß er sich
erbärmlich abmühte und sich doch nicht befreien konnte. Als ob diese
Lösung, welcher Calvin sich auch damals bediente, derart verworren
und verwickelt wäre. Wiederum aber seien die Leser daran erinnert,
15 wie vergeßlich oder nicht bei Sinnen er ist, wenn er Calvin die Bemer
Synode in Erinnerung ruft, während er sagt, an der Lausanner Synode
zu sein, welche doch früher stattfand. Wenn ich ihm dies auch vergebe,
weil es schwierig ist, so viele Lügen miteinander zu verbinden, ohne
daß manchmal ein Widerspruch auftritt, so wollen wir doch seine
20 Argumente prüfen. »Christus«, sagt er, »ist vom Vater gezeugt, also ist
er nicht von sich selbst.« Ebenso: »Christus ist der Sohn Gottes, also
ist er von dem, der ihn gezeugt hat; der Vater aber ist von ihm ver-
schieden, also hat er sein Sein von einem anderen.« Er folgert, daß es
blasphemisch wäre, zu sagen, Christus sei von sich selbst. Sieht er aber
25 nicht, daß er ins Leere trifft, wenn schließlich nichts anderes daraus
folgt, als daß dies, was Calvin richtigerweise vom Wesen ausgesagt
hat, nicht auf die Person zutrifft? Wenn er also einen Widerspruch in
den Worten Calvins sucht, dann soll er ihn ebenso bei Augustin und
Cyrill und den anderen suchen, deren Sache er doch zu fuhren vorgibt.
30 Doch es ist der Mühe wert, den geistreichen Einwand, mit welchem er
Calvin bedrängt, festzuhalten: »Du hast vorausgeschickt«, sagt er, »daß
du von dem sprechen wirst, was im besonderen Christus betrifft. Folg-
lich behauptest du, daß dies die Eigentümlichkeit der zweiten Person
sei.« Was ist gekünstelter als dieser Trugschluß? Wenn dort nämlich
35 Christus »Jehova« genannt wird, ist dies etwa seine Besonderheit?
Oder hat er dies nicht vielmehr mit dem Vater und dem Heiligen Geist
gemeinsam? Vieles, sage ich, ist dort enthalten, was den drei Personen
gleichermaßen gemeinsam ist. Caroli aber reißt ein kleines Teilchen
heraus und konstruiert daraus eine frostige Wortklauberei. Worauf also,
40 wird jemand sagen, zielen diese Worte Calvins? Natürlich auf die
Inkarnation, von welcher er dort spricht! Dies nämlich ist dem Sohn
Gottes eigentümlich, daß er unser Fleisch angenommen hat, um Gott
und Mensch zu sein, durch die Vereinigung, nicht aber Vermischung
der Naturen.
45
59 PL 35,1682f.
60 PL 37,1457.
61 Gemeint ist sicher die Schrift von Anm. 54, besonders PL 101,14-24.
260 Adversus P. Caroli calumnias
ANFÄNGE
1533 - 1541
LU
-z~
Auf diese Weise erhalten die Leserinnen und Leser ein sehr
genaues, facettenreiches Bild der Lebensgeschichte des
jungen Calvin und zugleich einen Einblick in die Probleme
der gegenwärtigen Forschung.
«\..J Die in diesem Band enthaltenen Sendschreiben an zwei
prominente Vertreter des damaligen Reformkatholizismus,
vor allem aber der Brief an Kardinal Sadolet, begründen die
definitive Trennung von Rom und formulieren die klassi-
sche Antwort auf die Frage: Warum mußte die Reformation
sein? Der Band führt bis zum ersten Abendmahlstraktat, in
dem der Streit um die Messe, der Kardinalspunkt aller
Auseinandersetzungen, verhandelt wird.
neukirchener
CALVIN-STUDIENAUSGABE
Herausgegeben von
Eberhard Busch, Alasdair Heron, Christian Link,
Peter Opitz, Ernst Saxer,
Hans Scholl
CALVIN-STUDIENAUSGABE
Band 1
Reformatorische Anfänge (1533-1541)
Teilband 1/2
Neukirchener
© 1994
Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH
Neukirchen-Vluyn
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Hartmut Namislow
Satz und Druckvorlage: Gottfried W. Locher
Gesamtherstellung: Breklumer Druck~rei Manfred Siegel KG
Printed in Germany
ISBN 3-7887 -1484-0
CalviD, JeaD:
Calvin-Studienausgabe / hrsg. von Eberhard Busch ... -
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener
NE: Busch, Eberhard [Hrsg.]; Calvin, Jean: [Sammlung]
Vorwort
Mit den beiden Sendschreiben »über Dinge, die diesem Zeitalter höchst
notwendig zur Kenntnis zu bringen sind« - ihnen ist als Motto das
Elia-Wort vorangestellt: »Wie lange wollt ihr auf beiden Seiten hin-
ken?« (1 Kön 18,21) - eröffnet Calvin die Reihe seiner flammenden
Streitschriften, die nur ein Ziel haben: Sie wollen angesichts der
zögernden Haltung, in der die gebildeten Kreise Frankreichs der refor-
matorischen Bewegung gegenüberstehen, die Fronten klären und so
den Bruch mit Gottesdienst und Kult der römischen Kirche definitiv
vollziehen. Noch in der letzten Ausgabe der Institutio erinnert Calvin
an diese »besonderen Schriften« (peculiaria scripta; lIL 19,13),1 in
denen er den Grundsatz, daß die Freiheit der Liebe, also die Rücksicht
auf die noch schwankenden Brüder, sich an der Reinheit des Glaubens
begrenzen müsse, zur Genüge dargestellt habe. Anlaß hierzu hatte die
von seinem Freund Nicolas du Chemin ihm gestellte Frage gegeben,
ob es erlaubt sei, sich trotz evangelischer Gesinnung in der äußeren
Lebensführung den römischen Zeremonien anzupassen. Der Sache nach
also geht es um das im Reformationszeitalter in ungewohnter Schärfe
neu aufgebrochene Problem der Adiaphora: In welchen Dingen sind
wir frei, nach eigenem Ermessen zu handeln? Wo sind wir durch unser
Gewissen gebunden? Dieses Problem spitzt sich auf die Frage der
Teilnahme an der Messe (Ep. 1) und - folgerichtig - auf die Frage der
Übernahme von A"mtern (Ep. 11) in der römischen Kirche zu. Vergegen-
wärtigt man sich die Situation des französischen Protestantismus nach
der sogenannten Plakataffäre 2, dann ahnt man, welchen Preis Calvin
seinen Adressaten mit einer klaren Entscheidung abverlangt.
Wer sind die Adressaten? Es sind über die ersten Empfänger (Nicolas
du Chemin und Gerard Roussel) hinaus diejenigen Gruppen, die bei
aller Aufgeschlossenheit gegenüber den Reformideen weiterhin an der
alten Kirche meinen festhalten zu können, den offenen Bruch mit ihr
jedenfalls tunlichst vermeiden. Sie äußern ihre Skepsis gegenüber der
Dazu gehören neben den »Epistolae Duae« die Traktate: »Que doit faire un
homme fidele congnoissant la verite de l'evangile: quand il est entre les papistes«
(1534; CO 6,537ff.); »Excuse de Iehan Calvin a Messieurs les Nicodemites«
(1544; ebd., 589fff.); »De vitandis superstitonibus libellus« (1549; ebd. 617ff.);
»De scandalis libellus« (1550; CO 2, 162ff.) und »Quatre sermons« (1552; CO
8,369ff.).
2 Vgl. hierzu die »Einleitung« zum Widmungsschreiben der Institutio (1536), in
diesem Band S. 59ff, sowie K. MÜLLER, Kirchengeschichte, Bd. 11, 1, Tübin-
gen 1911 (1922), 489ff.
264 Zwei Sendschreiben (Epistolae Duae) (1537) - Einleitung
3 Vgl. den Brief G. Roussels an G. Farel vom 6.7.1524, in: HERMlNJARD, 1,234;
sowie A. AUTlN, La crise du nicodemisme, Toulon 1917, 23ff.
4 Excuse, CO 6,589-614 (= Anm. 1); dazu: E. DROZ, Calvin et les Nicodemites,
in: Chemins de I'Heresie. Textes et Documents, I, Geneve 1970, 13lff.; sowie
H. SCHOLL, Reformation und Politik, Stuttgart 1976, 70ff.
5 Brief Calvins an Renee de France, CO 11, (323-331) 327. Zur umstrittenen
Datierungsfrage: 1.U. HWANG, Der junge Calvin und seine Psychopannychia,
Frankfurt u.a. 1991, 136f.
6 H. SCHOLL, a.a.O., 75f.
7 Gallasius (Ed), Opuscula in unum volumen collecta, Genf 1552, vgl. CO V,XI.
8 N. COLLADON, Vie de Calvin (1564), CO 21,(51-118)58; TH. BEZA, Joh. Calvini
Vita (Genf 1575), CO 21,(119-172)125. Dazu: J.U. HWANG, a.a.O., 133ff.
Zwei Sendschreiben (Epistolae Duae) (1537) - Einleitung 265
indessen, daß Calvin Gelegenheit gefunden habe, sich ihr auch nur
bekannt zu machen, geschweige denn, mit ihr über Fragen der Religi-
on zu sprechen. 9 Verläßliche Anhaltspunkte for eine Tätigkeit in Ferrara
haben wir nicht. Die Anekdote, wonach er fluchtartig den Hof von
Ferrara verlassen habe, nachdem am Karfreitag (14.4.1536) ein jun-
ger französischer Flüchtling auf spektakuläre Weise das Hochamt bei
der Verehrung des heiligen Kreuzes unterbrochen hatte, um nicht mit
ihm als Anhänger des neuen Glaubens entdeckt zu werden, spricht
jedenfalls dafür, daß er damals aus seinem Inkognito nicht her-
ausgetreten ist.!o So wissen wir - mit einiger Wahrscheinlichkeit -
kaum mehr, als daß er diesen Aufenthalt dazu benutzt hat, die beiden
Sendschreiben in Ruhe abzufassen.
Andererseits könnte kein zweiter Ort Anlaß und Ziel dieser Briefe
besser veranschaulichen. Gerade hier war die tragische Situation der
neuen evangelischen Bewegung, die allenfalls verborgen, im Schatten
einer einflußreichen Beschützerin ihre Blüten treiben konnte, mit Hän-
den zu greifen. Renata von Ferrara ist wie ihre um zehn Jahre ältere
Cousine, Königin Margarete von Navarra, als eine entschiedene För-
derin humanistischer Reformbemühungen bekannt geworden, die, was
für ihre heimatliche Pariser Umgebung nicht ungewöhnlich war, einen
kritischen Blick für die Mißstände der alten Kirche entwickelt hatte
und mehr oder weniger offen mit den »neuen« Lehren sympathisierte.
Selbst unter ihren unmittelbaren Bediensteten sollen sich einige »Lu-
theriens« befunden haben. Schon 1536 kannte man ihren Hof als einen
Zufluchtsort religiöser Flüchtlinge insbesondere aus Frankreich. Un-
ter deren Einfluß war sogar die Messe zeitweilig unterbunden und an
ihrer Stelle die evangelische Predigt eingeführt worden.]] Der Dichter
und Psalmenübersetzer Clement Marot, der sich offen in ihrer Umge-
bung bewegte, ist der prominenteste Vertreter dieser noch ganz undog-
matischen vorreformatorischen Generation.!2 Als Gemahlin des Her-
zogs Hercule d'Este (des Sohnes der Lucrezia Borgia) konnte sie in-
dessen nicht verhindern, daß auch dieser Kreis in die politischen Span-
nungen hineingeriet, in denen sich Ferrara in dem doppelten Konflikt
zwischen Habsburg und Valois einerseits, zwischen Reformation und
9 l.U. HWANG, a.a.O. 137.; E. DROZ, a.a.O. (=Anm. 4), 133.167f., hält es ftir
wahrscheinlich, daß Calvin - von Simon Grynäus inspiriert - diese Reise
lediglich als Begleiter von loh. Sinapius angetreten habe, der seinerzeit Arzt
der Herzogin und Erzieher von deren Tochter Anne war und sich, um seine
medizinischen Studien bei dem berühmten Giovanni Manardi fortzusetzen, auf
dem Rückweg von Tübingen nach Ferrara befand.
10 Die Anekdote wird von E. DOUMERGUE, lean Calvin, Bd. II: Les premiers
essais, Lausanne 1902, 52, berichtet. Sinapius gibt in einem späteren Brief an
Calvin (1.9.1539; CO 10/2,363) zu erkennen, er habe in Ferrara überhaupt
nicht gewußt, daß sein Gegenüber der Verfasser der Institutio gewesen sei.
11 1. PANNIER, Renee de France (Etudes Theologiques et Religieuses), Montpellier
1929, 135ff.; CH. lENKINS BLAISDELL, Renee de France between Reform and
Counter-Reform, in: ARG 63 (1972) 196-226, bes. 203ff.
12 G. BERTONI, Clement Marot a Ferrare. Documents nouveaux, in: Revue des
etudes italiennes I, 1936, 188-193; M.A. SCREECH, Marot evangelique, Geneva
(Droz) 1967.
266 Zwei Sendschreiben (Epistolae Duae) (1537) -Einleitung
2. Die Adressaten
Druck dieser »Antapologia« (1531) besorgt und ihr ein Vorwort bei-
gegeben, das zugleich die erste seiner uns bekannten Veröffentlichun-
gen ist. 18 Der bei Herminjard (Bd II) dokumentierte Briefwechsel zeigt
die Verbundenheit mit diesem »einzigartigen Freund«. Das letzte Schrei-
ben, in dem du Chemin ihm mitteilt, er sei im Begriff die Stellung eines
Offizials des Bischofs von Le Mans anzutreten, erreichte Calvin vor
seiner Abreise von Basel. 19 Die Antwort, die dem Freund durch einen
Kurier von Ferrara überbracht wurde, wird ihn bewogen haben, die
Korrespondenz abzubrechen, um sich in der neuen Stellung nicht durch
Verbindungen zu den »Lutheriens« zu kompromittieren.
Gerard Roussel (Ruffus) gilt der offiziellen Kirchengeschichtsschreibung
als Vorläufer der Reformation in Frankreich. 20 Aus der Gegend von
Amiens gebürtig kam er 1520 nach Paris und wurde hier - wie übri-
gens auch Guillaume Farel - einer der treuesten Mitarbeiter und
Gesinnungsgenossen Lefovre d'Etaples. Von der Verfolgung durch die
Sorbonne bedroht, begab er sich mit seinem Lehrer nach Meaux, wo
ihm G. Bri~onnet, ebenfalls ein Schüler Lefovres, eine Pfarrstelle und
später ein Kanonikat verschaffte. 1525 - die Inquisition hatte den
Kreis von Meaux gesprengt und die französischen Bibelübersetzungen
und -erklärungen Lefovres verboten - begab er sich erneut auf die
Flucht nach Straßburg, konnte aber bereits 1526 als Prediger an den
Pariser Hof der Königin von Navarra zurückkehren. In diese Zeit
dürfte die Bekanntschaft mit Calvin fallen, der sich seit März 1531 zu
Studien am College Royal aufhielt. 21 Calvin hat Roussel 1534 - nun
selber auf der Flucht nach Basel - von Angouleme aus wahrscheinlich
noch einmal besucht, jetzt bereits in Nerac, der kleinen Residenz Marga-
retes von Navarra. 22 Am 4. Februar 1536 wurde Roussel zum Bischof
von Oloron (Basses-Pyrenees) ernannt, eine Nachricht, die Calvin in
Ferrara erreicht haben könnte. Im Schutz der Königin führte er in
Liturgie und Kirchenordnung reformatorische Neuerungen ein, ohne
jedoch den Bruch mit Rom zu vollziehen.
18 Die Schrift ist eine Entgegnung auf die »Defensio« von Aurelius Albucius,
eines Freundes von Alciat, zit. bei HERMINJARD, II,315, Anm. 2. GANOCZY,47,
bemerkt zu Recht, daß Calvin diese Verteidigung kaum zu seiner Sache ge-
macht hätte, wäre er damals schon ein »engagierter« Verfechter der reformato-
rischen Bewegung gewesen.
19 Vgl. E. DROZ, a.a.O., 134.
20 CH. SCHMIDT, Gerard Roussel, predicateur de la reine Marguerite de Navarre,
Paris 1845; R.J. LOVY, Les origines de la reforme fran~aise, Paris 1959.
21 J. PANNIER, Recherches sur l'evolution religieuse de Calvin jusqu'a son
conversion, Cahier de la RHPhR 8 (1924), 27; GANOCZY, 55f.
22 E. STÄHELIN, 34.
268 Zwei Sendschreiben (Epistolae Duae) (1537) - Einleitung
»Briefe« stecken sozusagen das Gelände ab, auf dem die spätere Kon-
troverse ausgetragen wird Hier geht es um die Frage des Bekennens,
in der sich - das ist der eigentlich neue Akzent - dogmatische
Sachaussage und persönliche Lebensführung, also Wahrheit und
Existenzform, zu einer unlösbaren Einheit verbinden. Denn das Be-
kenntnis zielt auf Gestalt und Verfassung der sichtbaren Kirche. Es
fordert - ohne jede Rückzugsmöglichkeit in einen unsichtbaren Innen-
raum privater Überzeugungen - den offenen Bruch mit Verhältnissen,
Bräuchen und Haltungen, in denen der Name Christi »vor aller Augen«,
wie Calvin immer wieder betont, verleugnet wird Hier steht die Integri-
tät des Christen auf dem Spiel. Denn »was ist das für ein Glaube,
welcher im Innern der Seele begraben bleibt und sich nicht durch ein
offenes Bekennen hervortut? «28 Angewandt auf die Situation des franzö-
sischen Protestantismus: Wird durch politischen Druck das freie
Bekenntnis zu dem in der Schrift verkündigten Christus zum Schweigen
gebracht oder eingeengt, dann sind Fragen, die unter anderen Um-
ständen zu den »Mitteldingen« (Adiaphora) gehören können, nicht
länger beliebig entscheidbar. Bekenntnis und Ordnung der Kirche rük-
ken in einer solchen Situation unmittelbar zusammen. In dieser
Erkenntnis, für die man wenig später den Begriff des casus bzw. status
confessionis geprägt hat29, liegt die im Wortsinn bahnbrechende, näm-
lich den Weg der Reformation zu einer neuen und dauerhaften Gestalt
führende Bedeutung der beiden Sendschreiben.
4. Die Editionen
28 Brief Calvins an Luther vom Januar 1545 (CO 12,7), den Melanchthon aller-
dings aus uns unbekannten Gründen Luther vorenthalten hat.
29 »In casu confessionis nihil est adiaphoron.« Zum Problem: U. MÖLLER, Das
Problem des status confessionis in Reformation und Gegenwart, in: Ref. Kirchen-
zeitung 124 (1983), 122ff., sowie: W. HUBER, Folgen christlicher Freiheit,
Neukirchen 1983, 256f.
270 Zwei Sendschreiben (Epistolae Duae) (1537) - Einleitung
Christian Link
Übersetzungen
Literatur
30 Die Überschriften der Briefe lauten: »Comment il faut eviter et fuir les ceremo-
nies et superstitions papales, et de la pure observation de la religion chretienne«,
und: »Quel est l'office de l'homme chretien en administrant ou en rejetant les
benefices de I'Eglise papale«.
31 Bei dem von E. DROZ, a.a.O. 139, facsimile abgebildeten Titelblatt mag es sich
um den von Leo lud erwähnten Basler Druck handeln: »Ein bericht uß goetlicher
gschrifftl wie sich ein Christ I der in der Baepstischen Kilchen ein ampt oder
pfruend hatt I halten solle I ob ers verwalten oder uffgeben soelle.«
Zwei Sendschreiben (Epistolae Duae) (1537) - Einleitung 271
Die folgenden Übersetzungen (Ep. I: ehr. Link; Ep. 11: J Lenz) halten
sich an den lateinischen Text von 1537 in der Fassung der OS I Die in
<> gesetzte Gliederung stammt von den Bearbeitern.
Ioannis Calvini Sacrarum Literarum in Ecclesia Genevensi Professoris
EPISTOLAE DUAE
1 Regum 18.
Usquequo claudicatis in duas cogitationes? Si Dominus est Deus, 10
sequimini eum: si autem Baal, sequimini illum.
BASILEAE M. D. XXXVII.
Johannes Calvin, Professor der heiligen Schrift in der Gemeinde zu Genf
Zwei Briefe
1. Daß man gottlose Bräuche und Riten als unstatthaft meiden und den
christlichen Glauben unverfalscht bewahren soll.
I Könige 18
10 Wie lange wollt ihr aufbeiden Seiten hinken? Wenn der Herr Gott
ist, so haltet euch zu ihm: ist' s aber Baal, so haltet euch zu jenem.
Basel 1537
274 Epistolae Duae
Etsi iam eum fructum apud pios aliquot viros Epistolae istae nostrae
ediderunt, qui spem aliquanto maiorem mihi in posterum faciat: quoniam
tamen et familiares quosdam meos, et alios non paucos, a quibus
lectae fuerunt, etiamsi mihi verbotenus assentiantur, non tamen magno-
pere hinc commoveri audio, quod duram asperamque nimium conditio-
nem a me sibi causentur imponi: non minimum visus sum mihi operae
pretium facturus, si paucis hic probos omnes obtestarer, ac per tremen-
dum illud Dei nomen obsecrarem, ne quas e Dei verbo sumptas exhorta-
tiones hic habent, perinde accipiant, ac si fabula sibi apoeta, aut a 10
rhetore aliquo declamatio recitetur, quam plausu blandisque acclamatio-
nibus satis sit accepisse: verum et vitae doctrinam tradi sibi meminerint,
quae non aliter quam obtemperando rite approbetur: et eam ipsam
doctrinam Dei verbum esse cogitent, quod impune ludibrio habituri
non sint. Quam sententiam quia pluribus in praesentia verbis persequi 15
non licet, uno Iezechielis prophetae vaticinio summatim complectar.
Insignis est locus (33, 31 ss.) qui et in Iudaeorum exemplo quandam
infelicis huius saeculi effigiem repraesentet, et terribili divini iudicii
exspectatione merito nos percellere debeat. Turmatirn (dicebat prophetae
Dominus) ad te veniunt, coram te sedent, verbaque tua audiunt, sed ea 20
non exsequuntur. Ludibrium enim in ipsorum ore, et cor eorum in
avaritiam inclinatum. Et factus es illis non secus ac ludicra cantio
sonorae dulcedinis, quandoquidem verbis tuis intentas habent aures,
quae exsequi non curant. Sed quum tempus venerit (quod certe iam
instat) cognoscent apud se nüsse prophetam. Vale. 25
Diese beiden Briefe haben unter gutwilligen Leuten schon einige Frucht
getragen, die mir für die Zukunft noch bedeutend größere Hoffnung
macht. Doch höre ich auch, daß einige meiner Freunde und manche
anderen, die sie gelesen haben, von alledem nicht sonderlich bewegt
werden, obwohl sie mir Wort für Wort zustimmen. Sie führen zu ihrer
Entschuldigung an, daß ich ihnen allzu strenge und harte Bedingungen
auferlege. Daher scheint es mir allemal der Mühe wert zu sein, wenn
ich mit kurzen Worten alle Menschen guten Willens bitte und bei dem
10 ehrfurchtgebietenden Namen Gottes beschwöre, die Ermahnungen, die
sie hier vor sich haben - sie stammen aus Gottes eigenem Wort - nur ja
nicht wie eine Fabel aufzunehmen, die ihnen ein Poet, oder wie ein
Probestück, das ihnen irgendein Redner vortragen kann. Solche Dinge
mag man mit Beifall und höflichen Zurufen gebührend anerkennen.
15 Hier dagegen wird ihnen - das sollen sie sich ins Gedächtnis rufen-
eine Lehre in die Hände gelegt, die ihr eigenes Leben betrifft und die
sich darum überhaupt nur anerkennen läßt, indem man ihr folgt. Über-
dies handelt es sich dabei - auch das will bedacht sein - um Gottes
Wort, mit dem niemand ungestraft seinen Spott treibt. Doch weil es im
20 Augenblick nicht nötig ist, dies wortreich darzulegen, will ich die
Summe mit einem Spruch des Propheten Ezechiel zusammenfassen.
Die Stelle (Ez 33,31ff.) zeichnet sich dadurch aus, daß sie uns am
Beispiel der Juden ein Bild unseres unglücklichen Zeitalters vor Augen
stellt. Man kann sie angesichts der schrecklichen Erwartung des göttli-
25 chen Gerichts nur mit Erschütterung lesen: »Sie kommen zu dir«,
spricht der Herr zum Propheten, »wie eben Volk zusammenläuft, set-
zen sich vor dich hin und hören deinen Worten zu; aber sie tun nicht
danach. Denn in ihrem Mund sind Lügen, und ihr Herz ist hinter dem
Gewinn her. Du bist ihnen wie ein Sänger der Liebe mit schöner
30 Stimme; sie hören wohl deine Worte mit offenen Ohren, aber sie
tragen nicht Sorge, danach zu tun. Wenn dann aber die Zeit kommt-
und wahrlich, sie kommt -, dann werden sie erkennen, daß ein Prophet
unter ihnen gewesen ist.« Lebe wohl!
tibi exponarn, eoque magis, quod quum multos hodie, qui gustum Dei
aliquem perecepisse videri volunt, professioni suae [240] minime respon-
dere conspiciarn: hac tarnen in parte praesertim, plerosque, fere ornnes
290 la recta via decedere video. Neque valde sane impedita res est, consili-
um hac de re dare, si te in Dei disciplinarn totum tradideris, tuosque
affectus omnes eius verbo domandos permiseris. Sed nescio quomodo
bona pars nostrum improba temeritate adversus eius imperia inter-
dum exsultarnus, ac iis contemptis, aut certe omissis, ideoque et con-
temptis, earum rerum quas acerrime prohibebant, licentiarn, quoties 10
libet, nobis facimus. Atque id potissimum in praesenti negotio usu
venire solet.
( ... )
293 [243] Verum dum postulatis tuis privatim satisfacere instituo: quia
tarnen eius generis res est, de qua interrogas, in qua et periculose et 15
vulgo peccatur, non frustra, nec sine fructu aliquo facturum me existi-
mavi, si eadem simul opera compluribus me docendis accommodarem,
qui in eodem versantur errore: ut si qui forte eorum in hanc Epistolarn
inciderint (ego autem ornnes incidere non modo facile patiar, sed etiarn
vehementer cupiarn) sibi quoque scriptam putent: et siquidem auscultare 20
volent, habeant quarn sequantur officii sui admonitionem: sin minus,
testimonium saltem adversum se accipiant, quo convincantur, scientes,
prudentes, ac etiarn volentes in exitium suum perrexisse.
[244] Principio in id nos, velut defixis oculis semper intueri convenit,
quod discipulis suis omnibus proponit Christus, dum prima eos scho- 25
lae suae tirocinio initiat. Narn ubi a sui ipsorum abnegatione crucisque
tolerantia auspicari eos docuit, simul et hoc subiicit (Luc. 9,26): Qui
294 me et meos sermones erubuerit corarn hominibus, hunc filius ho- I mi-
nis erubescet, quum venerit in maiestate sua, et patris, et sanctorum
angelorum. Hoc ergo nobis a Christo Domino, quum in eius familiarn 30
Zwei Sendschreiben (1537) 279
mehr, als ich heute eine Menge Leute sehe, die in den Augen der
anderen auch zu denen gehören möchten, die von Gottes Reichtum
gekostet haben; aber die Antwort zum Bekennen, zu dem sie aufgeru-
fen sind, bleibt aus. Gerade an diesem Punkt sehe ich viele, ja nahezu
alle, vom rechten Weg abkommen. Dabei ist es wahrhaftig nicht zu
schwer, hier einen Rat zu geben, wenn du dich nur ganz Gottes Zucht
und Führung anvertraust und all deine Regungen von seinem Wort
bestimmen läßt. Eine stattliche Anzahl unserer Glaubensgenossen aber
erhebt sich unterdessen, ich weiß nicht wie, in maßloser Leichtfertig-
10 keit gegen seine Gebote, verachtet sie oder setzt sie zumindest beiseite
- und das heißt ja: sie verachten - und nimmt sich nach eigenem
Belieben die Freiheit heraus, Dinge zu tun, die sie schärfstens verbie-
ten. Dieser Brauch kommt gerade bei der vor uns liegenden Aufgabe
mehr und mehr in Übung. (... )
15 (..) Man nimmt mehr Rücksicht aufdie Gewogenheit der Menschen als
auf Gott. Zwar ist das unterschiedslose Abschaffen der Zeremonien
keine Lösung, wider besseres Wissen aber die falsche Religion beizu-
behalten, ist Täuschung. Das Beispiel Cyprians zeigt: In einer so wich-
tigen Sache ist kein Platz für menschliche Überlegungen. Man muß
20 allem entgegentreten, was vom Gehorsam gegenüber Gott wegführt.
(Das Bekenntnis)
Ich schicke mich an, deinen Bitten privat nachzukommen, und doch ist
die Sache, in der du Rat suchst, von allgemeinem Interesse. Hier wird
auf gefährliche Weise und noch dazu vor aller Welt gesündigt. So kann
25 es, glaube ich, nicht vergeblich und auch nicht ganz fruchtlos sein,
wenn ich meinen Dienst zugleich mehreren Menschen anbiete, die hier
Belehrung brauchen, weil sie in gleichem Irrtum befangen sind. Wenn
also einige von ihnen zufallig auf diesen Brief stoßen (das aber will ich
nicht nur gern dulden, sondern inständig wünschen), so sollen sie ihn
30 nur auch lesen, als wäre er an sie gerichtet. Hören sie auf ihn, dann
werden sie sich an den Weg erinnern lassen, auf den ihre Pflicht sie
weist; wenn nicht, dann haben sie jedenfalls ein Zeugnis in der Hand,
das gegen sie spricht, und müssen sich dadurch überführen lassen, daß
sie mit Wissen und Vorsatz, ja sogar mit eigenem Willen in ihren
35 Untergang hineinlaufen.
Deshalb müssen wir unsere Augen von Anfang an gleichsam unver-
wandt immer auf das richten, was Christus all seinen Jüngern vorhält,
wenn er sie erstmals als Rekruten in seine Schule aufnimmt. Denn als
er sie lehrte, mit der Selbstverleugnung den Anfang zu machen und
ihm sein Kreuz nachzutragen, gab er ihnen auch dies Wort mit auf den
40 Weg: »Wer sich meiner und meiner Worte vor den Menschen schämt,
dessen wird sich der Menschensohn auch schämen, wenn er kommen
wird in seiner Herrlichkeit und in der Herrlichkeit des Vaters und der
heiligen Engel« (Lk 9,26). Laßt uns daran denken, daß Christus, unser
Herr, uns dies als eine allgemein gültige Anordnung bei der Aufnahme
280 Epistolae Duae
in seine Familie sagt: Sie wird für das ganze Leben derer in Kraft
gesetzt, die zu seinem Reich gehören wollen. Wer daher seine Worte
mit wahrer, von Herzen kommender Liebe annimmt, muß diese Liebe
auch durch ein äußerliches Bekenntnis öffentlich zu erkennen geben.
Denn was wäre das für eine Schande, wenn sich jemand vor den
Menschen nicht zu ihm bekennen wollte, der vor den Engeln von ihm
erkannt sein will! Wie wollte er sich Gottes Wahrheit im Himmel
bewahren, wenn er sie auf Erden verleugnet?
Deshalb hat niemand einen Grund, sich hier auf seine schlaue Verstel-
10 lung etwas zugute zu halten. Er müßte die Frömmigkeit schon völlig
verkennen, wenn er sich mit der Einbildung schmeicheln wollte, er
hege sie ja in seinem Herzen, während er sie mit seinem äußeren
Verhalten in jeder Hinsicht Lügen straft. Denn echte Frömmigkeit
führt zu echtem Bekennen. Man darf nicht für leeres Geschwätz halten,
15 wenn Paulus schreibt: )} Wie man mit dem Herzen zur Gerechtigkeit
glaubt, so bekennt man mit dem Munde zu Seligkeit« (Röm 10, I 0).
Kurzum, der Herr ruft seine Jünger zum Bekenntnis: verweigern sie es,
so müssen sie sich einen anderen Lehrmeister suchen. Mit ihrer Heu-
chelei kann er sie nicht ertragen.
20 Hier könnte nun jemand fragen: Müssen denn etwa eine Handvoll
Gläubige, die zerstreut, noch dazu inmitten einer gottlosen und aber-
gläubischen Menge leben, ihre Stimme zur Zeit und zur Unzeit, öffent-
lich und privat gegen das gottlose Treiben ihrer Landsleute erheben,
nur um ihren Glauben gebührend unter Beweis zu stellen? Müssen sie
25 auf die Straßen und Gassen gehen, um Gottes Wahrheit zu predigen?
Müssen sie Tribünen besteigen und Versammlungen einberufen? Das
keinesweges! Zum Dienst an seinem Wort beruft der Herr vielmehr in
besonderer Weise Apostel, Propheten, Botschafter, oder wie immer
man die sonst nennen mag, deren Stimme er in der Öffentlichkeit laut
30 werden lassen will. Es ist wahrhaftig nicht nötig, daß alle überall
dasselbe in Angriff nehmen. Im Gegenteil, das wäre überhaupt nicht
fdrderlich und obendrein nicht einmal schicklich. Deshalb kommt weit
mehr darauf an, daß jeder einzelne für sich selbst überlegt, was seiner
Berufung und seinem Stand am meisten entspricht: wer dem optimal
35 gerecht wird, wird auch das, was von ihm verlangt ist, aufs beste
verrichten. Nur denen, die der Herr zum Dienst an seinem Wort be-
stimmt, verleiht er eine Art öffentlichen Charakter; ihre Stimme soll in
der Öffentlichkeit laut werden und sich wie der Klang der Trompete
über die Dächer erheben. Die andern hingegen sollen sich vom öffent-
40 lichen Auftrag der Apostel fernhalten, allerdings so, daß sie sich bei
der Erfüllung der Aufgaben ihres privaten Lebens als Christen zu
erkennen geben. ( ... )
Alles, was uns die Schrift an Regeln über die »vorsichtige Lebensfüh-
rung« der Christen mitteilt, scheint sich in erster Linie an Menschen zu
richten, die unter Nationen leben, die nichts von Gott wissen. Dennoch
besteht, wie man allgemein annimmt, ein erheblicher Unterschied zwi-
schen der Abgötterei dieser Völker und dem Aberglauben derer, mit
denen wir es heute zu tun haben (hier benutzt man den Namen Gottes
und Christi als eine Art Deckmantel für seine Heuchelei, dort verwarf
man aus einer viel roheren Unkenntnis heraus die öffentliche Vereh-
10 rung des höchsten Gottes): Deshalb wollen wir uns zunächst die in der
Schrift enthaltenen Weisungen vor Augen stellen, dann den Blick auf
unsere eigene Gegenwart richten und aus einem Vergleich der Verhält-
nisse ermitteln, was auf uns zutreffen mag. Ich kann zwar nicht einse-
hen, warum wir Gottes ewigen Geboten in dieser Weise durch die
15 Spanne eines einzigen Zeitalters Grenzen setzen sollten, doch will ich
dieses Vorgehen den weniger Kundigen zuliebe gelten lassen, damit
sich in ihren Herzen keinerlei Bedenken festsetzen.
Wenn der Herr in seinem Gesetz Verehrung oder Anbetung von Bil-
dern verbietet (Ex 20,4), so versteht er darunter den gesamten äußeren
20 Kult, den die Gottlosen gemeinhin ihren Bildern zuwenden. Das näm-
lich ist der eigentümliche Sinn der von ihm verwendeten Worte: das
eine bedeutet »sich niederwerfen«, das andere »Ehre erweisen«, und
damit wird bekanntlich die Art von Anbetung bezeichnet, die man
Statuen aus Holz oder Stein mit einer leiblichen Gebärde erweist. Mit
25 diesem Verbot will der Herr seinem Volk daher nicht nur verwehren,
staunend, wie die Heiden es tun, vor einem Stück Holz zu erstarren:
Sie sollen vielmehr auf gar keine Weise deren unheiliges und törichtes
Treiben nachahmen, weder vor den Bildern niederfallen, um sie zu
ehren, noch ihnen mit irgendeiner anderen Geste ihre Reverenz erwei-
30 sen, so wie es bei uns etwa durch das Entblößen des Hauptes oder das
Beugen der Knie Brauch ist. Wenn er daher seine wahren Anbeter
beschreibt, bringt er sie durch folgendes Kennzeichen an den Tag: »Ich
will mir siebentausend Männer übrig lassen.« Was? etwa die, deren
Herzen sich von dem leeren Schein und den Lügen Baals nicht haben
35 betören lassen? nicht nur das, sondern »deren Knie sich vor Baal nicht
gebeugt und deren Lippen seine Hand nicht geküßt haben« (I Kön19, 18).
Und wenn er andernorts bekräftigt, daß alles, was »im Himmel, auf
Erden und unter der Erde« ist, 1 seine Majestät anerkennen müsse, so
nimmt er fur seine eigene Erkenntnis dasselbe Merkmal in Anspruch:
40 »Mir wird sich jedes Knie beugen und jede Zunge bei meinem Namen
schwören« (Jes 45,23). So wird nun umgekehrt deutlich: Eine Statue
empfangt in dem Augenblick die nur Gott zustehende Weihe, in dem
ihre Verehrer den Kult mit einer körperlichen Geste zum Ausdruck
bringen. Um sie ihrer Schuld zu überfuhren, macht es daher keinen
45 Unterschied, mit welcher Verstellung oder Ernsthaftigkeit sie dabei zu
Anspielung aufPhiI2,IO.
284 Epistolae Duae
Werke gehen. Denn wer immer sich einer Form von Bilderdienst ver-
schreibt, mag er davon in seinem Herzen überzeugt sein oder nicht,
erkennt das Bild als Gott an. Wer aber einem Bilde den Namen der
Gottheit beilegt, der nimmt ihn Gott weg. (... )
profanatione, haec eius verba sunt (1 Cor. 10,14 ss.): Carissimi, fugite
ab idolorum cultu (sub cultus nomine, exteriores onmnes ritus collegis-
se, qui impiorum sacris adhibeantur, iam ex sequentibus manifestum
erit), ut prudentibus Ioquor: vos ipsi iudicate quod dico. Calix benedic-
tionis cui benedicimus, nonne communicatio sanguinis Christi est? et
panis quem frangimus, nonne communicatio corporis Domini est? Ergo
unus panis et unum corpus multi sumus, ornnes qui de uno pane parti-
cipamus. Videte Israel secundum camem. Nonne qui edunt hostias,
participes sunt altaris? Quid ergo? Dico quod idolis immolatum sit
aliquid? aut quod idolum sit aliquid? Sed quod quae gentes immolant, 10
daemoniis immolant, et non Deo. Nolo autem vos participes fieri daemo-
niorum. Non potestis calicem Domini bibere, et calicem daemoniorum.
Non potestis mensae Domini participare, et mensae daemoniorum.
Initio in memoriam illis revocat, quam propinqua sit istaec illis cum
Christo Domino societas, corporis et sanguinis ipsius participes fieri ut 15
quanta eos propius iBi adiunxerit, tanto ab ornni idolorum participatione
Iongius abstrahat. Extema autem sacramenta quaedam quasi vincula
esse, quibus cum Domino cohaereant: id ipsum igitur iBis e converso
accidere, qui immundis caeremoniis se admiscent, ut per eas idolorum
societati se innectant atque inserant. Deinde ornnem tergiversationem 20
praecidit, quum eorum obiecta occupat, qui praetendere possent, idolum
nihil esse: idcirco camem idolis immolatam, nihil a vulgari came differre.
Quod iBis, quantum ad camis ipsius substantiam, concedit: sed aliam
esse hominum opinionem excipit, quorum iudicium in factis nostris
spectari debeat, quae ipsorum oculis subiiciuntur. Eos autem, qui came 25
idolis immolata vescantur, argumentum imperitorum errori praebere,
unde iudicent, eo modo idolis ipsos sacrificare, sie in hominum cons-
pectu Deum inhonorari. Iam et asperiorem sententiam postea subiicit,
tantum esse inter Christi et daemoniorum mensam dissidium, ut altera
se abdicet, qui delibet quidquam ex altera. 30
Hac demum clausula exhortationem suam absolvit: Num provocamus
Dominum? Num fortiores iBo sumus? Cuius tanta vis est, ut magis
acriter, ac magis paene dixerim tragice, exagitare sceieratum ullum
facinus non potuerit, quam illam exagitavit superstitionum fictionem:
quae vixpro levissimacuIpahodie amultis ducitur. Alibi (2 Cor. 6,14 ss.): 35
Nolite iugum ducere cum infidelibus. Quae enim participatio iustitiae
Zwei Sendschreiben (1537) 287
er: »Geliebte, fliehet vor dem Götzendienst!« (daß er mit dem Wort
»Dienst« alle äußeren Riten begreift, die in heidnischen Tempeln ge-
bräuchlich sind, wird aus dem Folgenden schon deutlich werden). »Ich
rede als mit Verständigen: urteilt ihr selbst, was ich sage! Der Kelch
der Danksagung, über dem wir das Dankgebet sprechen, ist er nicht die
Gemeinschaft mit dem Blute Christi? Und das Brot, das wir brechen,
ist es nicht die Gemeinschaft mit dem Leibe Christi? Weil es ein Brot
ist, sind wir, die vielen, ein Leib, denn wir sind alle des einen Brotes
teilhaftig. Sehet auf das Israel nach dem Fleisch! Stehen nicht die,
10 welche das Opfer essen, in Gemeinschaft mit dem Altar? Was also?
Behaupte ich, daß das Götzenfleisch etwas ist? oder daß das Götzen-
bild etwas ist? Vielmehr, daß die Heiden das, was sie opfern, den
Dämonen opfern und nicht Gott. Ich will aber nicht, daß ihr in Gemein-
schaft mit den Dämonen kommt. Ihr könnt nicht den Kelch des Herrn
15 trinken und den Kelch der Dämonen; ihr könnt nicht am Tisch des
Herrn Anteil haben und am Tisch der Dämonen« (I Kor 10,14-21).
Zunächst ruft ihnen Paulus ins Gedächtnis, in welch enger Gemein-
schaft sie mit Christus, ihrem Herrn, stehen, da sie ja an seinem Leib
und Blut Anteil gewinnen: je näher er sie mit sich verbunden hat, desto
20 ferner will er sie von jeder Gemeinschaft mit den Götzen halten. Denn
die äußeren Sakramente sind gleichsam eine Art Band, durch das sie
mit ihrem Herrn zusammenhängen. Umgekehrt widerfahrt dasselbe
dann aber auch denen, die mit perversen Riten gemeinsame Sache
machen: sie flechten und fädeln sich dadurch förmlich in die Gemein-
25 schaft der Götzen ein. Sodann schneidet Paulus mit der Widerlegung
ihrer Einwände all denen jede Ausflucht ab, die sich mit der Behaup-
tung in Sicherheit zu bringen versuchen, der Götze sei doch ein nichts:
deshalb unterscheide sich auch das Götzenopferfleisch in nichts von
gewöhnlichem Fleisch. Das gibt er ihnen im Blick auf die Natur des
30 Fleisches gerne zu, ausgenommen freilich einen nicht unwichtigen
Punkt: Die Menschen sind hierüber verschiedener Meinung; deshalb
müssen wir in unserem Tun und Lassen, das sich unter ihren Augen
abspielt, auf ihr Urteil Rücksicht nehmen. Wer nun vom Götzenopfer-
fleisch ißt, leistet damit dem Irrtum der Schwachen Vorschub, die
35 daraus den Schluß ziehen, auf solche Weise bringe man eben den
Götzen sein Opfer dar. So wird Gott in den Augen der Menschen
entehrt. Zuletzt setzt Paulus denn auch eine noch schärfere Pointe: So
radikal sei der Tisch Christi von dem der Dämonen geschieden, daß,
wer von dem einen auch nur das Geringste genießt, sich eben damit
40 von dem anderen ausschließt.
Das Fazit seiner Ermahnungen zieht er vollends mit dem Schlußsatz:
»Fordern wir etwa den Herrn heraus? Sind wir stärker als er?« So
ungeheuer ist die Wucht dieses Satzes, daß Paulus bitterer - fast hätte
ich gesagt: tragischer - kein anderes, noch so scheußliches Verbrechen
45 hätte brandmarken können, als er es hier mit dem Blendwerk des
Aberglaubens tut. Und das hält heute ein Großteil der Menschen für
eine kaum erwähnenswerte Schuld! In anderem Zusammenhang schreibt
er: »Zieht nicht am gleichen Joch mit den Ungläubigen! Denn was hat
288 Epistolae Duae
300 cum iniquitate? aut quae pars fideli cum infideli? I Quae societas luci
cum tenebris? Quae concordia Christo cum Belial? Quis porro consensus
templo Dei cum idolis? Vos enim [250] estis templum Dei, sicut dicit
(Levit. 26,11): Quoniam inhabitabo in illis, et inter eos inambulabo, et
ero illorum Deus, et erunt mihi populus. Non vult usque eo Christianos
ab ornni infidelium necessitudine abhorrere, ut null i inter eos interce-
dant civiles contractus, nulla commercia, nulla denique colloquia. Nam
alioqui, ut ipsemet ait CI Cor. 5,10), exeundum esset ex hoc mundo:
sed nullam coire societatem permittit, quae horum imitandis supersti-
tionibus fideles irretiat. Post Iesaiae (Ies.52, 11) subnectit testimonium: 10
Propter quod exite de medio eorum, et separamini, dicit Dominus, et
immundum ne tetigeritis. Quo non ab incredulorum corporibus, locorum
spatiis procul esse dissitos, sed a pollutis eorum sacris longe diremptos
esse iubet.
( .. ) 15
303 [253] Quod totum exempla et sub oculos subiicient melius, et brevius
expedient. Camium esum religionis nomine interdicere, hocque inter-
dicto fidelium obligare conscientias, plane tyrannicum, atque etiam, ut
apostolus loquitur (1 Tim. 4,1), diabolicum fuit. At quum sit istud
Domini perrnissu tibi in medio relictum, vescarisne ornni die camibus, 20
an in totam vitam abstineas, illis die bus quin te abstineas, nihil prohibet.
Cur enim non interdum liceat, quod semper liberum est? Ita scelerato
imperio absque scelere parebis, animus sit tibi modo, rudium ignorantiae
in hoc concedere, non etiam animam in illos traditionum laqueos tuam
inserere. Arcere coniugio eos, qui carnis incontinentia exagitantur, ex 25
eodem est tyrannidis genere: nec tamen eadem tibi parendi fuerit facultas,
siquidem illo ardoris aculeo pungeris, quod non ut carnium, ita uxoris
abstinentiam libertati tuae perrniserit Dominus. Hunc, quem in caere-
moniis vestratibus, quarum causa haec instituta est disputatio, pro eo
Zwei Sendschreiben (1537) 289
(..) Calvin kommt nochmals auf I Kor 8 zurück: Zwar ist das Götzen-
bild nichtig, keineswegs aber dessen Verehrung. Weil die Starken durch
ihr Verhalten das Gewissen der Schwachen verletzen, ist ihre Klugheit
wertlos. Sie stehen im Verdacht der Idolatrie. Am Beispiel von Joh
25 12,42/ läßt sich zeigen, daß schon durch den äußeren Anschein des
Aberglaubens - Calvin spielt unüberhörbar auf die Riten und Bräuche
der katholischen Kirche an - das Bekenntnis verletzt wird.
Das alles läßt sich durch Beispiele besser vor Augen führen und kürzer
erklären. Fleischgenuß im Namen der Religion zu verbieten und die
30 Gewissen der Gläubigen durch solch ein Verbot zu binden, wäre blanke
Tyrannei und darüberhinaus, wie der Apostel sagt (I Tim 4,1), vom
Teufel. Weil es dir aber mit Erlaubnis des Herrn freigestellt ist, jeden
Tag Fleisch zu essen oder lebenslang darauf zu verzichten, hindert dich
auch wieder nichts daran, es an bestimmten Tagen zu lassen. Denn
35 warum sollte nicht zuweilen statthaft sein, was uns jederzeit frei steht?
So kannst du ja auch ein frevelhaft mißbrauchtes Gebot ohne Frevel
befolgen, wenn du es nur in der Absicht tust, der Unerfahrenheit der
Schwachen damit entgegenzukommen und nicht etwa deine Seele an
die Schlingen solchen Mißbrauchs zu fesseln. Es stammt aus derselben
40 Quelle der Tyrannei, diejenigen an der Ehe zu hindern, deren leiden-
schaftliches Blut sie dazu drängt; und doch bist du nicht in gleicher
Weise frei, dem Stachel dieser Glut nachzugeben, wenn er dich bedrängt,
weil der Herr die Enthaltsamkeit unseres Fleisches - und so auch die
deiner Ehefrau - nicht deinem Belieben überlassen hat.
45 Was nun den Umgang mit den Riten und Bräuchen deiner Landsleute
anlangt, um deretwillen ich diese Abhandlung verfaßt habe, so gebe
290 Epistolae Duae
tempore quo istic tibi vivendum est, semper intuearis, scopum tibi
propono: ut quae nulla sunt impietate notabiles, iis sobrie quidem et
parce, sed tamen quum usus postulabit libere secureque defungaris:
facile ut appareat, nullam esse tuam nec in affectando, nec in refugiendo
superstitionem. Quae vel minima sacrilegii nota sunt aspersae, eas non
magis quam venenatum serpentem attingas: esse enim re vera quovis
serpente solo attactu pestilentiores, quin tibi sim probaturus, nihil diffido.
Earum vero in numero simulacrorum venerationem, unctionis susceptio-
304 nem, indulgentiarum emp- I tionem, irrigationem ex aqua exsecrandis
illis exorcismis incantata, similesque alios per se damnabiles ritus 10
repono. Quid enim tandem afferri queat, quod in eorum omnium excusa-
tionem satis valeat, quo minus tanti a nobis maleficii damnari debeant?
( ... )
306 [255] Sit igitur missa nobis exempli loco, in quam nisi plusquam iusto
iure conferri possit, quidquid de idololatria vel scripturis traditur, vel 15
dici potest, quo minus caeremoniis istis omnibus, a quibus tantopere
fugiendum censeo, velut rebus mediis indifferenter abutaris, causam
non dico. Ipsam autem eligere ex omnibus potissimum libet: quod una
prae omnibus usque adeo saneta observatione colitur, ut quum in aliis
praetereundis hominum fallere animadversionem quoquo modo liceat, 20
hac te eximere, quin multorum oculis observeris, haud facile queas.
Quo fit, ut in caeteris quantum insit mali [256] qui videant, ac illis se
ideo abstineant, satis multi reperiantur: qui vero fateantur, quanta scateat
abominatione missae cultus, vel ab eo sese plane extricare ausint,
perpaucos offendas: sive terrore occaecati verum non cemunt, sive 25
animi deiectione magis et languore, quam mentis errore, labuntur.
Quamobrem sie existimo, totam praesentem causam solo hoc capite,
quodammodo contineri, hac ut hallucinatione discussa, qua maxime
Zwei Sendschreiben (1537) 291
ich dir folgende Regel an die Hand, an der du dich jederzeit orientieren
kannst, solange du dort leben mußt: Handlungen, die durch keinerlei
Gottlosigkeit auffallen, bringe zurückhaltend und nüchtern, aber wenn
das Herkommen es fordert, auch in Freiheit und unangefochten hinter
dich. So kommt leicht an den Tag, daß sich auf deiner Seite kein
Aberglaube findet, ob du dich nun daran beteiligst oder sie meidest.
Mit Zeremonien aber, denen auch nur die geringste Spur eines Frevels
anhaftet, komm so wenig in Berührung wie mit einer giftigen Schlan-
ge! Ich traue mir zu, dir nachweisen zu können, daß sie tatsächlich
10 verderblicher sind als der bloße Kontakt selbst mit der bösartigsten
Schlange. Unter diese Rubrik rechne ich die Bilderverehrung, den
Empfang der letzten Ölung, den Ablaßkauf, die Besprengung mit Was-
ser, das man mit fluchwürdigen Beschwörungsformeln geweiht hat,
und was es sonst noch an dergleichen Riten geben mag, die sich selbst
15 verurteilen. Denn was in aller Welt läßt sich zu ihrer Entschuldigung
beibringen, das Gewicht genug hätte, um sie nicht allesamt, wie wir es
tun mußten, eines solch ungeheuerlichen Frevels schuldig zu spre-
chen? (... )
(Die Messe)
Laß uns also die Messe als Beispiel nehmen! Wenn sich irgendetwas
von dem, was in der Bibel über Abgötterei zu lesen steht, oder was
25 man sonst geltend machen kann, damit all diese Zeremonien, die man
meiner Ansicht nach unbedingt meiden muß, nur ja nicht mit der
Gleichgültigkeit von Adiaphora behandelt werden, - wenn sich all das
nicht mit mehr als gutem Recht auf die Messe anwenden läßt, dann
gebe ich die Sache aut1 Es hat also triftige Gründe, ausgerechnet sie
30 aus allen Mißbräuchen herauszugreifen. Denn sie allein wird allen
anderen voran mit einer geradezu heiligen Gewissenhaftigkeit gefeiert.
Während man andere Riten übergehen und dabei die Aufmerksamkeit
der Menschen noch irgendwie täuschen kann, wird man es hier schwer-
lich fertig bringen, sich herauszuhalten, ohne gleich aller Augen auf
35 sich zu ziehen. Darum findet man genug Leute, die bei anderen Zere-
monien Zurückhaltung üben, sobald sie erst einmal das ganze Ausmaß
ihrer Verdorbenheit wahrnehmen; man wird aber nur auf sehr wenige
stoßen, die zugeben, von was für Greueln der Meßkult wimmelt, oder
die es gar wagen, sich völlig davon loszusagen: manche können vor
40 Schreck geblendet die Wahrheit nicht mehr erfassen, manche lassen
mehr aus Trägheit und Mangel an Selbstvertrauen als aus irregeleiteter
Einsicht die Dinge treiben. Aus diesem Grund hängt, glaube ich, der
ganze gegenwärtige Streitfall einzig und allein gewissermaßen an die-
sem einen Punkt. Wenn sich diese Halluzination mit ihrer so betäuben-
45 den Wirkung erst einmal in Luft aufgelöst hat, wird mir jedermann die
292 Epistolae Duae
Est tarnen istud etiamnum tertium, quod quo est manifestius, eo pios
animos afficere pressius potest: nempe nefanda idololatria, dum panis
divinitatem induere fingitur, proque Deo in sublime adorandus tollitur,
sub latus ab omnibus colitur. Quae tanta atrocitate, tantaque indignitate
referta res est, ut vix, nisi spectetur, credi queat: sic omnium oculis
subiecta patet, ut argumentis opus minime habeat. Pro Deo, inquarn,
ostentatur, adoratur, invocatur panis crustulum: Deus denique esse
creditur: quod de suis simulacris nullis unquarn gentibus persuasum
fuit. Neque hic mihi quispiarn obstrepat, non panern, sed Christum
adorari, qui in panis locum subierit, ex quo legitimo sit ritu consecratus. 10
Quod etiarnsi sanctae Christi coenae convenire demus, quanquarn nihil
minus concedimus, ad missarn tarnen nihilo pertinet magis, quarn ad
veteres Pontificum coenas, aut Saliorum epulum. Id quidem si inter
nos conveniret, quod certo constare debuerat, Dominum in mystica sua
coena corpus praebere non quod adoremus, sed quod edarnus: praesen- 15
tiarnque non illarn naturalern, quarn loco illo contineri oporteat, sed
spiritualem, quarn nullum loci intervallum, nulla distantia impedire
possit, proponere: aut, si mavis, non naturarn sui corporis praesentem
illic et circumscriptarn exhibere, sed efficaciarn et virtutem, ne in ipsa
quidem coena hic scrupulus resideret. Verum quoniarn nondum id 20
videre omnibus datum est, rem dubiarn ac controversarn pro confessa
certaque me praesumere ne quis cavilletur, illa parte non instabo. Adsit
sane in sua coena praesens vero ac naturali corpore Christus, manibus
attrectetur, dentibus atteratur, faucibus deglutiatur, divinitatem illic
praeterea suarn sistat, qualiter in eius carne ineffabili modo habitavit, 25
quarn ius fasque sit adorari (quorum tarnen utrumque vanissimum esse,
alibi demonstratum abunde a nobis est) verum utrumque ubi concessum
308 fuerit, quid I tarnen inde ad panis frustulum accesserit, extra Christi
coenarn? Non enim si Dominus suis fidelibus, mortis suae memoriarn
pie colentibus, corpus suum sub pane edendum praebet, protinus etiarn 30
consequitur, impuris ipsum sacrificulis immolandum se mactandumque,
quoties illis libeat, tradere: nisi forte tantarn putido oleo subesse virtutem
Zwei Sendschreiben (1537) 295
Und doch bleibt immer noch ein dritter Punkt, der fromme Gemüter
um so bedrückter machen muß, je offenkundiger er am Tage liegt,
nämlich die frevelhafte Abgötterei. Man bildet sich ein, das Brot neh-
me göttliche Natur an: um es an Gottes Stelle anzubeten, wird es
emporgehoben und von allen verehrt! Der Vorgang ist so abstoßend
und würdelos, daß man ihn kaum glauben könnte, wenn man ihn nicht
mit eigenen Augen sähe! Er spielt sich in einer Weise vor aller Augen
ab, daß man nicht den mindesten Beweis mehr braucht. An Gottes
Stelle, sage ich, wird eine Brotkruste zur Schau gestellt, angerufen und
10 verehrt! Ja man glaubt sogar an sie, als wäre sie Gott. Das ist selbst den
Heiden bei keinem ihrer Bilder je in den Sinn gekommen! Da halte mir
niemand entgegen, nicht das Brot werde angebetet, sondern Christus,
der vom Augenblick der legitimen Brotweihe an dessen Stelle einge-
nommen hätte.
15 Selbst wenn wir zugäben, daß sich dies am Ende mit dem heiligen
Mahl Christi vertragen könnte - das aber geben wir gewiß nicht zu -,
so hat es mit der Messe doch ebensowenig zu tun wie mit den alten
Priestermahlzeiten oder dem Bankett der Salier! Wir müßten uns we-
nigstens darüber einigen können, was doch eigentlich mit Gewißheit
20 hätte feststehen sollen: Der Herr reicht uns seinen Leib im heiligen
Mahl nicht dar, um ihn anbeten, sondern um ihn essen zu lassen; er
stellt uns keine naturhafte Präsenz vor Augen, die an einen bestimmten
Ort gebunden sein müsste, sondern eine spirituelle Gegenwart, die
keine räumliche Ausdehnung und keine Entfernung zu behindern ver-
25 mag, oder besser gesagt: er läßt uns hier nicht die in Grenzen einge-
schlossene Gegenwart seines natürlichen Leibes, sondern dessen Wirk-
samkeit und Kraft erfahren. Dann würde dieser Zweifel sich jedenfalls
nicht im Abendmahl selbst festsetzen. Da freilich noch nicht alle die
Dinge in diesem Licht sehen, will ich auf diesem Punkt nicht weiter
30 bestehen, schon damit sich niemand darüber lustig machen kann, als
ließe ich eine zweifelhafte, umstrittene Sache für zugestanden und
gewiß durchgehen. Laß also Christus mit einem realen, natürlichen
Leibe in seinem Mahl anwesend sein, laß ihn mit Händen berührt, mit
den Zähnen zerrieben, vom Rachen verschluckt werden, mehr noch:
35 laß ihn hier seine Göttlichkeit unter Beweis stellen, so wie sie auf
unaussprechliche Weise in seinem Fleisch Wohnung genommen hat,
das ja wohl nach menschlichem und göttlichem Recht angebetet wer-
den darf (daß dies bei des allerdings absolut grundlos ist, habe ich
andernorts ausfuhriich bewiesen)5. Doch selbst wenn wir es einmal
40 gelten ließen: was ist denn am Ende von dort auf jenes Stücklein Brot
übergegangen, getrennt vom Mahle Christi? Wohl reicht der Herr
seinen Jüngern, die das Gedächtnis seines Todes in frommer Scheu
feiern, unter dem Brot seinen eigenen Leib zu essen dar, doch folgt
daraus noch lange nicht, daß er sich unreinen Priestern nach ihrem
45 Belieben zum Schlachten und Opfern hingibt. Wir müßten sonst
schon glauben, daß verdorbenem Öl die besondere Fähigkeit inne-
311 [260] Coenam esse Domini nego, ad cuius spirituales epulas, non in
commune omnes qui adsunt fideles invitentur, nisi in qua et saneta
panis ac calicis symbola ecclesiae proponantur, et promissiones, quibus
obsignandis data est, enarrentur, et acquisita nobis per Domini mortem
vitae gratia praedicetur. Horum tu mihi vel minimum apicem in missa 25
ostendes? ac non potius adversa contraque pugnantia omnia? Tu igitur
Zwei Sendschreiben (1537) 297
(..) Schon ein äußerlicher Blick auf das Zeremoniell bestätigt den
30 Abstand vom Neuen Testament: Es gibt keinen Tisch, sondern nur
einen Altar, der seiner Funktion nach zum Opfern bestimmt ist. Dem-
entsprechend glaubt sich der Priester zwischen Gott und die Menschen
gestellt und maßt sich an Christi Stelle das Amt der Versöhnung an.
Der Vergleich dieses rituellen Schauspiels mit dem Götzendienst der
35 israelitischen Umwelt führt Calvin zu dem Schluß: Hier handelt es sich
um den »Tisch der Dämonen«. Trotz besseren Wissens fahren einige
Priester mit dem Opferkult fort, in dem nicht das geringste von dem zu
erkennen ist, was das Abendmahl ausmacht.
Ich bestreite, daß es sich um das Mahl des Herrn handelt, zu dessen
40 geistlicher Feier man ja nicht alle anwesenden Gläubigen in Bausch
und Bogen einladen darf, wenn hier weder die heiligen Symbole, Brot
und Kelch, der Gemeinde vor Augen gestellt, noch die Verheißungen,
als deren Siegel es uns gegeben ist, erklärt werden, noch auch die Gabe
des Lebens gepredigt wird, die uns der Herr durch seinen Tod erwor-
45 ben hat. Kannst du mir aber von all dem auch nur ein Jota in der Messe
zeigen? Und nicht vielmehr das genaue Gegenteil, das dem auf der
298 Epistolae Duae
Sed id solum dicam, cui posthac infitiando non erunt: viam illam, qua
se accedere ad Domini coenam iactabant, ab eius accessu tantum
abducere, quam haec inter se duo longe differunt, divinae gloriae strenu-
um praestare animosumque praeconem, et perpetrandis sacrilegiis 15
312 ducern, I praesidem, auspicem se praebere. Simul etiam reliquos obtestor:
quibus (si quis eos, quod· ad audiendas missas ingrediantur, accuset)
respons are mos est, missae dum intersunt, sibi quid sacrificulus
seorsum deblateret, curae non esse: sed eam symboli tantum loco se
accipere, quo perinde ac si sanctae Domini coenae intersint, mortis eius 20
memoria exerceantur. Eos, inquam, obtestor, posthac nulla ut potius,
quam hac misera excusatione utantur.
Neque (ut spero) utentur. Siquidem quum animis suis recte reputent,
quam sit utrumque multis modis absurdum, et monumentum mortis
Christi facere missam, quae nullam, nisi omni oblivione peiorem eius 25
recordationem hominum animis afferat (utpote quae vim eius universam
obliteret ac sepeliat, cum summa praeterea Christi ipsius contumelia
coniuncta sit) et eandem dicere sibi propemodum coenae esse loco, in
qua tantum ab adnuncianda Domini morte absunt, ipsam ut propemodum
abiurent. Nam primum quantum ad missam attinet, quoquo vertant 30
oculos, quid spectare possunt, quod sibi aetemae illius sanctificationis,
iustitiae, redemptionis per unicum Christi sacrificium [262] partae,
Zwei Sendschreiben (1537) 299
15 ( ..) Das Volk allerdings versammelt sich in der Messe zum Opferkult,
und was es zu sehen bekommt, ist Idolatrie.
Dies eine nur will ich sagen, und das werden sie auch in Nachhinein
nicht bestreiten können: Der Weg, auf dem sie sich zum Mahl des
Herrn rüsten, führt ebensoweit am Ziel vorbei, wie es zwei grundver-
20 schiedene Dinge sind, ob einer als eifriger und beherzter Herold der
Ehre Gottes auftritt, oder sich als Rädelsführer, Anstifter und Schutz-
patron bei der Durchführung von Sakrilegien hervortut. Gleichzeitig
beschwöre ich auch die anderen, die (wenn man ihnen aus dem Gang
zur Messe einen Vorwurf macht) gewohnheitsmäßig zur Antwort ge-
25 ben, es kümmere sie als Meßteilnehmer überhaupt nicht, was der Prie-
ster für sich allein vor sich hin schwatze; sie betrachteten die Messe
nur als ein Symbol und übten sich dadurch genau so im Gedächtnis des
Todes Christi, als nähmen sie am heiligen Mahl des Herrn teil. Diese
Leute, sage ich, flehe ich an, lieber überhaupt keine als diese miserable
30 Entschuldigung zu gebrauchen.
Und (ich hoffe) sie werden sich daran halten - dann jedenfalls, wenn
sie bei sich selbst nur einmal überlegen, wie absurd in mancherlei
Hinsicht beides ist, einmal: zum Erkennungszeichen des Todes Christi
ausgerechnet die Messe zu machen, die uns doch nichts von alledem in
35 Erinnerung bringt, was nicht schlimmer wäre als jedes Vergessen (löscht
sie doch die gesamte Wirksamkeit dieses Todes aus und begräbt sie, da
sie obendrein noch mit der tiefsten Verachtung Christi einhergeht);
zum andern: von eben dieser Messe zu behaupten, sie nehme in ihren
Augen fast schon den Platz des Abendmahls ein, obwohl sie doch
40 gerade hier soweit davon entfernt sind, den Tod des Herrn zu verkündi-
gen, daß sie ihn nahezu abschwören! Denn wohin sie im Umkreis der
Messe ihre Augen auch richten mögen: Was bekommen sie denn zu
sehen, das ihnen die Erinnerung an die »Heiligung und Gerechtigkeit
und Erlösung«6 nahebringen könnte, die Christus durch sein einmali-
324 [273] Nunc ut ad te, suavissime frater, sese oratio nostra referat: quan- 10
quarn certe ipse per te iarn intelligis quid consilii tibi restet, ubi per-
spectum habes, quo te ducat verbi Dei linea (ad quarn deliberationes
omnes tuas conformari limitarique decet) ne qua tarnen in parte tantis
desim tuis angustiis, quarn a me tibi perscribi officii formularn literae
tuae flagitant, earn quarn potero brevissime [274] tibi expediarn. Adsis 15
325 I modo vicissim tum accincta propensaque ad auscultandarn Domini
vocem obedientia, turn ad exsequenda eius imperia constanti intrepida-
que animi destinatione: ac denique, id quod est, memineris, non tarn ab
homine tibi dari consilium, quarn e sacro aetemi Dei ore acceptum
oraculum per hominem pronunciari. Hoc ergo in primis tibi in univer- 20
sum interdicturn arbitrare, ne te quisquarn aut missae sacrilegio com-
municantem, aut corarn simulacro caput detegentem conspiciat, aut
ullarn omnino superstitionem suscipientem, ex earum genere, quibus
Zwei Sendschreiben (1537) 301
ges Opfer auf immer für sie vollbracht hat?, was, das sie belehren und
ihnen vor Augen führen könnte, daß Christus - ohne Partner und ohne
Nachfolger - der einzige Hohepriester ist?, was schließlich, das ihnen
zwn Zeugnis dafür dienen könnte, daß durch seinen Tod alles voll-
bracht ist, was zu unserem Heil nötig war? Mit welchem Recht also
sollte die Messe als ein Erinnerungszeichen all dessen gelten, wovon
sie auch nicht den leisesten Schimmer vergegenwärtigt? Wenn sie
daher auf der anderen Seite behaupten, aus ihr fast denselben Nutzen
zu ziehen wie aus dem Abendmahl, so bringen sie damit selber den
10 schlagendsten Beweis gegen sich vor: Sie sind hier auf alles andere
bedacht, als darauf, Christus, dem Herrn, das Bekenntnis der Ehre zu
erweisen, zu dem die AbendahIsliturgie die Glaubenden aufruft. (... )
( ..) Beispielefür eine gottlose Praxis gibt es auch in der Bibel. Calvin
erinnert an das goldene Kalb Aarans, an die Heiligtümer Jerobeams
15 und die Religion der Samaritaner. Wenn er auch seinen Adressaten
und Freund längst davon überzeugt zu haben meint, das Maß seiner
Freiheit nicht willkürlich zu überschreiten, holt er um der anderen
willen doch noch einmal weit aus und stellt ihnen I Kor IO,20ff. als
Prüfttein vor Augen. Das oft zitierte Beispiel Naemans (11 Kön 5) läßt
20 er nur für streng analoge Ausnahmesituationen (Messe als Bürger-
pflicht bei Begräbnis und Hochzeit) gelten, während er der in Act
21,26 berichteten Szene jede Beweiskraft abspricht. Der Einwand, die
Messe sei noch immer nicht deutlich genug ihrer Frevel überführt, ist
also unhaltbar. Wer ihre Praxis weiterführt, verletzt Gottes Ehre. Ei-
25 ner aber muß nun den Anfang machen, und damit wendet sich Calvin
zuletzt noch einmal ausdrücklich an du Chemin:
(Brieftchluß)
327 [276] Habes a me quod postulabas, vel potius per manum meam a 30
Domino, consilium: periculosum quidem illud carni tuae, et parum
blandum, sed animae tuae fidele et salubre, addo et tibi prorsus neces-
Zwei Sendschreiben (1537) 303
( ..) Insbesondere rät ihm Calvin, sein Hauswesen - seine Ehe, seine
Familie, den Umgang mit der Dienerschaft - so zu gestalten, daß es
gleichsam zum Spiegel einer kleinen Gemeinde wird.
45 Du hast nun von mir - oder vielmehr durch meine Hand vom Herrn -
den erbetenen Rat, einen Rat, der deinem Fleisch Gefahr bringt und
304 Epistolae Duae
328 [278] Non enim ea tibi solum propono, quae in umbratili mea quiete
mecum sim meditatus: sed quae sibi semper in mediis crucibus, ignibus, 15
ferarum lanienis, subiecerurJt invicti Dei martyres. Quorum recordatione
nisi sese acuissent, aetemam Dei veritatem, quam suo sanguine fortiter
obsignarunt, perfide, dicto citius abnegassent. Atqui non ideo illi in
asserenda veritate constantiae exemplo nobis praeierunt, eam ut nunc
deseramus, quam sic testatam consignatamque nobis tradiderurJt: sed 20
artem docuerurJt, qua Domini praesidiis freti, inexpugnabiles contra
totam mortis, inferni, mundi, Satanae aciem consistamus.
1 Petri 2:
ihm wenig schmeichelt, der deine Seele aber zuverlässig und stark
macht, und, füge ich hinzu, den du allemal notwendig brauchst, wenn
du das Joch des Herrn nicht von deinem Hals schütteln und den Glau-
ben an ihn nicht abschwören willst.
Deine Aufgabe ist es nun, den Herrn durch das Bekenntnis, das er von
dir erwartet, zu preisen und darum dich selbst wachzurütteln, dir hart
zuzusetzen, dich anzufeuern, vorwärtszudrängen und Mut zu fassen.
Daß ein Diener Gottes darin nachgeben sollte, zumal es sich hier um
einen solchen Kardinalpunkt unseres Gottesdienstes handelt, wäre ge-
10 radezu absurd und überaus schmachvoll. Denn was ich dir zuvor bestä-
tigt habe, das bezeuge ich dir jetzt auch vor Gott und seinen heiligen
Engeln, damit du es dir immer wieder ins Gedächtnis rufen und bestän-
dig vor Augen führen kannst: Es geht in dem Streit, den wir führen, um
nichts Geringeres als darum, Christus vor den Menschen nicht zu
15 verleugnen, damit er auch uns (wie er durch seinen Apostel androht)
nicht verleugnet, wenn er als Richter zum letzten Gericht erscheinen
wird (Il Tim 2,12). (... )
( ..) Damit wird keine besondere Last azif seine Schultern gelegt, son-
dern nur das Selbstverständliche verlangt, daß er seinem Bekenntnis
20 nicht untreu wird. Die Gefahren, in die er sich dabei begeben mag,
lohnen sich: sie sind der Eingang zum ewigen Leben.
Ich stelle dir hiermit nichts vor Augen, was ich mir nur in der Ruhe
meiner Studierstube ausgedacht hätte: Gottes unüberwindliche Märty-
rer haben inmitten von Kreuzen, Flammen und rasenden Bestien be-
25 harrlich daran festgehalten. Wäre das nicht der Stachel ihres Mutes
gewesen, dann hätten sie Gottes ewige Wahrheit, die sie mit ihrem
eigenen Blut so tapfer besiegelt haben, treulos, und zwar schneller als
man sie aussprechen kann, verleugnet. Sie sind uns aber nicht deshalb
mit dem Beispiel ihrer Standhaftigkeit vorangegangen, haben die Wahr-
30 heit nicht deshalb verteidigt, damit wir sie jetzt verlassen könnten,
nachdem sie so beglaubigt und versiegelt in unsere Hände gekommen
ist. Vielmehr haben sie uns die Kunst gelehrt, im Vertrauen auf Gottes
Schutz unbesiegbar gegen alle Gewalt des Todes und der Hölle, der
Welt und des Satans fest zu stehen.
35 1 Petrus 2,9
OS 1,329 [CO 5,279] Quum haee seribere instituerem, subveritus sum primo, ne
ineptire tibi atque adeo insanire quodammodo viderer, quod inter tot
gratulantium voees, unus tibi mea morositate obstrepam: quin et ipsum
id in te deplorem, quod alii tibi omnes tantopere gratulantur. Neque
enim dubium esse potest, quin ea in gente, quae praeeipuam ae prope
unieam hominum dignitatem in faeultatum amplitudine fortunaeque 10
splendore reponit, amplissimi huius saeerdotii, quo te nuper auetum
intellexi, aeeessio plurimum tibi et gratiae et omamenti attulerit: ut
sine eontroversia vere beatus ae fortunatus eommuni omnium suffragio
et videaris et praedieeris. Amieos vero fere omnes videre mihi iam
videor, quo suam in te benevolentiam testentur, ingentem animi laetitiam 15
Vom Amt l des Christenmenschen
hinsichtlich der Priesterwürden der
päpstlichen Kirche: Ausübung
oder Zurückweisung?
Johannes Calvin grüßt einen alten2 Freund, der jetzt Prälat3 ist.
Ich habe mich ans Schreiben gesetzt und sorge ich mich nun vor allem
darum, daß ich dir nicht nur als irgendein Schwätzer erscheine: so als
hätte ich völlig den Verstand verloren, weil ich unter all den Jubelsprü-
IO chen als einzelner mit meiner Mißmutigkeit störe. Jawohl, ich beklage
bei dir genau das, wozu dir alle anderen so sehr gratulieren. Denn
zweifellos bringt dir der Zuwachs jenes höchst ehrenvollen Priester-
tums, das dir meines Wissens neulich zukam, ein Vielfaches an Ehre
und Auszeichnung. Das ist so in einer Gesellschaft, die die besondere,
15 ja beinahe einzige Würde des Menschen der Höhe des Vermögens und
dem Glanz des Glücks beilegt. Daher wird man dich ohne Frage unter
allgemeinem Beifall als wahrhaft gesegnet und glücklich ansehen und
rühmen. Ja, schon stehen mir ziemlich alle deine Freunde vor Augen,
wie sie dir ihren guten Willen bezeugen: Jeder für sich und miteinander
Mit officium ist eine »offizielle« Stellung in der Kirche gemeint. Die Überset-
zung mit »Dienst« entspricht am ehesten dem, was Calvin inhaltlich mit officium
meint. Um den unterschiedlichen lateinischen Titeln auch im Deutschen Aus-
druck zu verleihen, übersetzen wir aber einheitlich officium mit »Amt«, munusl
ministerium mit »Dienst« und episcopatus mit »Bischofsdienst«.
2 Ob vetus besser mit »alt« oder mit »ehemalig« zu übersetzen ist, richtet sich
nach der Interpretation des ganzen Briefs. Beides scheint vertretbar: siehe z. B.
einerseits die Amede vir mihi amicissime (OS 1,331,29), andererseits den
Briefschluß (mihi certe nec vir bonus eris, nec Christianus: OS 1,362, 14f.).
3 Praesul ist regulärer kirchlicher Titel: Patriarch, Bischof, Prälat. Vielleicht will
der humanistisch gebildete Calvin aber auch auf die antiken heidnischen Be-
deutungen »oberster Marspriester, Kulttänzer« anspielen? Jedenfalls wird im
folgenden Text immer der (neutestamentliche) Titel episcopus auch auf den
Freund angewandt, wenn es um den biblisch begründeten Bischofsdienst geht.
Vgl. Erasmus, der kriegstreiberische christliche Priester als praesules (Mars-
priester) bezeichnet, denen wahre sacerdotes, monachi und theologi gegen-
überstehen. Erasmus v. Rotterdam: Querela pacis (1516), in: Ausgewählte
Schriften, hg. v. W. WELZIG, Bd. 5, Darmstadt 1968, 424f.
308 Epistolae Duae
331 [281] Est tarnen quiddam, quod in tanta etiamnum diffieultate spem
mihi aliquarn faeiat, in ipsis vel doeendis, vel monendis, vel obseerandis,
non inanem me operarn sumpturum. Tametsi enim omnes praestigiis
illis faseinati, quibus suos exeaeeare solet romanus Pluto, quam ealarni- 10
tosas possideant opes, non vident, bona etiarn pars malo suo altius
indormit, quarn ut ullis clarnoribus expergiseatur: non sie tarnen omnes
(nisi vehementer fallor) ad meliorem doetrinarn obsurduerunt, ut non
vel dimidiarn saltem aurem, e tarn numerosa gente paueuli nobis arrigant.
Magna sane vis est verbi Domini, potentiorque quarn reputare quisquarn 15
temere queat, nisi expertus, et quae plurimum valeat in utrarnque partern:
ut quidquid eo attaetum fuerit, quarnlibet durum sit et saxeurn, vel
emolliatur protinus, vel eonteratur: ut quidquid petitum eius odore
fuerit, vel in mortem affieiatur, vel in vitarn. Sint igitur innurneri, qui
devoto animo in suarn ipsorum pemieiem ruentes, mea ista exhortatione 20
fidelissimo alioqui mali sui remedio, gravius adhue exulcerentur: quos-
darn tarnen fore minime dubito, qui obieetum naribus suis vitae odorem
magna eum laetitia persentiseant. Quorum in numero ut te, vir mihi
Zwei Sendschreiben (1537) 309
um die Wette tun sie durch Briefe und Geschenke ihre außerordentli-
che Seelenfreude kund. Ich verstehe, wie schwierig es ist, sich durch
diese Schmeicheleien nicht völlig einlullen zu lassen - wo doch mensch-
liche Ohren all solchen Genüssen gegenüber von Natur aus alles ande-
re als taub sind. Und die Schmeicheleien, mit denen du nun versucht
wirst, sind von einer Art, daß sie auch strengere Ohren sehr wohl
gewinnen könnten. ( ... )
( ..) Calvin will demgegenüber warnen, will dem Stolpernden die Hand
reichen, um ihn vor dem endgültigen Fall zu bewahren. Den alten
10 Freund und andere Leser in ähnlicher Situation will er mit »Stacheln«
der Wahrheit aus ihrer Betäubung aufwecken. Er ist sich durchaus im
Klaren darüber, daß der römisch-katholische Klerus kaum zu überzeu-
gen sein wird. Denn indem er seine Schrift an Kleriker richtet, macht
er die zu Richtern seiner Argumentation, die er gleichzeitig anklagt.
15 Und wie könnten etwa diejenigen seinen Angriffen gegen das Pfründen-
wesen zustimmen, die selbst dieses System ausnutzen und ihren Bauch
unrechtmäßig davon füllen?
Es gibt aber doch etwas, das mich in dieser so schwierigen Lage noch
immer hoffen läßt, daß ich meine Arbeit nicht vergebens tun werde,
20 wenn ich jene Menschen belehre, ermahne und anflehe. Denn zwar
sind sie alle bezaubert von jenen Arinehmlichkeiten, mit denen der
römische Plut0 4 seine Leute für gewöhnlich blind macht, und sie sehen
nicht, wie die unheil bringenden Reichtümer sie in Besitz nehmen; auch
schläft der größere Teil von ihnen zu tief in seiner Schlechtigkeit, als
25 daß er von irgendwelchen Rufen geweckt würde. Aber wenn ich mich
nicht sehr irre, sind doch nicht alle für eine bessere Lehre so taub
geworden, daß nicht doch zumindest einige wenige aus dieser so zahl-
reichen Schar uns ihr Ohr ein wenig leihen.
Denn das ist sicher: Die Kraft des Wortes des Herrn ist groß. Sie ist
30 mächtiger, als man sich das einfach so vorstellen kann, wenn man es
nicht erfahren hat. Und sie wird wohl in dieser oder jener Hinsicht
Wirkung zeigen: wenn irgendetwas vom Wort getroffen wird, sei es
noch so hart und steinern, wird es am Ende entweder erweicht oder
zerschlagen. Was immer von seinem Geruch erreicht wird, wird daher
35 in Bewegung versetzt: entweder zum Tod oder zum Leben. 5
Es sind also wohl unzählige, die sich selbstsicher ins Verderben stür-
zen. Obwohl sie von mir mit dieser sehr verläßlichen Ermahnung ein
Heilmittel gegen ihr Verderben erhalten, geraten sie immer noch tiefer
ins Böse hinein. Trotzdem wird es zweifellos einige geben, die den
40 Geruch des Lebens mit großer Freude tief einziehen, wenn sie ihn erst
spüren. Höchst zuversichtlich wage ich, auch dich mit zu dieser Grup-
4 Gemeint ist der Papst. Als antiker Unterwelt- und Totengott herrscht Pluto über
ein Reich kraft- und willenloser Schatten. Er ist »der bitterste Feind alles
Lebens« und »Menschen und Göttern gleich verhaßt«. B. PREHN: Art. Hades,
in: RECA, Supp!. III, Sp. 867-878, hier 876f.
5 Vg!. Jer 23,29; II Kor 2,16.
310 Epistolae Duae
pe zu rechnen, mein bester Freund. Denn du bist von der Natur mit
herrlichen Talenten begabt und in den besten Künsten hervorragend
ausgebildet. Außerdem vertraue ich auf die Reste deiner alten Fröm-
migkeit, die sicher weiterhin in dir stecken und von denen ich ernsthaft
überzeugt bin - schon früher habe ich sie in der Tat mit größtem
Nutzen und mit einiger Bewunderung betrachtet.
Probieren wir also, wieviel die Wahrheit Gottes bei dir und bei anderen
Menschen erreichen kann, die in ihrer Blindheit noch nicht verloren
sind! Laß uns zuvor von Gott erbitten, daß er dich und genauso die
10 anderen mit seiner Weisung wieder auf den rechten Weg bringen und
nicht vernichten wolle.
Alle bezeichnen dich als erfolgreich und nennen dich ein Glückskind
wegen dieser neuen Würde des Bischofsdienstes. Denn sie bringt dir
15 nicht nur den besonderen Ehrentitel eines Prälaten, durch dessen Erha-
benheit man überall hochangesehen ist. Dank seiner gewähren einem
die Oberen ihre Freundschaft, und durch seine Autorität erhält man
viel Gefolgschaft. Außerdem wird er dir Zugang zu dem gewaltigen
Reichtum der Mächtigen verschaffen, mit dem du nicht nur deinen
20 eigenen Unterhalt decken, sondern auch die Not vieler Menschen lin-
dern und zum allgemeinen Nutzen wohltätig sein kannst. Und das
überzeugt dich sehr, weil wir uns in dieser Hinsicht gewöhnlich außer-
ordentlich gern überzeugen lassen.
Wenn ich mir aber überlege, welchen Wert das alles eigentlich wirk-
25 lieh hat, was nach allgemeiner Ansicht so hoch geschätzt ist, dann habe
ich von Herzen Mitleid mit deinem Unglück. Das umso mehr, da du
gar nicht als dein Verhängnis erkennst, was sich so als Glück tarnt.
Denn jener Glanz eures Standes, jene prachtvolle Ehrwürdigke~t, jener
Reichtum, die Eleganz des Haushalts, die umfangreiche Dienerschaft:
30 sie kommen von Menschen her und zeigen also deutlich, wie euer Volk
euch beurteilt. .
An erster Stelle hätte man aber doch das Urteil Gottes zu bedenken,
von dem sich der Bischofsdienst selbst herleitet und eingesetzt ist.
Wenn du also all das hörst, was man zu deiner Beglückwünschung
35 anführt, dann mußt du auch bedenken, daß hier bloß Volksmeinung
vorliegt; und in ihr werden häufig Dinge obenangestellt, die im Urteil
Gottes nicht ins Gewicht fallen. Gerade auch bei der Einschätzung des
Dienstes eines Bischofs ist das Volk nicht glaubwürdig, denn es urteilt
umichtig und unzuverlässig. Allein auf das Urteil Gottes muß man
40 hören, durch dessen Autorität der Dienst eingesetzt und durch dessen
Gesetze er bestimmt ist.
Wenn man sich also endlich dazu bereit findet, den Geist ernsthaft auf
den Herrn zu richten, löst sich der ganze unsinnige Qualm auf. Ja, er
soll sich dir ganz auflösen! Wenn er auch nur in einem Teil deiner
45 Überlegungen hängen bleibt, behindert er nicht nur deine Augen, son-
312 Epistolae Duae
Episcopus creatus es. Instat tibi mox sua exhortatione apostolus Pau-
lus: prospiciendum esse tibi, quod acceperis in Domino ministerium, ut
illud impleas (Co!. 4,17). Ministerii nomen quum audis, et constitutum
te aliis debitorern, neque tuo te commodo, sed in rem usumque aliorum
episcopum esse succurrat. Ministerium autem ipsum quale sit, ut non 15
333 sine causa videre iubet, ita diligenter in I hanc curam est incumbendum.
Nam neque pascendae Christi ecclesiae praefectum esse, res est vulgaris
momenti: nec levis operae negotium, functionem ipsam fideliter exer-
cere: neque mala fide administrare, mediocre, facilisque veniae delictum.
Quos ecclesiae suae pastores Dominus praeficit, eos se in populi sui 20
tutelam et custodes apponere, et speculatores collocare te statur (Is.
62,6; Iezech. 3,17). Tantum ponderis vel his duobus verbis subest,
quantum ad erigendas omnium mentes satis esse debeat, ne tanta in
procuratione vel contemptu, vel securitate, vel ignavia, vel negligentia
torpescant. Non hic ago de ordinis dignitate: operis etiam molem nondum 25
attingo: sed de ipsa duntaxat rei magnitudine loquor, ne exigua con-
temptibilique in provincia versari se putent, quibus est id muneris a
Domino demandatum. Sunt igitur, quicunque regendis ecclesiis praesunt,
custodes populo Dei constituti, qui eius curam et habeant et gerant:
sunt et speculatores, qui in eius salutem invigilent: praeclara omnino 30
administratio, dignissimaque (si qua alia sub coelo digna est) in qua
Zwei Sendschreiben (1537) 313
dem er macht sie blind, so daß sie jene Wahrheit überhaupt nicht klar
zu erfassen mögen, die uns der Herr vor Augen stellt. Nichts, so sollte
man denken, ist in einem höheren Maße recht und billig, als das, was
ich hier fordere. Aber es liegt praktisch niemandem so viel daran, daß
er an erster, zweiter oder auch nur an letzter Stelle darüber nachdenken
würde, welchen Wirkungskreis er von dem Herrn empfangen hat. Die
Gedanken aller richten sich einerseits auf Mitra, Krummstab, Mantel,
Ring und den übrigen Kram dieser Art6; andererseits aber - und sogar
zum größeren Teil - auf jene Reichtümer, die sich in häuslichem
10 Glanz, großem Gefolge, einem üppig gedeckten Tisch und jeder Art
von Köstlichkeiten und Großartigkeit zeigen. Nun denn: entferne den
ganzen eitlen Kram dieser Albernheiten so weit aus deinem geistigen
Blickfeld, bis du mit mir aus dem Worte Gottes den wahren Sinn
deines Dienstes erhebst!
15 (3. Die Last des Dienstes als Wächter, Aufteher, Haushalter und Statthalter)
Du bist als Bischof gewählt. Sofort steht vor dir der Apostel Paulus mit
seiner Ermahnung: »Sieh auf den Dienst, den du im Herrn empfangen
hast, damit du ihn erfüllst« (Ko14,17). Du hörst doch das Wort »Dienst«
und daß du für die anderen als Schuldner eingesetzt bist: als Bischof
20 sollst du somit für das Interesse und den Nutzen anderer einstehen und
nicht dafür, daß du selbst es bequem hast. Weil Paulus nicht grundlos
zu beachten befiehlt, wie jener Dienst beschaffen ist, muß man ihn
gewissenhaft in dieser Weise ausüben. Denn es ist keine gewöhnliche
Arbeit, an die Spitze der Gemeinde Christi gestellt zu sein. Es ist auch
25 keine leichte Tätigkeit, diese Aufgabe getreu zu erfüllen. Und es ist
auch nicht bloß ein unbedeutendes und leicht verzeihliches Vergehen,
wenn man sie treulos ausübt.
Denn der Herr sagt von denen, die er in seiner Kirche zu Hirten
gemacht hat, er habe sie zum Schutze seines Volkes als Wächter aufge-
30 stellt und als Aufseher eingesetzt (les 62,6; Ez 3,17). Schon diese
beiden Schriftworte haben ein hinreichend großes Gewicht, um alle
Geister anzustacheln, in einem so bedeutsamen Auftrag nicht schlaff
zu werden durch Überheblichkeit oder Fahrlässigkeit oder Dummheit
oder Nachlässigkeit. Ich behandle hier nicht die Würde des Standes.
35 Ich spreche auch noch nicht die Mühe der Arbeit an, sondern ich rede
nur von der Größe der Sache selbst. Diejenigen, denen der Herr etwas
von diesem Dienst anvertraut hat, sollen nicht meinen, in einem klei-
nen und verächtlichen Geschäfte tätig zu sein. Deshalb sind alle, die
zur Kirchenleitung bestellt sind, als Wächter für das Volk Gottes ein-
40 gesetzt. Sie haben dessen Pflege anvertraut bekommen und sollen sie
nun auch ausführen. Sie sind Aufseher, die über sein Heil wachen
sollen. Wenn es überhaupt etwas Ehrenhaftes unter dem Himmel gibt,
dann diese bedeutende und höchst ehrenvolle Statthalterschaft, auf die
man sich mit allen Fasern richten muß, in der alle Kraft des Geistes
sich entfalten und schließlich alle Bereiche der Seele wie des Körpers
sich abmühen sollen. Denn zugleich werden sie auch als Haushalter
vorgestellt, die über die Familie Gottes gesetzt sind, gleichsam als
Statthalter, die in seinem Reich die Leitung auszuüben haben. Von
welcher Art diese Haushalterschaft ist? Natürlich sind sie nicht dazu
bestimmt, irgendeinen niedrigen oder schmutzigen Dienst zu verrich-
ten, sondern die Geheimnisse der himmlischen Weisheit auszubreiten
(I Kor 4,1), ja sogar das Haus Gottes selbst aufzubauen und zu errich-
10 ten (I Kor 3,10). Von welcher Art die Statthalterschaft dieses Reiches
ist? Gewiß soll sie sich nicht auf irgendeine unbedeutende Pflicht oder
auf nebensächliche Aufgaben beschränken, sondern soll in der Voll-
macht des Herrn zum Heil der Glaubenden entfaltet und ausgeübt
werden. »Salz der Erde, Licht der Welt« (Mt 5,19), »Boten Gottes«
15 (Mal 2,7) und »Mitarbeiter des Herrn selbst« (I Kor 3,9) - so werden
daher alle die genannt, die in der Kirche des Herrn eine Lehrfunktion
ausüben. Die Predigt selbst aber wird zur »Kraft Gottes zum Heil für
jeden, der da glaubt« (Röm 1,16), wie auch zur »Herrschaft Gottes«
erklärt (Mt 4,17).
20 Muß dir schon die Größe der Aufgabe alle Schläfrigkeit austreiben, so
ist es unbeschreiblich, mit was für einem Aufwand man dich wecken
und entflammen muß, damit du es in der Ausübung deines Dienstes
nicht an Sorgfalt fehlen läßt. Denn sie läßt den Menschen, auf dessen
Schultern sie ruhen soll, nicht träge oder müßig sein. Sie läßt sich auch
25 nicht durch leichte oder oberflächliche Arbeiten erfüllen. In den weltli-
chen Präfekturen und Verwaltungs bezirken, mit denen Könige ihre
Vertrauten beschenken, beobachtet man häufig eine gemächliche Erha-
benheit. Aber denen, die der Herr zur Leitung seiner Kirche beruft,
trägt er eine Arbeit auf, die voller Mühsal, Sorge und Unruhe ist. Wir
30 dürfen sie bestimmt nicht als leicht einschätzen, bloß weil sie beim
Propheten mit nur wenigen Worten erwähnt wird, wenn etwa der Herr
befiehlt, das Wort von seinem Munde zu empfangen und es unver-
falscht dem Volk auszurichten. Aber diesem kurzgefaßten Befehl liegt
ja soviel Gewicht bei! Unser Herr hat klargestellt, daß nur diejenigen
3S als Haushalter seiner Familie ihrem Amt entsprechen (Lk 12,42), die
zwei ungewöhnliche Tugenden vorweisen können, wenn sie über ihre
Statthalterschaft Rechenschaft ablegen: nämlich Treue und Sorgfalt.
Nun sehen wir dabei aber viele Menschen ihren Einbildungen erliegen.
Sie hören, daß ihnen der Dienst der Wortverkündigung übertragen ist
40 und glauben die Aufgabe bereits ausgezeichnet erledigt zu haben, wenn
sie dem Volk so etwas wie einen Vorgeschmack des Wortes gewähren.
Dabei vergessen sie aber schlichtweg, daß der Herr festgesetzt hat, wie
er Art und Inhalt der Wortverkündigung haben will. Er fordert ja
wirklich nichts Geringes von den Dienern seiner Kirche, wenn er ihnen
45 sagt (Jes 62,6), daß er sie als Wächter eingesetzt hat, die weder Tag
noch Nacht ruhen dürfen! Sie sollen stets wachsam sein, zur Verteidi-
gung der Gemeinde bereit. Aufwelche Weise er nun die Wache gehal-
316 Epistolae Duae
Mit den bisher gezogenen Linien ist allerdings noch nicht das ganze
10 Aufgabengebiet des Bischofs umrissen. Der Herr hat aber einmal alle
seine Bereiche zusammengefaßt und mit dem Ausdruck »Weiden«
bezeichnet, indem er Petrus einsetzte, seine Schafe zu weiden (Joh
21,15). Plato und Homer konnten die höchsten Eigenschaften des Kö-
nigs nicht besser ausdrücken als durch die Bezeichnung »Hirte der
15 Völker«;7 aber die beiden brauchen wir gar nicht zu berücksichtigen.
Wenn die heiligen Schriften nämlich die umfassende Begabung mit
Frömmigkeit, Liebe, Milde und Besorgtheit ausdrücken wollen, sagen
sie dies alles mit dem Begriff»Hirte«. Ja, sie drücken noch mehr damit
aus, als wenn sie »Vater«, »Vorsteher«, »Führer« oder »Wächter«
20 sagten.
Denn der Hirte kümmert sich ja nicht allein um das Anleiten, Regieren
und Dienen, sondern ist gewissennaßen auch Vater. Und man kann
nicht ohne weiteres eine so tiefe Liebe im Herzen eines Vaters finden,
wie unser Herr sie dem Hirten zuschreibt, wenn er sagt: »Der gute
25 Hirte gibt sein Leben für die Schafe« (Joh 10,11). Deshalb ist auch der,
durch dessen Blut wir erhalten werden, mit dem Titel »Hirte« von den
Propheten angekündigt worden; und als er da war, hat er sich selbst so
genannt. 8 Und damit du noch klarer siehst, wie das Amt des Bischofs
beschrieben wird und worin es sich dann mit dem Hirtendienst verglei-
30 chen läßt, beurteile selbst, worauf sich die Wachsamkeit und die Be-
mühungen eines Hirten richten sollen. Niemand würde ja die Recht-
schaffenheit eines Hirten loben, der nicht seine äußerste Sorgfalt auf
ausreichende Weiden für die Herde richten würde, der nicht zuweilen
dafür besorgt wäre, von ihr alle Ungerechtigkeiten und Nachstellungen
35 fernzuhalten beziehungsweise zu beseitigen, und der ihr nicht zuletzt
durch Rufen und Anleitung stets selbst den Weg zeigte, dem sie folgen
soll. Deshalb sollst du dir klarmachen, daß der Bischof seinen Dienst
nur richtig erfüllt, wenn er folgende drei Dinge voller Fleiß und Auf-
merksamkeit beachtet: wie er die Kirche durch die Speise des Wortes
40 ernährt; wie er sie mit Hilfe des Wortes gegen die Angriffe des Satans
7 Horner: Ilias 1,263 U.ö. und Odyssee 3,156 U.ö. Platon: Minos 321c, vgl. Politikos
258e-276e.
8 Siehe z. B. Ez 34,23; Joh 10,11.14.
318 Epistolae Duae
schützt; und endlich, wie er durch die Heiligkeit seines Lebens einen
Weg weist, der fiir diejenigen gangbar ist, die sich angespannt auf das
Reich Gottes richten. C... )
Reicht es dem Herrn nun etwa nicht, daß er den Dienern seiner Kirche
eine so große Sorgenlast aufgebürdet hat? Er befiehlt ihnen auch noch,
die Aufgaben der Hunde zu übernehmen und auszufüllen, die sonst
gewöhnlich die Wächter der Hirten selbst sind! Er will es gerade so
haben, daß dem Dienst des Bischofs jede gemütliche Sicherheit fehlt
und es kein Abschieben von Arbeit gibt.
10 Wir sehen, daß er nicht ohne Grund Apostel erweckt, wenn sie mit so
vielen Gaben den ausrüsten, der auf den Platz eines Hirten hinzu-
gewählt werden soll. Es ist jedenfalls weit gefehlt, daß jeder Beliebige
ein Leitungsamt bekleiden könnte: denn der Herr setzt fiir diesen geist-
lichen Stand überaus strenge Maßstäbe.
Nachdem wir das Leben eines Bischofs genug besprochen haben, wol-
len wir nun aber zeigen, wie sein Lehramt beschaffen ist.
Damit es dir deutlicher vor Augen steht, stellen wir die Aufgabenvielfalt
des Amtes nun einmal zurück und teilen es wie Paulus in zwei Bereiche.
20 Denn wir haben nicht vor, hier ein vollständiges Bild des wahren Hirten
zu entwerfen, wie es eine richtige Disputation über diesen Dienst erfor-
derlich machen würde. Vielmehr wollen wir dich mit wenigen Worten
darauf hinweisen, was fiir eine schwere Last du übernimmst, wenn du
Bischof wirst. Du sagst zwar, daß du einen anderen Dienst tust als den
25 eines kirchlichen Hirten; doch hast du Namen und Rolle eines Bischofs
inne. Also: wir teilen mit dem Apostel den ganzen Bereich des Lehrens
auf. Wenn jemand gemäß der Lehre als Diener der Kirche zur Predigt
eingesetzt ist, soll er dazu befahigt sein, sowohl in heilsamer Lehre zu
ermahnen als auch die Widerstehenden zu überzeugen (Tit 1,9). Du
30 siehst, daß er es mit zwei Arten von Menschen zu tun hat, so daß es fiir
die einen nötig ist, sie zu ermahnen, fiir die anderen, ihre Hartnäckigkeit
zu brechen und zu überwinden.
Und was ist dies anderes, als was schon vorhin zu zeigen war: daß
seine ausdrückliche Absicht und seine Mühe darauf gerichtet sein soll,
35 einerseits die Schafe zu weiden, andererseits die Wölfe wegzujagen?
Diejenigen, die offene Ohren haben fiir die Stimme des wahren und
vorzüglichen Hirten, die bereit und willig sind zuzuhören und sich
davon berühren zu lassen, die sind als Schafe anzusehen. Ganz gleich,
ob sie in ihrer Unkenntnis zu belehren oder in ihrer Trägheit aufzuwek-
40 ken oder in ihrer Schwäche zu ermuntern oder in ihren Fehltritten zu
tadeln oder wegen ihrer Fehler zu ermahnen sind: immer sollst du dich
bemühen, sie mit der einem Hirten eigenen Sorgfalt zu pflegen und mit
Sanfmut zu behandeln.
Andererseits muß man auch ein Auge auf die Wölfe haben, damit sie
320 Epistolae Duae
Nun gut. Da wird irgendwas erörtert aus dem Bereich des Hirtenamtes,
auf dich bezieht es sich eigentlich kaum, du hörst es dir unbekümmert
15 an. Aber jetzt richte ich mich in meinen Ausführungen an dich, um
herauszubekommen, ob noch ein bißchen Gottesfurcht in dir geblieben
ist. Einst wußte ich, daß sie dir nicht völlig abgeht. 10 Ich muß dir
jedoch sagen, daß ich mich nicht genug wundem kann, welchen Un-
verstand du an den Tag legst. Obwohl klar ist, daß untüchtige Hirten
20 von den Urteilssprüchen des Herrn wie von tödlichen Geschossen durch-
bohrt werden, beziehst du nichts davon auf dich. Dabei wären doch
diese Geschosse ganz unwirksam, wenn sie nicht auch dich treffen
würden!
Was ich damit meine? Jetzt wo du Namen und Rang eines Bischofs
25 innehast; wo du alles gemäß Bischofsrecht und Bischofsmacht hand-
habst; wo die Augen aller Leute auf dich gerichtet sind als eine Leitfigur
in religiösen Dingen; wo du dich der Kirche zur Treue verpflichtet hast-
da frage ich dich: mit welchem Vorwand weist du deinen Auftrag weit
von dir? Was deine Bequemlichkeit, die Macht, die Privilegien und die
30 Würde angeht, willst du als Bischof gelten. Wenn man hingegen von dir
fordert, daß du dich in deinem Dienst angemessen einsetzt, willst du
dann leugnen, daß du Bischof bist? Du hast es hier mit Gott zu tun.
Glaube nur nicht, guter Mann, daß du mit solchem Unfug Gott zum
besten halten oder daß du sein Wort mit solchen Späßen verspotten
35 kannst! Schon Menschen ertragen ja die tyrannische Barbarei nicht,
daß einer sich dann als Fürst bezeichnet, wenn er das Volk aussaugt,
aber bei der Regierungsarbeit keiner sein will. Und doch höre ich von
dir und den Märmem deines Standes, daß ihr euch viel auf eure hohen
Namen einbildet. Dabei sind die Pfründen, über die ihr unter dem
40 Bischofstitel verfügt, alles andere als ein Bischofsdienst. Man kann sie
339 [289] Equidem invitus, nec sine pudore facio, ut delicta istaec tua tarn
praecise urgeam: ne accusationem magis instruere videar, quarn monito-
rem agere. Sed quid in re aperta tibi blandiar? Praesertim quum eo
periclitari maxime te cognoscarn, quod in perpetrandis id genus nequitiis,
perinde ac si quiddarn ludicrum foret, tibi delicias facis? Hoc ergo
rursum pronuncio, cui infitiando nequaquarn eris: religionem plebemque
Dei, quarum tibi cura demandata erat, non tua modo ignavia desertas 10
pessum ire, sed improbitate etiarn nequitiaque profligari. Si iure in
militiae desertorem capitaliter leges animadvertunt, quae satis iusta
poena in transfugarn constituatur, qui non loco tantum et ordine suo
cesserit, sed hostiliter etiarn castra ipsa vexarit, quorum in defensionem
iuraverat? 15
( ... )
340 [290] Ad buccinarn excubitor, ad arma pastor. Quid cessas? quid torpes?
quid dormis? Dum animum extemis et nihil ad rem pertinentibus curis
abreptum huc non advertis, onmia strage referta sunt. Tot mortes Do-
341 mino debes, infelix, I toties homicida es, toties reus sanguinis, cuius 20
guttas onmes e manu tua Dominus requiret. Et sustines adhuc tantum
fulmen intrepidus? Non exhorres? non turbaris? non animo et corpore
Zwei Sendschreiben (1537) 323
( ..) Ob einer Bischof ist, entscheidet sich letztlich nicht am Titel und
schon gar nicht an äußerer Würde und Macht. Der Episkopat ist ein
von Gott aufgetragener Dienst für den Menschen, mit dessen Aus-
übung das Bischofsein steht und fällt.
Der Bischof ist für die ihm anvertrauten Menschen verantwortlich,
auch für die Priester in seiner Diözese. Läßt er zu, daß sie abgöttische
10 Messen fe iern, durch den Reliquienkult das Volk ausnehmen und es mit
kirchlichen Machtmitteln tyrannisieren, liefert er die Priester damit
dem Verderben aus! Der Bischofsteht für die kirchlichen Aktivitäten in
seinem Bistum ein; auch wenn er sie nicht persönlich durchführt, hat
er dafür doch Rechenschaft zu geben.
15 Ich tue das wirklich nur ungern und zögernd, so kompromißlos an dein
Verschulden heranzugehen, daß ich dem Anschein nach mehr eine
gerichtliche Anklage erhebe, denn als Warner auftrete. Aber was soll
ich dir in dieser offensichtlichen Angelegenheit schmeicheln? Zumal
ich dich aufs höchste gefährdet sehe, weil du diese Art von Nachläßigkeit
20 begehst, als ob es irgendeine Spielerei wäre, und dir damit Unterhal-
tung verschaffst. Ich sage es also noch einmal, und du wirst es nicht
abstreiten: die Religion Gottes und sein Volk, die deiner Sorge anbe-
fohlen wurden, sind durch deine Untätigkeit nicht bloß alleingelassen
und gehen zugrunde. Sie werden vielmehr durch Unredlichkeit und
25 Schlechtigkeit vernichtet. Wenn nun im Krieg von Gesetzes wegen auf
einen Deserteur die Todesstrafe angewandt wird - welche gerechte
Strafe gilt dann erst einem Überläufer, der nicht bloß seinen Posten
und seine Abteilung verläßt,1I sondern auch noch als Feind gegen die
Heimatstadt vorgeht, deren Verteidigung er gelobt hatte? ( ... )
30 ( ..) Selbst der große Apostel Paulus wußte sich unter dem Weheruf
Gottes für den Fall, daß er seinen Auftrag nicht ausführte (1 Kor 9,16).
Wie wird es dann erst um einen einfachen Bischof stehen, der die
Gefahr für die ihm anvertraute Herde sieht und nicht reagiert?
Zur Posaune, Wächter; zu den Waffen, Hirte! Was zögerst du? Was
35 bleibst du träge? Was schläfst du? Solange dein Verstand durch neben-
sächliche Dinge und Angelegenheiten abgelenkt ist, die nichts zur
Sache tun, wendest du dich nicht der Sache zu, und alles geht gänzlich
zugrunde! Unseliger, du bist dem Herrn fiir so viele Tote verantwort-
lich, du bist ein so vielfacher Mörder, so oft hast du dir Blutschuld
40 aufgeladen: der Herr wird jeden Blutstropfen aus deiner Hand zurück-
fordern! Und du bleibst unerschrocken bei solchem Donnerschlag? Du
11 Calvin spielt mit locus und ordo als militärischen wie auch kirchlichen Fach-
begriffen: (Pfarr-)Stelle und (geistlicher) Stand.
324 Epistolae Duae
343 [293] Istudne, quaeso, docere est, quum apud rusticanos homunciones,
natura non valde argutos, prava etiarn institutione hebetatos, habenda
est oratio, seritentias per se hominum ingenio difficiles, sie perplexis
aenigmatibus implicare, quo in illis intelligendis Oedipus quoque ipse 20
laboret? Narn si quid dicere eiusdmodi instituunt, unde sibi aliquid
negotii molestiaeve fore suspicentur, illud velut conceptis verbis obscu-
rissime effantur: ut si discrimen immineat, tergiversatione semper elabi
possint. Atque id potissimum iis in rebus usu venit, quas explicatissime
et tradi et enarrari christianae ecclesiae referebat: quandoquidem ut 25
Zwei Sendschreiben (1537) 325
(..) Das dem Hirten durchaus zustehende Einkommen darf der nicht
beanspruchen, der nicht als Hirte wirkt. Wer sich an der Herde ver-
greift, wird dafür von Gott furchtbar zur Rechenschaft gezogen wer-
25 den: Calvin zitiert Ez 34,1-10. Laschheit undjinanzielle Unredlichkeit
weisen die Bischöfe als falsche Hirten aus. Und ganz zu Unrecht geben
sie sich als Lehrer des Volkes aus: sie vernebeln mehr als sie klar-
machen.
30 Also bitte: da muß man den armen schlichten Leuten, die schon von
Natur aus nicht sonderlich schlau sind und die durch verkehrten Unter-
richt weiter verdummt werden, eine Rede halten; in der füllt man die
Gedanken, die für den menschlichen Geist an sich schon schwierig
sind, derartig mit verworrenen Rätseln, daß auch Ödipus selbst bei der
35 Lösung Schwierigkeiten hätte: 12 heißt das etwa Lehren? Denn wenn sie
etwas zu sagen beginnen, von dem sie befürchten, daß es ihnen etwas
Ärger oder Mühe bringen könnte, dann sprechen sie es wie feierliche
Worte völlig unverständlich aus; und wenn eine Gefahr droht, können
sie stets durch Ausflüchte entrinnen. Dies geschieht dort am meisten,
40 wo es um Dinge geht, bei denen es darauf ankäme, daß sie der christli-
chen Gemeinde in der allerdeutlichsten Weise überliefert und ausgec
12 In der griechischen Sage kann Ödipus als einziger das Rätsel der Sphinx lösen.
Siehe z.B. Sophokles: Oidipus Tyrannos, 391-399.
326 Epistolae Duae
347 [297] Neque vero reeipi debet, quod obieetare subinde solent: His 15
superstitionum morbis non alia melius ratione purgari hominum ani-
mos posse, quam si molliter initio et paulo induigentius attreetentur,
donee ferendis mali remediis assueverint, et quodammodo sint eonfir-
mati. Itaque, nisi quis moderationem adhibeat, quae eorum teneritudini
nonnihil eoneedat, exorituras sine ullo profeetu graves offensiones, 20
odiumque adversus Dei veritatem aeerbius exarsurum.
Id sane nemo est qui non Iibenter illis eonsulat, nedum permittat: quin
doetrinam omnem suam sie temperent, ut rationem semper habeant
tantae imbeeillitatis, quanta nune populum fere laborare eonstat: quin
praeteritis interdum minutis rebus, apprime neeessaria urgeant: quin 25
emendandis maioribus delietis insistentes, ad exiguos quosdam naevos
Zwei Sendschreiben (1537) 327
legt werden. Denn sobald eine Sache entscheidend zur Befestigung des
Reiches Christi beiträgt, ist sie dem Satan überaus verhaßt und wird
durch sein Wüten aufs heftigste angegriffen. Deshalb predigen sie so
vom Glauben, daß sie dem Kleinglauben des Volkes keineswegs mehr
aufhelfen, als wenn sie schwiegen, zeigen Christus so als Vermittler,
daß man sich ständig an die Heiligen klammert. Die Gnade Gottes
predigen sie so, daß das Hirngespinst von der eigenen, verdienstlich
erworbenen Gerechtigkeit immer noch weiterbesteht. Die Autorität des
Gotteswortes preisen sie auf eine Weise an, daß erfundene Menschen-
10 dichtungen mehr gelten. Den einen Gott anzubeten lehren sie so, daß
sie denselben Götzendienst wie vorher zurücklassen. Über die wahre
Religion disputieren sie in einer Weise, daß sie damit niemanden aus
der so großen Schar des gottlosen Aberglaubens losreißen. Schließlich
bringen sie die Wahrheit dergestalt vor, daß die Lüge stets unversehrt
15 dasteht. Bloß fort mit jener zögerlichen Verschlagenheit und jener
gezierten Verworrenheit! Fort von dem, der erklärt, er übe das Lehramt
aus: dessen höchste Tugend ist es nämlich, sich selbst dem Bildungs-
grad der Zuhörer anzupassen!
(. .) Was wirklich gelehrt werden muß, ist durch die Apostel klarge-
20 stellt. Statt dessen sehen die Bischöfe tatenlos zu, wie mitten in den
kirchlichen Mißständen der Satan selbst wütet. Die Predigten setzen
diesem Wüten nichts entgegen; sie sind harmlos gehalten, weil der
Prediger sich nicht in Gefahr bringen will. Statt die Menschen rechtes
Beten zu lehren, bringt man ihnen liebloses Herunterleiern von Lita-
25 neien bei. Statt rechten Gottesdienst zu lehren, verdummt man die
Menschen durch oberflächliche Zeremonien. Indem man abergläubi-
sche Praktiken zuläßt und in der Messe Götzendienst treibt, führt man
das Volk sehenden Auges ins Verderben.
30 Man muß wirklich nicht akzeptieren, was sie immer wieder zu entgeg-
nen pflegen: man könne die Menschenseelen von dieser Krankheit des
Aberglaubens am besten so heilen, daß man sie anfangs nur zart und
ein wenig nachsichtiger anrührt, bis sie sich daran gewöhnt haben,
Heilmittel gegen das Böse zu bekommen, und gewissermaßen darin
35 befestigt sind. Wenn jemand keine Zurückhaltung walten lasse, die der
Zartheit der Hörer einiges zugesteht, werde deshalb ganz unnötig schwe-
rer Widerwille aufkommen und der Haß gegen Gottes Wahrheit umso
schärfer emporlodern.
Gewiß gibt es niemanden, der ihnen nicht gern zugesteht, daß sie all
40 ihre Lehre so maßvoll anwenden, daß sie dabei stets eine klare Vorstel-
lung von der großen Schwäche haben, die das Volk gewöhnlich plagt,
ebenso, daß sie mitunter das Unbedeutende übergehen, das besonders
Notwendige betonen; weiterhin, daß sie zeitweise vor irgendwelchen
kleinen Schönheitsfehlern die Augen schließen, während sie darauf
328 Epistolae Duae
359 [308] Qua tarnen exeusatione eulpae partem nonnulli depreeentur, prae-
stereundurn non est. Narn etsi ingenue fatentur, reprehensione se non
penitus earere, minori tarnen publieo malo eeclesiis se praeesse dieti- 15
tant, quarn si deteriores illis praesiderent (quales sunt iurati Christi
Zwei Sendschreiben (1537) 329
Aber ich sehe nicht, was dich davon abhält, daß du dich von diesem
völlig falschen Lebensweg zurückziehst, auf den dich Satan und nicht
der Herr durch seinen Ruf gebracht hat. Um es klipp und klar zu sagen:
Du hörst, daß du entweder das zu tun hast, was von einem Bischof
verlangt wird, oder aber den Bischofsstuhl verlassen mußt. ( ... )
(11. Schluß: Auf dem Weg des Herrn beständig etwas weiterkommen)
14 Mit dem hier entworfenen Bild vom langsamen, aber beständigen Vorwärtskom-
men wird die Institutio von der folgenden Ausgabe an (1539) das Leben in der
Heiligung beschreiben: vgI. Inst. III,6,5 (=OS IV, I 50,22-39).
334 Epistolae Duae
Apoc.3
Scio opera tua: quia nomen habes quod vivas, et mortuus es. Esto 10
vigilans et confirma caetera quae moritura erant. Non enim inveni
opera tua plena coram Deo.
Ibidem.
Scio opera tua: quia neque frigidus es neque fervidus. Utinam frigidus
esses, aut fervidus. Itaque quoniam tepidus es, et nec frigidus nec 15
fervidus, incipiam te evomere ex ore meo.
Zwei Sendschreiben (1537) 335
gen, daß wir diese durch Schmeichelei und Hätschelei noch aufbauen;
aber die der Herr als seine Diener anerkennt, die weisen auch wir nicht
aus unserer Gemeinschaft.
Bloß: gibt es in dir denn etwas derartiges? Du, dessen Leben kein
bißchen an christlicher Berufung ausweist und das in seiner gesamten
Ausrichtung vom Weg des Herrn abgewichen ist? Denn solange du das
Blut der Armen durch Rauben und Plündern aussaugst und anschlie-
ßend schwelgerisch vergießt; solange du die Stelle des Hirten bean-
spruchst und die Schafe dabei auf höchst nichtsnutzige und treulose
!O Weise zugrunde richtest; solange du zu der Schar von Menschen ge-
hörst, die Christus als Räuber und blutrünstige Plünderer seiner Kirche
bezeichnet; solange magst du von dir halten, was du willst: fiir mich
wirst du weder ein guter Mensch noch ein Christ sein. Lebewohl.
Offb 3,lf.
Ich weiß deine Werke, daß du den Namen hast, du lebest und doch tot
bist. Werde wach und stärke das übrige, das sterben will!
Offb 3,15f.
Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. 0 daß du
kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch
kalt, will ich dich ausspeien aus meinem Munde.
8. Antwort an Kardinal Sadolet
(1539)
Zu Ostern 1538, am 23. April, erhielten Calvin, Farel und ihr blinder
Amtsbruder Corault aufgrund eines Mehrheitsbeschlusses des Großen
Rates den Befehl, Genf innerhalb von drei Tagen zu verlassen. Die
schweren Spannungen, die zu dieser Ausweisung führten, hatten sich
bereits ein Jahr zuvor am Widerstand der Genfer Bürger entzündet, die
kirchlichen Artikel von 1537, eine Zusammenfassung des ersten Gerifer
Katechismus in Form eines Bekenntnisses3, zu unterschreiben. Hinzu
F.W. KAMPSCHULTE, Johannes Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf,
Bd. I, Leipzig 1869, 354f.
2 »Wer die Schönheit und Gewalt seines Stiles kennen lernen will«, urteilte
Alexander Morus (1616-70), ein im Streit um die Dordrechter Beschlüsse
bekannt gewordener Genfer Theologe, »der lese seine Antwort an Sadolet. Das
Herz wird ihm dabei im Innersten bewegt werden«, zit. nach STÄHELlN, 295.
3 »Confession de la foy, laquelle tous bourgeois et habitans de Geneve et subiects
du pays doibvent iurer de garder ... «, CO 22,85-96. E. SAXER weist in der
betreffenden Einleitung (in diesem Band, 109ff) darauf hin, daß weder der
Zusammenhang dieser »Confession« mit dem Genfer Katechismus, noch die
Autorschaft Calvins unbestritten sind.
338 Antwort an Kardinal Sadolet (1539) - Einleitung
kam, daß der 1538 neu gewählte Magistrat über die Köpfe der Predi-
ger hinweg die Berner liturgischen Bräuche einzuführen beschloß, was
Calvin als einen schweren Eingriff in die von ihm geforderte Selbstän-
digkeit der Kirche wertete. Aus diesem Grund lehnte er, obwohl es
auch nach seiner Auffassung um an sich bedeutungslose Einzelheiten
ging, zusammen mit Farel und Corault jede Unterwerfung ab. Der Rat
reagierte mit einem Predigtverbot, an das sich die Pfarrer nicht hiel-
ten. Mehr noch: sie weigerten sich, das traditionell an Ostern gefeierte
Abendmahl auszuteilen, um es angesichts der Unruhen und Spannun-
gen im Volk nicht zu entweihen. 4 Auch eine kurz darauf in Zürich
einberufene Synode und die Einsprache Berns konnten die Amtsenthe-
bung nicht mehr rückgängig machen. Farel ging als Pfarrer nach
Neuchatel, Calvin wurde von Bucer nach Straßburg berufen.
Die Quellen aus den beiden folgenden Jahren sind spärlich und ent-
werfen ein düsteres Bild vom Genfer Magistrat und erst recht von der
»bekannten Inforiorität« des nachrückenden Klerus. 5 Am 28. März 1539
verlangte eine große Anzahl von Bürgern vor dem Rat die förmliche
Lösung von dem Eid, den sie auf Glaubensbekenntnis und Kirchenord-
nung hatten schwören müssen. Schon im November 1538 stellte das im
Zuge der Reformation gegründete College de Rive seinen Lehrbetrieb
ein. Seine Leiter, A. Saunier und M Cordier, hatten sich geweigert,
beim Abendmahl nach Berner Ritus zu assistieren und folgten ihren
ehemaligen Pfarrern in die Verbannung. 6
In dieser Situation der Auflösung schien es für Rom ein Leichtes zu
sein, das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Papst Paul 111 (1534-
49) ernannte den vertriebenen Genfer Bischof Pierre de la Baume zum
Kardinal, um ihn durch diese Auszeichnung den Bürgern erneut zu
empfehlen. 7 Gleichzeitig berief er im Frühjahr 1539 eine Ko~ferenz
nach Lyon, die nach Wegen suchen sollte, die »alte Religion« wieder
in Genf zu etablieren. 8 Jacob Sadolet, Kurienkardinal und Bischof von
Carpentras in der päpstlichen Herrschaft Avignon, wurde mit einem
Schreiben an die Gerifer Bürgerschaft beauftragt,9 das dem Rat am 29.
4 STÄHELIN, 1,15Iff., sowie: WENDEL, 38ff.; CADIER, 96ff.
5 J. GABEREL, Histoire de I'Eglise de Geneve, Bd. I, Genf 1858,300, charakteri-
siert die neuen Pastoren als »völlig bar jeder christlichen Würde«, »dem Pan-
theismus zugeneigt«, »ohne jede rednerische Begabung, so daß niemand zur
Kirche geht, wenn er (sc. ein gewisser Bemard) mit der Predigt an der Reihe
ist«, »respektabel, aber ohne Autorität, Mißbrauch und Skandal zurückzu-
drängen«.
6 GABEREL, a.a.O. I, 305f. - Man vergleiche zur Situation auch Calvins Brief an
Fare1 vom 24. Oktober 1538, CO 1O/2,273ff.
7 BESSON, Memoire po ur I'Histoire ecclesiastique des dioceses de Geneve,
Tarantaise etc., Nancy 1795, 64f. Vgl. GABEREL, I,307 sowie HERMINJARD, V,
266 (Anm. 24).
8 Als Teilnehmer nennt GABEREL I, 307, die Kardinäle de Toumon, Sadolet und
de la Baume, die Erzbischöfe von Wien, Lyon, Besanyon und Turin sowie die
Bischöfe von Langres und Lausanne.
9 Bei der Abfassung ging ihm sein (britischer) Kollege Reginald Pole zur Hand,
Contarini hat es vor der Veröffentlichung begutachtet (P. BARTH, Praefatio,
OS I,439).
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) - Einleitung 339
2. Kardinal Sadolet14
10 Der Vorschlag kam ausgerechnet von einem ehemaligen Gegner Calvins, dem
Vorsitzenden des Bemer Ministerius P. Concenus (peter Kunz), OS 1,439.
1I Briefan Farel, August 1539, CO 10/2,361: »De responsione non eram sollicitus,
sed tandem me compluerunt nostri«. VgI. HERMINJARD, V, 373.
12 M. Luther, Brief an M. Bucer vom 14. Oktober 1539, WAB 8,569.29-31:
»Lebe wohl und grüße Dr. Joh. Sturm und Johannes Calvin ehrerbietig, deren
Bücher ich mit einzigartigem Vergnügen gelesen habe.« 1545 schreibt M.
Crodelius, der Rektor der Schule von Torgau an Calvin: » ... dem verehrten
Vater Luther hat Dein Antwortschreiben an Sadolet über alle Massen gefallen
und er rühmt es wie sonst nichts« (CO 12,40). - VgI. Calvins Brief an FareI
vom 20. November 1539, CO 10/2,429, HERMINJARD, VI,I30.
13 VgI. GABEREL, a.a.O. I, 313.
14 Zu der folgenden Skizze vgI. H. BENRATHS Artikel in der Realenzyklopädie fur
protestantische Theologie und Kirche, Bd. XVII, Leipzig 1906 (3. Aufl.), 327ff.,
sowie W. REINHARD, Jacopo Sadoleto, in: E. ISERLOH (Hg.), Katholische Theo-
logen in der Reformationszeit Bd. 4; KLK 47, Münster 1987,29-42.
340 Antwort an Kardinal Sadolet (1539) - Einleitung
19 REINHARD, a.a.O., 34, zitiert die erstaunliche Feststellung aus dem Römerbrief-
kommentar Bucers (1536): »Sadoleto lehrt dasselbe wie wir, wie Paulus und
die ganze Heilige Schrift.« Vgl. im übrigen: 1. BONNET, La tolerance du Cardinal
Sadolet, in: Bulletin, Societe de I'histoire du protestantisme fran~ais 35 (1886),
481-495. 529-543. Dieses positive Urteil ist vor allem durch CH.A. SAUG,
Vollständige Historie der Augsburgischen Konfession, Bd. II, Halle 1733, 62.
248. u.ö., in die protestantische Geschichtsschreibung eingegangen.
20 lac. Sadoletus ad Melanchthonem. Epistolarum Lib. VII, n. 1587, CR 3,379-
383. Melanchthon hat auf diesen Brief nicht geantwortet, nachdem er Sadolets
Namen unter einem päpstlichen Verbot der »Colloquia« von Erasmus sah: W.
FRIEDENS BURG, Giovanni Morone und der Brief Sadolets an Melanchthon, in:
ARG 1, 1904,372-380.
21 lacobi Sadoleti Romani Cardinalis Epistola ad Senatum Populurnque Geneven-
sem, CO 5,369-384; OS 1,441-456. Vorausgegangen ist diesem Brief der Ent-
wurf einer Schrift »Ad principes populosque Germaniae exhortatio gravissi-
ma« (1538), die Sadolet selbst aus unbekannten Gründen nicht veröffentlichen
ließ.
22 Epistola, CO 5,380f.; OS 1,452f.; vgl. REINHARD, a.a.O. 39.
342 Antwort an Kardinal Sadolet (1539) - Einleitung
3. Calvins Argument
Calvin läßt sich in seiner Erwiderung auf nahezu alle Einwände und
Unterstellungen Sadolets ein, konzentriert sie aber mit einer für sein
Verständnis der Reformation charakteristischen Wendung auf einen
einzigen Punkt: Warum brauchen wir eine Erneuerung der Kirche?
Was die Institutio von 1536 als kurz gefaßte Summe des evangelischen
Glaubens darstellt, das wird hier in prägnantester Form noch einmal
auf seinen Kern zurückgeführt und in Gestalt von Lehre, Sakrament
und Disziplin als dreifacher Grund der einen Kirche entfaltet. Der
einen Kirche! Calvin hat den Vorwurf der Kirchenspaltung sehr ernst
genommen und - man kann sich des Eindrucks nicht erwehren - mehr
unter ihm gelitten als irgendein anderer der Reformatoren. 23 »Wenn
das wahr sein sollte«, gesteht er Sadolet zu, wenn wir es unternommen
hätten, »die Braut Christi zu zerreißen, ... dann gälten wir mit Recht
Euch und der ganzen Welt für verloren. «24
Was also macht die Einheit aus? Calvin begreift sie als das Attribut
einer Kirche, die »in Gott ihren Ursprung nimmt und in ihm ihr Ziel
findet«, und legt damit den radikalen Sinn der von Sadolet ihm entge-
gengehaltenen Stelle Joh 17,21 frei. Mit der »einen« Kirche, die ledig-
lich ihren organisatorischen und lehrmäßigen Zusammenhalt zu ge-
währleisten weiß - auch wenn sie sich als Weltkirehe etablierte -, hat
das theologische Prädikat nichts zu tun. Es wird - das ist die neue
theologische Einsicht - an die hörbare Stimme Christi und an deren
gestaltende Kraft gebunden und reicht deshalb grundsätzlich weiter
als jeder institutionelle Zusammenschluß. 25 Es faßt die Bestimmungen
4. Die Editionen
Kirche uneins zu sein, bestreiten wir.« (OS 1,466, in dieser Ausgabe 368)
Dementsprechend erklärt Calvin vor Karl V: »Wir haben uns nicht von der
Kirche geschieden und stehen nicht außerhalb ihrer Gemeinschaft.« (CO 34,519).
26 Vgl. den Hinweis auf Chrysostomos OS 1,465 (in dieser Ausgabe 366), sowie
LOCHER, a.a.O., 25.
344 Antwort an Kardinal Sadolet (1539) - Einleitung
Edition durch den Zusatz (hinter dem Wort »conatur«) »ad exemplar
ipsum Sadoleti recognita.« sowie die Verlagsangabe: »Genevae Apud
Michelem Sylvium. MD.xL.«
Christian Link
Übersetzungen:
Literatur:
Die folgende Übersetzung ist eine Bearbeitung der Version von Mat-
thias Simon (1924). Sie hält sich an den lateinischen Text von 1539 in
der Fassung von OS I Die in < ) gesetzte Gliederung stammt vom
Bearbeiter.
Ioannes Calvinus
Iacobo Sadoleto Cardinali
Salutem
OS I, 457 [CO 5, 385] Quum in magno doctorum hominum proventu, quos tulit
nostra haec aetas, id sis, quum excellentis doctrinae tuae, tum vero
insignis facundiae merito assequutus, ut te inter paucos colant ac
suspiciant quicunque videri volunt bonarum artium studiosi, invitus
equidem facio ut nomen tuum publice inter eruditos ista, quam a me
audies, expostulatione perstringam. Neque vero eram id facturus, nisi
fuissem in hauc arenam pertractus magna necessitate. Non enim ignoro, 10
vel quantae improbitatis foret ulla cupiditate incitari ad eum virum
lacessendum, qui de bonis disciplinis sit optime meritus: vel quam id
quoque sit futurum odiosum apud omnes literatos, si sola importunitate
percitum, nulla autem iusta causa impulsum fuisse intelligerent, ut
stylum in eum stringerem, quem amore dignum et honore propter 15
eximias dotes non sine causa iudicant.Verum ubi consilii mei rationem
exposuero, non modo me omnes a culpa liberabunt, sed nemo erit, ut
spero, qui non mihi concedat, causam hanc, quae a me suscipitur, nullo
modo fuisse mihi deserendam, nisi officio meo turpiter deesse vellem.
Literas non ita pridem scripsisti ad senatum populumque genevensem, 20
quibus tentasti eorum animos, an sub pontificis romani iugum, quod
semel excusserunt, reduci se sustinerent. In iis literis, quoniam non
expediebat eos gravius vulnerare, quorum favore tibi opus erat ad
causam obtinendam, fecisti quod erat boni rhetoris. Multis enim
blanditiis eos demulcere conatus es, quo in tuam sententiam pelliceres. 25
Quidquid erat invidiae et acerbitatis, in eos derivasti, quorum opera id
factum erat, ut ab illa tyrannide defecissent. Atque hic, si Deo placet,
Johannes Calvin (entbietet)
Kardinal Jacob Sadolet
(seinen) Gruß
(Persönliche Einleitung)
Der Brief ist im Corpus Reformatorum (CO V,369-384) auf den 18. März 1539
(XV. Calend. Aprilis, M.D.XXXIX.) datiert. Einen ähnlichen Versuch hatte
Sadolet am 19. Juni 1937 Melanchthon gegenüber unternommen: das Schrei-
ben steht in CR III,379-382.
348 Ad Sadoleti Epistolam
plenis velis inveheris in eos, qui urbem illam sub evangelii praetextu,
ad istam, quam deploras, religionis et ecclesiae conturbationem malis
artibus perpulerunt. Ego autem, Sadolete, ex his, quos tam hostiliter
incessis ac laceras, unum me esse profiteor. Tametsi enim [386] consti-
458 tuta iam reli-I gione, ac correcta ecclesiae forma, illuc vocatus fui: quia
tamen quae a Farello ac Vireto gesta erant, non modo suffragio meo
comprobavi, sed etiam, quantum in me fuit, conservare studui ac confir-
mare, separatam ab illis causam habere nequeo. Quod si tamen priva-
tim abs te laesus essern, facile profecto id condonarem tuae doctrinae
ac literarum honori. Sed quum ministerium meum, quod Dei vocatione 10
fundatum ac sancitum fuisse non dubito, per latus meum sauciari videam,
perfidia erit, non patientia, si taceam hic atque dissimulem.
Doctoris primum, deinde pastoris munere in ecclesia illa functus sumo
Quod eam provinciam suscepi, legitimae fuisse vocationis iure meo
contendo. Quanta autem fide ac religione administraverim, non est cur 15
multis nunc verbis ostendam. Perspicaciam, eruditionem, prudentiam
ac dexteritatem mihi nullam arrogabo, ac ne diligentiam quidem. At
certe ea sinceritate, qua in opere Domini decuit, me illic versatum esse,
probe coram Christo iudice meo, et omnibus ipsius angelis, mihi con-
scius sum, et boni omnes eius rei luculentum mihi testimonium reddunt. 20
Hoc ergo ministerium ubi a Domino esse constiterit (quemadmodum
certe liquido constabit, ubi audita fuerit causa) si abs te proscindi ac
infamari tacitus feram, quis non eiusmodi silentium praevaricationis
darnnet? Nemo ergo iam non videt, me summa officii mei necessitate
constringi, neque posse evadere, quin me criminationibus tuis opponam, 25
nisi quam mihi actionem Dominus demandavit, manifesta perfidia dese-
rere ac prodere velim. Quod autem genevensis ecclesiae procuratione
sum in praesentia explicatus, ea res efficere non debet, quin patema
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 349
2 GuiIlaume Farel (1489-1565) brach 1521 mit dem Papsttum. Er erhielt nach
der Berner Disputation (1528) den Auftrag, die gesamte Westschweiz zu refor-
mieren. Er darf als derjenige gelten, der die Reformation in Genf eingeführt
und als erster den Boden abgesteckt hat, auf dem Calvin dann weitergearbeitet
hat.
3 Pierre Viret (1511-1571) wurde 1530 Mitarbeiter Farels. Als Pfarrer und Profes-
sor der Akademie von Lausanne übernahm er die geistliche Leitung der waadt-
ländischen reformierten Kirche. Nach seiner Verbannung durch die Berner
Obrigkeit ging er nach Südfrankreich und wurde von Jeanne d'Albret zum
Aufbau der reformierten Kirche von Navarra berufen.
350 Ad Sadoleti Epistolam
bin,4 so darf das noch nicht dazu fUhren, daß ich sie nicht weiterhin mit
väterlicher Liebe umsorgte; denn hat Gott mich einmal an ihre Spitze
gestellt, so hat er meine Treue für immer an sie gebunden. Wohlan
denn, wo ich sehe, wie dieser Kirche, deren Heil mir Gott über alles
auf die Seele gebunden hat, ernsthafteste Nachstellungen bereitet wer-
den und ihr schwere Gefahr droht, wenn sich niemand dazwischen
wirft, wer darf mir da den Rat geben, ich solle - schweigend und in
Sicherheit - ihren Tod abwarten? Was für Sorglosigkeit - ich bitte
Euch - gehörte denn dazu, tatenlos und sozusagen gähnend beim Un-
10 tergang eines Menschen einzunicken, dessen Leben zu schützen und zu
erhalten man auf dem Posten stehen soll! Doch jedes weitere Reden
dürfte hier ganz überflüssig sein, da Ihr selbst mich aller Schwierigkeit
enthebt. Denn wenn schon eine nicht gerade nahe Nachbarschaft5 ein
solches Gewicht für Euch hat, daß Ihr Eure freundliche Gesinnung den
15 Genfern gegenüber öffentlich bezeugen wollt und dabei ohne Beden-
ken mich und meinen Ruf mit solchem Ungestüm angreift, dann wird
man mir schon aus menschlichem Anstand das Recht zugestehen, in
der Sorge für das öffentliche Wohl einer Bürgerschaft, die mir durch
ein ganz anderes Recht als das der Nachbarschaft anbefohlen ist, Euren
20 Plänen und Anläufen ins Wort zu fallen, die ohne Zweifel auf ihr
Verderben zielen. Überdies - um auf die Genfer Kirche einmal so gut
wie keine Rücksicht zu nehmen (obwohl ich mir die Sorge um sie
gewiß nicht weniger vom Hals schaffen kann als die um meine eigene
Seele), und so von diesem Eifer ganz unbeeinflußt zu sein - : dürfte ich
25 es denn unbesehen hinnehmen, wenn gleichwohl mein Dienst (der mir,
wie ich weiß, doch von Christus aufgetragen ist und für den ich darum
im Notfall mit dem eigenen Blut einstehen muß) zu Unrecht dem Spott
preisgegeben und geschmäht wird?
So jedenfalls müssen nicht nur billig denkende Leser urteilen, sondern
30 auch Ihr selbst, Sadolet, müßt bereitwillig anerkennen, daß mich viele
- und was für berechtigte! - Gründe dazu nötigen, in diesen Kampf
einzusteigen, wenn anders die schlichte, bescheidene Verteidigung mei-
ner Unschuld gegen Eure verleumderischen Anschuldigungen ein Kampf
genannt werden darf. Meiner Unschuld, sage ich, obgleich ich meine
35 Sache nicht fUhren kann, ohne zugleich meine Amtsbrüder mit einzu-
schließen, da ich mit ihnen in allen Überlegungen, die die Gemeinde-
leitung betreffen, in einer Weise verbunden bin, daß ich gerne auf mich
nehme, was immer man über sie gesagt haben mag. Die Gesinnung
aber, in der ich diesen Streit mit Euch aufnehme, möchte ich - es ist
40 der Mühe wert - auch in seinem ganzen Verlauf unter Beweis stellen
und bewähren. Ich will dafür sorgen, daß jedermann erkennt, wie ich
4 Calvin und Farel mußten auf Betreiben des neugewählten Genfer Magistrats zu
Ostern 1538 innerhalb von drei Tagen die Stadt verlassen. Farel ging kurz
darauf nach Neuchätel, Calvin wurde von Bucer nach Straßburg berufen, von
wo aus dieser Brief geschrieben ist. VgJ. C. A. CORNELIUS, Die Verbannung
Calvins aus Genf im Jahr 1538, München 1886.
5 Genf ist von Carpentras, dem Bischofssitz Sadolets, immerhin gute 300 km
entfernt.
352 Ad Sadoleti Epistolam
Euch nicht nur durch Qualität und Recht der Sache, durch ein gutes
Gewissen, ein lauteres Herz und aufrichtige Rede weit überlegen bin,
sondern mich auch beträchtlich maßvoller erzeige, indem ich Milde
und Bescheidenheit nicht außer acht lasse. Es wird freilich mancherlei
geben, was Euren Übermut sticht oder gar schwer verletzt. Doch will
ich mir Mühe geben, daß kein zu rauher Ton über meine Lippen
kommt, es müßte denn die Ungerechtigkeit Eurer Anklage, die mich
zuerst angriff, oder der Zwang der Sache selbst ihn mir abpressen.
Doch selbst dann soll diese Schroffheit ein bestimmtes Maß an Hitze
10 und Leidenschaft nicht überschreiten oder auch nur mit einem Schein
von Unverschämtheit aufrichtige Gemüter beleidigen.
Nun zum Anfang! Wenn Ihr es mit irgendeinem anderen zu tun hättet,
15 so würde der ohne Zweifel bei einem Punkt einsetzen, den ich be-
schlossen habe, ganz zu übergehen. Er würde sich nämlich Euren
Entschluß zu schreiben in allen Einzelheiten vornehmen, bis offen zu
Tage träte, daß Ihr etwas ganz anderes mit Eurem Brief beabsichtigt
habt, als was Ihr vorgebt. Denn hättet Ihr zuvor nicht einen beträchtli-
20 chen Vertrauensvorschuß in Eure Lauterkeit geschaffen, müßte es Ver-
dacht erregen, daß Ihr als ein Fremder, der bis dahin keinerlei engere
Beziehung zu den Genfern hatte, nun plötzlich ein solches Wohlwollen
gegen sie bezeugt, von dem bisher nicht das leiseste Zeichen zu spüren
gewesen ist: und das als ein Mann, der beinahe von Kindesbeinen an
25 voll römischer Schliche steckt, wie man sie eben jetzt an der römischen
Kurie, dieser Werkstatt aller List und Ränke, lernt, ein Mann im Schoß
des Clemens6 groß geworden, jetzt auch noch zum Kardinal ernannt? -
Merkmale genug um Euch auf unserer Seite bei fast allen verdächtig zu
machen. In der Tat, Eure Schmeicheleien, womit Ihr Euch bei dem
30 Gemüt schlichter Leute meint Eingang verschaffen zu können, ließen
sich von einem nicht geradezu dummen Kopf mühelos widerlegen.
Was aber viele vielleicht zu glauben geneigt sind, will ich Euch nicht
zuschreiben, weil es mir zu einem Mann geschliffener wissenschaftli-
cher Bildung nicht zu passen scheint. Ich will also mit Euch verhan-
35 deIn, ganz als hättet Ihr in vornehmster Gesinnung an die Genfer
6 Sadolet begab sich schon unter Papst Alexander VI nach Rom, um unter dem
Mäzenatentum der Kardinals Oliviero Caraffa seine philosophischen Studien
zu vollenden, und trat dort zum geistlichen Stand über. Erst 1523 wurde er -
inzwischen Bischof von Carpentras - von Papst Clemens VII (1523-1534) als
dessen enger Mitarbeiter nach Rom zurückgerufen.
7 Dezember 1535 durch Papst Paul III. Im Oktober 1536 verließ Sadolet darauf-
hin sein Bistum erneut, um in Rom zunächst an der Arbeiten der Reform-
kommission teilzunehmen, aus der das wegen Hinneigung zur »Ketzerei« um-
strittene (1538 per Indiskretion gedruckte) Gutachten »Consilium de Emendenda
Ecclesia« hervorgegangen ist.
354 Ad Sadoleti Epistolam
Weil es Eurer Sache nun aber auch höchst dienlich war, unseren Wor-
ten alle Glaubwürdigkeit abzusprechen, arbeitet Ihr zunächst darauf
hin, allen Eifer um ihr Seelenheil, den sie an uns wahrnehmen, durch
35 üble Verdächtigungen herabzusetzen. Nach Euren Sticheleien hätten
wir daher keine andere Absicht gehabt, als unsern Ehrgeiz und unsere
Habsucht zu befriedigen. 10 Da Ihr also ein solches Geschick beweist,
uns einen dunklen Fleck anzuheften, damit die Leser, in haßerfiillter
gejagt. Keiner hat in all unserem Reden und Tun ein Verdachtsmoment
für den Ehrgeiz wahrgenommen, den Ihr uns unterstellt, vielmehr hat
jeder an unzweideutigen Merkmalen erkannt, wie sehr wir ihn von
ganzem Herzen verabscheuen. Ihr habt also keinen Grund, darauf zu
hoffen, sie ließen sich von einem einzigen bloßen Wort so betören, daß
sie einer vagen Verleumdung mehr Glauben schenkten als den vielen,
so einwandfreien Erfahrungen, die sie mit uns gemacht haben.
Doch reden wir lieber über Tatsachen als über Worte! Haben wir nicht
10 dem Magistrat die Schwertgewalt und andere Stücke der bürgerlichen
Gerichtsbarkeit wieder zurückgegeben, die ihm unter der Maske der
Unantastbarkeit Bischöfe und Priester betrügerisch entrissen und sich
selbst angemaßt haben? Haben wir nicht alles, was sie für sich selbst in
Anspruch genommen haben - Instrumente zu verurteilen und den Ehr-
15 geiz zu befriedigen - verabscheut und uns bemüht, es abzuschaffen?
Wenn Aussicht bestand hochzukommen, warum versuchten wir denn
nicht in kluger Verstellung, all dies gleichzeitig mit dem Amt der
Kirchenleitung auf uns übergehen zu lassen? Und warum haben wir
umgekehrt die Beseitigung dieser ganzen Herrschaft oder richtiger:
20 dieses Henkeramtes, das man ohne Gottes Auftrag gegen die Seelen
ausübte, mit solcher Energie in Angriff genommen? Warum kamen wir
nicht auf den Gedanken, wieviel uns dabei verloren ginge? Und was
die Kirchenschätze angeht: die werden bis heute zu großem Teil noch
von den alten Kehlen verschlungen. Wenn aber einmal die Aussicht
25 bestand, sie ihnen zu entreißen - was schließlich doch irgendwann
notwendig sein wird - : warum suchten wir nicht nach Wegen, sie an
uns zu bringen? Wenn wir hingegen den Bischof öffentlich mit lauter
Stimme einen Dieb genannt haben, der vom Kirchengut mehr für sei-
nen privaten Gebrauch aufwendet, als zu einer nüchternen, genügsa-
30 men Lebensführung notwendig ist; wenn wir es als das schlimmste
versucherische Gift der Kirche anprangerten, daß Pastoren mit einem
Berg von Schätzen belastet werden, der sie am Ende erdrücken muß;
wenn wir öffentlich erklärten, es bringe nichts, sie in ihren Händen zu
belassen; wenn wir schließlich dazu geraten haben, den Kirchendie-
35 nern nur soviel auszugeben, als zu einer ihrer Stellung angemessenen
sparsamen Lebenshaltung hinreicht, nicht aber zu überflüssigem Lu-
xus, der Rest solle nach der Sitte der alten Kirche verteilt werden; und
wenn wir [zuletzt] forderten, man müsse angesehene Männer zu ihrer
Verwaltung wählen, mit der Auflage, Kirche und Magistrat jährlich
40 Rechenschaft darüber abzulegen: 11 Heißt das vielleicht, etwas für sich
selbst zu erjagen? Heißt das nicht vielmehr, aus freien Stücken alles
von sich abzuschütteln?
II Die hier beschriebene Praxis hat ihren Niederschlag in der späteren Genfer
Kirchenordnung gefunden: Les Ordonnances Ecclesiastiques (1561), beson-
ders n.56f. und n.l68, in: W. NIESEL (Hg.), Bekenntnisschriften und Kirchen-
ordnungen, 2. Aufl., Zürich 1985,49.63.
360 Ad Sadoleti Epistolam
non quid sumus, sed quid esse voluerimus. Si ista autem palarn ac
vulgo sic nota sunt, ut nullus apiculus negari queat, qua fronte iarn
exprobrare nobis perges affectatas opes ac potentias extraordinarias,
praesertim vero apud eos, quibus nihil istorum est incognitum? Porten-
tosa de nobis mendacia quum tui ordinis homines quotidie apud suos
spargunt, nihil mirarnur. Nemo enim adest qui vel reprehendat, vel
refutare ausit. At iis, qui eorum omnium, quae nuper recitavi, oculati
sunt testes, contaria omnia velle persuadere, hominis est parum pru-
dentis, et Sadoletum, ista doctrinae, prudentiae, gravitatis existimatio-
ne, vehementer dedecet. Quod si a re ipsa aestimandum animum no- 10
strum censes reperietur non alio nos spectasse, quarn ut nostra tenuitate
atque humilitate regni Christi amplitudo promoveretur. Tantum abest,
ut regnandi cupiditate sacrosancto eius nomine fuerimus abusi.
Taceo plurima alia, quae in nos pleno, ut aiunt, ore convicia detonas.
Homines astutos vocas, inimicos unitatis christianae et pacis, novato- 15
res veterum et bene constitutarum rerum, seditiosos, quum animabus
pestiferos, tum publice privatimque pemiciosos universae hominum
societati. Si effugere reprehensionem voluisses, aut non debebas, indi-
463 viae causa, tri-I buere nobis [391] linguarn magniloquarn: aut aliquan-
tulum ab ista magniloquentia tibi temperare oportebat. Nolo tarnen in 20
singulis immorari, nisi quod te reputare cupio, quarn sit indecorum, ne
dicarn illiberale, ita vexare immerentes multis verbis, quae verbo uno
statim refelli queant. Quanquarn leve est homines afficere iniuria, praeut
est indignitas tantae contumeliae, quae, ubi ad causarn venis, Christo et
eius verbo abs te irrogatur. 25
Das alles beweist jedenfalls - nicht, was wir sind, aber - was wir sein
wollten. Wenn dies aber in einer Weise öffentlich und vor aller Welt
bekannt ist, daß kein Deut davon geleugnet werden kann, wie könnt Ihr
da die Stirn aufbringen, uns fortgesetzt die Aneignung von Reichtü-
mern und außerordentlichen Machtbefugnissen vorzuwerfen, und das
noch dazu vor Leuten, denen nichts von alledem unbekannt ist? Wenn
Menschen Eures Standes bei ihresgleichen Tag für Tag ungeheuerliche
Lügen über uns verbreiten, so wundert uns das nicht. Es ist ja niemand
da, der den Mut hätte, sie zurechtzuweisen oder zu widerlegen. Denen
10 aber, die all das, mit eigenen Augen bezeugen können, was ich jetzt
aufgeführt habe, das Gegenteil davon einreden zu wollen, beweist
wenig Klugheit und steht einem Manne vom Ruf solcher Gelehrsam-
keit, Klugheit und Würde wie Sadolet recht übel an. Denn wenn Ihr
unsere Gesinnung beurteilen wolltet, wie man sie nach den Tatsachen
15 einschätzen muß, dann würde sich herausstellen, daß wir kein anderes
Ziel haben, als durch unsere Armut und Niedrigkeit das Reich Christi
auszubreiten. So fern also liegt uns der Mißbrauch dieses heiligen
Namens aus Herrschsucht.
Zu den meisten anderen Vorwürfen, die Ihr lauthals, wie man so sagt,
20 auf uns herab schmettert, will ich schweigen. Verschlagene Gesellen
nennt Ihr uns, Feinde von Einheit und Friede der Christenheit, Um-
stürzler alter, wohl geordneter Zustände, Aufrührer, Krankheitserreger
der Seelen, die dem ganzen Menschengeschlecht im öffentlichen wie
privaten Leben den Untergang bringen. Hättet Ihr aber Euch selbst vor
25 Tadel in Sicherheit bringen wollen, dann hättet Ihr entweder uns nicht
aus Ärger [den Vorwurf] der Großsprecherei anhängen dürfen, oder
wenigstens Euch selbst in dieser Hinsicht etwas Mäßigung auferlegen
müssen. Ich will mich aber nicht länger bei Einzelheiten aufhalten,
außer daß ich Euch zu bedenken gebe, wie unehrenhaft, um nicht zu
30 sagen kleinlich es ist, Unschuldige mit einer Fülle von Vorwürfen zu
quälen, die mit einem einzigen Wort auf der Stelle zu widerlegen sind.
Und doch wiegt das Unrecht, das Ihr Menschen antut, leicht verglichen
mit der würdelosen Schmähung, die Ihr, sobald Ihr zur Sache kommt,
über Christus und sein Wort bringt.
35 Daß sich die Genfer über der gründlichen Unterweisung unserer Pre-
digt von jenem Morast von Irrtümern, in den sie versunken waren,
wieder der reinen Lehre des Evangeliums zugewandt haben, nennt Ihr
Abfall von Gottes Wahrheit; daß sie sich von der Tyrannei des römi-
schen Papstes befreit haben, um eine weit bessere Form von Kirche bei
40 sich zu schaffen, nennt Ihr Trennung von der Kirche. Auf denn, laß uns
beides der Reihe nach entkräften!
Mit meiner Antwort mich lange bei Eurer Vorrede aufzuhalten, die mit
ihrem Preis der Vorzüge des ewigen Lebens ungefähr ein Drittel Eures
45 Briefes einnimmt, lohnt wirklich nicht die Mühe. Denn obwohl die
Berufung zum künftigen ewigen Leben wohl wert ist, daß sie uns Tag
362 Ad Sadoleti Epistolam
mearn diu haerere, nequaquarn operae pretium est. Tarnetsi enim futu-
rae aetemaeque vitae commendatio res est digna, quae nocte diuque
auribus nostris insonet, quae assidue memoria repetatur, in qua medi-
tanda sine fine exercearnur: de ea tarnen nescio qua de causa hic
sermonem adeo protraxeris, nisi ut te aliquo religionis indicio commen-
dares. Sive autem, ut omnem de te dubitationem tolleres, testari volui-
sti te de gloriosa apud Dum vita serio cogitare; sive censuisti tarn longa
eius commendatione excitandos vellicandosque esse eos ad quos scri-
bebas (nolo enim divinare quid tibi consilii fuerit), id tarnen parum est
theologieum, hominem ita sibi ipsi addicere, ut non interim principium 10
hoc illi vitae formandae praestituas, illustrandae Domini gloriae studi-
um. Deo enim, non nobis, nati imprimis sumus. Siquidem, quemadmo-
durn ab eo fluxerunt omnia, et in eo consistunt, ita in eum referri
debent, inquit Paulus (Rom. 11,36). Sie quidem, fateor, Dominus ipse,
quo nominis sui gloriarn magis commendabilem hominibus faceret, 15
eius promovendae atque arnplificandae studium temperavit, ut cum
nostra salute perpetuo coniunctum foret. At quum docuerit, illud ipsum
oportere omnem cuiuslibet boni et commodi nostri curam cogitationem-
que excedere, et naturalis aequitas id quoque dictet, non tribui Deo
quod suum est, nisi rebus omnibus praeferatur, christiani certe hominis 20
est [392] altius conscendere, quarn ad quaerendarn et comparandarn
arnimae suae salutern. Itaque neminem recta pietate imbutum fore puto,
a quo non insipida censeatur tarn longa et accurata ad studium coelestis
464 vitae exhortatio, quae I hominem penitus in se ipso detineat, nec ad
sanctifidandum Dei nomen, vel uno verbo, erigat. Post hanc vero sancti- 25
ficationem libenter tibi assentior, non aliud tota vita nobis debere esse
propositum, quarn ut ad supernarn illarn vocationem contendarnus.
Hunc enim omnibus et factis et dictis et cogitationibus nostris perpetu-
um scopum praestituit Deus. Nec sane aliud est, quo beluarn homo
antecellat, nisi spiritualis cum Deo communicatio, in spem beatae illius 30
aetemitatis. Nec fere aliud agimus concionibus nostris, nisi ut omnium
animos ad meditationem studiumque eius erigarnus. Hoc quoque tibi
non aegre concedo, non aliunde esse gravius saluti nostrae periculum,
quarn a praepostero perversoque Dei cultu. Haec enim sunt prima
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 363
und Nacht in den Ohren klingt, daß wir sie uns beständig ins Gedächt-
nis rufen und uns unaufhörlich in ihrer Betrachtung üben l2 , sehe ich
doch schlechterdings nicht ein, weshalb Ihr an dieser Stelle mit ihrer
Erörterung so weit ausholt, es sei denn, um Euch durch irgendein
Merkmal von Frömmigkeit empfehlend einzuführen. Doch sei's nun,
daß Ihr jeden Zweifel an Eurer Person zerstreuen und unter Beweis
stellen wolltet, wie ernsthaft Ihr über das herrliche Leben bei Gott
nachdenkt, sei's, daß Ihr Eure Adressaten durch diese langatmige Emp-
fehlung meintet begeistern und anstacheln zu müssen (ich will mich
10 nämlich nicht mit dem Erraten Eurer Beweggründe abgeben): das je-
denfalls ist zu wenig theologisch [gedacht], den Menschen in einer
Weise mit sich selbst zu befassen, daß man ihm unterdessen, den Eifer,
Gottes Ehre ans Licht zu bringen, nicht mehr als Grundlage seiner
Lebensführung vor Augen stellt. 13 Für Gott nämlich, nicht für uns
15 selbst sind wir in erster Linie auf der Welt. Denn wie aus Gott alles
hervorgegangen ist, und in ihm seinen Bestand hat, so muß auf ihn,
wie Paulus (Röm 11, 36) sagt, auch alles bezogen werden. Ja, ich
gestehe, um die Menschen noch mehr für die Verherrlichung seines
Namens einzunehmen, hat der Herr selbst dem Eifer für die Ausbrei-
20 tung und Erhöhung seiner Ehre das Maß gesetzt: Sie soll unaufhörlich
mit unserer eigenen Seligkeit verbunden sein. Wenn er uns aber lehrt,
dieser Eifer müsse über alles Sinnen und Trachten nach irgendwel-
chem Gut und Behagen hinausgehen - und schon natürliche Gerechtig-
keit zeigt, daß Gott das Seine nicht zukommt, wo man ihm nicht den
25 Vorrang vor allen anderen Dingen einräumt - , dann ist es gewiß die
Pflicht eines Christenmenschen, sich höher aufzuschwingen, als nur
das eigene Seelenheil zu suchen und sich allein darum zu kümmern.
Deshalb kann ich niemanden für wirklich fromm halten, der eine so
ausführliche und sorgfältige Ermahnung zum Streben nach dem himm-
30 lischen Leben, die den Menschen einzig bei sich selbst festhält, ohne
ihn auch nur mit einer Silbe zur Heiligung des Namens Gottes empor-
zuführen, nicht für geschmacklos erklärt. Neben dieser Heiligung aber
darf uns, wie ich Euch gern zugebe, unser ganzes Leben lang kein
anderes Ziel vor Augen stehen, als dies: unserer himmlischen Beru-
35 fung nachzujagen. Denn das hat Gott all unseren Gedanken, Worten
und Werken zum bleibenden Orientierungspunkt gesetzt. Es gibt ja
auch keinen anderen Vorrang des Menschen vor dem Tier als eben den
geistlichen Umgang mit Gott in der Hoffnung auf die selige Ewigkeit.
In unseren Predigten tun wir denn auch so gut wie nichts anderes, als
40 die Herzen zu ihrer Betrachtung und Liebe aufzumuntern.
Auch darin gebe ich Euch ohne weiteres Recht, daß unser Heil von
keiner Seite her so ernsthaft bedroht ist wie von einem falschen Gottes-
dienst, der das oberste zuunterst kehrt. Denn das ist ja das ABC, das
12 Daß dies ein zentrales Thema von Calvins eigener Theologie ist, zeigt das
berühmte Kapitel über die »Meditatio futurae vitae<c Inst. III, 9.
13 Der drei Jahre später verfaßte Genfer Katechismus (1542) beginnt daher pro-
grammatisch mit den Sätzen: »Welches ist das vornehmste Ziel (principale fin)
des menschlichen Lebens? - Dies, Gott zu erkennen«; W. NIESEL, a.a.O., 3.
364 Ad Sadoleti Epistolam
Mit diesem freiwilligen Bekenntnis, Sadolet, legt Ihr daher selbst das
Fundament zu meiner Verteidigung. Denn wenn Ihr offen zugebt, es
sei der Tod der Seelen, ihr schreckliches Ende, wenn Gottes Wahrheit
durch einen Wust von Einbildungen in Lüge verkehrt wird, dann bleibt
15 uns jetzt nur übrig zu untersuchen, welche von beiden Parteien denn
eigentlich den allein rechtmäßigen Gottesdienst bewahrt. Um ihn Eurer
Seite zuzusprechen, geht Ihr von der Annahme aus, die felsenfeste
Richtschnur hierfür sei die Vorschrift der Kirche. Doch als ob wir Euch
hier Widerstand leisten wollten, stellt Ihr, wie es einem bei zweifelhaften
20 Sachen zu gehen pflegt, diesen Satz wieder zur Diskussion. Ich will
Euch aber, Sadolet, weil ich sehe, wie Ihr darüber ganz umsonst in
Schweiß geratet, dieser Mühe entheben. Ihr geht nämlich von der
falschen Meinung aus, wir wollten die Christenheit von der Art der
Gottesverehrung abbringen, wie sie die katholische Kirche immer ge-
25 übt hat. Doch habt Ihr entweder vom Begriff der Kirche Wahnvorstel-
lungen, oder Ihr macht Euch in festem Wissen und Wollen blauen
Dunst vor. Zwar werde ich Euch gleich bei diesem Versuch ertappen.
Doch mag Euch hier und da auch ein Irrtum unterlaufen. Zunächst
übergeht Ihr in der Definition der Kirche [ein Merkmal], das Euch zum
30 rechten Verständnis nicht wenig geholfen hätte. Wenn Ihr nämlich
behauptet, das mache die [katholische] Kirche aus, »daß sie in der
ganzen Vergangenheit ebenso wie heute auf der ganzen Erde, eins und
einmütig in Christus, überall und immer von dem einen Geist Christi
geleitet wurde« 15: Wo bleibt da das Wort Gottes, jenes deutlichste
35 Merkmal, das uns der Herr selbst zur Kennzeichnung der Kirche so
und so oft ans Herz legt? Weil er nämlich voraussah, wie gefährlich es
sei, ohne das Wort nur den Geist im Munde zu führen, hat er zwar
verheißen, daß die Kirche vom Heiligen Geist geleitet werde, diese
Leitung aber an das Wort gebunden, damit man sie nicht für etwas
40 Vages und Unsicheres halten könne.
14 Vgl. hierzu die höchst grundsätzlichen und sehr detaillierten Ausführungen
Calvins im Mahnschreiben an Kar! V auf dem Reichstag in Speyer (1453), CO
VI (453-534), in deutscher Übersetzung bei M. SIMON, Um Gottes Ehre, Mün-
chen 1924, bes. I 94ff.
15 Epistola ad Genevates, CO V,378; OS 1,450.
366 Ad Sadoleti Epistolam
Hac ratione clamat Christus, ex Deo esse, qui verba Dei audiunt; oves
suas esse, quae vocem suam pastoris esse recognoscunt: quamlibet
aliam, hominis esse extranei (Ioann. 10,27). Hac ratione spiritus per os
Pauli pronunciat, ecclesiam fundatam esse super fundamentum aposto-
lorum et prophetarum (Ephes. 2,20). Item ecclesiam Domino sanctifi-
catam lavacro aquae in verbo vitae (Ephes. 5,26). Id ipsum per os Petri
etiam clarius: quum docet regenerari Deo populum, per semen illud
incorruptibile (l Petr. 1,23). Denique, cur toties evangelii praedicatio
regnum Dei nuncupatur, nisi quia sceptrum est, quo plebem suam
moderatur rex coelestis? Neque in literis tantum apostolicis illud repe- 10
ries, verum quoties vel de instauranda, vel de propaganda in orbem
universum ecclesia vaticinantur prophetae, primum semper locum ver-
bo assignant. Prodituras enim aquas vivas dicunt eIerusalern, quae in
quatuor flumina diductae totam terram inundabunt (Zach. 14,8). Quae
vero sint aquae illae vivae, illi ipsi enarrant, quum aiunt: Exituram 15
legern e Sion, et verbum Domini eIerusalern (les. 2,3). Bene ergo
Chrysostomos, qui repudiandos monet ornnes, qui sub praetextu spiri-
tus a simplici evangelii doctrina nos abducunt: quum spiritus sit pro-
missus non ad novam doctrinam revelandam, sed imprimendam homi-
num animis evangelii veritatem. Ac nos re ipsa hodie experimur, quam 20
fuerit necessaria admonitio. A duabus sectis oppugnamur: quae inter se
plurimum videntur habere discriminis. Quid enim papae simile in spe-
ciem cum Anabaptistis? Et tamen, ut videas Satanam numquam tanta
versutia se transfigurare, quin aliqua ex parte se prodat, idem utrique
praecipuum telum habent, quo nos fatigant. Spiritum enim quum fa- 25
stuose iactant, non alio certe tendunt, quam ut oppresso sepultoque Dei
verbo locum faciant suis ipsorum mendaciis. Tuque, Sadolete, in prima
limine impingendo, dedisti poenas eius contumeliae, quam spiritui
sancto inussisti, quum separasti ipsum averbo. Nam velut in bivio sint
constituti, qui viam Dei quaerunt, ac certo signo destituti eos haesitan- 30
tes inducere cogeris: utrumne magis expediat, ecclesiae autoritatem
sequi, an iis auscultare, quos novorum dogmatum repertores vocas. Si
scivisses, vel dissimulare noluisses, spiritum ecclesiae praelucere ad
patefaciendam verbi intelligentiam: verbum autem instar esse lydii
466 Ilapidis, quo illa doctrinas ornnes examinet, an ad istam adeo per- 35
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 367
In diesem Sinne ruft Christus: Der sei aus Gott, der Gottes Wort hört,
und das seien seine Schafe, die seine Stimme als Stimme ihres Hirten
erkennen; wer eine andere Stimme [hört], gehöre einem Fremden an
(Joh 10,27). In diesem Sinn verkündet der Geist durch den Mund des
Paulus, die Kirche sei auf dem Grund der Apostel und Propheten
erbaut (Eph 2,20). Ebenso: die Kirche sei ihrem Herrn durch das Was-
serbad im Wort des Lebens geheiligt (Eph 5,26). Gleichermaßen noch
klarer durch den Mund des Petrus: es werde Gott ein Volk wiedergebo-
ren aus diesem unvergänglichen Samen (I Petr 1,23). Und schließlich:
10 Warum wird denn die Predigt des Evangeliums so oft mit dem Reich
Gottes gleichgesetzt, wenn sie nicht das Szepter wäre, mit welchem der
himmlische König sein Volk leitet? Das findet Ihr nicht nur in den
Apostelbriefen, sondern sooft Propheten von der Erneuerung oder Aus-
breitung der Kirche auf dem ganzen Erdkreis weissagen: immer räu-
15 men sie dem Wort den ersten Platz ein. Denn lebendige Wasser, sagen
sie, werden von Jerusalem ausgehen und, in vier Ströme geteilt, die
ganze Erde überschwemmen (Sach 14,8). Von welcher Art aber diese
lebendigen Wasser sind, erklären sie selbst, wenn es heißt: Von Zion
wird die Weisung ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem
20 (Jes 2,3). Recht hat also Chrysostomus mit seiner MahrJung, all die
abzuweisen, die uns unter dem Vorwand des Geistes von der einfachen
Lehre des Evangeliums abbringen wollen. Denn der Geist ist uns nicht
zur Offenbarung neuer Lehre verheißen, sondern um die Wahrheit des
Evangeliums den Herzen der Menschen einzuprägen. Wie notwendig
25 diese MahrJung gewesen ist, erfahren wir in der gegenwärtigen Lage.
Von zwei Parteien werden wir bekämpft, die, so sieht es aus, voneinan-
der so verschieden sind, wie nur möglich. Denn was hat die des Pap-
stes - äußerlich gesehen - mit der der Wiedertäufer gemeinsam? Und
doch - daran könnt Ihr sehen, wie sich der Teufel niemals so geschickt
30 verkleidet, daß er sich nicht doch noch in einem Stückehen verriete -
führen beide die gleiche Hauptwaffe, mit der sie uns mürbe machen.
Indem sie nämlich bis zum Überdruß den Geist im Munde führen,
haben sie kein anderes Ziel, als Gottes Wort zu unterdrücken und zu
Grabe zu tragen und stattdessen für ihre eigenen Lügengebilde Platz zu
35 schaffen. Und Ihr, Sadolet, müßt nun gleich beim ersten Ansturm das
Schandmal büßen, das Ihr dem Geist durch die Trennung vom Wort
eingebrannt habt. Denn als ob die, die Gottes Weg suchen, auf einen
Scheideweg gestellt und jedes zuverlässigen Wegweisers beraubt wä-
ren, seht Ihr Euch veraniaßt, sie vor die Alternative zu stellen: ob es
40 förderlicher sei, der Autorität der Kirche zu folgen oder auf die zu
hören, die Ihr die Erfinder neuer Dogmen nennt. Wenn Ihr gewußt oder
Euer Wissen nicht hättet verleugnen wollen, daß der heilige Geist der
Kirche leuchtet, um ihr das Verständnis für das Wort zu öffnen, das
Wort aber der lydische Stein 16 ist, an dem sie alle Lehren prüfen muß:
16 Schwarz geHirbter Kieselschiefer aus Quarz- und Opalresten, der zum Erken-
nen der Echtheit von Gold- und Silberlegierungen am Strich dient (= Probier-
stein).
368 Ad Sadoleti Epistolam
15 Hier aber meldet Ihr Widerspruch an. Ihr behauptet nämlich, was die
Gläubigen über 1500 Jahre und länger in unwandelbarem Konsens
anerkann~ haben, das hätte unser Starrsinn untergraben und abgeschafft.
Ich will jetzt nicht untersuchen, ob Ihr redlich und lauter mit uns
verfahrt (was sich doch für einen Philosophen, geschweige denn für
20 einen Christen, von selbst verstehen sollte), sondern stelle diese Frage
nur, damit Ihr Euch nicht bis zur Willkür dreister Verleumdungen
versteigt, was Euren Ruf - auch wenn wir Stillschweigen bewahren -
bei Männern von Anstand und Gewicht schwer beschädigen würde. Ihr
wißt es, Sadolet, und wenn Ihr das weiterhin in Abrede stellt, will ich
25 dafür sorgen, daß jedermann erfährt, daß Ihr es wißt und Euch nur
geschickt und schlau verstellt: Wir stimmen nicht nur weit besser mit
der Tradition überein als Ihr, sondern mühen uns auch um nichts ande-
res, als eben das alte Gesicht der Kirche endlich wiederherzustellen,
das zuerst von ungebildeten und nicht gerade den besten Menschen
30 häßlich entstellt, später vom römischen Papst und seiner Partei schmach-
voll verletzt und nahezu vernichtet worden ist. Ich will Euch nicht so
hart zusetzen und Euch die von den Aposteln begründete Gestalt der
Kirche in Erinnerung rufen. In ihr haben wir gleichwohl das Urbild der
wahren Kirche: wer auch nur einen Schritt breit davon abweicht, be-
35 wegt sich auf einem Irrweg. Ich will Euch vielmehr soweit entgegen-
kommen: Stellt Euch bitte jenes alte Erscheinungsbild der Kirche vor
Augen, wie man es, was die Urkunden glaubhaft bezeugen, zur Zeit
eines Chrysostomus und Basilius bei den Griechen, zur Zeit eines
Cyprian, Ambrosius und Augustin bei den Lateinern angetroffen hat!
17 Der Gedanke der Einheit bestimmt auch die spätere Defmition der Kirche im
Genfer Katechismus (1542), Teil I, n.97: »Was bedeutet das Wort >katholisch<
oder >universell<? - Es lehrt uns: Wie alle Gläubigen nur ein Haupt haben (Eph
4,15), so sollen auch alle in einem Leib vereinigt sein (I Kor 12,12+27). So gibt
es nicht mehrere Kirchen, sondern nur eine einzige, welche über die ganze
Erde verbreitet ist«; W. NIESEL, a.a.O., 13.
370 Ad Sadoleti Epistolam
se, ipsorum monumenta fidem faciunt: postea ruinas, quae apud vos ex
illa supersunt, contemplare. Tantum certe discriminis apparebit, quan-
tum prophetae nobis describunt inter praeclararn ecclesiarn, quae sub
Davide et Salomone floruit, ac illarn, quae sub Sedecia et Ioacim in
omne superstitionum genus prolapsa divini cultus puritatem prorsus
vitiaverat. Iamne hostem antiquitatis esse dices, qui, antiquae pietatis
ac sanctimoniae studio, praesenti rerum omnium corruptione non con-
tentus, quae sunt in ecclesia dissipata ac depravata, corrigere in melius,
et restituere in pristinum nitorem molietur?
Und dann schaut auf die Trümmer, die davon bei Euch übrig geblieben
sind! Der Unterschied, der da zu Tage tritt, ist sicher so schreiend, wie
ihn uns die Propheten zwischen der strahlenden Kirche zu ihrer Blüte-
zeit unter David und Salomo schildern, und jener, die sich unter Zede-
kia und Jojakim 18 zu jeder Art von Götzendienst hatte hinreißen lassen
und den reinen Gottesdienst vollends verdarb. Wollt Ihr nun den weiter
einen Feind jener alten Zeit nennen, der sich voll Eifer für die alte
Frömmigkeit und Heiligkeit - unzufrieden mit der gegenwärtigen all-
gemeinen Verderbnis - abmüht, alles, was in der Kirche zerschlagen
10 und heruntergekommen ist, wieder zum Besseren zu wenden und zu
früherem Glanz zu bringen?
Drei Stücke sind es, die die Unversehrtheit der Kirche ausmachen und
worauf sie sich vornehmlich stützt: Lehre, Verfassung und Sakramen-
15 te. An vierter Stelle kommen noch die äußeren Formen hinzu, die das
Volk zu gottesdienstlichen Handlungen anleiten. Um das Ansehen Eu-
rer Kirche möglichst zu schonen: In welchem Punkt wollt Ihr, daß wir
sie prüfen? Die Wahrheit prophetischer und evangelischer Lehre, auf
der eine Kirche ruhen muß, ist dort nicht nur größtenteils untergegan-
20 gen, sondern sogar wie ein Feind mit Feuer und Schwert vertrieben.
Wollt Ihr mir an die Kehle springen zugunsten einer Kirche, die alle
Artikel unseres Glaubens, die in Gottes Wort offenbarten, aber auch
die in den Büchern der heiligen Väter aufgezeichneten und die von den
alten Konzilien angenommenen, wie wild verfolgt? Gibt es denn bei
25 Euch auch nur noch Spuren jener heiligen und echten Zucht, wie sie
die alten Bischöfe in der Kirche geübt haben? Treibt Ihr nicht mit all
ihren Grundsätzen Euren Spott? Tretet Ihr nicht alle Bestimmungen
mit Füßen? Wie frevelhaft Ihr gar die Sakramente entweiht habt, daran
kann ich gar nicht denken ohne tiefstes Entsetzen. An äußeren Gebräu-
30 chen habt Ihr freilich mehr als genug; doch da sie - wie in den meisten
Fällen - in ihrer Ausdruckskraft völlig unbrauchbar sind und noch
dazu durch zahllose Formen von Aberglauben entstellt: was können sie
zur Erhaltung der Kirche beitragen? Nichts von alledem brauche ich,
wie Ihr seht, in der Manier der Anklägers aufzubauschen. Es liegt alles
35 derart offen zu Tage, daß man mit dem Finger darauf zeigen kann,
wenn nur Augen da sind, die darauf merken.
Jetzt beurteilt Ihr uns nur, wenn's beliebt, nach diesem Maßstab! Weit
gefehlt, daß Ihr uns im Blick auf die Verbrechen, die Ihr uns unter-
stellt, als schuldig verurteilen könnt! Bei den Sakramenten haben wir
40 nichts anderes versucht, als sie in ihrer verloren gegangenen ursprüng-
lichen Reinheit wiederherzustellen und ihnen dadurch auch ihren [al-
ten] Rang zurückzugeben. 19 Die Zeremonien haben wir größtenteils
Auch in der Lehre berufen wir uns unbedenklich auf die alte Kirche.
15 Ihr habt beispielsweise bestimmte Hauptpunkte aufgeführt, bei denen
Ihr meint, uns mit guten Gründen ins Gesicht schlagen zu müssen. Da
will ich Euch kurz zeigen, wie unbillig und fälschlich Ihr Euch darüber
lustig macht, als hätten wir all das gegen die klare Meinung der Kirche
erfunden. Ehe ich jedoch auf Einzelheiten eingehe, möchte ich Euch
20 ermahnt haben, Euch doch einmal ernsthaft zu überlegen, aus welchem
Grund Ihr unseren Anhängern als Fehler anrechnet, daß sie ihren gan-
zen Eifer an die Schriftauslegung wenden. Denn Ihr wißt genau, daß
ihre unermüdliche Arbeit soviel Licht in das [Verständnis des] Wortes
Gottes gebracht hat, daß sich sogar der Neid selbst schämen müßte, sie
25 auf diesem Gebiet um ihr Lob zu betrügen. Ebenso steht es mit der
Lauterkeit Eurer Nachrede, wir hätten das Volk durch spitzfindige und
subtile Fragestellungen verführt, ja es sogar mit jener Philosophie be-
trogen, vor der sich die Christen nach Paulus hüten sollen (Kol 2,8).
Wie denn? Habt Ihr vergessen, aus was für einer Zeit unsere Leute
30 herkommen? Was für Kenntnisse mußten sie denn in den Schulen
lernen, wenn sie sich darauf vorbereiteten, die Gemeinden zu unterwei-
sen? Ihr wißt es selbst, es war reine Sophisterei, aber derart verdreht,
verwickelt, weitschweifig und dunkel, daß man die Schultheologie mit
Recht eine Art geheimer Magie nennen könnte. Je dichter die Finster-
35 nis war, die einer da verbreitete, je verzwickter die Rätsel, mit denen er
sich und andere plagte, desto größer war die Palme scharfsinniger
Gelehrsamkeit, die er davontrug. Wenn in solcher Werkstatt ausgebil-
dete Leute dann vollends den Ertrag ihrer Bildung unters Volk bringen
wollten, mit welchem Geschick - ich bitte Euch - konnten sie da wohl
40 die Kirche aufbauen! Doch um mich nicht in Einzelheiten zu verlieren
- was fl.ir Predigten hörte man denn damals in Europa? Predigten, die
jene Schlichtheit veranschaulichten, die nach Paulus die ganze Chri-
stenheit in all ihren Lebensäußerungen bestimmen soll? Mehr noch:
Wo gab's überhaupt eine, aus der die alten Mütterchen nicht mehr
45 Unsinn heimbrachten, als sie in einem ganzen Monat hinter ihrem
Ofen aushecken konnten? Denn ungefähr so waren die Predigten doch
374 Ad Sadoleti Epistolam
469 I Et ipse tu deinde testimonio nos absolvis: qui inter dogmata nostra,
quae exagitanda tibi duxisti, nullum profers, cuius cogntio non sit ad
ecclesiae aedificationem in primis neccessaria. Fidei iustificationem 20
prima loco attingis: de qua nobis primum et acerrimum certamen vo-
biscum est. Estne illa spinosa et inutilis quaestio? At, sublata eius
cognitione, et Christi gloria exstincta est, et abolita religio, et ecclesia
destructa, et spes salutis penitus [397] eversa. Dogma ergo istud, quod
in religione summum erat, dicimus fuisse a vobis nefarie ex hominum 25
memoria deletum. Perspicua eius rei probatione referti sunt libri nostri.
Et crassa eius ignoratio, quae in vestris omnibus ecclesiis etiarnnum
manet, te statur, nos nequaquam falso queri. At tu perquam maligne hic
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 375
eingeteilt: zur Hälfte galten sie jenen dunklen Schulfragen, die das
ungelehrte Volk kopfscheu machten, zum anderen Teil brachten sie
hübsche Fabeln oder ganz angenehme Spekulationen, durch die man
das Volk erheitern wollte. Nur ganz wenige schwache Töne waren
dazwischen aus Gottes Wort eingestreut, die durch ihr Gewicht solch
nichtigem Geschwätz Glauben verschaffen sollten. Sobald aber unsere
Gefolgsleute zum ersten Mal ihr Feldzeichen aufrichteten, war es bei
uns in einem Augenblick mit all diesem Spuk vorbei. Eure Prediger
jedoch sind teils so eingefahren in ihre Bücher, teils richten sie sich-
10 eingeschüchtert durch Angst und Murren der Menge - so eifrig nach
ihrem Vorbild, daß sie heute noch aus vollem Hals diesen alten Unsinn
weiterschwatzen. Es braucht also nur einer unsere Arbeitsweise mit der
zu vergleichen, die auch heute noch bei Euch hoch im Kurs steht, um
das schwere Unrecht einzusehen, das Ihr uns zufügt. Hättet Ihr die
15 Paulusstelle nur ein wenig weiter zitiert,20 so hätte jedes Kind mit
Leichtigkeit erkennen können, daß auf Euch ohne Zweifel zutrifft, was
Ihr uns als Vorwurf anlastet. Denn als eitle Philosophie erklärt Paulus
dort jene Weisheit, die durch Menschensatzungen und Elemente dieser
Welt fromme Herzen fangen will - und dadurch habt gerade Ihr die
20 Kirche zugrunde gerichtet.
Im übrigen sprecht Ihr uns selbst durch Euer Zeugnis frei. Denn unter
unseren Glaubenssätzen, die Ihr genau meintet durchnehmen zu müs-
sen, führt Ihr keinen an, dessen Kenntnis für den Aufbau der Kirche
25 nicht höchst notwendig wäre. Die Rechtfertigung aus Glauben berührt
Ihr an erster Stelle. 21 Darüber führen wir ja auch den ersten und härte-
sten Streit mit Euch. Gehört sie etwa zu jenen spitzfindigen und unnüt-
zen Fragen? Nein, wenn ihre Erkenntnis verschwindet, ist Christi Herr-
lichkeit erloschen, die Religion abgeschafft, die Kirche zerstört und die
30 Hoffnung auf unser Heil völlig gescheitert. Diese Lehre also, behaup-
ten wir, die das Herzstück der Religion war, ist von Euch wider göttli-
ches Recht aus dem Bewußtsein der Menschen getilgt worden. Den
klaren Beweis in dieser Sache führen unsere Bücher. Und die haar-
sträubende Unwissenheit, die darüber bis heute noch in allen Euren
35 Gemeinden herrscht, zeigt, daß wir keineswegs fälschlich Klage erhe-
20 Gemeint ist Kol 2,8. Sadolet schreibt (CO V,371 = OS 1,443): »Doch will ich
nicht wieder mit spitzfindigen subtilen Untersuchungen beginnen, die der seli-
ge Paulus Philosophie nennt und vor der er die Jünger Christi beständig warnt,
sie sollten sich dadurch nicht täuschen lassen. Durch sie freilich haben diese
Leute (sc. die Genfer Reformatoren) Euch betrogen, indem sie bei Unkundigen
eine gewisse dunkle Schriftauslegung in Umlauf brachten, Betrug und Hinter-
list, die sie mit diesem ehrenvollen, aber falschen, jeder Lehre und Weisheit
fremden Namen auszeichnen wollten.«
21 A.a.O., 374 (1,446): »Wir erlangen dies Gut unserer ... Seligkeit allein durch
den Glauben an Gott und Jesus Christus. Wenn ich sage >allein durch Glaube<,
dann verstehe ich es nicht so wie diese Erfinder von Neuerungen es tun, daß
dabei die Liebe und alle übrigen Christenpflichten ausgeschlossen wären ... «.
376 Ad Sadoleti Epistolam
ben. Ihr aber hängt uns aus schierer Boshaftigkeit die üble Nachrede
an, wir machten alles vom Glauben abhängig und ließen so keinen
Raum mehr übrig für die Werke. Ich will mich an dieser Stelle auf
keinen ordentlichen Disput einlassen, den manja nur in einem umfang-
reichen Buch zu Ende führen könnte. Wenn Ihr aber in den Katechis-
mus hineinsehen würdet, den ich selbst für die Genfer zusammenge-
stellt habe, während ich bei ihnen als Pastor tätig war,22 so würden drei
Worte genügen, um Euch, besiegt, verstummen zu lassen. Gleichwohl
will ich Euch hier in Kürze darlegen, wie wir darüber reden. 23
10 Zunächst lassen wir den Menschen mit seiner Selbsterkenntnis den
Anfang machen, und das nicht leichtfertig oder oberflächlich, vielmehr
soll er sich mit seinem Gewissen vor Gottes Richterstuhl stellen. Und
wenn er dann vom Zustand seiner Ungerechtigkeit sattsam überführt
ist, soll er zugleich auch die Strenge des Urteils spruchs bedenken, der
15 über alle Sünder ergeht. So wirft er sich, durch sein Elend aus der
Fassung gebracht und zu Boden geschlagen, vor Gott nieder und de-
mütigt sich: Er läßt alles Selbstvertrauen fahren und seufzt, als wäre er
dem äußersten Verderben preisgegeben. Dann zeigen wir ihm den
einzigen Ankergrund seines Heils, die Barmherzigkeit Gottes, die uns
20 in Christus dargeboten wird, ist doch in ihm alles erfiillt, was zu
unserem Heil gehört. Weil also alle Sterblichen vor Gott als Sünder
verloren sind, nennen wir Christus unsere einzige Gerechtigkeit: Er hat
mit seinem Gehorsam unsere Übertretungen getilgt, mit seinem Opfer
Gottes Zorn besänftigt, mit seinem Blut unsere Flecken abgewaschen,
25 durch sein Kreuz unseren Fluch aufgehoben, mit seinem Tod für uns
alles beglichen. Auf diese Weise also, lehren wir, wird in Christus der
Mensch mit Gott, dem Vater versöhnt: nicht durch irgendein Ver-
dienst, nicht durch die Würdigkeit seiner Werke, sondern allein durch
unverdiente Gnade. Weil wir aber im Glauben Christus umfassen und
30 gleichsam in Gemeinschaft mit ihm eintreten, nennen wir diesen Glau-
ben nach der Weise der Schrift Glaubensgerechtigkeit.
Was habt Ihr da zu beißen und auseinanderzupflücken, Sadolet? Etwa,
daß wir für die Werke keinen Raum lassen?24 In der Tat, wenn es um
22 Calvin bezieht sich auf eine wichtige Vorstufe des Genfer Katechismus, den im
Zusammenhang mit dem Reformationsprogramm der Genfer Prediger (1537)
erarbeiteten Auszug aus der ersten Institutio (1536), auf den die Bürgerschaft
laut Magistratsbeschluß vom Juli 1537 vereidigt werden sollte: CO 5,313-362.
23 VgJ. hierzu auch Inst. (1536), Abschnitt 2, CO 1,47ff. (dt. Übersetzung von B.
SPIEss: 1. Calvin, Christliche Glaubenslehre, Zürich 1985,2. Aufl., 59ff.).
24 Epistola ad Genevates, CO 5,374 (= OS 1,446): »Das aber (sc. der Glaube, der
uns den Zugang zu Gott öffnet) ist gleichwohl nicht genug ... Was anderes
bezeichnet denn schon das Wort Gerechtigkeit, oder weIches Verständis bzw.
weIche Vorstellung bietet es uns denn an, wenn in ihm keine Rücksicht auf
gute Werke genommen wird? Denn die Schrift sagt: Gott sandte seinen Sohn,
um rür sich selbst das Volk annehmbar zu machen, eifrig zu guten Werken (Tit
2), und an anderer Stelle: damit wir (spricht er) in Christus zu guten Werken
erbaut würden. Wenn also Christus gesandt ist, damit wir durch ihn als Men-
schen, die recht handeln, Gott angenehm sind, ... dann schreibt uns der Glaube
gebieterisch vor, daß wir nicht nur auf Christus vertrauen, sondern in ihm gute
Werke tun ... «.
378 Ad Sadoleti Epistolam
gamus vel pilum unum valere. Ubique enim scriptura vociferatur om-
nes esse perditos, et sua quemque conscientia graviter accusat. Nihil
spei reliquum esse docet eadem scriptura, nisi in sola Dei bonitate, qua
470 peccata nobis I ignoscuntur, iustitia imputatur. Utrumque gratuitum
asserit: ut tandem pronuneiet, beatum esse hominem sine operibus
(Rom. 4,7). At quam aliam affert nobis notionem nomen ipsum iusti-
tiae, nisi respectus ad bona opera habeatur? Imo si animadverteres,
quid scriptura per verbum iustifieandi signifieet, in eo non haesitares.
Non enim ad propriam hominis iustitiam refert, sed ad Dei clementi-
am, quae iustitiam peeeatori, contra quam sit promeritus, accepto fert, 10
idque iniustitiam non imputando. Illa, inquam, est nostra iustitia, quae
a Paulo deseribitur, quod Deus nos sibi in Christo reconeiliavit [398] (2
Cor. 5,19). Modus deinde subiieitur, non imputando delicta. Nos de-
mum fide fieri eius boni partieipes demonstrat, quum dieit, eius reeon-
eiliationis ministerium evangelio eontineri. At amplum est voeabulum 15
fides, inquis, et euius significatio latius patet. Imo vero Paulus, quoties
iustifieandi faeultatem ei tribuit, simul adstringit ad gratuitam divinae
benevolentiae promissionern: ab omni autem operum respeetu procul
avertit. Unde familiaris ei colleetio: si fide, ergo non operibus. Rursum
si operibus: ergo non fide. 20
Atqui iniuria fit Christo, si praetextu gratiae eius repudiantur bona
opera: quum venerit, ut redderet populum Deo aeeeptabilem, seetato-
rem bonorum operum. Et exstant multa similia in eam rem testimonia,
quibus probatur, ideo venisse Christum, ut bene operantes per eum
aeeepti essemus Deo. Est haee quidem calumnia adversariis nostris 25
perpetuo in ore, quod benefaciendi studium tollimus e vita ehristiana,
gratuitae iustitiae eommendatione: sed quae magis frivola est, quam ut
nos valde premat. Opera bona in homine iustifieando negamus ullas
habere partes: in iustorum vita regnum illis vindicamus. Nam si Chris-
tum possidet qui iustitiam est adeptus, Christus autem nusquam sine 30
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 379
die Rechtfertigung des Menschen geht, bestreiten wir ihnen auch nur
ein Haar breit Geltung. Denn überall redet die Schrift unüberhörbar
davon, daß alle verloren sind, und es klagt einen jeden sein eigenes
Gewissen schwer genug an. Keine Hoffnung bleibt uns übrig als allein
Gottes Güte, die uns die Sünden vergibt und Gerechtigkeit zuspricht:
so lehrt es dieselbe Schrift. Und beides, erklärt sie, geschieht umsonst:
so kann sie arn Ende verkünden, der Mensch sei ohne Werke selig
(Röm 4,7). Was aber bringt uns denn dann das Wort Gerechtigkeit zur
Kenntnis, wenn es auf gute Werke keinerlei Rücksicht nimmt? Ja,
10 wenn Ihr darauf achten wolltet, was die Schrift mit dem Wort »recht-
fertigen« bezeichnet, würdet Ihr an dieser Stelle nicht stecken bleiben.
Sie bezieht es nämlich nicht auf die eigene Gerechtigkeit des Men-
schen, sondern auf Gottes Güte, die den Sünder gegen sein Verdienst
annimmt und ihm Gerechtigkeit verschafft und zwar dadurch, daß sie
15 ihm seine Ungerechtigkeit nicht anrechnet. Darin, sage ich, besteht
unsere Gerechtigkeit, wie sie Paulus beschreibt, daß Gott uns mit sich
selbst in Christus versöhnt hat (U Kor 5,19). Auf welche Weise das
geschehen ist, folgt gleich darauf: »indem er ihnen ihre Übertretungen
nicht anrechnete«. Daß wir durch den Glauben dieses Gutes teilhaftig
20 werden, zeigt er schließlich, indem er feststellt, daß der Dienst dieser
Versöhnung im Evangelium beschlossen liegt. Doch ein »weiter Be-
griff«, sagt Ihr, ist das Wort Glaube, und seine Bedeutung liege noch
tiefer verborgen. 25 Aber doch verbindet ihn Paulus, sooft er ihm das
Vermögen unserer Rechtfertigung zuschreibt, alsbald mit der unver-
25 dienten Verheißung göttlicher Zuwendung, hält ihn aber von jeder
Beziehung auf die Werke fern. Daher der ihm vertraute Schluß: »Wenn
aus Glauben, dann nicht aus den Werken«, und umgekehrt: »Wenn aus
den Werken, dann nicht aus Glauben«.26
Gleichwohl tut man Christus Unrecht, wenn man unter dem Vorwand
seiner Gnade gute Werke verwirft, ist er doch gekommen, das Volk
»angenehm zu machen für Gott, eifrig zu guten Werken«.27 Und ähnli-
35 che Zeugnisse dafür gibt es in Fülle, aus denen hervorgeht, Christus sei
deshalb erschienen, damit wir durch ihn als Menschen, die recht han-
deln, Gott angenehm sein sollen. Unsere Gegner führen freilich stets
die Schmähung im Munde, daß wir mit dem Hinweis auf die Rechtfer-
tigung aus Gnaden den Eifer nach guten Werken im christlichen Leben
40 ersticken. Doch das ist zu lächerlich, als daß es uns ernsthaft beschwe-
ren könnte. Daß gute Werke an der Rechtfertigung des Menschen
irgendeinen Anteil haben, bestreiten wir allerdings; im Leben der Ge-
rechtfertigten aber beanspruchen wir für sie das ganze Feld. Denn wer
Gerechtigkeit erlangt hat, besitzt Christus, Christus aber kann nirgends
25 Epistola, ebd.
26 Vgl. Röm 11,6.
27 Tit 2,14 (Vulgata-Text); vgl. Anm. 24!
380 Ad Sadoleti Epistolam
ohne seinen Geist sein. Daraus geht klar hervor, daß die Gerechtigkeit
aus Gnaden notwendig mit der Wiedergeburt verbunden ist. Wenn man
also genau verstehen will, wie unzertrennlich Glaube und Werke zusam-
mengehören, muß man auf Christus sehen, der uns, wie der Apostel
lehrt, zur Gerechtigkeit und Heiligung gegeben ist (I Kor 1,30). Wo
immer sich also diese Glaubensgerechtigkeit findet, die wir als ein
Geschenk der Gnade verkündigen, dort ist auch Christus. Wo aber
Christus ist, da ist der Geist der Heiligung, der die Herzen zu neuem
Leben umschafft. Und umgekehrt: Wo sich der Eifer nach Uneigennüt-
10 zigkeit und Heiligung nicht regt, dort ist auch weder Christi Geist noch
Christus selbst. Wo aber Christus nicht ist, da gibt es auch keine
Gerechtigkeit, ja nicht einmal Glaube, kann doch ohne den Geist der
Heiligung der Glaube Christus nicht als [Unterpfand der] Gerechtigkeit
ergreifen. Wenn also Christus nach unserer Predigt zu einem geistli-
15 chen Leben erneuert, welche er rechtfertigt, wenn er sie der Gewalt der
Sünde entreißt und in das Reich seiner Gerechtigkeit versetzt28 , wenn
er sie in das Ebenbild Gottes verwandelt und sie schließlich durch
seinen Geist zum Gehorsam gegen seinen Willen umgestaltet: 29 dann
bleibt Euch keine Möglichkeit mehr zur Klage, unsere Lehre lasse
20 fleischlichen Begierden die Zügel schießen. Etwas anderes aber woll-
ten die von Euch angeführten Schriftstellen doch nicht bezwecken.
Wenn Ihr sie also dazu mißbrauchen wollt, die Rechtfertigung aus
Gnaden niederzureißen, dann habt Ihr Euch verrechnet!
25 Paulus erklärt an anderer Stelle, wir seien vor der Grundlegung der
Welt in Christus erwählt, um heilig und untadelig vor Gott zu sein
durch die Liebe (Eph 1,4). Wer wagt daraus wohl den Schluß zu
ziehen, diese Wahl sei nicht aus freier Gnade geschehen, oder ihr
zureichender Grund sei die Liebe? Vielmehr verhält es sich so: Wie die
30 Gnadenwahl nur dies Ziel hat, daß wir ein reines und unbeflecktes
Leben vor Gott fuhren, so auch die Rechtfertigung aus Gnaden. Denn
Paulus hat Recht, wenn er feststellt, wir seien wahrhaftig nicht zur
Unreinheit berufen, sondern zur Heiligung (I Thess 4,7). So halten wir
denn beharrlich daran fest, daß der Mensch nicht nur ein für allemal
35 aus Gnaden gerechtfertigt ist, ohne alles Verdienst aus Werken, son-
dern daß diese geschenkte Gerechtigkeit auch für immer sein Heil
ausmacht. Es kann denn auch auf keine andere Weise irgendein mensch-
liches Werk Gottes Beifall finden, es wäre denn durch sie zustande
gekommen. Deshalb bin ich aufs höchste erstaunt bei Euch zu lesen,
40 die Liebe sei die erste und wichtigste Ursache unseres Heils. 3o Wer,
28 Vgl. Koll,13.
29 Vgl. Röm 8,29; GaI4,19.
30 Epistola ad Genevates, a.a.O., 375 (OS I,446): Aus dem Satz »Gott ist Liebe«
schließt Sadolet, daß sich in der Liebe auf ganz besondere Weise der heilige
Geist manifestiert, und fahrt fort: »Wie daher ohne den heiligen Geist nichts
von uns Gott angenehm oder wohlgefallig ist, so kann auch nichts ohne die
382 Ad Sadoleti Epistolam
Sadolet, hätte von Euch jemals eine solche Äußerung erwartet? Wahr-
haftig, selbst die Blinden spüren in ihrer Finsternis Gottes Barmherzig-
keit zu genau, als daß sie es wagten, die Liebe als Ursprung ihres Heils
auszugeben. Wer auch nur von einem einzigen Funken göttlichen Lichtes
5 berührt ist, merkt doch, daß ihm sein Heil einzig und allein durch
Gottes Annahme an Kindes Statt verbürgt wird. Denn die ewige Selig-
keit ist das Erbe unseres himmlischen Vaters, das allein für seine
Kinder bereit liegt. Wer aber dürfte einen anderen Grund unserer Kind-
schaft namhaft machen als den, den uns die Schrift allenthalben ver-
10 kündigt? Daß nämlich nicht wir ihn zuerst geliebt haben, sondern daß
er es ist, der uns aus freien Stücken in seine Gnade und Zuneigung
aufgenommen hat?
Aus dieser Blindheit kommt auch der Irrtum Eurer Lehre, Bußübungen
und satisfaktorische Leistungen könnten Sünden wieder gut machen. 31
15 Wo bleibt denn da das einzige Sühnopfer, das man nach dem Zeugnis
der Schrift nur zu verlassen braucht, um überhaupt keine Sühne mehr
zu finden? Geht nur alles durch, was wir an Worten Gottes haben:
Wenn uns allein das Blut Christi überall als Lösegeld, als Pfand des
Friedens und als Reinigungsmittel angeboten wird, wie bringt Ihr dann
20 die Stirn auf, solche Ehre auf Eure Werke zu übertragen? Ihr habt auch
kein Recht, diesen Raub an Gottes Ehre der Kirche zuzuschreiben.
Wohl kannte die alte Kirche, das gebe ich zu, genugtuende Leistungen,
aber nicht als Sühnopfer, womit die Sünder Gott gnädig stimmen und
sich selbst von Strafe loskaufen könnten, sondern um die Echtheit der
25 von ihnen erklärten Reue unter Beweis zu stellen und die Erinnerung
an den durch ihre Sünde erregten Anstoß zu tilgen. Sie wurden ja auch
nicht jedermann, sondern nur denen, die sich zu einer besonders schwe-
ren Sünde hatten verleiten lassen, in feierlichem Ritus auferlegt.
30 Bei der-Eucharistie nehmt Ihr daran Anstoß, daß wir »den Herrn der
Welt selbst und die in ihm beschlossene göttliche und geistige Macht,
die doch wirklich frei und unbegrenzt ist, in das Winkeldasein einer
körperlichen, durch bestimmte [räumliche] Grenzen umschriebenen Na-
Liebe sein. Wenn wir also allein durch den Glauben an Gott und Jesus Christus
erlöst werden können, so halten wir dafür, daß in diesem Glauben vor allem die
Liebe eingeschlossen sein muß, welche die erste und wichtigste Ursache unse-
res Heils ist.«
31 Ebd. 375 (OS 1,447): Wenn wir in Sünde gefallen sind, erklärt Sadolet, dann
richten wir uns »im Glauben der Kirche« wieder auf. Denn die Kirche lehre
uns, »durch welche Sühnemittel, Bußübungen und satisfaktorische Leistungen
unsere Sünden abgewaschen und wir dank des uns stets gütig und barmherzig
zugewandten Gottes wieder in den früheren Zustand versetzt werden. Diese
Mittel der Sühne und Genugtuung nehmen wir an und üben wir aus, und indem
wir so verfahren, setzen wir darauf, bei Gott Vergebung und Erbarmen zu
finden.«
384 Ad Sadoleti Epistolam
32 Wörtliches Zitat aus der Epistola, ebd., 378 (OS 1,450). Sadolet wirft den
Genfern vor, sie ließen sich durch »fremde«, von christlicher Lehre »grundver-
schiedene Argumente aus Dialektik und Philosophie« bestimmen.
33 Vgl. Inst. (1536) cap. IV, CO 1,122 (OS 1,141): Es ist dies das in der späteren
lutherischen Polemik sogenannte Extra-Calvinisticum. Vgl. Inst. (1559) II,13,4
(OS III, 458,7-13).
34 Die Fassung in der ersten Institutio geht auf PETRUS LOMBARDUS zurück: Sent
III, 22,3 (MPL 192,804). Die wichtigsten patristischen Quellen (Athanasius,
Gregor von Nyssa, Augustin und Thomas) hat K. BARTH, KD I12,184, aufge-
führt. Vgl. auch E.D. WILLlS, Calvin's Catholic Christology, Leiden 1966.
35 Augustin, Epistola 187, 3: MPL 33,834 (CSEL 57,87ff.). Thema dieses Briefes
ist die Art und Weise der Allgegenwart Gottes und Christi.
36 Vgl. Inst. (1536) IV, CO 1,120 (OS I,138) sowie die von Calvin mitverfaßte
Confessio fidei de Eucharistia (1537), CO 9,71lf. (OS I,435f.).
386 Ad Sadoleti Epistolam
den. 37 Wert und Gebrauch des Sakraments rühmen wir, so hoch wir nur
können, reden laut von dem großen Nutzen, den wir davon haben. Um
dies alles kümmert man sich bei Euch so gut wie gar nicht. Denn Ihr
geht an der Wohltätigkeit Gottes, die uns hier nahe kommt, vorbei,
schenkt dem rechtmäßigen Gebrauch einer solchen Wohltat - Dingen,
bei denen man doch in erster Linie verweilen müßte - , keine Beach-
tung, sondern seid zufrieden, wenn das Volk ohne jedes Verständnis
:für den geistlichen Gehalt des Sakraments nur das sichtbare Zeichen
anstarrt. Wenn wir aber die bei Euch gelehrte grobe Transsubstantiati-
10 on verwerfen; wenn wir die geistlose Anbetung, die alle Sinne der
Menschen an die Elemente fesselt und nicht zu Christus sich erheben
läßt, als pervers und gottlos hinstellen, so tun wir das nicht, ohne den
Konsens der alten Kirche auf unserer Seite zu haben. In ihrem Schatten
versucht Ihr umsonst, die abscheulichen abergläubischen Gebräuche zu
15 verbergen, mit denen Ihr Euch hier abgebt.
(a. Beichte 38 )
Bei der Ohrenbeichte mißbilligen wir die Vorschrift von [Papst] Inno-
zenz, die jedem Christen zur Pflicht macht, einmal im Jahr seinem
zuständigen Priester alle seine Sünden aufzuzählen. 39 Es würde zu weit
20 fuhren, die Gründe einzeln durchzugehen, die uns bei unserer Ableh-
nung geleitet haben. Um was :für ein frevelhaftes Ansinnen es sich
dabei aber handelt, erhellt schon daraus, daß erst die von dieser schreck-
lichen Folter befreiten Gewissen wieder im Vertrauen auf Gottes Gna-
de Ruhe zu finden begannen, während sie früher in steter Angst nicht
25 aus noch ein wußten - ganz zu schweigen von dem Ausmaß an Scha-
den, den diese Praxis in der Kirche angerichtet hat und der sie uns mit
Recht fluchwürdig machen muß. Gegenwärtig aber - und das haltet
fest - handelt es sich nur darum: Die Ohrenbeichte ist uns weder als
ein Gebot Christi, noch als eine Einrichtung der alten Kirche überlie-
30 fert. Alle Schriftstellen, mit deren Verdrehung sich die Sophisten sol-
che Mühe gegeben haben, um sie zu rechtfertigen, haben wir ihnen
gründlich entwunden. Was aber die kirchengeschichtlichen Quellen
anlangt, so berichten sie in jenem verhältnismäßig unverdorbenen Zeit-
37 Anspielung auf die vom IV. Laterankonzil (1215; Denz. 802) dogmatisierte
Transsubsantiationslehre, in deren Folge sich der Hostienkult zu einem zweiten
Mittelpunkt der eucharistischen Frömmigkeit ausbildet. Demgegenüber bestimmt
Calvin den Modus der Präsenz Christi so, daß uns im Abendmahl »nicht die
Substanz des Leibes selbst oder der wahre und natürliche Leib Christi darge-
reicht wird, wohl aber alle Segnungen (beneficia), welche Christus in seinem
Leibe erwiesen hat«, Inst. IV, a.a.O., 123 (OS 1,142f.).
38 In diesem und den folgenden »Unterabschnitten« läßt sich Calvin von den
Stichworten des Sadolet-Briefes leiten. Es geht hier also nicht um den sakra-
mentalen Charakter von Buße und Beichte.
39 Die Vorschrift geht auf das IV. Laterankonzil (1215) unter Innozenz III. zu-
rück: Cap. 21 (Denz. 812). Sadolet rechtfertigt sie als ein Zeichen »echter
christlicher Demut« und rührt sie auf Bibel und Kirchenverfassung zurück,
a.a.O., 378 (OS 1,450).
388 Ad Sadoleti Epistolam
alter nicht das geringste von ihrer Existenz: darin stimmen auch die
Väterzeugnisse überein. Schönfärberei also ist es, wenn Ihr versichert,
sie sei damals als Demutsübung von Christus und der Kirche vorge-
schrieben und eingesetzt worden. Es mag wohl sein, daß sich darin
eine Art von Demut äußert, aber weit gefehlt, daß uns eine beliebige
Unterwürfigkeit unter dem Namen der Demut bei Gott empfehlen könn-
te! Deshalb lehrt Paulus (Kol 2,18): Wahre Demut ist zuletzt nur die,
die sich nach Gottes Wort ausrichtet.
Wenn es bei Euch bei der Fürbitte der Heiligen nur darauf ankommt,
10 daß sie mit unaufhörlichem Gebet die Vollendung des Reiches Christi
erflehen, in dem das Heil aller Gläubigen beschlossen liegt, so mag
wohl niemand von uns daraus einen ernsthaften Streitpunkt machen. 4o
Darum habt Ihr nichts, was der Mühe wert wäre, damit erreicht, daß Ihr
Euch an dieser Stelle so sehr ins Zeug legt. Indessen wolltet Ihr, um
15 uns zu treffen, Euch die bissige Bemerkung nicht entgehen lassen, als
glaubten wir, die Seele ginge zusammen mit dem Leibe zugrunde. Das
aber ist eine Weltweisheit, die wir Euren Päpsten und dem Kardinals-
kollegium überlassen. Bei denen steht sie schon seit vielen Jahren -
und so auch noch heute - in höchsten Ehren. Auf sie trifft daher zu,
20 was Ihr uns unterstellt: ein süßes Leben zu führen, ohne sich durch die
Sorge um das zukünftige Heil beunruhigen zu lassen! Mit uns armseli-
gen Menschen aber treiben sie ihren Spott, weil wir so gewissenhaft
für das Reich Christi arbeiten. Im übrigen ist es nicht weiter zu ver-
wundern, daß Ihr den Punkt übergeht, auf den wir bei der Fürbitte der
25 Heiligen den Finger legen. Denn da gäbe es unzähligen Aberglauben
auszurotten, der sich in einer Weise breit gemacht hatte, daß die Fürbit-
te Christi gän;zlich aus den Herzen der Menschen entschwunden war.
Heilige hat man angerufen wie Götter; ihnen hat man den Dienst
erwiesen, der allein Gott gebührt. Es gab kaum noch einen Unterschied
30 zwischen ihrer Verehrung und dem alten, mit Recht allerseits verab-
scheuten Götzendienst.
Nun zum Fegefeuer!41 Wir wissen sehr wohl, daß die Gemeinden der
alten Kirche in ihren Gebeten hier und da gelegentlich auch der Toten
gedachten,42 das aber selten und nüchtern und nur mit knappen Wor-
40 Bei Sadolet heißt es: »Ich schweige von den Gebeten der Heiligen rur uns vor
Gott und von unseren Gebeten für die Toten. Wenn diese Leute beides verwer-
fen und sich darüber lustig machen, ja es für eine ganz und gar bedeutungslose
Sache erklären: Was beabsichtigen sie damit? Sind sie etwa der Meinung, daß
die Seele der Menschen zusammen mit ihrem Leib zugrunde geht?«, ebd.,
378f. (OS 1,451).
41 Das Stichwort »purgatorium« fällt bei Sadolet nicht. Calvin geht auf diesen
Punkt ein, weil der Brief in einem Atemzug mit der Fürbitte rur die Heiligen
das Gebet für die Toten nennt, aus dem sich die Vorstellung eines »Fegfeuers«
entwickelt hat.
42 Die Fürbitte für die Verstorbenen wird bei Tertullian (De anima 51, De corona
3) und Cyprian (Ep 1,66) erwähnt. Tertullian kennt die Eucharistiefeier für die
390 Ad Sadoleti Epistolam
ten, aus denen überdies hervorgeht, daß sie damit nichts anderes im
Sinn hatten, als nebenbei ihrer Liebe gegen die Verstorbenen Ausdruck
zu verleihen. Doch waren die Baumeister noch nicht geboren, die Euer
Fegefeuer errichten sollten. Später haben sie es dann dermaßen in die
Breite und in die Höhe aufgeführt, daß sich Eure Herrschaft zum
größten Teil nun eben darauf abstützt. Ihr wißt selbst, welch eine
Hydra von Irrtümern daraus erwachsen ist; Ihr wißt, wieviel Blend-
werk der Aberglaube auf eigene Faust ersonnen hat, um damit sein
Spiel zu treiben; Ihr wißt, was für Abgaben die Habsucht hier erfunden
10 hat, um Menschen jeglichen Standes auszusaugen; Ihr kennt das Aus-
maß des Schadens, den das alles für die Frömmigkeit angerichtet hat.
Denn - um von dem völligen Zusammenbruch des wahren Gottesdien-
stes, der sich daraus ergeben mußte, gar nicht zu reden - das war doch
sicher das Schlimmste, daß jeder ohne irgendein Gebot Gottes den
15 Toten um die Wette Hilfe bringen wollte und darüber die so ernstlich
eingeschärften Pflichten verwandtschaftlicher Liebe völlig vernachläs-
sigte!
Ich kann es nicht dulden, Sadolet, daß Ihr mit solchen Schandflecken
den Namen der Kirche brandmarkt, sie wider göttliches und menschli-
20 ches Recht in Verruf bringt und uns dem Haß der Ungebildeten preis-
gebt, als hätten wir den Krieg gegen die Kirche auf unsere Fahnen
geschrieben. Denn wir müssen zwar zugeben, daß schon vor Zeiten
eine Saat von Aberglauben ausgestreut war, die der Reinheit des Evan-
geliums einigen Abbruch tat, aber Ihr wißt genau, daß diese gottlosen
25 Ungeheuerlichkeiten, denen unser Kampf vornehmlich gilt, in jener
Frühzeit noch nicht entstanden oder sich wenigstens noch nicht zu
solcher Größe ausgewachsen hatten. Wahrhaftig, um Eure Herrschaft
zu bezwingen, aufzureiben und völlig zu vernichten, dazu sind wir
nicht nur mit der Kraft des göttlichen Wortes, sondern auch mit dem
30 Schutz der heiligen Väter ausgerüstet.
Um Euch die Autorität der Kirche, die Ihr uns wie den Schild des Ajax
immer wieder entgegenhaltet, nun einmal geradewegs zu entreißen,
will ich an einigen besonders ins Auge fallenden Beispielen zeigen,
35 welcher Abstand Euch von jener heiligen Frühzeit trennt. Wir klagen
Euch der Zerrüttung des Gottesdienstes an: nur noch der bloße Name,
aber nicht mehr die Sache ist bei Euch vorhanden. Denn was die Sorge
für die geistliche Betreuung des Volkes anlangt, so sieht doch jedes
Kind, daß Eure Bischöfe und Priester nichts als stumme Bildsäulen
40 sind; bloß im Ausbeuten und Verschlingen sind sie tüchtig: das be-
Toten (De monogamia 10); auch in den Katechesen Cyrills von lerusalem wird
das Totengedächtnis bei der Messe erwähnt (Cat 22,2.3.9; 23,7.9f.). Vgl. auch
Augustins Schrift: De cura gerenda pro mortuis (MPL 40). - Als Kompilator
der Fegfeuerlehre gilt Gregor d. Gr. (590-604); erst im Tridentinum (sess.
XXV, Denz. 1820) ist sie - gegen Luther - endgültig definiert und statuiert
worden.
392 Ad Sadoleti Epistolam
15 Fordert uns, wenn Ihr könnt, nur heraus wegen des Unrechts, das wir
der katholischen Kirche antaten, indem wir es wagten, uns an ihren
geheiligten Satzungen zu vergreifen! Denn es ist ja schon viel zu
allgemein bekannt, als daß Euch Leugnen etwas helfen würde, wie in
all diesen Punkten die alte Kirche offen auf unserer Seite steht: sie tritt
20 Euch nicht weniger als Feind entgegen, als wir es tun. Hier kommt mir
in den Sinn, was Ihr an einer anderen Stelle [Eures Briefes] bemerkt,
um unsere Position zu schwächen: Auch wenn es um Eure Moral nicht
gerade zum Besten stehe, so sei das für uns doch kein Grund, uns von
der heiligen Kirche zu trennen. 43 Nun muß es zwar wohl so sein, daß
25 Beispiele von soviel Grausamkeit, Geiz, Habgier, Maßlosigkeit, Arro-
ganz, Hoffart, Ausschweifung und aller Art von Verbrechen, wie sie
Menschen Eures Standes öffentlich zur Schau tragen, die Herzen des
Volkes Eurer Sache erheblich entfremden. Aber nichts von alledem
hätte uns dazu veranIaßt, diesen Schritt ins Auge zu fassen. Wir haben
30 uns dazu unter dem Eindruck einer viel höheren Notwendigkeit ent-
schlossen. Und diese Notwendigkeit besteht in der Tatsache, daß das
Licht der göttlichen Wahrheit erloschen, Gottes Wort begraben, die
Bedeutung Christi tief vergessen und das geistliche Amt [gänzlich]
verkehrt war. Darüber machte sich in einer Weise gottloses Wesen
35 breit, daß nahezu kein Glaubenssatz von Verunreinigung frei, kein
äußerer Brauch ohne irrige Deutung, kein Zufluchtsort der Gottesver-
43 Calvin mag sich auf das fingierte Gespräch vor Gottes Thron beziehen, in dem
Sadolet den »reformierten« Christen als Ankläger »katholischer« auftreten läßt
(a.a.O., 380; OS 1,452f.), aber auch auf den Schluß des Briefes: »Mag Euch
vielleicht unsere Sittlichkeit mißfallen, wenn durch die Schuld einzelner der
Glanz der Kirche ... einmal verdunkelt wird: so soll doch dies (sc. der Gedanke
an die Einheit der Kirche) Eure Herzen bewegen und auf die entgegengesetzte
andere Seite hinüberziehen. Unsere Person könnt Ihr hassen, soweit es Euch
das Evangelium erlaubt. Unsere Lehre und unseren Glauben zu hassen, aber
habt Ihr kein Recht. Denn es steht geschrieben: Was sie Euch sagen, das tut.«
394 Ad Sadoleti Epistolam
At, cuius arrogantiae est, inquies, iactare penes vos solos esse eccle-
siam, et eam interim adimere orbi universo? Nos veTO, Sadolete, eccle-
sias Christi eas, quibus praesidetis, esse non negamus, sed pontificem 20
romanum cum toto pseudoepiscoporum grege, qui pastorum locum
istic occuparunt, immanes esse lupos dicimus: quibus unicum studium
hactenus fuit, atterere et disperdere Christi regnum, donec vastitate et
ruina deformarent. Neque hanc tamen querimoniam primi movemus.
Bemardus quanta vehementia in Eugenium omnesque suae aetatis epi- 25
scopos fulminat? At quanto saeculi illius conditio hac praesenti tolera-
bilior? Ad extremum enim nequitiae perventum est: ut iam nec vitia
sua, nec remedia pati possint adumbrati isti praesules, in quibus stare et
perire ecclesiam putas, a quibus nos ipsamdicimus immaniter fuisse
disiectam et mutilatam, et parum abfuisse, quin ad intemecionem us- 30
que deleretur. Quod certe fuisset factum, nisi singularis Dei bonitas
obstitisset. Ita in omnibus locis, qui romani pontificis tyrannide oc-
Antwort an Kardinal Sadolet (J 539) 395
ehrung von Aberglauben unberührt blieb. Sollten Leute, die sich mit
solchen Übeln herumschlagen müssen, nicht der Kirche den Kampf
ansagen oder - besser noch - ihr als einer Todkranken Hilfe bringen?
Und da preist Ihr uns als Gehorsam und Demut Eurerseits an, daß Euch
die Ehrfurcht vor der Kirche daran hindere, bei der Beseitigung dieser
Schandflecken mit Hand anzulegen! Was hat ein Christenmensch mit
diesem pflichtvergessenen Gehorsam zu tun, der Gottes Wort mutwil-
lig verachtet, um sich menschlicher Nichtigkeit willfährig zu erwei-
sen? Was mit dieser eigensinnigen und rücksichtslosen Demut, die
10 Gottes Majestät verächtlich macht, dafür aber zu Menschen aufblickt
und sie verehrt? Hinweg mit den leeren Namen von Tugenden, die man
sich zur Bemäntelung seiner Laster verschafft! Laßt uns ohne Schön-
färberei vorbringen, worum es wirklich geht: Die Demut, die wir mei-
nen, muß, vom untersten aufsteigend, jedermann seinem Rang entspre-
15 chend verehren und zwar so, daß sie der Kirche die höchste Würde und
Hochachtung erzeigt, sie zuletzt aber gleichwohl Christus, dem Haupt
der Kirche, zurückerstattet; der Gehorsam, den wir meinen, muß uns
zu solchem Hören auf Vorgesetzte und Vorfahren sammeln, daß die
einzige Richtschnur all unseres Wollens gleichwohl Gottes Wort bleibt;
20 die Kirche schließlich, die wir meinen, muß ihre größte Sorge darein
setzen, in ernsthafter Demut zu Gottes Wort aufzublicken und sich
unter dem Gehorsam gegen das Wort zu halten.
Aber, wendet Ihr ein, was ist das fur eine Anmaßung zu behaupten, bei
25 euch allein wäre die Kirche, und sie im gleichen Atemzug dem ganzen
Erdkreis abzusprechen? Wir leugnen keineswegs, Sadolet, daß es Ge-
meinden Christi sind, die unter Eurer Leitung stehen, wohl aber be-
haupten wir, daß der römische Papst mit der ganzen Schar der falschen
Bischöfe, die sich dort an die Stelle der Hirten gesetzt haben, reißende
30 Wölfe sind, denen es nur darauf ankommt, Christi Reich aufzureiben
und zu vernichten, bis sie es schließlich zur Wüste und zum Trümmer-
haufen entstellt haben. Wir sind wahrhaftig nicht die ersten, die diese
Anklage fuhren. Mit welcher Wucht schleudert Bernhard44 seine Blitze
gegen [Papst] Eugen und alle Bischöfe seiner Zeit! Und doch, wieviel
35 erträglicher war der Zustand des damaligen Jahrhunderts verglichen
mit dem gegenwärtigen? Denn Uetzt] hat die Nichtsnutzigkeit ihren
Gipfel erreicht: Weder ihre eigenen Laster noch die Heilmittel dagegen
können diese zum Schein bestellten Gaukler vertragen, mit denen Ihr
die Kirche stehen und fallen glaubt, von denen wir aber überzeugt sind,
40 daß sie sie auf schreckliche Weise zerrissen und verstümmelt und sie
ums Haar zu Tode getroffen hätten - was auch ganz gewiß geschehen
wäre, wenn sich Gottes einzigartige Güte dem nicht widersetzt hätte.
So kommen an allen Orten, über die sich die Tyrannei des römischen
Papstes erstreckt, kaum mehr als einige zerstreute und zerrissene Spu-
ren zum Vorschein, aus denen man schließen kann, daß dort halbbegra-
bene Kirchen liegen. Es braucht Euch darum gar nicht so absurd zu
erscheinen, wenn Ihr aus dem Mund des Paulus vernehmt, der Anti-
christ werde nirgendwo anders seinen Thron aufschlagen als mitten im
Heiligtum Gottes (11 Thess 2,4). Müßte uns nicht wenigstens diese eine
Mahnung wachrütteln, uns nur ja nicht mit dem Namen der Kirche
blenden und betrügen zu lassen?
10 Doch mögen sie sein, wie sie wollen, wendet Ihr ein, es steht ja
geschrieben: Was sie euch sagen, das tut! (Mt 23,3).45 Gewiß, wenn sie
auf dem Stuhl des Mose säßen! Wenn sie aber vom Stuhl ihrer Eitel-
keit herab das Volk mit ihren Einfallen um den Verstand bringen, so
steht geschrieben: »Hütet euch vor ihrem Sauerteig!« (Mt 16,6). Es ist
15 nicht unsere Absicht, Sadolet, der Kirche ihr Recht zu entreißen, das
ihr nicht nur Gottes Güte gewährt, sondern das Gott auch unter den
Schutz mannigfacher ernster Strafandrohungen gestellt hat. Denn wie
er zur Leitung seiner Kirche die Hirten nicht mit einer willkürlichen,
an kein Gesetz gebundenen Vollmacht aussendet, sondern sie auf be-
20 stimmte Regeln ihres Dienstes verpflichtet, die sie nicht übertreten
dürfen, so muß auch die Kirche darüber wachen, ob ihre unter dieser
Voraussetzung angetretenen Vorsteher ihrer Berufung treu entsprechen
(I Thess 5,21; I Joh 4,1). Aber nun mag es mit dem Zeugnis Christi
nicht viel auf sich haben, oder es ist wohl gar schon ein Frevel, die
25 Autorität jener Leute auch nur im mindesten in Frage zu stellen, die Ihr
mit so glänzenden Lobsprüchen ausstattet. Ihr täuscht Euch allerdings
sehr, wenn Ihr meint, der Herr habe Tyrannen über sein Volk gesetzt,
die nach freiem Belieben schalten und walten dürften, wenn er seinen
Boten, die er zur Verkündigung des Evangeliums ausgesandt, soviel
30 Macht übertragen hat. Darauf aber verfallt Ihr, weil Ihr nicht bedenkt,
daß ihnen, ehe sie [mit solcher Vollmacht] ausgerüstet wurden, deutli-
che Grenzen gesteckt worden sind. Wir geben also zu, daß man auf die
Hirten der Kirche hören muß wie auf Christus selbst, aber nur, wenn
sie das ihnen anbefohlene Amt ausüben. Das freilich besteht darin, daß
35 sie nicht aufs Geratewohl ihre eigenen Einfalle ausbrüten und selbstbe-
wußt unters Volk bringen, sondern das aus Gottes Mund empfangene
Wort mit Ehrfurcht und gutem Gewissen ausrichten. Mit diesen Schran-
ken hat Christus die Ehrerbietung umgeben, die man nach seinem
Willen den Aposteln erweisen soll. Auch Petrus nimmt für sich selbst
40 nichts anderes in Anspruch, gestattet auch anderen nicht mehr, als daß
sie, sooft sie unter Gläubigen reden, es gleichsam wie aus Gottes
eigenem Munde tun (I Petr 4,11). Paulus rühmt die ihm verliehene
geistliche Vollmacht überaus hoch, aber mit der Einschränkung, daß
sie nichts wert sei, wenn sie nicht zur Erbauung diene (11 Kor 13,10).
45 Sie soll nicht einmal einen Schein von Herrschaft an sich tragen und
sich nicht dazu verleiten lassen, den Glauben zu unterjochen. Da brüste
si earn sibi evicerit, nihil tarnen inde consequetur, quarn sibi obedienti-
arn a christiano populo deberi, quantisper fidem ipse Christo servave-
rit, nec ab evangelii puritate deflectat. Non enim in alium ordinem vos
cogit ecclesia fidelium quarn in quo stare vos Dominus voluit: ubi ad
earn vos regularn exigit, qua tota vestra potestas continetur. Hic, in-
quarn, ordo inter fideles est constitutus Domini voce, ut propheta, qui
locum docendi tenet, a consensu iudicetur (1 Cor. 14,29). Ab eo qui-
cunque se eximit, e numero prophetarum se prius expungat necesse est.
sich Euer Papst nun, wie er will, mit der Nachfolge Petri! Selbst wenn
er sie unumstößlich bewiesen hätte, so folgte daraus doch nicht mehr,
als daß ihm die Christenheit nur insoweit Gehorsam schuldet, als er
selbst Christus die Treue hält und sich von dem reinen Evangelium
nicht abbringen läßt. Denn wenn die Gemeinde der Glaubenden euch
nach der Richtschnur prüft, in der eure ganze Vollmacht beschlossen
liegt, dann nötigt Sie Euch nur die Verfassung auf, in der ihr nach dem
Willen des Herrn stehen sollt. Und diese Ordnung unter den Christen,
sage ich, gründet sich auf das Wort des Herrn, daß ein Prophet, der ein
10 Lehramt innehat, von der Versammlung beurteilt werden soll (I Kor
14,29). Jeder, der sich davon ausnimmt, streicht sich zuvor selbst not-
wendigerweise aus der Zahl der Propheten aus.
Hier tut sich mir ein überaus weites Feld auf, Euren Unverstand zu
15 widerlegen. Denn Ihr laßt bei Glaubensstreitigkeiten der Menge der
Gläubigen keine andere Wahl, als sich - die Augen vom Sachverhalt
ab gewandt - blind den Gelehrten zu verschreiben. 46 Da aber eine See-
le, die sich an etwas anderes hängt als an Gott, bekanntermaßen dem
Satan verfallen ist: wie jammervoll sind die Leute dran, die sich auf
20 solche Weise die Grundlagen des Glaubens beibringen lassen? Hier
muß ich Euch darauf aufmerksam machen, Sadolet, daß Ihr eine allzu
gemütliche Theologie habt, wie fast alle, die niemals durch die Schule
ernsthafter Gewissenskämpfe gegangen sind. Andernfalls nämlich hät-
tet Ihr einen Christen niemals auf einen so schlüpfrigen, ja abschüssi-
25 gen Boden gestellt, auf dem er sich auch nur beim geringsten Anstoß
kaum einen Augenblick halten kann.
Gebt mir, ich will nicht sagen: irgendeinen Ungebildeten mitten aus
dem Volk, sondern den ungeschliffensten Schweinehirten: Wenn er
zur Herde Gottes gerechnet werden will, muß er fiir den Kampf gerü-
30 stet sein, den Gott allen Frommen verordnet hat. Ein kampfbereiter
Feind ist da, er droht, es kommt zum Treffen; der Feind jedenfalls ist
auf Beste gerüstet, keine Macht der Welt ist fiir ihn unüberwindlich:
Mit welchem Schutz soll sich da der Ärmste zum Widerstand rüsten,
mit welchem Geschoß sich wappnen, um nicht auf der Stelle ver-
35 schlungen zu werden? Mit einem Schwert nur läßt sich kämpfen, lehrt
Paulus, mit dem Wort des Herrn (Eph 6,17). Also ist die Seele wehrlos
dem Teufel zum Verderben preisgegeben, wo man ihr das Wort Gottes
raubt. Und weiter: wird nicht dies das erste Bestreben des Feindes sein,
einem Soldaten Christi das Schwert aus der Hand zu schlagen? Und
46 Anspielung auf den Brief, a.a.O., 377 (OS 1,449): »Da das Urteil über verdor-
bene und reine Religion sehr verschieden ausfällt und die Meinungen der
Menschen darüber, zumal heute, gespalten sind - der eine faßt es auf diese, der
andere auf jene Weise auf -, muß es hinreichend erscheinen, wenn jedermann
auf das, was sich ihm als erstes zu glauben darbietet, mit unverbildetem Herzen
zugeht und sein eigenes Urteil der Urteilskraft gelehrterer und kundigerer
Männer unterwirft.«
400 Ad Sadoleti Epistolam
Ita sane res habet, fidem christianam non humano testimonio funda-
tam, non ambigua opinione suffultam, non hominum autoritate subni-
xam esse oportet, sed digito Dei viventis cordibus nostris insculptam, 10
ut nullis errorum offuciis obliterari queat. Itaque nihil habet Christi,
qui haec elementa non tenet: Deum unum esse, qui mentes nostras ad
perspiciendam suam veritatem illuminat, qui eodem illam spiritu cordi-
bus obsignat, qui certa eius testificatione conscientias confirrnat. Raec
illa est plena firrnaque, ut ita loquor, certitudo nobis a Paulo commen- 15
data: quae, ut nullum dubitationi locum relinquit, ita non modo inter
hominum defensiones non vacillat aut haesitat, utri potius adhaereat
parti, sed quae, toto orbe adversante, constare sibi non desinit.
Rinc ea quoque nascitur, quam ecclesiae tribuimus, et illibatam volu-
mus servari, iudicandi facultas. Utcunque enim tumultuetur mundus 20
opinionumque varietate perstrepat, nunquam tamen sie destituitur fide-
lis anima, quin rectum ad salutem cursum teneat. Neque tamen aut
fidei perspicaciam somnio, quae in veri falsique discrimine nusquam
aberret, nusquam hallucinetur; [406] aut eam affingo contumaciam,
quae universum hominum genus velut ex alto despiciat, nullius iudici- 25
um moretur, delectum inter indoctos ac eruditos nullum habeat: quin
potius fateor, pias ac vere religiosas mentes non omnia Dei mysteria
semper assequi, interdum etiam in rebus evidentissimis caecutire, ita
scilicet Domino providente, quo ad submissionem modestiamque assu-
efiant. Rursum tantam esse fateor apud eas bonorum omnium, nedum 30
ecclesiae, reverentiam, ut non facile ab ullo se homine dimoveri sinant,
479 in quo rectam Christi intelligentiam I deprehenderint: ut nonnunquam
suspendere iudicium malint, quam ad dissensionem leviter prosilire.
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 401
womit kann er das besser erreichen, als daß er ihm den Zweifel ins
Herz pflanzt, ob es denn wirklich Gottes Wort ist, auf das er sich stützt
oder Menschenwort? Was wollt Ihr jetzt mit dem Unglücklichen an-
fangen? Wollt Ihr ihn auffordern, irgendwo nach ein paar Gelehrten
Umschau zu halten, damit er sich auf deren Urteil beruhigt niederlegen
kann? Doch der Feind läßt ihn in dieser Fluchtburg nicht einmal Atem
holen. Denn wenn er ihm einmal soweit zugesetzt hat, daß er sich auf
Menschen verläßt, dann wird er ihn weiter und weiter drängen und
stoßen, bis er ihn kopfüber zu Fall gebracht hat. Entweder also wird
10 einer leicht zu Boden geworfen, oder er läßt alle Menschen fahren und
richtet sich geradewegs auf Gott.
So also stehen die Dinge: der Glaube der Christen darf sich nicht auf
menschliches Zeugnis gründen, nicht auf schwankende Meinungen
15 stützen, noch sich durch Autorität von Menschen absichern, sondern er
muß uns mit dem Finger des lebendigen Gottes ins Herz gemeißelt
sein, damit ihn kein Irrtum mit seiner Verblendung auslöschen kann.
Folglich hat niemand an Christus Anteil, der nicht an diesen elementa-
ren Dingen festhält: Es ist ein Gott, und er allein erleuchtet unsere
20 Sinne zur Erkenntnis seiner Wahrheit, er versiegelt sie durch denselben
Geist in unseren Herzen und macht durch ihre zuverlässige Bestäti-
gung unser Gewissen fest. Das ist, um mich so auszudrücken, jene
volle und feste Gewißheit, die Paulus uns rühmt: Wie sie dem Zweifel
keinen Raum gibt, so ist sie auch bei der Verteidigung vor den Men-
25 schen nicht unschlüssig oder schwankend, welcher Partei sie sich eher
anschließen soll, sondern hört nicht auf, fest in sich selbst zu stehen,
mag sie auch die ganze Welt wider sich haben.
Hier hat auch jene Fähigkeit zu klarem Urteil ihren Ursprung, die wir
der Kirche zuschreiben und ihr ungeschmälert bewahrt wissen wollen.
30 Denn mag die Welt auch noch so toben und vom Lärm verschiedenster
Meinungen widerhallen. Wer glaubt, ist niemals so verlassen, daß er
den richtigen Weg zum Heil nicht einhalten könnte. Dennoch träume
ich dabei nicht von einer Klarheit im Glauben, die bei der Unterschei-
dung zwischen wahr und falsch nirgends auf Abwege gerät und nie-
35 mals sich täuscht; ich rede auch nicht einem Eigensinn das Wort, der
auf das ganze Menschengeschlecht gleichsam von oben herabsieht,
sich um keines Menschen Urteil kümmert und keinerlei Vorliebe für
Gebildete oder Ungebildete kennt. Ich gebe vielmehr zu, daß auch
reine und wirklich fromme Herzen nicht immer alle Geheimnisse Got-
40 tes begreifen, ja manchmal sogar sonnenklaren Dingen gegenüber blind
sind und zwar nach Gottes Vorsehung, die sie auf diese Weise an
demütige Bescheidenheit gewöhnen will. Umgekehrt - auch das gebe
ich zu - , ist ihre Ehrfurcht vor allen Guten, geschweige denn vor der
Kirche, so groß, daß sie sich nicht ohne weiteres von einem Menschen
45 umstimmen lassen, bei dem sie etwas von rechter Erkenntnis Christi
erspürt haben: Lieber halten sie einmal ihr Urteil zurück, als daß sie
402 Ad Sadoleti Epistolam
Quod non alio nos spectasse cavillaris, tyrannicum hoc iugum excuti-
endo, quam ut nos in effrenem licentiam solveremus, abiecta etiam, si
Deo placet, futurae vitae cogitatione, iudicium ex comparatione vitae 15
nostrae cum vestra feratur. Multis quidem vitiis abundamus, labimur
nimis saepe ac de1inquimus. Sed impedior verecundia, ne, quoad per
veritatem licet, gloriari ausim, quanta vos omni ex parte antecellamus:
nisi forte Romam excipere ve1is praeclarum illud sanctitatis sacrarium:
quae ruptis rectae disciplinae repagulis, proculcata omni honestate, sie 20
in ornnia flagitiorum genera exundavit, ut vix unquam tale foeditatis
exemplum exstiterit. Nos scilicet oportebat tot discriminibus ac pericu-
lis capita nostra obiicere, ne eius exemplo ad severiorem continentiam
abstringeremur. At nos minime refugimus, quin disciplina, quae vetu-
stis canonibus sancita fuit, locum hodie habeat, diligenter ac bona fide 25
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 403
leichtfertig eine Spaltung vom Zaun brechen. Nur darauf beharre ich:
Solange sie bei Gottes Wort bleiben, können sie niemals so in die Enge
getrieben werden, daß sie ins Verderben geraten. Die Wahrheit dieses
Wortes aber ist ihnen klar und eindeutig genug, daß weder Menschen
noch Engel sie ins Wanken zu bringen vermögen.
Hinweg daher mit jener lächerlichen Einfalt der Ungebildete und Lai-
en, für die es sich nach Euren Worten gehört, zu den Gelehrten aufzu-
blicken und sich nach ihrem Wink zu richten!47 Denn abgesehen da-
von, daß eine noch so hartnäckig festgehaltene religiöse Überzeugung,
10 die auf einem anderen Grund ruht als in Gott, den Namen Glaube nicht
verdient: wer wollte denn eine, was weiß ich fiir schwankende Mei-
nung, die einem nicht nur der Teufel mit seinen Künsten ohne weiteres
aus der Hand windet, sondern die sich ganz von selbst je nach dem Auf
und Ab der Zeitläufe ändert, Glaube nennen? - eine Meinung, für die
15 man kaum auf ein anderes Ende hoffen mag, als daß sie sich endlich
auflöst?
Ihr spottet, daß wir bei dem Versuch, dies tyrannische Joch abzuschüt-
teln, nur ein Ziel im Auge gehabt hätten: uns eine zügellose Freiheit zu
20 verschaffen, und das, wenn es Gott zuläßt, sogar ohne Rücksicht auf
das zukünftige Leben48 : Laßt uns das Urteil darüber aus einem Ver-
gleich zwischen Eurer und unserer Lebensführung ziehen! Gewiß ha-
ben auch wir eine Unmenge von Fehlern, straucheln und sündigen nur
allzu oft. Doch Zurückhaltung hindert mich daran, daß ich nicht wage,
25 was um der Wahrheit willen wohl möglich wäre, unseren Vorrang vor
Euch in jeder Hinsicht zu rühmen, es müßte sich denn - hier mögt Ihr
eine Ausnahme machen - um Rom handeln, diesen berüchtigten Tem-
pel der Heiligkeit! Dort hat man alte Schranken unbeugsamer Zucht
niedergerissen, alle Ehrbarkeit mit Füßen getreten und allen Lastern in
30 einer Weise die Schleusen geöffnet, daß sich kaum noch ein zweites
Beispiel solcher Schande findet. Denn wir mußten schon so vielen
Herausforderungen und Gefahren die Stirn bieten, um uns angesichts
dieses Beispiels nicht noch strengere Selbstbeherrschung aufzuerlegen.
So haben wir wenigstens zu der in den alten Canones festgelegten
35 Kirchenzucht Zuflucht genommen [und dafür gesorgt], daß sie auch
47 Vgl. Anm. 46. Der zitierte Text fährt fort: »Ich gestehe, geliebte Brüder, das
sind Stimmen einfacher Leute, deren Geistesgaben von Natur schwächer sind:
wer sie abspenstig macht und vom rechten Weg abbringt, hat größere Sünde:
denn auf kundige und kluge Leute jedenfalls passen diese Worte nicht.«
48 Vgl. Epistola, a.a.O., 379 (OS 1,451): Im Zusammenhang der Frage nach der
Fürbitte unterstellt Sadolet den Genfern, sie ließen die Seele zusammen mit
dem Leib ihr Ende finden, und fährt fort: »Kein Wunder, wenn sie allem
Anschein nach dem beipflichten, was sie auch allzu offenkundig an den Tag
legen, indem sie sich für ihre Lebensführung eine von allen Kirchengesetzen
entbundene Freiheit und damit die Erlaubnis zu jeglicher Ausschweifung zu
verschaffen suchen. Denn wenn die Seele sterblich ist, dann, sagt der Apostel,
laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.«
404 Ad Sadoleti Epistolam
heute ihren Platz behält und mit Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit durch-
geführt wird, wie wir - darüber hinaus - ja auch immer bezeugt haben,
daß der klägliche Zusammenbruch der Kirche seine vornehmste Ursa-
che darin hat, daß sie durch Luxus und Nachgiebigkeit von Kräften
gekommen ist. Denn durch Zucht muß der Leib der Kirche, um in sich
Bestand zu haben, wie durch Sehnen zusammengehalten werden. 49 Wo
aber wird sie auf Eurer Seite geübt oder auch nur erstrebt? Wo sind
jene alten Canones geblieben, mit denen Bischöfe und Priester gleich-
sam wie an Zügeln in ihrer Pflicht gehalten wurden? Wie wählt man
10 denn bei Euch die Bischöfe? Nach welchem Prüfungsverfahren und
welcher Zensur? Mit welcher Sorgfalt und welcher Bürgschaft? Wie
werden sie in ihr Amt eingeführt? Nach welcher Ordnung und mit
welcher Verpflichtung?50 Nur damit die Sache erledigt ist, nimmt man
ihnen den Eid ab, sie wollten das Priesteramt antreten - das aber
15 anscheinend zu keinem anderen Zweck, als daß sie sich zu allen übri-
gen Schandtaten auch noch einen Meineid aufladen! Weil sie also mit
dem Antritt kirchlicher Ämter eine durch kein Gesetz eingeschränkte
Macht zu übernehmen meinen, glauben sie, damit einen Freibrief für
alles zu haben. Und so ist es schon glaubhaft, daß unter Piraten und
20 Räubern mehr Recht und Ordnung anzutreffen ist und mehr gilt als in
Eurem ganzen Stand.
Am Schluß [Eures Briefes] aber laßt Ihr eine Person auftreten, die
unsere Sache hätte führen sollen, und zitiert uns wie Angeklagte vor
25 Gottes Richterstuhl 51 : eben dahin rufe ich ohne Zögern nun Euch. Das
nämlich macht die Gewißheit unserer Lehre aus, daß sie auch vor dem
himmlischen Richter nicht zu erschrecken braucht, weil sie keinen
Augenblick daran zweifelt, von ihm ausgegangen zu sein. Bei den
Albernheiten aber, mit denen Ihr zu spielen beliebt, hält sie sich nicht
30 auf: sie sind hier völlig unangebracht. Gibt es denn etwas Unpassende-
res, als sich bei dem Schritt vor Gottes Angesicht was weiß ich für
Einfälle auszudenken und uns eine völlig unzureichende Verteidigung
anzudichten, die gleich in sich zusammenbrechen muß? Frommen Ge-
mütern jagt jener Tag, sooft sie an ihn denken, eine viel zu große Scheu
35 ein, als daß sie sich erlaubten, mit diesen Dingen derart gemütlich zu
scherzen. Darum wollen wir nun ohne alle Possen jenen Tag bedenken,
in dessen gespannter Erwartung wir Menschen immer leben sollen.
Und laßt uns daran denken, daß ihm die Gläubigen nicht so entgegen-
sehen müssen wie die Heiden, Verbrecher und Gottesverächter, für die
49 Von der ersten Auflage der Institutio an (1536; CO 1,226; OS I,255f.; Dt.
Ausg. a.a.O., 378) bis hin zur letzten (1559: IV,12,1; CO 2,905; OS V,212.
25f.) hat Calvin das entscheidende Argument filr die Kirchenzucht mit diesem
Bild der Sehnen umschrieben.
50 Vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen schon der ersten Institutio: CO
1,186ff.; OS I,212ff.; Dt. Ausg., a.a.O., 305ff.!
51 Epistola, CO 5,379f.; OS I,45If.
406 Ad Sadoleti Epistolam
Atqui haeresis illis fuit, quod receptis inter eos dogmatibus ausus sum
reclamare. Quid vero fecissern? Audiebam ex ore tuo, non aliam esse
veritatis lucem, ad animas nostras in viam vitae dirigendas, quam quae 20
averbo tuo accenderetur. Audiebam esse vanitatem, quiquid de tua
481 maiestate, de cultu numinis tui, de religionis tuae mysteriis I concipiunt
a se ipsis humanae mentes. Audiebam sacrilegam esse temeritatem, si
natae in hominum cerebris doctrinae pro verbo tuo ecclesaie ingeran-
tur. Quum autem oculos ad homines converterem, illic omnia longe 25
diversa apparebant. Qui fidei antistites habebantur, verbum tuum ne-
que intelligebant, neque magnopere curabant. Peregrinis tantum dog-
matibus circumagebant miseram plebem, ac nescio quibus ineptiis de-
ludebant. In plebe ipsa summa verbi tui veneratio erat, veluti rem
inaccessam procul revereri, interim ab omni eius inquisitione abstinere. 30
Haec tum supina pastorum socordia, tum populi stupiditas fecerat, ut
omnia perniciosis erroribus, mendaciis, suberstitionibus referta essent.
Unum quidem te Deum nominabant, sed quam maiestati tuae gloriam
vindicasti alio transferentes, tot sibi figurabant atque habebant deos, quot
pro sanctis colere volebant. Christus tuus adorabatur quidem pro Deo, 35
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 407
er mit Recht ein Tag des Schreckens sein wird. Die Ohren aufgetan für
den Ton der Posaune, den selbst die Asche der Verstorbenen aus ihren
Gräbern hören wird! Herz und Sinne dem Richter zugewandt, der
schon mit dem Glanz seines Angesichtes alles im Finsteren Verborge-
ne aufdeckt, der alle Geheimnisse der Menschenherzen ans Licht bringt
und mit dem bloßen Hauch seines Mundes alle Ungerechten vernich-
tet! Jetzt seht zu, was Ihr im Ernst für Euch und für die Eurigen
antworten wollt! Unserer Sache wird es, da sie aus Gottes Wahrheit
kommt, an einer vollständigen Rechtfertigung gewiß nicht fehlen. Von
10 uns selbst will ich dabei nicht reden: unser Heil liegt nicht in unserer
Verteidigung vor Gericht, sondern in demütigem Bekennen und fle-
hentlichem Bitten. Was aber die Sache selbst, unsem Dienst, anlangt,
so ist niemand unter uns, der nicht in dieser Weise für sich selbst
sprechen könnte:
15 Herr, ich habe erfahren, wie schwer und drückend es ist, unter Men-
schen eine so haßerfüllte Anklage zu ertragen, wie sie auf Erden auf
mir lastet; nun erscheine ich vor Dir mit demselben Vertrauen, mit dem
ich mich immer auf Deinen Richterstuhl berufen habe. Denn in Dei-
nem Gericht, weiß ich, regiert die Wahrheit. Im Vertrauen auf sie habe
20 ich zuversichtlich den ersten Schritt gewagt. Unter ihrem Schutz konn-
te ich vollführen, was ich nun in Deiner Kirche ausgerichtet habe.
Zweier höchst schwerer Verbrechen hat man mich angeklagt: der Irr-
lehre und der Kirchenspaltung.
25 Als Ketzerei gilt ihnen, daß ich gegen die bei ihnen anerkannten Dog-
men Einspruch zu erheben wagte. Doch was hätte ich tun sollen? Aus
Deinem Mund vernahm ich, daß es nur ein Licht der Wahrheit gibt,
unsere Herzen auf den Weg zum Leben zu führen, das Licht, das sich
an Deinem Wort entzündet. Ich vernahm, es sei leerer Schein, was sich
30 menschlicher Geist aus sich selbst über Deine Majestät, die Verehrung
Deiner Gottheit und die Geheimnisse Deiner Religion ausdenkt. Ich
vernahm, es sei frevelhaft, wenn an Stelle Deines Wortes Lehren, die
menschlichem Hirn entsprungen sind, in der Kirche eingeführt werden.
Sobald ich aber meine Augen zu den Menschen wandte, zeigte sich
35 dort von allem das Gegenteil. Leute, die als Eckpfeiler des Glaubens
galten, kannten Dein Wort nicht oder kümmerten sich nicht viel darum.
Nur mit fremder Lehre führten sie das arme Volk an der Nase herum
und hielten es mit wer weiß was für Torheiten zum besten. Im Volke
selbst herrschte übergroße Ehrfurcht vor Deinem Wort, wie vor einem
40 unnahbaren Wesen, das man aus der Ferne verehren, vor dessen genauer
Erforschung aber man sich hüten müsse. So brachte es die grenzenlose
Fahrlässigkeit der Pastoren zusanunen mit der Betäubung des Volkes
dahin, daß alles voll war von gefährlichen Irrtümern, Lügen und Aber-
glauben. Zwar nannte man Dich allein Gott, aber die Ehre, die Du
45 Deiner Majestät vorbehalten hast, übertrug man auf andere; man schuf
sich und hatte so viele Götter, wie man Heilige verehren wollte. Wohl
408 Ad Sadoleti Epistolam
wurde Dein Christus als Gott angebetet und behielt den Namen Erlö-
ser, dort aber, wo man ihn wirklich hätte ehren sollen, ließ man ihn
ehrlos liegen. So ging er, seiner Bedeutung beraubt, wie irgendein
anderer aus dem Volk, im Haufen der Heiligen unter. Da war niemand,
der das einzigartige Opfer, das er Dir am Kreuz dargebracht und durch
das er uns mit Dir versöhnt hat, angemessen würdigte, niemand, der an
sein ewiges Priesteramt und die damit verbundene Fürbitte auch nur im
Traum dachte, niemand, der allein in seiner Gerechtigkeit Ruhe finden
wollte. Die Gewißheit unseres Heils, die mit Deinem Wort steht und
10 fällt, war fast erloschen. Ja so unumstößlich, als wär's ein Orakel-
spruch, galt es als törichte Anmaßung - man sprach sogar von Vermes-
senheit -, wenn jemand im Vertrauen auf Deine Güte und die Gerech-
tigkeit Deines Sohnes die feste und unerschütterliche Hoffnung auf
sein Heil faßte. Nicht wenige gottlose Ansichten gab es, die die wich-
15 tigsten Überzeugungen der in Deinem Wort uns anvertrauten Lehre mit
der Wurzel ausrissen. Sogar das klare Verständnis von Taufe und
Abendmahl war durch eine Fülle von Lügen entstellt. Und weiter: auch
wenn alle ihr Vertrauen auf gute Werke setzten und damit Deine Barm-
herzigkeit aufs schwerste beleidigten - denn sie bemühten sich ja,
20 durch gute Werke Deine Gnade zu verdienen, sich Gerechtigkeit zu
erwerben, ihre Sünden zu sühnen und Dir Genugtuung zu leisten:
Dinge, die jedes für sich die Bedeutung des Kreuzes Christi ausstrei-
chen und entleeren - was aber eigentlich gute Werke sind, das wußte
doch niemand. Denn, als hätte Dein Gesetz sie nicht im mindesten
25 darin unterwiesen, was zur Gerechtigkeit gehört, legten sie sich vieler-
lei unnütze Einfälle zurecht, um sich damit Deine Gunst zu gewinnen!
Darin gefielen sie sich in einer Weise, daß sie darüber die Richtschnur
wahrer Gerechtigkeit, die uns in Deinem Gesetz gegeben wird, beinahe
verachteten. So weit war es gekommen, daß menschliche Satzungen,
30 nachdem sie einmal das Szepter an sich gerissen hatten, Deinen Gebo-
ten, wenn schon nicht die Glaubwürdigkeit, so doch die Geltung strei-
tig machten. Daraufmein Augenmerk zu richten, bist Du mir, Herr, mit
der Klarheit Deines Geistes entgegengekommen. Um zu erkennen, wie
gottlos und sträflich das alles ist, hast Du mir mit Deinem Wort die
35 Fackel vorangetragen; um es zu verabscheuen, wie sich's gebührt, hast
Du einen Stachel in mein Herz gelegt.
Was mein Gewissen aber zur Rechtfertigung der Lehre vorbringt, so
weißt Du, [Herr], daß es nicht meine Absicht gewesen ist, die Grenzen
zu überschreiten, die ich all Deinen Knechten gezogen sah. Was ich,
40 wie ich nie zweifelte, von Dir gelernt habe, das wollte ich der Kirche
getreu weitergeben. Mein hauptsächliches Bemühen, das ist gewiß,
war immer darauf gerichtet, wofür ich mich mit meiner Arbeit am
meisten eingesetzt habe, daß nämlich der Glanz Deiner Güte und Ge-
rechtigkeit die Nebel zerrisse, mit denen man sie umhüllt hatte, und
45 strahlend ans Licht trete, daß die Kraft und Wohhat Deines Christus
alle Übermalungen abstreife und in voller Klarheit aufleuchte. Kam es
mir doch als Frevel vor, die Dinge, zu deren Betrachtung und Erwä-
410 Ad Sadoleti Epistolam
Aber auch darin, was man mir als Trennung von der Kirche vorzuwer-
fen pflegt, habe ich kein schlechtes Gewissen: es sei denn, man wollte
den für fahnenflüchtig erklären, der das Feldzeichen des Führers hoch
hält, wenn er die Soldaten, aufgelöst und zersprengt, ihre Einheiten
15 verlassen sieht und sie auf ihre Posten zurückruft. Denn so zersplittert,
Herr, waren all die Deinen, daß sie auf keine Befehle mehr hören
konnten, ja sogar ihren Führer, ihren Dienst und ihren Fahneneid nach-
gerade vergessen hatten. Ich habe kein fremdes Fähnlein aufgezogen,
um sie aus ihrer Verirrung zu sammeln, sondern Dein herrliches Feld-
20 zeichen, dem wir Gefolgschaft leisten müssen, wenn wir zu Deinem
Volk gerechnet werden wollen. Bei dieser Gelegenheit haben sie Hand
an mich gelegt, Leute, die die andern in Reih und Glied hätten halten
sollen und sie stattdessen in Irrtum verführten. Und da ich nicht im
geringsten nachgab, wurde ihr Widerstand heftig. So begann es mit
25 schweren Unruhen, bis der aufflammende Kampf schließlich zur Tren-
nung führte. Wen nun aber die Schuld trifft, das zu entscheiden, 0 Herr,
steht bei Dir. Ich habe meinen Eifer um die Einheit der Kirche immer
mit Wort und Tat bezeugt. Dabei war es mir allerdings um jene Einheit
zu tun, die von Dir ihren Ausgang nimmt und in Dir ihr Ziel findet.
30 Denn sooft Du uns Frieden und Einmütigkeit geboten hast, hast Du
dabei zugleich auf Dich selbst als das einzige Band zu ihrer Erhaltung
gewiesen. Wenn ich nun mit denen, die sich zu Priestern der Kirche
und Säulen des Glaubens aufwarfen, Frieden halten wollte, so hätte ich
ihn mit der Absage an Deine Wahrheit erkaufen müssen. Ich meinte
35 aber eher alles andere auf mich nehmen zu können, als mich zu diesem
ruchlosen Handel zu erniedrigen. Denn Dein Christus hat uns ja selbst
verheißen: Dein Wort müsse ewig bestehen, auch wenn Himmel und
Erde aus den Fugen geraten (Mt 24,35).
Auch glaubte ich nicht, mich von Deiner Kirche zu trennen, weil ich
40 mit jenen Wortführern im Kriege lag. Denn Du hast uns durch Deinen
Sohn und durch die Apostel zuvor gewarnt, daß an diese Stelle Empor-
kömmlinge gelangen würden, mit denen man auf keinen Fall im Einver-
ständnis leben darf. Nicht von Leuten, die von außen herankommen,
52 Vgl. den berühmten Anfangssatz des späteren Genfer Katechismus: »Quelle est
Ja principaJe fin de Ja vie humaine? - C'est de cognoistre Dieu«; W. NIESEL,
a.a.O.,3.19f.
412 Ad Sadoleti Epistolam
sondern von solchen, die sich als Hirten feil bieten, hatte er gesagt, es
würden reißende Wölfe und falsche Propheten sein, und mir zugleich
geboten, vor ihnen auf der Hut zu sein (Mt 7,15). Wo er Vorsicht
befahl, hätte ich da meine Hand hinstrecken sollen? Die Apostel nann-
ten als die gefährlichsten Feinde Deiner Kirche die, die aus ihrer eige-
nen Mitte hervorgehen und sich unter dem Titel von Pastoren verstek-
ken (Apg 20,29; II Petr 2,1; I Joh 2,18). Wie hätte ich da Bedenken
tragen sollen, mich von denen zu trennen, die sie für Feinde zu halten
geboten? Mir stand das Beispiel Deiner Propheten vor Augen, die, wie
10 ich weiß, so schwere Kämpfe mit den Priestern und Propheten ihrer
Zeit zu bestehen hatten und die doch sicher im jüdischen Volk die
kirchlichen Führer gewesen sind. Aber deshalb wurden Deine Prophe-
ten doch nicht für Schismatiker gehalten, weil sie denen, die sich ihrem
Eifer um den Wiederaufbau einer zusammengebrochenen Frömmigkeit
15 mit aller Energie entgegenstellten, keinen Schritt breit gewichen sind.
Sie blieben also in dem wahren Verband der einen Kirche, während sie
von verbrecherischen Priestern mit schweren Bannflüchen belegt wur-
den und man sie keines Platzes unter den Menschen, geschweige denn
unter den Heiligen für würdig hielt. Durch ihr Beispiel bestärkt bin ich
20 fest geblieben, so daß mich weder die Beschuldigungen kirchlicher
Fahnenflucht noch Drohungen einschüchtern konnten, jenen Gegnern
künftig etwa weniger standhaft und unerschrocken Widerstand zu lei-
sten, die unter der Maske von Pastoren Deine Kirche mit mehr als
gottloser Tyrannei zugrunde richteten. Denn mein Gewissen stellte mir
25 das beste Zeugnis aus, mit welchem Eifer ich brannte, Deine Kirche zu
einen, wenn nur Deine Wahrheit das Band ihrer Eintracht wäre. Die
Unruhen, die daraus folgten, habe nicht ich angestoßen, und es gibt
daher auch keinen Grund, sie mir zur Last zu legen.
Du weißt, Herr, und auch die Menschen haben den Beweis dafür, daß
30 ich nichts anderes gesucht habe, als mit Deinem Wort alle Streitigkei-
ten zu schlichten, damit beide Seiten einmütig zur Festigung Deines
Reiches zusammenarbeiten. [Du weißt], daß ich mich der Wiederher-
stellung des Friedens in der Kirche nicht verweigert habe, selbst um
den Preis meines Kopfes, wenn man mich überführt hätte, um nichts
35 und wieder nichts Lärm zu schlagen. Aber meine Gegner? Sind sie
nicht wie rasend nach Feuer, Kreuz und Schwert losgestürmt? Haben
sie nicht Folterwerkzeuge und Grausamkeit für ihren einzigen Schutz
gehalten? Haben sie nicht alle Stände zu gleichem Wüten aufgesta-
chelt?S3 Haben sie nicht jedes Mittel abgewiesen, das den Frieden hätte
40 bringen können? So kam es, daß eine Angelegenheit, die man sonst
freundlich hätte beilegen können, zu solch einem Streit aufflammte.
Doch obwohl in so gewaltigen Wirren die Urteile der Menschen ver-
schieden ausfallen, bin ich frei von jeder Furcht. Denn wir stehen vor
Deinem Richterstuhl, wo nur Billigkeit Hand in Hand mit Wahrheit
45 das Urteil fällen kann, so wie es der Unschuld entspricht.
53 Vgl. hierzu den Brief an König Franz I aus dem Jahre 1536 (= Widmungs-
schreiben der Institutio, CO I, l3f., in dieser Ausgabe S. 66ft).
414 Ad Sadoleti Epistolam
Da seht Ihr, Sadolet, wie wir unsere Sache führen, nicht wie Ihr es nach
Eurem Belieben erdichtet, um uns schwer zu belasten, sondern - was
schon jetzt alle Gutwilligen anerkennen und an jenem Tag aller Krea-
tur offenbar werden wird - wie es sich in Wahrheit verhält. Aber auch
denen, die durch die Schule unserer Predigt gegangen sind und sich
gemeinsam mit uns derselben Sache angenommen haben, fehlt es nicht
an Gründen, die sie für sich selbst vorbringen können; eine Verteidi-
gung folgender Art steht jedem zur Hand:
Herr, wie ich von Kind auf gelehrt worden war, habe ich mich immer
zum christlichen Glauben bekannt. Von diesem Glauben aber hatte ich
anfangs keinen anderen Begriff als den, der sich damals allenthalben
15 durchgesetzt hatte. Dein Wort, das Deinem ganzen Volk wie eine
Fackel hätte voranleuchten sollen, war uns weggenommen oder minde-
stens vorenthalten. Und damit ja niemand Sehnsucht nach mehr Licht
bekäme, hatte sich in allen Herzen die Überzeugung festgesetzt, die
Erforschung dieser verborgenen, himmlischen Weisheit bleibe am be-
20 sten einigen wenigen überlassen, von denen man dann Orakelsprüche
einholen könnte: für den gemeinen Verstand schicke sich kein tieferes
Verständnis, als zur gehorsamen Unterwerfung unter die Kirche [dien-
lich sei]. Die Bruchstücke aber, in die man mich eingeweiht hatte,
waren derart dürftig, daß sie mich zur rechten Verehrung Deiner Gott-
25 heit nicht anleiten konnten. Weder ebneten sie mir den Weg zu einer
zuversichtlichen Hoffnung auf mein Heil, noch bildeten sie mich zur
Führung eines christlichen Lebens heran. Dich allein als meinen Gott
zu verehren, hatte ich wohl gelernt; da mir aber das rechte Verständnis
dafiir gänzlich fehlte, stolperte ich gleich beim ersten Anlauf. Ich glaubte,
30 wie man mich gelehrt hatte, daß ich durch den Tod deines Sohnes von
der Fessel des ewigen Todes erlöst sei. Doch diese Erlösung war mir
ein Traumbild, dessen Wirklichkeit nie bis zu mir gelangte. Ich erwar-
tete den kommenden Tag der Auferstehung, doch ich dachte daran mit
Schaudern wie an das schwärzeste Unheil. Und dieses Empfinden war
35 mir nicht etwa privat zu Hause eingepflanzt worden, ich hatte es viel-
mehr als [Frucht jener] Lehre in mich aufgenommen, die damals von
den Lehrern der Christenheit allem Volk weitergegeben wurde. Zwar
predigten sie von Deiner Güte gegen uns Menschen, doch [sollte sie]
nur denen gegenüber [gelten], die sich ihrer als würdig erwiesen hat-
40 ten. Diese Würdigkeit aber verlegten sie in die Werkgerechtigkeit; nur
der werde von Dir in Gnaden aufgenommen, der sich durch seine
Werke mit dir ausgesöhnt hätte. So stellten sie auch wieder nicht in
Abrede, daß wir arme Sünder sind, welche die Schwachheit des Flei-
sches oftmals zu Fall bringt. Gerade deshalb müsse Deine Barmherzig-
45 keit allgemein gelten, ein Freihafen des Heils für alle; doch als Rechts-
grund, sie zu erlangen, flihrten sie an, es müsse Dir für alle Beleidigun-
416 Ad Sadoleti Epistolam
quum interim excitata est longe diversa doctrinae forma, non quae a
christiana professione nos abduceret, sed quae illarn ad suum fontem
reduceret, et velut a faecibus repurgatarn suae puritati restitueret. Ego
vero novitate offensus, difficulter aures praebui: ac initio, fateor, stre-
nue animoseque resistebarn. Siquidem (quae hominibus ingenita est in 20
retinendo quod semel susceperunt instituto, vel constantia, vel contu-
macia), aegerrime adducebar, ut me in ignoratione et errore tota vita
versatum esse confiterer. Una praesertim res animum ab illis meum
avertebat, ecclesaiae reverentia. Verum ubi aliquando aures aperui,
meque doceri passus sum, supervacuum fuisse timorem illum intellexi, 25
ne quid ecclesiae maiestati decederet. Multum enim interesse admone-
bant, secessionem quis ab ecclesia faciat, an vitia corrigere studeat,
quibus ecclesia ipsa contarninata est. De ecclesia praeclare loqueban-
Antwort an Kardinal Sadolet (1539) 417
54 Diese Sätze gelten in der neueren Forschung als eines der wenigen autobiogra-
phischen Zeugnisse Calvins, vergleichbar dem kurzen Abschnitt in der Vorrede
zur Psalmenauslegung von 1537, in dem das Wort von der »subita conversio«
fcillt (CO 31, 22), und der oft zitierten Notiz aus der zweiten Verteidigungs-
schrift gegen Westphal (Seconde Defense contre Westphal, 1556, CO 9,51): F.
WENDEL, 24f.; CADIER 41f.; vgl. auch P. BARTH, 25 Jahre Calvinforschung, in:
ThR 1934, 169f.
418 Ad Sadoleti Epistolam
ten sie von der Kirche, legten höchsten Eifer an den Tag, ihre Einheit
zu bewahren. Um nicht den Anschein zu erwecken, als trieben sie mit
dem Namen der Kirche Spott, legten sie dar, daß es durchaus nicht so
unerhört sei, wenn dort an Stelle der Pastoren der Antichrist das Szep-
ter führe. Viele Beispiele dieser Art fiihrten sie an, aus denen klar
hervorging, daß sie kein anderes Ziel verfolgten als die Erbauung der
Kirche, ja daß sie sich in diesem Punkt derselben Sache annähmen wie
viele Diener Christi, die wir selbst doch unter die Heiligen zählten.
Daß sie sich dabei aber zu einem freimütigeren Vorgehen gegen den
10 römischen Papst fortreißen ließen, der als Stellvertreter Christi, als
Nachfolger des Petrus und als oberster Herr der Kirche verehrt wurde,
entschuldigten sie so: Derlei Titel seien leere Schreckbilder, mit denen
man die Augen der Gläubigen nicht derart blenden dürfe, daß sie sich
nicht mehr getrauten, die Sache selbst anzusehen und abzuschütteln.
15 Denn er sei nur deshalb zu einem solchen Gipfel emporgekommen,
weil die Welt von Unwissenheit und Schwäche wie von einem Tief-
schlaf überwältigt war; auch sei er gewiß nicht durch Gottes Wort,
auch nicht durch Ordination aufgrund einer legitimen Berufung der
Kirche zu deren Herrn eingesetzt, sondern habe sich - durch eigene
20 Willkür - dazu ernannt. Diese Tyrannei, die sich über Gottes Volk
breit gemacht habe, dürfe auf keine Weise länger geduldet werden,
wenn wir Christi Reich unversehrt unter uns erhalten wollten. An
stichhaltigen Beweisen fehlte es ihnen nicht, um das alles zu belegen.
Zunächst zerpflückten sie alle [Argumente], die man damals zur Festi-
25 gung der päpstlichen Vorherrschaft beizubringen pflegte, und nachdem
sie ihr all ihre Grundpfeiler weggezogen hatten, zerstörten sie mit
Gottes Wort zuletzt auch ihren hochragenden Bau. So weit kam es
schließlich, daß es vor den Augen der Gebildeten und Ungelehrten
völlig am Tage lag: Die wahre Gestalt der Kirche war damals unterge-
30 gangen; ihre Schlüsselgewalt, auf der die Kirchenzucht beruht, aufs
übelste verfälscht, die christliche Freiheit zusammengebrochen, ja, Chri-
sti Herrschaft lag niedergeworfen am Boden, seit diese Macht sich
erhoben hatte.
Außerdem hatten sie [noch ein Argument], mein Gewissen zu schär-
35 fen, nur ja nicht in den Schlaf der Sicherheit zu fallen, als ginge mich
das alles nichts an: Denn wenn einer schon nicht ungestraft in die Irre
gehen kann, den bloße Unkenntnis vom Wege abführt, dann sei es
doch völlig abwegig, für freiwilligen Irrtum bei Dir Schutz zu finden.
Dafür beriefen sie sich auf das Zeugnis Deines Sohnes: »Wenn ein
40 Blinder einen Blinden fiihrt, fallen beide in die Grube« (Mt 15,14).
Und als sich mein Geist nun zu ernsthafter Aufmerksamkeit bereit
fand, da merkte ich erst, wie wenn mir jemand plötzlich ein Licht
aufgesteckt hätte, in was für einem Sumpf von Irrtümern ich mich
gewälzt hatte, mit wieviel Schmutz und Flecken ich daher verunstaltet
45 war. Tief bestürzt über die Erkenntnis des Elends, in das ich gefallen
war, und viel mehr noch dessen, das mir drohte - des ewigen Todes -
tat ich, was meine Pflicht war, hielt nichts für dringlicher, als unter
Seufzen und Tränen über meine bisherige Lebensführung den Stab zu
420 Ad Sadoleti Epistolam
Nune istam aetionem, Sadolete, eum ea, si libet, eompara, quam ple-
beio tuo assignasti. Mirum, si haesitabis, utram alteri praeferre debeas.
Illius enim profeeto salus de filo pendet, euius defensio in hoc eardine
vertitur: quod quae sibi a proavis ae maioribus tradita sit religio, eam
eonstanter retinuerit. Iudaei, et Tureae, et Sarraeeni hae ratione Dei
iudieio elaberentur. Faeessat ergo inanis ista tergiversatio ab eo tribunali, 10
quod non hominum autoritati eomprobandae, sed universa eame vani-
tatis mendaeiique damnata, asserendae unius Dei veritati erigetur. Quod
si inseptiis teeum eertare vellem, quam rnihi imaginem pingere lieeat,
non dieo papae, aut eardinalis, aut eiuiuslibet e vestra faetione reveren-
487 di praesulis (quibus fere omnibus qui eolores aptari queant I ab homine 15
non valde ingenioso, pulchre nosti), sed doetoris alieuius, vel inter
omnes vestros seleetissimi? Nihil sane opus esset, ad eius damnatio-
nem, vel dubias in eum eonieeturas proferre, vel falsa erimina ementiri.
Iustis enim ae eertis plus satis gravaretur. Sed ne, quod in te reprehen-
do, imitari videar, hoc agendi genere supersedeo. Tantum [414] horta- 20
bor, ut ad se aliquando redeant, ae seeum reputent, quam fideliter
pascant ehristianum populum, eui non alius esse potest panis quam Dei
sui verbum.
Et ne sibi nimium blandiantur, quod nune magno applausu, et seeundis
magna ex parte admurmurationibus, fabulam suam agunt, eogitent non- 25
dum ad eatastrophen se pervenisse: in qua eerte non habebunt thea-
trum, ubi suos fumos impune vendant, ubi eredulas mentes imposturis
illaqueent: sed unius Dei arbitrio stabunt vel eadent: euius iudieium
non ab aura populari, sed a sua ipsius inflexibili aequitate pendebit: qui
non modo de euiusque faetis inquiret, sed de reeondita eordis sineerita- 30
te vel nequitia quaestionem exereebit. Ego de omnibus, nulla exceptio-
ne, pronuneiare non audeo. Quotusquisque tamen eorum est, qui dum
adversum nos eonflietatur, non sibi eonseius sit, operam se magis
hominibus quam Deo loeare?
Antwort an Kardinal Sadolet (J 539) 421
Nun Sadolet, vergleicht, wenn Ihr mögt, diese Verteidigung mit der,
die Ihr Eurem Manne in den Mund legt! Es wäre schon erstaunlich,
wenn Ihr zögern würdet, welcher von beiden Ihr den Vorzug geben
10 müßt! Denn wessen Verteidigung sich nur um den Angelpunkt dreht,
er habe die ihm von Urahnen und Voreltern überkommene Religion
standhaft bewahrt, dessen Heil hängt wahrhaftig an einem Faden! Mit
diesem Argument könnten auch Juden, Türken und Sarazenen dem
Gericht Gottes entkommen. Hinweg also mit solch hohler Ausflucht
15 vor diesem Richterstuhl, der doch nicht zur Bestätigung des Ansehens
von Menschen aufgerichtet wird, sondern um alles Fleisch der Eitelkeit
und Lüge schuldig zu sprechen und allein Gottes Wahrheit zur Geltung
zu bringen. Wenn ich um solche Kindereien mit Euch streiten wollte,
was müßte ich denn dann fiir ein Bild malen, ich will nicht sagen: vom
20 Papst, vom Kardinal oder sonst einem würdigen Kirchenmann Euer
Partei (und Ihr wißt recht wohl, welche Farben ein nicht vor Geist
sprühender Mann für alle von ihnen verwenden könnte!), sondern von
irgendeinem Eurer Doktoren, und sei es der auserlesenste unter allen!
Zu seiner Verurteilung wäre es gar nicht nötig, zweifelhafte Vermutun-
25 gen vorzubringen oder falsche Anschuldigungen zu erdichten. Die zu
Recht bestehenden und unbestreitbaren würden ihn mehr als genug
belasten! Doch um nicht den Anschein zu erwecken, das nachzuah-
men, was ich an Euch tadle, will ich auf diese Kampfesweise verzich-
ten. Nur ermahnen will ich sie alle, daß sie wieder zur Besinnung
30 kommen und sich selbst Rechenschaft darüber ablegen, mit welcher
Treue sie denn Ihr Hirtenamt an dem christlichen Volk wahrnehmen,
das doch gar kein anderes Brot hat als das Wort seines Gottes.
Sie sollen sich auch nicht allzusehr damit schmeicheln, daß sie jetzt
unter großem Beifall und größtenteils freundlichem Gemurmel ihr
35 Drama aufführen, sondern daran denken, daß sie noch nicht an dem
großen Wendepunkt [des Gerichtstages] angekommen sind: Da werden
sie gewiß kein Theater finden, wo sie ihr Geschwätz ungestraft verkau-
fen oder leichtgläubige Herzen mit ihrem Betrug umgarnen können.
Da werden sie dem Urteil des einen Gottes stehen und fallen. Dessen
40 Urteil aber hängt nicht ab von der Gunst des Volkes, sondern von
seiner unbeugsamen Gerechtigkeit. Er forscht nicht nur nach dem, was
ein jeder getan hat, sondern fragt nach der verborgenen Lauterkeit oder
Nichtsnutzigkeit der Herzen. Über alle, ohne Ausnahme, wage ich kein
Urteil zu fällen. Doch wie wenige unter ihnen gibt es, die sich im
45 Kampf gegen uns darüber im klaren sind, daß sie sich mehr fiir Men-
schen als fiir Gott abmühen?
422 Ad Sadoleti Epistolam
Iarn quurn tota epistola nos supra modurn inclementer tractes, extrema
tarnen clausula virus tuae acerbitatis pleno ore in nos effundis. Quan-
quarn autem nos minime convicia illa feriunt, et illis iarn pro parte
antea responsurn est, quid tarnen, quaeso, in mentem tibi venit, ut
avaritiarn adhuc nobis obiiceres? Putasne tantarn in nostris hominibus
fuisse hebetudinem, ut non ab ipsis exordiis cogitarent, se earn ingredi
viarn quae lucro et quaestui esset adversissima? An vero quurn vestrarn
ipsorum avaritiarn traducerent, non videbant magnarn se necessitatem
sibi imponere continentiae ac frugalitatis, nisi pueris quoque ipsis facere
se ridiculos vellent? Quum rationem eius corrigendae esse ostenderent, 10
ut nimiis opibus exonerarentur pastores, quo ad ecclesiae curarn magis
essent expediti, an sibi sponte aditum ad opes praecludebant? Quae
enim iarn restabant divitiae, quibus imminerent? Quid? annon hoc erat
facillimurn ad divitias honoresque compendium, statim ab initio iis
quae offerebantur pactionibus vobiscum transigere? Quanti turn mul- IS
torum silentium redemisset pontifex vester? Quanti hodie quoque redi-
meret? Cur, si vel minima habendi cupiditate titillantur, ornni spe
augendae rei praecisa, malunt perpetuo sic miseri esse, quarn citra
magnarn difficultatem uno temporis momento ditescere? Sed arnbitio,
488 scilicet, eos retinet. Eius I quoque suggillationis quarn habueris causarn, 20
non video, quum nihil aliud potuerint exspectare, qui hanc actionem
aggressi sunt primi, quarn ut a toto orbe conspuerentur: et qui postea
accesserunt scientes ac volentes se innumeris totius mundi conturneliis
ac probris exposuerint. Ubi autem fraudes illae ac intestinae malitiae?
Nulla enim earum suspicio in nobis haeret. De iis ergo potius tracta in 2S
sacro vestro collegio, ubi quotidie agitantur.
Seid Ihr schon im ganzen Brief über Gebühr unsanft mit uns umgegan-
gen, so schüttet Ihr im letzten Abschnitt das Gift Eurer Bitterkeit aus
vollem Halse über uns aus. Obwohl uns ja dieses laute Geschrei nicht
im mindesten berührt und wir Euch darauf zum Teil schon oben geant-
wortet haben: was, ich bitte Euch, fällt Euch denn ein, uns noch einmal
Habgier vorzuwerfen?55 Haltet Ihr denn unsere Leute für so geistes-
schwach, daß sie nicht schon beim ersten Schritt auf den Gedanken
gekommen wären, einen Weg unter die Füße zu nehmen, der allem
Gewinn und Erwerb direkt entgegengesetzt ist? Sollten sie etwa nicht
10 gesehen haben, daß sie mit dem Versuch, Eure eigene Habgier bloßzu-
stellen, die unbedingte Verpflichtung zu einem enthaltsamen und be-
dürfnislosen Leben auf sich nehmen, wenn sie sich nicht schon vor
Kindern lächerlich machen wollten? Und wenn sie als Mittel, diesen
Mißstand zu beheben, die Entlastung der Pfarrer von der Bürde über-
15 großen Reichtums vorschlugen, um desto freier zum Dienst an der
Kirche zu sein: haben sie sich damit etwa nicht selbst den Zugang zum
Reichtum verschlossen? Was blieben denn da noch für Schätze, denen
sie nachjagen konnten? Oder - wäre das nicht der einfachste Weg
gewesen, zu Reichtum und Ehre zu kommen, gleich im Anfang den
20 ihnen angebotenen Vergleich mit euch abzuschließen? Was hätte sich
damals Euer Papst das Schweigen so vieler Männer kosten lassen? Wie
viel würde er heute noch dafür zahlen? Wenn aber auch nur ein Fünk-
chen Habsucht in ihnen glühte, warum ziehen sie es dann vor, von
jeder Hoffnung auf Wachstum ihrer Güter abgeschnitten, beständig in
25 solchem Elend zu leben, als in einem einzigen Augenblick ohne jede
Mühe reich zu werden? Doch Ehrgeiz, [sagt Ihr], hält sie zurück. Auch
bei dieser Unterstellung sehe ich wirklich nicht, was Euch den Anlaß
dazu gibt; denn die mit diesem Werk den Anfang gemacht haben,
konnten doch wirklich nichts anderes erwarten, als von der ganzen
30 Welt angespuckt zu werden, und die später dazugekommen sind, haben
sich mit Wissen und Willen unzähligen Beleidigungen und Schmähun-
gen der ganzen Welt ausgesetzt! Wo aber sind die Betrügereien, [von
denen Ihr sprecht], wo die versteckte Bosheit? Von alledem bleibt kein
Verdacht an uns haften. Diese Dingen behandelt doch besser in Eurem
35 heiligen Kollegium, wo man tagtäglich damit zu tun hat!
Weil ich zum Schluß kommen will, muß ich Eure weiteren Verleum-
dungen übergehen: wir hätten, weil wir uns auf unseren eigenen Kopf
versteifen, in der ganzen Kirche niemanden gefunden, dem wir irgend-
55 Sadolet legt dem Protestanten als letzten Satz vor Gottes Richterstuhl die Worte
in den Mund: »Ich bin der Urheber großer Unruhen und Spaltungen in der
Kirche«, und fügt die Bemerkung an: »Er hat recht gesprochen, denn vor dem
himmlischen Richter ist nicht der Ort zu lügen, obwohl er viel von dem, was er
an Ehrgeiz, Habgier, Ruhmsucht beim Volke, Betrug und versteckter Bosheit
in sich erkennt, verschwiegen hat. Doch es kommt an den Tag, weil es ihm
vom auf der Stirn geschrieben steht; a.a.O., 381 (OS 1,453).
424 Ad Sadoleti Epistolam
56 In dem Anm. 55 zitierten Zusammenhang heißt es: »Ich habe die Schrift auch
mit größerer Begabung erforscht als die Alten, ganz besonders dann, wenn ich
in ihr etwas suchte, was ich gegen sie (sc. die Vertreter der Kirche) wenden
konnte.« Sadolet kommentiert: »Auf seinen eigenen Kopf gestützt hat er nie-
manden unter den alten ... Vätern, ja nicht einmal unter den Bischöfen der
allgemeinen Synoden, den er der Ehre wert hielte, ihm Vertrauen und Gehor-
sam entgegenzubringen; alles maßt er sich an, eher zum Widerspruch als zum
Lernen oder Lehren bereit, da er sich ja von der allgemeinen Kirche losgesagt
hat: was erwartet er denn als Hafen seines Heils?«, a.a.O., 381; OS 1,453f.
57 Epistola, a.a.O., 382; OS I,454: »Doch wenn man auch alles übrige ... auf
irgendeine Weise aushalten und geduldig ertragen könnte, wie sollte man es
dulden, ... daß sie sich daran gemacht haben, die einzige Braut Christi zu
zerreißen?, daß diese Leute es gewagt haben, das Gewand unseres Herrn, das
selbst die gemeinen Soldaten nicht haben teilen wollen, nicht nur aufzuteilen,
sondern zu zerstückeln?«
426 Ad Sadoleti Epistolam
58 Anspielung auf die seit Februar 1539 schwebenden Verhandlungen über ein
Religionsgespräch, das im Juni 1540 In Hagenau und zehn Wochen später in
Worms zustande kam. Calvin nahm als Delegierter der Straßburger Kirche
daran teil. Dazu: STÄHELIN, I,323f.
59 Epistola, a.a.O., 382, OS 1,454. Der Anm. 57 zitierte Text fährt fort: »Denn
wieviele Sekten - wobei diese Leute den Anfang machen - haben die Kirche
schon zerspalten? Mit ihnen stimmen sie nicht überein, aber auch untereinander
leben sie in Zwietracht. Daß dies ein offenkundiges Zeichen ihrer Unwahrheit
ist, bestätigt jede Lehre.« Zum Problem der Sekten im Umfeld der Reformation
Vgl. insbes. E. BLOESCH, Geschichte der schweizerisch-reformierten Kirchen,
Bd. I, Bern 1898, 300ff.
428 Ad Sadoleti Epistolam
est Satan Christi opus impedire. Hoc quaerere magis ad rem pertinebat,
quis omnibus quae se extulerunt sectis expugnandis incubuerit. Constat
autem nos solos, vobis otiosis ac stertentibus, totam hanc molem susti-
nuisse.
Faxit Dominus, Sadolete, ut tu ac reliqui omnes tui aliquando intelligatis,
non aliud esse ecclesiasticae unitatis vinculum, quam si Christus Domi-
nus, qui nos Deo patri reconciliavit, in corporis sui societatem nos ab
ista disspatione recolligat: ut ita uno eius verbo ac spiritu in cor unum
et animam unam coalescamus.
Werk Christi zu behindern. Sehr viel mehr hätte es zur Sache beigetra-
gen, danach zu fragen, wer sich denn auf den Kampf mit all den neu
entstandenen Sekten eingelassen hat. Da aber steht fest, daß allein wir
es waren, die die ganze Mühe auf sich genommen haben, während Ihr
müßig dabei standet und im Tiefschlaf lagt.
So gebe denn Gott, Sadolet, daß Ihr mit all den Euren doch noch
einmal erkennt: es gibt kein anderes Band kirchlicher Einheit, als daß
uns Christus, der Herr, der uns mit Gott, dem Vater, versöhnt hat, aus
unserer Zerstreuung in die Gemeinschaft seines Leibes sammelt, damit
10 wir so allein durch sein Wort und seinen Geist zu einem Herzen und
einer Seele zusammenwachsen.
6 A.a.O., 487.
7 1. Calvin, Secunda defensio piae et orthodoxae de sacramentis fidei, adversus
Joachimi Westphali calumnias (CO 9,51): »Quum enim e tenebris papatus
emergere incipiens, tenui sanae doctrinae gustu concepto, legerem apud
Lutherum, nihil in Sacramentis ab Oecolampadio et Zuinglio reliquum fieri
praeter nudas et inanes figuras, ita me ab ipsorum libris alienatum fuisse fateor,
ut diu a lectione abstinuerim.«
8 Calvin, Traktat, Siehe unten S. 487
9 Das entsprach wohl auch der anderen sozialen Situation der Schweiz gegen-
über der im deutschen Norden. Nach E. BIZER, Studien zur Geschichte des
Abendmahlstreites im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1940, 3. Auf}. Darmstadt
1972, 183, erklärten Capito und Bucer am 19.1. 1537 Luther, warum sich die
Abendmahlsverhandlungen mit den Schweizern so in die Länge ziehen: »Diese
Brüder dürfen nämlich in kirchlichen Angelegenheiten in ihren Städten ohne
den großen Rat, wie sie ihn nennen (dieser besteht aus zweihundert), in den
Landgemeinden ohne das ganze Volk nichts festsetzen.«
10 Brief Calvins an V. Dietrich am 17.3.1546, bei SCHWARZ, 336; lateinisch:
CO 12, 315-317.
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) - Einleitung 433
18 P. HENRY, Das Leben Calvins des großen Reformators, Erster Band, Hamburg
1835,266.
19 Brief Calvins an M. Bucer am 12.1.1538, in: SCHWARZ, 59; latein. bei
HERMINJARD 2,341.
20 Calvin CO 1,1003f.
21 Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken, 5. Theil, hg. von W.M.L.
DE WETTE, Berlin 1828,211.
22 BriefCalvins an G. Farel am 20.11.1539, in: SCHWARZ, 136f.; CO 10/2, 273ff.
23 HENRY, a.a.O., 273.
24 Calvin, Traktat, 491
25 SCHWARZ,335.
26 P. BARTH, in: OS 1,500.
27 Calvin, Traktat, 489.
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) - Einleitung 435
anspielt und also etwa an das Jahr 1540/1 als Datum der Niederschrift
denken läßt. Zudem bleibt bei einer Frühdatierung dunkel, weshalb
Calvin mit der Publikation dann nahezu vier Jahre wartete. Doch
könnten die Einwände sich auch relativ leicht ausräumen lassen und
könnte Calvins eigene Zeitangabe auch als zutreffend angesehen wer-
den. Die Entstehung der Schrift wäre dann unmittelbar in einer Situa-
tion zu suchen, über die im folgenden Näheres gesagt werden muß.
28 BIZER, a.a.O. (Anm. 9), bringt 117f. den Text der Konkordie.
29 A.a.O., 128.
30 A.a.O.,99. 145.
31 A.a.O., 149. 172.
32 A.a.O., 172.
436 Kleiner Abendmahlstraktat (1541) - Einleitung
33 A.a.O.,176-178.
34 A.a.O.,180ff.
35 So würdigt BIZER, a.a.O., 185 Bucers Verdienst.
36 A.a.O.,201.
37 Calvins Brief vom 12.1. 1538 an Bucer in: SCHWARZ, 58-64; die latein. Fas-
sung des Briefes bei HERMINJARD 2,338ff..
38 So G. W. LOCHER, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen
Kirchengeschichte, GöttingenlZürich 1979, 343, gegen BIZERS Deutung, der
a.a.O., 228 und 233 das Scheitern der Konkordie allein den Zürcher Zwinglianern
anlastet.
39 BIZER, a.a.O.,161f. Capito und Bucer ließen hier die »zwinglianischen« Auf-
stellungen passieren: I) Leib und Blut Christi sind im Mahl nicht »substantialiter«
gegenwärtig; 2) in dem nach »Christi Ordnung« ausgeteilten Mahl werde Chri-
stus »allein durch das gläubig gemüt warlich .. , empfangen«.
40 BIZER, a.a.O.,204ff.
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) - Einleitung 437
schaft zu einigen. Wichtig war die letztere, bei der Bucer für seine
Pläne Anklang fand. Bei der Gelegenheit legte Calvin mit Farel und
Viret eine »Confessio fidei de Eucharistia« vor, die die Zustimmung
der Straßburger fand, 41 aber auch die der Zürcher. 42 Schon in dieser
Confessio findet sich Calvins Kernsatz, daß uns »unter den Zeichen
von Brot und Wein« im Mahl »die Substanz des Fleisches und Blutes
des Herrn wahrhaftig zur Unsterblichkeit nährt und durch die Teilha-
be daran lebendig macht«.43 Wohl ist es ein »geistliches« Mahl, in dem
es um die geistliche Gemeinschaft mit Christus geht, aber eben darum
eines in der Gegenwart Christi, in der er seine Gemeinschaft »anbietet
und gewährt (offert et exhibet) allen, die es recht (rite) feiern gemäß
seiner wirklichen Einsetzung«. 44 Schon hier gilt dabei der Geist als das
»Band«, das das räumlich Getrennte vereint, nämlich uns mit dem in
den Himmel erhöhten Leib Christ. - Ein viertes Mal trat Calvin, der
eben in Genf vertrieben worden war, neben Bucer auf bei den Zürcher
Abendmahlsverhandlungen vom 28.4. bis 3. 5.1538. 45 Ihr Resultat war
ein neuer Brief an Luther, in dem das Doppelte zugunsten einer Kon-
kordie erklärt wurde: zum einen die Freude über Luthers Zustimmung
zur Abendmahlsbestimmung der Confessio Helvetica prior, zum ande-
ren das Bekenntnis der Schweizer dazu, daß im Abendmahl nicht »lee-
re Zeichen«, sondern Leib und Blut Christi empfangen werden, freilich
recht »allein durch das gläubig gemüt«.
Ist Calvins Traktat tatsächlich schon 1537 verfaßt worden, so wäre
das am ehesten im unmittelbaren Umfeld der Berner September-
Synode vorstellbar. In dieser Situation läßt sich seine Bemerkung am
besten begreifen, daß in Sachen des Abendmahls zwischen Wittenberg
41 Texte der Confessio und der Zustimmung von Capito und Bucer, in OS I,433f.;
die Confessio stammt von Calvin.
42 HENRY, a.a.O., 183.
43 Die obige Formulierung zeigt, daß Calvin im Unterschied zu den Zwinglianern
den Begriff »Substanz« in der Abendmahlslehre nicht fallen läßt, aber ihn
gegenüber den Lutheranern neu bestimmt. Nicht darum geht es, ob Fleisch und
Blut Christi »substantialiter« in Brot und Wein sind oder nicht, sondern darum,
daß im Abendmahl uns die »Substanz« des Fleisches und Blutes Christi nährt.
»Substanz« ist hier verstanden im Sinn der Straßburger (vgl. BIZER, a.a.O.,
122) und meint: Christus selbst (vgl. Calvin Inst. IV, 17,11). Dabei bezeichnet
bei Calvin der klassische Begriff »vere«, »wahrhaft« nun auch nicht mehr die
Realität einer substanzhaften Verbindung von Fleisch und Blut Christi mit Brot
und Wein, aber auch nicht eine etwa »durch das gläubige Gemüt« hergestellte
Wirklichkeit der Gabe (vgl. Anm. 39), sondern er bezeichnet die durch die
Substanz von Fleisch und Blut Christi, also durch Christus selbst bewirkte
Realität der Heilsgabe.
44 Man beachte, daß Calvin mit der obigen Formulierung offenbar die subjektivi-
stische Gefahr vermeiden will, die die »Wittenberger« bei den Schweizern
befürchteten, nämlich die, daß die Gabe im Abendmahl von dem »subjektiven«
Umgang mit ihr und insofern vom »Glauben« abhängig gemacht wird. Wiede-
rum vermeidet Calvin einen sakramentalistischen Objektivismus, indem er mit
der obigen Formulierung die lutherische Redeweise neu faßt, daß die Gabe an
sich wirklich und wirksam ist, wenn sie nur vom kirchlichen Amt »rite« ge-
spendet wird.
45 BIZER, a.a.0.,219-222.
438 Kleiner Abendmahlstraktat (1541) - Einleitung
Eberhard Busch
Textausgaben
Literatur
10 Das heilige Sakrament des Abendmahls unseres Herrn Jesus war lange
Zeit infolge mehrerer großer Irrtümer entstellt. Und in den vergange-
nen Jahren ist es noch von neuem durch verschiedene Ansichten und
Streitigkeiten verdunkelt worden. Da muß man sich nicht wundem,
wenn viele schwache Gewissen sich nicht entscheiden können, wel-
15 cher Auffassung sie sich anschließen sollen. Eher verharren sie in
Zweifel und Ratlosigkeit, bis die Diener Gottes alle Meinungsverschie-
denheiten einmal aus dem Weg geräumt haben und einigermaßen zu
einer Übereinstimmung 1 zu kommen. Freilich, es ist recht gefahriich,
wenn man keine Gewißheit hinsichtlich dieses Mysteriums 2 hat, des-
20 sen Verständnis fiir unser Heil so nötig ist. Deshalb dachte ich, es wäre
eine nützliche Arbeit, kurz davon zu handeln, doch so, daß die Haupt-
sache, die man davon wissen muß, klar herausgestellt wird. Auch
haben mich einige wohlgesinnte Männer in Anbetracht der hier beste-
henden Notwendigkeit darum gebeten. Ich konnte ihnen das nicht ab-
25 schlagen, wollte ich nicht meiner Pflicht zuwiderhandeln.
Um es in all der Schwierigkeit leichter zu machen, ist es förderlich,
wenn ich zuvor den Plan angebe, den zu befolgen ich reiflich erwogen
habe. An erster Stelle werden wir auseinandersetzen, zu welchem Zweck
und aus welchem Grund der Herr dieses heilige Sakrament eingesetzt
30 hat. Zweitens ist davon zu reden, welche Frucht und welchen Nutzen
Quant est du premier artic1e: Puis qu'il a pleu a nostre bon Dieu de !O
nous recevoir par le baptesme en son Esglise, qui est sa maison, laquelle
il veult entretenir et gouvemer: et qu'il nous a receuz non seullement
pour nous avoir comme ses domestiques, mais eomme ses propres
enfans: il reste que pour faire l'office d'un bon pere, il nous nourrisse et
pourvoye de tout ce qui nous est necessaire avivre. Car de la nourriture 15
eorporelle, pource qu'elle est eommune a tous, et que les mauvais en
ont leur part comme les bons, elle n'est pas propre a sa familIe. Bien est
vray que nous avons desia en cela un tesmoignage de sa bonte paternelle,
de ce qu'il nous entretient selon le corps: veu que nous partieipons a
tous les biens qu'il nous donne avec sa benediction. Mais tout ainsi que 20
la vie, en laquelle il nous a regenerez, est spirituelle: aussi fault il que
la viande, pour nous consever et confermer en ieelle, soit spirituelle.
Car nous debvons entendre que non seullement il nous a appellez a
posseder une foys son Heritage eeleste: mais que par esperance il nous
a desia aucunement introduictz en ceste possession: que non seullement 25
il nous a promis la vie, mais nous a desia transferez en icelle, nous
retirant de la mort. C'est quand, en nous adoptant pour ses enfans, il
nous a regenerez par la semence d'immortalite, qui est sa parolle,
imprimee en noz cueurs par son sainct Esprit.
[435] Pour nous sustenter done en eeste vie, il n'est pas question de 30
repaistre noz ventres de viandes corruptibles et eaducques, mais de
nourrir noz ames de pasture meilleure et precieuse. Or toute l'Eseriture
nous dict que le pain spirituel, dont noz ames sont entretenues, est la
mesme parolle par laquelle le Seigneur nous a regenerez: mais elle
adiouste quant et quant la raison, d'autant que en icelle Iesus Christ, 35
505 nostre vie unique, nous est donne et administre. Car il ne I fault pas
estimer qu'il y ayt vie ailleurs qu'en Dieu. Mais tout ainsi que Dieu a
constitue toute plenitude de vie en Iesus, a fin de nous la communiquer
par son moyen: aussi il a ordonne sa parolle comme instrument, par
lequel Iesus Christ, avec toutes ses graees, nous soit dispense. Ce 40
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 445
Zum ersten Punkt: Es hat unserem Gott gefallen, uns durch die Taufe in
seine Kirche aufzunehmen. Sie ist sein Haus, das er erhalten und regie-
ren will. Er nahm uns darin auf, um WIS nicht nur als seine Hausgenos-
15 sen, sondern als seine eigenen Kinder bei sich zu haben. Um das Amt
eines rechten Vaters zu erfüllen, gibt er uns Speise und versorgt uns mit
allem, was wir zum Leben brauchen. Da jedoch die leibliche Nahrung,
deren alle bedürfen, den Bösen wie den Guten zuteil wird, kann sie noch
nicht das besondere Gut für seine Familie sein. Wohl ist es wahr, wir
20 haben schon darin ein Zeugnis seiner väterlichen Güte, daß er uns in dem
leiblichen Leben erhält, daß wir also an allen Gütern teilhaben, die er uns
mit seinem Segen gibt. Aber nun ist das Leben, zu dem er uns wiederge-
boren hat, ein geistliches. Dem entsprechend muß auch die Speise, die
uns darin erhält und stärkt, geistlicher Art sein. Wir sollen nämlich
25 beachten: Er hat uns nicht nur dazu berufen, einst in den Besitz des
himmlischen Erbes zu gelangen. Vielmehr hat er uns aufgrund der Hoff-
nung schon jetzt gewissermaßen in dessen Besitz eingeführt. Er hat uns
das Leben nicht bloß verheißen, sondern hat uns schon jetzt darein
versetzt, indem er uns dem Tode entriß. Denn damals, als er uns an
30 Kindes Statt annahm, hat er uns wiedergeboren durch den Samen der
Unsterblichkeit, d.h. durch sein Wort,3 das durch seinen heiligen Geist in
unsere Herzen eingeprägt ist.
Zur Erhaltung dieses Lebens genügt es nicht, den Leib mit verderbli-
cher und vergänglicher Speise zu ernähren. Dazu bedürfen unsere See-
35 len einer besseren und kostbareren Nahrung. Die ganze Schrift sagt
uns, daß das geistliche Brot, durch das unsere Seelen erhalten werden,
eben das Wort ist, durch das der Herr uns wiedergeboren hat. Und sie
gibt uns zugleich den Grund dafür an: In diesem Wort wird uns Jesus
Christus geschenkt und dargereicht, der unser einziges Leben ist. Denn
40 man darf nicht meinen, es gebe Leben anderswo als in Gott. Doch
genau so, wie Gott die Fülle des Lebens in Jesus beschlossen hat, um
es uns durch ihn mitzuteilen, so hat er auch sein Wort als das Mittel
verordnet, durch das uns Jesus Christus mit allen seinen Gnadengaben
3 I Petr 1,23.
446 Petit traicte de la Saincte Cene
pendant, cela demeure tousiours vray, que noz ames n'ont nulle autre
pasture que Iesus Christ. Pourtant, le Pere celeste, ayant la solicitude
de nous nourrir, ne nous en point d'aultre: mais plustost nous recom-
mande de prendre la tout nostre contentement, comme en une refection
plainement suffisante, de laquelle nous ne nous povons passer, et oultre
laquelle il ne s'en peult trouver nulle aultre.
Nous avons desia veu comment Iesus Christ est la seule viande dont
noz ames sont nourries: mais pource qu'il nous est distribue par la
parolle du Seigneur, laquelle il a destinee acela, comme instrument,
qu'elle est aussi appellee pain et eaue. ür, ce qui est dict de la parolle il 10
appartient aussi bien au Sacrement de la Cene, par le moyen duquelle
Seigneur nous meine a la communication de Iesus Christ. Car d'autant
que nous sommes si imbecilles, que nous ne le povons pas recevoir en
vraye fiance de cueur, quand il nous est presente par simple doctrine et
predication, le Pere de misericorde, ne desdaignant point condescendre 15
en cest endroict a nostre infirmite, a bien voulu adiouster avec sa
parolle un signe visible par lequel il representast la substance de ses
promesses, pour nous confermer et fortifier, en nous delivrant de toute
doubte et incertitude. Puis doncq que c'est un mystere tant hault et
incomprehensible, de dire que nous ayons communication au corps et 20
au sang de Iesus Christ, et que de nostre part nous sommes tant rudes et
grossiers, que nous ne povons entendre les moindres choses de Dieu, il
estoit de mestier qu'il nous feust donne a entendre, selon que nostre
capacite le povoit porter. Pour ceste cause le Seigneur nous a institue
sa Cene, a fin de signer et seeller en noz consciences les promesses 25
contenues [436] en son Evangile, touchant de nous faire participans de
son corps et de son sang: et nous donner certitude et asseurance qu'en
cela gist nostre vraye nourriture spirituelle, a ce que ayant un teIle arre,
nous concepvions droicte fiance de salut. Secondement, a fin de nous
exerciter a recongnoistre sa grande bonte sur nous, pour la louer et 30
magnifier plus amplement. Tiercement, a fin de nous exhorter a toute
sainctete et innocence, entant que nous sommes membres de Iesus
Christ: et singulierement a union et charite fratemelle, comme elle
506 nous y est en special [ recommandee. Quand nous aurons bien note ces
troys raisons, que le Seigneur a regardees en nous ordonnant sa Cene, 35
nous aurons desia une entree a bien entendre, et quel proffit nous en
revient, et quel est nostre office pour droictement en user.
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 447
zugeeignet werde. Also bleibt es wahr, daß unsere Seelen keine andere
Nahrung haben als nur Jesus Christus. Deshalb gibt uns der himmli-
sche Vater, der für unsere Ernährung Sorge trägt, auch keine andere.
Vielmehr legt er uns nahe, uns ganz daran genügen zu lassen, so als
seien wir bei einem voll ausreichenden Mahl, das wir nicht entbehren
können und außer dem sich kein anderes finden läßt.
Wir haben bereits gesehen, wie Jesus Christus unsere Speise ist, durch
die unsere Seelen genährt werden. Da er uns durch das Wort des Herrn
- als durch das von ihm dazu bestimmte Werkzeug - mitgeteilt wird,
10 wird es auch Brot und Wasser4 genannt. Nun gilt das, was vom Wort
gesagt wird, ebenso auch vom Sakrament des Abendmahls. Es ist das
Mittel, durch das uns der Herr in die Gemeinschaft mit Jesus Christus
führt. Wir sind nämlich so schwach, daß wir ihn nicht in wahrem
Vertrauen aufnehmen können, wenn er uns bloß in Lehre und Verkün-
15 digung dargeboten wird. Daher verschmähte der Vater der Barmher-
zigkeit es nicht, sich hier zu unserer Schwachheit herabzulassen und
seinem Wort freiwillig ein sichtbares Zeichen hinzuzufügen, um uns
dadurch die Wirklichkeit seiner Verheißungen vor Augen zu stellen,
uns Halt zu geben und zu stärken und uns so von allem Zweifel und
20 aller Ungewißheit zu befreien. Denn weil es wirklich ein erhabenes
und unbegreifliches Mysterium ist, wenn man sagt: »Wir haben Ge-
meinschaft mit dem Leib und Blut Jesu Christi« - weil wir ferner
unsererseits so grob und roh sind, daß wir nicht das Geringste von
göttlichen Dingen zu verstehen imstande sind, deshalb war es nötig,
25 daß es uns zu verstehen gegeben werde, und zwar entsprechend unse-
rem Fassungsvermögen.
Aus diesem Grund hat der Herr sein Abendmahl für uns eingesetzt. Er
wollte damit (erstens) die in seinem Evangelium enthaltenen Verhei-
ßungen in unserem Gewissen beglaubigen und versiegeln - die Verhei-
30 ßungen, die darauf zielen, uns an seinem Leib und an seinem Blut Teil
zu geben und uns dessen gewiß machen und versichern, daß eben darin
unsere wahre geistliche Speise besteht, damit wir dank eines solchen
Unterpfands recht auf das Heil vertrauen. Zweitens: Das Abendmahl ist
eingesetzt, um uns zur Erkenntnis seiner großen Güte gegen uns zu
35 ermuntern, damit wir sie noch mehr loben und preisen. Drittens: Es ist
eingesetzt, um uns, die wir doch Glieder Jesu Christi sind, zu ganzer
Heiligkeit und Unschuld zu ermahnen, ganz besonders aber zu Ein-
tracht und brüderlicher Liebe, so wie sie uns dort speziell nahegelegt
wird. Wenn wir diese drei Gründe gebührend beachten, die der Herr
40 bei der Anordnung seines Abendmahls für uns im Auge hatte, dann
werden wir schon einen Zugang zum rechten Verständnis haben und
werden verstehen, welcher Gewinn uns dadurch zufällt und was wir zu
seinem rechten Gebrauch zu tun haben.
Es ist Zeit, daß wir zum zweiten Abschnitt kommen. Es gilt nun zu
zeigen, welchen Gewinn das Herrenrnahl fiir uns hat, vorausgesetzt, daß
wir darin recht auf unseren Gewinn achten. Nun erkennen wir aber den
Nutzen, wenn wir unsere Bedürftigkeit ansehen, der das Mahl zu Hilfe
kommt. Unerhörte Bestürzung und Gewissensqual müßten uns befallen,
wenn wir sehen, wer wir sind, und prüfen, was in uns ist. Denn es gibt
keinen unter uns, der ein einziges Körnchen Gerechtigkeit in sich finden
10 könnte. Ganz im Gegenteil, wir sind alle voll von Sünde und Ungerech-
tigkeit und das so sehr, daß es fur eine Anklage gegen uns keine andere
Instanz und fiir unsere Verurteilung keinen anderen Richter brauchte als
unser eigenes Gewissen. Daraus folgt, daß der Zorn Gottes uns bereitet
ist und daß niemand dem ewigen Tod entrinnen kann. Wenn wir noch
15 nicht ganz in Schlaftrunkenheit und Stumpfsinn versunken sind, dann
muß solch ein entsetzlicher Gedanke eine unaufhörliche Höllenqual sein,
die uns bedrücken und foltern soll. Denn wir können nicht an das göttli-
che Gericht denken, ohne daß uns unsere daraus folgende Verurteilung
vor Augen kommt. Wir befinden uns also schon im Abgrund des Todes
20 - es sei denn, daß unser Gott uns daraus herausreiße. Außerdem, wie
können wir auf eine Auferstehung hoffen, wenn wir unser Fleisch anse~
hen, das in Fäulnis übergeht und wie vom Wurmfraß zerfällt. Wir mögen
also auf die Seele oder auf den Leib blicken, wir sind die Elendesten! -
jedenfalls, solange wir nur auf uns angewiesen sind. Und es kann nicht
25 anders sein, als daß wir im Bewußtseins solchen Elends eine große
Traurigkeit und Bangigkeit empfinden. Um dem nun aber abzuhelfen,
gibt uns der himmlische Vater das Abendmahl, - wie einen Spiegel, in
dem wir unseren Herrn Jesus erblicken. Er wurde gekreuzigt, um unsere
Sünden und Übertretungen zu tilgen; und er wurde auferweckt, um uns
30 vom Verderben und vom Tod zu erretten. Dadurch hat er uns wieder
eingesetzt in den Stand himmlischer Unsterblichkeit. Welchen einzigar-
tigen Trost bekommen wir durch das Abendmahl! Denn es fuhrt und
weist uns zum Kreuz Jesu Christi und zu seiner Auferstehung, um uns
dessen gewiß zu machen: Was immer sich an Unrecht in uns findet, der
35 Herr läßt nicht davon ab, uns als Gerechte anzuerkennen und anzuneh-
men. Welche Hinfälligkeit uns bedrängt, er läßt nicht davon ab, uns
lebendig zu machen. Was auch an Unglück über uns kommt, er läßt nicht
davon ab, uns mit aller Glückseligkeit zu erfullen.
Um aber noch klarer auszudrücken, worum es geht: Weil es uns selbst
40 an allem Guten mangelt und weil wir nicht einen einzigen Tropfen
haben von dem, was uns zum Heil helfen könnte, bezeugt uns das
Abendmahl: Wenn wir am Sterben und Leiden Jesu Christi teilhaben,
dann haben wir alles, was wir brauchen und was uns heilsam ist.
Darum können wir sagen, daß der Herr uns alle Schätze seiner geistli-
45 chen Gnadengaben öffnet. Er macht uns zu Teilhabern an allen Gütern
und Reichtümern unseres Herrn Jesus. Vergegenwärtigen wir uns also,
450 Petit traicte de la Saincte Cene
doncq que la Cene nous est donnee comme un miroir, auquel nous
puissions contempler Iesus Christ crucifie pour nous delivrer de
damnation, et resuscite pour nous acquerir iustice et vie etemelle. Bien
est vray que ceste mesme grace nous est offerte par l'Evangile:
toutesfoys, pource qu'en la Cene nous en avons plus ample certitude et
pleine iouissallce, c'est a bon droict que nous recongnoissons un tel
fruict nous en venir.
Mais pource que les biens de Iesus Christ ne nous appartienent de rien,
sinon que premierement il soit nostre, il fault que en premier lieu il
nous soit donne en la Cene, a ce que les choses que nous avons dictes 10
soient vrayment acomplies en nous. Pour ceste cause i'ay coustume de
dire, que la matiere et substance des Sacremens c'est le Seigneur Iesus:
l'efficace sont les graces et benedictions que nous avons par son moyen.
Or, l'efficace de la Cene est de nous confermer la reconciliation que
nous avons avec Dieu par sa mort et passion: le lavement de noz ames 15
que nous avons en l'effusion de son sang: la iustice que nous avons en
son obeissance: brief, l'esperance de salut que nous avons en tout ce
qu'il a faict pour nous. 11 fault doncq que la substance soit conioincte
avec, ou aultrement il n'y auroit rien de ferme ne certain. De cela nous
avons a conclure que deux choses nous sont presentees en la Cene: a 20
s9avoir Iesus Christ, comme source et matiere de tout bien: puis apres,
le fruict et efficace de sa mort et passion. Ce que emportent aussi les
parolles qui nous y sont dictes. Car en nous commandant de manger
son corps et boire [438] son sang, il adiouste que son corps a este livre
pour nous, et son sang espandu pour la remission de noz pechez. En 25
quoy il denote premierement que nous ne devons pas simplement
communiquer a son corps et a son sang, sans aultre consideration: mais
pour recevoir le fruict qui nous vient de sa mort et passion. D'aultrepart,
que nous ne povons parvenir a la iouissance d'un tel fruict que en
participant 11. son corps et son sang, dont il nous a este produict. Nous 30
508 commen- I 90ns desia a entrer en ceste question tant debattue, et
anciennement et au temps present: comment se doivent entendre ces
parolles, ou le pain est appelle corps de Iesus Christ, et le vin son sang.
Laquelle se pourra vuider sans grande difficulte, si nous retenons bien
le principe que i'ay n'agueres mis. C'est que toute l'utilite que nous 35
devons chercher en la Cene est aneantye, sinon que Iesus Christ nous y
soit donne comme substance et fondement de tout. Cela resolu, nous
confesserons sans doubte que de nyer la vraye communication de Iesus
Christ nous estre presentee en la Cene, c'est rendre ce saint Sacrement
frivole et inutile, qui est un blaspheme execrable et indigne d'estre 40
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 451
daß uns das Abendmahl als ein Spiegel gegeben ist, in dem wir Jesus
Christus betrachten können, der gekreuzigt wurde, um uns von der
Verdammnis zu erlösen, und auferweckt, um uns Gerechtigkeit und
ewiges Lebens zu erwerben!5 Freilich, es ist wahr, daß uns eben die-
selbe Gnade auch schon in der Predigt des Evangeliums dargeboten
wird. Gleichwohl, weil wir im Abendmahl eine weit größere Gewiß-
heit und einen reichlicheren Genuß bekommen, können wir mit gutem
Recht bekennen, daß uns daraus solche Frucht erwächst.
Da aber die Güter Jesu Christi uns mitnichten gehören, wenn er nicht
10 zuvor der Unsere geworden ist, so muß er selbst uns in erster Linie im
Abendmahl geschenkt werden. Nur so kann das, wovon wir eben spra-
chen, in uns geschehen. Aus diesem Grund pflege ich zu sagen: 6 Die
Ursache und Wirklichkeit der Sakramente ist der Herr Jesus; und ihre
Auswirkung sind die Gnadengaben und Segnungen, die wir durch ihn
15 empfangen. So besteht die Auswirkung namentlich des Abendmahls
darin: Es bestätigt uns die Versöhnung, die wir durch sein Sterben und
Leiden mit Gott haben - die Reinigung unserer Seelen in seinem fUr
uns vergossenen Blut, - die Gerechtigkeit, die wir in seinem Gehorsam
haben - kurz, die Hoffnung auf unser Heil, die in all dem von ihm fiir
20 uns Vollbrachten beschlossen liegt. Es muß also die >Wirklichkeit<
damit verbunden sein. Andernfalls würden wir zu keiner Gewißheit
gelangen.
Daraus haben wir zu folgern, daß uns im Abendmahl zweierlei geboten
wird: nämlich einmal Jesus Christus als Quelle und Ursache von allem
25 Gut und sodann die Frucht und Auswirkung seines Sterbens und Lei-
dens. Das besagen deutlich auch die Einsetzungsworte. Denn indem er
uns seinen Leib zu essen und sein Blut zu trinken heißt, fUgt er hinzu,
daß sein Leib fiir uns dahingegeben und sein Blut zur Vergebung unserer
Sünden vergossen wurde. Damit weist er erstens darauf hin, daß wir
30 nicht einfach die bloße Gemeinschaft mit seinem Leib und Blut haben
sollen. Vielmehr sollen wir daran teilhaben, damit wir die Frucht aus
seinem Sterben und Leiden empfangen. Zum anderen können wir nur
dadurch zum Genuß dieser Frucht gelangen, daß wir auch an seinem
Leib und Blut Anteil haben, worin uns diese Frucht erworben wurde.
35 Wir berühren hier bereits die früher und heute so sehr erörterte Frage:
Wie sind die Worte zu verstehen, in denen das Brot Leib Jesu Christi
und der Wein sein Blut genannt werden? Das Problem läßt sich ohne
große Schwierigkeiten lösen, wenn wir an dem schon genannten Grund-
satz festhalten: Jeder Nutzen, den wir aus dem Abendmahl zu ziehen
40 gedenken, löst sich in Nichts auf, wenn uns Jesus Christus darin nicht
als die Wirklichkeit und Grundlage von allem gegeben wird. Dies
zugestanden, so erklären wir ohne Zögern: Wer die wirkliche Gemein-
schaft mit Jesus Christus leugnet, die uns im Abendmahl gewährt wird,
der hält somit dieses heilige Sakrament fiir nichtig und überflüssig, - was
5 Vgl. Röm 4,25.
6 Zu den folgenden eigentümlichen Begriffsdefinitionen Calvins vgl. auch Inst.
IV, 17, 11. Wir übersetzen matiere mit Ursache, substance mit Wirklichkeit, das
damit nahezu synonyme verite mit Sache selbst.
452 Petit traicte de la Saincte Cene
eine abscheuliche Gotteslästerung ist, nicht wert, daß man davon Kennt-
nis nimmt.
Ferner, wenn die Teilhabe an Jesus Christus darauf zielt, daß wir an
allen uns von ihm durch seinen Tod erworbenen Gnadengaben teilha-
ben, dann genügt es nicht, daß wir an seinem Geist teilhaben. Wir
müssen dann notwendig ebenfalls an seiner Menschheit Anteil erlan-
gen. Denn in ihr hat er Gott seinem Vater vollen Gehorsam geleistet,
um für unsere Schulden Genüge zu tun, und zwar in einem Maße, daß
es, um genau zu reden, das eine nicht ohne das andere gibt. Denn wenn
10 er sich uns zu eigen gibt, so geschieht das dazu, daß wir ihn ganz zu
eigen haben. Wie es heißt, daß sein Geist unser Leben ist, 7 ebenso
erklärt er daher auch mit seinem eigenen Mund, daß sein Fleisch wahr-
haft Speise, sein Blut wahrhaft Trank ist.8 Wenn das nicht leere Worte
sind, so müssen unsere Seelen, damit wir in Christus unser Leben
15 haben, sich an seinem Leib und seinem Blut als an ihrer eigentlichen
Nahrung erquicken. Das wird uns im Abendmahl ausdrücklich be-
zeugt, wenn vom Brot gesagt wird: »Nehmt und eßt, das ist mein Leib;
trinkt aus dem Kelch, das ist mein Blut.«9 Ausdrücklich ist von Leib
und Blut die Rede, damit wir lernen, hier die >Wirklichkeit< unseres
20 geistlichen Lebens zu suchen. Wenn man nun trotzdem fragt, ob das
Brot der Leib Christi und der Wein sein Blut sei, so antworten wir: Das
Brot und der Wein sind sichtbare Zeichen, die uns den Leib und das
Blut darstellen. Sie werden aber Leib und Blut genannt, weil sie gleich-
sam Werkzeuge sind, durch die der Herr Jesus uns beides mitteilt.
25 Wenn wir uns auf diese Art ausdrücken, so paßt das treffend. Denn
obwohl unsere Gemeinschaft mit dem Leib Jesu Christi unfaßlich ist -
nicht nur für das Auge, sondern für das ganze natürliche Fassungsver-
mögen, so wird sie uns hier doch sichtbar gezeigt.
Wir können ein passendes Beispiel ähnlicher Art anfiihren. Als unser Herr
30 seinen Geist bei der Taufe Christi erscheinen lassen wollte, stellte er ihn im
Bild einer Taube dar. Johannes der Täufer erklärt in dem betreffenden
Bericht, er habe den heiligen Geist herabfahren gesehen. Wenn wir genau-
er nachsehen, werden wir feststellen, daß er bloß die Taube gesehen hat.
Ist doch der heilige Geist seinem Wesen nach unsichtbar! Immerhin wußte
35 er, daß das Gesehene kein bloßes Bild war, sondern ein gewisses Zeichen
der Gegenwart des heiligen Geistes. Deshalb schrickt er nicht davor zu-
rück, zu sagen: er habe ihn gesehen. Denn er hat sich ihm dargestellt
gemäß seinem Fassungsvermögen. Genau so verhält es sich mit der Ge-
meinschaft, die wir mit dem Leib und Blut des Herm Jesus haben. Sie ist
40 ein geistliches Mysterium, das sich mit dem Auge nicht sehen, mit dem
menschlichen Begreifen nicht fassen läßt. Es wird uns unter sichtbaren
Zeichen abgebildet, wie es unsere Schwachheit erfordert, aber gleichwohl
so, daß es kein bloßes Bild ist, sondern verbunden mit der von ihm
bezeichneten >Sache selbst< und seiner >Wirklichkeit<. Zu Recht wird also
45 das Brot Leib genannt, weil es ihn nicht bloß darstellt, sondern ihn uns
7 Vgl. Joh 6,63.
8 Joh 6,55.
9 Nach Mt 26,26f.
454 Petit traicte de la Saincte Cene
mais aussi nous le presente. Pour tant, nous concederons bien que le
nom du corps de Iesus Christ est transfere au pain, d'autant qu'il en est
Sacrement et figure. Mais nous adiousterons pareillement que les
Sacremens du Seigneur ne se doivent et ne peuvent nullement estre
separez de leur verite et substance. De les distinguer a ce qu'on ne les
confunde pas, non seulement il est bon et raisonnable, mais du tout
necessaire. Et les diviser pour consitituer l'un sans l'autre, il n'y a ordre.
Pourtant, quand nous voyons le signe visible, il nous fault regarder
quelle representation il ha, et de qui il nous est donne. Le pain nous est
donne pour nous figurer le corps de Iesus Christ, avec commandement 10
[440] de le manger: et nous est donne de Dieu, qui est la verite certaine
et immuable. Si Dieu ne peut tromper ne mentir, il s'ensuit qu'il accomplit
tout ce qu'il signifie. 11 fault doncq que nous recevions vrayement en la
Cene le corps et le sang de Iesus Christ, puis que le Seigneur nous y
represente la communion de l'un et de l'autre. Car autrement, que 15
seroit-ce a dire, que nous mangeons le pain et beuvions le vin en signe
que sa chair nous est viande et son sang breuvage, s'il ne nous donnoit
que pain et vin, laissant la verite spirituelle derriere? Ne seroit-ce pas a
faulses enseignes qu'il auroit institue ce mystere? Nous avons doncq a
confesser que si la representation que Dieu nous faict en la Cene est 20
veritable, la substance interieure du Sacrament est conioincte avec les
signes visibles: et comme le pain nous est distribue en la main, aussi le
corps de Christ nous est communique, a fin que nous en soyons faictz
510 participans. Quand ill n'y auroit autre chose, si avons nous bien matiere
de nous contenter, quand nous entendons que Iesus Christ nous donne 25
en la Cene la propre substance de son corps et son sang, a fin que nous
le possedions pleinement, et, le possedant, ayons compaignie atous ses
biens. Car, puis que nous l'avons, toutes les richesses de Dieu, lesquelles
sont en luy comprises, nous sont exposees a ce qu'elles soient nostres.
Ainsi, pour definir brievement ceste utilite de la Cene, nous povons 30
dire que Iesus Christ nous y est offert, a fin que nous le possedions, et
en luy toute plenitude des graces que nous povons desirer. Et que en
ce la nous avons une bonne ayde pour conferrner noz consciences a la
foy que nous debvons avoir en luy.
Le second fruict qu'elle nous apporte est qu'elle nous admonneste et 35
incite amieux recongnoistre les biens que nous avons receuz et recevons
ioumellement du Seigneur Iesus, a fin que nous luy rendions teIle
confession de louange quelle luy est deue. Car de nous mesmes nous
sommes tant negligens que c'est merveilles, a mediter la bonte de
nostre Dieu, sinon qu'il reveille nostre paresse, et nous poulse a faire 40
nostre debvoir. ür, nous ne syaurions avoir aiguillon pour nous prendre
plus au vif, que quand il nous faict, par maniere de dire, voir a l'oeil,
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 455
auch darbietet. Wir lassen es daher gern zu, daß der Ausdruck »Leib
Jesu Christi« auf das Brot übertragen werde; es ist dabei Sakrament
und Bild.
Aber das wollen wir ebenfalls hinzufügen: Die Sakramente des Herrn
soll und kann man keinesfalls von der Sache selbst und ihrer Wirklich-
keit trennen. Beides so zu unterscheiden, daß man es nicht vermengt,
ist nicht nur recht und billig, sondern unbedingt notwendig. Und beides
zu scheiden, um das eine ohne das andere bestehen zu lassen, wäre
unüberlegt. Wenn wir das sichtbare Zeichen sehen, dann müssen wir
10 berücksichtigen, was es darstellen soll und wer es gibt. Das Brot wird
uns gegeben, um uns den Leib Jesu Christi abzubilden - mit dem
Gebot, es zu essen. Und es wird uns gegeben von Gott, der die untrüg-
liche und unwandelbare Wahrheit ist. Wenn Gott nicht täuschen noch
lügen kann, so folgt daraus: Er erfüllt alles, was er durch das Zeichen
15 anzeigt.
Wir müssen also beim Abendmahl in Wahrheit den Leib und das Blut
Jesu Christi empfangen, da der Herr uns darin doch die Gemeinschaft
mit beidem darstellt. Was hieße denn sonst: »Wir essen das Brot und
trinken den Wein zum Zeichen dafür, daß uns sein Fleisch Nahrung
20 und sein Blut Trank ist« - wenn er uns, in Abwesenheit der geistlichen
Sache selbst, nur Brot und Wein gäbe? - Wäre die Einsetzung dieses
Mysteriums dann nicht ein Betrug? Wir haben also zu bekennen: Wenn
das, was Gott uns im Abendmahl darstellt, zuverlässig ist, dann ist die
innere) Wirklichkeit< des Sakraments mit dem sichtbaren Zeichen ver-
25 bunden. Wie uns das Brot in die Hand ausgeteilt wird, so auch der Leib
Christi, damit wir an ihm teilhaben. Abgesehen von allem anderen,
sollte schon dieses Eine genügen: nämlich die Erkenntnis, daß Jesus
Christus uns im Abendmahl die eigentliche Wirklichkeit seines Leibs
und Blutes gibt, damit wir ihn voll besitzen und dadurch die Teilhaber-
30 schaft an allen seinen geistlichen Gütern gewinnen. Denn nun, da wir
ihn haben, sind alle in ihm beschlossenen Reichtümer Gottes vor uns
ausgebreitet, damit sie uns gehören.
Darin also liegt, kurz gesagt, der Nutzen des Abendmahls, daß uns in
ihm Jesus Christus dargereicht wird, damit wir ihn besitzen und in ihm
35 die ganze Fülle der Gnadengaben, alles, was wir uns nur wünschen
können. Und das ist uns eine wahre Hilfe zur Stärkung unserer Gewis-
sen in dem Vertrauen, das wir zu ihm haben sollen.
Die zweite Frucht, die uns das Abendmahl gibt, ist die: Es ermahnt uns
40 und spornt uns an, die Wohltaten besser zu erkennen, die wir von
unserem Herrn Jesus empfangen haben und täglich empfangen. Wir
bekommen sie ja, damit wir ihm die Ehre geben, die ihm gebührt. Von
uns aus sind wir derart nachlässig, daß das Nachsinnen über die Güte
Gottes einem Wunder gleichkommt. Es sei denn daß er uns aus unserer
45 Trägheit aufrüttelt und uns antreibt, unsere Pflicht zu tun! Lebhafter
kann nichts uns anstacheln, als wie er es tut: läßt er uns doch eine
456 Petit traicte de la Saincte Cene
Wir kommen zum dritten Hauptpunkt, den wir zu Beginn dieser Ab-
35 handlung ins Auge gefaßt haben: dem rechtmäßigen Gebrauch, in dem
wir die Einsetzung des Herrn ehrfiirchtig zu befolgen haben. Wer mit
Verachtung oder Nonchalance zum Abendmahl kommt, nicht gerade
darum bekümmert, dem Ruf des Herrn zu folgen, der mißbraucht es
schändlich und verunreinigt es dadurch. Das aber zu beschmutzen und
40 zu verunreinigen, was Gott so sehr geheiligt hat, ist ein unerträgliches
Sakrileg. Der Apostel Paulus kündigt darum nicht ohne Grund ein
hartes Urteil all denen an, die das Abendmahl unwürdig genießen. 11
Denn wenn es weder im Himmel noch auf Erden etwas Kostbareres
10 I Kor 11,26.
11 I Kor 11,29.
458 Petit traicte de la Saincte Cene
und Erhabeneres gibt als den Leib und das Blut des Herrn, dann wird
man keine geringe Schuld auf sich laden, wenn man es unbedacht und
ohne gründliche Vorbereitung nimmt. Nicht umsonst ermahnt er uns, 12
wir sollten uns ernsthaft prüfen, damit wir es so gebrauchen, wie es
sich gebührt. Haben wir einmal begriffen, wie diese Selbstprüfung
beschaffen sein muß, so werden wir wissen, was der Gebrauch ist,
nach dem wir fragen.
Hier müssen wir sehr auf der Hut sein. Zwar können wir uns nicht
sorgfältig genug prüfen gemäß der Anordnung des Herrn. Andererseits
\0 aber haben die sophistischen Lehrer die armen Gewissen höchst ge-
fährlich in Verwirrung, ja geradezu in Höllenqual gestoßen und zwar
dadurch, daß sie, was weiß ich, fiir eine Selbstprüfung verlangten, die
zu vollziehen keinem Menschen möglich ist. Um von all solchen Be-
unruhigungen frei zu werden, müssen wir, wie schon gesagt, ganz auf
15 die Anordnung des Herrn zurückgehen. Sie ist die Richtschnur, die uns
nicht irre gehen läßt, wenn wir ihr folgen. Folgen wir ihr, so haben wir
zu prüfen, ob wir wahre Reue im Blick auf uns selbst und wahren
Glauben im Blick auf unseren Herrn Jesus Christus haben. Beides ist
so eng miteinander verbunden, daß das Eine nicht ohne das Andere
20 bestehen kann. Denn wenn wir dafiir halten, daß unser Leben in Chri-
stus liegt, dann müssen wir erkennen, daß wir in uns selbst tot sind. 13
Wenn wir in ihm unsere Kraft suchen, so müssen wir einsehen, daß wir
in uns selbst ohnmächtig sind. Wenn wir dafiir halten, daß unsere
ganze Glückseligkeit in seiner Gnade liegt, so müssen wir verstehen,
25 wie groß unser Elend ohne sie ist. Wenn wir in ihm Ruhe haben, so
können wir in uns selbst nur Qual und Unruhe finden. Man kann davon
nicht innerlich bewegt sein, ohne daß sich zum einen ein Mißfallen an
seinem ganzen Leben regt, sodann eine Unruhe und Furcht, schließlich
eine Sehnsucht und Liebe, die sich nach Gerechtigkeit ausstreckt. Wer
30 die Schändlichkeit seiner Sünde und die Unglückseligkeit seines Zu-
stands und seiner Lage während seiner Gottesferne erkennt, der wird
von solcher Scham ergriffen, daß er genötigt ist, sich selbst zu mißfal-
len, sich zu verdammen, zu stöhnen und zu seufzen vor großer Traurig-
keit. Mehr noch, ihm steht alsbald das Gerichtsurteil Gottes vor Augen,
35 das das Gewissen des Sünders mit unsagbarer Angst erfüllt, und das
umso mehr, als es sieht, daß es kein Mittel zur Flucht und keine
Antwort zur Verteidigung hat. Wenn wir mit einer solchen Erkennt-
nis unseres Elends die Güte Gottes schmecken können, dann verlan-
gen wir danach, unser Leben nach seinem Willen auszurichten und
40 unseren bisherigen Wandel abzulegen, um in ihm eine neue Kreatur
zu werden. Wenn wir denn in gebührender Weise am heiligen Mahl
des Herrn teilnehmen wollen, dann müssen wir mit fester Zuversicht
des Herzens den Herrn Jesus als unsere einzige Gerechtigkeit, als unser
Leben und Heil ansehen und müssen die uns in ihm gegebenen Verhei-
ßungen als gewiß und zuverlässig auf- und annehmen. Hingegen müs-
sen wir alles Vertrauen auf andere Dinge fahren lassen, damit wir, statt
12 I Kor 11,28.
13 Vgl. Röm 8,10.
460 Petit traicte de la Saincte Cene
unsere Zuversicht auf uns selbst und alle Kreaturen zu setzen, völlig in
ihm ruhen und uns allein an seiner Gnade genügen lassen.
Da das nicht möglich ist, es sei denn, wir wissen, daß er uns zu Hilfe
kommen muß, so müssen wir auch in der Tiefe unseres Herzens lebhaft
vom Gefuhl unseres Elends bewegt sein. Das macht uns Hunger und
Durst nach ihm. Wäre es nicht lächerlich, ohne Appetit nach Speise zu
verlangen? Zum Appetit gehört aber nicht bloß ein leerer Magen. Er muß
auch in der richtigen Stimmung sein und fähig zur Nahrungsaufnahme.
Folglich müssen unsere Seelen von Hunger umgetrieben sein und ein
10 Verlangen und brennenden Drang nach Stillung haben, wenn sie wirk-
lich im Herrenmahl ihre Nahrung finden wollen. Ferner ist anzumerken:
Wir können uns nicht nach Christus sehnen, wenn wir nicht nach der
Gerechtigkeit Gottes trachten, die in der Selbstverleugnung und im Ge-
horsam gegen seinen Willen besteht. Das nämlich reimt sich nicht zu-
15 sammen, angeblich Christus einverleibt zu sein, sich aber dabei gehen zu
lassen und ein ausschweifendes Leben zu führen. In Christus ist lauter
Keuschheit, Güte, Nüchternheit, Wahrheit, Demut und andere ähnliche
Tugenden. Wenn wir denn sein Glieder sein wollen, dann muß alle
Unzucht, Hochmut, Unmäßigkeit, Lüge, Stolz und ähnliche Laster fern
20 von uns sein. Wir können das alles nicht zugleich mit ihm zusammen
haben, ohne ihm große Unehre und Schande anzutun. Wir müssen im-
mer bedenken, daß es zwischen Christus und der Sünde sowenig Über-
einkunft gibt wie zwischen dem Licht und der Finsternis. Wir werden
also dann erst zu wahrer Reue kommen, wenn wir danach trachten, daß
25 sich unser Leben nach dem Vorbild Jesu Christi ausrichtet.
Gilt das schon allgemein für alle Bereiche unseres Lebens, so insbe-
sondere im Blick auf die Liebe, die uns vor allem in diesem Sakrament
nahegelegt wird. Deshalb wird es das Band der Liebe genannt. 14 Denn l5
wie das Brot, das hier zum gemeinsamen Gebrauch von uns allen
30 geheiligt wird, derart aus vielen Körnern zusammengemengt ist, daß
man eines vom anderen nicht trennen kann, so sollen auch wir unter-
einander durch eine unaufhörliche Freundschaft vereint sein. Und mehr
noch: Wir empfangen hier alle denselben Leib Christi, damit wir des-
sen Glieder seien. Wenn jedoch Uneinigkeit und Zwietracht unter uns
35 herrschen, bringen wir es zwar nicht dahin, daß Jesus Christus in
Stücke gerissen wird; und doch werden wir dieses Sakrilegs schuldig,
wie wenn wir es tatsächlich begangen hätten. Auf keinen Fall dürfen
wir uns anmaßen, zum Tisch des Herrn zu treten, solange wir auch nur
noch etwas an Haß und Groll gegen irgendjemand - und besonders
40 gegen Christen, die doch in der Einheit der Kirche leben, - in uns
tragen. Wir müssen zur Erfüllung der Anordnung des Herrn auch noch
eine andere innere Verfassung mitbringen, nämlich den Willen, mir
dem Mund zu bekennen und zu bezeugen, wieviel wir unserem Hei-
land zu Dank verpflichtet sind. Und zwar haben wir Dank zu sagen
45 nicht nur so, daß durch uns sein Name gepriesen werde, sondern auch
aussi a fin d'edifier les autres, et les instruire par nostre exemple de ce
qu'ilz ont a faire.
Mais pource qu'il ne se trouvera homme sus la terre qui ayt si bien
514 profite en foy et en sainctete de vie, qu'il n'ayt I encore beaucoup
d'infirmite tant en l'une qu'en l'autre, il y auroit dangier que plusieurs
bonnes consciences ne feussent troublees de ce qui a este dict, si on ne
venoit au devant, en moderant les preceptes que nous avons mis, tant
de Foy comme de repentance. Pour tant, c'est une perilleuse maniere
d'enseigner que tiennent aucuns, de requerir une parfaicte fiance de
cueur et parfaicte penitence, et exclurre tous ceux qui ne l'ont point. \0
Car en ce faisant, tous sont exclus, sans en excepter uno Que ainsi soit,
qui sera celuy qui se puisse vanter de n'estre entache de quelque
deffiance? de n'estre subiect a quelque vice ou infirmite? Certes les
enfans de Dieu ont teIle foy, qu'ilz ont tousiours mestier de prier que le
Seigneur subvienne a leur incredulite. Car c'est une maladie tant 15
enracinee en nostre nature, que iamais nous n'en sommes plainement
guaris, que nous ne soyons delivrez de ceste prison de nostre corps.
D'advantage, ilz cheminent tellement en purete de vie, qu'ilz ont mestier
iournellement de prier, tant pour la remission des pechez que pour
demander grace de myeux proffiter. Combien que les uns soient plus 20
imparfaictz, les autres moins: toutesfoys, il n'y en a nul qui ne deffaille
en beaucoup d'endroictz. Ainsi la Cene, non seulement nous seroit
inutile a tous, mais aussi pernitieuse, s'il nous y faloit apporter une
integrite de foy ou de vie, a laquelle il n'y eust que redire. Ce qui est
contraire a l'intention de nostre seigneur: car il n'a rien donne de plus 25
salutaire a son Esglise. Pourtant, quand nous sentirons en nous une foy
imparfaicte, et que nous n'aurons pas la conscience si pure, quelle ne
nous accuse de beaucoup de vices, si ne nous doibt pas empescher cela,
que nous ne nous presentions ala Saincte Table du Seigneur, moyennant
que au meillieu de ceste infirmite nous sentions en nostre cueur que, 30
sans hypocrisie et faintise, nous esperons salut de Iesus Christ, et
desirons de vivre selon la reigle de l'Evangile. Ie dy nommeement qu'il
n'y ayt point d'hypocrisie: car il y en a beaucoup qui se deyoivent par
vaines flateries, se faisant a croire qu'il suffist de condarnner leurs
vices, combien qu'ilz [445] s'y entretiennent tousiours; ou bien de se 35
deporter pour un temps, a fin d'y retourner incontinent apres. Or, la
vraye penitence est ferme et constante: pourtant, elle nous faict, non
pas pour un iour ou une sepmaine, mais sans fin et sans cesse, batailler
contre le mal qui est en nous.
Quand nous sentirons doncq en nous une ferme desplaisance et haine 40
de tous vices, procedante de la crainte de Dieu, et un desir de bien vivre
515 a fin de complaire a nostre Seigneur, I nous sommes capables de
participer ala Cene non obstant les reliques d'infirmite que nous portons
en nostre chair. Mesmes si nous n'estions infirmes subiectz a deffiance,
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 463
so, daß die Anderen erbaut und durch unser Beispiel unterwiesen wer-
den, was sie zu tun haben.
Da nun aber kein Mensch auf Erden schon so weit im Glauben und
heiligen Lebenswandel fortgeschritten ist, daß sich in beidem nicht
noch mancherlei Schwachheit an ihm findet, so ist zu befürchten: Es
könnten viele zarte Gewissen sich durch das Gesagte verwirren lassen,
wenn man dem nicht zuvorkommt und die von uns genannten Vor-
schriften über Buße und Glauben auf das rechte Maß bringt. Das ist
doch eine gefährliche Vorgehensweise, so zu lehren, wie einige es tun:
10 ein perfektes Herzensvertrauen und eine perfekte Reue zu verlangen
und all die auszuschließen, die das nicht haben. Bei diesem Verfahren
sind doch alle ohne Ausnahme ausgeschlossen. Wer kann sich denn
rühmen, daß er von keinem Quentchen Mißtrauen befleckt ist? Daß er
überhaupt keinem Fehler oder Schwachheit unterliegt? Die Kinder
15 Gottes haben doch wahrlich einen solchen Glauben, daß sie immer die
Bitte nötig haben, der Herr möge ihrem Unglauben zu Hilfe kom-
men. 16 Diese Krankheit wurzelt so tief in unserer Natur, daß wir nie
völlig davon geheilt werden, bevor wir aus dem Gefängnis unseres
Leibes befreit werden. Auch führen sie ihren lauteren Lebenswandel
20 nicht anders, als daß sie täglich um Vergebung der Sünden und um
Gnade bitten müssen, damit sie weiter vorwärtskommen. Mögen auch
die Einen unvollkommener sein als die Anderen, so gibt es doch kei-
nen, dem es nicht noch in Vielem fehlte. Das Abendmahl wäre also
nicht nur nutzlos, sondern auch schädlich, wenn wir dazu eine solche
25 Vollkommenheit des Glaubens und Lebens mitbringen müßten, die
nicht mehr zu tadeln wäre. Das aber steht im Gegensatz zur Absicht
unseres Herrn, hat er doch nichts Heilsameres als das seiner Kirche
gegeben. Wenn wir uns der Unvollkommenheit unseres Glaubens be-
wußt sind und kein derart reines Gewissen haben, daß es uns nicht
30 noch vieler Fehler beschuldigte, so darf uns das dennoch nicht hindern,
am heiligen Tisch des Herrn zu erscheinen. Wenn wir nur inmitten
dieser Schwachheit in unserem Herzen ohne Heuchelei und Einbildung
die Erwartung des Heils Jesu Christi und das Verlangen nach einem
Leben gemäß dem Evangelium spüren. Ich sage ausdrücklich: ohne
35 Heuchelei! Denn viele betrügen sich dabei selbst mit nichtigen Schmei-
cheleien und bilden sich ein, es sei genug, seine Fehler zu verurteilen,
während sie doch tagtäglich darin verharren, oder es genüge, sich
einige Zeit seiner Fehler zu enthalten, um bald darauf wieder zu ihnen
zurückzukehren. Die wahre Buße ist fest und beständig. Sie läßt uns
40 nicht bloß einen Tag oder eine Woche, sondern ohne Ende und Aufhö-
ren gegen das Böse in uns streiten.
Wenn wir also - angeleitet durch Furcht Gottes - in uns ein starkes
Mißfallen an allen Fehlern und einen Haß gegen sie und zugleich ein
Verlangen nach einem Leben zum Wohlgefallen unseres Herrn verspü-
45 ren, dann sind wir bereit zur Teilnahme am Abendmahl, ungeachtet der
noch verbliebenen Schwachheit, die wir in unserem Fleisch tragen. Ja,
16 Vgl. Mk 9,24.
464 Petit traicte de la Saincte Cene
40
45
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 469
Erstens, der Herr hat uns sein Abendmahl gegeben, das unter uns
ausgeteilt werden soll, um uns zu bezeugen, daß wir in der Gemein-
30 schaft mit seinem Leib an dem Opfer teilhaben, das er am Kreuz zur
Sühne und Genugtuung für unsere Sünden Gott seinem Vater darge-
bracht hat. Aber die Menschen haben sich dagegen nach ihrem eigenen
Schädel ausgedacht, daß das Mahl selbst ein Opfer sei, durch das wir
Vergebung unserer Sünden vor Gott erlangen. Das ist ein Sakrileg, das
35 man keineswegs dulden darf. Denn wenn wir den Tod des Herrn Jesus
nicht als ein einmaliges Opfer erkennen, durch das er uns mit dem
Vater versöhnt und alle Sünden ausgelöscht hat, deren wir in seinem
Gericht schuldig sind, so machen wir die Kraft dieses Todes zunichte.
Wenn wir Jesus Christus nicht als den allein Opfernden bekennen -
40 weshalb man ihn gewöhnlich »Priester« nennt -, durch dessen Fürspra-
che wir wieder in der Gnade des Vaters angenommen werden, so
rauben wir ihm seine Ehre und beleidigen ihn schwer. Da dem nun die
20 Vgl. Mt 13,24-30.
470 Petit traicte de la Saincte Cene
45
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 471
s'est une foys offert au Pere, a fin que d'aultres apres feissent la mesme
oblation pour nous applicquer la vertu de son intercession. Mais qu'il
est entre au Sanctuaire celeste, et que la il apparoit pour nous rendre le
Pere propice par son intercession. Quant est de nous applicquer le
merite de sa mort, a fin que nous en sentions le fruict, cela se faict non
pas en la maniere qu'on a estime en l'Esglise papaIle, mais quand nous
recevons le message de l'Evangile, ainsi qu'il nous est testifie par la
predication des ministres, lesquelz Dieu a constituez comme ses Ambas-
sadeurs, et seelle par les Sacremens. L'opinion de tout le peuple a este
approuvee [450] par tous leurs Docteurs et Prelatz, que en oyant ou 10
faisant dire la Messe, on meritoit, par ceste devotion, grace et iustice
envers Dieu. Nous disons que pour sentir aucun proffit de la Cene, il ne
fault rien apporter du nostre, pour meriter ce que nous cerchons: mais
que seulement nous avons a recevoir en Foy la grace qui nous y est
presentee, laquelle ne reside pas au Sacrement, mais nous renvoye a la 15
croix de Iesus Christ comme elle en procede. Voyla doncq comment il
n'y arien plus contraire a la vraye intelligence de la Cene, que d'en
faire un sacrifice, lequel nous destourne de recongnoistre la mort de
Christ comme sacrifice unicque, duquel la vertu dure a iamais. Cela
bien entendu, il apparoistra que toutes Messes ausquelles il n'y a point 20
de communion teIle que le Seigneur l'a instituee, ne sont que
abomination. Car le Seigneur n'a pas ordonne qu'un seul Prestre, apres
avoir faict son sacrifice, feist son cas a part, mais a voulu que le
520 Sacrement feust distribue I en l'assemblee, a l'exemple de la premiere
Cene qu'il feist avec ses Apostres. Mais apres qu'on a forge ceste 25
mauldicte opinion, d'iceIle, comme d'un gouffre, est sortie ceste
malheureuse coustume, que le peuple, se contentant d'assister la pour
participer au merite de ce qui s'y faict, s'abstient de la communion a
cause que le Prestre se vante d'offrir son hostie pour tous, et specialement
pour les assistans. Ie laisse a parler de abus, qui sont si lourdz qu'ilz ne 30
sont pas dignes qu'on en face mention: comme d'attribuer a chascun
sainct sa messe, et transferer ce qui est dict de la Cene du Seigneur a
sainct Guillaume et sainct Gaultier; item d'en faire foyre ordinaire pour
vendre et achepter: et aultres teIles villanies que nous a engendre le
mot de sacrifice. 35
Le second erreur que le Diable a seme pour corrumpre ce sainct my-
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 473
einmal dem Vater geopfert hat, damit Andere später dasselbe Opfer
darbringen sollen, um uns so die Kraft seiner Fürsprache zuzueignen.
Sondern es heißt, daß er in das himmlische Heiligtum eingetreten sei
und dort erscheine, um uns durch seine Fürsprache dem Vater ange-
nehm zu machen. 24
Nun zur Frage, wie uns das Verdienst seines Todes zugeeignet wird, so
daß wir seine Frucht in uns erfahren: Das geschieht nicht in der Weise,
wie man in der Papstkirche gemeint hat. Sondern es geschieht dann,
wenn wir die Botschaft des Evangeliums aufnehmen, so wie sie uns
10 durch die Predigt der Diener bezeugt wird, die Gott als seine Gesand-
ten eingesetzt hat, und so wie sie uns durch die Sakramente versiegelt
wird. Die landläufige Meinung ist von allen Doktoren und Prälaten
gebilligt worden, daß man sich durch die Andacht des Messehärens
oder -lesenlassens Gnade und Gerechtigkeit vor Gott verdiene. Wir
15 sagen: Um den Gewinn des Abendmahls zu erfahren, müssen wir
nichts von uns aus mitbringen, um zu verdienen, was wir suchen. Wir
haben nur die uns hier dargebotene Gnade im Glauben anzunehmen.
Diese Gnade hängt nicht am Sakrament. Vielmehr weist sie uns so zum
Kreuz Jesu Christi hin, wie sie von ihm herkommt. Es widerspricht
20 also dem wahren Verständnis des Abendmahls nichts so sehr wie dies,
aus ihm ein Opfer zu machen. Denn das lenkt uns doch ab von der
Erkenntnis des Todes Christi als des einen, einmaligen Opfers, dessen
Kraft durch alle Zeiten hindurch wirkt.
Hat man das recht verstanden, dann leuchtet ein, daß alle Messen ohne
25 Kommunion, wie sie der Herr doch angeordnet hat, nur ein Greuel
sind. Denn der Herr gab keine Weisung, daß nur der Priester nach
seiner Opferleistung fiir sich sein Sondergeschäft treibt, sondern nach
seinem Willen soll das Sakrament in der Versammlung ausgeteilt wer-
den, nach dem Vorbild des ersten Abendmahls mit seinen Aposteln.
30 Aber nachdem man jene verwünschte Lehre zurechtgeschmiedet hat,
ist aus ihr wie aus einem Abgrund die unselige Gewohnheit her-
vorgegangen, daß das Volk sich damit zufrieden gibt, nur der Hand-
lung zuzuschauen, wie um damit ein Verdienst zu erwerben. Es ver-
zichtet also auf die Kommunion, weil der Priester sich rühmt, daß er
35 seine Hostie fiir alle und vornehmlich fiir die Anwesenden darbringe.
Ich rede nicht von den Mißbräuchen, die derart plump sind, daß sie
keiner Erwähnung wert sind - wie dem, daß man jedem Heiligen seine
besondere Messe zuweist und das, was vom Mahl des Herrn gesagt ist,
auf den heiligen Wilhelm und den heiligen Walter überträgt, ferner,
40 daß man einen gemeinen Markt zu Kauf und Verkauf veranstaltet und
andere Schändlichkeiten solcher Art, die uns das Wort »Opfer« be-
schert hat.
Der zweite Irrtum, den der Teufel zur Verfalschung des heiligen My-
25 I Kor 10,17.
476 Petit traicte de la Saincte Cene
Sorbonne disputieren zwar noch subtiler darüber, wie Leib und Blut
mit den Zeichen verbunden seien. Gleichwohl kann man nicht leugnen,
daß Hohe und Niedere in der Papstkirche der Auffassung sind und daß
die heute mit Feuer und Schwert grausam durchgesetzt wird: Jesus
Christus sei in diesen Zeichen enthalten und müsse deshalb in ihnen
gesucht werden. Um das aufrechtzuerhalten, muß man freilich bekennen,
daß der Leib Christi entweder unermeßlich groß sei oder zu gleicher
Zeit an verschiedenen Orten sein könne, und wenn man das behauptet,
10 kommt man schließlich zu dem Punkte, er unterscheide sich in nichts
von einem Phantom. Will man eine solche Gegenwart einführen, in der
der Leib Christi in den Zeichen eingeschlossen oder räumlich damit
verbunden sei, so ist das nicht nur ein Hirngespinst, sondern ein ver-
darnmenswerter Irrtum. Sie widerspricht der Ehre Christi und sie zer-
15 stört das, was wir von seiner menschlichen Natur halten sollen. Denn
die Schrift lehrt uns überall, daß der Herr Jesus, wie er auf Erden unser
Menschsein angenommen hat, so dieses auch in den Himmel erhoben
und es so zwar der Sterblichkeit entrissen hat, doch ohne seine Natur
zu verändern. Wir haben also zweierlei zu berücksichtigen, wenn wir
20 von diesem Menschsein reden: Wir dürfen weder die Wahrheit seiner
Natur weglassen, noch dürfen wir seinen Stand der Herrlichkeit beein-
trächtigen. Um das genau zu beachten, müssen wir unsere Gedanken
allezeit in die Höhe erheben, um den Erlöser zu suchen. Denn wenn
wir ihn in die vergänglichen Elementen dieser Welt herabziehen wol-
25 len, so machen wir - abgesehen davon, daß wir damit umstoßen, was
uns die Schrift von seiner menschlichen Natur zeigt - auch noch die
Herrlichkeit seiner Himmelfahrt zunichte.
Da bereits viele über diesen Gegenstand ausführlich geschrieben ha-
ben, erübrigt es sich, noch besonderes Gewicht darauf zu legen. Nur
30 das wollte ich beiläufig bemerken: Wenn man in seiner Einbildung
Jesus Christus in Brot und Wein einschließt oder beides so verbindet,
daß unser Denken nur sein Spiel damit treibt, ohne zum Himmel zu
blicken, so ist das ein teuflisches Hirngespinst. Wir werden uns noch
an anderer Stelle darüber äußern. Nachdem diese verkehrte Meinung
35 jedoch einmal angenommen war, verursachte sie noch viele andere
abergläubische Gebräuche. Zunächst jene fleischliche Anbetung, die
nichts als reiner Götzendienst ist. Denn vor dem Abendmahlsbrot nie-
derzufallen und Jesus Christus darin anzubeten, als steckte er da drin,
das heißt doch, anstelle des Sakraments daraus ein Götzenbild zu ma-
40 chen. Wir haben keinen Befehl anzubeten, sondern nur den, zu nehmen
und zu essen. Man hätte das also nicht so unbesonnen behaupten
dürfen. Ferner, in der alten Kirche pflegte der Abendmahlsfeier stets
die feierliche Ermahnung an das Volk voranzugehen, die Herzen in die
Höhe zu erheben. Das geschah als Hinweis darauf, daß man zur würdi-
45 gen Anbetung Jesu Christi nicht bei den sichtbaren Zeichen hängen-
bleiben dürfe. Doch braucht man über diesen Punkt nicht lang zu
streiten, wenn nur die Gegenwart und Verbindung der >Sache selbst<
mit den Zeichen - wovon wir gesprochen haben und noch weiter
sprechen werden - recht verstanden wird.
478 Petit traicte de la Saincte Cene
26 Mt 26,27.
480 Petit traicte de la Saincte Cene
laisser derriere l'une des parties comme superflue, ce auroit este follie
de les recommander distinctement. Aucuns de ses suppotz, voyant que
c'estoit impudence [454] de maintenirceste abomination, 1'0nt voulu
couvrir autrement. C'est que Iesus Christ, en instituant le Sacrement, ne
parloit qu'a ses Apostres, qu'il avoit erigez en ordre sacerdotal. Mais
que respondront-ilz a ce que dit sainct Paul, qu'il a baille atout le
peuple Chrestien ce qu'il avoit receu du Seigneur; c'est que chascun
mange de ce pain et boyve de ce calice? Et de faict, qui leur a reveIe
que nostre Seigneur donnoit a ses Apostres la Cene comme ades
Prestres? Car les parolles chantent au contraire, quand illeur comman- 10
de de faire apres a son exemple. Illeur baille doncq la reigle laquelle il
veult estre tenue a tousiours en son Esglise. Comme aussi il a este tenu
anciennement, iusque a ce que Antechrist, ayant gaigne la tyrannie, a
dresse ouvertement les comes contre Dieu et sa verite, pour la destruire
totallement. Nous voyons doncq que c'est perversite intolerable, de 15
divis er ainsi et descirer le Sacrement, separant les parties que Dieu a
conioinctes.
524 IPour faire fin, nous comprendrons soubz un article ce qui se pourroit
autrement distinguer. C'est, que le Diable a introduict la maniere de
celebrer la Cene sans aucune doctrine, et au lieu de la doctrine a 20
substitue force ceremonies, en partie ineptes et de nulle utilite, en
partie aussi dangereuses, et dont il s'est ensuivy beaucoup de mal.
Tellement que la Messe, laquelle on tient pour Cene en I'Esglise papal-
le, pour la bien definir, n'est qu'une pure singerie et bastelerie. Ie
l'appelle singerie, pource qu'on veult la contrefaire la Cene du Seigneur 25
sans raison, comme un singe, inconsiderement et sans discretion, en-
suit ce qu'il voit faire. Que ainsi soit, le principal que le Seigneur nous
a recommande, est de celebrer ce mystere avec vraye intelligence. 11
s'ensuit doncq que la substance gist en la doctrine. Icelle ostee, ce n'est
plus qu'une ceremonie froide et sans efficace. Cela non seullement est 30
monstre par l'Escriture, mais aussi testifie par les canons du Pape, en
une sentence alleguee de sainct Augustin, Oll il demande que c'est que
l'eaue du baptesme sans la parolle, sinon un element corruptible; et la
parolle, non pas d'autant qu'elle est prononcee, mais entendue. 11 signi-
fie en cela que les Sacremens prennent leur vertu de la parolle, quand 35
elle est preschee intelligiblement. [455]. Sans cela qu'ilz ne sont pas
dignes qu'on les nomme Sacremens. Or tant s'en fault qu'il y ayt doctri-
ne intelligible en la Messe, que au contraire on estime tout le mystere
estre gaste, sinon que tout soit faict et dict en cachette, a ce qu'on n'y
entende rien. Pourtant leur consecration n'est qu'une espece de sorcele- 40
Kleiner Abendmahlstraktat (1541) 481
beidem unterschieden! Denn wenn man eines der Teile als überflüssig
fortlassen kann, dann wäre es unsinnig gewesen, beides je besonders
anzuempfehlen.
Als einige seiner Helfershelfer einsahen, daß das Festhalten an diesem
Greuel unverschämt sei, wollten sie ihn auf andere Weise bemänteln.
Nämlich so: Jesus Christus habe bei der Einsetzung des Sakraments
nur zu seinen Aposteln gesprochen, die er in den Priesterstand erhoben
hätte. Aber was werden sie dem heiligen Paulus erwidern, der sagt: 27
Er habe dem ganzen christlichen Volk weitergegeben, was er vom
10 Herrn empfangen habe - nämlich, daß ein jeder von diesem Brot esse
und aus diesem Kelch trinke? Und zudem, wer hat es ihnen denn
offenbart, daß unser Herr den Aposteln als Priestern das Abendmahl
gegeben habe? Denn die Worte klingen ganz anders, wenn er ihnen
aufträgt, nach seinem Beispiel zu handeln. Er gibt ihnen also eine
15 Regel, die er in seiner Kirche immer befolgt haben will. Wie sie auch
von alters her befolgt worden ist, bis der Antichrist die Willkürherr-
schaft übernahm und offen die Hörner gegen Gott und seine Wahrheit
erhob, um sie gänzlich zu zerstören. Wir sehen also, daß es eine uner-
trägliche Verkehrtheit ist, derart das Sakrament zu zerteilen und zu
20 zerstückeln und die Teile zu trennen, die Gott zusammengefügt hat.
Um zum Schluß zu kommen, fassen wir in einem Abschnitt zusam-
men, was sich sonst wohl weiter aufgliedern ließe. Der Teufel hat die
Sitte eingeführt, das Abendmahl ohne Verkündigung zu feiern. An die
Stelle der Verkündigung hat er eine Menge von teils unpassenden und
25 höchst unnützen, teils auch gefährlichen Zeremonien gesetzt, die viel
Böses zur Folge hatten. So daß die Messe, die in der Papstkirche für
das Abendmahl gehalten wird, wenn man sie richtig bezeichnet, nichts
anders als ein Affen- und Gaukelspiel ist. Ich nenne sie ein Affenspiel,
weil man in ihr das Herrenmahl ohne Verstand nachäffen will, eben so
30 wie ein Affe unbedacht und hemmungslos dem folgt, was er andere
machen sieht. Wie dem auch sei, die Hauptsache, die uns der Herr ans
Herz legt, besteht darin, dieses Mysterium mit rechtem Verständnis zu
feiern. Daraus folgt, daß das Wesen des Mahles hier an der Verkündi-
gung hängt. Nimm sie weg und es bleibt nichts übrig als eine frostige
35 und unfruchtbare Zeremonie. Das lehrt nicht nur die Schrift. Das bezeu-
gen selbst die Lehrsätze des Papstes, etwa in einem Zitat des heiligen
Augustin, in dem er fragt: »Ist nicht das Taufwasser ohne das Wort rein
nur ein verderbliches Element? - und zwar das Wort, nicht sofern es
gesprochen, sondern gehört wird.«28 Er gibt damit zu verstehen, daß die
40 Sakramente ihre Kraft aus dem Wort schöpfen, wenn es verständlich
gepredigt wird. Ohne das sind sie nicht wert, daß man sie Sakramente
nennt. Nun aber fehlt es in der Messe an verständlicher Verkündigung in
einem Maße, daß man im Gegenteil das ganze Mysterium für verletzt
hält, wenn nicht alles Handeln und Reden heimlich vor sich geht, damit
45 man nichts davon hört und versteht. Ihre Konsekration ist doch nichts
27 I Kor 11,23ff.
28 Augustin, In loh. Tract. 80,3. - Decr. Grat. H, Causa I, Quaest. I, can 54.
482 Petit traicte de la Saincte Cene
als eine Art Zauberei. Denn nach der Weise der Zauberer meinen sie,
sie könnten dadurch, daß sie murmeln und viele Zeichen machen, Jesus
Christus zwingen, zwischen ihre Hände herabzusteigen. Wir sehen
also, wie die so vollzogene Messe viel mehr eine offensichtliche Profa-
nierung des Mahles Christi ist als dessen ordentliche Feier. Das eigen-
tümliche und grundlegende Wesen des Abendmahls fehlt hier: daß
dem Volk das Mysterium genau erklärt und die Verheißungen ver-
ständlich verlesen werden, - statt daß ein Priester ganz leise für sich
etwas hermurmelt ohne Sinn und Verstand.
10 Ich nenne sie auch Gaukelspiel, weil der Wortschwall und die Gebär-
den, die man dabei macht, eher zu einer Posse passen als zu solch
einem Mysterium, wie es das heilige Mahl des Herrn ist. Gewiß, die
Opfer im Alten Testament wurden mit mancherlei Ausschmückungen
und Zeremonien vollzogen. Aber da das noch seine gute Bedeutung
15 hatte und da das Ganze dazu geeignet war, das Volk in der Frömmig-
keit zu üben, muß man doch sagen, daß sie nur irrtümlich den heute in
Brauch befindlichen Zeremonien ähnlich scheinen: die dienen zu nichts,
als das Volk ohne jeden Nutzen zum besten zu halten. Weil nun die
Meßler sich zur Verteidigung ihrer Zeremonien auf das Vorbild des
20 Alten Testaments berufen, müssen wir den Unterschied klarstellen zwi-
schen ihrem Tun und dem, was Gott dem Volk Israel zu tun befohlen
hatte. Wenn dabei nur dies anzuführen wäre, daß alles, was man da-
mals befolgte, im Befehl des Herrn begründet war, während ihre Zere-
monien bloß von Menschen gesetzt sind, das wäre schon ein erhebli-
25 eher Unterschied. Aber wir haben noch mehr zu deren Ablehnung
vorzubringen. Nicht ohne Grund hatte unser Herr solch eine Form fiir
einige Zeit angeordnet, doch so, daß sie dann zum Ziel kommen und
aufgehoben werden sollte. Denn da er das Volk dort noch nicht in
solch leuchtender Klarheit unterwiesen hatte, so wollte er es - zum
30 Ausgleich für das ihm noch Mangelnde - durch bildliehe Darstellun-
gen belehren. Aber seit Jesus Christus im Fleisch offenbart ist, sind in
dem Maße, wie jene Unterweisung an Klarheit gewonnen hat, die
Abbilder in den Hintergrund getreten. Da wir also nun die Sache selbst
haben, müssen wir seine Abschattung loslassen. Denn wenn wir die
35 abgeschafften Zeremonien wieder einführen wollen, so hieße das, den
Vorhang des Tempels, den Jesus Christus durch seinen Tod zerrissen
hat, wieder zuzunähen und dadurch umso mehr das Licht seines Evan-
geliums zu verdunkeln. Wir sehen also, daß solch eine Menge von
Zeremonien bei der Messe eine Gestalt des Judentums, dem Christen-
40 turn aber ganz entgegengesetzt ist. Ich habe nicht im Sinn, die Zeremo-
nien zu verwerfen, die der Würde und der öffentlichen Ordnung dienen
und die die Ehrerbietung gegenüber dem Sakrament fördern, - wenn
sie nur nüchtern und angemessen sind. Aber solch eine Überfülle ohne
Ziel und Maß ist schlechthin unerträglich. Denn sie hat tausendfachen
45 Aberglauben erzeugt und das Volk, statt es zu erbauen, gewissermaßen
dumm gemacht.
484 Petit traicte de la Saincte Cene
De cela on peut aussi veoir le different que doibvent avoir avec les
papistes ceux a qui Dieu a donne intelligence de sa verite. Pour le
premier, ilz ne doubteront pas que ce ne soit un sacrilege abominable
de reputer que la Messe soit un sacrifice, par lequel la remission des
pechez nous soit acquise, ou bien que le Prestre soit comme mediateur
pour applicquer le merite de la mort et passion de Christ a ceux qui
achepteront sa Messe, ou y assisteront, ou y auront devotion. Mais au
526 contraire, ilz auront pour conclud que la mort et passion I du Seigneur
est le Sacrifice unicque par lequel il a este satisfaict a l'ire de Dieu, et
iustice perpetuelle nous a este acquise: et apres, que le Seigneur Iesus 10
est entre au Sanctuaire celeste, a fin d'apparoistre la pour nous, et
interceder avec la vertu de son sacrifice. Au reste ilz concederont bien
que le fmict d'icelle mort nous est communicque en la Cene, non point
par le merite de l'oevre, mais a cause des promesses qui nous y sont
donnees, moyennant que nous les recevions en Foy. 15
Secondement, ilz ne doibvent nullement accorder que le pain soit
transsubstantie au corps de Iesus Christ, ne le vin en son sang: mais
doibvent persister en cela, que les signes visibles retiennent leur vraye
substance pour nous representer la verite spirituelle dont nous avons
~~. w
Tiercement, iayoit qu'ilz doibvent tenir pour certain, que le Seigneur
nous donne en la Cene ce qu'il nous y figure, et par ainsi que nous y
recevons vrayment le corps et le sang de Iesus Christ: neantmoins ilz
ne le cercheront pas comme enclos soubz le pain ou attache localement
au signe visible, tant s'en fault qu'ilz adorent le Sacrement: mais ilz 25
esleveront plustost leurs entendemens et leurs cueurs en hault, tant
pour recevoir Iesus Christ que pour l'adorer [457].
De la viendra qu'ilz mespriseront et condarnneront pour ydolatrie toutes
ces fayons superstitieuses, tant de porter le Sacrement en pompe et
procession, que de luy construire des tabemacles pour le faire adorer. 30
Car les promesses de nostre Seigneur ne s'estendent pas oultre l'usaige
qu'il nous en a laisse. Apres ilz tiendront que priver le peuple d'une des
parties du Sacrement, a syavoir du calice, c'est violer et corrumpre
l'ordonnance du Seigneur: et que pour la bien observer, il est necessaire
de distribuer entierement l'un et l'autre. 35
Finalement ilz reputeront que c'est une superfluite non seulement inutile,
mais aussi dangereuse et mal convenable a la Chrestiente de user de
tant de ceremonies prinses des Iuifz, ouitre la simplicite que les Apostres
nous ont laissee. Et que c'est encores plus grand' perversite de celebrer
la Cene par mines et ie ne syay quelles basteleries, sans que la doctrine 40
Kleiner Abendmahlstraktat (J 541) 485
Hieraus läßt sich auch ersehen, worin sich die, denen Gott Einsicht in
seine Wahrheit geschenkt hat, von den Papisten unterscheiden sollen.
Erstens, sie werden nicht daran zweifeln, daß es ein abscheuliches
Sakrileg ist, die Messe für ein Opfer zu halten, durch das wir die
Vergebung der Sünden erlangen, - oder den Priester gleichsam für den
Mittler, der das Verdienst des Sterbens und Leidens Christi denen
zuwendet, die seine Messe für Geld kaufen oder ihr beiwohnen oder
darin ihre Andacht bestätigen. Im Gegenteil, sie werden daran festhal-
lO ten, daß das Sterben und Leiden des Herrn das einzige Opfer ist, durch
das er dem Zorn Gottes genug getan und uns eine immerwährende
Gerechtigkeit erworben hat - weiter daran, daß der Herr Jesus in das
himmlische Heiligtum eingetreten ist, um dort für uns zu erscheinen
und mit der Kraft seines Opfers einzustehen. Im übrigen werden sie
15 anerkennen, daß die Frucht eben dieses Todes uns im Abendmahl
mitgeteilt wird, nicht aufgrund des Verdiensts der Werke, sondern
wegen der Verheißungen, die uns darin gegeben sind, wenn wir sie nur
im Glauben ergreifen.
Zweitens dürfen sie niemals das Zugeständnis machen, daß das Brot in
20 den Leib Jesu Christi und der Wein in sein Blut verwandelt werde.
Vielmehr müssen sie darauf beharren, daß die sichtbaren Zeichen ihre
eigene Wirklichkeit behalten, damit sie uns die geistliche Sache selbst,
von der wir gesprochen haben, darstellen.
Drittens dies: Sie sollen dessen gewiß sein, daß der Herr im Abend-
25 mahl uns das gibt, was er uns dort vor Augen stellt, und wir also darin
wirklich den Leib und das Blut Jesu Christi empfangen. Dennoch
werden sie ihn nicht im Brot suchen, als wäre er in ihm eingeschlossen
oder mit dem sichtbaren Zeichen räumlich verbunden, so daß sie das
Sakrament anbeten müßten. Vielmehr werden sie Sinne und Herzen in
30 die Höhe erheben, um Jesus Christus zu empfangen und anzubeten.
Von daher werden sie alle abergläubischen Gebräuche als Götzen-
dienst verachten und verdammen: den Brauch, das Sakrament in feier-
licher Prozession herumzutragen, und den, ihm zu seiner Anbetung
Tabernakel zu errichten. Denn die Verheißungen unseres Herrn er-
35 strecken sich auf nichts als auf den Gebrauch, so wie er ihn uns hinter-
lassen hat.
Sodann (viertens) werden sie es für eine Verletzung und Verfälschung
der Einsetzung des Herrn halten, daß man dem Volk einen Teil des
Sakraments, nämlich den Kelch stiehlt. Sie halten daran fest, daß es zu
40 deren rechter Befolgung nötig ist, das eine wie das andere auszuteilen.
Endlich (fünftens) sehen sie es für voll und ganz überflüssig an, und
zwar nicht nur für unnütz, sondern auch für gefährlich und schlecht
zum Christentum passend, wenn so viele von den Juden übernommene
Zeremonien in Gebrauch sind, welche von der Einfachheit abweichen,
45 die uns die Apostel hinterlassen haben. Und sie halten es für eine noch
größere Verkehrtheit, das Abendmahl mit allerlei Gebärden und mit
ich weiß nicht was für Gaukeleien zu feiern. Dabei fehlt jegliche in-
486 Petit traicte de la Saincte Cene
y soit recitee, mais plustost y est ensepvelie, comme si la Cene est oit
une espece d'art magique.
Was den Streit angeht, der zu unserer Zeit allzu scharf verhandelt
worden ist, so war er eine unglückliche Sache. Denn der Teufel hat ihn
zweifellos angestiftet, um den Lauf des Evangeliums zu hindern oder
gar ganz zu stoppen. Daher wünschte ich, er möge völlig in Vergessen-
heit geraten. Auch habe ich keine Lust, lang davon zu reden. Jedoch
10 sehe ich, wie viele zarte Gewissen verwirrt sind, weil sie nicht wissen,
auf welche Seite sie sich schlagen sollen. Darum werde ich hier kurz
das meines Erachtens Nötige sagen, um ihnen zu zeigen, wie sie sich
entscheiden sollen.
Zu allererst bitte ich im Namen Gottes alle Gläubigen, ja nicht allzu
15 sehr Ärgernis daran zu nehmen, daß eine so große Meinungsverschie-
denheit unter denen entbrannt ist, die doch gleichsam Anführer sein
sollten, um die Wahrheit wieder ans Licht zu stellen. Es ist ja nichts
Neues, wenn der Herr seinen Dienern eine gewisse Unwissenheit er-
laubt, und wenn er es duldet, daß sie miteinander debattieren. Nicht,
20 um sie für immer sich selbst zu überlassen, sondern nur eine Zeit lang,
um sie zu demütigen! Und in der Tat, wenn bis jetzt alles nach Wunsch
gegangen wäre, ohne jede Mißhelligkeit, so hätten sich die Menschen
vielleicht verkannt oder es wäre die Gnade Gottes nicht gebührend
bekannt geworden. Darum hat der Herr ihnen jeden Grund zum Selbst-
25 ruhm nehmen wollen, damit ihm allein die Ehre gegeben werde. Au-
ßerdem, wenn wir in Erwägung ziehen, in welch unermeßlicher Fin-
sternis sich die Welt befand - damals, als die, die diese Kontroverse
ausgelöst haben, uns zur Wahrheit zurückzuführen begannen -, nun, so
werden wir uns keineswegs wundem, daß sie nicht gleich von Anfang
30 an alles recht erkannt haben. Vielmehr ist es ein Wunder, daß unser
Herr sie in so kurzer Zeit dermaßen erleuchtet hat, daß sie aus dem
ganzen Kot von Irrtümern, in dem sie so lange gesteckt haben, heraus-
kommen und andere daraus herausziehen konnten. Aber es wird am
besten sein, zu erzählen, wie die Dinge gelaufen sind. Denn dann wird
35 uns klar werden, daß man keineswegs so viel Anlaß zum Ärgernis an
diesem Punkt hat, wie man gemeinhin meint.
Als Luther zu lehren begann, behandelte er den Gegenstand vom Abend-
mahl in der Weise, daß er hinsichtlich der leiblichen Gegenwart Christi
der Meinung zu sein schien, er lasse sie so gelten, wie alle sie damals
40 verstanden. Denn obwohl er die Transsubstantiation verwarf, nannte er
doch das Brot den Leib Christi, weil es mit demselben verbunden sei.
Mehr noch, er fügte dem Vergleiche zu, die ein bißchen hart und
schroff waren. Aber das tat er gezwungenermaßen, weil er anders gar
nicht seine Absicht erklären konnte. Ist es doch schwierig, eine so
488 Petit traicte de la Saincte Cene
enthalten oder sie doch mit Mäßigung gebrauchen sollen, indem er sie
so auslegte, daß sie kein Ärgernis erregen konnten. Aber nachdem der
Streit erregt war, hat er alles Maß überschritten: sowohl durch die Art,
wie er seine Meinung kundtat, als auch dadurch, wie er die Anderen
mit der unerbittlichen Schroffheit seiner Ausdrücke tadelte. Denn an-
statt sich so zu äußern, daß man seine Meinung annehmen konnte, hat
er mit seiner gewohnten Heftigkeit sich zur Bekämpfung seiner Wider-
sacher allerhand übertriebener Ausdrücke bedient. Diese waren für all
die sehr schwer erträglich, die ohnehin wenig geneigt waren, seinen
10 Äußerungen zu glauben.
Die Anderen haben sich aber Kränkungen geleistet, weil sie sich so
eifrig darauf verlegt haben, gegen die abergläubische und eingebildete
Ansicht der Papisten zu wettern, die eine räumliche Gegenwart des
Leibes Jesu Christi im Abendmahl und folgerichtig dessen verderbli-
15 che Anbetung lehren. So daß sie ihre Kraft mehr auf die Zerstörung des
Übels verwandten als auf die Erbauung des Guten. Denn wenn sie die
Wahrheit auch nicht leugneten, so lehrten sie sie doch nicht so deut-
lich, wie sie es hätten tun sollen. Ich meine, während sie sich alle große
Mühe gaben zu behaupten, daß Brot und Wein nur deshalb Leib und
20 Blut Christi genannt werden, weil sie deren Zeichen sind, haben sie
nicht darauf geachtet hinzuzufiigen, daß sie dergestalt Zeichen sind,
daß mit ihnen die >Sache selbst<, die sie bezeugen, verbunden ist. Und
so hätten sie beteuern sollen, ihr Anliegen sei keineswegs, die wahre
Gemeinschaft zu verdunkeln, die uns der Herr durch dieses Sakrament
25 mit seinem Blut und Leib schenkt.
Der gemeinsame Fehler beider Parteien lag darin, daß sie nicht die
Geduld hatten, aufeinander zu hören, um dann ohne Leidenschaft der
Wahrheit zu folgen, wo sie auch gefunden werde. Trotzdem dürfen wir
30 nicht erlahmen zu bedenken, was unsere Pflicht ist. Wir dürfen nicht
vergessen, welche Gnadengaben der Herr ihnen gegeben und welche
Wohltaten er uns durch ihre Hand und Vermittlung hat zuteil werden
lassen. Denn wenn wir nicht undankbar und blind sind für das, was wir
ihnen schulden, werden wir ihnen dies und noch mehr gern verzeihen
35 können, ohne sie zu tadeln und zu verunglimpfen. Kurz, da wir sehen,
daß sie sich durch einen heiligen Lebenswandel, durch große Gelehr-
samkeit und durch besonderen Eifer um die Erbauung der Kirche be-
müht haben und, sofern sie noch leben, noch bemühen, dürfen wir
darüber stets nur mit Bescheidenheit und Ehrerbietung urteilen und
40 sprechen. Dies umso mehr, als es unserem Gott endlich, nachdem er
sie auf diese Weise zur Demut angehalten, gefallen hat, diesem unseli-
gen Streit ein Ziel zu setzen oder ihn doch wenigstens zu beruhigen,32
bis er völlig entschieden sein wird. Ich sage das, weil bisher noch kein
32 Anspielung auf die Wittenberger Konkordie von 1536 und die folgenden Ver-
handlungen, vgl. dazu die Einleitung zu diesem Stück und Anm. I.
492 Petit traicte de la Saincte Cene
33 Das frz. »concorde« ist hier mit Konkordie wiedergeben, weil es wohl auf die
in Anm. 32 genannten Vorgänge anspielt.
10. Das Epinicion von 1541
Calvin mit seinen Argumenten gegen die römische Lehre als herausra-
gender Theologe Anerkennung verschafft. So gehörte er zu den elf
Theologen, denen die Stimmen der protestantischen Fürsten und Städte
anvertraut wurden. Verspätet traf am 22. November 1540 der kaiserli-
che Gesandte Nikolaus Granvella ein. 4 Die Meinungsverschiedenhei-
ten unter den römischen Theologen verhinderten Jedoch zunächst eine
wirkliche Begegnung der beiden Religionsparteien. Unter Vorwänden
schob Granvella immer wieder das Gespräch hinaus. Verhandelt wur-
de getrennt, Kontakt gab es nur über Schiedsrichter, die allerdings
nach Calvins Worten deutlich auf der römischen Seite standen. 5 In
einem Brief an Farel von Mitte Dezember 1540 äußerte Calvin seine
Verärgerung über den unbefriedigenden Verlaufdes Religionsgesprächs:
»Jetzt aber soll ich in einen Brieffassen, was mich ekelt und reut, mit
soviel Gedankentätigkeit erkennen zu müssen: nämlich, daß wir, schon
in den zweiten Monat hinein umsonst wartend, hier müßig sitzen. «6 Um
die Protestanten anzugreifen, wollten die römischen Theologen die
Confessio Augustana Variata untersuchen. 7 Offenbar entstanden unter
ihnen über die Artikel heftige Auseinandersetzungen. Die Strategie
Granvellas lief nun darauf hinaus, davon abzulenken und die Prote-
stanten zu Zugeständnissen zu zwingen, da umgekehrt im Falle der
Unnachgiebigkeit ihnen die Schuld für ein Mißlingen der Gespräche
angelastet würde. Für die Protestanten drängte also die Zeit, denn bis
zum Regensburger Reichstag, der ursprünglich am 6. Januar 1541
beginnen sollte, mußte das Gespräch zu einem Ergebnis kommen. 8 Im
Brief an die Pfarrer von Neuenburg vom 24. Dezember 1540 formu-
lierte Calvin erneut seine Enttäuschung über die Verzögerungstaktik
der römischen Seite: Es werde ein verborgener Kampfgegen die Schli-
che des Satans geführt, doch letztlich komme es nicht auf den eigenen
Eifer an, sondern darauf, daß die Ehre Gottes aufleuchte. 9 Der Tenor
dieses Briefes weist deutlich zum Epinicion hinüber, in dem die Über-
zeugung zur Sprache kommt, daß trotz aller Widerstände am Ende
Christus und seine Wahrheit siegen wird
Nach Geheimverhandlungen zwischen Gropper und Veltwyck auf der
einen und Bucer und Capito auf der anderen Seite fand schließlich am
29. Dezember 1540 ein direktes und öffentliches Gespräch zwischen
4 Calvin und Sturm waren Vertreter des lutherischen Herzogs von Lüneburg;
vgl. W.H. NEUSER, a.a.O., 226f.234.
5 Vgl. den Hinweis im Brief vom 24.12.1540 an die Pfarrer von Neuenburg (CO
11, 134). Zum Verlauf des Religionsgesprächs vgl. E. A. OE BOER, a.a.O., 50-
58.
6 CO 11,135, Übersetzung von R. SCHWARZ, Bd. 1,170.
7 W. MAURER, Confessio Augustana Variata, ARG 53 (1962), 97ff.
8 Trotz dieser schwierigen Lage äußerte Calvin wie im Epinicion auch im Brief
an Farel (Mitte Dezember 1540) seine Hoffnung auf ein erfolgreiches Ende der
Gespräche: »Wie aber, wenn der Herr, menschlicher Vorsicht spottend, sein
Werk fortführen und, ohne unsere Kunst und unsem Eifer zu brauchen, die
Gegner seines Wortes niederstrecken will?« (CO 11,139, Übersetzung von R.
SCHWARZ, Bd. I, 173).
9 CO 11,134.
Das Epinicion von 1541-Einleitung 497
Gropper und Bucer statt. Beide konnten zwei Tage später einen im
wesentlichen auf Gropper zurückgehenden Vergleichsentwurf fertig-
stellen, der die Urform des Regensburger Buches bildete. Das öffentli-
che Gespräch über die Erbsünde zwischen Eck und Melanchthon be-
gann schließlich am 14. Januar 1541. Doch schon vier Tage später,
noch bevor das Ergebnis beraten werden konnte, vertagte Karl V das
Religionsgespräch aufApril nach Regensburg. 10
Das Epinicion ist das einzige von Calvin überlieferte Gedicht. Aus
einem Brief an Konrad Hubert aus dem Jahr 1557 geht hervor, daß
Calvin bereits vor 1532 als junger Mann gerne gedichtet hat. Auf
Huberts Anfrage, ob Calvin ihm über das Epinicion hinaus weitere
Gedichte schicken könne, antwortete Calvin: »Zur Dichtkunst hatte ich
von Natur ziemlich viel Lust, doch gab ich ihr den Abschied und habe
seit fünfundzwanzig Jahren nichts mehr gedichtet, ausgenommen das
Lied, das ich in Worms, durch Melanchthons und Sturms Beispiel
ermuntert, zum Spaß schrieb und das Du gelesen hast. «17 Calvin be-
trachtete sein Epinicion als Ausnahme zu einer Zeit, da er Zeit und
Ruhe hatte, sich mit der klassischen Dichtung zu beschäftigen und die
eigenen literarischen Gaben zu erproben. Abgesehen von den nicht
Bonn 1883, 167f, der den Toulouser Index ein »interessantes Curiosum« nennt.
Die Datierung des Index diskutiert E.A. OE BOER, a.a.O., 100-102, und gelangt
mit guten Gründen gegen E. OE FREVILLE, a.a.O., zum Jahr 1543.
15 Text und Erläuterung der französischen Bearbeitung bei E.A. OE BOER, a.a.O.,
117-126, sowie E. DOUMERGUE, Tom. H, 743; Tom. III, 649-655.
16 Zu den lateinischen Ausgaben vgl. E.A. OE BOER, a.a.O., 107f.
17 Brief vom 19.5.1557 an Konrad Hubert (CO 16,488); Übersetzung von R.
SCHWARZ, Bd. III, 889. Neben Anerkennung hat Calvins Gedicht auch harte
Kritik erfahren; über ein Distichon urteilte J.M. AuolN, Geschichte des Lebens,
der Lehren und Schriften Calvin's, Bd. I, Augsburg 1843,300: »Ein erbärmli-
ches Distichon, unwürdig eines Schülers der vierten Classe. Calvin war kein
Dichter, man muß gestehen, daß nie ein Reformator ein weniger musikalisches
Ohr hatte.«
18 Calvins frühe und spätere poetische Versuche stellt E.A. OE BOER, a.a.O., 61-
75 dar; vgl. auch A. GANOCZY/S. SCHELO, Herrschaft - Tugend - Vorsehung.
Hermeneutische Deutung und Veröffentlichung handschriftlicher Annotationen
Calvins zu sieben Senecatragödien und der Pharsalia Lucans, Wiesbaden 1982.
Das Epinicion von 1541-Einleitung 499
4. Zusammenfassung
Matthias Freudenberg
Zur Übersetzung
Vom Epinicion liegt eine deutsche Übersetzung von Bruno Violet aus
dem Jahre 1935 vor. Da sie jedoch nicht in allen Passagen gleichmä-
ßig philologisch präzise und sprachlich angemessen erschien, wurde
eine eigene metrische Textfassung erstellt.
Textausgaben
Übersetzung
Literatur
AB IOANNE CALVINO
CALENDIS IANUARII ANNO MDXLI.
GENEVAE
PER IOANNEM GIRARDUM
1544.
Zu Calvins Vorwort aus dem Jahr 1544 und zur Eintragung des Epinicion im Index
der verbotenen Bücher siehe oben Einleitung Seite 497; vgl. E.A. DE BOER, Loflied
en hekeldicht. De geschiedenis van Calvijn' s enige gedicht, Haarlern 1986, 91-105;
zum Index vgl. F.H. REuSCH, Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur
Kirchen- und Literaturgeschichte, Bd. I, Bonn 1883, 167f.
EPINICION.
2 Der römische Gott Janus galt einerseits als Schirmherr der öffentlichen Tore
und Durchgänge und andererseits im übertragenen Sinn als der Gott des An-
fangs und des Endes. Die noch immer nicht hinreichend erklärte Verbindung
von Durchgang und Anfang gab Anlaß zur Benennung des Monats Januar nach
dieser Gottheit. Wie der Neujahrstag und alle Monatsersten dem Janus heilig
waren, so wurde überhaupt im Staats- und Privatleben der Anfang wichtiger
Unternehmungen und Handlungen - etwa der Amtsantritt des Konsuls - unter
seinen Schutz gestellt. In der Charakterisierung des Jahresanfangs und in zahl-
reichen Formulierungen lehnt sich Calvindeutlich an die Verse Ovids über
Janus und den Neujahrstag im l. Buch der Fasti an. Zur Gottheit Janus vgl. W.
EISENHUT, Art. »Ianus«, Der Kleine Pauly, Bd. 11, Sp. 1311-1314.
3 Calvin greift zurück auf die römische Vorstellung, daß gute Vorzeichen am
Neujahrstag auf ein erfreuliches Jahr hindeuten. Vermutlich liegt eine Anspie-
lung auf Ovid, Fast I,187f vor: »Man schenkt sie (sc. Dattel, Feige, Honig)
wegen ihrer Vorbedeutung: Diese Süße soll nämlich den Dingen folgen, und
das Jahr soll voll Annehmlichkeit den begonnenen Weg vollenden«; Überset-
zung von F. BÖMER (Hg.), P. Ovidius Naso, Die Fasten, Bd. I, Heidelberg
1957,69.
4 Gemäß dem Grundsatz der Annuität betrug die Amtszeit der beiden Konsuln
ein Jahr. Die Jahreszählung erfolgte nach den Namen der Konsulnpaare (fasti
consulares). Als Insignien ihrer Würde und weitreichenden Amtsgewalt zogen
den Konsuln zwölf Liktoren (lictores) mit Rutenbündeln (fasces) und Richtbei-
len (secures) voran. Der Amtssessel (sella curulis) war ein mit Elfenbein ver-
zierter Klappstuhl, der fiir die Konsuln bei Versammlungen und Verhandlun-
gen aufgestellt wurde; vgl. 1. BLEICKEN, Die Verfassung der römischen Repu-
blik, Paderborn, 4. Aufl., 1985, 74-84. Calvins Vorgehen, den Gedanken der
Würde Christi mit Hilfe römischer Terminologie und Vorstellungen einzufüh-
ren, begegnet auch im Kommentar zu Phil 2,6: Wie sich die Gestalt eines
Konsuls aus seinem Amtssessel, den Liktoren und den Rutenbündeln zusam-
mensetze, so sei die Gottesgestalt Christi seine Majestät (CO 52,25).
5 Schon darin unterscheidet sich Christus von einem Konsul, der nur ein Jahr
regiert.
508 Epinicion
6 Vennutlich liegt mit dem Gedanken vom Lied des Schwans eine Anspielung
auf Luther vor, denn Johannes Hus (um 1369-1415) hatte nach seiner Verurtei-
lung auf dem Konzil von Konstanz (1414-18) angekündigt, nach ihm werde ein
Schwan kommen, den sie nicht fangen können. Luther kannte diese Weissa-
gung und hat sie aufsieh bezogen (WA 30 III, 387,3-10); vgl. H.A. OBERMAN,
Forerunners ofthe Refonnation. The Shape ofLate Medieval Thought Illustrated
by Key Documents, Philadelphia 1981, 17.
7 Am 24. Dezember 1540 schrieb Calvin an die Pfarrer von Neuenburg: »Die
Sache der Brüder [in Frankreich], die von den Gottlosen grausam gequält
werden, wollen wir mit geziemendem treuem Eifer auf uns nehmen« (CO
11,l34, Übersetzung von R. SCHWARZ, Bd. I, 175).
510 Epinicion
Aber weil der Tod Leben ist und das Kreuz Christi Sieg,
Werden unsere Freude ihre grausamen Drohungen nicht hemmen.
Er bleibt sich selbst gleich und wird ewig so bleiben,
Der durch Leiden zu siegen, nicht besiegt zu werden, gewohnt ist.
Wenn er bedrängt wird und leidet und als verloren gilt,
Dann bereitet er sich und den Seinen glänzende Siege.
Jetzt erhebt töricht sich irdischer Hochmut, doch bald wird er kopfuber
Niederstürzen, geschlagen durch den eigenen Wahn.
Doch jenes heilige Blut, Verteidiger von Gottes Ehre,
10 Wird gleich sein dem Samen, um Nachkommenschaft zu
zeugen. 8
Das Wort ist Christi Schwert, und seine Lanze ist der Hauch seines
- Mundes:
Darum kann er fällen den Feind mit seinem unerwarteten Wort. 9
15 Dieses Schwert schwingt er hin und her schon das funfte Jahrfunft
gegen Ende. 10
Er fuhrt es mit starker Hand und nicht ohne Blut.
Ausgewichen ist Satan den Schlägen, die er vorher zurugte,
Der Fürst und Papst der gottlosen Heerscharen.
20 Jetzt erfahrener darin, mit welcher Spitze er zusticht,
Stöhnen doch endlich beide verletzt, die an keine Wunde gewöhnt sind.
So geschieht es, daß der verdutzte und bestürzte Gefolgsmann des
Papstes schwankt ll
Und die gottlose Schar entsetzt erzittert.
25 So geschieht es, daß erfullt wird mit Lärm und allerlei Tumult
Und in Verwirrung gerät das treulose Lager des schrecklichen
Anfuhrers. 12
Immer öfter und in verschiedene Richtungen schwanken sie: Wie einer,
Der mit schon geschwächter Kraft die entscheidende Schlacht
30 beginnt.
Unterdessen setzen wir unser Vertrauen in einen ruhigen Verstand,
Und beständige Ruhe wohnt in unserem befriedeten Herzen.
Wer will bestreiten, daß Christus hier zur völligen Vernichtung der Feinde
Mit seiner unbesiegbaren Hand feurige Waffen zieht?
Wer will leugnen, daß dies das denkwürdige Werk des Siegers ist?
Oder wer möchte einem so großen Anführer den Siegeskranz
mißgönnen?
Die Schlacht ist geschlagen: Der Soldat erhebt Anspruch auf
einen Teil der Ehre,
Und duldet nicht, daß sie ganz seinem Feldherrn gebührt.
Was nun, wenn Christus für sich den Ruhm des Sieges über den
Feind einfordert,
Wenn er siegen will ohne den Kampf von Menschen?
10 Mit Gewalt den Feind zu schlagen ist groß, doch was erst, ihn nieder-
zustrecken mit einem bloßen Wink?13
Vertreiben verdient Ruhm, doch wieviel Ehre bringt es, im Stehen
ihn zu verjagen?
Siehe, im Ruhen wirft er sie zu Boden, schlägt sie nieder ohne einen Laut,
15 Die bekanntlich wilden Raubtieren gleichen.
Sind sie es nicht, die kürzlich, wie überall bekannt, aus bitterer Lunge
Schwere Drohungen herausgestoßen haben?14
Warum bleibt die eingesogene Wut tief innen verschlossen?
Etwa weil der furchtbare Zorn nicht gleiche Kraft hat?
20 Gibt es einen Schutz, mit dem wir sie nicht gerüstet sehen:
Mit nichtsnutzigen Ränken, mit Schwertern, Umedlichkeit
und Hinterlist?15
Wir sind eine kleine, friedliche, unbeschützte und waffenlose Schar,
Wie eine Schafherde vor schrecklichen Wölfen. 16
25 Ist nicht wunderbar der Sieg unseres Königs Christus?
Unsere Herzen umsorgt er mit unerschütterlicher Kraft.
Möge er darum, die Schläfen bekränzt mit dem Kranz des Triumphes, I 7
Vor aller Augen sich zeigen auf dem Sitz seines vierspännigen Wagens.
13 Vermutlich eine Anspielung auf Vergil, Aeneis 9,106, wo die Wirkung von
Jupiters Nicken so beschrieben wird: »adnuit et totum nutu tremefecit Olym-
pum«.
14 Siehe auch Calvins Brief an Franz 1., dem Widmungsschreiben der Institutio
1536: »Die arme Kirche aber ist in grausamem Gemetzel niedergemacht, in die
Verbannung gestoßen, oder durch Drohungen und Schreckmittel so sehr einge-
schüchtert, daß sie kaum zu atmen wagt« (CO 1,11, Übersetzung von M.
SIMON,8).
15 Im Brief an die Pfarrer von Neuenburg vom 24. Dezember 1540 schrieb Cal-
vin: »An Geld, Macht und allen anderen Hilfsmitteln haben sie Überfluß und
wir Mangel« (CO 11,134, Übersetzung von R. SCHWARZ, Bd. 1,174).
16 Die bedrängte Lage der französischen Protestanten kommt besonders im Brief
an Franz 1. vom 1. April 1536 zur Sprache: »Um solcher Hoffnung willen
werden die einen von uns mit Fesseln gebunden, die anderen mit Ruten ge-
schlagen, werden zum Spott herumgeführt, wieder andere verbannt oder ent-
setzlich gefoltert; andere fliehen heimlich; Mittellosigkeit bedrückt uns alle«
(CO 1,13, Übersetzung von M. SIMON, 11). Und am Schluß des Briefes: Ihnen
ergehe es wie Schafen, die zur Schlachtbank geführt werden (CO 1,26).
17 Wie auch im Kommentar zu Senecas De Clementia (136,34-137,23, CO 5, 143f)
deutlich wird, denkt Calvin beim Triumphkranz an den Kranz aus Eichenlaub
(civica corona), der im römischen Reich für militärische Verdienste und insbe-
514 Epinicion
Edomiter sollen dem Wagen folgen, nachdem sie ihr Wüten aufgege-
ben haben,
Sie, die Krieg fuhren gegen seine heilige Macht. 18
Eck,19 rot und aufgedunsen vom gestrigen Wein,
Halte seinen Rücken gebeugt hier hin den harten Peitschenschlägen.
Hierhin neige sein ungezähmtes Haupt der einfältige Cochläus,20
Doch zuvor gewinne er die Stirn zurück, die immer ihm fehlte.
Nausea,21 der Ekel erregt mit seinen weitschweifigen Büchern,
Trage nun schweigend mit verschlossenem Munde das Joch.
10 Und der Uhu, der sich lange unter dem Namen Pelargus 22 verborgen
hielt,
Beiße mit seinem wütenden Schnabel auf das harte Zaumzeug.
Nicht weil sie so hervorragend sind, sondern weil in diesem Streit
Die schändliche Schar sie zu Fahnenträgern bestimmte.
15 Also fuhren sie Krieg unter der dreifachen Krone, ein jeder;
Das gesamte Heer mit seinem Anfuhrer finde sich hier ein:
sondere für die Errettung eines Bürgers verliehen wurde. Erst seit dem 3. Jh. n.
Chr. trugen die Kaiser die Strahlenkrone als Zeichen der Vergottung. Das
Motiv des Triumphators Christus begegnet auch in Inst. 11,16,6 (1559): Christi
Sieg am Kreuz werde von Paulus so gepriesen, als wäre das Kreuz zu einem
Triumphwagen geworden (CO 2,374/0S 3,490, vgl. dazu auch den Kommen-
tar zu Ko12,14 in CO 52,109).
18 Gemeint sind die Anhänger der römisch-katholischen Lehre.
19 Johannes Eck (1486-1543) war der theologische Hauptgegner Luthers, den
dieser disputatorisch und literarisch bekämpfte. Im Religionsgespräch von
Worms, wo Eck als Abgeordneter der bayerischen Herzöge die Debatte auf
römischer Seite führte, schätzte er die Aussichten des Unionsversuchs, die er in
der Schrift» An speranda sit Wormaciae concordia in tide« erörterte, als sehr
gering ein; vgl. E. ISERLOH, Art. »Eck«, TRE 9, 249-258.
20 Johannes Cochläus (1479-1552), der mit dt. Namen Schnecke hieß, traf schon
1521 in Worms mit Luther und 1530 in Augsburg mit Melanchthon zusammen.
Damals war er an der Abfassung der Confutatio Confessionis Augustanae
beteiligt, später wurde er von König Ferdinand I. zu den Religionsgesprächen
in Hagenau, Worms und Regensburg entsandt. Von 1548 bis 1551 verfaßte er
vier Schriften gegen Calvin. Seinen lat. Namen Cochläus (cochlea = Schnecke)
nahm Calvin zum Anlaß, ihn als eine einfaltige träge Schnecke zu charakteri-
sieren; vgl. R. BÄUMER, Art. »Cochläus«, TRE 8, 140-146.
21 Friedrich Nausea (1480-1552), der mit dt. Namen Grau hieß, war Hofprediger
von König Ferdinand I. in Wien. Dieser entsandte ihn zu den Religions-
gesprächen in Hagenau und Worms. Seine enorme literarische Tätigkeit (seine
Bibliographie umfaßt 165 Titel) und sein lat. Name Nausea (nausea = See-
krankheit; Übelkeit) kam Calvin für sein Verspaar gelegen; vgl. G. BIUNOO,
Art. »Nausea«, RGG, 3. Aufl., Bd. 4, Sp. 1384f.
22 Ambrosius Pelargus (1493-1561) führte als Theologe in Basel 1526-29 den
Streit gegen Oekolampad. In Worms war er einer von den elf stimmberechtig-
ten Abgeordneten der römischen Seite. In seiner Beschreibung bezeichnet Cal-
vin ihn wegen seines dt. Namens Storch als Vogel mit langem Schnabel.
Vermutlich weil Pelargus wenig in die Gespräche von Worms eingriff, heißt es
ferner, daß er sich -gleichsam verwandelt von einem Storch in einen Uhu-
verborgen hielt; vgl. A. WALZ, Art. »Pelargus«, LThK 8, 25lf und E.A. OE
BOER, a.a.O., 28.
516 Epinicion
23 Siehe Juvenal, Saturae I,79f: »si natura negat, facit indignatio versum qualemcun-
que potest«. Während Juvenal solche Verse, die der Dichter mit »indignatio«
verfaßt, offenbar als mißlungen ansieht, versteht Calvin sein Gedicht trotz
seiner Unzulänglichkeiten jedenfalls als Lobpreis Christi.
REGISTER
1. Bibelstellen
Prediger Micha
1,17 51 5,1 43
Jesaja Sacharja
1,3 79 11,17 333
2,3 367 14,8 367
5,13 207
7,14 41 Maleachi
8,12 91 1,6 147
12f. 91 2,7 315
14 103
9,6 235 Baruch
11,2 167 2,11-15 185
4 73,511
29,13 185 Matthäus
40,18-25 149 3,17 45
45,23 283 4,17 315
52,11 289 5,1-12 13
53,9 175 1-3 17
62,6 313,315 3ff. 2f.,13
3-8 4
Jeremia 9 21
2,13 75 10 23
9,23f. 75 12 15,23
18,18 97 19 315
22,3 205 6,9-13 185-193
23,6 235 7,7 185
29 309 15 413
31,31ff. 30 8,26par 47
31-34 29 10,40 201
33 16 13,24-30 413,469
25 101
Hesekiel 15,8f. 185
3 321 9 203
17 313 14 419
33 321 16,6 397
7 317 19 201
31ff. 275 17,5 45, 89
34,1-10 325 18,15-17 119, 123,467
10 57 24 47
23 317 17 123
17f. 205
Daniel 18 49
2,23 73 23,3 99,397
3,19ff. 95 24,24 83
9,18f. 185 35 411
23f. 75 25 28
25,31ff. 53
Register 521
Johannes Römer
1,4 239 1-4 28
16 167 1,14 57
29 47 16 49,201,315
3,1 264 19ff. 37
3 167 20 141
16 161 20-25 135
4,14 447 2,11 49
23 149 3,5-8 101
5,17 239 19f. 159
36 47 27f. 19
41-44 81 4,1-3 19
6,51 447 7 379
55 453 24 79
63 453 25 451
7,18 81 5,21 101
8,50 81 6,1 101
10,11 317 3-11 197
14 317 4-7 151
27 367 4-9 175
522 Register
26 367 3,5-7 73
26f. 197
6,2 153 I. Petrus
17 399 1,11 239
23 367,445
Philipper 2,2 139
1,7 511 6 103
15f. 103 9 305
2,6 237,507 3,15 139
8 173 4,11 139,397
10 283
21 103 11. Petrus
3,9 165 2,1 413
19 77 18 103
20 49 22 103
3,16 101
Kolosser
1,13 381 I. Johannes
2,3 75 2,18 413
8 373,375 3,8 103
14 515 4,1 397
17 151 5,6 45
18 389
4,17 313 Hebräer
1 257
I. Thessalonicher 2 239
4,7 381 6 235
5,21 397 1,8 235
2,4 81
11. Thessalonicher 5,12 329
2,4 397 7-8 45
8 511 7-9 28
9 81,83 7,23 53
10f. 83 24-26 473
8,10 167
I. Timotheus 9 45
1,8-11 119 9,24-28 471
4,1 289 10,10-13 471
10 75 16 167
11,1 141, 163
H. Timotheus 7 93
2,12 305 13,4 155
19 95
Apokalypse
Titus 3,lf. 335
1,9 319 15f. 335
2,11-14 377 22,17 447
14 379
524 Register
2. Namen
Unberücksichtigt bleiben die im Anmerkungsapparat genannten Na-
men von Autoren, Herausgebern und Übersetzern sowie in Buchtiteln
genannte Namen.
Achatius 85 266
Albucius, Aurelius 267 Bullinger, Heinrich 29f., 340, 434
Alciat, Andre 266f.
Aleander, Hieronymus 340 Cajetan, Jakob 340
Alexander VI. (Papst) 353 Capito, Wolfgang 27,432, 436f.,
Amadeus von Savoyen 97 496
Ambrosius, Aurelius 85, 87, Caraffa, Giovanni Pietro 340
245, 369 Caraffa, Oliviero 353
Anne von Ferrara 265 Caroli, Peter 27, 225-261
Apollinaris von Laodicea 239 Cassiodorus, Flavius Magnus
Apollonius 89 Aurelius 85, 87, 89
Aristarchus 257 Castro, Alfonsus de 73, 79, 83,
Arius 237, 249 89,93
Assurbanipal (Sardanapal) 99 Cerinthus 249
Athanasius 243, 245, 385 Cesarini, Julian 97
Augustinus, Aurelius 21,62, 83, Chemin, Nicolas du 263,266,
87,89,241,245,255,257, 267,301
259,340,369,385,391, Chrysostomus 87, 343, 367, 369
461,481 Cicero, Marcus Tullius 135, 340
Clemens VII. (Papst) 60, 353
Badius, Conrad 498 Clichtoveus,Iudocus 62, 79, 83,
Barth, Peter 3 87, 89
Basilius der Große 369 Cochläus, Johannes 62, 75, 83,
Baume, Pierre de la 338 85,500f.,515
Becanis, Vidal de 497 Colladon, Nicolas 2f., 132f.,
Bellay, Jean du 60, 71 264
Bembo, Pietro 339 Contarini, Gasparo 338, 340f.
Bernard, Jacques 338 Cop, Guillaume 2
Bernhard von Clairvaux 395 Cop, Nicolaus 1-9, 11, 13
Berquin, Louis 1 Cordier, Mathurin 338
Beza, Theodor 2, 7, 64, 132f., Cortesius 253
225,264, 266, 269f., 495 Courault, Elie 337f.
Biel, Gabriel 77 Crespin, Jean 269
Bois, Michel du 343,433,443 Crodelius, Markus 339
Bolsec, Jeröme 500 Cyprian von Karthago 62, 87,
Borgia, Lucrezia 265 89,279,369,389
Briconnet, Guillaume 60, 267 Cyrill von Jerusalem 245, 253,
Bucer, Martin 3, 5f., 29, 60f., 255,259,391
135,338-341,351,432,
434-437,495-497 Daniel, Francois 2
Budaeus (Bude), Guillaume 30, Decius, Gaius Messius 87
Register 525