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Ethik in internationalen Beziehungen

Author(s): Niklas Luhmann


Source: Soziale Welt, 50. Jahrg., H. 3 (1999), pp. 247-254
Published by: Nomos Verlagsgesellschaft mbH
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40878273
Accessed: 14-11-2015 11:56 UTC

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Ethikin internationalen
Beziehungen1

VonNiklasLuhmann

I.
In vielenBereichen,in denendie moderneGesellschaft schwerlösbareProblemeerzeugt,
wirdheutedie Hoffnung auf„Ethik"gerichtet.
Man sprichtvon„Bio-Ethik",umKonsequen-
zen dermodernen Technikfürdas LebenaufdieserErdezu diskutieren.Universitätenbilden
Ethik-Kommissionen, wennes um Vorwürfe gegenihreMitgliedergeht.Wissenschaftliche
OrganisationenentwerfenEthik-Codes fürForschung.
DieselbeFragewirdinParlamenten für
Abgeordnete Es
diskutiert. soll,hört
man, eine Wirtschaftsethik
geben(jedenfallshabendie
Banken„Ethik-Fonds" aufgelegt)odereineökologischeEthikodereinemedizinische Ethik.
Warumnachall demnichtaucheineinternationale Ethik?
Aberwas istüberhaupt gemeint, wennin dieserWeise von Ethikgesprochen wird?Man
siehtaufdenerstenBlick,daß die akademische Ethiknichthilft,
ja nicht einmal gefragtwird
(auchwennprofessionelle Ethikersichan denErörterungen Wedereinetranszen-
beteiligen).
dentaleEthiknocheineWertethik nocheineutilitaristische
EthikkönnenvonihrenPrinzipien
oderMaximenzu Entscheidungen kommen.JederRegulierungsvorschlag läßtsofortdie In-
teressenerkennen,die durchihnbevorzugt oderbenachteiligtwerden.Ethikistdannoftnur
ein vornehmer Ton,in demüberInteressen verhandeltwird.Schondeshalbwärees sinnvoll,
Juristen
zu beteiligen;
dennsie kennendas undhabenErfahrungen mitderEinbeziehung von
Interessenin Regulierungen.
Man siehtdie Probleme,siehtabernicht,wie sie inderFormvonEthikgelöstwerdenkönn-
ten.Es könntesichumreinakademische Diskursehandeln.Abereinerseits sinddie Probleme,
umdiees geht,zu ernstundzu dringend.Undandererseits siehtmandeutlichdieAbsicht, eine
wirksame
praktische RegulierunginKraftzu setzen.Das kannabernurinderFormdes Rechts
geschehen.Deshalb verdienendiese Diskussionendie Aufmerksamkeit auch von Juristen.
Vielleicht
enthaltensie,manmüßtedannsagen:wiedankeinesglücklichen Zufalls,Ideen,die
manzurBegründung vonohnehinanstehenden Entscheidungen verwenden könnte,oderVor-
schläge,die zum Themapolitischer Vorbereitung von rechtlichen
Regulierungen gemacht
werdenkönnten.
Andersals in anderenEthikfeldern
fehltes jedoch bei einerinternationalen
Ethikan einer
InstanzderUmsetzungvon ethischen Empfehlungen in Recht,wennmanvon den wenigen
undwenigwirksamen Fälleninternationaler
Gerichtsbarkeit einmalabsieht.
Damitbinichbei meinemThema:Was soll einJurist
davonhalten,wennerhört,daß unter
demNamen„Ethik"überProblemein internationalen
Beziehungendiskutiert
wird?
Ich gliederedie folgenden Überlegungenin dreiTeile.Zunächstgehtes darum,denBegriff
derEthikaus seinereigeneneuropäischen Tradition herauszu interpretieren.
Das führt
zu der
nächsten Frage,ob undmitwelchenVeränderungen diesenureuropäische Traditionunterden
heutigenBedingungen einesglobalenSystems,einerWeltgesellschaft, überhauptnochrele-
vantseinkann.WerdenzumBeispielChinesenverstehen, wovondie Redeist?Undschließlich
werdeichaufdas Rechtssystem selbstzurückkommen unddie Frage- zwarnichtbeantworten
aberzumindest stellen,wiedas Rechtssystemals System,das heißtinseinereigenenDynamik
sichaufdie zunehmende einerWeltgesellschaft
Konsolidierung einstellen
kann.

1) Vortrag aufderXV. Conferencia Nacionalda OrdernDos AvogadosDo Brasil4.-8.September1994


in Foz do Iguaçu,Paraná,Brasilien.

Soziale Welt50 (1999), S. 247 - 254

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248 NiklasLuhmann

IL
Wennmanetwassagenwillzu denWurzelnderEthikinderTradition des europäischen
Den-
kens,hates wenigSinn,aufden Ethos-Begriff deraristotelischen
Traditionzurückzugehen
MitdiesemBegriff
es heutevorschlagen).
(wie die sog. „neo-communitarians" hatEuropaim
17./18.Jahrhundert aus gutenGründendefinitiv
gebrochen. Wederseinegesellschaftsstruktu-
rellennochseinetheoretischen Voraussetzungen werden(undinder
könnenheuterestauriert
Tat:es gibtkeinerleiernsthafte michdeshalbaufDenk-
VersuchedieserArt).Ich beschränke
formen, wie sie im 18. Jahrhundert
entstandensindund,obwohlin mancher Weise überholt,
nochheutedie Diskussionbeherrschen. nurin derFormeiniger
Das kannselbstverständlich
Thesengeschehen.
Erstenswirddie Ethik(undmitihr:die Moral)seitdem 18. Jahrhundert vomRechtunter-
schieden,ja demRecht(undsogardemNaturrecht) Die Ethikbehandeledas
entgegengesetzt.
forum internum, das Rechtdas forum ImeinenFallegehees umdeninneren
externum. Zwang
des Gewissens,imanderenumdenäußerenZwangdurchdie Organedes Staates.Es istdiese
Trennung, die nochheuteimHintergrund steht, wird,als ob dies
wennüberEthikso diskutiert
ohneRücksicht aufInteressen(es sei denn und
„Vernunftinteressen") ohneRücksicht aufgel-
tendesRechtgeschehenkönne.
Zweitenshattesichim 18. Jahrhundert aufallenEbenen- in derPsychologieundim Ro-
man,in deram individuellen Eigentumorientierten die Eigentumnicht
Wirtschaftstheorie,
mehrals Herrschaft sondernals Dispositionsbefugnis,
betrachtet, im Naturrecht undin den
Reformdiskussionen
politischen - ein radikalerIndividualismusdurchgesetzt. Das machtes
möglich,soziale Ordnungen unabhängig vondenaltenEinteilungen derständischenGesell-
schaftzu konzipieren- unabhängig vom sozialenStatusundvon Herkunft, von ethnischen
oderregionalenEigenarten und sogarunabhängig von den konfessionellenBesonderheiten
derKirchenundSekten.Fürdie Wirtschaft wurdedas als Freiheit Pro-
dermarktorientierten
duktion fürdie Politikals Forderung,
unddes Handelspostuliert, Rechteder
die „natürlichen"
Individuenanzuerkennen undihneninderFormvonRepräsentativverfassungen Ausdruckzu
geben.Ebendamitkonntemanmeinen,das alteRechtdes Widerstandes gegenunrechtmäßi-
genMachtgebrauch aufgebenzu können.
Drittens wurdeFreiheit jetztnichtmehrimaltenSinnepolitischdefiniert, sondernaufIndi-
viduenbezogenundals Gegenbegriff zu Zwangformuliert. Das Individuum ist,was immer
seinesoziale Situation,frei,wennundsoweites nichtgezwungenwird.An diesem(sowohl
psychologisch als auch soziologischunrealistischen) hat auch das 19. und
Freiheitsbegriff
selbstdas 20. Jahrhundertnichtsgeändert,denndie ideologischeKontroverse zwischenLibe-
ralismusundSozialismus/Kommunismus gingnurum die Frage,wo undwie diese Freiheit
eingeschränkt werde- rechtmäßig durchdie staatlich
gesetzteRechtsordnung oderinnichtle-
gitimierbarer Weisedurchdie Produktionsverhältnisse des Kapitalismus.
wurdedie Ethikzu einerfastnurnochphilosophischen
Viertens Fragedadurch, daß die po-
Lösungenaufregionalstaatlicher
litischen EbenedurchEinrichtung vonRechtsstaaten(ruleof
law) gesuchtwurden. Damitverband sichdie volle des
Positivierung Rechts
und, dem entspre-
chend,die Demokratisierung derpolitischen Prozessemitder Hoffnung, sie dadurchdem
Druckderöffentlichen Meinungaussetzenzu können.Daß Ethikdabei keineRolle spielte
Utopietradiert
oderallenfallsals eineArtliterarische wurde,läßtsichmitvielenBeispielen
belegen.Ich nennenurdie Beibehaltung derSklavereiaufdemamerikanischen Kontinent bis
überdie Mittedes 19. Jahrhunderts hinausund,von Europaausgehend,die Benutzungdes
völkerrechtlichen derhumanitären
Instituts InterventionzurGründung vonKolonien.
Die intellektuelle hattevon diesenAnnahmen
Weltdes 19. und20. Jahrhunderts gelebt,
nämlichvonfraglosübernommenen voneinemdie Verschieden-
Vorstellungen,
europäischen

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Ethikin internationalen
Beziehungen 249

derIndividuen
artigkeit weitgehend ignorierendenIndividualismusundvoneineram Regio-
Politik.AdressatfürEthikwarendann die Individuen,Adressatfür
nalstaatorientierten
rechtliche
Regulierungen derStaat.Es gab,so gesehen,keinenGegenstand füreine„Ethikin-
ternationaler
Beziehungen". Meine These ist nun,daß sich vieles
inzwischen geänderthat;
unddaß mandie Änderungen erkennen kann,wennmansie an diesentraditionellenDenkvor-
aussetzungenmißt.

III.

Geändert hatsichinersterLiniedie Sichtbarkeitvonweltweiten, überregionalen Zusammen-


hängen.Man spricht indenSozialwissenschaften von„Globalisierung" oderauchvon„global
system".Umstritten istderzeit,ob maneineeinheitliche„Weltgesellschaft"annehmen kann,
was dazu führenmüßte,daß mannichtmehrvonregionalen Gesellschaften,vonderbrasilia-
nischenGesellschaft, derargentinischen dertürkischen,
Gesellschaft, derarmenischen usw.
Umstritten
spricht. istdiesaberalleindeshalb,weilungeklärtist,unterwelchenBedingungen
der Begriff„Gesellschaft" anwendbarist. Nichtbestrittenwerdenkannaberdie weltweite
Vernetzung vonKommunikation, vonMassenmedien, vonwissenschaftlicher Forschung, von
täglichenVeränderungen imFinanz-undKreditsystem, vonpolitischenInteressen,vonöko-
logischenSorgenund,im Zusammenhang damit,von politischerNervosität.Auch die fast
auftretenden
gleichzeitig Veränderungen in ganz verschiedenenLänderngebenzu denken-
vonJugendproblemen, Migrationsproblemen,religiösemoderethnischem Fundamentalismus
bis hinzu Schwierigkeiten zentralgesteuerterProduktionsplanung in Staatenebensowie in
Unternehmen. Das solltemeinesErachtens ausreichen,umvonWeltgesellschaft zu sprechen
unddannvordiesemHintergrund sehrunterschiedliche
Formenregionaler Auswirkungen zur
Kenntnis zu nehmen.

Die AusbildungeinersolchenWeltgesellschaft verändertoffensichtlichden Kontext,in


demvonEthikininternationalen Beziehungen die Rede seinkann.SchonderBegriff der„in-
ternationalen Beziehungen"im Sinnevonzwischenstaatlichen Beziehungenwirktirgendwie
antiquiert.Es gibteineFüllevonmoralischen Erwartungen inderFormvonAppellenundPro-
testen,die garnichtmehran die Staatenadressiert sind,sondernsichüberdie Massenmedien
direktan die öffentlicheMeinungwenden.Man denkean die Aktivitäten des Amnesty Inter-
national.Aberauchinnerhalb vonStaatenkannmanbeobachten, daß Protestierendedirektvor
die Fabriktore ziehenundan denBauzäunenrütteln, ohnedenStaatals Vermittler ihrerFor-
derungenin Anspruchzu nehmen.Das ist in Europabesondersevident,wo mangar nicht
mehrweiß,ob von den nationalenHauptstädten odervon Brüsselaus regiertwirdunddie
schon
Letztentscheidungen jetzt zunehmend beim Europäischen Gerichtshof liegen.Hauptsa-
che: die AktivitätenundEinstellungen werdengezeigtundgefilmt, so daß sie überdie Mas-
senmedienverbreitet werden,währendentgegengesetzte Meinungen,die Bedenken,die
langfristigenKalkulationen in denFirmen,den Ministerien, den Banken,denOrganisationen
derinternationalen Hilfeusw.unsichtbar bleiben.

Aberwas istdas füreine„Ethik",diederartimpulsivvorgetragen wird?Sicherhatsie nichts


mehrmitall denakademischen Begründungsfragen zu tun,die miteinerentsetzlichenPedan-
terieundGenauigkeit vonden Philosophen diskutiert
werden.Stattdessenistvon„Werten"
undvon„Wertewandel" dieRede.Da es aberunzähligeWertegibtundda offenbleibt,welche
WerteimEinzelfalldenVorzugverdienen, istdamitnichtsentschieden - außer,daßjedersei-
neeigenenWertefürgutundihreVerwirklichung fürdringlichhält.Das Terrain,aufdemsol-
cheWertkonflikteausgetragen werden,istnurnochinbegrenztem Umfangedie Politik.Mehr
undmehrtreten die Massenmedien, vorallemdas Fernsehen in denVordergrund - unddies
nichtinderWeise,daß sie Einstellungen
odergar„policies"empfehlen unddiesedannbefolgt
werden,sonderneherso, daß Problemeins öffentliche Bewußtseingerücktwerdenunddie

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250 NiklasLuhmann

Forderung nacheinerLösungdieserProblemeNachdruck erhält.Es kommtso zu einerexplo-


sivenMischungvonDesideraten undMöglichkeiten,
vonEnthusiasmus in denForderungen
und Skepsisin bezug aufjede konkreteMaßnahme.Dabei liegendie Artikulationsvorteile
undniemandwirdernstlich
deutlichbei denMoralisten, bestreiten,daß ihreProblemeeiner
Abhilfebedürfen. Undtrotzdem ein imganzenwenigausgewogenesBild derSitua-
entsteht
tion,in dersichdie moderneGesellschaft befindet.
gegenwärtig
Es kommt hinzu,daß bei diesemTypusvonethischer Kommunikation die FragevonMehr-
heitenundMinderheiten offenbar keineRollespielt.Der sorgfältig
kalkulierte
juristischeAp-
paratderklassischen
Repräsentativverfassungen wirdübergangen. Von „Demokratie" istnur
noch- die Rede.Wersichaufdie SeitederEthikbegibt,istimRecht,ob er nunin derMin-
derheitoderin derMehrheit die die Votenparlamentari-
ist.An die StelledieserDifferenz,
scher Gremienbestimmensollte, tretenunterschiedliche Artikulationschancen in der
öffentlichen
Kommunikation.

in eine ethische
Verhaltens
Schließlichsindauch Versuche,die Folgenunterschiedlichen
Regulierungeinzubeziehen,zumScheitern beurteilte
Man hatan eineunparteiisch
verurteilt.
Schadensminimierung gedacht,etwain ökologischenFragen.Aberdie Kausalkontextesind
zu komplex,unddie Zukunft JederwirdseineeigenenRezepteempfehlen.
bleibtunbekannt.
Wolltemanin dieserSituationZukunftsperspektiven kämedas einemAufhei-
moralisieren,
zen moralischerKonflikte
gleich.
Tatsächlich setzensichProtagonisten einerinternationalenEthikübersolcheBedenkenhin-
weg. Man könnte von einer „wilden" Ethikoder einer „enthusiastischen" Ethiksprechen. Das
würdejedoch eine rechtssoziologisch wichtigeFrageverdecken. Wennmanannimmt, daß
eineWeltgesellschaft entstanden oderjedenfallsimEntstehen begriffen ist:wie soll mansich
danndie Entstehung einesWeltrechts denken?Doch offenbar nichtin derFormvon Staats-
verträgen,die nachlangendiplomatischen Verhandlungen kaumnochSubstanzaufweisen.
Understrechtnichtin derFormvonBeschlüssenoderAbsichtsbekundungen internationaler
Organisationen, die eine aufs Papierbeschränkte Existenzführen.Eine Entwicklung von
Rechtsprinzipien,die nichtaus dennationalen Rechtenabgeleitet sind,kannmangegenwärtig
imeuropäischen Rechtbeobachten, nichtaberineinerinstitutionell gefestigtenWeltgerichts-
barkeit.Was stattdessensichanbahnt, isteine Artprotojuristische Entstehung vonNormen
aus AnlaßvonNormverletzungen, aufGrundvonEmpörung, aufGrundvoncolèrepublique,
umEmileDurkheim Normenentstehen,
zu zitieren. könnte mansagen,als Nebenprodukt ihrer
eigenenVerletzung, also rückwirkend. Juristendenkentypisch, daßeinNormverstoß nurfest-
werdenkann,wenndieNormschonexistiert.
gestellt Rechtssoziologen undvorallemRechts-
anthropologen kennen aber auch den umgekehrten Fall: daß sich Normen bilden,wenn
Erwartungen enttäuscht werdenund spektakuläre Vorfalledeutlichmachen,daß mandies
nichthinnehmen kann.Das giltzumBeispielfürFolterungen in Gefängnissen, fürpolitische
Morde,vielleichtbald auch fürgravierende VerstößegegenatomareSicherheit odergegen
Mindestbedingungen ökologischer Rücksicht.Es giltheutefürdas sogenannte „ethnicclean-
sing",fürdieVertreibung großerBevölkerungen aus ihrenangestammten Wohngebieten, was
1945nochin riesigemUmfangepraktiziert wurde,ohnedaß rechtliche Skrupellautwurden.
Es giltfürdie strafrechtliche
Aburteilung vonKriegsverbrechen - unabhängig vonderFrage,
ob zurTatzeitim positivenRechtdes jeweiligenStaatesein entsprechendes Strafgesetz be-
standen hatodernicht(also miteinemspektakulären VerstoßgegendieebenfallsgeltendeRe-
gel,daß Strafgesetze nichtrückwirkend in Kraftgesetztwerdensollen).Man kannalso sehr
wohlProzessederweltweiten Normentstehung beobachten, undvielleichtistEthiknureine
falscheBezeichnung dafür, dennes gehtkeineswegs nurumProblemedesGewissensoderder
moralischen Achtung, sonderndurchausumeineArtRecht,fürdas mannachSanktionsmög-
lichkeitensucht.

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Ethikin internationalen
Beziehungen 251

rv.
Solcheehersoziologischen Analyseneinersichanbahnenden Rechts-
weltgesellschaftlichen
kulturmüßtenauchfürJuristen von Interessesein.Juristen sindabermitdiesenProblemen
sondernnurin demMaße, als ihrnationalstaatliches
nichtdirektkonfrontiert, Rechtssystem
unddas fürsie geltendeRechtsie daraufhinweist. Also ist,könntemanfolgern, die Frageei-
nerEthikinternationalerBeziehungen fürsie eine reinakademische Frage ohnejedes prakti-
scheInteresse.
Immerhin gibtes mindestens einenGesichtspunkt,aus demmandiesebequemeLösungdes
Ignorierensin Zweifelziehenkönnte.Kanthattein seinemTraktatüberdenewigenFrieden
gemeint, daß derWeltfriede nurdadurchgesichert werdenkönne,daß aufderEbenederTer-
eine republikanische
ritorialstaaten Verfassung den Rechtsstaat so daß alle Kon-
garantiere,
flikteaufdie Bahnendes Rechtsgeleitetunddadurchfriedlich gelöstwerdenkönnten. Diese
Vorstellung läßt sichauf unser Problem wenn
übertragen, mannicht mehrnur an Weltfrieden
denkt,sondernan die nationalstaatliche Umsetzung vonGesichtspunkten,die sichindenpro-
tojuristischenFormeneinerinternationalen Ethikabzeichnen.Wie kannmandiesenWerten
oderPrinzipien innerstaatliche Resonanzsichern? Wie kannmanerreichen, daß sie überhaupt
die Aufmerksamkeit von mitRechtsproblemen befaßtenJuristenfinden?Wie kannes dazu
kommen, daß sie - bei allerOffenheit fürMeinungsverschiedenheitenundunterschiedliche
-
Interessenlagenüberhaupt in den von
Sichtkreis Entscheidungen
rechtsförmigen kommen?
Das Problemistsichernichtdadurchzu lösen,daß mandenRechtsstaat im StileKantsals
Es kannaberauchnichtdemEnthusiasmus
Postulataufstellt.
ethisch-politisches einerEthik
bleiben,die gegendie realenVerhältnisse
überlassen undletztlich
protestiert keinenanderen
Auswegmehrsiehtals Gewalt.Wirmüssenzunächsteinmaldem Problemselbstgenauere
Konturengeben,undichdenke,daß dies mitdenMittelneinersoziologischen Rechtstheorie
geschehenkönnte.
Gegeneineverbreitete Meinungmußzunächstbetontwerden, daß das Problemnichtinner-
Entscheidens
halb des juristischen liegt,also auch nichtinnerhalb des Rechtssystems.Das
Rechtssystem immerunterderVoraussetzung
operiert von SelbstreferenzundRekursivität.
Das heißt:JedeRechtsentscheidungnimmt aufandereEntscheidungen desselbenSystemsbe-
zug,zumBeispielaufGesetzeoderbei derGesetzgebung aufdie Verfassung, die ihrerseits
vorsieht,daß es Gesetzgebung,Rechtsprechung, Verträgeusw. gibt.Und ich betone:das ist
injedemFall so, dennanderswäredie Rechtsentscheidung garnichtals Rechtsentscheidung
erkennbar. HierliegtderGrunddafür,daß Juristenauchan derGesetzgebung undan komple-
xenVertragsgestaltungen mitwirken müssen;dennanderskönntedie Einfügung von neuem
Rechtinbereitsvorhandenes Recht,also die ReproduktionvonRechtnichtgelingen.Die klas-
sischeTheoriehattehiervon„Rechtsanwendung" gesprochen unddemdie Vorstellung einer
Hierarchie vonRechtsquellenzugrundegelegt. Heutebenutzt die Rechtstheorie
eherzirkuläre
Modelleundspricht voneinerReproduktion
infolgedessen vonRechtdurchRecht.
Eine solcheoperativeSchließungdes Systemsistzwareinenotwendige Bedingungdafür,
daß Rechtüberhauptals Rechterkennbarwird.Aberdie soziologischwichtigeVorfrage
wäre:
ob es daraufüberhauptankommt undunterwelchenBedingungen -
das Rechteingeschaltet
oderausgeschaltet
wird.
Lassen Sie michdazu einenFall erzählen,derdas Problemhoffentlich
verdeutlicht.
Eine
süditalienische hatteim Zuge ihresWachstums,
Universität dermitöffentlichenMittelnge-
fördertwurde,von derRegionGebäudegemietet.Im Vertragwar derMietpreisfestgelegt
worden.Zugleichverstand mansichaberinmündlichen so gut,daß Einverständ-
Gesprächen
nisdarüberherrschte,
daß die Universität
das AusmaßderNutzungselbstbestimmen unddie
notwendigen Renovierungen selbstdurchführenkönneunddaß die Zahlungdes Mietpreises

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nichtverlangt werdenwürde.Der expressiveGehaltsolcherVerständigungen war:Großzü-


gigkeit, Hilfe,Entgegenkommen, Dankbarkeit und eventuellauf persönlicherEbene: An-
sprechbarkeit Nach mehr als zehn Jahrenwird unterdeutlich
für Gegenleistungen.
veränderten Bedingungen(Aktionmanipulite)der Mietpreis,eine beträchtliche Summe,
rückwirkend Wie konnteman,so istzu fragen,
eingeklagt. einenVertrag schließen,ohneihn
ernstzu nehmen?Wie konntemansichdaraufverlassen, daß derVertraggilt- undzugleich
nichtgilt?Wie konntemandavonausgehen,daß niemandden Vertragbeachtenwürdeund
daß bei allenetwaauftauchendenProblemen ein Netzwerkfreundschaftlicher
Verständigung
helfenwürde- undzwarauchundgeradedann,wennes umdie Verschleierung vonRechts-
widrigkeiten ging.Das Netzwerkwürde,andersgesagt,immerinderLage sein,denzu finden,
derinNotlagenhelfenkann.Ein Vertrag also nurfürdie Akten.Aberwennso, wozudas?
Es dürftenichtschwerfallen,diesesBeispieldurchweitereundschlimmere zu ergänzen-
was zum Beispiel Korruption im weitestenSinne,privateBereicherung von Amtsträgern,
rechtswidrigesVerhalten derPolizeiusw.betrifft. Aberdas istnichtmehrmeinThema.Auch
die besonderenBedingungen, die in Italienzu den geradezurevolutionären Erfolgen undden
Turbulenzen
politischen des Aktionismus dermanipulitegeführt haben(vorallemwärehier
ein sorgfältig
geplantesZusammenspiel vonStaatsanwälten, RichternundMassenmedien zu
erwähnen unddas Fehleneinerpolitischen Verantwortung fürdie Folgen),könnenhiernicht
werden.Fürdas ThemadiesesVortrags
erörtert istes jedochwichtig, daß in dieserFrageder
Einschaltung bzw. Ausschaltung des Rechtssystems nationaleBedingungen variieren.Das
Rechtssystem selbstverlangtund erzeugt weltweite Anerkennung seinerEntscheidungen. Es
wie die Sprache,die Übersetzbarkeit
garantiert, seinerKommunikationen. Wirkennendas
zumBeispielin derFormdes internationalen Privatrechts unddervölkerrechtlich gebotenen
Respektierung einzelstaatlicher
„Souveränität". Was aber von Staatzu Staat,von Land zu
istdie Frage,wie weitRechtüberhaupt
Land variiert, beachtetwird.Es gibt,andersgesagt,
sehrverschiedene sozialeBedingungen, die verhindern, daß es aufdenUnterschied vonrecht-
mäßigundrechtswidrig überhaupt ankommt. Es kannzumBeispielvordringlich wichtigsein,
werbestimmte WünscheäußertoderwervonEntscheidungen ist.
betroffen
man die heutigenweltgesellschaftlichen
Betrachtet unterdiesemGesichts-
Verhältnisse
dannistes, soziologischgesehen,keineswegs
punkt, daß die inEuropaseit
selbstverständlich,
dem 11. Jahrhundert Rechtskultur
entwickelte sich weltweitpraktizierenläßt.Aberdavon
wirdes abhängen, ob eineUmsetzung derprotoj uristisehenEntwicklungen im Bereicheiner
Ethikinpraktizierbares,
internationalen justitiablesRechtgelingenwirdodernicht.

V.
ZumAbschlußmöchteichzweiaktuelleProblemeerwähnen, an denensichtbarwird,daß und
wie Problemeeinerinternationalen Ethikin Rechtsprobleme überführtwerden.Es gehtum
Fragen,bei denenman,in Deutschlandzumindest, deutlicheSympathien derBevölkerung
undvorallemderJugendfindenundaktivieren kann,undzwarSympathien fürdas, was die
Ethikzu fordern scheint,bei denenaberzugleichauchdie Umsetzungin eindeutiges Recht
Schwierigkeiten Ich
bereitet. meinedie ökologischenProbleme dermodernen Gesellschaft,
teilsals FolgenderTechnik,aberauch,wennmanan die tropischen Regenwälder oderdas
Überfischen bestimmter Meeredenkt,als unbedachter UmgangmitRessourcen.Das andere
Problembetrifft die sogenannten Menschenrechte.
In den diplomatischen Verhandlungen, die etwaigeninternationalenKonventionen über
ökologischeMaßnahmen vorausgehen, aberauchinderKritikeinseitiger Maßnah-
staatlicher
menzumSchützederUmwelt,findet manimmerwiederdenEinwand,daß es umvorgescho-
beneGesichtspunkte gehe,während in die Errichtung
Wirklichkeit vonHandelshindernissen
zumSchützedereinheimischen Industrie sei. Natürlich
beabsichtigt kannniemand, das wis-

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Ethikin internationalen
Beziehungen 253

am besten,zwischenangegebenem
sen Juristen Zweck undeigentlichem Motivunterschei-
den. Auf der Ebene der Kommunikation kann man sich nur nach dem richten,was
kommuniziert wird.Dasselbe Problemhabenwirauch im innerstaatlichen Recht,wenndie
ökologischen Anforderungen so hochgeschraubt werden,daß nurdie finanzkräftige
Großin-
dustrie
mithalten kannundderenkleinereKonkurrenten aufgebenmüssen.In Deutschlandha-
ben wirdieses Problemaktuellzum Beispielbei der Umrüstung von Tankstellenauf neue
Kriterien.
Das Rechtssystem isthier,vorallemunterverfassungsrechtlichenGesichtspunkten,
Kriterien
gefordert, fürdie Begrenzung einerökologischorientierten
PolitikmitRücksichtauf
denMarktzu entwickeln. Juristensindes jedenfallsgewohnt,schutzwürdigeundzu opfernde
Interessen
zu unterscheiden undVorschlägefürkomplexeRegelungenauszuarbeiten - etwa
mitÜbergangsfristen oderbesonderen Kriterien fürOpferausgleich.
Abergenaudafürmüßte
das Rechtssystem die notwendige Integrität können,umnichtvonvornherein
garantieren als
Handlanger bestimmter nationalerund/oder ökonomischer Interessen
zu erscheinen.
Das heißt
nichtzuletzt:daß aufspezifischjuristischeWeise argumentiertwerdenmuß- etwaim Ver-
gleichmitanderen,schonentschiedenen FällenodermitVorausschauaufdie Rechtsfolgen
derEntscheidung.
Der Fall derMenschenrechte liegtandersunderheblichschwieriger. Hierstehtzunächst
einmal,was zumBeispielFreiheitundGleichheit eine spezifisch
betrifft, europäischeTradi-
tionzurDisposition, derenhistorische
undregionaleBesonderheit manzurKenntnis nehmen
sollte.SowohlFreiheit als auchGleichheit
sindnuraufGrundvonEinschränkungen möglich.
Die Frageistdaher,an welcheEinschränkungen mangewöhntistundwie sich solcheEin-
schränkungen aufanderestrukturelleFaktoren,zumBeispielaufArbeitsbereitschaftoderauf
demographische Variableauswirken. DaherderVerdacht, daß auchMenschenrechte als Vor-
wanddienen,uminpolitische Verhältnisse
zu intervenieren,
die nuraufnationaler
Ebenever-
antwortlich- sei es nundemokratisch odernicht- entschieden werdenkönnen.
Um diesemProblemauszuweichen,wähle ich einenkrassenund in der internationalen
Ethiksicherunbestrittenen
Fall: den Fall derFolterungdurchstaatliche
Agenten.Man kann
hiersicher,wennFälle bekanntwerden,mitöffentlicher Entrüstungrechnen.Aberwie würde
dergarnichtmehrunrealistische Fall entschiedenwerden,daß Terroristen
im Besitzeeiner
Atombombe sindundes daraufankäme,imWegederFolterung Gefangener Zugangzu deren
Versteckzu finden.WürdenSie foltern erlaubenoderjedenfallsnachträglich
entschuldigen?
Undwennin diesemFalle,dannauchin wenigerkrassenFällen?Undwennso, mitwelchen
Schranken?
In DeutschlandscheintderFall verfassungsrechtlich
klargeregeltzu sein:Die Menschen-
würdeistunverletzlich. - was immerdie Konsequenzen.Aberder
Man darfalso nichtfoltern
Fall, könnten
Juristensagen,warbeimErlaßderVerfassung ja garnichtvorgesehen.Also
könntemanmiteinerfiktiven Kalkulationaushelfen.Wie hättederVerfassungsgesetzgeber
wenneran diesenFall gedachthätte?
entschieden,
Das Rechtssystem hatalso trotzeinerscheinbarklarenRechtslagedie Möglichkeit,
sich
durchInterpretation
einenEntscheidungsspielraumzu eröffnen.
Aberwie würdees entschei-
denin solcheinemFall von„tragicchoice",oderineinemFall von„Staatsräson",
wo manes
nurfalschmachenkann?
eigentlich
Von dernormalen Arbeitstechnikdes Juristen
hergesehen,lägees nahe,das Foltern,
wenn
auchseufzend, zu erlauben,weildieseEntscheidungnochmiteinschränkenden Bedingungen
versehen,alsojuristisch
kontrolliert
werdenkann,währenddie gegenteilige Entscheidungal-
les einemunkontrollierbaren
Zufallüberließe.Abermanmußauchsehen,daß das Recht,was
seinePrinzipienundseinenethischen Gehaltangeht,sichmiteinersolchenEntscheidung zu
sichselbstin Widerspruchsetzenwürdeunddeshalbfrohseinmüßte,wenneineexterneIn-

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254 NiklasLuhmann

stanzihmdie Entscheidung - einArgument,


abnimmt daß manin derLogikmitdemNamen
Godeiverbindet.
Ich stellediese aufgeworfeneFragehiernicht,um sie selberzu entscheidenoderum den
zuständigen StellenmitklugemRat zu helfen.MeineFrageistvielmehr: lebenwirin einer
Gesellschaft, ist,einesolcheFragedemRechtssystem
diedaraufvorbereitet zurEntscheidung
zu überlassen? Oderanders:istdas eineFrage,die überhauptnachdemCode vonRechtund
Unrechtentschieden werdenkann?Odernochmalsanders:Wennin dieserFrageEthikund
Interessenaufeinanderprallenundjedervon uns aufbeidenSeitenargumentieren undkeine
Entscheidung fürrechtmäßig haltenkann:werandersals das Rechtssystem solltedie Ent-
scheidung treffen? Nur,undimmerwieder:unterwelchenVoraussetzungen wäredie Gesell-
schaftbereit,eine Entscheidung des Rechtssystems Doch wohl nur,wenn
zu akzeptieren?
dessenIntegritätvorabgesichertist.

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