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2020
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Theorien der
Siegfried Schieder
Internationalen Beziehungen
Inhaltsverzeichnis
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2. Realismus ........................................................................ 39
Andreas Jacobs
3. Neorealismus ................................................................... 65
Niklas Schörnig
4. Interdependenz ................................................................ 97
Manuela Spindler
1. Einleitung
Die Theorienlandschaft der Internationalen Beziehungen befindet
sich in einem Prozess ständiger Ausdifferenzierung und ist kaum
überschaubar.1 Das Nebeneinanderbestehen verschiedener, in der
Regel konkurrierender Theorien, Ansätze, Perspektiven und Kon-
zepte wird häufig mit dem Begriff des „Theorienpluralismus“ ge-
fasst. Dieser Zustand lässt sich im Wesentlichen auf drei Gründe
zurückführen. Erstens ist das rasche Wachstum an theoretischen
Entwürfen das Ergebnis kumulativer Theoriebildung und einer
Professionalisierung innerhalb einer akademischen Disziplin, die
auf eine nunmehr über 90jährige Geschichte zurückblickt – wenn
man als „Geburtsjahr“ die institutionelle Einrichtung des Fachs
mit den ersten Lehrstühlen für Internationale Beziehungen im
Rahmen der nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Versailler
Verträge von 1919 ansieht.2 Der Umstand kumulativer Theoriebil-
dung trifft umso mehr auf die Disziplin der Internationalen Bezie-
hungen zu, als er auch zum Ausdruck bringt, dass es bis heute kei-
weise ist es, auf der Basis einer systematischen Beschreibung und
Erklärung zu empirisch überprüfbaren Aussagen und allgemein
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seit den 1990er Jahren veraltet; ebenso die Theoriedarstellungen in den deutsch-
sprachigen Einführungen in die Internationalen Beziehungen wie Tauras/Meyer/
Bellers 1994; Pfetsch 1994; List/Behrens/Reichardt/Simonis 1995; Druwe/Hahl-
bohm/Singer 1998; Albrecht 1999.
9 Innovative Impulse für die politikwissenschaftliche Lehre mit Multiplikatoreffekt
wurden zudem mit der großangelegten politikwissenschaftlichen Plattform „Politi-
kON“ (http://www.politikon.org) initiiert. Zum Nutzen und Nachteil der neuen
Medien in der Lehre von den Internationalen Beziehungen vgl. Schieder 2003.
18 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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3.1 Theorieverständnis
10 Im Sinne der klassischen Definition von Politik als „who gets what, when, and
how“ von Harold Lasswell (1958: 13).
20 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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gie, sondern den Begriff von der Erkenntnis selbst. Vgl. dazu grundlegend
Rorty 1967.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 27
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rend die zweite Gruppe von Beiträgen das breite Spektrum an ge-
sellschaftsorientierten Theorien der internationalen Beziehungen
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4. Literatur
20 Diese Darstellung von Perspektiven aus dem Bereich der Internationalen Politi-
schen Ökonomie ist keinesfalls umfassend und bedürfte in systematischer und
umfassender Form eines eigenen Bandes. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem
besonderen Konkurrenzverhältnis von Internationalen Beziehungen und Inter-
nationaler Politischer Ökonomie mit ihren Ansprüchen als „eigenständige“ aka-
demische Disziplinen. Unserem Verständnis folgend dürfen diese Perspektiven
gleichwohl in einem Theorieband der Internationalen Beziehungen nicht fehlen.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 33
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Lasswell, Harold D. 1958: Politics: Who Gets What, When, and How. New
York: Meridian Books.
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Realismus
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Andreas Jacobs
1. Einleitung
Fragte man noch in den 1970er Jahren nach dem am häufigsten
zitierten theoretischen Text zur internationalen Politik, wurde man
unweigerlich auf das erstmals 1948 erschienene Werk Politics
among Nations von Hans J. Morgenthau verwiesen. Mögen mitt-
lerweile andere Theoriebeiträge Morgenthaus Klassiker den Rang
abgelaufen haben, so hat Politics among Nations nichts von seiner
Bedeutung als zentrales theoretisches Fundament eines Theoriege-
bäudes eingebüßt, das unter der Bezeichnung Realismus in vieler-
lei Hinsicht längst zu einer Art Gründungsbeitrag der Lehre von
den Internationalen Beziehungen geworden ist. Die meisten nach-
folgenden Versuche der Theoriebildung sollten entweder in An-
knüpfung oder – was wesentlich häufiger der Fall war – in Ab-
grenzung zum Realismus von Morgenthau entwickelt werden. An-
gesichts der erheblichen Kritik an der frühen realistischen Theorie-
bildung im Allgemeinen und Morgenthaus Realismus im Beson-
deren mag es kaum verwundern, dass der Realismus spätestens seit
Ende der 1970er Jahren respektvoll behütet ins ‚Museum der Theo-
riegeschichte der internationalen Beziehungen‘ verbannt schien.
Doch dieser Eindruck trügt. Das zunehmende postrealistische In-
teresse an Morgenthau und den anderen Realisten ist deutlicher
Hinweis darauf, dass von Morgenthaus Realismus mehr geblieben
ist als die Hinterlassenschaft einer Reihe von Grundfragen und Im-
pulsen für die Disziplin sowie die Aufforderung, die Welt so zu
sehen wie sie wirklich ist.
Da Morgenthau seine theoretischen Überlegungen in Politics
among Nations nur als Grundlegung einer Theorie verstand und
die Vertreter des Realismus auch in der Folgezeit keine einheitli-
che und in sich kohärente Theorie der internationalen Politik ent-
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Realismus
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Andreas Jacobs
1. Einleitung
Fragte man noch in den 1970er Jahren nach dem am häufigsten
zitierten theoretischen Text zur internationalen Politik, wurde man
unweigerlich auf das erstmals 1948 erschienene Werk Politics
among Nations von Hans J. Morgenthau verwiesen. Mögen mitt-
lerweile andere Theoriebeiträge Morgenthaus Klassiker den Rang
abgelaufen haben, so hat Politics among Nations nichts von seiner
Bedeutung als zentrales theoretisches Fundament eines Theoriege-
bäudes eingebüßt, das unter der Bezeichnung Realismus in vieler-
lei Hinsicht längst zu einer Art Gründungsbeitrag der Lehre von
den Internationalen Beziehungen geworden ist. Die meisten nach-
folgenden Versuche der Theoriebildung sollten entweder in An-
knüpfung oder – was wesentlich häufiger der Fall war – in Ab-
grenzung zum Realismus von Morgenthau entwickelt werden. An-
gesichts der erheblichen Kritik an der frühen realistischen Theorie-
bildung im Allgemeinen und Morgenthaus Realismus im Beson-
deren mag es kaum verwundern, dass der Realismus spätestens seit
Ende der 1970er Jahren respektvoll behütet ins ‚Museum der Theo-
riegeschichte der internationalen Beziehungen‘ verbannt schien.
Doch dieser Eindruck trügt. Das zunehmende postrealistische In-
teresse an Morgenthau und den anderen Realisten ist deutlicher
Hinweis darauf, dass von Morgenthaus Realismus mehr geblieben
ist als die Hinterlassenschaft einer Reihe von Grundfragen und Im-
pulsen für die Disziplin sowie die Aufforderung, die Welt so zu
sehen wie sie wirklich ist.
Da Morgenthau seine theoretischen Überlegungen in Politics
among Nations nur als Grundlegung einer Theorie verstand und
die Vertreter des Realismus auch in der Folgezeit keine einheitli-
che und in sich kohärente Theorie der internationalen Politik ent-
40 Andreas Jacobs
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tenz, der Kluft zwischen Norm und Realität, zwischen Wollen und
Können und zwischen Schöpfertum und Ohnmacht (Kindermann
1963: 22). Schon in seinem 1946 erschienen Werk Scientific Man vs.
Power Politics hatte er sich diesen Fragen gewidmet und war dabei
zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gleichzeitigkeit von schöpfe-
rischen und zerstörerischen Potenzialen menschlichen Handelns
letztendlich auf der menschlichen Freiheit beruhe (Morgenthau 1946:
187-201). Hier wird der starke Einfluss Reinhold Niebuhrs deutlich.
Niebuhr hatte in seinem 1932 erschienenen, wichtigsten Werk Mo-
ral Man und Immoral Society die Überlegung formuliert, dass der
menschliche Altruismus in Egoismus und Aggressivität umschlage,
sobald sich Menschen kollektiv organisieren und sich beispielsweise
in Staaten zusammenfinden (Niebuhr 1932: 83). Dieser kollektive
Egoismus wirke aggressiver und konfliktträchtiger, je altruistischer
und aufopfernder sich der einzelne für das Wohl des Kollektivs ein-
setze. Gewalt in den internationalen Beziehungen werde so unver-
meidlich. Da in ein Kollektiv eingebundene Personen weniger mora-
lischen Skrupeln unterliegen als Einzelpersonen, nehme das Macht-
streben auf nationaler und internationaler Ebene gesteigerte und
brutalere Formen an. Eine Zähmung dieses Machtkampfes sei nur
durch die Ausrichtung des politischen Handelns an Ethik und Moral
möglich (Niebuhr 1932: 231).
Obwohl sich Morgenthau in vielen Punkten eng an Niebuhr an-
lehnt, weicht er hinsichtlich der Verortung der Gewaltursachen von
ihm ab. Während Niebuhr die zerstörerischen Elemente mensch-
licher Existenz eher als Resultat der Vergesellschaftung betrachtet,
sieht sie Morgenthau biologisch verwurzelt, d.h. in der Natur des
Menschen begründet. Hier folgt Morgenthau also Hobbes (1588-
1679), der in seinem 1651 verfassten Hauptwerk Leviathan den
Machttrieb als Wesensmerkmal des Menschen definiert hatte
(Hobbes 1976 [1651]). Ähnlich wie der Idealismus, der vom wert-
orientierten Handeln von Individuen auf das Verhalten von Kol-
lektiven schließt, überträgt Morgenthau diese anthropologischen
Prämissen auf das Verhalten von Staaten (Morgenthau 1946: 198).
Morgenthaus Sicht der internationalen Politik beruht deshalb auch
nicht auf dem Konzept einer wie auch immer gearteten Weltge-
meinschaft, sondern auf der Vorstellung eines Staatensystems, in
48 Andreas Jacobs
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schaft oder eines Teils davon? Der Jurist fragt: Steht diese Politik
im Einklang mit den Rechtsvorschriften? Der Moralist fragt: Steht
diese Politik im Einklang mit den sittlichen Grundsätzen? Der po-
litische Realist aber fragt: Welche Auswirkungen hat diese Politik
auf die Macht des Staates?“ (Morgenthau 1963: 57, Hervorhebun-
gen i. O.).
Der Realismus will nicht nur verstehen und erklären, sondern auch
konkrete Empfehlungen für politisches Handeln geben. Er muss
daher zu den normativen Theorien im weiteren Sinne gerechnet
werden. Kennzeichen solcher normativen Theorien ist über die
rein analytische Erfassung politischer Zusammenhänge hinaus die
Vermittlung von politischen Zielen im Sinne von Werten.
„Es gibt keine politische Moral ohne Klugheit – d.h. ohne Berücksich-
tigung der politischen Folgen eines anscheinend moralisch vertretbaren
Vorgehens. Der Realismus betrachtet diese Klugheit – das Abwägen
der Folgen alternativer politischer Handlungen – daher als die höchste
Tugend der Politik. Abstrakte Ethik beurteilt Handlungen nach ihrer
te, gerade des 19. und 20. Jahrhunderts, habe demgegenüber ge-
zeigt, dass das Denken in Kategorien des Mächtegleichgewichts
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Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
Primärliteratur
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duction to the Study of International Relations. Nachdruck der 2. Aufl. von
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lemma, in: Ders.: Staatenwelt und Weltpolitik. Aufsätze zur internationalen
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der internationalen Politik. Übersetzung der 3. Aufl. von Politics Among
Nations aus dem Jahre 1960. Gütersloh: Bertelsmann.
Niebuhr, Reinhold 1932: Moral Man and Immoral Society – Study in Ethics
and Politics. New York/London: Charles Scribner’s Sons.
Sekundärliteratur
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Bell, Duncan (Hrsg.) 2009: Political Thought and International Relations. Varia-
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Brooks, Stephen G./Wohlforth, William C. 2008: World Out of Balance. Inter-
national Relations Theory and the Challenge of American Primacy. Princeton:
Princeton University Press.
Claude, Inis L. 1962: Power and International Relations. New York: Random
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Donnelly, Jack 2008: The Ethics of Realism, in: Reus-Smit, Christian/Snidal,
Duncan (Hrsg.): The Oxford Handbook of International Relations. Oxford:
Oxford University Press, 150-162.
Gebhardt, Jürgen 1991: Macht und Maß: Morgenthau und Kissinger, in: Gre-
ven, Michael Th. (Hrsg.): Macht in der Demokratie – Denkanstöße zur
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Kennan, George F. 1954: Realities of American Foreign Policy. Princeton:
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Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812-1822. Übersetzung von A
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Realismus 63
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Neorealismus
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Niklas Schörnig
1. Einleitung
Kaum eine Theorie hat die politologische Disziplin der Internatio-
nalen Beziehungen (IB) so stark geprägt wie der Neorealismus.
Dabei zeichnet diese Theorie ein „rather grim picture of world po-
litics“, wie selbst ein bekennender Vertreter des Neorealismus –
John Mearsheimer – eingesteht (1995: 9). Das Bild des Neorea-
lismus von den internationalen Beziehungen ist durch die absolute
Dominanz von Sicherheitsinteressen, den Selbsterhaltungstrieb der
Staaten und die Verweigerung von Kooperation gekennzeichnet.
Da es keine Instanz jenseits der Staaten (z.B. eine Weltregierung)
gibt, die für alle Staaten gültige Regeln und Normen setzt und die-
se notfalls gewaltsam durchsetzen kann, müssen sie in ständiger
Unsicherheit über die Intentionen der Nachbarn leben und deshalb
immer auf den schlimmsten Fall – Krieg – vorbereitet sein. Mit
diesen Annahmen steht der Neorealismus klar in der Tradition
realistischer Autoren wie z.B. Hans J. Morgenthau, Edward H.
Carr oder Henry Kissinger, geht jedoch in Fragen der Theoriebil-
dung über diese hinaus (daher Neo-Realismus). Begründet wurde
er 1979 von Kenneth Waltz mit seinem Buch Theory of Interna-
tional Politics. Dieser wird aufgrund seines prägenden Einflusses
im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen.
Im Gegensatz zum Realismus, der stark durch die Erfahrung der
Zwischenkriegsperiode und des Zweiten Weltkriegs beeinflusst
wurde und Kriege anthropologisch mit der Natur des Menschen be-
gründete, lehnt Waltz eine solche Erklärung der internationalen Be-
ziehungen ab: „While human nature no doubt plays a role in
bringing about war, it cannot by itself explain both war and peace,
except by the simple statement that man’s nature is such that some-
times he fights and sometimes he does not“ (Waltz 1959: 29).
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Neorealismus
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Niklas Schörnig
1. Einleitung
Kaum eine Theorie hat die politologische Disziplin der Internatio-
nalen Beziehungen (IB) so stark geprägt wie der Neorealismus.
Dabei zeichnet diese Theorie ein „rather grim picture of world po-
litics“, wie selbst ein bekennender Vertreter des Neorealismus –
John Mearsheimer – eingesteht (1995: 9). Das Bild des Neorea-
lismus von den internationalen Beziehungen ist durch die absolute
Dominanz von Sicherheitsinteressen, den Selbsterhaltungstrieb der
Staaten und die Verweigerung von Kooperation gekennzeichnet.
Da es keine Instanz jenseits der Staaten (z.B. eine Weltregierung)
gibt, die für alle Staaten gültige Regeln und Normen setzt und die-
se notfalls gewaltsam durchsetzen kann, müssen sie in ständiger
Unsicherheit über die Intentionen der Nachbarn leben und deshalb
immer auf den schlimmsten Fall – Krieg – vorbereitet sein. Mit
diesen Annahmen steht der Neorealismus klar in der Tradition
realistischer Autoren wie z.B. Hans J. Morgenthau, Edward H.
Carr oder Henry Kissinger, geht jedoch in Fragen der Theoriebil-
dung über diese hinaus (daher Neo-Realismus). Begründet wurde
er 1979 von Kenneth Waltz mit seinem Buch Theory of Interna-
tional Politics. Dieser wird aufgrund seines prägenden Einflusses
im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen.
Im Gegensatz zum Realismus, der stark durch die Erfahrung der
Zwischenkriegsperiode und des Zweiten Weltkriegs beeinflusst
wurde und Kriege anthropologisch mit der Natur des Menschen be-
gründete, lehnt Waltz eine solche Erklärung der internationalen Be-
ziehungen ab: „While human nature no doubt plays a role in
bringing about war, it cannot by itself explain both war and peace,
except by the simple statement that man’s nature is such that some-
times he fights and sometimes he does not“ (Waltz 1959: 29).
66 Niklas Schörnig
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2 Die Annahme der Rationalität der Staaten findet sich in TIP nicht expressis ver-
bis. Waltz gesteht aber in späteren Aufsätzen ein, von dieser Annahme implizit
auszugehen. Vgl. z.B. Waltz 1986: 330.
Neorealismus 73
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hängt, wird bei Waltz die Struktur unabhängig von den Akteuren,
ihren Interessen und ihren Interaktionen definiert. Die Struktur des
internationalen Systems hat in einer neorealistischen Perspektive ei-
nen eigenständigen kausalen Einfluss auf die Akteure und bewirkt,
dass sie sich in bestimmten Situationen grundsätzlich ähnlich ver-
halten. Will man allerdings bestimmen, was genau unter der Struktur
des internationalen Systems zu verstehen ist, so stößt man auf das
Problem, dass sie als solche natürlich nicht direkt beobachtet werden
kann. Sie muss deshalb abstrakt modelliert werden. Nach der Defi-
nition von Waltz sind es drei Elemente, die zur Bestimmung der po-
litischen Struktur des internationalen Systems herangezogen werden:
(1) das Ordnungsprinzip, (2) die Funktionsspezifizierungen oder Ei-
genschaften der Akteure und (3) die Ressourcen- bzw. Machtver-
teilung zwischen den Akteuren.
(1) Das Prinzip, nach dem die Einheiten im internationalen Sys-
tem geordnet sind, ist das Ordnungsprinzip (ordering principle).
Nach Waltz gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie Akteu-
re in einem System organisiert sein können: hierarchisch oder an-
archisch (Waltz 1979: 114ff). Eine hierarchische Struktur zeichnet
sich – wie für nationale politische Systeme charakteristisch –
durch das Vorhandensein einer übergeordneten Instanz mit Sank-
tionsgewalt (Gewaltmonopol) aus, die den Schutz der einzelnen
Einheiten garantiert. Im Gegensatz dazu bezeichnet Anarchie –
abweichend vom umgangssprachlichen Gebrauch – die Abwesen-
heit einer solchen Instanz: Jeder Akteur ist unter diesen Bedingun-
gen auf sich selbst gestellt. Alle Neorealisten gehen davon aus,
dass sich das internationale System durch Anarchie – verstanden
als die Abwesenheit einer „Weltregierung“ bzw. einer übergeord-
neten Instanz – auszeichnet. Die Annahme der Anarchie hat, wie
noch zu sehen sein wird, weitreichende Konsequenzen für die
Theoriebildung.
(2) Das zweite Strukturmerkmal, dem Waltz Beachtung schenkt,
ist die Frage nach der funktionalen Differenzierung der Einheiten
bzw. dem character of the units. Eine funktionale Differenzierung
liegt dann vor, wenn es zwischen den Staaten eine ‚Arbeitsteilung‘
gibt, d.h. die einzelnen Staaten unterschiedliche Funktionen erfül-
len – analog der Arbeitsteilung in einer Gesellschaft. Bei der Be-
74 Niklas Schörnig
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eine zentrale Rolle. Für Waltz folgt aus der Annahme der Anar-
chie, dass Staaten keine funktionale Differenzierung, d.h. interna-
tionale Arbeitsteilung wagen werden. Anarchie zwingt jeden ein-
zelnen Staat, sich um seine zentrale Präferenz – den Erhalt der
Souveränität bzw. das eigene Überleben – zu kümmern und dabei
auf keine äußere Hilfe zu vertrauen. „The international imperative
is: ,take care of yourself‘“ (Waltz 1979: 107). Aus diesem Grund
wird das von Neorealisten beschriebene System auch als „Selbst-
hilfesystem“ (self-help system) bezeichnet.
(3) Das dritte Element, das die Struktur des internationalen Sys-
tems charakterisiert, ist die Machtrelation der einzelnen Staaten
zueinander (distribution of capabilities). Obwohl die Macht jedes
einzelnen Staates ein Attribut der jeweiligen Einheit ist, versteht
Waltz die Verteilung der Macht im internationalen System als Ei-
genschaft der Struktur des Systems (vgl. Waltz 1979: 80 und 98).
Es sind drei konkrete Machtverteilungen denkbar: So kann das
internationale System unipolar (es existiert ein besonders mächti-
ger Staat, der Hegemon), bipolar (es existieren zwei besonders
mächtige Staaten, wie z.B. während des Ost-West-Konfliktes)
oder multipolar (es existieren mehr als zwei besonders mächtige
Staaten) strukturiert sein.
Nach der Klärung der zentralen Annahmen, auf denen die neo-
realistische Theoriebildung fußt, werden im Folgenden die wich-
tigsten politischen Prozesse im internationalen System dargelegt,
die Kenneth Waltz aus diesen Annahmen ableitet.
mon für alle anderen Staaten eine klar greifbare Bedrohung dar, so
dass gemäß des Balancing-Imperativs Bündnisse als Gegenpole
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3 Für einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des realistischen Para-
digmas in den Internationalen Beziehungen und in der Internationalen Politi-
schen Ökonomie (International Political Economy) siehe Guzzini 1998.
80 Niklas Schörnig
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(1) Die Balancing-These von Waltz, nach der sich schwache Staaten
gegenüber starken Staaten zu einer Allianz zusammenschließen, war
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4 Für eine Antwort auf diese Kritik siehe etwa Masala 2005 und Eilstrup-San-
giovanni 2009.
Neorealismus 81
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gierung; vgl. Schweller 2006: 11f). Damit setzt auch er sich dem
Vorwurf aus, zentrale Elemente seiner Überlegungen auf die subsys-
temische Ebene zu verlagern (Legro/Morvcsik 1999: 30). Da sich
Schweller – im Gegensatz zu Walt – jedoch selbst eher in der Tradi-
tion des klassischen Realismus sieht („neoklassischer Realismus“),
trifft ihn der Vorwurf weniger stark.5
Schließlich hat die unipolare Machtverteilung des internationa-
len Systems seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu einer De-
batte geführt, ob balancing immer auf der Ebene militärischer
Machtmittel stattfinden muss oder ob auch andere Formen der Ge-
genmachtbildung möglich sind. So kommen einige Autoren in ei-
ner vor allem in der Zeitschrift International Security geführten
Auseinandersetzung6 zu dem Schluss, dass mögliche Herausforde-
rer der USA – allen voran die Volksrepublik China –, die mo-
mentan militärisch (noch) nicht in der Lage sind, Amerika direkt
zu konfrontieren, statt dessen systematisch auf „weiche“ Faktoren
setzten würden, um den Einfluss und die Machtausübung der USA
einzuschränken. Das so genannte „soft balancing“ setze vor allem
auf die Wirkung von „international institutions, economic state-
craft, and diplomatic arrangements“ (Pape 2005: 10), um aggressi-
ve unilaterale Handlungen der USA, wie z.B. den Golfkrieg 2003,
zu unterminieren oder zumindest einzuschränken. Kritiker stellen
allerdings die Erklärungskraft des Konzeptes in Frage und erkennen
weder eine systematische Nutzung weicher Machtmittel gegenüber
den USA noch eine relevante Einschränkung amerikanischer Hand-
lungsräume durch „soft balancing“ (vgl. Brooks/Wohlforth 2005:
75). Vielmehr sei es gerade die eigene „weiche Macht“, die den
USA zu besonders viel Einfluss in den internationalen Beziehungen
verhelfe (Nye 2004).
Die Debatte, inwieweit und in welcher Form balancing als empi-
risches Phänomen tatsächlich zu beobachten ist, hat – je nachdem ob
8 Dieses 1768 ursprünglich für die Landwirtschaft formulierte Gesetz besagt, dass
der Output eines Produktionsprozesses zunächst überproportional zum Einsatz
der Mittel steigt, ab einem bestimmten Produktionsniveau allerdings nur noch
unterproportional wächst und schließlich sogar ein Maximum erreicht. Gilpin
nennt Turgot allerdings nicht expressis verbis, sondern implizit durch den ge-
wählten Kurvenverlauf. Vgl. z.B. Abbildung 3 in Gilpin 1981:79.
86 Niklas Schörnig
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dung zum Machtausgleich annimmt. Sie verweisen auch auf die de-
stabilisierende Wirkung von Machtgleichgewichten und gehen da-
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4. Theorieexterne Kritik
Seit der Veröffentlichung von TIP im Jahr 1979 ist die Kritik am
Neorealismus durch Vertreter anderer Schulen praktisch nicht ver-
stummt – nicht zuletzt, da sich der Neorealismus zunehmend als
verzweigtes und uneinheitliches Theoriegebäude präsentiert. Dar-
über hinaus weist diese Theorie bei zentralen Entwicklungen auf
internationaler Ebene wie z.B. der zunehmenden Integration Euro-
pas10 oder dem Ende des Ost-West-Konfliktes eklatante Erklä-
rungsschwächen auf, da gerade dynamische Entwicklungen, deren
Ursachen auf der subsystemischen Ebene liegen, von der Theorie
schlecht bzw. nicht erfasst werden (vgl. z.B. Schweller/Wohlforth
2000; Waltz 2000). Wie bereits gezeigt wurde, greifen auch einige
erklärte (Neo)realisten (etwa Walt) diese Kritik auf. Allerdings
verstehen die meisten Neorealisten die Aufnahme subsystemischer
Faktoren als Zugeständnisse an die komplexe Realität, ohne den
Neorealismus und seine pessimistische Grundhaltung grundsätz-
lich in Frage zu stellen.
Der Blick soll im Folgenden auf zwei grundlegende Auseinan-
dersetzungen gelenkt werden: Zum einen die Debatte zwischen
Neorealisten und Neoinstitutionalisten in den 1980er Jahren (die
so genannte „Neo-Neo Debatte“),11 zum anderen die konstruktivis-
tische Kritik am neorealistischen Anarchieverständnis, die auf
Alexander Wendt zurückgeht. Diese beiden Auseinandersetzungen
schon bei Waltz zu finden, bis dahin aber meist übersehen worden
war: das der „relativen Gewinne“ („relative gains“; vgl. Waltz 1979:
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14 An dieser Stelle unterläuft allerdings sowohl Kenneth Waltz als auch Joseph
Grieco eine Ungenauigkeit bei der Beschreibung der Problematik relativer Ge-
winne. So argumentieren sie, relative Gewinne würden durch eine Gleichver-
teilung des Kooperationsgewinns vermieden. Diese Aussage gilt allerdings nur
für den Spezialfall einer identischen Ausgangsbasis. Gesetzt, zwei Akteure A
und B verfügen vor einer Kooperation über 100 bzw. 50 Machteinheiten. Ge-
winnen beide nun durch die Kooperation jeweils 50 Einheiten hinzu verschiebt
sich das Machtverhältnis von 100:50 auf 150:100, bzw. von 2:1 auf 3:2. Akteur
A hat relativ an Macht eingebüßt, obwohl die Kooperationsgewinne absolut
gleich verteilt waren. Vgl. hierzu z.B. Schweller 1996: 109ff.
Neorealismus 91
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aber von Anfang an egoistisch und setzen in der Folge immer wieder
auf militärische Stärke zur Sicherung des Überlebens, wie es die rea-
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Interdependenz
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Manuela Spindler
1. Einleitung
Die weltweite Finanz- und Staatsschuldenkrise macht schmerzhaft
deutlich, was im Grunde genommen einem jeden von uns bewusst
ist: Wir leben in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten, in der
Ereignisse oder Entscheidungen in einem Staat nicht ohne Folgen
für Politik oder Ökonomie anderer Staaten bleiben. Es sind jedoch in
der Regel die Krisen, welche das Ausmaß der globalen Abhängig-
keiten besonders sichtbar und oft auch für den einzelnen spürbar
machen: Schrumpfungsprozesse der Wirtschaft bedrohen das er-
reichte Niveau materiellen Wohlstands, die Arbeitslosigkeit steigt
weltweit. Was als „US-Immobilienkrise“ im Jahre 2007 begann, hat
– von den USA ausgehend – in einem kaum vorstellbaren Ausmaß
das globale Finanz- und Kapitalsystem erschüttert und in der Folge
weltweit Volkswirtschaften und selbst Staaten destabilisiert. In noch
guter Erinnerung ist die asiatische Finanz-, Währungs- und Wirt-
schaftskrise („Asienkrise“) von 1997/1998, die ihren Ursprung in
Thailand hatte. Von Contagion – ‚Ansteckung‘ – war die Rede, als
sich die Krise flächenbrandartig nicht nur in Ost- und Südostasien
ausbreitete, sondern ihre Auswirkungen auch in den europäischen,
nordamerikanischen und lateinamerikanischen Ökonomien spürbar
wurden. Gleiches gilt für den bis in die Mitte der 2000er Jahre nicht
nur in Südamerika spürbaren „Ansteckungseffekt“ der Argentinien-
Krise. Die Auswirkungen und Gefahren des Klimawandels sowie
globale Sicherheitsbedrohungen sind weitere Beispiele für eine Rea-
lität wechselseitiger Abhängigkeiten in einer zunehmend verflochte-
nen und vernetzten Welt.
Die beschriebene Art von Wirkungszusammenhängen wird in
internationaler Politik und Wirtschaft in der Regel mit dem Begriff
der Interdependenz gefasst. Dabei ist das Phänomen dessen, was als
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Interdependenz
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Manuela Spindler
1. Einleitung
Die weltweite Finanz- und Staatsschuldenkrise macht schmerzhaft
deutlich, was im Grunde genommen einem jeden von uns bewusst
ist: Wir leben in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten, in der
Ereignisse oder Entscheidungen in einem Staat nicht ohne Folgen
für Politik oder Ökonomie anderer Staaten bleiben. Es sind jedoch in
der Regel die Krisen, welche das Ausmaß der globalen Abhängig-
keiten besonders sichtbar und oft auch für den einzelnen spürbar
machen: Schrumpfungsprozesse der Wirtschaft bedrohen das er-
reichte Niveau materiellen Wohlstands, die Arbeitslosigkeit steigt
weltweit. Was als „US-Immobilienkrise“ im Jahre 2007 begann, hat
– von den USA ausgehend – in einem kaum vorstellbaren Ausmaß
das globale Finanz- und Kapitalsystem erschüttert und in der Folge
weltweit Volkswirtschaften und selbst Staaten destabilisiert. In noch
guter Erinnerung ist die asiatische Finanz-, Währungs- und Wirt-
schaftskrise („Asienkrise“) von 1997/1998, die ihren Ursprung in
Thailand hatte. Von Contagion – ‚Ansteckung‘ – war die Rede, als
sich die Krise flächenbrandartig nicht nur in Ost- und Südostasien
ausbreitete, sondern ihre Auswirkungen auch in den europäischen,
nordamerikanischen und lateinamerikanischen Ökonomien spürbar
wurden. Gleiches gilt für den bis in die Mitte der 2000er Jahre nicht
nur in Südamerika spürbaren „Ansteckungseffekt“ der Argentinien-
Krise. Die Auswirkungen und Gefahren des Klimawandels sowie
globale Sicherheitsbedrohungen sind weitere Beispiele für eine Rea-
lität wechselseitiger Abhängigkeiten in einer zunehmend verflochte-
nen und vernetzten Welt.
Die beschriebene Art von Wirkungszusammenhängen wird in
internationaler Politik und Wirtschaft in der Regel mit dem Begriff
der Interdependenz gefasst. Dabei ist das Phänomen dessen, was als
98 Manuela Spindler
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krise von 1973 (eine zweite folgte 1979) war das im Zusammenhang
mit dem arabisch-israelischen Krieg (Oktoberkrieg) von der OPEC
gegen die USA und andere Industrieländer wegen ihrer Unterstüt-
zung Israels verhängte Ölembargo sowie die drastische Erhöhung
der Ölpreise, in deren Folge die westlichen Industriestaaten in einen
Stagflationsprozess gerieten und es im Kampf gegen Rezession und
Inflation untereinander zu Konflikten über die ‚richtige Wirtschafts-
politik‘ kam. Die mit umfangreichen Kompetenzen ausgestatteten
Wohlfahrtsstaaten des Westens benutzten bis dahin z.T. sehr unter-
schiedliche wirtschaftspolitische Instrumente, um das Ziel allgemei-
nen Wirtschaftswachstums zu erreichen. Individuelle – und damit
wenig vorhersehbare – nationalstaatliche Reaktionen auf die Krisen-
erscheinungen – und damit Konflikte – waren die Folge.2 Die Kon-
flikte der 1970er Jahre sind insgesamt vor dem Hintergrund des
Niedergangs der amerikanischen Hegemonie durch den Vietnam-
Krieg und das wirtschaftliche Wiedererstarken Europas und Japans
zu sehen. Verstärkt wurden die Spannungen durch politische Krisen
in den wichtigsten westlichen Industrienationen, die die Glaubwür-
digkeit und Handlungsfähigkeit der Regierungen einschränkten.3
Ende 1974 waren in allen vier führenden westlichen Industriestaaten
(USA, Japan, Bundesrepublik Deutschland und Frankreich) neue
Staats- bzw. Regierungschefs im Amt, die den Krisenerscheinungen
mit Bemühungen um einen weltwirtschaftlichen Koordinationspro-
zess entgegenzutreten versuchten. So wurden 1975 beispielsweise
4 Mittlerweile wird nicht mehr nur in der G8, sondern im Rahmen der G20 um ei-
ne weltwirtschaftliche Koordination der Krisenmaßnahmen gerungen.
102 Manuela Spindler
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Ein Blick in die Debatte der 1970er Jahre zeigt, dass sich die Ant-
worten auf die Frage, ob Ausmaß und Intensität der internationalen
Verflechtung der Gegenwart diejenige vergangener Epochen über-
schreitet oder nicht, stark widersprechen (vgl. hier Deutsch/Eckstein
1961; Deutsch et al. 1967; Waltz 1970; Katzenstein 1975). So wei-
sen zum Beispiel Verfechter der These einer abnehmenden Interde-
pendenz wie Deutsch darauf hin, dass der Anteil des Außenhandels
am Bruttosozialprodukt in einer späteren Phase der industriellen Ent-
wicklung eines Landes sinkt. Ein Höhepunkt wird 1913 ausgemacht,
seitdem nehme Interdependenz mit zunehmender Industrialisierung
6 Für einen Einstieg in die Debatte zu Interdependenz in den 1970er und 1980er Jah-
ren wird ein Blick in die (entsprechend den genannten Ebenen fokussierten) Zeit-
schriften Foreign Policy und Foreign Affairs sowie International Organization und
World Politics – den Hauptaustragungsorten der Debatte – empfohlen.
104 Manuela Spindler
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ringerte sich seitdem (Rosecrance et al. 1977: 442). Für Autoren wie
Morse (1972), Cooper (1968) und Keohane/Nye dagegen wächst In-
terdependenz kontinuierlich seit 1945. Wie lassen sich diese unter-
schiedlichen, hier nur exemplarisch aufgeführten Einschätzungen
erklären?
Dies ist zum einen grundsätzlich eine Frage der Methoden zur
Erfassung von Interdependenz, die stark umstritten waren. Bei-
spiele für Methoden sind u.a. das „export percentage model“, mit
dem der prozentuale Anteil der Exporte von Land A zu Land B am
Gesamtimport von Land B gemessen wird oder das „chooser-chosen
GNP model“, mit dem das Verhältnis der internationalen Transak-
tionen eines Landes zu seinem Bruttosozialprodukt erfasst wird.
Diese Art der Erfassung reflektiert die stark an quantitativen Me-
thoden ausgerichtete Forschung der 1950er und 1960er Jahre.
Häufig wurden Korrelationen – also das gleichzeitige Auftreten
und Verändern der Werte von Variablen – als Indikatoren für zu-
grundeliegende Beziehungsmuster von Interdependenz gewertet:
wenn also beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Änderun-
gen in den Handelsströmen und der Veränderung in zwei Typen
von ökonomischen Variablen – Preisen und Löhnen – festgestellt
wird. Hohe Werte der Korrelation wurden dabei als ein Signal für
ein hohes Maß an Interdependenz, niedrige für nur geringe Inter-
dependenz gesehen – mit dem Ergebnis, dass Interdependenz als
Korrelation zwischen Variablen im 20. Jahrhundert stark schwank-
te (zu den unterschiedlichen Methoden der Messung von Interde-
pendenz vgl. Tollison/Willett 1973; Tetrault 1980, 1981; Rosecran-
ce/Gutowitz 1981).7
7 Einwände gegen solche Methoden beziehen sich darauf, dass die Daten meist
auf der Basis von einzelnen Staaten oder Staaten in bilateralen Beziehungen
gewonnen werden (vgl. Tetrault 1980, 1981; zur Kritik an der Messung dyadi-
scher Effekte von Interdependenz aktuell Maoz 2009: 224; Gelpi/Grieco 2008:
18) oder dass qualitative Veränderungen internationaler Transaktionen (z.B. der
‚Austausch‘ von Handelsströmen als wichtigster Typus internationaler Aus-
tauschbeziehungen durch internationale Kapitalströme) nicht erfasst werden
(gemessen würde in diesem Fall lediglich ein Rückgang der Handelsströme).
Vgl. Morse 1969: 318.
Interdependenz 105
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Es hätte nicht so viele Irritationen bei der Rezeption von PaI gege-
ben, würden Keohane/Nye nicht im Grunde genommen einen dop-
pelten Interdependenz-Begriff verwenden: Der Begriff der Interde-
pendenz, wie hier unter Abschnitt 2.2 eingeführt, ist nicht identisch
mit „komplexer Interdependenz“ (vgl. im Rückblick dazu auch Keo-
hane/Nye 1987: 730). Komplexe Interdependenz wird in PaI von
den Autoren als ein dem Realismus entgegengesetzter „Idealtypus“
des internationalen Systems konstruiert, indem sie die Grundannah-
men des Realismus einfach ‚umkehren‘. Die Konstruktion dieses
Idealtypus ist damit grundsätzlich als Teil der von den Autoren mit
PaI beabsichtigten Kritik am realistischen Erklärungsmodell zu ver-
stehen, deren Kernargumente im Folgenden entwickelt werden sol-
len.
Nach Keohane/Nye basieren realistische Erklärungsmuster der
internationalen Politik im wesentlichen auf drei Grundannahmen
(Keohane/Nye 1977: 23-24): (1) Staaten werden als in sich geschlos-
sene Einheiten und einzig wichtige, dominierende Akteure in der
Weltpolitik begriffen. (2) Macht ist das wirksamste Mittel der Po-
litik; die Ausübung oder Androhung von Gewalt ist das effektivste
Mittel der Machtausübung. (3) Es gibt eine klare Hierarchie der
Ziele internationaler Politik: Fragen militärischer Sicherheit („high
politics“) dominieren über Ziele im Bereich der Wirtschaft oder
soziale Angelegenheiten („low politics“).
In der ‚Umkehrung‘ dieser drei Grundannahmen liegt für Keoha-
ne/Nye nun der Idealtypus der komplexen Interdependenz (1977:
24-37):
(1) Staaten sind keine in sich geschlossenen Einheiten und nicht
alleinige Akteure in der Weltpolitik. Neben den klassischen zwi-
schenstaatlichen Beziehungen spielen transnationale Beziehungen
eine wichtige Rolle, d.h. neben den Staaten existieren weitere ein-
108 Manuela Spindler
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Für die Untersuchung von Keohane und Nye in PaI ist die Frage
zentral, wie unter den Bedingungen von Interdependenz durch
Staaten Macht ausgeübt werden kann (daher auch der Titel: Power
and Interdependence). Interdependenz – die sich komplexer Inter-
dependenz mehr oder weniger annähert – wird als intervenierende
Variable eingeführt: Sie ‚wirkt‘ zwischen Macht als der unabhän-
gigen und den Ergebnissen des politischen Prozesses als der ab-
hängigen Variablen. Als ‚condition‘ verändert sie damit Kontext
und Struktur internationaler Verhandlungen. Das Problem für die
Politik ergibt sich daraus, dass Interdependenz immer ‚kostspielig’
ist: Sie beschränkt die politische Handlungsautonomie von Staa-
ten, die z.B. in der Geld- und Währungspolitik, Steuerpolitik, Unter-
nehmensregulierung oder bei der Umsetzung redistributiver Pro-
gramme nicht mehr autonom agieren können und erfordert damit
eine Anpassungsleistung an die veränderten Bedingungen.9 Das
heißt, Interdependenz generiert aufgrund des Kosteneffektes ein
klassisches Problem politischer Strategie. Mit ihr einher gehen
Versuche, die Anpassungskosten zu umgehen oder abzuwälzen.
Das Interesse des einzelnen Staates besteht also in der Verteilung
der aus internationalen Austauschbeziehungen resultierenden Kos-
ten und Nutzen jeweils zu seinen Gunsten. PaI basiert grundsätz-
lich auf der Annahme rationaler, aufgrund von egoistischem Eigen-
interesse und Kosten-Nutzen-Kalkülen handelnder Akteure, die in
Folge von Interdependenz unter nunmehr veränderten Bedingun-
gen agieren müssen, denn Interdependenz legt der Realisierung ih-
res jeweils egoistischen Eigeninteresses Beschränkungen auf. PaI
wiesen, dass es noch eine weitere Möglichkeit gibt, die eigene In-
terdependenz-Verwundbarkeit zu reduzieren: „Reducing one’s
vulnerability to external events can be part of a neoisolationist
strategy; but it can also be one element in a strategy of policy
coordination and international leadership“ (Keohane/Nye 1977:
239; Hervorhebung, M.S.). Keohane/Nye unterscheiden grund-
sätzlich drei „Typen“ von „international leadership“ – Hegemonie,
Unilateralismus und Multilateralismus – und sprechen sich ange-
sichts des Verlustes amerikanischer Hegemonie und der Unwirk-
samkeit von Unilateralismus unter Interdependenzbedingungen für
Multilateralismus als wissenschaftliche Empfehlung für eine Poli-
tik der Interdependenz aus: „[multilateralism] is based on action to
induce other states to help stabilize an international regime“ (1977:
231).
Empfohlen wird also eine aktive und führende Rolle der USA
im Bemühen um internationale Politikkoordination, basierend auf
der Überzeugung, dass internationale Kooperation und deren ‚Ver-
stetigung‘ durch die Bildung und Stabilisierung internationaler
Organisationen und Regime eine geeignete Strategie sind, die aus
Interdependenz resultierenden Konflikte einer für alle Seiten ge-
winnbringenden kooperativen Bearbeitung zuzuführen (vgl. dazu
auch Spindler 2008). Dieser Gedanke wurde v.a. von Keohane in
den 1980er Jahren in Form der Regimetheorie sukzessive weiter-
entwickelt, welche in einem eigenständigen Beitrag in diesem
Band dargestellt wird (vgl. den Beitrag von Bernhard Zangl). Der
Grundgedanke soll aus systematischen Gründen jedoch im Fol-
genden kurz umrissen werden.
auf der Basis eher idealistischer Vorstellungen von einer durch In-
terdependenz getriebenen Transformation des internationalen Sys-
tems ausgehen oder diese für wünschenswert erachten (vgl. dazu
die in der Einleitung bereits erwähnten Klassiker Angell 1910;
Muir 1933; auch Morse 1976). In der von Keohane/Nye entwi-
ckelten Konzeptualisierung hatte die Interdependenzanalyse weit-
reichende Implikationen für die Theorieentwicklung in den Inter-
nationalen Beziehungen, waren in ihr doch bereits diejenigen theo-
retischen ‚Pfade‘ angelegt, die zu der äußerst einflussreichen Re-
gimetheorie und zum Neoliberalen Institutionalismus führten (vgl.
dazu den Beitrag von Bernhard Zangl in diesem Band). Diese Wei-
terentwicklungen sowie einige weitere theoretische Ausdifferen-
zierungen verdienen daher im Folgenden besondere Beachtung.
Es sind in erster Linie die Überlegungen zu den Möglichkeiten
der Machtausübung in interdependenten Beziehungszusammen-
hängen, d.h. die Problematik der aus asymmetrischer Interdepen-
denz erwachsenden Handlungs- und Steuerungspotenziale sowie
die Überlegungen zu internationalen Regimen , die bereits in PaI
am umfassendsten entwickelt waren und welche durch die nach-
folgende Regimetheorie eine weitere Ausdifferenzierung erfuhren.
Interdependenz verändert Struktur und Kontext zwischenstaatli-
cher Interaktion und eine Analyse von Interdependenz benötigt ein
Konzept internationaler Verhandlungen. Die beiden zentralen
Punkte – dass internationale Agenden manipuliert werden können
und dass internationale Organisationen die Effekte von Interde-
pendenz modifizieren und regulieren können – waren prädestiniert
für eine Verknüpfung des Konzeptes mit Theorien internationaler
Verhandlungen und Kooperation bzw. für die Entwicklung der
spieltheoretischen Variante der Regimetheorie – insbesondere auch
für Arbeiten zu issue linkage – also der Verknüpfung von Problem-
feldern (vgl. hier u.a. Stein 1980; Haas 1980; Sebenius 1984; Oye
1986) sowie für Studien über die zunehmende Bedeutung kollek-
tiver Güter (u.a. Benjamin 1980; Ostrom 1990). Keohane/Nye ha-
ben mit ihren regimetheoretischen ‚Vorarbeiten‘ durch PaI in den
1970er Jahren grundsätzlich zu einer Renaissance des Studiums
internationaler Institutionen beigetragen und damit den Neolibe-
ralen Institutionalismus in den IB mitbegründet (vgl. den Beitrag
Interdependenz 115
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terms of the goals and instruments of state policy, any general argu-
ments about how goals and instruments are affected by the degree to
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marginal der Fall. Für Waltz existiert damit keine politisch bedeut-
same Interdependenz, sondern eine ungleiche Verteilung von Un-
abhängigkeit („independence“) und Abhängigkeit („dependence“)
in den internationalen Beziehungen (Waltz 1970: 214). Als „My-
thos“ verschleiert „Interdependenz“ für ihn die Machtverhältnisse
im internationalen System.
Eine ganze Reihe von Kritikpunkten lässt sich als Fehlen einer
„Theorie der Interdependenz“ zusammenfassen (Kohler-Koch
1990: 119; Zürn 2002: 235):
Wie entsteht eigentlich Interdependenz? Es mag überraschen,
dass diese Frage erst im Kritikteil aufgeworfen wird, jedoch ver-
mögen Keohane/Nye genau auf diese Frage keine Antwort zu ge-
ben. Die Frage nach den Triebkräften und zugrundeliegenden Ur-
sachen von Interdependenz (wie auch von Globalisierung) ist
grundsätzlich eng verknüpft mit der breiteren Debatte über die
Moderne. Hier findet sich häufig ein diffuser Verweis auf unper-
sönliche „Kräfte der Modernisierung“. In dieser Perspektive wird
Interdependenz zum Ergebnis eines von Technologie, Ökonomie
und Kommunikationsmitteln vorangetriebenen Prozesses (vgl.
auch Morse 1970). Damit kontrastieren Sichtweisen, die das ziel-
und zweckgerichtete Handeln menschlicher Akteure (also nicht un-
persönliche ‚Kräfte‘ und ‚Prozesse‘) und damit politische Ent-
scheidungen und die dahinter stehenden Interessen von politischen
und wirtschaftlichen Akteuren als Quellen sich intensivierender
Interdependenz ausmachen.
In der von Keohane/Nye gewählten Perspektive werden wech-
selseitige Abhängigkeiten als ein ‚gegebener Zustand‘ betrachtet,
der in nicht näher erklärter Form durch „Modernisierungskräfte“
herbeigeführt wurde (Keohane/Nye 1977: 227-28). Hier gilt es le-
diglich zu klären, wie unter diesen Bedingungen politische Steue-
rungspotenziale bewahrt oder neue Formen politischer Steuerung
gefunden werden können. In einer ahistorischen Betrachtungswei-
se setzt das von Keohane/Nye entwickelte Konzept der Interde-
pendenz in den 1970er Jahren überhaupt erst an (vgl. auch de Wil-
de 1991). Das Nachdenken über die Ursachen und Triebkräfte von
Interdependenz wird also nicht zum Bestandteil der theoretischen
Überlegungen von Keohane/Nye und macht ihre Arbeit in der
122 Manuela Spindler
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Susan Strange weist für den Bereich der Finanz- und Kapital-
märkte darauf hin, dass technologische Entwicklungen – wie die
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13 Das Versagen des Staates bei der Regulation der Finanzmärkte gehört zu den
zentralen Ursachenkomplexen, die im Zusammenhang mit der gegenwärtigen
weltweiten Finanzkrise diskutiert werden.
124 Manuela Spindler
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Staat) ist ein Staat, der dem freien Spiel der Marktkräfte zuneh-
mend Raum gibt und damit Interdependenz ‚schafft‘. Ähnliches
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128 Manuela Spindler
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Interdependenz 129
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Regimetheorie
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Bernhard Zangl
1. Einleitung
Die Regimetheorie entstand in den späten 1970er und frühen
1980er Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit dem zu die-
sem Zeitpunkt in den Internationalen Beziehungen dominierenden
Neorealismus. Als ein Ansatz, der Institutionen in den internatio-
nalen Beziehungen eine besondere Rolle beimisst, ist die Regime-
theorie dem so genannten Neoinstitutionalismus zuzuordnen und
muss von den Theorieschulen sowohl des Neorealismus als auch
des Liberalismus abgegrenzt werden. So nimmt sie – wie der Neo-
realismus – zwar an, dass erstens Staaten die wichtigsten Akteure
in der internationalen Politik sind, die zweitens im Rahmen anar-
chischer Strukturen agieren und drittens durch ihr Handeln ihre ei-
gennützig definierten Interessen rational verfolgen. Allerdings
kommt die Regimetheorie zu vom Neorealismus deutlich abwei-
chenden, eher den Liberalismus stützenden Schlussfolgerungen
(Grieco 1988):
(1) Der Neorealismus folgert in der so genannten Theorie der
hegemonialen Stabilität aus den genannten Prämissen, dass dauer-
hafte internationale Kooperation nur dann möglich ist, wenn eine
hegemoniale Macht bereit ist, diese gegenüber anderen Staaten
durchzusetzen. Demgegenüber betont die Regimetheorie, dass in-
ternationale Kooperation jenseits hegemonialer Machtstrukturen
zumindest auch dann möglich ist, wenn Kooperation angesichts
zunehmend komplexer Interdependenzbeziehungen über Staats-
grenzen hinweg im gemeinsamen Interesse aller beteiligten Staa-
ten liegt.
(2) Der Neorealismus schließt aus den Prämissen zudem, dass
internationale Institutionen allenfalls als Instrument hegemonialer
Mächte dienen. Über die Theorie hegemonialer Stabilität hinaus
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Regimetheorie
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Bernhard Zangl
1. Einleitung
Die Regimetheorie entstand in den späten 1970er und frühen
1980er Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit dem zu die-
sem Zeitpunkt in den Internationalen Beziehungen dominierenden
Neorealismus. Als ein Ansatz, der Institutionen in den internatio-
nalen Beziehungen eine besondere Rolle beimisst, ist die Regime-
theorie dem so genannten Neoinstitutionalismus zuzuordnen und
muss von den Theorieschulen sowohl des Neorealismus als auch
des Liberalismus abgegrenzt werden. So nimmt sie – wie der Neo-
realismus – zwar an, dass erstens Staaten die wichtigsten Akteure
in der internationalen Politik sind, die zweitens im Rahmen anar-
chischer Strukturen agieren und drittens durch ihr Handeln ihre ei-
gennützig definierten Interessen rational verfolgen. Allerdings
kommt die Regimetheorie zu vom Neorealismus deutlich abwei-
chenden, eher den Liberalismus stützenden Schlussfolgerungen
(Grieco 1988):
(1) Der Neorealismus folgert in der so genannten Theorie der
hegemonialen Stabilität aus den genannten Prämissen, dass dauer-
hafte internationale Kooperation nur dann möglich ist, wenn eine
hegemoniale Macht bereit ist, diese gegenüber anderen Staaten
durchzusetzen. Demgegenüber betont die Regimetheorie, dass in-
ternationale Kooperation jenseits hegemonialer Machtstrukturen
zumindest auch dann möglich ist, wenn Kooperation angesichts
zunehmend komplexer Interdependenzbeziehungen über Staats-
grenzen hinweg im gemeinsamen Interesse aller beteiligten Staa-
ten liegt.
(2) Der Neorealismus schließt aus den Prämissen zudem, dass
internationale Institutionen allenfalls als Instrument hegemonialer
Mächte dienen. Über die Theorie hegemonialer Stabilität hinaus
132 Bernhard Zangl
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halb bedeutsam sind, weil sie Staaten helfen können, die aus kom-
plexen Interdependenzbeziehungen resultierenden Kooperations-
probleme im gemeinsamen Interesse zu lösen.
Die Regimetheorie fußt allerdings nicht nur auf der wissen-
schaftlichen Debatte darüber, welche Schlussfolgerungen über die
Chancen internationaler Kooperation aus den von Neorealisten
und Neoinstitutionalisten gleichermaßen vertretenen Prämissen
über internationale Politik zu ziehen sind. Vielmehr geht die Regi-
metheorie auch auf die eher empirische Debatte über den Macht-
verfall der USA seit den 1970er Jahren zurück. Dieser ließ zu-
mindest nach der Theorie des Neorealismus erwarten, dass beste-
hende internationale Institutionen wie das GATT und der IWF in
den 1970er und 1980er Jahren wirkungslos werden und die ent-
sprechende Kooperation in den internationalen Handels- und Wäh-
rungsbeziehungen nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Tat-
sächlich schien die Kooperation in diesen Institutionen auch nach-
zulassen: Das GATT, das ab 1947 zu einer schrittweisen Liberali-
sierung der Handelsbeziehungen beigetragen hatte, sah sich einem
neuen Protektionismus ausgesetzt und der IWF musste die 1944
vereinbarten fixen Wechselkurse aufgeben um zu flexiblen Wech-
selkursen überzugehen.
Doch trotz dieser Turbulenzen blieben die genannten Institutio-
nen in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur weiter bestehen,
sondern es gelang ihnen auch, grundlegende Kooperationsbezie-
hungen zu erhalten. Im Handelsbereich kam es nicht zu dem er-
warteten Protektionswettlauf und im Finanzbereich blieb die freie
Konvertibilität der Währungen bestehen (Keohane 1984). Somit
konnte trotz des Machtverlusts der USA eine weitgehend liberale
Weltwirtschaftsordnung aufrecht erhalten werden, in der die wirt-
schaftlichen Verflechtungen sogar weiter zunahmen. Darüber hin-
aus wurde in den 1970er und 1980er Jahren eine Vielzahl neuer
internationaler Institutionen gegründet. So entwickelten sich im
Ost-West-Kontext internationale Institutionen wie die Konferenz
über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), der
Atomwaffensperrvertrag (NPT) und verschiedene andere Rüs-
tungskontrollregime (SALT, ABM, IMF), in denen Kooperations-
beziehungen entstanden, obwohl hier weder die USA noch die
Regimetheorie 133
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2 Siehe auch Keohane 1983 und 1989 sowie Axelrod/Keohane 1986. Für einen
ausgezeichneten Überblick über Keohanes Theorie siehe Hasenclever/Mayer/
Rittberger 1997: 27-44.
Regimetheorie 135
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3 Das Gefangenendilemma wird als solches bezeichnet, weil zur Illustration die-
ser Interessenkonstellation ursprünglich auf die Geschichte von zwei Gefange-
nen zurückgegriffen wurde. Beide haben gemeinsam einen Mord begangen, der
ihnen aber nicht nachgewiesen werden kann. Deshalb bietet die Staatsanwalt-
schaft jedem der Gefangenen die Kronzeugenregelung an. Dadurch steht jeder
von ihnen vor der schwierigen Entscheidung, ob er durch ein Geständnis seinen
Komplizen verraten soll, um selbst freizukommen oder ob er in der Hoffnung
leugnen soll, dass auch sein Komplize leugnen wird. Das gemeinsame Leugnen
ist zwar für beide gemeinsam vorteilhaft, da aber für jeden einzeln ein Anreiz
besteht, trotzdem ein Geständnis abzulegen, um so sofort freizukommen und
zugleich jeder allein Angst haben muss, dass ihn der andere durch ein Geständ-
nis verrät, besteht die Gefahr, dass beide gestehen und sich damit wechselseitig
schädigen.
136 Bernhard Zangl
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2.2 Regimewirkung
unberührt lassen.
Keohane begnügt sich in seiner Regimetheorie freilich nicht da-
mit, die Wirkung internationaler Regime zu konstatieren, sondern
er benennt mehrere Wirkungspfade, mittels derer sie zu internatio-
naler Kooperation beitragen. Danach werden durch internationale
Regime insbesondere die mit internationaler Kooperation verbun-
denen Transaktionskosten reduziert, d.h. die Kosten, die mit den
Verhandlungen über spezifische Kooperationsvereinbarungen, der
Kontrolle der Kooperationstreue sowie der Durchsetzung der Ko-
operationsvereinbarungen verbunden sind. Hier sollen vier dieser
Wirkungspfade, auf denen Transaktionskosten durch Regime re-
duziert werden, kurz skizziert werden (Keohane 1984: 89-109):
(1) Internationale Regime senken die Transaktionskosten, in-
dem sie beispielsweise einen Verhandlungsrahmen anbieten, in dem
Staaten schon allein deshalb spezifische Kooperationsvereinbarun-
gen einfacher erzielen können, weil die Verfahren für die Ver-
handlungen genauso feststehen wie die Verhandlungspartner und
die grundlegenden Verhandlungsziele (Keohane 1984: 89-90). Die
Staaten müssen sich also bei Verhandlungen innerhalb eines inter-
nationalen Regimes nicht vorher in zeitraubenden Vorverhandlun-
gen darauf verständigen, welche Verhandlungsziele mit welchen
Verhandlungspartnern mittels welcher Verfahren erreicht werden
sollen. Durch das Regime ist dies zumeist bereits festgelegt. So ist
durch das internationale Handelsregime des GATT bzw. der WTO
nicht nur bestimmt, wer mit wem wie verhandelt, sondern es wird
insbesondere auch festgelegt, worüber verhandelt wird – nämlich
die Liberalisierung des internationalen Handels. Die Verhandlun-
gen sind dadurch bereits so weit vorstrukturiert, dass im Ver-
handlungsprozess Vereinbarungen etwa über neue Zolltarife er-
heblich einfacher erzielt werden können.
(2) Indem internationale Regime Transaktionskosten senken,
verbessern sie allerdings nicht nur die Chancen, dass internatio-
nale Kooperationsvereinbarungen ausgehandelt werden können,
sondern insbesondere auch die Chancen, dass diese Kooperations-
vereinbarungen auch eingehalten werden. Da internationale Regi-
me die Transaktionskosten senken, können sie dazu beitragen,
dass bestehende Unsicherheiten über die Kooperationstreue ande-
140 Bernhard Zangl
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(4) Hinzu kommt, dass internationale Regime die mit der Durch-
setzung von Kooperationsvereinbarungen verbundenen Transak-
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2.3 Regimebildung
gen konnten. Da die USA dazu auch bereit waren, verschob sich
die Kosten-Nutzen-Relation für die übrigen Staaten, so dass die
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auszuscheren und demzufolge ist auch die Angst gering, dass die
Kooperationspartner ‚schummeln‘. Doch hier wird die Regimebil-
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4. Kritik
Die Regimetheorie, nicht nur von Keohane, sondern auch in ihren
vielschichtigen Erweiterungen und Ergänzungen, hat aus zwei
ganz unterschiedlichen Lagern Kritik auf sich gezogen: Zum einen
sah sie sich seit den späten 1980er Jahren zunehmend der Kritik
aus dem neorealistischen Lager ausgesetzt und zum anderen muss-
te sie seit den frühen 1990er Jahren vermehrt Kritik aus dem sich
formierenden sozialkonstruktivistischen Lager einstecken.
Die neorealistische Kritik wurde von Grieco (1988, 1990) beson-
ders pointiert vorgetragen (auch Mearsheimer 1994/95). Grieco be-
hauptet, die Regimetheorie habe nicht überzeugend gezeigt, dass
man auf der Grundlage realistischer bzw. neorealistischer Prämissen
über internationale Politik funktionalistische bzw. institutionalisti-
sche Aussagen über internationale Kooperation stützen kann. Die
Regimetheorie habe insbesondere die Bedeutung der anarchischen
Strukturen in der internationalen Politik verkannt. Grieco argumen-
tiert, dass aus den anarchischen Strukturen in der internationalen
Politik zwei zentrale Kooperationshindernisse erwachsen, von denen
die Regimetheorie zwar das eine, nicht aber das andere hinreichend
beachte. Für die Regimetheorie bestehe in anarchischen Strukturen
das zentrale Kooperationsproblem darin, dass Kooperationsverein-
barungen nicht zentral durchgesetzt werden können, so dass ein
Vertrauensproblem entsteht. Doch die Regimetheorie übersehe, dass
in anarchischen Strukturen das Verteilungsproblem ein erheblich
weiterreichenderes Kooperationshindernis darstellt (so auch Krasner
1991). Die Regimetheorie unterschätze das Verteilungsproblem,
weil sie davon ausgehe, dass Staaten in den anarchischen Strukturen
der internationalen Politik als Egoisten handeln, d.h. versuchen, un-
Regimetheorie 149
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9 Für die entsprechende Debatte vgl. u.a. Powell 1991, Snidal 1993, Baldwin
1993 sowie Keohane/Martin 1995. Für eine etwas anders gelagerte neorealisti-
sche Kritik an der Regimetheorie siehe Krasner 1991 und 1993. Er bemängelt,
dass die Regimetheorie die Machtverhältnisse in der internationalen Politik un-
terbelichtet.
10 Für die sozialkonstruktivistische Kritik vgl. u.a. Hurrell 1993, Müller 1994,
Wendt 1992 und 1999, Risse 2000.
150 Bernhard Zangl
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Literaturverzeichnis
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Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Wendt, Alexander 1992: Anarchy is What States Make of It. The Social Con-
struction of Power Politics, in: International Organization 46: 2, 391-425.
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Neofunktionalismus
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Thomas Conzelmann
1. Einleitung
(Neo-)Funktionalistische Ansätze sind innerhalb der Disziplin der
Internationalen Beziehungen den Großtheorien des Liberalismus
bzw. des Idealismus zuzuordnen. Liberal sind der Funktionalismus
und seine neo-funktionalistische Fortentwicklung, weil sie als
wichtigste Triebkraft der Politik und zugleich als normatives Leit-
bild die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Interes-
sen ausmachen. Der idealistische Aspekt liegt darin, dass die ein-
schlägigen Autoren von der Überwindbarkeit aggressiv-egoisti-
scher Verhaltensweisen in der Staatenwelt ausgehen und die Suche
nach Wegen zu einer friedlichen Welt zu ihrem zentralen Anliegen
machen.1
Der zeithistorische Hintergrund funktionalistischer und neo-
funktionalistischer Ansätze ist die Erfahrung zweier Weltkriege
und das Scheitern des Völkerbunds in der Zwischenkriegszeit.2 Aus
diesen Erfahrungen zogen funktionalistische Autoren die Lehre,
dass friedenssichernde internationale Kooperation nicht ‚von oben‘
durch einen politischen Entschluss der Staaten herbeigeführt wer-
Neofunktionalismus
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Thomas Conzelmann
1. Einleitung
(Neo-)Funktionalistische Ansätze sind innerhalb der Disziplin der
Internationalen Beziehungen den Großtheorien des Liberalismus
bzw. des Idealismus zuzuordnen. Liberal sind der Funktionalismus
und seine neo-funktionalistische Fortentwicklung, weil sie als
wichtigste Triebkraft der Politik und zugleich als normatives Leit-
bild die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Interes-
sen ausmachen. Der idealistische Aspekt liegt darin, dass die ein-
schlägigen Autoren von der Überwindbarkeit aggressiv-egoisti-
scher Verhaltensweisen in der Staatenwelt ausgehen und die Suche
nach Wegen zu einer friedlichen Welt zu ihrem zentralen Anliegen
machen.1
Der zeithistorische Hintergrund funktionalistischer und neo-
funktionalistischer Ansätze ist die Erfahrung zweier Weltkriege
und das Scheitern des Völkerbunds in der Zwischenkriegszeit.2 Aus
diesen Erfahrungen zogen funktionalistische Autoren die Lehre,
dass friedenssichernde internationale Kooperation nicht ‚von oben‘
durch einen politischen Entschluss der Staaten herbeigeführt wer-
4 Das zentrale Werk The Uniting of Europe von Haas wurde erstmals 1958 veröf-
fentlicht. Im folgenden Text beziehe ich mich ausnahmslos auf die zweite Auf-
lage von 1968, die auch eine sehr lehrreiche Auseinandersetzung von Haas mit
der ursprünglichen Formulierung des Neofunktionalismus enthält. The Uniting
of Europe ist inzwischen in 3. Auflage (2004) mit einem neuen Vorwort von
Haas erschienen (Haas 2004).
5 Vgl. auch das Sonderheft des Journal of European Public Policy: „The Disparity
of European Integration: Revisiting Neofunctionalism in Honour of Ernst Haas“
(12: 2 von 2005).
6 Siehe hierzu den Beitrag von Siegfried Schieder in diesem Band.
160 Thomas Conzelmann
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7 Weitere wichtige Funktionalisten sind George D. H. Cole und Pittman Porter. Zur
zeithistorischen Einordnung siehe Rosamond 2000: 31-32.
8 D.h. wechselseitiger Abhängigkeit. Mitrany verwendete den Interdependenzbe-
griff bereits 1933, also rund 40 Jahre bevor er ins Zentrum der Theoriediskussi-
on der Internationalen Beziehungen rückte. Vgl. hierzu den Beitrag von Ma-
nuela Spindler in diesem Band.
Neofunktionalismus 161
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9 Zitiert nach dem Abdruck von A Working Peace System in dem gleichnamigen
Buch von Mitrany 1966: 92.
162 Thomas Conzelmann
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10 „There is little promise of peace in the mere change from the rivalry of powers
and alliances to the rivalry of whole continents (...). Continental unions would
have a more real chance than individual states to practice the autarky that makes
for division“ (Mitrany 1966: 45). Zur Diskussion siehe Senghaas-Knobloch
1969: 19-23.
11 So kommt Senghaas-Knobloch zu dem Ergebnis, dass in der Konzeption Mit-
ranys „der Charakter politischen Handelns ungenügend begriffen wird. (...) Der
neue politische Stil wird als apolitisch ausgegeben. Die sachlichen Probleme
aber, bei denen er sich bewähren soll, sind nur eine schwache Basis, denn als
rein technisch zu lösende können sie nur dann begriffen werden, wenn auch das
Entstehen jener Probleme selbst als unabhängig von politischem Handeln und
Neofunktionalismus 163
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1964: 23).
Ein damit zusammenhängender dritter Unterschied zum klassi-
schen Funktionalismus liegt in der stärkeren Betonung der Rolle
supranationaler Organe wie den Kommissionen der 1951 gegrün-
deten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und
der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG). Supranationale Organe gelten Haas als bedeutsam, weil
sie den erreichten Integrationserfolg absichern, die Regeleinhal-
tung kontrollieren und weitere Integrationsschritte erleichtern kön-
nen. Insbesondere in diesem Zusammenhang wird deutlich, wie
eng das neofunktionalistische Konzept an die reale Entwicklung des
europäischen Integrationsprozesses angelehnt ist (Haas 1968; vgl.
hierzu auch Rosamond 2000: 51-54).
Wegen dieser wichtigen Unterschiede ist der Neofunktionalismus
nicht nur eine Verfeinerung des ursprünglichen funktionalistischen
Gedankenguts. Es handelt sich um einen speziellen sozialwissen-
schaftlichen Ansatz zur Analyse und Erklärung zwischenstaatlicher
Integration und nicht (wie noch im Funktionalismus Mitranys) um
den normativ begründeten Versuch, Wege zu einer internationalen
Friedensordnung jenseits nationalstaatlicher Kategorien zu weisen.
Aus diesem Grund wählt Haas zeitgenössische Formen der zwi-
schenstaatlichen Kooperation zum Ausgangspunkt und sucht nach
einer generalisierenden Erklärung dieser Prozesse. Gleichzeitig han-
delt es sich nicht mehr um eine strikt „funktionale“ Erklärungsstra-
tegie, sondern um die für politikwissenschaftliche Theorien typische
Mischung funktionaler, struktureller und intentionaler Erklärungs-
formen. Als „funktionalistisch“ kann der Neofunktionalismus jedoch
insofern gelten, als auch er sich bewusst von föderalen Integrations-
strategien abwendet und mit der Vorstellung einer in Teilbereichen
beginnenden und sich allmählich im politischen Bereich verdichten-
den Kooperation arbeitet. Vor diesem Hintergrund ist es besonders
interessant, die vom klassischen Funktionalismus inspirierten, nun
jedoch als klassifizierende Begriffe bzw. als erklärende Variablen
verwendeten Bausteine des Haas’schen Hypothesengerüsts zu kon-
turieren. Dies sind erstens der Begriff der „politischen Gemein-
schaft“ und der „technischen“ bzw. „politischen Kooperation“ als
Stufen, die bei der Gemeinschaftsbildung zu durchlaufen sind, und
Neofunktionalismus 165
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‚Überschwappen‘) verwendet.
15 Das Konzept des Lernens ist für Haas zentral, doch wird der theoretische Hin-
tergrund nur unklar ausgefüllt. Für Haas gibt es sowohl eine instrumentelle
Form des Lernens, bei der Eliten entdecken, dass ihre Interessen durch einen
neuen Ansatz supranationaler Kooperation besser verfolgt werden können als
auch eine reflexive Variante, bei der Interessen und Loyalitäten als Folge von
Kooperationserfahrungen umdefiniert werden. Vgl. Haas 1964: 48-50. Zu den
offensichtlichen Anknüpfungspunkten an die konstruktivistischen Theorien der
Internationalen Beziehungen siehe Haas (2001, 2004) und Risse 2005. Vgl.
auch den Beitrag von Cornelia Ulbert in diesem Band.
16 Vor allem in dieser Hinsicht ist die auch von Haas (1970: 628) anerkannte Veran-
kerung des neofunktionalistischen Konzepts in der US-amerikanischen Pluralis-
musdiskussion evident. Vgl. hierzu Rosamond 2000: 55-58.
Neofunktionalismus 169
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rests“ gelöst (Haas 1961: 368), also eine weitere Ausdehnung und
Intensivierung der Kooperation (vgl. auch Schmitter 1969: 164).
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Haas hatte seine Thesen vor allem am Beispiel der Europäischen Ge-
meinschaften entwickelt und lud damit zweierlei Formen von Kritik
ein: Erstens, dass der Neofunktionalismus zu wenig die begünsti-
genden Rahmenbedingungen thematisiert habe, die den Integrations-
prozess in Westeuropa vorangetrieben hätten. Hierzu zählten Kri-
tiker die pluralistische Verfasstheit der westeuropäischen Gesell-
schaften, ihre gemeinsamen kulturellen und historischen Wurzeln
und das relativ hohe wirtschaftliche Entwicklungsniveau. Diese be-
günstigenden Bedingungen seien in anderen Weltregionen nicht in
gleichem Maße gegeben. Aus diesem Grund könne der Neofunktio-
nalismus seinen analytischen und normativen Anspruch als allge-
meine regionale Integrationstheorie nicht aufrechterhalten.17
Zweitens wurde kritisiert, dass die tatsächliche Entwicklung der
Europäischen Gemeinschaften nicht mit dem theoretischen Rüst-
zeug des Neofunktionalismus begriffen werden könne. Aufhänger
dieser Kritik war vor allem die so genannte „Krise des leeren
Stuhls“ in den Jahren 1965/66, welche die ungebrochene politi-
sche Bedeutung der Nationalstaaten als potenziell bremsende Ak-
teure und als Identifikationsebene deutlich zu machen schien (z.B.
Hoffmann 1966).18 Es wurde argumentiert, dass der Neofunktio-
Luxemburger Kompromiss von 1966 beendet. Mit ihm wurde den Mitgliedstaa-
ten ein Vetorecht gegenüber Entscheidungen eingeräumt, die gegen „wichtige
nationale Interessen“ verstoßen.
19 Diese Diskussion wird in der Literatur häufig anhand der von Hoffmann (1966)
eingeführten Unterscheidung zwischen „low politics“ und „high politics“ aufgegrif-
fen. Zur Auseinandersetzung Haas’ mit diesem Argument siehe Haas 1970: 621
und 629-630.
20 Siehe hierzu die bereits erwähnte Einleitung von Haas zum 1968 in zweiter
Auflage erschienenen The Uniting of Europe sowie Haas 1970: 627-628.
172 Thomas Conzelmann
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their relationship to still other variables and their relative weight in a group of
potentially important variables is not specified. Nor is their position in a recur-
ring sequence of trends or events spelled out“ (Haas 1970: 614).
174 Thomas Conzelmann
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23 Die Zahl der Nennungen von The Uniting of Europe im Social Science Citation
Index fiel von einem Wert von durchschnittlich 550 Nennungen pro Jahr im
Zeitraum 1973-75 auf einen Wert von etwa 270 im Zeitraum 1976-78 und lag
im Verlauf der 1980er Jahre bei einem Wert von um bzw. unter 200. Zwischen
1987 und 1990 verdoppelte sich der Wert dann wieder (Caporaso/ Keeler 1995:
38).
24 Die EEA verstärkte mit der Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen im Minis-
terrat und der Aufwertung des Europäischen Parlaments den supranationalen Cha-
rakter der EG und übertrug der supranationalen Ebene neue Kompetenzen, wäh-
rend das Binnenmarktprogramm die Beseitigung verbleibender nicht-tarifärer Han-
delshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten bis zum 31.12.1992 zum Ziel hatte.
Vgl. Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004: Kap. 4.
Neofunktionalismus 175
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25 Die Argumentation von Moravcsik wird unten in Kap. 4 knapp skizziert. Eine
ausführliche Diskussion bietet Siegfried Schieder in diesem Band.
26 Ein wichtiges Forum hierbei sei der so genannte European Round Table of Indus-
trialists (ERT) gewesen, in dem sich bereits seit den frühen 1980er Jahren große
europäische Firmen in einer lockeren Gesprächsrunde zusammengefunden hat-
ten. Vgl. dazu Green Cowles 1995. Zur vergleichenden Analyse der Bedeutung
wirtschaftlicher Eliten wie des ERT in regionalen Integrationsprozessen siehe
auch Spindler 2003.
27 Sandholtz und Zysman argumentieren dabei nicht rein neofunktionalistisch, da sie
Ansätze aus verschiedenen intellektuellen Traditionen zu einem komplexen Modell
zusammenfügen. Allerdings bringen diese anderen Traditionen lediglich zusätzli-
che Rahmenbedingungen ein (speziell die Bedeutung des internationalen Kontextes
und die Wichtigkeit der innenpolitischen Debatten in den großen Mitgliedstaaten),
während die eigentliche Erklärungsarbeit nach wie vor von neofunktionalistischem
Gedankengut geleistet wird. Vgl. hierzu auch die kritische Auseinandersetzung
von Sandholtz und Zysman mit dem neofunktionalistischen Ansatz (Sandholtz/
Zysman 1989: 97-99). Ihre beiden wichtigsten Kritikpunkte sind, dass der Neo-
Funktionalismus die „stop-go-nature“ des europäischen Integrationsprozess und
den konkreten Zeitpunkt bestimmter Integrationsschritte nicht erklären könne
und die „nationale Option“, also der den Mitgliedstaaten nach wie vor uneinge-
schränkt offen stehende Rückzug auf nationale Problemlösung, vernachlässigt
werde.
176 Thomas Conzelmann
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29 Vgl. hierzu auch Weiler 1991 und Alter 1998. Siehe Garrett 1992 als wichtige
Gegenposition sowie die Kritik von Schmitter (2004: 72-73) an den Thesen von
Burley und Mattli.
30 Zitiert nach dem Abdruck in der zweiten Auflage (1968: xxxi).
178 Thomas Conzelmann
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31 Z.B. Mattli 1999, Hettne 2001. Eine theorieorientierte Einführung bieten Choi/
Caporaso 2002 und Sbragia 2008.
Neofunktionalismus 179
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34 Das Kernargument von Hooghe und Marks lautet, dass die europäische Integra-
tion zwar eine effektive Antwort auf die Probleme der ökonomischen Interde-
pendenz biete, die von den Bürgern akzeptierten Identifikationsräume jedoch
nach wie vor regional oder national bestimmt sind. Nicht die von Eliten voran-
getriebene Realisierung von Wohlfahrtsgewinnen, sondern die Sicherstellung
der politischen Akzeptanz der Integration durch die Bevölkerung ist das Kern-
problem des „postfunktionalistischen“ Zeitalters. Anstelle eines „gestattenden
Konsens“ greife ein „einengender Dissens“ um sich, welcher den Integrations-
prozess zunehmend bremse. Siehe auch oben, Fußnote 12.
182 Thomas Conzelmann
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Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
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Neofunktionalismus 185
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Neuer Liberalismus
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Siegfried Schieder
1. Einleitung
Spätestens seit den 1990er Jahren hat in den Theorien der Interna-
tionalen Beziehungen (IB) eine Renaissance des Liberalismus ein-
gesetzt.1 Das Wiedererstarken liberaler Ansätze, die sich während
der Entspannungspolitik im Kontext der Ost-West-Beziehungen
und des Aufkommens der Friedensforschung in den 1970er Jahren
herausgebildet hatten (vgl. Czempiel 1972), ist eng mit dem Ende
des Kalten Krieges und dem Sturz der kommunistischen Herr-
schaftsordnungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten ver-
knüpft. Wie kein anderer Vorgang hat der weltpolitische Umbruch
von 1989/90 einen Blick in die gesellschaftlichen Tiefenschichten
der internationalen Politik freigegeben und die Gültigkeit der libe-
ralen Analyse internationaler Politik bestätigt (Doyle 1994). Zwar
kollidiert in der Empirie die noch zu Beginn der 1990er Jahre ge-
hegte optimistische Vision einer demokratischen Weltordnung mit
gegenläufigen Trends in Gestalt von ethno-nationalen Konflikten,
regionalen Machtbestrebungen und dem Kampf gegen den inter-
nationalen Terrorismus, weshalb einige Beobachter rückblickend
auf die 1990er Jahre auch von einem „liberal moment“ (Latham
1997) gesprochen haben. In historischer Perspektive betrachtet ist
aber trotz der Kriege in Irak und Afghanistan unverkennbar, dass
die Domestizierung und Vergesellschaftung der auswärtigen und
internationalen Politik durch die weltpolitische Zäsur 1989/90
weiter Auftrieb bekam und den Blick freimachte für das eigentli-
Neuer Liberalismus
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Siegfried Schieder
1. Einleitung
Spätestens seit den 1990er Jahren hat in den Theorien der Interna-
tionalen Beziehungen (IB) eine Renaissance des Liberalismus ein-
gesetzt.1 Das Wiedererstarken liberaler Ansätze, die sich während
der Entspannungspolitik im Kontext der Ost-West-Beziehungen
und des Aufkommens der Friedensforschung in den 1970er Jahren
herausgebildet hatten (vgl. Czempiel 1972), ist eng mit dem Ende
des Kalten Krieges und dem Sturz der kommunistischen Herr-
schaftsordnungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten ver-
knüpft. Wie kein anderer Vorgang hat der weltpolitische Umbruch
von 1989/90 einen Blick in die gesellschaftlichen Tiefenschichten
der internationalen Politik freigegeben und die Gültigkeit der libe-
ralen Analyse internationaler Politik bestätigt (Doyle 1994). Zwar
kollidiert in der Empirie die noch zu Beginn der 1990er Jahre ge-
hegte optimistische Vision einer demokratischen Weltordnung mit
gegenläufigen Trends in Gestalt von ethno-nationalen Konflikten,
regionalen Machtbestrebungen und dem Kampf gegen den inter-
nationalen Terrorismus, weshalb einige Beobachter rückblickend
auf die 1990er Jahre auch von einem „liberal moment“ (Latham
1997) gesprochen haben. In historischer Perspektive betrachtet ist
aber trotz der Kriege in Irak und Afghanistan unverkennbar, dass
die Domestizierung und Vergesellschaftung der auswärtigen und
internationalen Politik durch die weltpolitische Zäsur 1989/90
weiter Auftrieb bekam und den Blick freimachte für das eigentli-
Die Renaissance liberaler Ansätze, die lange Zeit unter den La-
beln „moralism“, „idealism“ oder „utopianism“ firmierten und
wegen ihres optimistischen Fortschrittglaubens diskreditiert schie-
nen (Moravcsik 1997: 514), ist nun allerdings keineswegs nur
Spiegelbild realhistorischer Entwicklungen. Sie hängt auch und
gerade mit der wachsenden Unzufriedenheit systemischer Ansätze
zusammen (vgl. Sterling-Folker 1997).3 Die Unfähigkeit des Rea-
lismus, das Ende des Ost-West-Konfliktes vorherzusagen, ist ein
beredtes Beispiel (vgl. den Beitrag von Niklas Schörnig in diesem
Band). Dessen zentrale Grundannahme, wonach die Staaten die
internationalen Beziehungen bestimmen, stieß in der Forscherge-
meinschaft immer weniger auf Resonanz. Wichtige Vertreter des
Liberalismus wie z.B. Ernst-Otto Czempiel, Bruce Russett, Mi-
chael Doyle, Robert D. Putnam, Thomas Risse und nicht zuletzt
Andrew Moravcsik vertreten die Auffassung, dass sich staatliches
Handeln aus gesellschaftlichen Strukturen und Interessen ableite.
Aus ihrer Sicht gilt es, den Staat als einheitlichen und zentralen
Akteur der internationalen Ordnung aufzubrechen, um zu einem
historisch kontingenten und dynamischen Bild der Weltpolitik zu
gelangen (Zacher/Matthew 1995: 118).
Trotz dieser Gemeinsamkeiten ist der Begriff „liberale Theo-
rien“ der internationalen Beziehungen alles andere als unumstrit-
ten. Dies zeigt schon allein die Vielfalt an Bezeichnungen in der
Literatur: „second image approach“ (Waltz 1959; Gourevitch 1978,
2002), „domestic theories of international politics“ (Putnam 1988),
„theories of ‚state-society relations‘ “ (Moravcsik 1993a: 6) oder
einfach „pluralism“ (Viotti/Kauppi 2009) – um nur einige zu nen-
nen. Die Betonung auf „liberal“ hat sich letztlich durchgesetzt,
7 Der erste Versuch der Begründung einer liberalen Theorie erfolgte 1992 (Mo-
ravcsik 1992). In dem vielzitierten Aufsatz Taking Preferences Seriously (Mo-
ravcsik 1997) hat er dann seine Überlegungen präzisiert. Für eine Bewertung
seines liberalen Forschungsprogramms siehe Moravcsik 2003b, 2008.
192 Siegfried Schieder
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other tactics – at least in the short term. By contrast, strategies and tactics are
policy options defined across intermediate political aims, as when governments
declare an ,interest‘ in ,maintaining the balance of power‘, ,containing‘ or
,apeasing‘ an adversary, exercising ,global leadership‘, or ,maintaining imperial
control‘ “ (H.i.O.).
9 Dass soziale Gruppen Präferenzen auf der Grundlage von materiellen Interessen
und Ideen ausbilden, sieht Moravcsik (2003b: 162) weit weniger kontrovers an
als dies in der Literatur den Anschein hat: „Neither the assumption that indi-
viduals pursue their preferences instrumentally, nor the assumption that the for-
mation of such preferences is exogenous to interstate politics, implies that indi-
vidual preferences are atomistic. Cultural or sociological arguments that privi-
194 Siegfried Schieder
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viduen wird erwartet, dass sie rational und risikoavers agieren und
dass sie um Einfluss auf Regierungsentscheidungen konkurrieren.
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der (1991) die zentrale Rolle der Eliten bei der Mobilisierung des
Volkes in Bezug auf imperialistische Ziele herausgearbeitet, wäh-
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Aus den drei Kernannahmen über die Natur der Akteure und ihren
Forderungen an die internationale Politik, der Staaten und des in-
ternationalen Systems leitet Moravcsik mit dem ideationalen, öko-
nomischen und republikanischen Liberalismus drei konkrete Theo-
rievarianten ab (Moravcsik 1997: 524-533, 2003b: 167-176, 2008:
240-246), die jeweils unterschiedliche Einflussfaktoren und kau-
sale Mechanismen zwischen nationaler Präferenzbildung und staat-
lichem Verhalten betonen: Identität, Interesse und Institutionen.
198 Siegfried Schieder
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11 Eine Reihe von Arbeiten haben gezeigt, dass unter den Bedingungen von Oli-
garchien oder imperialistischen Staatsstrukturen privilegierte Gruppen wenig
Veranlassung sehen, Abstriche an ihren jeweiligen Zielsetzungen zu akzeptie-
ren. Viel eher versuchen dominante Gruppen ihre konfrontativen Zielsetzungen
einfach zu einem in der Summe antagonistischen Programm („log-rolling coali-
tions“) zu addieren, zumal Risiken und Kosten abgewälzt werden können, wenn
über diesen Eliten kein von ihnen allen akzeptiertes Entscheidungsorgan steht
(vgl. Moravcsik 1997: 532, 2003b: 175). Zur republikanisch inspirierten libera-
len Theorie des Krieges u.a. Snyder 1991, Wolf 2001, Narizny 2007 und den
Beitrag von Andreas Hasenclever in diesem Band.
Neuer Liberalismus 201
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12 Damit eine liberale Theorie für empirische Untersuchungen von Nutzen sei,
müssen nach Moravcsik vier Kriterien gegeben sein. Erstens müsse sie einfach
sein und ein großes Spektrum bislang unverknüpfter Hypothesen über Phäno-
mene aufwerfen, die von verfügbaren Theorien nicht erklärt werden können;
zweitens die konzeptionellen Grenzen der eigenen Theorie klar bestimmen;
drittens Anomalien und methodische Schwächen in bislang verfügbaren Theori-
en bzw. empirischen Arbeiten aufzeigen; und viertens müsse sie belegen, wie
eine rigorose Kombination mit anderen Theorien möglich ist, um kohärente
multikausale Erklärungen zu ermöglichen (Moravcsik 1997: 533). Inzwischen
hat Moravcsik die liberale Theorie der IB unter Rückgriff auf drei zentrale Kri-
terien von Lakatos zur Bewertung wissenschaftlicher Forschungsprogramme –
„strict temporal novelty“, „the heuristic definition of novelty“ und „background
theory novelty“ – einer kritischen Prüfung unterzogen und gezeigt, dass die li-
berale IB-Theorie ein innovatives Forschungsparadigma darstelle (Moravcsik
2003b: 160f, 177-196). Obwohl die wissenschaftlichen Standards von Lakatos
der liberalen Theorie in die Hände spielen, relativierte Moravcsik deren Bedeu-
tung für die IB und plädierte stattdessen für Theoriesynthese (Moravcsik
2003a): „Yet Lakatos’s focus on the scope of theories might encourage scholars
to advance ,universal‘ and mono-causal claims when it is inappropriate to do so.
More appropriate may be a clear specification of proper empirical limits or more
subtle theoretical syntheses. Overall, a more pragmatic ,problem-solving‘ ap-
proach based on Larry Laudan’s philosophy of science seems more appropriate
than one based on strict Lakatosian criteria“ (Moravcsik 2003b: 196, 204).
202 Siegfried Schieder
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13 Moravcsik (2008: 246) hat wiederholt auf drei wichtige Implikationen liberaler
Theoriebildung hingewiesen: „its unique empirical predictions, its status as
systemic theory, and its openness to multitheoretical synthesis“.
14 Gemäß diesem ökonomischen Modell delegieren oder begrenzen gesellschaftli-
che „principals“ die Macht des „governmental agent“. Sie können dies deshalb
tun, weil in Demokratien Regierungen letztlich von der Unterstützung einer
breiten „Koalition“ von Wählern, Parteien, Interessengruppen und Bürokratien
abhängen.
204 Siegfried Schieder
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17 Die theoretische Debatte zwischen LI und Neofunktionalismus hat sich seit den
1990er Jahren im Wesentlichen in drei Zeitschriften abgespielt: International
Organization, Journal of Common Market Studies und im Journal of European
Public Policy.
Neuer Liberalismus 207
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3. Theorieinterne Ausdifferenzierung
Moravcsiks Bemühungen, die analytische Verwirrung liberaler
Theoriestränge zu ordnen und diese systematisch aufeinander zu
beziehen, hat auf die liberale Theoriebildung der IB in den 1990er
Jahren zweifelsohne integrativ gewirkt. Dennoch bleibt das Spek-
trum komplementärer liberaler Ansätze nach wie vor breit. Neben
Moravcsiks präferenzorientierter liberaler Theorie haben sich in
den 1990er Jahren vor allem die so genannten Zwei-Ebenen-An-
18 In den letzen Jahren wurde vor allem kontrovers diskutiert, ob und inwieweit
die EU an einem „demokratischen Defizit“ leide. Moravcsik hat dies in einer
Reihe von Beiträgen (u.a. Moravcsik 2002, 2006, 2008) stets verneint.
208 Siegfried Schieder
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19 Einen wichtigen liberalen Strang stellt die Theorie des „demokratischen Frie-
dens“ dar. Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Hasenvlecer in diesem Band.
20 Bei den Veto-Spielern handelt es sich um diejenigen Individuen und kollektiven
Akteure, deren Zustimmung für eine Veränderung in einem Politikfeld notwen-
dig ist. Ausführlich dazu Tsebelis 2002.
Neuer Liberalismus 209
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ziehen, so dass diese nicht mehr in der Lage sind, positiven oder
negativen Einfluss auf die Regierungspolitik auszuüben. Für Mo-
ravcsik liegt hierin die rationale Motivation der Staaten, sich an in-
ternationalen Kooperations- und Integrationsprozessen zu beteili-
gen, obwohl dies mit Souveränitätseinbußen verbunden ist (Mo-
ravcsik 1994: 1). Klaus Dieter Wolf (2000) hat in Die Neue
Staatsräson eine ähnliche Ansicht vertreten. Mit Hilfe der Zwei-
Ebenen-Analyse zeigt er, wie in Zeiten der Globalisierung zwi-
schenstaatliche Kooperation und staatliche Selbstbindung ganz be-
wusst als Optionen zur Wiedererlangung staatlicher Handlungs-
autonomie gegenüber ihren Gesellschaften dienen können, aller-
dings um den Preis der Untergrabung demokratisch legitimierter
Politik. Zusammen mit anderen Autoren hat Moravcsik hingegen
geltend gemacht, dass die staatliche Einbindung in multilaterale
Institutionen „can enhance the quality of national democratic pro-
cesses, even in well-functioning democracies (…) by restricting
the power of special interest factions, protecting individual rights,
and improving the quality of democratic deliberation, while also
increasing capacities to achieve important public purposes“ (Keo-
hane/Macedo/Moravcsik 2009: 2).
Eine dem präferenzorientiertem Liberalismus ähnliche Theorie,
die auf das „two-level game“ zurückgreift, hat Helen Milner
(1997, 1999) entwickelt.21 In Interests, Institutions, and Informati-
on geht sie anhand wichtiger zwischenstaatlicher Verhandlungen
über die Schaffung der internationalen Wirtschaftsinstitutionen der
Nachkriegsära der Frage nach, unter welchen Bedingungen Staa-
ten in bestimmten Politikfeldern kooperieren. Zwischenstaatliche
Zusammenarbeit hängt weniger von den relativen Kooperations-
gewinnen ab, als von den „domestic distributional consequences of
cooperative endeavors“ (Milner 1997: 9; vgl. auch Keohane/Mil-
ner 1986). Kooperation schafft Gewinner und Verlierer innerhalb
eines Landes, was wiederum zu Kooperationsbefürwortern und
-gegnern führt. Es ist der innenpolitische Wettbewerb und Kampf
21 Siehe zu diesem liberalen Theoriestrang, der sich vor allem mit den innenstaatli-
chen Voraussetzungen für das Zustandekommen von internationalen Handels-
abkommen beschäftigt, Milner/Mansfield/Pevehouse 2007.
Neuer Liberalismus 211
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4. Externe Kritik
Moravcsiks paradigmatische Erneuerung der liberalen Theorietra-
dition hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. An dieser
Stelle kann nicht auf alle Einwände eingegangen werden, weshalb
ich mich vor allem auf drei Kritikpunkte beschränke: Erstens fühl-
ten sich durch den präferenzorientierten Liberalismus vor allem
Vertreter traditioneller systemischer Ansätze herausgefordert. Kri-
tik kam zweitens von Seiten konstruktivistischer Ansätze, die die
rationalistische Ontologie und das rigorose methodologische Ver-
ständnis von Moravcsik zurückweisen. Schließlich wurden drit-
tens auch normative bzw. kritisch-ideologische Einwände erhoben.
(1) Von Vertretern systemischer Theorien wurde der Vorwurf er-
hoben, dass die liberale Theorie der IB für eine „systemische“ Ana-
lyse der internationalen Politik „überkomplex“ sei, da immer unter-
schiedliche innerstaatliche Faktoren zur Erklärung des außenpoliti-
schen Verhaltens bemüht würden. Keohane schlug deshalb vor, auf
innenpolitische Faktoren zur Erklärung von Anomalien nur dann zu-
rückzugreifen, wenn das außenpolitische Verhalten eines Staates mit
Hilfe systemischer Faktoren nicht erklärbar sei (Keohane zit. in Mo-
ravcsik 1993a: 9; vgl. auch Schweller 2006). Darüber hinaus be-
mängelten Neoinstitutionalisten, dass zwar die Institutionen in den
nationalen politischen Systemen die Interaktion zwischen den ver-
schiedenen Gruppen in einem Staat beeinflussen, die Institutionen
212 Siegfried Schieder
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22 Vgl. dazu das Sonderheft „The Social Construction of Europe“ der Zeitschrift
Journal of European Public Policy von 1999, hrsg. von Thomas Christiansen,
Knut E. Jørgensen und Antje Wiener mit Beiträgen u.a. von Jeffrey T. Checkel,
Thomas Diez und Thomas Risse. 2001 sind die Beiträge auch in Buchform er-
schienen.
Neuer Liberalismus 213
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23 Moravcsik (1999b: 669) hat seine Kritik mit dem provokanten Titel „Is some-
thing rotten in the state of Denmark? Constructivism and European integration“
überschieben, indem er auf die „Kopenhagener Schule“ anspielt, „the force of
continental constructivist theories“. Siehe auch den Disput zwischen Checkel/
Moravcsik (2001).
24 Moravcsik weist den Vorwurf zurück, rationalistische Erklärungsansätze gingen
davon aus, dass Akteure über keine Ideen verfügten. „Collective ideas are like
air; it is essentially impossible for humans to function as social beings without
them. In this (trivial) sense there is little point in debating whether ,ideas mat-
ter.‘ Existing rationalist theories claim only something far more modest, namely
that ideas are causally epiphenomenal to more fundamental underlying influ-
ences on state behavior“ (Moravcsik 1999b: 674, H.i.O.).
214 Siegfried Schieder
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25 So moniert Jahn (2009: 419), „that the liberal paradigm does not fulfill the crite-
rion of distinctnessy. Moravcsik’s general assumptionsy are shared by a host of
other ,approaches‘“ – eine Interpretation, die Moravcsik mit dem Hinweis zu-
rückweist, sie würde seine Arbeiten nicht wirklich zur Kenntnis nehmen (Mo-
ravcsik 2010a: 115).
216 Siegfried Schieder
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Literaturverzeichnis
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Primärliteratur
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222 Siegfried Schieder
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Andreas Hasenclever
1. Einleitung
Mitte der 1980er Jahre bemerkten die Statistiker, dass sie etwas
übersehen hatten. Bislang meinten sie, dass Demokratien in ihrer
Außenpolitik genauso gewaltbereit agieren würden wie andere
Staaten auch. Offenkundig schreckten sie weder vor militärischen
Konflikten noch vor der bewaffneten Einmischung in die inneren
Angelegenheiten fremder Länder zurück. Die USA kämpften in Viet-
nam, England kämpfte um die Falklandinseln, Frankreich kämpfte in
Schwarzafrika und Indien kämpfte gegen Pakistan, um nur vier Bei-
spiele zu nennen. Außerdem hielten westliche Demokratien über
Jahrzehnte hinweg eine Politik der nuklearen Abschreckung auf-
recht. Sie signalisierten ihre Entschlossenheit, im Falle eines sowje-
tischen Angriffs eher den massenhaften Tod unschuldiger Zivilisten
in Kauf zu nehmen, als sich einer fremden Macht zu beugen.
Mit dieser offenkundigen Gewaltbereitschaft gewählter Regie-
rungen erfuhr die realistische These von der Bedeutungslosigkeit
der Innenpolitik für die Außenpolitik eine auf den ersten Blick
eindrucksvolle Bestätigung (vgl. hierzu den Beitrag von Andreas
Jacobs in diesem Band). Zeigte doch das ‚normale‘ Verhalten von
Demokratien, dass alle Staaten unter den Bedingungen internatio-
naler Anarchie ihre nationalen Interessen rational und notfalls
auch mit militärischen Mitteln verfolgen würden. Für Realisten
stand deshalb die Hoffnung auf eine Befriedung der internationa-
len Staatengemeinschaft durch die Demokratisierung ihrer Mit-
glieder auf tönernen Füßen. Das auswärtige Verhalten gewählter
Regierungen war nachweislich nicht von besonderer Zurückhal-
tung geprägt. Vielmehr schienen diese die Regeln der Machtpolitik
perfekt zu beherrschen und das ‚große Spiel‘ um Allianzen und
Einflusszonen gekonnt mitzuspielen.
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Andreas Hasenclever
1. Einleitung
Mitte der 1980er Jahre bemerkten die Statistiker, dass sie etwas
übersehen hatten. Bislang meinten sie, dass Demokratien in ihrer
Außenpolitik genauso gewaltbereit agieren würden wie andere
Staaten auch. Offenkundig schreckten sie weder vor militärischen
Konflikten noch vor der bewaffneten Einmischung in die inneren
Angelegenheiten fremder Länder zurück. Die USA kämpften in Viet-
nam, England kämpfte um die Falklandinseln, Frankreich kämpfte in
Schwarzafrika und Indien kämpfte gegen Pakistan, um nur vier Bei-
spiele zu nennen. Außerdem hielten westliche Demokratien über
Jahrzehnte hinweg eine Politik der nuklearen Abschreckung auf-
recht. Sie signalisierten ihre Entschlossenheit, im Falle eines sowje-
tischen Angriffs eher den massenhaften Tod unschuldiger Zivilisten
in Kauf zu nehmen, als sich einer fremden Macht zu beugen.
Mit dieser offenkundigen Gewaltbereitschaft gewählter Regie-
rungen erfuhr die realistische These von der Bedeutungslosigkeit
der Innenpolitik für die Außenpolitik eine auf den ersten Blick
eindrucksvolle Bestätigung (vgl. hierzu den Beitrag von Andreas
Jacobs in diesem Band). Zeigte doch das ‚normale‘ Verhalten von
Demokratien, dass alle Staaten unter den Bedingungen internatio-
naler Anarchie ihre nationalen Interessen rational und notfalls
auch mit militärischen Mitteln verfolgen würden. Für Realisten
stand deshalb die Hoffnung auf eine Befriedung der internationa-
len Staatengemeinschaft durch die Demokratisierung ihrer Mit-
glieder auf tönernen Füßen. Das auswärtige Verhalten gewählter
Regierungen war nachweislich nicht von besonderer Zurückhal-
tung geprägt. Vielmehr schienen diese die Regeln der Machtpolitik
perfekt zu beherrschen und das ‚große Spiel‘ um Allianzen und
Einflusszonen gekonnt mitzuspielen.
224 Andreas Hasenclever
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legenden Respekt vor der Würde und den Rechten des Anderen
eine fundamentale Präferenz für Interessenausgleich und Kompro-
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miss. Nach Russett (1993: 31) hat sich in Demokratien mit ande-
ren Worten eine Kultur des „Live-and-let-live“ etabliert, und diese
Kultur macht sich auch in den auswärtigen Beziehungen demokra-
tischer Staaten bemerkbar, weil die Bürgerinnen und Bürger von
ihren Regierungen erwarten, dass sie so wenig Gewalt wie mög-
lich bei der Verfolgung nationaler Interessen einsetzen.
Im Unterschied zu Demokratien herrscht für liberale Autoren in
Autokratien eine Kultur der Gewalt. Anders ist es beispielsweise
nach Czempiel (1986: 113-114) nicht zu verstehen, wie es einer
Minderheit gelingen kann, auf Kosten der Mehrheit zu regieren.
Demnach gehen autokratische Systeme notwendigerweise mit ei-
ner ungerechten Verteilung von Wohlfahrts- und Teilhabechancen
in einer Gesellschaft einher. Würden sie dies nicht tun, könnten sie
ihre Politik in freien Wahlen zur Abstimmung stellen. Ungerech-
tigkeit aber lässt sich auf Dauer nur mit organisiertem Zwang auf-
rechterhalten. Doyle (1986: 1161) bemerkt deshalb: „Non-liberal
governments are in a state of aggression with their own people“.
Da kulturell geprägte Verhaltensdispositionen unteilbar sind, über-
trägt sich interner Unfrieden auf externen Unfrieden. Autokrati-
sche Regierungen gelten als notorisch unfähig, Konflikte mit
friedlichen Mitteln zu lösen. Vielmehr stellen sie eine permanente
Gefahr für die internationale Sicherheit und den Frieden in der
Welt dar. Entsprechend wachsam müssen Demokratien im Um-
gang mit Autokratien sein (Russett 1993: 32-33).
Der „demokratische Frieden“ wird damit aus liberaler Perspek-
tive aus dem innenpolitischen Entscheidungsumfeld gewählter Re-
gierungen heraus erklärt, die ein fundamentales Interesse am Er-
halt ihrer Ämter haben. Sie müssen darauf achten, für militärische
Einsätze in internationalen Konflikten eine möglichst breite und
anhaltende Unterstützung innerhalb des politischen Systems und
der Bevölkerung zu mobilisieren. Ansonsten ist das Risiko groß,
dass oppositionelle Parteien das Thema aufgreifen und der Regie-
rung spätestens beim nächsten Urnengang politische Inkompetenz
vorwerfen. Das Leben von Soldaten und der Reichtum der Nation
und Kindern ein Recht auf ein Leben in Würde zu, und das be-
deutet, dass sie prima facie einen unbedingten Anspruch auf
Schutz vor Krieg und vor staatlicher Repression haben.
Durch die gewaltfreie Verbreitung der Demokratie als Staats-
form können nach Überzeugung vieler Liberaler meistens beide
Ziele erreicht werden. Es sind aber auch Situationen vorstellbar, in
denen zu diskutieren ist, ob eine Mission mit dem Schwert zuläs-
sig, wenn nicht gar gefordert ist. Dies ist dann der Fall, wenn es
gegen einen „ungerechten Feind“ geht (Immanuel Kant, zit. nach
Müller 2006: 236). Ein solcher „ungerechter Feind“ ist nicht nur
ein internationaler Gegner. Vielmehr verletzt er die Grundrechte
seiner Bürger und Bürgerinnen systematisch, anhaltend und schwer-
wiegend. Es handelt sich mit anderen Worten um einen Staat, der
aus Perspektive der Menschenrechtsmoral ein Unrechtsstaat ist.
Unter solchen Bedingungen kommt alles darauf an, wie das Mittel
des Krieges im Verhältnis zu dem angestrebten Zweck der Demo-
kratisierung beurteilt wird: Lässt sich mit Waffengewalt ein Un-
rechtszustand unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits-
prinzips beenden und eine gerechte Staatsform aufbauen oder er-
scheint dies als nicht möglich?
Nach Meinung von Müller (2004: 507-510; Müller/Wolff 2006:
58-62) wird die Antwort auf diese Frage nachhaltig von der politi-
schen Kultur beeinflusst, die in einzelnen Demokratien dominant
ist. Hier unterscheidet er idealtypisch zwischen einem pazifisti-
schen Liberalismus und einem militanten Liberalismus. Während
im militanten Liberalismus der Akzent auf der tätigen Befreiung
von Menschen aus Unrechtsverhältnissen liegt und militärische
Gewalt als mögliches und sinnvolles Mittel gilt, setzen Vertreter
des pazifistischen Liberalismus auf die unwiderstehliche Kraft von
Modernisierungsprozessen. Mit der Zeit würden autokratische
Strukturen unter dem Druck sich ausdifferenzierender Verhältnisse
zusammenbrechen und sich zu Demokratien entwickeln.
Müller arbeitet nun heraus, dass der Liberalismus als gemein-
same politische Kultur aller Demokratien die Anwendung von Ge-
walt gegeneinander strikt delegitimiert und damit höchst unwahr-
scheinlich macht. Die unterschiedliche Gewaltbereitschaft von De-
mokratien gegenüber Autokratien wiederum führt Müller auf die
242 Andreas Hasenclever
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tergrund ist es das Verdienst von Russett und Oneal (2001: 157-
196), die herrschende Meinung erschüttert zu haben. Sie konnten
mit statistischen Mitteln zeigen, dass entgegen der weitverbreiteten
Skepsis ein Zusammenhang zwischen der Einbindung von Staaten
in Institutionen und der Gewaltanfälligkeit ihrer Beziehungen be-
steht: Je höher die Zahl geteilter Mitgliedschaften in internationa-
len Organisationen ist, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit,
dass zwischen zwei Staaten ein Krieg ausbricht. Dieser Zusam-
menhang ist allerdings nur schwach ausgeprägt und wird von der
Wirkung anderer Variablen wie der Verfassung der interagieren-
den Staaten, ihrer gemeinsamen Mitgliedschaft in Allianzen, der
Machtverteilung im internationalen System oder dem Grad wirt-
schaftlicher Verflechtungen überlagert.
Die unübersehbar schwache Ausprägung des statistischen Be-
funds bei Russett und Oneal mag damit zusammenhängen, dass sie
nicht zwischen unterschiedlichen Typen internationaler Organisa-
tionen differenzieren. Vielmehr haben sie alle internationalen Re-
gelwerke in ihren möglichen Friedenswirkungen gleichwertig be-
handelt (Russett/Oneal 2001: 170). In einer neueren Studie unter-
scheiden Pevehouse/Russett (2006) internationale Organisationen
nach der Zusammensetzung ihrer Mitglieder. Dabei zeigt sich, dass
internationale Organisationen mit überwiegend demokratischen
Mitgliedsstaaten das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen
zwischen ihren Mitgliedstaaten deutlich verringern. Eine plausible
Erklärung für ihren Befund liefern die beiden Autoren aber noch
nicht.
Es ist an dieser Stelle nicht möglich ins Detail zu gehen.10 Aber
es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass interdemokratische
Institutionen im Unterschied zu anderen Regelwerken in der inter-
nationalen Politik hervorragend geeignet sind, die Sicherheitsbe-
ziehungen zwischen ihren Mitglieder zu stabilisieren, die Zusam-
menarbeit in Wirtschaft, Umwelt und Kultur zu fördern und die
Autonomie der verregelten Politikfelder zu erhöhen. Wenn dies
Literaturverzeichnis
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Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
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Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 251
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252 Andreas Hasenclever
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Christopher Daase
1. Einleitung
Ist es nicht merkwürdig, dass in einer Zeit der Globalisierung und
Entstaatlichung ein theoretischer Ansatz Furore macht, der eine
bestimmte Nation im Namen trägt?2 Die „Englische Schule“ feiert
seit über zehn Jahren ein erstaunliches Comeback. In den 1980er
Jahren totgesagt und fast vergessen, häuften sich in den 1990 Jah-
ren die Aufsätze und Bücher, die über die Englische Schule oder
in ihrem Geiste geschrieben wurden. Auf der Jahreskonferenz der
British International Studies Association (BISA) 1999 wurde die
Englische Schule offiziell wieder belebt (Buzan 2001) und mit ei-
ner eigenen Internetseite3 gehört sie zu den vermutlich am besten
organisierten theoretischen Ansätzen in der Disziplin Internatio-
nale Beziehungen.
Doch können all diese Aktivitäten nicht darüber hinwegtäuschen,
dass bis heute ernsthafte Zweifel bestehen, ob die Englische Schule
überhaupt ein kohärentes Forschungsprogramm darstellt und ob sie
das theoretische Potenzial besitzt, das für eine progressive Erfor-
schung internationaler Beziehungen notwendig ist. Tatsächlich wur-
de die Bezeichnung „Englische Schule“ zuerst von einem Kritiker
verwendet, der in einer scharfen Polemik dazu aufrief, dieses Kapitel
politikwissenschaftlicher Forschung zu schließen, weil es theoretisch
steril und empirisch fruchtlos sei (Jones 1981). Doch gerade dieser
Ruf nach Auflösung weckte das Gruppenbewusstsein und trug zur
Wiedergeburt der Englischen Schule bei.
1 Der Beitrag wurde nicht überarbeitet und ist in der Textfassung der 2. Aufl. von
2006 abgedruckt.
2 Ich danke Tina Bruns für die Literaturrecherche und -beschaffung.
3 Die Adresse ist: http:www.leeds.ac.uk/polis/englishschool/
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Christopher Daase
1. Einleitung
Ist es nicht merkwürdig, dass in einer Zeit der Globalisierung und
Entstaatlichung ein theoretischer Ansatz Furore macht, der eine
bestimmte Nation im Namen trägt?2 Die „Englische Schule“ feiert
seit über zehn Jahren ein erstaunliches Comeback. In den 1980er
Jahren totgesagt und fast vergessen, häuften sich in den 1990 Jah-
ren die Aufsätze und Bücher, die über die Englische Schule oder
in ihrem Geiste geschrieben wurden. Auf der Jahreskonferenz der
British International Studies Association (BISA) 1999 wurde die
Englische Schule offiziell wieder belebt (Buzan 2001) und mit ei-
ner eigenen Internetseite3 gehört sie zu den vermutlich am besten
organisierten theoretischen Ansätzen in der Disziplin Internatio-
nale Beziehungen.
Doch können all diese Aktivitäten nicht darüber hinwegtäuschen,
dass bis heute ernsthafte Zweifel bestehen, ob die Englische Schule
überhaupt ein kohärentes Forschungsprogramm darstellt und ob sie
das theoretische Potenzial besitzt, das für eine progressive Erfor-
schung internationaler Beziehungen notwendig ist. Tatsächlich wur-
de die Bezeichnung „Englische Schule“ zuerst von einem Kritiker
verwendet, der in einer scharfen Polemik dazu aufrief, dieses Kapitel
politikwissenschaftlicher Forschung zu schließen, weil es theoretisch
steril und empirisch fruchtlos sei (Jones 1981). Doch gerade dieser
Ruf nach Auflösung weckte das Gruppenbewusstsein und trug zur
Wiedergeburt der Englischen Schule bei.
1 Der Beitrag wurde nicht überarbeitet und ist in der Textfassung der 2. Aufl. von
2006 abgedruckt.
2 Ich danke Tina Bruns für die Literaturrecherche und -beschaffung.
3 Die Adresse ist: http:www.leeds.ac.uk/polis/englishschool/
256 Christopher Daase
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mative Credo kaum geteilt haben dürfte (vgl. auch den Beitrag
zum Realismus von Andreas Jacobs in diesem Band). Ebenso prob-
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An dieser Stelle kann ein genauerer Blick auf die Theorie des
Machtgleichgewichts weiterhelfen. Bull erkennt den Wert der rea-
listischen Perspektive durchaus an. Nicht umsonst ähnelt seine De-
finition des internationalen Systems der von John Herz und Hans
Morgenthau (vgl. dazu den Beitrag zum Realismus von Andreas
Jacobs in diesem Band). Allerdings ziehen die Realisten aus der
Definition des internationalen Systems als einer Interaktion von
machtmaximierenden Staaten andere Schlüsse als Bull, indem sie
einen Automatismus annehmen, der das Gleichgewicht der Mächte
stabilisiert und, wenn es aus der Balance gerät, wieder herstellt
(Morgenthau 1963 [1948]; Gilpin 1981). Dem hält Bull allerdings
entgegen, dass die Staaten durchaus nicht immer bestrebt sind, ihre
Machtpositionen auszubauen. Deshalb könne auch von einer not-
wendigen Tendenz zur Herstellung eines Machtgleichgewichts
keine Rede sein. Allenfalls könne ein zufälliges (fortuitous) Gleich-
gewicht entstehen, das ohne politische Absicht der beteiligten Mit-
glieder aber instabil bleiben müsse (Bull 1995 [1977]: 100).
Diese Idee des fortuitous balance of power hat starke Ähnlich-
keiten mit der neorealistischen Theorie des Machtgleichgewichts
bei Kenneth Waltz. Waltz beschreibt die Entstehung des Gleich-
gewichts als eine nicht-intendierte Konsequenz systemischer Fak-
toren: Staaten, die sich in einem anarchischen Selbsthilfe-System
behaupten müssen, sind gezwungen, gegen den jeweils stärksten
Staat oder die stärkste Staatengruppe ein Gegengewicht zu bilden,
um langfristig ihr Überleben zu sichern. Weil die anarchische
Struktur des internationalen Systems unüberwindbar ist, ist das
Machtgleichgewicht ein notwendiges Ergebnis internationaler Po-
litik (Waltz 1979: 102-128; vgl. auch den Beitrag von Niklas
Schörnig in diesem Band). Für Bull hingegen ist weder die Anar-
chie des internationalen Systems ein immer währendes Struktur-
merkmal, noch ist der Macht- und Überlebenswille von Staaten
absolut. Für ihn und andere Vertreter der Englischen Schule ist das
Gleichgewicht der Mächte deshalb kein notwendiges, sondern eher
ein zufälliges Ereignis internationaler Politik (Little 2000: 406).
Der Nutzen, internationale Politik unter dem Gesichtspunkt des
internationalen Systems zu betrachten, ist also begrenzt. Das Bei-
spiel des Machtgleichgewichts zeigt, dass es für Bull nicht aus-
Die Englische Schule 263
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verstehen.
Um das Muster des Machtgleichgewichts in der internationalen
Politik zu begreifen, reicht es nach Bull also nicht aus, die Inter-
aktion der Staaten im internationalen System zu beobachten und
daraus kausale Schlussfolgerungen zu ziehen, wie Neorealisten,
z.B. Waltz, es tun. Vielmehr ist es notwendig, die Entwicklung des
Konzepts des Gleichgewichts der Mächte zu analysieren und zu
zeigen, wie sich konzeptioneller Wandel politisch niedergeschla-
gen hat. Hierbei konnte sich Bull auf die historischen Vorarbeiten
seiner Kollegen im British Committee, Herbert Butterfield und
Martin Wight, berufen. Diese hatten festgestellt, dass die Gleich-
gewichtspolitik in anderen internationalen Systemen, zum Beispiel
im antiken Griechenland oder zwischen den italienischen Stadt-
staaten der Renaissance, ganz anders betrieben wurde, als in der
europäischen internationalen Gesellschaft des 17. und 18. Jahr-
hunderts (Butterfield 1966; Wight 1966). Erst die Idee des Macht-
gleichgewichts und die damit zusammenhängenden Vorstellungen
von Souveränität und Legitimität haben das Gleichgewicht der
Mächte zu einer Institution gemacht und dazu beigetragen, dass
sich das europäische internationale System zu einer europäischen
internationalen Gesellschaft gewandelt hat.
Auch hier macht sich Bull nicht die Mühe, etwa auf hermeneuti-
sche oder phänomenologische Wissenschaftstheorien zurückzugrei-
fen, um seine Behauptung zu untermauern, dass der Erforschung
internationaler Politik am besten durch den Rückgriff auf Philoso-
phie, Geschichte und Recht gedient sei (Bull 1966: 361).
Mit dieser Streitschrift hat Bull zweifellos die Grundbefindlich-
keit des British Committee getroffen; und nicht zu Unrecht gilt
dieser Aufsatz als methodologische Bekenntnisschrift der Engli-
schen Schule. Wie aber dieses Pamphlet zum Höhepunkt der Zwei-
ten Großen Debatte4 in den Internationalen Beziehungen stilisiert
werden konnte (Knorr/Rosenau 1969), wird immer ein Geheimnis
bleiben; warum der Szientismus diese Debatte nach Punkten ge-
wann, ist dagegen offensichtlich.
schaftler, die sich zu sehr mit der Politik einließen. Henry Kissin-
ger bezeichnete er in diesem Sinne als „a very unfortunate exam-
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ple of a profession whose business is, after all, with thinking, not
with doing“ (Bull 1980: 484). Allerdings war auch Bull selber
nicht Politik-abstinent. In den sechziger Jahren war er Mitglied der
British Special Advisory Group on Arms Control. Seine Kritik
scheint deshalb vor allem politischer Natur zu sein, insofern er nur
diejenigen Wissenschaftler kritisiert, die der realistischen und der
universalistischen Tradition anhängen, nicht aber, wie er selber,
der internationalistischen. Grotianische Politikberatung schien für
Bull akzeptabel zu sein, kantianische und hobbesianische lehnte er
ab.
5 Eine Liste von Mitgliedern und Sympathisanten der Zweiten Generation der Engli-
schen Schule findet sich auf der eingangs genannten Internetseite.
Die Englische Schule 271
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seits mit Hilfe der Englischen Schule, die es erlaubt, die kulturelle
Gemeinschaftsbildung (im Sinne Tönnies) auf der Grundlage ge-
teilter Werte zu verstehen (Buzan 1993: 348; vgl. dazu auch den
Aufsatz zu Weltgesellschaft und Globalisierung von Ingo Take in
diesem Band).
In ihrem neuesten Buch versuchen Buzan und Little diese Über-
legungen komparativ auf andere internationale Systeme zu über-
tragen, um damit der Erforschung internationaler Politik eine neue
Perspektive zu eröffnen, die „more holistic, more integrated and
more historically contextualized“ ist (Buzan/Little 2000: 1). Dass
sie sich dabei von den traditionellen Vorstellungen der Englische
Schule immer weiter entfernen, stört sie wenig. Auf den Vorwurf
eines Kritikers, die Theorie der Englischen Schule würde damit in
ihrer Substanz verändert (Hall 2001: 941), antworteten sie lako-
nisch, sie hätten das Buch gar nicht „as an English-school book“
schreiben wollen (Buzan/Little 2001: 944). Viel wichtiger ist ih-
nen die kreative Weiterentwicklung der Englischen Schule als ei-
ner „underexploited resource“ (Buzan 2001).
Literaturverzeichnis
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Ingo Take
1. Einleitung
Weltgesellschaft und Globalisierung sind Begriffe, die interdiszip-
linär Verwendung finden.1 Die daraus resultierende Diversität an
Verwendungszusammenhängen verhinderte bisher eine analytisch
sinnvolle Systematisierung, die für eine künftige – auch interdiszip-
linäre – Forschung fruchtbar gemacht werden könnte.2 Als gemein-
samer Kern aller Varianten der Begriffsverwendung lässt sich aber
immerhin der Anspruch festhalten, Veränderungen in der Welt und
die daraus resultierenden Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesell-
schaft konzeptionell zu erfassen. Globalisierung soll hier als die Art
und Weise betrachtet werden, in der soziale Beziehungen durch glo-
bale Kontexte definiert werden. Demnach unterliegen staatliche
Ordnung, politische Kultur und Identität als Merkmale von Gesell-
schaften einem systemischen Wandel, der durch globalisierungsin-
duzierte Entwicklungen forciert wird. Betrachtet man die Gesell-
schaft als ein globales System sozialer Beziehungen, in welchem alle
Menschen durch die vereinigenden Kräfte moderner Produktion,
Märkte, Kommunikation sowie kultureller Symbole und politischer
Institutionen miteinander verbunden sind und in einer Vielzahl glo-
baler sowie regional, national und lokal segmentierter und differen-
zierter Räume interagieren, dann lässt sich bereits heute von einer
Ingo Take
1. Einleitung
Weltgesellschaft und Globalisierung sind Begriffe, die interdiszip-
linär Verwendung finden.1 Die daraus resultierende Diversität an
Verwendungszusammenhängen verhinderte bisher eine analytisch
sinnvolle Systematisierung, die für eine künftige – auch interdiszip-
linäre – Forschung fruchtbar gemacht werden könnte.2 Als gemein-
samer Kern aller Varianten der Begriffsverwendung lässt sich aber
immerhin der Anspruch festhalten, Veränderungen in der Welt und
die daraus resultierenden Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesell-
schaft konzeptionell zu erfassen. Globalisierung soll hier als die Art
und Weise betrachtet werden, in der soziale Beziehungen durch glo-
bale Kontexte definiert werden. Demnach unterliegen staatliche
Ordnung, politische Kultur und Identität als Merkmale von Gesell-
schaften einem systemischen Wandel, der durch globalisierungsin-
duzierte Entwicklungen forciert wird. Betrachtet man die Gesell-
schaft als ein globales System sozialer Beziehungen, in welchem alle
Menschen durch die vereinigenden Kräfte moderner Produktion,
Märkte, Kommunikation sowie kultureller Symbole und politischer
Institutionen miteinander verbunden sind und in einer Vielzahl glo-
baler sowie regional, national und lokal segmentierter und differen-
zierter Räume interagieren, dann lässt sich bereits heute von einer
versität Bielefeld. Aus der Forschungsgruppe ist eine Reihe von Forschungs-
projekten hervorgegangen, deren gemeinsame Klammer darin besteht, den glo-
balen politischen Wandel in einen größeren staats- und steuerungstheoretischen
Rahmen einzubetten. Dabei haben sich die Arbeitsschwerpunkte der Mitglieder
der Gruppe auf der Grundlage eines gemeinsam entwickelten Weltgesell-
schaftskonzepts zunehmend ausdifferenziert und spezialisiert.
286 Ingo Take
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6 Brock (2004) geht davon aus, dass Internationales System, Internationale Ge-
sellschaft und Weltgesellschaft Referenzsysteme von Politik und Wissenschaft
darstellen, die nebeneinander bestehen und die herangezogen werden, um Hand-
lungen je nach Präferenzen zu rahmen (vgl. die Ende des 19. Jahrhunderts be-
stehende Gleichzeitigkeit von Nationalismus, dem Aufbau erster internationaler
Organisationen und der Entstehung des humanitären Völkerrechts). Aus der Rah-
mung, die sich immer auch auf eine bestimmte Handlungslogik bezieht (Selbst-
hilfe, Selbstbindung, konstitutionelle Einschränkung von Handlungsfreiheit),
ergeben sich Pfadabhängigkeiten der eigenen Argumentation bzw. Politik. Die
Weltgesellschaft ist somit genauso ein Referenzrahmen für Staatenpolitik (Men-
schenrechte, Responsibility to Protect, Armutsbekämpfung) wie für gesell-
schaftliche Akteure und internationale Organisationen.
290 Ingo Take
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7 Für eine Analyse der Akteure, Strukturen und Dynamiken von Konflikten der
Weltgesellschaft siehe Bonacker/Weller 2006.
Weltgesellschaft und Globalisierung 291
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staat und die ihn nach außen vertretenden Regierungen nicht ledig-
lich als eine Teilmenge der in sich stark differenzierten Gesamt-
menge von auf der internationalen Ebene agierenden Akteuren,
sondern als Träger und Resultat von Globalisierung. Aus ihrer Sicht
organisieren und legitimieren Akteure sich routinemäßig in Anleh-
nung an universalistische Modelle wie das der Staatsangehörig-
keit, der Bürgerrechte, der sozioökonomischen Entwicklung und
der Gerechtigkeit. Aus der Perspektive von Meyer et al. sind Na-
tionalstaaten also kulturell konstruiert und eingebunden in eine
Kultur, deren Elemente weltweite Anerkennung genießen.
Diese Weltkultur ist insofern hochgradig dynamisch, als die Er-
folge und Misserfolge einzelner Staaten Lernprozesse erzeugen
und zur Diffusion neuer Konzepte der Problemlösung beitragen.
Die Elemente der Weltkultur (Normen, Modelle, Zielsetzungen)
setzen weltweit gültige Standards und beanspruchen weltweite An-
wendbarkeit und sind so konstitutiv für eine Weltgesellschaft. Da
in der Weltkultur aber eine Vielzahl miteinander konkurrierender
Modelle vorhanden sind, welche bei eklektischer Implementation
miteinander in Konflikt geraten, erzeugt ihre Übernahme Konse-
quenzen, die für die sie anwendenden Gesellschaften nicht immer
funktional sind. Darüber hinaus führen die auf verschiedenen Ebe-
nen und durch eine Vielzahl von Akteurskoalitionen verlaufenden
Diffusionsprozesse zur Inkongruenz mit den in den unterschiedli-
chen Nationalstaaten jeweils vorfindbaren Praktiken, Erfordernis-
sen und Kostenstrukturen. Inkonsistenzen und Widersprüche be-
züglich weit verbreiteter Wertvorstellungen (Gleichheit versus
Freiheit, Wachstum versus Gerechtigkeit, Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen versus Wachstum) äußern sich in Auseinander-
setzungen über zu viel oder zu wenig individuelle Freiheiten, zu
viel oder zu wenig staatliche Regulierung, zu viel oder zu wenig
Nationalismus. Solche Differenzen, so Meyer et al., sind ange-
sichts des dezentralisierten Mehrebenencharakters moderner Poli-
tik und in Abwesenheit einer Weltregierung in eine Analyse mit
einzubeziehen.
Dies deutet darauf hin, dass eine von universellen Werten und
Zielvorstellungen angeleitete Strukturierung der Akteure konflikt-
trächtiger sein kann als eine segmentierte Welt. Das Versagen der
Weltgesellschaft und Globalisierung 301
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4. Externe Kritik
Die Kritik an Weltgesellschaftskonzepten macht sich an unter-
schiedlichen Punkten fest. So wird nicht nur bestritten, dass sich
die internationalen Beziehungen signifikant gewandelt haben (neo-
realistische Perspektive), umstritten ist auch die Realisierbarkeit
(funktionalistische Perspektive) und Wünschbarkeit (normative Per-
spektive) einer Weltgesellschaft. Zunächst ist der Frage zu begeg-
nen, ob sich die internationalen Beziehungen wirklich in einem
Maße gewandelt haben, das die Verwendung eines Konzepts von
Weltgesellschaft rechtfertigt. Gesellschaften haben sich schon im-
mer gegenseitig beeinflusst. Neben den internationalen Beziehun-
gen gab es auch immer transnationale Beziehungen. Der National-
staat steht nicht erst seit 1945 ‚unter Druck‘, wobei allerdings der
Kalte Krieg zur Konservierung des nationalstaatlichen Konzepts
14 „Diese neuen Formen von Konflikt und Krieg erstaunen allein deswegen kaum,
da die im Prozess der funktional bedingten Entgrenzung entstehenden „Neujus-
tierungen“ gewohnter semantischer und struktureller Formen nicht nur Zustim-
mung finden, sondern eben auch Widerspruch – und damit: Konflikt – provozie-
ren“ (Albert/Stetter 2006: 71).
304 Ingo Take
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15 In diesem Zusammenhang sei auf die Studie von Koenig verwiesen (Koenig
2005). Er untersucht die weltgesellschaftlichen Faktoren des Formwandels des
Nationalstaates, wie er sich in Konflikten um die Anerkennung kollektiver
Identitäten artikuliert und analysiert dabei insbesondere den Bedeutungswandel,
den Menschenrechte im Zuge ihrer Institutionalisierung erfahren haben.
Weltgesellschaft und Globalisierung 305
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Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
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308 Ingo Take
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310 Ingo Take
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Risse, Thomas/Jetschke, Anja/Schmitz, Hans Peter 2002: Die Macht der Men-
schenrechte. Internationale Normen, kommunikatives Handeln und politi-
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Imperialismustheorie
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Michael Heinrich
1. Einleitung
Unter Imperialismus wird einerseits jene Politik eines Staates ver-
standen, die auf Machtausdehnung und Einfluss jenseits seiner
Grenzen abzielt, sei es direkt durch Vergrößerung des Staatsgebie-
tes, sei es indirekt, indem eine politische, ökonomische oder militäri-
sche Dominanz gegenüber anderen Staaten angestrebt wird. Ande-
rerseits bezeichnet Imperialismus eine bestimmte historische Perio-
de, die etwa 1880 begann und in deren Verlauf sich eine Reihe euro-
päischer Staaten sowie die USA und Japan darum bemühten, Ge-
biete in der übrigen Welt (vor allem in Asien, Afrika und Lateiname-
rika) entweder durch Eroberung oder durch ökonomische Vorherr-
schaft ihrem eigenen Machtbereich anzugliedern und für die eigenen
Interessen zu nutzen. Dieser klassische Imperialismus führte zu rie-
sigen Kolonialreichen und deren ökonomischer Ausbeutung, bluti-
gen Kolonialkriegen sowie einer weitgehenden Aufteilung der Welt
unter die kapitalistischen Großmächte. Schon vor dem Ersten Welt-
krieg produzierte die imperialistische Expansion Rüstungswettläufe
und zunehmende Spannungen unter den Großmächten. Die liberale
Auffassung vom „Frieden durch Handel“ wurde durch die imperiali-
stische Politik praktisch widerlegt. Handelsinteressen führten zur
Eroberung fremder Länder und die Konsequenz kapitalistischer
Konkurrenz im Weltmaßstab war der Weltkrieg. Mit der Entkolo-
nialisierung ging der klassische Imperialismus in den 1960er Jahren
zu Ende, ohne dass dies jedoch das Ende der Einflussnahme und di-
rekter Interventionen der entwickelten kapitalistischen Länder in der
so genannten Dritten Welt bedeutet hätte. Allerdings ist umstritten,
ob und inwieweit solche Einflussnahme es erlaubt, die Außenpolitik
einzelner Staaten bzw. das Gefüge der internationalen Beziehun-
gen auch heute noch als „imperialistisch“ zu charakterisieren.
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Imperialismustheorie
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Michael Heinrich
1. Einleitung
Unter Imperialismus wird einerseits jene Politik eines Staates ver-
standen, die auf Machtausdehnung und Einfluss jenseits seiner
Grenzen abzielt, sei es direkt durch Vergrößerung des Staatsgebie-
tes, sei es indirekt, indem eine politische, ökonomische oder militäri-
sche Dominanz gegenüber anderen Staaten angestrebt wird. Ande-
rerseits bezeichnet Imperialismus eine bestimmte historische Perio-
de, die etwa 1880 begann und in deren Verlauf sich eine Reihe euro-
päischer Staaten sowie die USA und Japan darum bemühten, Ge-
biete in der übrigen Welt (vor allem in Asien, Afrika und Lateiname-
rika) entweder durch Eroberung oder durch ökonomische Vorherr-
schaft ihrem eigenen Machtbereich anzugliedern und für die eigenen
Interessen zu nutzen. Dieser klassische Imperialismus führte zu rie-
sigen Kolonialreichen und deren ökonomischer Ausbeutung, bluti-
gen Kolonialkriegen sowie einer weitgehenden Aufteilung der Welt
unter die kapitalistischen Großmächte. Schon vor dem Ersten Welt-
krieg produzierte die imperialistische Expansion Rüstungswettläufe
und zunehmende Spannungen unter den Großmächten. Die liberale
Auffassung vom „Frieden durch Handel“ wurde durch die imperiali-
stische Politik praktisch widerlegt. Handelsinteressen führten zur
Eroberung fremder Länder und die Konsequenz kapitalistischer
Konkurrenz im Weltmaßstab war der Weltkrieg. Mit der Entkolo-
nialisierung ging der klassische Imperialismus in den 1960er Jahren
zu Ende, ohne dass dies jedoch das Ende der Einflussnahme und di-
rekter Interventionen der entwickelten kapitalistischen Länder in der
so genannten Dritten Welt bedeutet hätte. Allerdings ist umstritten,
ob und inwieweit solche Einflussnahme es erlaubt, die Außenpolitik
einzelner Staaten bzw. das Gefüge der internationalen Beziehun-
gen auch heute noch als „imperialistisch“ zu charakterisieren.
312 Michael Heinrich
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kann es dann nur sektoral geben, aber nicht in der Ökonomie als
Ganzer: eine kapitalistische Marktwirtschaft sollte demnach keine
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5 Die Umstände, die ihn dazu veranlassten, sein Buch zu schreiben, werden in ei-
ner autobiographischen Skizze (Hobson 1938) mitgeteilt. Als Einführung in sein
Werk vgl. Schröder 1976.
Imperialismustheorie 315
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Auch wenn die Nation als Ganze beim Imperialismus verliert, gibt
es doch – so Hobson – besondere Interessengruppen, die von ihm
profitieren: die Hersteller von Gütern, die in den Kolonien benö-
tigt werden, die entsprechenden Transportunternehmen, weiter die
Rüstungsindustrie, die Streitkräfte, die schon aus Berufsinteresse
imperialistisch orientiert seien, schließlich aristokratische Grup-
pen, die im Militärdienst und in der Kolonialbürokratie für sich
und ihre Kinder Aufstiegsmöglichkeiten sehen. Diese am Imperia-
lismus interessierten Gruppen, die Hobson als „wirtschaftliche Pa-
rasiten des Imperialismus“ bezeichnet, nutzen ihren Einfluß in
Medien, Parteien, Kirchen, Schulen und Universitäten, um Ideolo-
gien zu fördern, die den Imperialismus stützen. Dabei komme ih-
nen zugute, dass sich rein wirtschaftliche Interessen mit weiteren
Motiven vermischten, die von Abenteuerlust bis zur Begeisterung
für nationale Größe reichen. In militärischen, geistlichen, akade-
mischen und Beamtenkreisen entstehe so ein „interessiertes Vorur-
teil zugunsten des Imperialismus“ (Hobson 1902: 71), das sich
316 Michael Heinrich
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Die Antwort auf diese Fragen findet sich in einem weiteren Argu-
ment Hobsons, welches ökonomisch-struktureller Natur ist. Der
wichtigste Faktor, der zur imperialistischen Politik führe, sei das im
Ausland investierte Kapital. Die zunehmenden Gewinne aus den
Auslandsinvestitionen würden diejenigen, die aus dem Warenexport
herrühren, bei weitem übersteigen. Die Sicherung dieser Gewinne
sieht Hobson als die eigentliche Ursache des Imperialismus:
„In einem alljährlich steigenden Ausmaß wird Großbritannien ein
Land, das von Tribut aus dem Ausland lebt, und die Klassen, die die-
sen Tribut genießen, haben einen ständig zunehmenden Anreiz, die öf-
fentliche Politik, die öffentliche Geldbörse und die öffentliche Gewalt
zu benutzen, um das Feld ihrer privaten Kapitalanlagen auszudehnen
und ihre bestehenden Anlagen abzuschirmen und zu verbessern“ (Hob-
son 1902: 72).
Aber nicht nur die Unternehmer, die im Ausland investieren, ha-
ben Interesse an einer imperialistischen Politik, sondern auch die
Banken und die großen Finanziers. Da die Investoren stets auf
Kredite angewiesen sind, haben die Finanziers zum einen diesel-
ben Interessen wie die im Ausland investierenden Unternehmen.
Zum anderen hätten die Finanzkreise aber noch ein weiteres Inter-
esse am Imperialismus, da die imperialistische Politik nicht ohne
öffentliche Anleihen zu finanzieren sei. Hobson argumentiert, der
Imperialismus führe zwangsläufig zu einer höheren Staatsver-
schuldung. Denn würden die Kosten für die enormen Rüstungsan-
Imperialismustheorie 317
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6 Von Kartellen spricht man, wenn rechtlich selbständige Unternehmen ihre Kon-
kurrenz einschränken, z.B. durch Preisabsprachen, von einem Trust, wenn sie
sich unter einer einheitlichen Führung zusammenschließen.
318 Michael Heinrich
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„Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Ka-
pitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch
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Lenins Imperialismustheorie
10 Vgl. dazu auch Lenins Vorwort zur französischen Ausgabe seiner Schrift.
Imperialismustheorie 325
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Neoimperialismustheorien
„In der Vereinigung der Macht der Monopole mit der Macht des impe-
rialistischen Staates zu einem Herrschaftsmechanismus zur Sicherung
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12 Eine marxistische Kritik an der These vom „ungleichen Tausch“ lieferte Busch
1973.
328 Michael Heinrich
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13 Vgl. Heinrich 2006, Elbe 2008 und Hoff 2009 zu dem neuen, dem traditionellen
Marxismus entgegen stehenden Marxismusverständnis, das sich seit den 1970er
Jahren nicht nur in (West-)Deutschland durchsetzte.
14 Vgl. dazu u.a. Neusüss 1972: Teil I; Jordan 1974; Held/Ebel 1983: 48-65. Diese
Kritik, dass die klassischen Imperialismustheorien trotz ihres marxistischen Voka-
bulars gerade nicht auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie aufbauen, sondern
mit dieser brechen, wird von Milios/Sotiropoulos 2009 systematisch aufgenommen
und für eine Analyse internationaler Abhängigkeits- und Herrschaftsbeziehungen
fruchtbar gemacht.
15 So spricht Lenin nicht nur vom „Druck der wenigen Monopolinhaber auf die
übrige Bevölkerung“ (Lenin 1917: 209f), sondern betont: „Das Herrschaftsver-
hältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die ‚jüngste
Entwicklung des Kapitalismus‘, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger
336 Michael Heinrich
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telbar über die Benutzung des Staates durchsetzen. Marx und En-
gels fassten den Staat hingegen als „ideellen“ Gesamtkapitalisten
auf: Der Staat müsse dafür Sorge tragen, dass die allgemeinen Be-
dingungen und Voraussetzungen der Kapitalverwertung gewähr-
leistet seien, und gerade deshalb müsse er (zumindest im Prinzip)
unabhängig von den besonderen Interessen der einzelnen Kapitalis-
ten sein. Dagegen reduzierte Lenin (darin eher Hobson als Marx
und Engels folgend) den Staat auf ein bloßes Instrument in der
Hand der Monopolisten und Bankiers und eliminierte damit im
Grunde genommen eine Theorie des Politischen aus dem Marxis-
mus.
Stattdessen wurde eine Kritik mit moralisierendem Unterton
eingeführt, indem Lenin im Anschluss an Hobson auf den „Parasi-
tismus“ des Imperialismus pochte. Dass die Kapitalisten die Arbei-
terklasse fremder Länder ausbeuten und nicht nur die des eigenen
Landes, gilt Hobson wie Lenin als besonderer Skandal. Für Hob-
son ist dies noch nachvollziehbar, da er keine grundsätzliche Kri-
tik am Kapitalismus liefert, sondern dessen Fehlentwicklungen re-
formerisch korrigieren will und insofern immer eine Vorstellung
von einem „gesunden“ oder normalen Funktionieren des Kapita-
lismus unterstellen muss (in seinem Fall eine autonome, nationale
Entwicklung, die nicht auf internationalen Profittransfer angewie-
sen ist). Im Rahmen von Lenins grundsätzlicher Kapitalismuskri-
tik bleibt es aber unklar, warum die Ausbeutung fremder Länder
schlimmer sein soll als die der einheimischen Arbeiterklasse.
Die klassischen Imperialismustheorien erscheinen für die mar-
xistische Kritik gerade in ihrer spezifischen ökonomischen Grund-
lage äußerst fragwürdig: Weder lässt sich trotz aller Konzentra-
tionstendenzen von einem Übergang vom Konkurrenz- zum Mo-
nopolkapitalismus ausgehen, noch sind Verwertungsprobleme in-
nerhalb von Metropolen der Hauptgrund des Kapitalexports: Der
größte Teil des Kapitalexports geht nicht aus den kapitalistischen
Metropolen in eine imperialistisch beherrschte Peripherie, sondern
in andere Metropolen.
Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
17 Vgl. einführend zum Verhältnis von Staat, Kapital und Weltmarkt Heinrich
2004, Kapitel 11.
Imperialismustheorie 339
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ten Brink, Tobias 2008b: Staatenkonflikte. Zur Analyse von Geopolitik und Im-
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Richter, Horst (Hrsg.) 1989: Politische Ökonomie des Kapitalismus und So-
zialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium,
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Weltsystemtheorie
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Andreas Nölke
1. Einleitung
Die Weltsystemtheorie ist eine Theorie der internationalen Bezie-
hungen, deren Ursprünge im Marxismus liegen. Ihr zentrales Ar-
gument lautet, dass die heutige Welt nur im Kontext der Entwick-
lung des globalen Kapitalismus verstanden werden kann. Gerade
im Kontext von Globalisierung und Finanzkrise kommt dieser
Theorie eine unverändert hohe Relevanz zu: Viele Globalisie-
rungsphänomene sehen aus der Perspektive dieser Theorie wie
moderne Ausprägungen jahrhundertealter Entwicklungen aus,
gleiches gilt für die Entwicklung globaler Wirtschaftskrisen. Ver-
glichen mit Ansätzen wie der Interdependenzanalyse oder dem
Neorealismus bietet die Weltsystemtheorie jedoch eine eher unge-
wöhnliche Perspektive auf die internationale Politik. Während die
konventionellen Ansätze relativ viele Parallelen zu der üblichen
Berichterstattung in den Medien aufweisen, eröffnet die Weltsys-
temtheorie eine Perspektive, die tiefer liegende, weniger offen-
sichtliche Entwicklungen in den Vordergrund rückt. Zudem ist die
von der Weltsystemtheorie favorisierte Sichtweise für viele Be-
trachter (insbesondere in den westlichen Industrieländern) sehr un-
bequem, indem sie darauf hinweist, dass eine der wichtigsten Funk-
tionen des gegenwärtigen Weltsystems darin besteht, den Wohl-
stand der Reichen und Mächtigen auf Kosten der Armen und
Schwachen zu sichern (Hobden/Jones 1997: 125f).
Die Wurzeln der Weltsystemtheorie im Marxismus sind nicht
zu übersehen. Allerdings hat Marx selbst sich in seiner Theorie –
im Gegensatz zu seinen journalistischen Arbeiten – kaum mit in-
ternationaler Politik beschäftigt. Die erste systematische Anwen-
dung marxistischer Konzepte auf die internationale Politik wurde
von Imperialismustheoretikern wie Hobson (allerdings kein Mar-
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Weltsystemtheorie
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Andreas Nölke
1. Einleitung
Die Weltsystemtheorie ist eine Theorie der internationalen Bezie-
hungen, deren Ursprünge im Marxismus liegen. Ihr zentrales Ar-
gument lautet, dass die heutige Welt nur im Kontext der Entwick-
lung des globalen Kapitalismus verstanden werden kann. Gerade
im Kontext von Globalisierung und Finanzkrise kommt dieser
Theorie eine unverändert hohe Relevanz zu: Viele Globalisie-
rungsphänomene sehen aus der Perspektive dieser Theorie wie
moderne Ausprägungen jahrhundertealter Entwicklungen aus,
gleiches gilt für die Entwicklung globaler Wirtschaftskrisen. Ver-
glichen mit Ansätzen wie der Interdependenzanalyse oder dem
Neorealismus bietet die Weltsystemtheorie jedoch eine eher unge-
wöhnliche Perspektive auf die internationale Politik. Während die
konventionellen Ansätze relativ viele Parallelen zu der üblichen
Berichterstattung in den Medien aufweisen, eröffnet die Weltsys-
temtheorie eine Perspektive, die tiefer liegende, weniger offen-
sichtliche Entwicklungen in den Vordergrund rückt. Zudem ist die
von der Weltsystemtheorie favorisierte Sichtweise für viele Be-
trachter (insbesondere in den westlichen Industrieländern) sehr un-
bequem, indem sie darauf hinweist, dass eine der wichtigsten Funk-
tionen des gegenwärtigen Weltsystems darin besteht, den Wohl-
stand der Reichen und Mächtigen auf Kosten der Armen und
Schwachen zu sichern (Hobden/Jones 1997: 125f).
Die Wurzeln der Weltsystemtheorie im Marxismus sind nicht
zu übersehen. Allerdings hat Marx selbst sich in seiner Theorie –
im Gegensatz zu seinen journalistischen Arbeiten – kaum mit in-
ternationaler Politik beschäftigt. Die erste systematische Anwen-
dung marxistischer Konzepte auf die internationale Politik wurde
von Imperialismustheoretikern wie Hobson (allerdings kein Mar-
344 Andreas Nölke
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ginn der 1970er Jahre, als der Zusammenbruch des Bretton Woods-
Systems, die Ölkrisen und die darauf folgenden Rezessionen einer-
seits sowie der Entspannungsprozess andererseits ein zeithistorisch
günstigeres Klima für kapitalismuskritische Analysen schufen (Hob-
den/Jones 1997: 128). In diesem Kontext entstanden eine Reihe
marxistisch inspirierter Analysen der Auswirkungen des globalen
Kapitalismus auf die Nord-Süd-Beziehungen, die häufig unter der
Bezeichnung Dependenztheorie zusammengefasst werden. We-
sentliche Vorarbeiten stammen von Raúl Prebisch, dem ersten Exe-
kutivdirektor der United Nations Economic Commission for Latin
America (ECLA), der das – theoretisch und statistisch umstrittene
– Argument einer zunehmenden Verschlechterung der internatio-
nalen Austauschverhältnisse zu Lasten der Entwicklungsländer
entwickelte. Danach können die Entwicklungsländer auf Grund der
Preisentwicklung in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen
für die von ihnen exportierten Primärgüter immer weniger verar-
beitete Güter aus den Industrieländern importieren. Aufbauend auf
diesen Überlegungen entwickelten andere Autoren dann umfas-
sendere Theorien über Nord-Süd-Abhängigkeitsverhältnisse, in po-
lemischen, aber dafür sehr populären (Andre Gunder Frank) oder
aber sehr differenzierten Versionen (Enzo Faletto mit Henrique
Fernando Cardoso, dem späteren Präsidenten Brasiliens). Im Ge-
gensatz zu den meisten früheren Imperialismustheorien ging es
den Dependenztheoretikern allerdings weniger um eine Erklärung
der Gründe der kapitalistischen Expansion (in Europa), sondern
um die Auswirkungen dieser Expansion auf die dominierten Län-
der (Boeckh 1985: 58). Widerpart der Dependenztheorien waren
Modernisierungstheorien, die traditionelle ökonomische, politische
und soziale Strukturen – und nicht exogene Einflüsse – für die fort-
dauernde Unterentwicklung in den Ländern des Südens verant-
wortlich machten (vgl. Shannon 1996: 2-8).
Eine bedeutende theoretische Entwicklung war in diesem Zu-
sammenhang die umfassende Formulierung der Weltsystemtheorie
in einem zusammenhängenden Theoriegebäude durch Immanuel
Wallerstein. Im Gegensatz zu den Dependenztheoretikern be-
schränkt Wallerstein sich nicht auf die Analyse der aktuellen Aus-
tauschbeziehungen zwischen einer begrenzten Gruppe von Staaten
346 Andreas Nölke
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Zentral für das Verständnis von Wallersteins Arbeit ist das Kon-
zept des Weltsystems. Wallerstein geht davon aus, dass das Welt-
system die angemessene Analyseeinheit für das Studium verschie-
bei denen das kurzfristig und das mittelfristig rationale Handeln der
Akteure auseinanderfallen. Der berühmteste Widerspruch besteht in
der Tendenz des kapitalistischen Weltsystems zur Unterkonsump-
tion: Während es kurzfristig im Interesse der Kapitalisten liegt, Löh-
ne zu beschränken, führt diese Lohnbeschränkung langfristig zu
einem Kaufkraftausfall und damit zu einer Minderung der Profite.
(4) Krisen sind bei Wallerstein – im Gegensatz zum gängigen
Sprachgebrauch – einmalige Ereignisse in der Geschichte jedes
Weltsystems und führen zu dessen Ablösung durch ein anderes Sys-
tem. Sie ergeben sich aus einer ungünstigen Kombination der üb-
rigen drei Dynamiken und schwächen im Gegenzug die systemi-
schen Restriktionen auf das Handeln der Akteure, so dass ein Aus-
bruch aus diesen Zwängen möglich wird (vgl. Abschnitt 2.6).
Die Weltsystemtheorie ist jedoch nicht nur eine Theorie der glo-
balen wirtschaftlichen Entwicklung, sie ist auch eine Theorie der
internationalen Politik (wobei viele, v.a. marxistische Beobachter
der Weltpolitik, ohnehin die Untrennbarkeit von Politik und Öko-
nomie und den eminent politischen Charakter wirtschaftlicher Ent-
wicklungs- und Verteilungsprozesse betonen würden). Im Vorder-
grund von Wallersteins Annahmen über die Rolle der Politik im
kapitalistischen Weltsystem steht die Stabilisierung des Systems
durch die Form der politischen Organisation. Für Wallerstein ist
die Stabilität dieses Systems in den vergangenen 500 Jahren be-
merkenswert, trotz aller innerer Widersprüche, trotz aller Kriege,
Hungersnöte etc. Ein wichtiger Schlüssel zu dessen Stabilität liegt
für Wallerstein in der Rolle des souveränen Staates sowie des zwi-
schenstaatlichen internationalen Systems (vgl. zum Folgenden Hob-
den/Jones 1997: 134-140).
Staaten haben in doppelter Weise eine essenzielle Rolle für die
Funktionsweise der kapitalistischen Weltökonomie. Zunächst bie-
ten sie einen Rahmen für die Wahrnehmung und Sicherstellung
von Eigentumsrechten. Ohne sichere Eigentumsrechte kann die
Weltsystemtheorie 351
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Die zweite wichtige Funktion der Staaten des Zentrums für die
Stabilisierung dieses Systems liegt im (potenziellen) Einsatz ihrer
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2.5 Geokultur
ren, weil dieses nur auf Kosten der sozialen Wohlfahrt stattfinden
könnte und damit die soziale Stabilität des Systems unterminieren
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würde.
Die Ungleichheiten und Widersprüche des kapitalistischen Welt-
systems haben regelmäßig zur Bildung von oppositionellen Grup-
pierungen geführt. Die Entstehung dieser Oppositionsgruppen hat
jedoch zu keinem Zeitpunkt dazu geführt, dass das System auf
Grund dieser politischen Entwicklungen in eine grundlegende Kri-
se geriet. Im Gegenteil, diese antisystemischen Bewegungen haben
im Regelfall sogar zu einer Stabilisierung des Systems beigetra-
gen. Diese paradoxe Entwicklung ergibt sich daraus, dass jene Be-
wegungen in das kapitalistische Weltsystem kooptiert wurden, so
dass sie selbst ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Systems
entwickelten. Laut Wallerstein stößt nun auch diese Form der Sta-
bilisierung an ihre Grenzen. Zunächst werden die Kosten der bis-
herigen Vorgehensweise zu hoch, insbesondere bei den verschie-
denen Arbeiterbewegungen, die durch einen immer komplexer
werdenden Wohlfahrtsstaat in das System inkorporiert wurden.
Nun gerät dieser Wohlfahrtsstaat auf Grund einer Kombination
von demographischer Entwicklung und ökonomischer Stagnation
zunehmend in eine Krise, so dass er nicht mehr aufrechterhalten
werden kann, ohne das bisherige Niveau der Kapitalakkumulation
zu verringern. Verringerte Wohlfahrtsleistungen, aber auch eine
deutliche Reduktion der bisherigen Hilfsleistungen für die Peri-
pherie reduzieren die Legitimation der herrschenden Ordnung.
Weitere politische Krisenursachen erwartet Wallerstein aus der ak-
tuellen Entwicklung von antisystemischen Bewegungen, die sich
nicht ohne Weiteres kooptieren lassen. Sei es, weil sie sich wei-
gern, sich in die disziplinierte, zentralisierte Form politischer Par-
teien zu organisieren oder weil sie – außer der Ablehnung des Sys-
tems – zu heterogene Ziele verfolgen (als Beispiel nennt er hier die
Entwicklung von „Regenbogenkoalitionen“ in einer Reihe von Ge-
sellschaften des Zentrums). Unterstützt werden diese Krisenten-
denzen noch von der rasanten Entwicklung der globalen Kommu-
nikationssysteme, die es zunehmend erschweren, die massiven
Ungleichheiten im kapitalistischen Weltsystem zu verbergen und
gleichzeitig die globale politische Mobilisierung erleichtern. Das
jüngste Beispiel solcher antisystemischen Bewegungen ist der
Protest gegen die WTO (Seattle-Bewegung).
358 Andreas Nölke
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3. Theorieinterne Weiterentwicklungen
Wallersteins Weltsystemtheorie ist ein in sich geschlossenes Theo-
riegebäude, welches zudem von seinem Verfasser permanent weiter-
entwickelt wird. Dieser Status hat jedoch andere Autoren nicht daran
Weltsystemtheorie 359
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werden, dass die hier vorgestellte Kontroverse nur ein Beispiel für
aktuelle empirische und theoretische Weiterentwicklungen der Welt-
systemtheorie darstellt. Gerade im Kontext der internationalen Fi-
nanzkrise dürfte auch die von Giovanni Arrighi (1994, 2008, Arrig-
hi/Silver 2004) vorgelegte Theorie der globalen Kapitalakkumula-
tion zu einem größeren Interesse am analytischen Potential von
Weltsystemtheorien führen insbesondere das Argument, dass der Fi-
nanzmarktkapitalismus, die aktuell dominante Entwicklungsphase
des Kapitalismus (Nölke 2009), kein neuartiges Phänomen sei, son-
dern eine wiederkehrende Übergangsphase zwischen zwei aufeinan-
der folgenden Akkumulationsregimen, lässt die aktuellen wirtsch-
lichen Entwicklungen in einem deutlich anderen Licht erscheinen,
verglichen mit konventionellen Interpretationen der Finanzkrise
(Schmalz 2009: 6).
4. Externe Kritik
Grundsätzliche Kritik an der Weltsystemtheorie setzt entweder an
der Struktur von Wallersteins Theorie oder an ihrer empirischen
Grundierung an. Daneben wird sie von vielen Betrachtern auf
Grund ihres marxistisch beeinflussten Charakters und ihrer ent-
sprechenden Terminologie generell abgelehnt. Da mit dieser Kritik
jedoch im Regelfall keine intensive Beschäftigung mit der Weltsys-
temtheorie verbunden ist, wird sie hier vernachlässigt. Waller-
steins Hauptwerk dient im Regelfall als Referenzpunkt der Kritik,
so dass es auch hier im Mittelpunkt steht (für einen ausführlichen
Überblick vgl. Shannon 1996: 155-186).
wobei die Kapitalisten Güter zu einem höheren Preis als dem Ein-
kaufspreis (bzw. den Produktionskosten) verkaufen. Kritik an dieser
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dern in England. Hier sorgten die gegen Ende des 16. Jahrhunderts
eingeführten Armengesetze für die Schaffung von Massenkauf-
kraft. Diese Massenkaufkraft wurde in erster Linie durch rasch
wachsende Kleinbetriebe abgeschöpft, die vom niedrigen Adel
und durch ehemalige Bauern in zunftfreien Gebieten betrieben
wurden (Elsenhans 1984: 31). Diese Kombination von Umvertei-
lung zugunsten der Armen und kleingewerblicher Produktions-
struktur ist für Elsenhans (aus modifiziert keynesianischer Per-
spektive) der Schlüssel zur Entstehung des Kapitalismus.
Eine solche Kontroverse über den Ursprung des Kapitalismus ist
nicht bloß von historischem Wert. Je nachdem, wie der Kapitalismus
entstanden ist – durch Kapitalakkumulation auf Grundlage von Aus-
beutung oder durch die Produktion von Massenartikeln für Mas-
senbedarf – funktioniert er auch heute und erfordert unterschiedliche
Maßnahmen zu seiner Stabilisierung oder Überwindung. In einigen
Punkten sind sich aber Elsenhans und Wallerstein einig: wissen-
schaftlich hinsichtlich der Notwendigkeit von transdisziplinären,
insbesondere auch historischen und regional übergreifenden Analy-
sen, politisch-praktisch hinsichtlich der überragenden Bedeutung der
Verringerung der massiven Ungleichheiten im weltweiten Maßstab.
Trotz der zum Teil sehr polemisch vorgetragenen Kritik treffen
sich viele Beobachter in ihrer Bewunderung für das Werk Immanuel
Wallersteins. Gerade in einer Zeit von akademischer Fragmen-
tierung und Spezialisierung überragt Wallersteins Leistung, ins-
besondere durch die Kombination von visionärer Weite und Pro-
vokation mit einer quasi enzyklopädischen Beherrschung von his-
torischen Details (Buzan/Little 2001: 30). Dass eine konzeptionell
sparsame Theorie, die mit relativ wenigen Variablen die groben Li-
nien der Weltgeschichte der vergangenen Jahrhunderte erklären
möchte, den empirischen Einzelheiten nicht immer gerecht werden
kann, dürfte von ihren Verfechtern zu verschmerzen sein. Und in ei-
ner Zeit, in der ökonomische Globalisierungsphänomene, aber auch
Spannungen zwischen dem Westen und dem Süden die internatio-
nale Agenda dominieren, lohnt sich ein Blick in Wallersteins – in
der letzten Dekade etwas unmodisches – Ideengebäude ganz beson-
ders. Selbst wenn Wallerstein sich irrt – und insbesondere hinsicht-
lich der Entstehungsursachen des Kapitalismus spricht einiges dafür
368 Andreas Nölke
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– geht von der Beschäftigung mit seinem komplexen Werk und sei-
ner Vision der Sozialwissenschaften eine besondere intellektuelle
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Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Boris, Dieter 2005: Immanuel Wallerstein, in: Kaesler, Dirk (Hrsg.): Aktuelle
Theorien der Soziologie. Von Samuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne.
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Arrighi, Giovanni 1994: The Long Twentieth Century. Money, Power, and the
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Jahrhunderts. Hamburg: VSA-Verlag.
Arrighi, Giovanni/Silver, Beverly (Hrsg.) 1999: Chaos and Governance in the
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Die Grenzen globaler Entwicklungstheorien, in: Nuscheler, Franz (Hrsg.):
Dritte Welt-Forschung. Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik.
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370 Andreas Nölke
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Neo-Gramscianishe Perspektiven
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1. Einleitung
Die globale politische Ökonomie ist im Wandel begriffen.1 Die
Entwicklungen seit den weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen
der 1970er Jahre führen dies deutlich vor Augen, und spätestens
mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus Anfang der 1990er
Jahre kann ein Ende der Nachkriegsordnung festgestellt werden.
Charakteristisch für die internationale Nachkriegsordnung war
das maßgeblich durch die USA geprägte System von Bretton
Woods, mit dem über den Internationalen Währungsfonds (IWF)
auf der Basis fester Wechselkurse mit dem Dollar als Leitwährung
die internationalen Finanzbeziehungen einerseits, mit dem Allge-
meinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) die internationalen
Handelsbeziehungen andererseits gesteuert wurden. Diese Ord-
nung basierte auf dem Prinzip des so genannten embedded libera-
lism. Dessen Grundgedanke war generell das Prinzip der Liberali-
sierung und des internationalen Freihandels. Es berechtigte die Re-
gierungen jedoch zum Zwecke innerer Stabilität und des sozialen
Friedens durch eine Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums
regulierend in ihre jeweilige nationale Volkswirtschaft einzugrei-
fen (daher embedded, vgl. Ruggie 1982) – ein Prinzip, das über
die westlichen Wohlfahrtsstaaten realisiert wurde.
Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich die Struktur-
merkmale des embedded liberalism seit Anfang der 1970er Jahre
aufgelöst haben und die Ordnung der so genannten Pax Americana
nicht mehr existiert. Die weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen
zu Beginn der 1970er Jahre, vor allem die Aufhebung der Gold-
1 Besonderer Dank geht an Marianne Bieler und Markus Peiter für ihre sprachli-
che Hilfe bei der deutschen Fassung dieses Kapitels.
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Neo-Gramscianishe Perspektiven
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1. Einleitung
Die globale politische Ökonomie ist im Wandel begriffen.1 Die
Entwicklungen seit den weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen
der 1970er Jahre führen dies deutlich vor Augen, und spätestens
mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus Anfang der 1990er
Jahre kann ein Ende der Nachkriegsordnung festgestellt werden.
Charakteristisch für die internationale Nachkriegsordnung war
das maßgeblich durch die USA geprägte System von Bretton
Woods, mit dem über den Internationalen Währungsfonds (IWF)
auf der Basis fester Wechselkurse mit dem Dollar als Leitwährung
die internationalen Finanzbeziehungen einerseits, mit dem Allge-
meinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) die internationalen
Handelsbeziehungen andererseits gesteuert wurden. Diese Ord-
nung basierte auf dem Prinzip des so genannten embedded libera-
lism. Dessen Grundgedanke war generell das Prinzip der Liberali-
sierung und des internationalen Freihandels. Es berechtigte die Re-
gierungen jedoch zum Zwecke innerer Stabilität und des sozialen
Friedens durch eine Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums
regulierend in ihre jeweilige nationale Volkswirtschaft einzugrei-
fen (daher embedded, vgl. Ruggie 1982) – ein Prinzip, das über
die westlichen Wohlfahrtsstaaten realisiert wurde.
Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich die Struktur-
merkmale des embedded liberalism seit Anfang der 1970er Jahre
aufgelöst haben und die Ordnung der so genannten Pax Americana
nicht mehr existiert. Die weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen
zu Beginn der 1970er Jahre, vor allem die Aufhebung der Gold-
1 Besonderer Dank geht an Marianne Bieler und Markus Peiter für ihre sprachli-
che Hilfe bei der deutschen Fassung dieses Kapitels.
372 Andreas Bieler und Adam David Morton
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2 So der Titel des Buches von Keohane 1984, mit dem er – an die Interdepen-
denzanalyse anknüpfend – die Regimetheorie maßgeblich begründete.
Neo-Gramscianishe Perspektiven 373
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3 Antonio Gramsci (1891-1937) war gegen Ende des Ersten Weltkrieges vor al-
lem als Herausgeber der Zeitung L’Ordine Nuovo (Neue Ordnung) in der Be-
triebsratsbewegung – einer radikalen Arbeiterbewegung – in Turin aktiv und
später an der Gründung der italienischen kommunistischen Partei beteiligt, de-
ren Vorsitz er bis zu seiner Verhaftung durch das faschistische Regime 1926 in-
nehatte. In der Zeit seiner Gefangenschaft verfasste er 33 Notizbücher, die unter
dem Titel „Gefängnishefte“ erstmals in den 1950er Jahren auf Italienisch, dann
in vielen anderen Sprachen veröffentlicht wurden.
4 Robert Cox lehrt und forscht seit 1977 als Politikwissenschaftler an der York
University von Toronto (Kanada). Zuvor war er Direktor des Internationalen In-
stituts für Arbeitsstudien bei der International Labour Organisation (ILO) und
Professor an der Columbia University in New York. Im Band von Cox 1996
findet sich eine kurz gehaltene Autobiographie bezüglich Cox’ intellektueller
Einflüsse.
374 Andreas Bieler und Adam David Morton
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(2) auf der Ebene des Staates bzw. der Staatsformen, die auf
jeweils historisch bedingten, miteinander verwobenen Komplexen
von Staat und Gesellschaft beruhen und
(3) auf der Ebene der jeweiligen Weltordnungen, die nicht nur
Phasen des Friedens und des Konflikts darstellen, sondern auch
die Möglichkeit bieten, darüber nachzudenken, wie alternative For-
men der Weltordnung entstehen könnten. Die Handlungsebenen
sind folgendermaßen schematisch präsentiert (Cox 1981: 138):
Soziale
Produktionsbeziehungen
Staatsformen Weltordnungen
Die „sozialen Kräfte“ als Akteure sind jeweils auf einer Ebene wie
auch übergreifend auf allen drei Ebenen aktiv. Daraus, dass das
Verhältnis zwischen den Handlungsebenen nicht linear, sondern
dialektisch gedacht wird, folgt für die wissenschaftliche Analyse,
dass jede dieser Ebenen eigenständiger Ausgangspunkt für eine
Untersuchung historischer Prozesse sein kann (Cox 1981: 153).
Cox argumentiert, dass sich auf jeder der drei Handlungsebenen
drei weitere reziproke Elemente zu historischen Strukturen verbin-
den, die für ein Verständnis der Entstehung von Hegemonie wich-
tig sind. Dies sind
(1) Ideen, die als intersubjektive Überzeugungen oder als kol-
lektive Vorstellungen von sozialer Ordnung verstanden werden,
(2) auf Ressourcen beruhende materielle Kapazitäten und
(3) Institutionen, durch die Ideen und materielle Bedingungen
miteinander auf eine spezifische Art und Weise verknüpft werden
und die als Mittel der Stabilisierung einer bestimmten Ordnung
fungieren.
Neo-Gramscianishe Perspektiven 377
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tisch dargestellt:
Ideen
Materielle
Kapazitäten Institutionen
Ein Historischer Block bezieht sich auf die Art und Weise, wie
führende soziale Kräfte eine Herrschaft über untergeordnete so-
ziale Kräfte innerhalb eines spezifischen nationalen Kontextes etab-
lieren. Dies ist mehr als eine einfache politische Allianz von Klas-
sen oder Klassenfraktionen. Der Terminus „Historischer Block“ be-
zieht sich auf die Integration verschiedener Klasseninteressen, die
überall in der Gesellschaft propagiert werden, „bringing about not
only a unison of economic and political aims, but also intellectual
and moral unity (…) on a ‚universal‘ plane“ (Gramsci 1971: 181-
182). Die Natur eines Historischen Blocks an sich beinhaltet not-
wendigerweise die Existenz von Hegemonie. Eine Hegemonie wer-
de etabliert, „if the relationship between intellectuals and people-
nation, between the leaders and the led, the rulers and the ruled, is
provided by an organic cohesion“ (Gramsci 1971: 418).
Diese Anliegen sind in der Betonung der verschiedenen Staats-
formen beinhaltet, die – wie Cox sagt – sich prinzipiell durch die
Merkmale ihres Historischen Blockes unterscheiden, d.h. durch
die Konfiguration sozialer Kräfte, auf der Staatsmacht letztlich be-
ruht. „A particular configuration of social forces defines in prac-
tice the limits or parameters of state purposes, and the modus op-
erandi of state action, defines, in other words, the raison d’état for
a particular state“ (Cox 1987: 105). Zusammenfassend: Durch das
Analysieren unterschiedlicher Staatsformen wird es möglich, die so-
ziale Basis eines Staates zu untersuchen oder den historischen ‚In-
halt‘ verschiedener Staaten zu erfassen. Ferner hilft dieses Konzept,
alternative Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen, indem es die
Widersprüche innerhalb eines Historischen Blocks, auf dem eine
Staatsform etabliert wurde, aufzeigt und herausarbeitet, welches Po-
tenzial eventuell für die Formierung eines rivalisierenden Histori-
schen Blocks und einer anderen Staatsform vorhanden ist (Cox
1987: 409).
Im Gegensatz zu konventionellen, staatsbezogenen Ansätzen
der IB ist eine breitere Staatstheorie Teil dieses neo-gramsciani-
schen Ansatzes, der eine Untersuchung des Komplexes von Staat
und Zivilgesellschaft miteinschließt. Anstatt Staatsmacht unter zu
bewerten und für nicht vorhanden zu erklären, ist die Aufmerk-
samkeit auf soziale Kräfte und Prozesse gerichtet und darauf, wie
Neo-Gramscianishe Perspektiven 381
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klasse“ voran getrieben wurde (Cox 1981: 147). Indem sie die Un-
terschiede im Bereich des Lohnniveaus und der sozialen Siche-
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9 Letztere werden auch häufig als „Amsterdamer Schule“ bezeichnet. Siehe dies-
bezüglich wie auch für einen Überblick der Arbeiten dieser Gruppe insbesonde-
re van Apeldoorn (2004). Die Etablierung solcher Schulen sollte jedoch vermie-
den werden, da dies die Gefahr einer Vereinfachung innerer Widersprüche be-
inhaltet und dadurch häufig zur Formierung orthodoxer Ansätze führt. Dies un-
tergräbt dann wiederum die theoretische Vielfalt und kritischen Intentionen die-
ser Wissenschaftler. Aus dem gleichen Grund sollte deshalb auch von neo-gram-
scianischen Perspektiven, also im Plural, und nicht vom Neo-Gramscianismus
gesprochen werden (Morton 2001).
10 Verwiesen sei ferner auf das von Stephen Gill und David Law verfasste Lehrbuch
zur Internationalen Politischen Ökonomie, das die theoretischen Grundlagen, die
Methodik und die empirische Anwendung neo-gramscianischer Perspektiven de-
nen des Mainstreams gegenüberstellt (Gill/Law 1988).
Neo-Gramscianishe Perspektiven 387
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dass für Gill ökonomische und politische Eliten wie die „transnatio-
nale Managerklasse“ eine weitaus größere Bedeutung besitzen als
für Cox (vgl. auch Gills empirische Untersuchung der Trilateralen
Kommission: Gill 1990). Gill legt seinen Schwerpunkt auf transna-
tionale Produktionsnetzwerke und geht der Frage nach, wie nationale
Regierungen im Prozess der Transnationalisierung Politikautonomie
verlieren, gleichzeitig jedoch selbst integrierter Teil und z.T. Träger
dieses Prozesses geworden sind.
Gill sieht eine vom transnationalen Kapital vorangetriebene
Umstrukturierung der Produktions- und Finanzbeziehungen und
damit das Entstehen eines neuen transnationalen Akkumulations-
regimes. Diese Entwicklung wird durch zwei Schlüsselprozesse
organisiert: den so genannten „neuen Konstitutionalismus“ (new
constitutionalism) des „disziplinären Neoliberalismus“ und die da-
mit einhergehende Verbreitung der Marktgesellschaft.
Kern des „neuen Konstitutionalismus“ ist die Verbreitung der
„Marktdisziplin“ – also makroökonomischer Prinzipien wie Markt-
effizienz, Disziplin und Wettbewerbsfähigkeit – sowie deren poli-
tisch-institutionelle Absicherung. Dahinter verbirgt sich „the move
towards the construction of legal or constitutional devices to re-
move or insulate substantially the new economic institutions from
popular scrutiny or democratic accountability“ (Gill 1992: 165).
Abgestützt wird dieser Prozess durch eine ebenfalls veränderte –
nunmehr neoliberal ausgerichtete – Politik der internationalen In-
stitutionen, v.a. des IWF, des GATT/WTO, der G7 sowie auch über
die regionalen Integrationsprozesse z.B. der EU und des Nordatlan-
tischen Freihandelsabkommens (NAFTA) (Gill 2001). Durch die
auf der Ideologie kapitalistischen Fortschritts basierende Verbrei-
tung des Konzepts der Marktgesellschaft und die sie begleitende
Etablierung ausgrenzender und hierarchischer politischer Struktu-
ren ziele der „neue Konstitutionalismus“ darauf ab, den Neolibera-
lismus als einzig mögliches und „gutes“ Entwicklungsmodell zu
präsentieren (Gill 1995: 399).
Gill weist – von Cox abweichend – darauf hin, dass die Konso-
lidierung des Neoliberalismus auf Supremacy (Vorherrschaft) und
nicht auf Hegemonie basiere. Supremacy beinhaltet die Dominanz
eines Historischen Blocks über eine fragmentierte Opposition (Gill
388 Andreas Bieler und Adam David Morton
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11 Für einen Sammelband mit Aufsätzen von Stephen Gill, siehe Gill (2008).
Neo-Gramscianishe Perspektiven 389
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12 “The manner in which the rule of capital is maintained is thus advanced best
through a nodal appreciation of state formation processes” (Morton 2007a: 150).
390 Andreas Bieler und Adam David Morton
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13 Für eine eingehende Diskussion dieser und weiterer Kritikpunkte, siehe Bie-
ler/Bonefeld/Burnham/Morton 2006.
Neo-Gramscianishe Perspektiven 391
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Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
Primärliteratur
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Bochmann mit einem Vorwort von Wolfgang Fritz Haug. Hamburg: Ar-
gument-Verlag. [Siehe spätere Jahrgänge für die Herausgabe der restlichen
Hefte auf Deutsch.]
Sekundärliteratur
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Bieling, Hans-Jürgen/Deppe, Frank 1996: Gramscianismus in der Internation-
alen Politischen Ökonomie: Eine Problemskizze, in: Das Argument 217,
729-40.
394 Andreas Bieler und Adam David Morton
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 139.18.240.1 aus dem Netz der USEB UB Leipzig am 31.03.2020
Cox, Robert 2000: The Way Ahead: Towards a New Ontology of World Or-
der, in: Wyn Jones, Richard (Hrsg.): Critical Theory and World Politics.
um 23:04 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Pijl, Kees van der 1984: The Making of an Atlantic Ruling Class. London: Verso.
Robinson, William I. 1996: Promoting Polyarchy: Globalisation, US Interven-
um 23:04 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Hans-Jürgen Bieling
1. Einleitung
Angesichts der wenigen, vereinzelten Arbeiten war in den 1950er
und 1960er Jahren die Disziplin der Internationalen Politischen
Ökonomie (IPÖ) praktisch nicht existent. Ihr fehlte nicht nur ein
klar abgegrenzter Untersuchungsbereich, auch standen innerhalb
der Disziplin der Internationalen Beziehungen sicherheitspoliti-
sche Fragestellungen eindeutig im Vordergrund. Erst gegen Ende
der 1960er Jahre kam es im Kontext einer veränderten weltwirt-
schaftlichen Konstellation – der nachholenden ökonomischen Ent-
wicklung in Westeuropa und Japan, der Vertiefung der europäi-
schen Integration und zunehmenden internationalen Interdepen-
denz, der wachsenden Bedeutung Transnationaler Konzerne
(TNKs), dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods
und der weltweiten Rezession 1974/75 – zu einer Art Neubegrün-
dung der IPÖ (vgl. Strange 1995a; Murphy/Nelson 2001; Bieling
2007: 10ff). In dieser Zeit wandten sich eine ganze Reihe von
Wissenschaftlern – unter anderem Robert Gilpin, Edward Morse,
David Baldwin, Robert Keohane und Joseph Nye – politökonomi-
schen Fragestellungen zu. Mit jeweils spezifischen analytischen
Konzeptionen untersuchten sie dabei das veränderte Verhältnis
und die Interaktion von Staaten, Märkten, internationalen Institu-
tionen und gesellschaftlichen Sozialbeziehungen (vgl. auch die
Beiträge von Manuela Spindler und Bernhard Zangl in diesem
Band).
Susan Strange (1923-1998) hat in dieser Diskussion vor allem
dadurch besondere Akzente gesetzt, dass sie die Aufmerksamkeit
auf die historisch-kritische Analyse der inter- und transnationalen
Machtstrukturen lenkte und danach fragte, wie und warum sich
das staatliche Handeln und die Operationsweise von Märkten ver-
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Hans-Jürgen Bieling
1. Einleitung
Angesichts der wenigen, vereinzelten Arbeiten war in den 1950er
und 1960er Jahren die Disziplin der Internationalen Politischen
Ökonomie (IPÖ) praktisch nicht existent. Ihr fehlte nicht nur ein
klar abgegrenzter Untersuchungsbereich, auch standen innerhalb
der Disziplin der Internationalen Beziehungen sicherheitspoliti-
sche Fragestellungen eindeutig im Vordergrund. Erst gegen Ende
der 1960er Jahre kam es im Kontext einer veränderten weltwirt-
schaftlichen Konstellation – der nachholenden ökonomischen Ent-
wicklung in Westeuropa und Japan, der Vertiefung der europäi-
schen Integration und zunehmenden internationalen Interdepen-
denz, der wachsenden Bedeutung Transnationaler Konzerne
(TNKs), dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods
und der weltweiten Rezession 1974/75 – zu einer Art Neubegrün-
dung der IPÖ (vgl. Strange 1995a; Murphy/Nelson 2001; Bieling
2007: 10ff). In dieser Zeit wandten sich eine ganze Reihe von
Wissenschaftlern – unter anderem Robert Gilpin, Edward Morse,
David Baldwin, Robert Keohane und Joseph Nye – politökonomi-
schen Fragestellungen zu. Mit jeweils spezifischen analytischen
Konzeptionen untersuchten sie dabei das veränderte Verhältnis
und die Interaktion von Staaten, Märkten, internationalen Institu-
tionen und gesellschaftlichen Sozialbeziehungen (vgl. auch die
Beiträge von Manuela Spindler und Bernhard Zangl in diesem
Band).
Susan Strange (1923-1998) hat in dieser Diskussion vor allem
dadurch besondere Akzente gesetzt, dass sie die Aufmerksamkeit
auf die historisch-kritische Analyse der inter- und transnationalen
Machtstrukturen lenkte und danach fragte, wie und warum sich
das staatliche Handeln und die Operationsweise von Märkten ver-
400 Hans-Jürgen Bieling
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Dies hat freilich Konsequenzen für das – oft nicht explizit dargelegte
– Erkenntnisinteresse: In der Mainstream-Diskussion geht es zu-
meist nur darum, den Ort der politischen Macht und Autorität zu er-
fassen und vielleicht noch in der Beantwortung der Lasswell’schen
Internationale Politische Ökonomie 403
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ten oder nationale Ökonomien mit sich bringen (vgl. Strange 1995a:
165). Für Strange ist eine solche Betrachtung jedoch viel zu eng an-
gelegt und dem Status Quo verhaftet. Wenn von ihr die Frage nach
dem „Cui bono?“ (Wem nützt es?) gestellt wird, so geschieht dies in
einer weiter ausgreifenden Perspektive. Den Ausgangspunkt ihrer
Analyse bilden dementsprechend nicht einfach unmittelbar die inter-
nationalen Akteure und Regime, sondern die tiefgreifenden sozio-
ökonomischen Veränderungen, über die sich der historische Wandel
der – gesellschaftlich verankerten – inter- und transnationalen
Machtverhältnisse erschließt (vgl. Strange 1976b; 1984: 272ff). Ne-
ben den primären Machtstrukturen wie Sicherheit, Produktion, Geld
und Finanzen sowie Wissen nimmt sie dabei auch die sekundären
Strukturen der Transport-, Handels-, Energie- und Wohlfahrtsorga-
nisation in den Blick (vgl. Strange 1994). Erst auf der Grundlage
dieser verschiedenen Macht- und Strukturkomponenten ist für sie zu
verstehen, warum und in welche Richtung sich der Nexus von Auto-
rität und Markt bzw. von Markt und Autorität stabilisiert oder aber
verändert.
Das Forschungsprogramm, das Susan Strange in diesem Sinne
entwickelt, setzt sich von den gängigen Analyserastern der US-
amerikanisch dominierten IPÖ in mehrfacher Hinsicht ab: Erstens
problematisiert Strange die Forschungspraxis einer unreflektierten
Komparatistik, die im Vergleich spezifischer nationaler Entwick-
lungspfade und Institutionensysteme die übergreifenden Kontext-
bedingungen – die Funktionsweise der internationalen politischen
Ökonomie – aus dem Blick verliert. Dies heißt nicht, dass für sie
vergleichende Untersuchungen überflüssig und sinnlos sind. Deren
Erkenntnisgewinn kommt jedoch nur dann zum Tragen, wenn sie
sich nicht ausschließlich auf den Nationalstaat oder die National-
ökonomie beziehen und in eine Konzeption der Transformation
inter- bzw. transnationaler Machtstrukturen eingebettet sind (vgl.
Strange 1997b). Zweitens richten sich ihre Einwände immer wie-
der gegen das von der neorealistischen Schule unterbreitete Inter-
pretationsraster und dessen Annahme einer autonomen, national-
staatlich basierten Machtpolitik (vgl. z.B. Strange 1996: 66ff). Ei-
ne solche Sichtweise ist für sie zum einen analytisch höchst frag-
würdig, liegt ihr doch eine künstliche Trennung von Ökonomie
404 Hans-Jürgen Bieling
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25ff; Helleiner 1994: 81ff; Scherrer 1999: 185ff). Neben der Ent-
stehung des Eurodollar-Marktes in den 1960er Jahren und der wohl-
überlegten Entscheidung der Nixon-Administration, das Fix-Kurs-
System von Bretton-Woods aufzugeben, erwähnt sie auch die nach-
folgende Deregulierungspolitik im Sinne der privaten Finanz-
marktakteure. Im Kern führt sie dies nicht – wie vor einiger Zeit in
der wissenschaftlichen Diskussion noch gemeinhin behauptet –
auf einen hegemonialen Abstieg der USA zurück, sondern auf ei-
nen Formwandel US-amerikanischer Hegemonialpolitik:
“(...) it was not the decline of American hegemonic power in the 1970s
and 1980s so much as its misuse, exploiting the system rather than
managing it, giving too much freedom and responsibility for credit
creation to banks, that was at the root of subsequent troubles. It was
the pursuit of short-term instead of long-term national interest that
sowed the seeds of monetary disorder and financial instability.”
(Strange 1994a: 104; ähnlich 1997a: 22f)
Die sich seit dem Jahr 2007 entfaltende globale Wirtschafts- und
Finanzkrise lässt sich als Ausdruck dieser von Strange bereits
recht früh untersuchten Instabilitätspotenziale begreifen (vgl. Bie-
ling 2009). Die von ihr entwickelte Analyseperspektive ist dabei
vor allem durch (finanz-)keynesianische Überlegungen geprägt
(vgl. Strange 1998b: 10ff). Danach ist ein entwickeltes Finanzsys-
tem für die dynamische Entwicklung einer kapitalistischen Ökono-
mie zwar höchst vorteilhaft, läuft ohne hinreichende – nationale
und internationale – politische Kontrolle jedoch Gefahr, sozial zer-
störerische Effekte und Instabilitäten zu produzieren.
(4) Die Wissensstruktur mag auf den ersten Blick als ein ‚Fremd-
körper‘ in der von Strange unterbreiteten „neuen realistischen On-
tologie“ erscheinen (vgl. Guzzini 2000), führt sie doch einige Ele-
mente in die Betrachtung ein, die den Ansatz auch für sozialkon-
struktivistische Überlegungen interessant machen (vgl. Tooze
2000a). Für Strange sind Wissen und Informationen Machtquellen,
die in der IPÖ nur allzu häufig übersehen und unterschätzt werden
(vgl. Strange 1994a: 119). Zugleich ist die Wissensstruktur und
die durch sie konstituierte Macht allerdings sehr schwer zu fassen.
Sie ist im Vergleich zu den anderen Strukturen nicht nur sehr weit
gefächert, sondern machttheoretisch auch eher negativ, d.h. vor
412 Hans-Jürgen Bieling
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Die Konzeption strukturaler Macht ist mehr als eine abstrakte, rein
formale Theoriefolie. Sie stellt ein historisch-heuristisches Inter-
pretationsraster dar, mit Hilfe dessen Strange zentrale Entwicklun-
gen und Umbruchprozesse in der internationalen politischen Öko-
nomie systematisch zu entschlüsseln versucht. In ihren Büchern
und Aufsätzen diskutiert sie konkret sehr viele Aspekte und Fa-
cetten. Für die neue Qualität der transnationalen Entwicklungsdy-
namik sind jedoch vor allem drei Tendenzen charakteristisch:
(1) Ganz allgemein beobachtet Strange (1984: 273ff; 1995b:
64ff; 1996) bereits seit längerem eine Transnationalisierung aller
vier Machtstrukturen. Am deutlichsten ist diese Entwicklung si-
cherlich in der Finanzstruktur, innerhalb derer sich in der Folge
unzähliger Deregulierungs- und Liberalisierungsschritte die Geld-
und Kreditbeziehungen dem nationalen Kontrollbereich mehr und
mehr entzogen haben, und transnational operierende private Fi-
nanzmarktakteure – Großbanken, Versicherungen, Pensions- und
Investmentfonds sowie Rating-Agenturen (vgl. Strange 1996:
122ff) – an politischer Definitions- und Gestaltungsmacht gewin-
nen. Die Produktionsstruktur hat sich ebenfalls stark transnationa-
lisiert. Im Zeichen eines verschärften internationalen Wettbewerbs
setzen die TNKs – über den Handel und Investitionen sowie über
ein investitionsbezogenes Bargaining – die nationale Wirtschafts-,
Steuer-, Finanz-, Infrastruktur- und Sozialpolitik zunehmend unter
Druck (vgl. Stopford/Strange 1991). Auch die Wissensstruktur hat
angesichts der neuen Informations- und Kommunikationstechno-
logien, global orientierter Medien- und Marketingunternehmen
und der grenzüberschreitenden Vernetzung von wissenschaftli-
chem Know How inzwischen eine sehr starke transnationale Di-
414 Hans-Jürgen Bieling
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Literaturverzeichnis
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424 Hans-Jürgen Bieling
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Sozialkonstruktivismus
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Cornelia Ulbert
1. Einleitung
Konstruktivistische Ansätze haben sich im Spektrum der Theorien
Internationaler Beziehungen mittlerweile fest etabliert.1 Unter die-
ser Bezeichnung werden allerdings eine Reihe der unterschiedlichs-
ten theoretischen Perspektiven zusammengefasst. Deren gemeinsa-
mer kleinster Nenner besteht in der Ausgangsannahme, dass sich
uns ‚Realität‘ nicht unmittelbar erschließt. ‚Soziale Welt‘, wie sie
uns zugänglich ist, wird vielmehr durch die Art und Weise kon-
struiert, wie wir mit anderen handeln, welche gemeinsam geteilten
Vorstellungen über ‚Welt‘ wir haben und wie wir unsere Umwelt
erfahren. Darüber hinaus wird es schon schwieriger zu definieren,
was ‚Konstruktivismus‘ in den Internationalen Beziehungen eigent-
lich bedeutet (vgl. Fierke/Jørgensen 2001: 4). Dies ist darauf zu-
rückzuführen, dass der sozialwissenschaftliche Konstruktivismus2
nicht nur als Theorie im engeren Sinne zu betrachten ist. Nach
Jørgensen gibt es vier unterschiedliche Verwendungsweisen des
Begriffs ‚Konstruktivismus‘, je nachdem auf welcher Ebene man
sich damit beschäftigt: den philosophischen Konstruktivismus,
Konstruktivismus als Meta-Theorie, konstruktivistische Theorie-
bildung und konstruktivistische empirische Forschung (Jørgensen
2001).
1 Für hilfreiche Anmerkungen zur Erstfassung dieses Beitrags danke ich Siegfried
Schieder und Manuela Spindler sehr herzlich.
2 Grundlegende Standardwerke zum Konstruktivismus in den Sozialwissenschaf-
ten, die auch in deutscher Sprache vorliegen, sind aus wissenssoziologischer
Perspektive Berger/Luckmann 1966 und aus sprachphilosophischer Perspektive
Searle 1995. Diese Werke verdeutlichen einerseits die soziologischen und ande-
rerseits die philosophisch-sprachanalytischen Wurzeln des Konstruktivismus.
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Sozialkonstruktivismus
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Cornelia Ulbert
1. Einleitung
Konstruktivistische Ansätze haben sich im Spektrum der Theorien
Internationaler Beziehungen mittlerweile fest etabliert.1 Unter die-
ser Bezeichnung werden allerdings eine Reihe der unterschiedlichs-
ten theoretischen Perspektiven zusammengefasst. Deren gemeinsa-
mer kleinster Nenner besteht in der Ausgangsannahme, dass sich
uns ‚Realität‘ nicht unmittelbar erschließt. ‚Soziale Welt‘, wie sie
uns zugänglich ist, wird vielmehr durch die Art und Weise kon-
struiert, wie wir mit anderen handeln, welche gemeinsam geteilten
Vorstellungen über ‚Welt‘ wir haben und wie wir unsere Umwelt
erfahren. Darüber hinaus wird es schon schwieriger zu definieren,
was ‚Konstruktivismus‘ in den Internationalen Beziehungen eigent-
lich bedeutet (vgl. Fierke/Jørgensen 2001: 4). Dies ist darauf zu-
rückzuführen, dass der sozialwissenschaftliche Konstruktivismus2
nicht nur als Theorie im engeren Sinne zu betrachten ist. Nach
Jørgensen gibt es vier unterschiedliche Verwendungsweisen des
Begriffs ‚Konstruktivismus‘, je nachdem auf welcher Ebene man
sich damit beschäftigt: den philosophischen Konstruktivismus,
Konstruktivismus als Meta-Theorie, konstruktivistische Theorie-
bildung und konstruktivistische empirische Forschung (Jørgensen
2001).
1 Für hilfreiche Anmerkungen zur Erstfassung dieses Beitrags danke ich Siegfried
Schieder und Manuela Spindler sehr herzlich.
2 Grundlegende Standardwerke zum Konstruktivismus in den Sozialwissenschaf-
ten, die auch in deutscher Sprache vorliegen, sind aus wissenssoziologischer
Perspektive Berger/Luckmann 1966 und aus sprachphilosophischer Perspektive
Searle 1995. Diese Werke verdeutlichen einerseits die soziologischen und ande-
rerseits die philosophisch-sprachanalytischen Wurzeln des Konstruktivismus.
428 Cornelia Ulbert
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Ontologie Epistemologie
Welt Wissen
von
Konstruktion
Wie
zugäng-
lich?
Methodologie
Ist Wendts Denken anfänglich noch von den Einsichten der Struk-
turierungstheorie geprägt, die vom Zusammenspiel zwischen Ak-
teur und Struktur ausgeht, so lässt sein Aufsatz „Anarchy is what
states make of it“ eine deutliche Weiterentwicklung hin auf Pro-
zesse sozialer Interaktion und die endogene Herausbildung von
Interessen und Ideen erkennen. In diesem Aufsatz bezeichnet er
seinen theoretischen Ansatz erstmalig in Anlehnung an die Be-
griffsprägung, die Nicholas Onuf vorgenommen hatte (Onuf 1989),
als „konstruktivistisch“ (Wendt 1992a: 393). Ausgangspunkt die-
ser theoretischen Weiterentwicklung ist die Auseinandersetzung
mit neorealistischen und neoliberalen Ansätzen, die ab der zweiten
Hälfte der 1980er Jahre die Theoriedebatte in den Internationalen
Beziehungen prägten. Wendt bemängelt, dass beide Richtungen in
dieser Debatte nicht in der Lage seien, die Herausbildung von In-
teressen und Identitäten zu erklären, was aber letztendlich Grund-
lage für das Verständnis von Wandel in der internationalen Politik
sei. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte sich die Disziplin
eingestehen müssen, die Prozesse, die zu diesem fundamentalen
Sozialkonstruktivismus 437
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ein Prozess sozialer Definition der Akteure, der auf den kollekti-
ven Akteursvorstellungen der Handelnden über sich und die Welt
basiert. Die Beschäftigung mit Identität ist deshalb so zentral, weil
Identitäten der Herausbildung von Interessen zugrunde liegen. Ak-
teure definieren ihre Interessen, anders als rationalistische Ansätze
annehmen, gleichzeitig in dem Prozess, in dem sie auch die zu-
grunde liegende Situation definieren. Institutionen kann man als re-
lativ stabile Gesamtheit oder ‚Struktur‘ dieser Interessen und Iden-
titäten fassen. Institutionen sind quasi geronnenes kollektives Wis-
sen über sich selbst und die Welt und existieren nie unabhängig von
den zugrunde liegenden Identitäten. Mit anderen Worten: Institutio-
nen und Identitäten bedingen sich gegenseitig.
Ausgehend von diesen Annahmen kritisiert Wendt die neorealis-
tische Lesart von Anarchie, wonach aus dem Fehlen einer überge-
ordneten Regelungsinstanz zwingend logisch folge, dass das inter-
nationale System ein Selbsthilfesystem sei, in dem Staaten Macht-
politik praktizieren müssten um überleben zu können. Für Wendt
ist Selbsthilfe nur eine mögliche Institution, die sich unter den Be-
dingungen von Anarchie herausbilden kann – aber nicht muss. Folg-
lich bezweifelt Wendt, dass es nur eine einzige zwingende ‚Logik
von Anarchie‘ auf der Makroebene des internationalen Systems
gibt. Nachdem klar sei, dass das außenpolitische Verhalten von
Staaten variiere, stelle sich die Frage, ob sich auf der Mikroebene
der zwischenstaatlichen Interaktion wirklich immer nur diese eine
Form des internationalen Systems als anarchischem Selbsthilfesys-
tem herausbilde (Wendt 1999: 247). Dieser Frage geht Wendt vor
allem im letzten Drittel der STIP nach. Für Wendt ist die Antwort
klar. Nach seinem strukturalistischen Verständnis konstruieren
zwar die anarchischen Strukturen die Einheiten, aber diese Struk-
turen können sehr wohl auf der Makroebene unterschiedliche Aus-
prägungen haben, weshalb das internationale System unterschied-
lich gestaltet sein kann.
Diese Sichtweise auf Anarchie eröffnet sich dann, wenn man
die Struktur des internationalen Systems nicht als materielle, son-
dern als soziale Struktur versteht. Dementsprechend geht Wendt
davon aus, dass sich mindestens drei verschiedene Strukturen im
internationalen System unterscheiden lassen, je nachdem von wel-
Sozialkonstruktivismus 439
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hoch niedrig
Gewaltbereitschaft
Glaube an
Legitimität
Maß der
kulturellen In-
ternalisierung Eigennutz
von Normen
basierend auf
Zwang
Maß an Kooperation
(ablesbar an Zunahme geteilter Ideen)
11 Zentral für die Ansätze von Onuf und Kratochwil sind die jeweiligen Haupt-
werke World of Our Making (Onuf 1989) und Rules, Norms, and Decisions
(Kratochwil 1989). Mit ihren Schwerpunkten auf philosophischen und wissen-
schaftstheoretischen Ausführungen sind beide Werke jedoch nicht als Einfüh-
rungslektüre zu empfehlen.
Sozialkonstruktivismus 447
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12 Vgl. etwa die Beiträge in Katzenstein 1996 oder die sehr unterschiedlichen Her-
angehensweisen von Campbell 1992 und Checkel 1999.
450 Cornelia Ulbert
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13 Vgl. hierzu beispielsweise die Kritik von Shannon an Wendts Prognose von der
Unvermeidlichkeit der Herausbildung eines Weltstaats (Shannon 2005).
Sozialkonstruktivismus 451
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14 Vgl. hierzu die Beiträge von Alker, Doty, Keohane, Krasner und Smith sowie
die Entgegnung von Wendt in der Review of International Studies 26: 1, 2000.
452 Cornelia Ulbert
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thought into the old framework“ (Wight 2002: 40). Insofern kann
aus der Wahrnehmung der traditionellen Theorie der internationalen
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Literaturverzeichnis
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Kritische Theorie
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Christoph Humrich
1. Einleitung
Max Horkheimer schreibt im Nachwort zum namensgebenden Auf-
satz der Kritischen Theorie, dieser gehe es „um die Menschen mit
allen ihren Möglichkeiten“ (Horkheimer 1970: 58; Hervorh. C.H.).
Kritische Theorie sieht ihre Aufgabe in der Identifizierung, Kritik
und Überwindung von Mechanismen und Strukturen, die Men-
schen von der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten ausschließen.
Sie identifiziert und kritisiert mit anderen Worten Exklusionssys-
teme und möchte zu deren Überwindung, d.h. zur Emanzipation,
beitragen. Dazu engagiert sich kritische Theorie auf zwei Ebenen.
Auf der Ebene der gesellschaftlichen Exklusionspraxis lassen
sich vom Fehlen der Möglichkeit menschenwürdiger Existenz über
die Einschränkung von Rechten bis hin zu verminderten Chancen
für berufliche Karrieren aufgrund von Geschlecht, Rasse oder
Staatsangehörigkeit eines Menschen vielfältige Arten der Exklu-
sion ausmachen. Auf der Ebene der Theorie grenzt sich die kriti-
sche Theorie aktiv von in ihren Augen nicht-kritischer Theorie ab.
Diese nicht-kritischen Theorien werden als traditionelle, „problem-
lösende“ („problem-solving“) oder positivistische Theorien be-
zeichnet. Der Vorwurf lautet, dass diese Theorien mit ihrem Ver-
such, allgemeine Zusammenhänge in der Welt zu entdecken, die
Welt mit diesen Zusammenhängen zu erklären und auf ihrer Grund-
lage Lösungen für akute Probleme anzubieten, nur zur Reproduk-
tion bestehender Exklusionssysteme beitragen. Sie tun dies, weil
Zusammenhänge oder Bestandteile der sozialen Welt im Rahmen
von Erklärungen oder Problemlösungen als quasi-natürliche und
daher unveränderbare Regelmäßigkeiten bzw. Parameter behandelt
werden. Solche falschen Naturalisierungen will die kritische
Theorie sowohl durch theoretische Reflexion als auch durch empi-
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Kritische Theorie
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Christoph Humrich
1. Einleitung
Max Horkheimer schreibt im Nachwort zum namensgebenden Auf-
satz der Kritischen Theorie, dieser gehe es „um die Menschen mit
allen ihren Möglichkeiten“ (Horkheimer 1970: 58; Hervorh. C.H.).
Kritische Theorie sieht ihre Aufgabe in der Identifizierung, Kritik
und Überwindung von Mechanismen und Strukturen, die Men-
schen von der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten ausschließen.
Sie identifiziert und kritisiert mit anderen Worten Exklusionssys-
teme und möchte zu deren Überwindung, d.h. zur Emanzipation,
beitragen. Dazu engagiert sich kritische Theorie auf zwei Ebenen.
Auf der Ebene der gesellschaftlichen Exklusionspraxis lassen
sich vom Fehlen der Möglichkeit menschenwürdiger Existenz über
die Einschränkung von Rechten bis hin zu verminderten Chancen
für berufliche Karrieren aufgrund von Geschlecht, Rasse oder
Staatsangehörigkeit eines Menschen vielfältige Arten der Exklu-
sion ausmachen. Auf der Ebene der Theorie grenzt sich die kriti-
sche Theorie aktiv von in ihren Augen nicht-kritischer Theorie ab.
Diese nicht-kritischen Theorien werden als traditionelle, „problem-
lösende“ („problem-solving“) oder positivistische Theorien be-
zeichnet. Der Vorwurf lautet, dass diese Theorien mit ihrem Ver-
such, allgemeine Zusammenhänge in der Welt zu entdecken, die
Welt mit diesen Zusammenhängen zu erklären und auf ihrer Grund-
lage Lösungen für akute Probleme anzubieten, nur zur Reproduk-
tion bestehender Exklusionssysteme beitragen. Sie tun dies, weil
Zusammenhänge oder Bestandteile der sozialen Welt im Rahmen
von Erklärungen oder Problemlösungen als quasi-natürliche und
daher unveränderbare Regelmäßigkeiten bzw. Parameter behandelt
werden. Solche falschen Naturalisierungen will die kritische
Theorie sowohl durch theoretische Reflexion als auch durch empi-
462 Christoph Humrich
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2 Daher wird in diesem Kapitel oft auf Konzepte von Habermas Bezug genom-
men, die aus Platzgründen allerdings nicht im Einzelnen erklärt werden können.
Stattdessen wird auf die Einführung von Müller-Doohm (2008) und das Haber-
mas-Handbuch von Brunkhorst/Kreide/Lafont (2009) verwiesen.
3 In der Bundesrepublik Deutschland kam die kritische Theorie schon Ende der
1960er Jahre als Kritische Friedensforschung auf. Dieses Kapitel beschränkt
sich auf die anglophone Diskussion, weil deutsche kritische Theoretiker der In-
ternationalen Beziehungen und kritische Theorie in den deutschen Internatio-
nalen Beziehungen heute keine Rolle mehr spielen (vgl. Humrich 2006).
464 Christoph Humrich
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löst werden, die den Kreis der „Insider“ erweitern oder Exklusions-
formen wenigstens abmildern.
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lyse der Lernformen und ihrer Interaktion ist Teil von Linklaters
opus magnum „The Transformation of Political Community. Ethi-
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Dass der Staat ein doppeltes Exklusionssystem ist, lässt sich schwer-
lich leugnen. Aber dies moralisch gerechtfertigt zu kritisieren, ist
eine nicht unbeträchtliche Herausforderung, wenn man bedenkt,
dass die meisten politischen Theorien sich bemüht haben, legitime
Formen des Staates normativ abzusichern. Linklater muss sich bei
dieser Aufgabe auf die normative Basis des moralischen Univer-
salismus stützen: „Universalism (…) desires what no morally ex-
clusive community can supply, namely a politics of impartiality
which takes the welfare of all humans into account“ (Linklater
1990b: 49; Hervorh. C.H.). Er muss also diese Basis moralisch
rechtfertigen können, wenn seine Kritik Bestand haben soll. Die
Hauptlast dieser Rechtfertigung wird von einer negativen Argu-
mentationsstrategie getragen. Linklater argumentiert für den mo-
ralischen Universalismus, indem er Kritik an ihm zurückweist. Er
behandelt darum drei eng miteinander verknüpfte Argumente ge-
gen den Universalismus, die er bei den Historisten des 19. Jahr-
hunderts (Meinecke, Treitschke), bei postmodernen (u.a. Foucault,
Lyotard, Rorty) und feministischen Autoren (u.a. Gilligan, Fraser)
findet.
Die Historisten versuchten nachzuweisen, dass die universali-
stischen Ethiken, wie Linklater Friedrich Meinecke zitiert, „always
bring with them a clump of native soil from the national sphere, a
sphere that no individual can completely leave behind“ (Linklater
1998b: 65). Das bedeutet, dass universalistische Ethik im Zwei-
felsfall doch nur partikularistisch ist und dazu missbraucht werden
kann, das eigene partikulare Interesse im Namen der Menschheit
zu rechtfertigen. Dieses Argument teilen auch postmoderne Kriti-
ker, die aufgrund epistemologischer Vorbehalte behaupten, eine
nicht exklusive, für alle Menschen gültige Ethik sei prinzipiell
nicht möglich.
Insbesondere die feministische Kritik hat dem Universalismus
Differenz-Blindheit vorgeworfen. Indem er unparteilich die Wohl-
fahrt aller im Auge habe, betrachte der Universalismus nur „gene-
ralisierte Andere“, d.h. abstrakte Personen, denen ganz unabhän-
gig von den Differenzen in ihren tatsächlichen Bedürfnissen
Kritische Theorie 469
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dürfnisse des „konkreten Anderen“ eingeht und vor allem mit dem
moralischen Handeln von Frauen in Verbindung gebracht wird
(Linklater 1996a: 291). Die bisher genannten Kritiken argumentie-
ren also, dass universalistische Ethik selbst zum Exklusionsmecha-
nismus werden kann. Gerade weil universalistische Ethik von kon-
kreten Verhältnissen abstrahieren muss, wird ihr außerdem vorge-
worfen, sie sei zu abstrakt, um Menschen zum Handeln zu bewe-
gen. Dadurch könne sie nicht politisch wirksam werden.
Linklaters moraltheoretisches Hilfsmittel bei der Zurückwei-
sung der Kritik am moralischen Universalismus ist die von Karl-
Otto Apel und Habermas entwickelte Diskursethik.4 Die Diskur-
sethik postuliert, dass eine Norm legitime Gültigkeit nur beanspru-
chen kann, wenn sie die Zustimmung aller von ihr Betroffenen in
einem herrschaftsfreien Diskurs erhält. Dass Menschen von Ent-
scheidungen ausgeschlossen werden, die sie betreffen, widerspricht
also der diskursethischen Auffassung legitimer Normen. Die Einen-
gung der Entscheidenden auf eine begrenzte Gemeinschaft (z.B. der
Staatsbürger) ist diskursethisch nicht zu rechtfertigen, wenn die
Folgen der Entscheidung auch Menschen außerhalb dieser Ge-
meinschaft betreffen (Linklater 1996a: 193).
Der Kritik der Historisten kann Linklater nun entgegenhalten,
dass die Diskursethik die Möglichkeit einer durch universalisti-
sche Begriffe verkleideten partikularen Moral verhindert, denn de-
ren Argumente würden in einem herrschaftsfreien Diskurs nicht
konsensfähig sein. Durch die Forderung nach der zwanglosen Zu-
stimmung aller Betroffenen will die Diskursethik stattdessen wirk-
liche Universalität garantieren. Der postmodernen Kritik nimmt
Linklater Wind aus den Segeln, indem er zeigt, dass sich in ihren
praktischen Vorschlägen diskursethische Grundsätze widerspie-
geln. Zumindest implizit teilen viele postmoderne Theoretiker die
diskursethische Überzeugung, dass „the legitimacy of systems of
exclusion ought to be decided in open dialogue“ (Linklater 2001a:
28f). Gegen den Vorwurf der Differenz-Blindheit lässt sich mit
zwei Hauptargumenten Position beziehen. Erstens hat die Forde-
4 Zur Diskursethik vgl. Apel (1997), Habermas (1992) und Linklater (1998b: 85-
108).
470 Christoph Humrich
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sollte eine Ethik, die Akteure motivieren will, auch darauf fokus-
sieren. Zwar kann in rationalen Diskursen entschieden werden,
was moralisch geboten ist, aber die Motivation, das auch umzuset-
zen, wird möglicherweise dadurch nicht hinreichend erzeugt.
Auch bei diesem Gedanken steht eher die Soziologie von Elias
und die frühe kritische Theorie von Horkheimer und Adorno als
die vernunftzentrierte Diskursethik von Habermas Pate (Linklater
2007b).
Auf den „indispensible Elias“ kommt Linklater schließlich noch
einmal in der praxeologischen Dimension zurück (2009: 3). Hier
reflektiert er über die Rolle von Theorie und von „großen Erzäh-
lungen“. Elias glaube, so Linklater, an die Möglichkeit einer gro-
ßen Erzählung der Menschheitsgeschichte. Eine solche Erzählung
könne die meist vorherrschende kurzfristige Perspektive der Poli-
tik zugunsten langfristigen Denkens beeinflussen. Der Lehre von
den internationalen Beziehungen schreibt Linklater bei der Kon-
struktion einer solchen Erzählung eine entscheidende Rolle zu.
schung, die sich in der einen oder anderen Weise zentrale Gedan-
ken von Habermas zu Nutze gemacht hat, liefert wertvolle Bau-
steine für eine auf dem kommunikativen Paradigma aufbauende
kritische Theorie der Internationalen Beziehungen.5
Die Arbeiten, die innerhalb der Internationalen Beziehungen
auf Habermas Bezug nehmen, lassen sich vier theoretischen Berei-
chen zuordnen. Diese vier Bereiche sind (1) die Handlungstheorie,
(2) die Diskursethik, (3) die Theorie politischer Institutionen und
(4) die Gesellschaftstheorie. Für jeden theoretischen Bereich kann
man zeigen, dass sich die in ihm entstandene Forschung mit Link-
laters Theorieprogramm sinnvoll ergänzt.
(1) Die auf dem Begriff der kommunikativen Rationalität auf-
bauende Handlungstheorie ist die Grundlage des kommunikativen
Paradigmas (Habermas 1995a). Habermas behauptet, dass die ra-
tionale Verwendung von Sprache durch kompetente Sprecher die
Orientierung an einer Verständigung über den zwanglosen Zwang
des besseren Arguments einschließt. Kommunikativ handeln Ak-
teure, wenn sie ihre Interessen allein über den „zwanglosen Zwang“
des besseren Arguments koordinieren (Habermas 1995a: 28). Ak-
teure kommunizieren dann so, als ob sie sich in einer von der Dis-
kursethik geforderten idealen Kommunikationsgemeinschaft be-
finden würden. Doch findet kommunikatives Handeln in realen
politischen Prozessen überhaupt statt? Durch die zentrale Stellung
von Dialog und Lernprozessen in seiner Theorie benötigt Linklater
dafür einen konkreten Nachweis. Diesen liefern inzwischen zahl-
reiche Arbeiten, die typischerweise untersuchen, welche Rolle kom-
munikatives Handeln in internationalen Interaktionen gespielt hat.6
Innerhalb des größeren Kontextes dieser Debatte sind einerseits
Macht und Geld. Die Systeme sind auf Legitimierung durch Ver-
ständigung angewiesen. Gleichzeitig dringen sie aber immer mehr
in den Bereich der Lebenswelt vor. Durch diese „Kolonialisierung
der Lebenswelt“ bedrohen sie die eigene Legitimationsgrundlage.
Die zweite zentrale Idee ist, dass in der Lebenswelt sich erfolgreich
modernisierender Gesellschaften moralisch-praktische Lernprozesse
stattfinden, die es ermöglichen, durch Demokratisierung des Rechts,
die lebensweltliche Verständigung wieder mit dem System zu ver-
koppeln.
Linklater lässt die erste Idee außer Acht. Dabei ließen sich
vielleicht gerade mit der System-Lebenswelt-Unterscheidung pro-
blematische Entwicklungen untersuchen: zum Beispiel Konflikte
zwischen dem globalisierten ökonomischen System und lokalen
Lebenswelten. Ein weiteres Beispiel wären die Legitimationsdefi-
zite in politischen Systemen, die rationalisierte Lebensweltstruktu-
ren voraussetzen, aber in noch weitgehend traditionalen Gesell-
schaften institutionalisiert werden (Anievas 2005; Jones 2001; Jung
2001).8
Aber auch von der zweiten Idee macht Linklater nur zurück-
haltend Gebrauch. Statt Verrechtlichung nachzuvollziehen, geht es
ihm eher um das Aufzeigen einer groben makro-soziologischen
Wandlungstendenz in der internationalen Gesellschaft. Er bietet
keine direkten Analysen der Entwicklung des Völkerrechts oder
des moralisch-praktischen Lernens an. Neta Crawford hat demge-
genüber detailliert innerhalb eines im weiten Sinne Haber-
mas’schen Rahmens Entkolonialisierung als Lernprozess unter-
sucht (2002). Eine Analyse der Evolution des Völkerrechts entlang
der Linien von Habermas’ Gesellschaftstheorie ist bereits als De-
sideratum identifiziert worden, aber bisher noch nicht in Angriff
genommen worden (Albert 2002; vgl. Humrich 2007).
Zu guter Letzt sollte erwähnt werden, dass auch Habermas sich
in den letzten Jahren ausführlicher zu Themen der internationalen
Politik geäußert hat. Diese Äußerungen bewegen sich im Rahmen
8 Martin Weber (2005) hat daher Recht, wenn er resümiert, dass Habermas’ Ge-
sellschaftstheorie als theoretische Ressource bisher nur eine untergeordnete Rol-
le in den Internationalen Beziehungen gespielt hat.
Kritische Theorie 483
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noch weiter vom normativen Ziel entfernt sind. Die Forderung ei-
nes gleichberechtigten Diskurses wird aber zur Farce, wenn einem
Dialogpartner von vornherein unterstellt wird, auf der Entwick-
lungsleiter zurückgeblieben zu sein (Jahn 1998: 633ff). Wenn
Linklater durch das implizite Postulat der moralischen Überlegen-
heit die Hegemonie des Westens und Interventionen argumentativ
untermauert, trägt er genauso wie traditionelle Theorien zum Be-
stand der entsprechenden exklusiven Mechanismen bei. Verkleidet
als kritischer Theoretiker käme Linklater also als Wolf im Schafs-
pelz daher.
Gegen das kommunikative Paradigma Kritischer Theorie richtet
sich zum anderen der Vorwurf, auf die konkrete empirische Ana-
lyse von internationaler Politik bisher verzichtet zu haben (z.B.
Elshtain 1999, Eckersley 2008). Gerade weil die Diskursethik
nicht auf konkrete Inhalte, sondern auf die Form von Kommuni-
kation gerichtet ist, fehle ein theoretisches und begriffliches In-
strumentarium, um wirkliche Diskurse angemessen zu analysieren.
Damit vernachlässige sie die Ebene der Exklusionspraxis und
bleibe praxeologisch irrelevant. Was den möglichen Beitrag einer
kritischen Theorie der Internationalen Beziehungen zur dreifachen
Transformation des „Westfälischen Systems“ angeht, muss diese
sich daher als Schaf im Wolfspelz bezeichnen lassen.
Auf der einen Seite kommt Linklater beiden Vorwürfen durch
seine Neuausrichtung an den Cosmopolitan Harm Conventions
entgegen. Die Typologie von Schadensformen, die er mit Hilfe
von Elias entwickelt, bieten einen direkten Ansatzpunkt für die Ana-
lyse der Inhalte von entsprechenden politischen Diskursen. Der
Rückzug auf die moralisch schwächere Forderung der Vermei-
dung von Leid und die Betonung von gesellschaftlich je individu-
ellen Prozessen der Zivilisation nimmt sicher den scharfen Angrif-
fen von Jahn einigen Wind aus den Segeln.
Auf der anderen Seite ist aber fraglich, wie weit Linklaters Be-
teuerungen in Bezug auf die Enthaltsamkeit bei Urteilen über die
moralische Entwicklungsfähigkeit gehen. Am Beispiel seiner
Stellungnahme zur Kosovo-Intervention der NATO lässt sich das
Problem verdeutlichen. Hier fragt er „whether Europeans can rea-
sonably lay claim to what might be called regional exceptional-
Kritische Theorie 485
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Thomas Diez
1. Einleitung
In einem in der deutschsprachigen Politikwissenschaft weithin be-
kannten Artikel hat Max Kaase die Analyse politischer Kultur ein-
mal mit dem Versuch verglichen, „einen Pudding an die Wand zu
nageln“ (Kaase 1983). Kaases polemische Metapher trifft, wenn
auch mit einer ironischen Wendung, ebenso auf einen einführen-
den Überblick über postmoderne Ansätze in den Internationalen
Beziehungen zu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist
das, was Kaase „Kultur“ nennen würde, ein zentraler Untersu-
chungsgegenstand für postmoderne Analysen. Zum anderen ver-
wahren sich die meisten postmodernen Theoretiker gegen eine so
einfache Kategorisierung (Campbell 1998a: 4). Sie sind sich be-
wusst, dass das Label „postmodern“, wie alle Labels, der Komple-
xität eines Arguments nicht gerecht werden kann und oftmals be-
nutzt wird, um Argumente leichtfertig als irrelevant oder gar ge-
fährlich weil relativistisch abzutun (siehe zu letzterem Punkt die
Diskussion in Abschnitt 4).1
Diese Problematisierung auch der eigenen Identität wird von
postmodernen Theoretikern aber nicht als Nachteil, sondern als
Befreiung vom wissenschaftlichen Schablonendenken aufgefasst.
Kategorisierungen sind ihnen suspekt. Zudem sehen sie eine Tu-
gend im ständigen Hinterfragen der eigenen Annahmen, weil sie,
wie wir noch sehen werden, eine objektive Erfassung der Wirk-
lichkeit für nicht möglich halten. Deswegen ist gerade in der eng-
lischsprachigen Literatur häufig von „reflexiven“ Ansätzen die
Rede (Smith 2001, der jedoch auch andere Ansätze darin ein-
1 Für ihre wertvollen Kommentare danke ich Stefano Guzzini und Jürgen Haacke.
Die Herausgeber dieses Bandes sowie Julia Grauvogel waren besonders behilf-
lich bei der Überarbeitung des Textes für die 3. Auflage.
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Postmoderne Ansätze
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Thomas Diez
1. Einleitung
In einem in der deutschsprachigen Politikwissenschaft weithin be-
kannten Artikel hat Max Kaase die Analyse politischer Kultur ein-
mal mit dem Versuch verglichen, „einen Pudding an die Wand zu
nageln“ (Kaase 1983). Kaases polemische Metapher trifft, wenn
auch mit einer ironischen Wendung, ebenso auf einen einführen-
den Überblick über postmoderne Ansätze in den Internationalen
Beziehungen zu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist
das, was Kaase „Kultur“ nennen würde, ein zentraler Untersu-
chungsgegenstand für postmoderne Analysen. Zum anderen ver-
wahren sich die meisten postmodernen Theoretiker gegen eine so
einfache Kategorisierung (Campbell 1998a: 4). Sie sind sich be-
wusst, dass das Label „postmodern“, wie alle Labels, der Komple-
xität eines Arguments nicht gerecht werden kann und oftmals be-
nutzt wird, um Argumente leichtfertig als irrelevant oder gar ge-
fährlich weil relativistisch abzutun (siehe zu letzterem Punkt die
Diskussion in Abschnitt 4).1
Diese Problematisierung auch der eigenen Identität wird von
postmodernen Theoretikern aber nicht als Nachteil, sondern als
Befreiung vom wissenschaftlichen Schablonendenken aufgefasst.
Kategorisierungen sind ihnen suspekt. Zudem sehen sie eine Tu-
gend im ständigen Hinterfragen der eigenen Annahmen, weil sie,
wie wir noch sehen werden, eine objektive Erfassung der Wirk-
lichkeit für nicht möglich halten. Deswegen ist gerade in der eng-
lischsprachigen Literatur häufig von „reflexiven“ Ansätzen die
Rede (Smith 2001, der jedoch auch andere Ansätze darin ein-
1 Für ihre wertvollen Kommentare danke ich Stefano Guzzini und Jürgen Haacke.
Die Herausgeber dieses Bandes sowie Julia Grauvogel waren besonders behilf-
lich bei der Überarbeitung des Textes für die 3. Auflage.
492 Thomas Diez
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ihre Objekte als ‚foreign‘ konstituieren, während sie mit ihnen um-
gehen“, und Foreign Policy als der spezifisch staatlichen Form
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Typisch für Campbell ist aber auch, dass er aus der Kritik her-
aus auch die Möglichkeit zur Veränderung sieht. Ziel muss ihm zu
Folge eine außenpolitische Orientierung sein, die eine „in sich
vielfältige Welt“ respektiert und nicht aufbaut „auf dem Verlangen
zu begrenzen, beherrschen und drohende Möglichkeiten mit Ge-
walt einzudämmen“ (Campbell 1992: 252). Dies, so Campbell,
setzt voraus, dass wir erkennen, dass wir unsere Identität jenem
„Anderen“ verdanken, das wir durch das Schreiben von Sicherheit
in der Außenpolitik bekämpfen. In diesem Grundgedanken mani-
festieren sich bereits die späteren Arbeiten Campbells, die sich
verstärkt der Frage einer internationalen Ethik widmen.
kratie bei, die nicht nur auf Institutionen aufbaut, sondern ein spe-
zifisch demokratisches Ethos beinhaltet. Für Bosnien wäre die
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Zwar lassen sich postmoderne Ansätze nicht auf die von Campbell
vorgetragenen Ideen reduzieren, nichtsdestotrotz können letztere
aber als typisch für eine wesentliche Strömung gelten, in der Fra-
gen nach der Konstitution nationaler Identitäten und des nationa-
len Interesses vor allem in Abgrenzung zu einem „Anderen“ im
Mittelpunkt stehen. Dazu lässt sich etwa auch R. B. J. Walkers
viel zitiertes bisheriges Hauptwerk Inside/Outside: International
Relations as Political Theory zählen, in dem Walker die Grenze
zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Staates problemati-
siert, internationale Beziehungen als wesentlichen Bestandteil der
Genese des modernen Staates ansieht und somit gewissermaßen
eine gründliche politiktheoretische Unterfütterung für Campbells
Werk liefert (Walker 1993). Neben dieser Thematik lassen sich
aber noch mindestens zwei andere wichtige Entwicklungstenden-
zen hervorheben.
Zum einen sind Arbeiten zu nennen, die zwar einerseits im
analytischen Postmoderne-Verständnis verankert sind, andererseits
aber ihr hauptsächliches Augenmerk auf Veränderungen der Ge-
genwart richten, die oftmals als Kennzeichen einer epochal ver-
standenen Postmoderne angesehen werden. Dazu zählen etwa die
Entwicklung des Internets und anderer neuer Kommunikations-
formen oder der Waffentechnologie. Die Frage, die sich hierbei
stellt, ist, inwieweit solche Entwicklungen unser Bild internatio-
naler Politik verändern. Spielt Geschwindigkeit etwa eine zuneh-
mende Rolle in der Bestimmung internationaler Ereignisse? Haben
neue Medientechnologien unsere Konzeption von „Krieg“ nach-
haltig verändert und mit welchen politischen und ethischen Kon-
sequenzen? Welche neuen politischen Räume entstehen durch die
zunehmende Beweglichkeit von Menschen, Kapital, Gütern und
Dienstleistungen? Wie verändert sich gewaltsamer Konfliktaustrag
im Zeitalter von Computersimulationen, intelligenten Bomben und
der Vervielfältigung von Akteuren, die solche Technologien besit-
zen?
Der oben bereits erwähnte James Der Derian (1992, 2009), aber
auch Autoren wie Mathias Albert (1996) als einer der wenigen
deutschen Autoren, die mit postmodernen Ansätzen in den Inter-
nationalen Beziehungen gearbeitet haben, sind diesen und anderen
Postmoderne Ansätze 509
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raten lassen, indem sie Gedichte, Filme und Bilder an zentraler Stel-
le in ihre Analysen internationaler Politik einbeziehen (vgl. Blei-
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4.1 Sozial-Wissenschaft?
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4.2 Relativistisch?
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Literatur geht dahin, dass sich die Wogen nach den anfänglichen
Auseinandersetzungen um den künftigen Weg einer kritischen
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4.3 Unverständlich?
Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Danchev, Alex/Walker, R.B.J. 2006: Art and Politics. Special Issue of Alter-
natives: Global, Local, Political, 31: 1.
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Feministische Ansätze
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Barbara Finke
1. Einleitung
Eindeutiger als andere Strömungen der politischen Theorie sind
feministische Ansätze mit einer politisch-gesellschaftlichen Bewe-
gung, der Frauenbewegung, verknüpft. Entsprechend haben femi-
nistische Theorie und politische Praxis der Frauenbewegung ein-
ander immer wieder befruchtet. Die Frauenbewegung gehört, wie
auch die Arbeiterbewegung, zu den „alten“ sozialen Bewegungen,
die im Zuge der Modernisierung im 19. Jahrhundert in Europa und
Nordamerika entstanden sind. Der Zweite Weltkrieg und die damit
verbundenen Veränderungen markieren die Bruchstelle zwischen
alten und neuen sozialen Bewegungen, wobei letztere üblicherwei-
se mit dem politisch-gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er und
1970er Jahre assoziiert werden. Die europäischen und amerikani-
schen Bürgerrechts- und Studentenbewegungen der 1960er Jahre
wurden zum Ausgangspunkt für eine Erneuerung der Frauenbe-
wegung,1 die in den 1970er Jahren eine besondere Dynamik ent-
wickelte. Im Mittelpunkt stand das Motto „auch das Private ist po-
litisch“, das bis heute als Bezugspunkt für die Thematisierung von
Gleichberechtigung und Geschlechterproblematik dient.
Während die öffentliche Aufmerksamkeit für die Frauenbewe-
gung seit Ende der 1970er Jahre nachgelassen hat, ist die feminis-
tische politische Theorie seitdem entscheidend weiterentwickelt
worden und hat – wenn auch relativ spät – in die Internationalen
Feministische Ansätze
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Barbara Finke
1. Einleitung
Eindeutiger als andere Strömungen der politischen Theorie sind
feministische Ansätze mit einer politisch-gesellschaftlichen Bewe-
gung, der Frauenbewegung, verknüpft. Entsprechend haben femi-
nistische Theorie und politische Praxis der Frauenbewegung ein-
ander immer wieder befruchtet. Die Frauenbewegung gehört, wie
auch die Arbeiterbewegung, zu den „alten“ sozialen Bewegungen,
die im Zuge der Modernisierung im 19. Jahrhundert in Europa und
Nordamerika entstanden sind. Der Zweite Weltkrieg und die damit
verbundenen Veränderungen markieren die Bruchstelle zwischen
alten und neuen sozialen Bewegungen, wobei letztere üblicherwei-
se mit dem politisch-gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er und
1970er Jahre assoziiert werden. Die europäischen und amerikani-
schen Bürgerrechts- und Studentenbewegungen der 1960er Jahre
wurden zum Ausgangspunkt für eine Erneuerung der Frauenbe-
wegung,1 die in den 1970er Jahren eine besondere Dynamik ent-
wickelte. Im Mittelpunkt stand das Motto „auch das Private ist po-
litisch“, das bis heute als Bezugspunkt für die Thematisierung von
Gleichberechtigung und Geschlechterproblematik dient.
Während die öffentliche Aufmerksamkeit für die Frauenbewe-
gung seit Ende der 1970er Jahre nachgelassen hat, ist die feminis-
tische politische Theorie seitdem entscheidend weiterentwickelt
worden und hat – wenn auch relativ spät – in die Internationalen
3 Epistemologie befasst sich mit der Natur, dem Ursprung und den Grenzen unse-
res Wissens.
Feministische Ansätze 525
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Unter den Begriff des Feminismus lässt sich eine Vielzahl von
Ansätzen fassen, deren gemeinsames normatives Ziel die Aufdek-
kung geschlechtsspezifischer Ungleichheit und die Gleichberech-
tigung von Frauen ist (vgl. Locher-Dodge 1998: 425, FN 3). Die
Unterschiede bestehen vor allem auf epistemologischer Ebene. So
hat Christine Sylvester die „entscheidende theoretische Wende“
(Locher 1996: 381, FN 2) von der Frauenforschung, die sich auf
die Rolle und den Blickwinkel von Frauen in der internationalen
Politik konzentriert, zur Geschlechterforschung vollzogen, in de-
Feministische Ansätze 527
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Staat als geeigneten Rahmen für das angestrebte Ziel einer Gleich-
berechtigung der Frau betrachtet, wenn nur die vorhandenen ge-
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und Idealismus beschäftigte sich mit der Frage, ob – wie der Rea-
lismus betont – unabhängige, interessengeleitete Staaten in einer
anarchischen Umwelt Gegenstand der internationalen Beziehun-
gen seien oder ob es um die Beziehungen zwischen staatlichen und
nichtstaatlichen Akteuren und um die Möglichkeiten von Koope-
ration und Frieden gehen müsse, wovon die idealistische Schule
ausging. Bei aller Gegensätzlichkeit griffen beide Theorieansätze
auf die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und den
damit verbundenen impliziten Ausschluss von Frauen aus der in-
ternationalen Politik zurück. Im Mittelpunkt der klassischen realis-
tischen Schule stand das Konzept des (männlichen) öffentlichen
Interesses in der Tradition Machiavellis, das nicht mit (weiblichen)
privaten Angelegenheiten zu vermischen sei (Sylvester 1994a: 80).
So ist ein implizit männlich definiertes Konzept extern vorgegebe-
ner Interessen entstanden, auf dem die Rationalitätsannahme staat-
licher Akteure im Realismus und Neorealismus aufbaut. Der klas-
sische Idealismus auf der anderen Seite fragte nach den Möglich-
keiten und Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben der
Staaten. Dabei stützte er sich auf politische Vertragstheorien, die,
wie Sylvester für den „social contract“ bei Hobbes erläutert hatte,
Frauen als Vertragspartner ausschließen und auf einen männlich
definierten Vernunftbegriff in der Tradition von Rousseau rekur-
rieren. Aus einer an Rousseau oder Machiavelli orientierten Per-
spektive gilt es, die weibliche Emotionalität aus einer öffentlichen
politischen Angelegenheit, wie sie die vertraglich geregelte friedli-
che Kooperation der Staatenwelt darstellt, herauszuhalten (Sylvester
1994a: 82).8
In der zweiten Debatte ging es um die Frage nach der Ange-
messenheit eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses für
8 Sylvester führt als Beispiel für diese Haltung die Wahlkampagne des amerikani-
schen Präsidenten Woodrow Wilson an – den wichtigsten Protagonisten des po-
litischen Idealismus während und nach dem Ersten Weltkrieg: „Woodrow
Wilson (...) campaigned for the US presidency on a platform advocating peace
and disfavoring women’s suffrage, ostensibly because the people – the voice of
idealist reason – opposed this extension of the franchise. ‚The people‘ opposing
‚women’s‘ vote while favoring peace, however, had voice only through the so-
cially contracted citizen ‚men‘ of the country“ (Sylvester 1994a: 82).
Feministische Ansätze 535
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on soll uns zeigen, dass „Wir“ mehr mit „den Anderen“ gemein-
sam haben, als es auf den ersten Blick scheint. Identitäten sind
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9 Eine gute Übersicht dieser Debatte gibt der Sammelband von Benhabib et al.
1995. Vgl. auch Weinbach 1999: 300-302. Obwohl Fraser und Benhabib hier
als Feministinnen argumentieren, sind sie eher der kritischen Theorie als der
feministischen politischen Theorie zuzuordnen.
Feministische Ansätze 539
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Ethik bis zur Analyse darstellender Kunst in Bezug auf die inter-
nationalen Beziehungen, zeigen Ackerly et al. 2006.
Ein Beispiel für den Aufbruch zu neuen Ufern ist die kritische
Männerforschung, die nicht Frauen in den Mittelpunkt ihrer Ana-
lysen stellt, sondern die Rolle von Männern problematisiert und
die politische Funktion der Konstruktion von Männlichkeit unter-
sucht (vgl. auch Janshen 2000). Der Sammelband von Zalewski
und Parpart (1998) versammelt eine Reihe von Aufsätzen, die
ganz bewusst die „Männerfrage“ stellen und die Bedeutung tra-
dierter Vorstellungen von Männlichkeit in den Internationalen Be-
ziehungen analysieren.
Zalewski diskutiert die Frage, ob diese Art der Analyse eine neue
Phase der feministischen Theoriebildung markieren könnte, nach-
dem die Debatte zwischen postmodernen und standpoint Feminis-
tinnen um das Dilemma der „verschwundenen Frau“ und die Einlö-
sung des feministischen Emanzipationsanspruches die feministische
Debatte der 1980er und 1990er Jahre dominiert hatte. Die zuneh-
mende Auseinandersetzung von Autorinnen und Autoren mit der
„Männerfrage“ könnte als Hinweis auf die Akzeptanz einer postmo-
dernen Geschlechterforschung in der politikwissenschaftlichen Ana-
lyse gewertet werden und wäre damit auch aus feministischer Per-
spektive als Fortschritt zu betrachten. Zalewski bemerkt dazu:
“Is moving to the ‘man’ question the fourth stage in this typology?
Some feminist postmodern approaches would (...) imply that the move
is evidence of progression. But feminist approaches that remain loyal
to an emancipatory feminism based on the subject of woman would
stress the importance of keeping men out of the center of feminist
analysis and insist on the insertion of women as subjects and objects
(...)” (Zalewski 1998: 12).10
Die empirische Untersuchung männlichen Handelns und die wei-
tere Dekonstruktion der Kategorie „Mann“ können als Ausgangs-
punkte für neue Analysen der Internationalen Beziehungen dienen,
10 Dabei bezieht Zalewski sich im Wesentlichen auf die von Sylvester verwendete
Typologie feministischer Ansätze (feminist empiricism, feminist standpoint, fe-
minist postmodernism). Sie sieht die drei Typen zugleich als zeitlich aufeinan-
der folgende Tendenzen in der feministischen Theoriebildung.
Feministische Ansätze 541
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11 So wurden die Ereignisse in den Gefängnissen von Abu Ghraib und Guantana-
mo als Zeichen von „gender confusions“ interpretiert, die der Verschleierung
542 Barbara Finke
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imperialistischer Maskulinität dienten. Dabei wird betont, dass das Militär seit
langem mit der Manipulation von Geschlechterbildern vertraut sei (Whitworth
2008: 403).
Feministische Ansätze 543
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Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Enloe, Cynthia 1989: Bananas, Beaches & Bases. Making Feminist Sense of
International Politics. Berkeley: University of California Press.
Sylvester, Christine 1994a: Feminist Theory and International Relations in a
Postmodern Era. Cambridge: Cambridge University Press.
Tickner, J. Ann 1992: Gender in International Relations. Feminist Perspectives
on Achieving Global Security. New York: Columbia University Press.
Shepherd, Laura J. (Hrsg.) 2010: Gender Matters in Global Politics. A Femi-
nist Introduction to International Relations. London. Routledge.
Feministische Ansätze 547
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Sekundärliteratur
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Dean, Robert D. 2001: Imperial Brotherhood. Gender and the Making of the
Cold War. Amherst: University of Massachusetts Press.
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Kritische Geopolitik
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1. Einleitung
Die Verwendung geopolitischer Analysekategorien, ja die Ver-
wendung des Wortes „Geopolitik“ an sich, erschien in der noch
relativ jungen Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen,
insbesondere im deutschen Sprachraum, lange Zeit eine Art Tabu-
thema darzustellen. Die ausdrückliche Nichtbeachtung der „Geo-
politik“ als eine im späten 19. und in den ersten Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts durchaus etablierte Denkrichtung liegt dabei we-
niger im „objektiven“ Status begründet, den die Autoren der „klas-
sischen“ Geopolitik – in Deutschland vornehmlich Friedrich Rat-
zel und Karl Haushofer – geographischen Gegebenheiten für die
Funktionsweise internationaler Politik zusprechen, sondern allem
voran in der – durch diese Theorieanlage freilich begünstigten –
Adaption geopolitischen Denkens in der Raumideologie der Na-
tionalsozialisten. Erst seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lässt
sich beobachten, dass in der Politischen Geographie sowie in den
Internationalen Beziehungen Fragen der Geopolitik wieder eine
zunehmende Aufmerksamkeit erlangen. Dies gilt sowohl für den
Bereich der so genannten „kritischen Geopolitik“, in welchem die
objektivierenden Raumvorstellungen der klassischen Politik in
Frage gestellt und Prozesse sozialer Raumkonstruktion in den
Vordergrund gerückt werden, als auch für eine eher restaurative
Wiederaufnahme klassischer geopolitischer Denkkategorien zur
Analyse von Strukturbildungen im internationalen System.
Bislang berücksichtigt die Mehrzahl der Theorien Internationa-
ler Beziehungen Raum als staatliches Territorium. Erst in Folge
der Herausbildung „kritischer“ Theorieansätze seit den späten
1980er und frühen 1990er Jahren sowie im Zuge der Diskussionen
um den Globalisierungsprozess rückte die Kontingenz von Territo-
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Kritische Geopolitik
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1. Einleitung
Die Verwendung geopolitischer Analysekategorien, ja die Ver-
wendung des Wortes „Geopolitik“ an sich, erschien in der noch
relativ jungen Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen,
insbesondere im deutschen Sprachraum, lange Zeit eine Art Tabu-
thema darzustellen. Die ausdrückliche Nichtbeachtung der „Geo-
politik“ als eine im späten 19. und in den ersten Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts durchaus etablierte Denkrichtung liegt dabei we-
niger im „objektiven“ Status begründet, den die Autoren der „klas-
sischen“ Geopolitik – in Deutschland vornehmlich Friedrich Rat-
zel und Karl Haushofer – geographischen Gegebenheiten für die
Funktionsweise internationaler Politik zusprechen, sondern allem
voran in der – durch diese Theorieanlage freilich begünstigten –
Adaption geopolitischen Denkens in der Raumideologie der Na-
tionalsozialisten. Erst seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lässt
sich beobachten, dass in der Politischen Geographie sowie in den
Internationalen Beziehungen Fragen der Geopolitik wieder eine
zunehmende Aufmerksamkeit erlangen. Dies gilt sowohl für den
Bereich der so genannten „kritischen Geopolitik“, in welchem die
objektivierenden Raumvorstellungen der klassischen Politik in
Frage gestellt und Prozesse sozialer Raumkonstruktion in den
Vordergrund gerückt werden, als auch für eine eher restaurative
Wiederaufnahme klassischer geopolitischer Denkkategorien zur
Analyse von Strukturbildungen im internationalen System.
Bislang berücksichtigt die Mehrzahl der Theorien Internationa-
ler Beziehungen Raum als staatliches Territorium. Erst in Folge
der Herausbildung „kritischer“ Theorieansätze seit den späten
1980er und frühen 1990er Jahren sowie im Zuge der Diskussionen
um den Globalisierungsprozess rückte die Kontingenz von Territo-
552 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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Bis heute ist als Erbe der klassischen Geopolitik auch in vielen
neueren Ansätzen das Schaffen von Differenz über territoriale
Metaphern ein wesentlicher Bestandteil geblieben (vgl. Tabelle 1).
Dabei werden immer wieder über eine dichotomisierende geopoli-
tische Rhetorik zukünftige territoriale Ordnungsvorstellungen im
Diskurs produziert. Dies führte in der Geographie zu Beginn der
1990er Jahre zu einer konzeptionell tiefer greifenden Kritik und zu
einer neuen und radikalisierten Rekonzeptualisierung von traditio-
nellen Konzepten, Denkfiguren und Gedankenmustern, welche die
Analyse von Geopolitik für fast ein Jahrhundert geprägt haben: zur
Schule der Critical Geopolitics.
“The sign ‘geopolitics’ does not have any essential meaning over and
above the historical web of con-textualities within it is evoked and
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schen Raumes auf die Politik eines Staates“ ist (Brill 1994: 21).
Diese positivistische, historisch belastete Form der Geopolitik er-
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hielt in der ersten Hälfte der 1990er Jahre einen gewissen Auf-
wind, nachdem sich „die eiserne Haube des stalinistischen Kom-
munismus gelüftet hat[te]“ (Lacoste 1990: 19). In Abgrenzung da-
zu macht die post-strukturalistische Wende der Politischen Geo-
graphie deutlich, wie schnell ein derartiges Verständnis von Geo-
politik in eine ideologische Sackgasse führen kann, und wie sehr
solche Konzepte selbst nichts anderes sind als ein aktives, norma-
tives „Geopolitik-Machen“ (vgl. ausführlich Lossau 2000; Wol-
kersdorfer 2001). Im „Widerstreit der Diskurse“ (Lyotard 1987)
gibt es konzeptionell gesehen keine „richtigen“ und „falschen“
Sprachspiele. Der Rückgriff auf geographisch-geopolitische Ar-
gumentationen aus dem Bereich „Lage, Territorien und Grenzen“
muss stattdessen aus wissenschaftlicher Perspektive richtiger als
diskursive Strategie der politisch handelnden Akteure verstanden
werden, die der Legitimation und Durchsetzung politischer Ziele
dient.
Auch wenn die Critical Geopolitics mit einer solchen Intention
den Bezug zu einer handlungstheoretisch informierten Sichtweise
nicht verleugnen können, bleibt doch die konstruktivistische, rela-
tionale Ontologie der wesentliche Kern des Konzepts. Darin liegt
auch ein entscheidender Unterschied zu vielen Ansätzen der Poli-
tischen Geographie in der Nachkriegsphase, die im Rückgriff auf
analytisch-szientistische Verfahren nach „objektiven“ Grenzen
suchte, um so die vermeintliche Neutralität der Disziplin und „die
Scheide zwischen wissenschaftlicher Forschung und propagandis-
tischer Anwendung, Tendenz und Prognose“ zu betonen (Boesler
1983). Erst aus dieser Sicht wird der Perspektivenwechsel der
Critical Geopolitics vollends sichtbar, in der es gerade nicht um
die Suche nach „objektiven“ Grenzen geht, sondern darum, „jene
Geographien [zu untersuchen], die (...) von den handelnden Sub-
jekten von unterschiedlichen Machtpositionen aus gemacht und
reproduziert werden“ (Werlen 1995: 6). Eine solche Dekonstruk-
tion geopolitischer Leitbilder enttarnt deren Zweck als gezielte
geostrategische Diskurse über territorial gebundene Freund-Feind-
Bilder. Sie zeigt, wie politische Akteure durch die geschickte
sprachliche oder auch kartographische symbolische Verkopplung
von Religion, Kultur und/oder Ethnizität mit territorialer Identität
Kritische Geopolitik 565
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Der Ansatz der Critical Geopolitics ist, wie jedes Konzept, nicht
frei von Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten. Die Probleme
sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln und reichen von
grundsätzlichen, ontologischen Einwänden bis zu konkreten As-
pekten der methodischen Umsetzung in der empirischen For-
schung. Aus der mittlerweile breiteren Auseinandersetzung mit
den Grundlagen der Critical Geopolitics sollen im Folgenden –
der Argumentation von Müller und Reuber (2008) folgend – eini-
ge wesentliche Punkte kurz diskutiert werden.
Literaturverzeichnis
Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Brzezinski, Zbigniew 1997: The Grand Chessboard. American Primacy and Its
Geostrategic Imperatives. New York: Basic Books.
um 23:05 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Lossau, Julia 2002: Die Politik der Verortung: Eine postkoloniale Reise zu ei-
ner Anderen Geographie der Welt. Bielefeld: transcript.
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Giddens, Anthony 435, 446 Idealismus 12, 157, 188, 259, 319, 429,
Gill, Stephen 386f., 390 452, 534
um 23:06 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Mathias Albert
Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für So-
ziologie, Universität Bielefeld und Honorary Professor and der Uni-
versität Aarhus
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010a: New Systems Theories of World Politics. London:
Palgrave (zus. mit Lars-Erik Cederman und Alexander Wendt ).
2010b: Jugend 2010. 16. Shell Jugendstudie. Frankfuert a.M.: Fi-
scher Taschenbuch Verlag (Konzeption und Koordination zus. mit
Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel und TNS Infratest Sozialfor-
schung).
Andreas Bieler
Prof. Dr., Professor of Political Economy an der School of Politics
and International Relations, University of Nottingham (UK)
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010: Global Restructuring, Labour and the Challenges for
Transnational Solidarity. London: Routledge.
2006: The Struggle for a Social Europe: Trade unions and EMU in
times of global restructuring. Manchester: Manchester University
Press.
Hans-Jürgen Bieling
Prof. Dr., Professor für Politikmanagement an der Hochschule Bre-
men
Publikationen u.a.:
2007: Internationale Politische Ökonomie. Ein Studienbuch. Wies-
baden: VS-Verlag.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 139.18.240.1 aus dem Netz der USEB UB Leipzig am 31.03.2020
Mathias Albert
Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für So-
ziologie, Universität Bielefeld und Honorary Professor and der Uni-
versität Aarhus
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010a: New Systems Theories of World Politics. London:
Palgrave (zus. mit Lars-Erik Cederman und Alexander Wendt ).
2010b: Jugend 2010. 16. Shell Jugendstudie. Frankfuert a.M.: Fi-
scher Taschenbuch Verlag (Konzeption und Koordination zus. mit
Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel und TNS Infratest Sozialfor-
schung).
Andreas Bieler
Prof. Dr., Professor of Political Economy an der School of Politics
and International Relations, University of Nottingham (UK)
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010: Global Restructuring, Labour and the Challenges for
Transnational Solidarity. London: Routledge.
2006: The Struggle for a Social Europe: Trade unions and EMU in
times of global restructuring. Manchester: Manchester University
Press.
Hans-Jürgen Bieling
Prof. Dr., Professor für Politikmanagement an der Hochschule Bre-
men
Publikationen u.a.:
2007: Internationale Politische Ökonomie. Ein Studienbuch. Wies-
baden: VS-Verlag.
590 Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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Thomas Conzelmann
Dr., Associate Professor of International Relations an der Universität
Maastrich, Fakultät für Sozialwissenschaften
Publikationen u.a.:
(2004): Europäische Integration, europäisches Regieren. Wiesbaden:
VS Verlag (zus. mit Beate Kohler-Koch und Michèle Knodt).
(Hrsg.) 2008: Multi-level Governance in the European Union: Tak-
ing Stock and Looking Ahead. Baden-Baden: Nomos (zus. mit Ran-
dall Smith).
Christopher Daase
Prof. Dr., Professor für Internationale Organisationen an der Goethe-
Universität Frankfurt/Main und Leiter des Programmbereichs „In-
ternationale Organisationen und Völkerrecht“ an der Hessischen
Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung
Publikationen u.a.:
2003: Das Ende vom Anfang des nuklearen Tabus. Zur Legitimi-
tätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale
Beziehungen 10: 1, 7-41.
2003: Endogenizing Corporate Identity. The Next Step of Construc-
tivism in International Relations, in: European Journal of Interna-
tional Relations 9: 1, 5-35 (zus. mit Lars-Erik Cederman).
Thomas Diez
Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft und Internationale Be-
ziehungen, Universität Tübingen
Publikationen u.a.:
2011: Key Concepts in International Relations, London: Sage (zus.
mit Ingvild Bode und Aleksandra Fernandes da Costa).
(Hrsg.) 2008: The European Union and Border Conflicts, Cam-
bridge: Cambridge University Press (zus. mit Mathias Albert und
Stephan Stetter).
Autorinnen- und Autorenverzeichnis 591
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Barbara Finke
Dr., Head des Master of Public Policy Programme, Hertie School of
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Governance, Berlin
Publikationen u.a.:
2005: Legitimation globaler Politik durch NGOs. Frauenrechte, De-
liberation und Öffentlichkeit in der UNO. Wiesbaden: VS Verlag.
(Hrsg.) 2005: Europäische Zivilgesellschaft: Konzepte, Akteure,
Strategien. Wiesbaden: VS Verlag (zus. mit Michèle Knodt).
Andreas Hasenclever
Prof. Dr., Professor für Friedensforschung und internationale Politik
an der Tübinger Eberhard Karls Universität
Publikationen u. a.:
(Hrsg.) 2010: Die internationale Organisation des Demokratischen
Friedens: Studien zur Leistungsfähigkeit regionaler Sicherheitsinsti-
tutionen, Baden-Baden: Nomos (gem. Herausgeberschaft mit Mat-
thias Dembinski).
(Hrsg.) 2009: Identität, Institutionen und Ökonomie: Ursachen in-
nenpolitischer Gewalt, PVS-Sonderband 43, Wiesbaden: VS-Ver-
lag (gem. Herausgeberschaft mit Margit Bussmann und Gerald
Schneider).
Michael Heinrich
Dr., Mathematiker und Politikwissenschaftler, z.Zt. Vertretung einer
Professur für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik
und Wirtschaft, Berlin
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010: Kapital und Kritik. Nach der neuen Marx Lektüre,
VSA Hamburg (zus. mit Werner Bonefeld).
2004: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Stuttgart:
Schmetterling.
Christoph Humrich
Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung Frie-
dens- und Konfliktforschung
592 Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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Publikationen u.a.:
2006: Germany, in: Jørgensen, Knud E./Knudsen, Tonny B. (Hrsg.):
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Andreas Jacobs
Dr., Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ägypten,
Kairo
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2005: Un-politische Partnerschaft. Eine Bilanz politischer
Reformen in Nordafrika/Nahost nach zehn Jahren Barcelonaprozess,
Sankt Augustin 2005 (zus. mit Hanspeter Mattes).
2003: Problematische Partner. Europäisch-arabische Zusammenar-
beit 1970-1998. Köln: SH-Verlag.
Andreas Nölke
Prof. Dr., Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt
Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie,
Goethe-Universität Frankfurt/Main
Publikationen u.a.:
2009: Enlarging the Varieties of Capitalism. The Emergence of De-
pendent Market Economies in East Central Europe, in: World Poli-
tics 61 (2009) 4, 670-702. (zus. Arjan Vliegenthart).
Autorinnen- und Autorenverzeichnis 593
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Paul Reuber
Prof. Dr., Lehrstuhlinhaber für Sozialgeographie/Politische Geogra-
phie am Institut für Geographie, Universität Münster
Publikationen u.a.:
2009: Geopolitics, in: Kitchin Rob/Thrift, Nigel (Hrsg.): Internatio-
nal Encyclopedia of Human Geography, Volume 4. Oxford: Else-
vier, 441-452.
2008: Empirical Verve, Conceptual Doubts: Looking from the Out-
side in at Critical Geopolitics, in: Geopolitics 13:3, 458-472 (zus.
mit Martin Müller).
Siegfried Schieder
Dr., Jean Monnet Postdoctoral Fellow am Robert Schuman Centre
for Advanced Studies, European University Institute, Florenz; ab
Oktober 2010 Vertretung des Lehrstuhls für Internationale Bezie-
hungen und Außenpolitik, Universität Trier
Publikationen u.a.
2010: The Social Construction of European Solidarity: Germany
and France in the EU policy towards the states of Africa, the Car-
ibbean, and the Pacific (ACP) and Central and Eastern European
Countries (CEEC), in: Journal of International Relations and De-
velopment 13: 4 (i.E.).
(Hrsg.) 2009: Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung.
Beiträge zur Soziologie der internationalen Beziehungen. Frank-
furt a.M./New York: Campus (zus. mit Hanns W. Maull und Sebas-
tian Harnisch).
Niklas Schörnig
Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung Frie-
dens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt a.M.
Publikationen u.a.:
2010: Liberale Demokratien und Krieg: Warum manche kämpfen
und andere nicht. Ergebnisse einer vergleichenden Inhaltsanalyse
594 Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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Manuela Spindler
Prof. Dr., Juniorprofessorin für Internationale Politik an der Staats-
wissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt
Publikationen u.a.:
2005: Regionalismus im Wandel. Die neue Logik der Region in ei-
ner globalen Ökonomie. Wiesbaden: VS Verlag.
(Hrsg.) ab 2007: Reihe Studienbücher Theorie in den Internatio-
nalen Beziehungen. Wiesbaden: VS Verlag (zus. mit Siegfried Schie-
der).
Ingo Take
Dr., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft,
Universität Greifswald
Publikationen u.a.:
In Vorbereitung: Globales Regieren auf dem Prüfstand. Nicht de-
mokratisch aber legitim?, Baden-Baden: Nomos.
(Hrsg.) 2009: Legitimes Regieren jenseits des Nationalstaats. Unter-
schiedliche Formen von Global Governance im Vergleich, Schriften
zur Governance-Forschung, Band 18. Baden-Baden: Nomos.
Cornelia Ulbert
Dr., Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Instituts für Entwick-
lung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2009: Globale Trends 2010. Frieden, Entwicklung, Umwelt.
Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag (zus. mit Tobias Debiel,
Dirk Messner, Franz Nuscheler und Michèle Roth).
2008: Transnationale öffentlich-private Partnerschaften – Bestim-
mungsfaktoren für die Effektivität ihrer Governance-Leistungen,
in: Schuppert, Gunnar Folke/Zürn, Michael (Hrsg.): Governance
in einer sich wandelnden Welt (PVS-Sonderheft 41), Wiesbaden:
Autorinnen- und Autorenverzeichnis 595
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Günter Wolkersdorfer
Dr., Akademischer Rat am Institut für Geographie an der Universität
Münster
Günter Wolkersdorfer verstarb im Juli 2008 nach schwerer Krank-
heit
Publikationen u.a.:
2008: Geopolitische Leitbilder als Deutungsschablone für die Be-
stimmung des „Eignen“ und des „Fremden“, in: Lentz, Sebasti-
an/Ormeling, Ferjan (Hrsg.): Die Verräumlichung des Welt-Bildes.
Stuttgart: Steiner-Verlag, 181-192.
2007: Raum und Macht: Geopolitik des 21. Jahrhunderts, in: Geb-
hardt, Hans et al. (Hrsg.): Geographie. Physische und Humangeo-
graphie. Heidelberg: Spektrum, 895-904. (zus. mit Paul Reuber)
Bernhard Zangl
Prof. Dr., Professor für Global Governance and Public Policy am
Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, LMU München
Publikationen u.a.:
2008: Judicialization Matters! A Comparison of Dispute Settlement
under GATT and the WTO. In: International Studies Quarterly 52:4.
2008. 825-854.
(Hrsg.) 2006: International Organization. Polity, Policy, and Politics,
Houndsmills: Palgrave (zus. mit Volker Rittberger).