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2020
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Theorien der
Siegfried Schieder

3., überarbeitete und


aktualisierte Auflage

Verlag Barbara Budrich


Manuela Spindler (Hrsg.)

Internationalen Beziehungen

Opladen & Farmington Hills, MI 2010


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Inhaltsverzeichnis
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Vorwort zur 3., überarbeiteten Auflage ................................. 7

1. Theorien in der Lehre von den


internationalen Beziehungen ........................................... 9
Manuela Spindler und Siegfried Schieder

2. Realismus ........................................................................ 39
Andreas Jacobs

3. Neorealismus ................................................................... 65
Niklas Schörnig

4. Interdependenz ................................................................ 97
Manuela Spindler

5. Regimetheorie .................................................................. 131


Bernhard Zangl

6. Neofunktionalismus ......................................................... 157


Thomas Conzelmann

7. Neuer Liberalismus ......................................................... 187


Siegfried Schieder

8. Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ ........... 223


Andreas Hasenclever

9. Die Englische Schule ....................................................... 255


Christopher Daase
6 Inhaltsverzeichnis
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10. Weltgesellschaft und Globalisierung ............................... 281


Ingo Take
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11. Imperialismustheorie ....................................................... 311


Michael Heinrich

12. Weltsystemtheorie ........................................................... 343


Andreas Nölke

13. Neo-Gramscianische Perspektiven .................................. 371


Andreas Bieler und Adam David Morton

14. Internationale Politische Ökonomie ................................ 399


Hans-Jürgen Bieling

15. Sozialkonstruktivismus .................................................... 427


Cornelia Ulbert

16. Kritische Theorie ............................................................. 461


Christoph Humrich

17. Postmoderne Ansätze ...................................................... 491


Thomas Diez

18. Feministische Ansätze ..................................................... 521


Barbara Finke

19. Kritische Geopolitik ........................................................ 551


Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer

Sach- und Personenregister .................................................... 579

Autorinnen- und Autorenverzeichnis ..................................... 589


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Vorwort zur 3., überarbeiteten Auflage


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Wir freuen uns, nunmehr eine dritte Auflage unserer „Theorien


der Internationalen Beziehungen“ vorlegen zu können. Dafür wur-
den die Beiträge der zweiten Auflage von 2006 überarbeitet. Ne-
ben der Aktualisierung der empfohlenen und weiterführenden Li-
teratur zu den einzelnen Beiträgen wurden auch wichtige neuere
Entwicklungen in den theoretischen Perspektiven der vergangenen
Jahre in die Beiträge aufgenommen. Die Einleitung haben wir in
Teilen inhaltlich überarbeitet und auch hier wiederum die Über-
blicksliteratur zu den Theorien und zum Gegenstand der Interna-
tionalen Beziehungen auf den neuesten Stand gebracht.
Wie schon bei den beiden vorherigen Auflagen möchten wir
allen in unserem Band vertretenen Autorinnen und Autoren für die
gute und zuverlässige Zusammenarbeit danken. Christine Prokopf,
Lotte Schneider und vor allem Tobias Troger haben uns mit wert-
vollen Hinweisen und sorgfältiger Korrekturarbeit tatkräftig bei
der Überarbeitung unterstützt. Unser Dank gilt ebenso Barbara
Budrich und Karen Reinfeld für die gute Betreuung durch den
Verlag und für ihre große Geduld bei der Fertigstellung dieser
Auflage.
Wir sind sehr traurig, dass diese Auflage ohne die bewährte Zu-
sammenarbeit mit unserem Kollegen Günter Wolkersdorfer er-
scheinen muss. Er verstarb im Juli 2008 an den Folgen einer lan-
gen und schweren Krankheit. Wir werden ihn sehr vermissen.

Florenz und Berlin, im Sommer 2010

Siegfried Schieder und Manuela Spindler


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Theorien in der Lehre von den internationalen


Beziehungen
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Manuela Spindler und Siegfried Schieder

1. Einleitung
Die Theorienlandschaft der Internationalen Beziehungen befindet
sich in einem Prozess ständiger Ausdifferenzierung und ist kaum
überschaubar.1 Das Nebeneinanderbestehen verschiedener, in der
Regel konkurrierender Theorien, Ansätze, Perspektiven und Kon-
zepte wird häufig mit dem Begriff des „Theorienpluralismus“ ge-
fasst. Dieser Zustand lässt sich im Wesentlichen auf drei Gründe
zurückführen. Erstens ist das rasche Wachstum an theoretischen
Entwürfen das Ergebnis kumulativer Theoriebildung und einer
Professionalisierung innerhalb einer akademischen Disziplin, die
auf eine nunmehr über 90jährige Geschichte zurückblickt – wenn
man als „Geburtsjahr“ die institutionelle Einrichtung des Fachs
mit den ersten Lehrstühlen für Internationale Beziehungen im
Rahmen der nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Versailler
Verträge von 1919 ansieht.2 Der Umstand kumulativer Theoriebil-
dung trifft umso mehr auf die Disziplin der Internationalen Bezie-
hungen zu, als er auch zum Ausdruck bringt, dass es bis heute kei-

1 Wenn hier und in den nachfolgenden Beiträgen von „Internationalen Beziehun-


gen“ die Rede ist, dann ist die akademische Disziplin gemeint (im englischspra-
chigen Raum „International Relations“). Ist vom Untersuchungsgegenstand der
Disziplin die Rede, wird der (kleingeschriebene) Begriff der „internationalen
Beziehungen“ verwendet.
2 Zur Gründungsgeschichte nach dem Ersten Weltkrieg vgl. ausführlich Czempiel
1965 und Rittberger/Hummel 1990. Das theoretisch-philosophische Nachden-
ken über zwischenstaatliche Beziehungen (Ideengeschichte) reicht natürlich
sehr viel weiter in die Geschichte zurück und ist mit Namen aus der Politischen
Theorie und Philosophie wie Thukydides, Aristoteles, Niccoló Machiavelli,
Thomas Hobbes oder Immanuel Kant verknüpft. Zur Geschichte der Internatio-
nalen Beziehungen aus ideengeschichtlicher Perspektive vgl. Knutsen 1997;
Jackson 2005.
10 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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nen Konsens über die angemessene begriffliche und theoretische


Fassung ihres Erkenntnisgegenstandes und die Methoden der Er-
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kenntnisgewinnung – also dessen, was internationale Beziehungen


sind und wie sie erforscht werden sollen – gibt.
Die große Spannbreite an Theorieangeboten ist zweitens auch
das Ergebnis einer inzwischen kaum mehr überschaubaren Adap-
tion von Erkenntnissen aus verwandten und benachbarten (sozi-
al)wissenschaftlichen Disziplinen. Ein wichtiges Merkmal der In-
ternationalen Beziehungen – und dies gilt für alle sozialwissen-
schaftlichen Disziplinen – ist eben auch, dass sie sich nicht trenn-
scharf von Disziplinen wie der Soziologie, Politischen Philosophie
und Theorie, aber auch der Ökonomie, Politischen Geographie
und den Rechtswissenschaften abgrenzen lassen, sodass ein Rück-
griff auf Kategorien und Konzepte der Nachbardisziplinen oftmals
einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn für die Internationalen Be-
ziehungen bringen kann. Nur vor diesem Hintergrund ist bei-
spielsweise die breite Auffächerung des gegenwärtigen Theorien-
bestands in eine Vielzahl kritischer, postmoderner und konstrukti-
vistischer Ansätze zu verstehen.
Als sozialwissenschaftliche Disziplin steht die Theoriebildung
in den Internationalen Beziehungen drittens immer auch in einem
engen Wechselverhältnis mit ihrem realhistorischen und gesell-
schaftspolitischen Kontext. „Schübe“ oder Umorientierungen in
der Theoriebildung sind stark mit Ereignissen der „realen“ inter-
nationalen Politik wie beispielsweise der Herausbildung des bipo-
laren Systems nach dem Zweiten Weltkrieg, der Entkolonialisie-
rung großer Teile Afrikas und Asiens in den späten 1950er und
frühen 1960er Jahren, dem Vietnamkrieg oder den weltwirtschaft-
lichen Krisenerscheinungen im Gefolge der „Ölpreisschocks“ der
1970er Jahre verknüpft. Weltpolitische Umwälzungen wie das
Ende des Ost-West-Konflikts, die mit der Globalisierung einher-
gehende Veränderung der Rolle souveräner Nationalstaaten aber
auch die zunehmende Gestaltungsmacht transnationaler, in Öko-
nomie und Gesellschaft verwurzelter nicht-staatlicher Akteure
wirkten und wirken nachhaltig auf eine ganze Generation theorie-
orientierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und beein-
flussen ganz maßgeblich deren theoretisches Denken über interna-
tionale Beziehungen. In ihren Auswirkungen auf die Struktur des
internationalen Systems und als Herausforderungen für die prakti-
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 11
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sche Politik so bedeutsame Phänomene wie „gescheiterte“ Staat-


lichkeit („failing“ oder „failed states“) und die daraus folgenden
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neuen sicherheits- und entwicklungspolitischen Aufgaben eines


internationalen „state-building“, das Entstehen neuer, global ver-
netzter Gewaltakteure als Folge der Erosion staatlicher Gewaltmo-
nopole sowie nicht zuletzt der weltökonomische und -politische
Bedeutungszuwachs Chinas und anderer aufstrebender Mächte
(z.B. Indien, Brasilien) bzw. ganzer Weltregionen (allen voran
Asien) stellen die Theorie der Internationalen Beziehungen vor
neue Herausforderungen. Wurde das Ende des Ost-West-Kon-
fliktes politisch – und theoretisch untermauert – zunächst maß-
geblich als Aufforderung für eine friedensorientierte Praxis ge-
deutet (Stichworte „Neue Weltordnung“, „Friedensdividende“,
„nukleare Abrüstung“ usw.), so lenkten Ereignisse wie „9/11“, der
Kampf gegen den internationalen Terrorismus aber auch neue in-
ternationale Problemlagen wie die Sicherung der Energieversor-
gung, die Verpflichtungen im internationalen Klimaschutz sowie
nicht zuletzt die Turbulenzen auf den internationalen Finanz- und
Kapitalmärkten den Blick wieder verstärkt auf die ambivalente
und konfliktive Natur der internationalen Politik.
Diese wenigen Beispiele zeigen vor allem eines deutlich: Es
liegt in der Logik sozialwissenschaftlicher Forschung, dass ein
durch realpolitische Veränderungen angestoßener Wandel des For-
schungsgegenstands immer auch mit einer Anpassung des theo-
retisch-konzeptionellen Instrumentariums einer Disziplin einher
geht, und dass die Entwicklung der Theorie der Internationalen
Beziehungen immer nur in ihrer engen Wechselwirkung mit ihrem
historisch-politischen Kontext verstanden werden kann.
Nun ist die Vielfalt theoretischer Entwürfe in den Internationa-
len Beziehungen keineswegs ein gänzlich neues Phänomen und,
wie erläutert, geradezu charakteristisch für die sozialwissenschaft-
liche theoretische Forschung. In den Internationalen Beziehungen
waren es jedoch vor allem die 1990er Jahre, die ein nie da gewe-
senes Theorienspektrum hervorgebracht haben. Lange Zeit war die
theoretische Ausdifferenzierung durch die Art und Weise ihrer
Darstellung in den einschlägigen Lehrtexten nur nicht gut sichtbar.
Ursächlich dafür ist die bis heute gängige „orthodoxe“ Geschichts-
schreibung der Disziplin als Abfolge so genannter „großer Debat-
ten“ und die damit verbundene starke Reduktion der tatsächlichen
12 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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Komplexität der Theoriebildung. Konstitutives Merkmal dieser


„großen Debatten“ ist die Gegenüberstellung jeweils zweier kon-
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kurriender Theorien oder theoretischer „Lager“, aus deren Ausein-


andersetzung wichtige Impulse für die Fortentwicklung der Inter-
nationalen Beziehungen als Teildisziplin der Politikwissenschaft
erwuchsen. In dieser „Geschichte“ beginnt die Entwicklung der
Disziplin zunächst als Auseinandersetzung zwischen Realismus
und Idealismus in den 1930er und 1940er Jahren (vgl. Carr 1964).
Zentraler Streitpunkt der ersten großen Theoriedebatte war die
Frage, ob und inwieweit es Fortschritte in den Beziehungen zwi-
schen den Staaten geben kann. Während die Idealisten vor dem
Hintergrund der Erfahrung des Ersten Weltkrieges die Hoffnung
hegten, durch die Schaffung internationaler Institutionen wie den
Völkerbund ließen sich künftige Kriege vermeiden, taten Realisten
derartige Hoffungen angesichts der Machtpolitik der Staaten in ei-
ner grundsätzlich als „anarchisch“ aufgefassten Welt als bloßes
Wunschdenken und Utopie ab. Das Scheitern des Völkerbundes
als Instrument der internationalen Friedenssicherung und der Aus-
bruch des Zweiten Weltkriegs schienen den Realisten Recht zu
geben.
Der Auseinandersetzung zwischen Realismus und Idealismus
folgte die in den 1950er und 1960er Jahren einsetzende zweite
große Debatte zwischen Traditionalisten und Szientisten. Sie war
weitestgehend die fachspezifische Version des damals allgemeinen
sozialwissenschaftlichen Methodenstreits um den Vorrang von
geisteswissenschaftlichem „Verstehen“ oder naturwissenschaftlich
orientiertem „Erklären“.3 Während Traditionalisten bei ihrer Be-
gründung von Aussagen über den Gegenstand der internationalen
Beziehungen auf die traditionellen Methoden der Intuition, Erfah-
rung und der Textinterpretation der Geisteswissenschaften rekur-
rieren, vertraten ihre szientistischen Widersacher – ausgehend von
der Annahme einer methodologischen „Einheit der Wissenschaf-
ten“ – die Möglichkeit und Notwendigkeit eines „naturwissen-
schaftlichen“ Zugangs auch bei der Erkenntnis der sozialen Welt.
Erkenntnistheoretisches Ziel einer szientistischen Herangehens-

3 Die Auseinandersetzung zwischen „Verstehen“ und „Erklären“ lebte zu einem


späteren Zeitpunkt in der Rationalismus-Konstruktivismus-Debatte der 1990er
wieder auf (vgl. Hollis/Smith 1994). Siehe dazu auch Abschnitt 3.1.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 13
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weise ist es, auf der Basis einer systematischen Beschreibung und
Erklärung zu empirisch überprüfbaren Aussagen und allgemein
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gültigen Theorien der internationalen Beziehungen zu gelangen


(vgl. grundlegend dazu Kaplan 1966, Knorr/Rosenau 1969). Als
Folge der Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die
Internationalen Beziehungen setzte ein „Professionalisierungs-
schub“ ein, der die Etablierung der Internationalen Beziehungen
als eigenständige wissenschaftliche Teildisziplin maßgeblich voran-
brachte.
Diese Auffassung der Theorieentwicklung als Abfolge „großer
Debatten“ ermöglichte bis heute eine recht übersichtliche Theori-
enklassifikation, die jedoch spätestens mit der Identifikation einer
„dritten Debatte“ seit den 1980er Jahren zunehmend fragwürdig
wurde. Allein der Umstand, dass der Begriff der „dritten Debatte“
für zwei ganz unterschiedliche theoretische Auseinandersetzungen
verwendet wird – einmal als „inter-paradigm-debate“ zwischen
„Realisten“, „Pluralisten“ und „Strukturalisten“ seit den 1970er
Jahren (vgl. u.a. Maghoori/Ramberg 1982; Wæver 1997), zum an-
deren als Debatte zwischen Positivisten und Postpositivisten seit
Mitte der 1980er Jahre (vgl. u.a. Lapid 1989; Smith 1995; Hollis/
Smith 2004) – zeigt die Unbrauchbarkeit der „orthodoxen“ Ge-
schichtsschreibung für ein angemessenes Verständnis der Theo-
rieentwicklung in den Internationalen Beziehungen. Als Kennzei-
chen der „dritten Debatte“ zwischen positivistischen und postpo-
sitivistischen Ansätzen wird in der Regel eine intensive Auseinan-
dersetzung mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der
Disziplin gesehen, welche zahlreiche Annahmen über die Beschaf-
fenheit der internationalen Beziehungen wie etwa die Anarchie des
internationalen Systems in Frage stellte.4 Im Unterschied zu den
beiden vorangegangenen Auseinandersetzungen spielte sich die
„dritte Debatte“ weniger innerhalb der etablierten Forschungs- und
Theoriestränge (Neorealismus, Institutionalismus, Liberalismus

4 Auch wenn sich die Auseinandersetzung mit den wissenschaftstheoretischen


Grundlagen des Fachs inzwischen etwas erschöpft hat – epistemologische Fra-
gen sind nämlich im Unterschied zu empirischen, ontologischen und normativen
Fragen nicht für die Internationalen Beziehungen spezifisch –, so bleiben wis-
senschaftstheoretische und -philosophische Fragen für den Prozess der Erkennt-
nis- und Wissensgewinnung von zentraler Bedeutung (Reus-Smit/Snidal 2008b;
Chernoff 2007; Kurki/Wight 2010).
14 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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usw.), sondern oftmals quer zu diesen ab. Durch diesen „Querein-


stieg“ vervielfältigten sich die bisher innerhalb der Teildisziplin
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geführten Theoriedebatten. Mit der noch in den 1970er und frühen


1980er Jahren geführten inter-paradigmatischen Diskussion hat die
fragmentierte Theorie- und Debattenlandschaft seit den späten
1990er Jahren folglich kaum mehr etwas gemein. Es ist zudem zu
erwarten, dass das verstärkte Interesse der westlich geprägten IB-
Forschung an den nicht-westlichen theoretischen Traditionsbe-
ständen der Internationalen Beziehungen (vgl. u.a. Acharya/Buzan
2010) die Fragmentierung der Debattenlandschaft weiter verstärkt
und der eingangs erwähnte Theorienpluralismus weiter an Bedeu-
tung gewinnen wird. Dies gilt ebenso für neue Formen einer Kate-
gorisierung der Theorien der Internationalen Beziehungen (bei-
spielsweise Albert/Cederman/Wendt 2010).5
Ob man die Position der „orthodoxen“ Geschichtsschreibung
als Debattenabfolge teilt oder nicht: Die so genannte „dritte De-
batte“ machte die tatsächliche Bandbreite an theoretischen Kon-
troversen und Zugangsweisen mit unterschiedlichsten wissen-
schaftstheoretischen Positionen in ihrer ganzen Tragweite sichtbar.
Sie ist „a debate not to be won, but a pluralism to live with“, wie
es Wæver sehr treffend zum Ausdruck brachte (1996: 155). Cha-
rakteristisch für den gegenwärtigen „Zustand“ der Theorien in den
Internationalen Beziehungen ist folglich ein gefestigter und sich
weiter ausdifferenzierender Theorienpluralismus, der für das
Schreiben geeigneter und am aktuellen Stand der Theorieent-
wicklung orientierter Lehrbücher eine ganz besondere Herausfor-
derung darstellt. Wir werden auf unsere Kritik an der Einteilung in
„große Debatten“ ausführlich in Abschnitt 3.2 zurück kommen, in
dem wir in kritischer Abgrenzung dazu unser Konzept für diesen
Sammelband vorstellen.

5 Für eine Dokumentation der westlichen Dominanz der Internationalen Bezie-


hungen im Allgemeinen und der Theoriediskussion im Speziellen siehe bei-
spielsweise Stanley Hoffmann, welcher die theoretische IB-Forschung bereits in
den 1970er Jahren als „American Social Science“ deklarierte (Hoffmann 1987
[1977]). Für einen Überblick über die großen Debatten und die entsprechenden
Begrifflichkeiten empfehlen wir u.a. Wæever 1997 und Katzenstein/Keohane/
Krasner 1998. Für den aktuellen Stand der großen Debatten siehe Wæver 2010.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 15
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2. Lehren und Studieren: Welches Lehrbuch?


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Vor dem Hintergrund einer zunehmend komplexen Theorienland-


schaft ist der Bedarf an Einführungen in die Theorien der Interna-
tionalen Beziehungen groß. Eine theoriegeleitete Vermittlung und
Reflexion dessen, „was in der Welt passiert“, ist in der universi-
tären Lehre notwendiger denn je, geht es doch darum, die fun-
damentalen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre auf
nahezu allen Politikfeldern – Sicherheit, Herrschaft, Wirtschaft,
Umwelt und Kultur – theoretisch zu verarbeiten. Dementspre-
chend wichtig ist es, dass Studierende mit Hilfe einschlägiger
Lehrbücher bereits im Grundstudium lernen, reflektierend mit
Theorien umzugehen und begründete Theorieentscheidungen zu
treffen. Ein gutes Angebot an Darstellungen, welche die sich stetig
ausdifferenzierende und damit kaum noch überschaubare Theo-
rienlandschaft in den Internationalen Beziehungen für Studierende
erfahrbar und erlernbar machen und den Lehrenden geeignete
Handreichungen für die didaktische Vermittlung des Wissens über
Theorien geben, ist dafür essentiell. Die Einführung modularisier-
ter und zeitlich stark verkürzter Bachelor- und Master-Studien-
gänge hat die diesbezüglichen Anforderungen an Lernende und
Lehrende ganz erheblich erhöht und den Bedarf an Lehrbüchern
verstärkt. Dies betrifft insbesondere den deutschsprachigen Raum,
in dem erst seit Beginn der 2000er Jahre von einer im Entstehen
begriffenen „Lehrbuchkultur“ die Rede sein kann. Im Vergleich
zum angloamerikanischen Sprachraum eine erst spät einsetzende
Entwicklung.
Die Darstellung der Theorien der Internationalen Beziehungen er-
folgt in der Regel im Rahmen von Einführungen in den Gegenstand
der Disziplin oder aber als eigenständige Einführung in die Theorien
der Internationalen Beziehungen. Während die Qualität und Vielfalt
von Einführungen in den Gegenstand und in die Theorie der Inter-
nationalen Beziehungen auf dem englischsprachigen Markt traditio-
nell hoch und das Spektrum bezüglich der Auswahl verschiedener
didaktischer Konzepte entsprechend groß ist,6 hat es an eigenständi-

6 Aktuelle englischsprachige Einführungen in den Gegenstand bieten beispiels-


weise Baylis/Smith 2010; Jackson/Sørensen 2010; Roskin/Berry 2009; Gold-
stein/Pevehouse 2009; Frieden/Lake/Schultz 2009; Steans/Pettiford 2005; Grif-
16 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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gen deutschsprachigen Überblicksdarstellungen der Theorien inter-


nationaler Beziehungen lange Zeit nahezu vollständig gemangelt.7
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Erst seit den 2000er Jahren hat sich in den sozialwissenschaftlichen


Programmen des VS-Verlages, des Nomos-Verlages, im Olden-
bourg Verlag und im Verlag Barbara Budrich ein sich zunehmend
ausdifferenzierendes Lehrbuchsegment entwickelt, zu dem auch
Lehrbücher gehören, die in den Gegenstand des Fachs und die Theo-
rien Internationaler Beziehungen einführen. So bieten Schimmelfen-
nig (2008, 2010) bei Schöningh/UTB, Auth (2008), Lehmkuhl (1997,
2001), Lemke (2000, 2008), Gu (2000) im Oldenbourg Verlag, Krell
(2004, 2009) bei Nomos, Menzel (2004) bei Suhrkamp und Schie-
der/Spindler (2003, 2006) im Verlag Barbara Budrich/UTB an ver-
schiedenen didaktischen Konzepten orientierte Einführungen in die
Theorie der Internationalen Beziehungen an. In den Gegenstand des
Fachs führen Masala/Sauer/Wilhelm (2010), Hartmann (2001, 2009)
und List (2006) bei VS-Verlag, Ferdowsi (2002) und Knapp/Krell
(2000) bei Oldenbourg, Filzmaier/Gwessler/Höll/Mangott (2005) bei
WVU/UTB und Feske/Antonczyk/Oerding (2010) bei Verlag Bar-
bara Budrich ein.8 Die noch 2001 in Umfrageergebnissen über den

fiths 2007; Griffiths/O’Callaghan 2001; vgl. auch das exzellente Handbook of


International Relations von Carlsnaes/Risse/Simmons 2002 und das neue Ox-
ford Handbook of International Relations von Reus-Smit/Snidal 2008a. In die
Theorien der Internationalen Beziehungen führen u.a. Jørgensen 2010; Dunn/
Kurki/Smith 2010; Viotti/Kauppi 2009; Dougherty/Pfaltzgraff 2009; Burchill et
al. 2009; Brown/Ainley 2009; Daddow 2009 und Sterling/Folker 2006 ein. Für
den Stand der Theorien in den 1990er Jahren vgl. auch die etwas anspruchsvol-
leren Bände von Booth/Smith 2002 und Smith/Booth/Zalewski 2004.
7 Dies gilt grosso modo auch für den Fachzeitschriftenmarkt, der für die Theorie-
entwicklung in den IB eine wichtige Rolle spielt. Das Gros an Zeitschriften mit
dem Schwerpunkt „Theorie“ erscheint im englischsprachigen Raum: Alternatives,
European Journal of International Relations, International Organization, Interna-
tional Studies Quarterly, International Theory, Millennium, Review of Internatio-
nal Studies, International Security, The British Journal of Politics and Interna-
tional Relations, World Politics. In Deutschland hat sich neben der von der Fach-
vereinigung der DVPW herausgegebenen Politischen Vierteljahresschrift, die ne-
ben den Internationalen Beziehungen auch die Bereiche Politische Theorie, Kom-
paratistik und Regierungslehre der Bundesrepublik sowie den Methodenbereich
der Politikwissenschaft bedient, die Zeitschrift für Internationale Beziehungen
(ZIB) als das zentrale Publikationsmedium für die Theorie der Internationalen Be-
ziehungen etabliert.
8 Ältere deutschsprachige Theorieüberblicke mit Lehrbuchstatus wie Haftendorn
1975; Frei 1977; Meyers 1981; Behrens/Noack 1984; Rittberger 1990 sind bereits
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 17
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Einsatz von Lehrtexten in den Einführungskursen konstatierte Ver-


mutung, dass die Studierenden in erster Linie über die großen Theo-
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riedebatten der 1970er und 1980er Jahre „sozialisiert“ werden und


aktuelle Theorieentwicklungen demnach in den deutschen Curricula
der Internationalen Beziehungen nur geringe Berücksichtigung fin-
den (vgl. Albert/ Hellmann 2001), dürfte vor dem Hintergrund einer
neuen, nun auch deutschsprachigen Lehrbuchkultur keine Gültigkeit
mehr haben.9
Die didaktische Aufbereitung des Wissens über Theorien der
Internationalen Beziehungen entscheidet maßgeblich über die
Qualität der Lehrbücher und ist folglich ein zentrales Kriterium für
die Wahl des „richtigen“ Buches. Im folgenden Kapitel stellen wir
in Abschnitt 3.2. unser didaktisches Konzept für diesen Band vor,
von dem wir hoffen, dass es in Studium und Lehre der Theorien
der Internationalen Beziehungen überzeugt und sich in der nun-
mehr vorliegenden dritten Auflage auch weiterhin bewährt.

3. Zum vorliegenden Band


Das Motiv für die Herausgabe eines Theorie-Sammelbandes mit
Lehrbuchcharakter geht auf unsere persönlichen mehrjährigen
Lehrerfahrungen an der Technischen Universität Dresden und den
Universitäten Mannheim, Trier und Erfurt zurück. Der Band hat
zum einen den Charakter eines Kompendiums, das in die wichti-
gen und anschlussfähigen Theorien der Internationalen Beziehun-
gen einführt. Zum anderen versteht sich der Band auch als eine Art
Landkarte, auf der sich die ‚Koordinaten‘ des Zustands gegenwär-
tiger Theorien ablesen lassen. Damit liefert er zugleich einen
‚Kompass‘, der mögliche Entwicklungsrichtungen anzeigt, welche
die Theorien der Internationalen Beziehungen in den nächsten Jah-

seit den 1990er Jahren veraltet; ebenso die Theoriedarstellungen in den deutsch-
sprachigen Einführungen in die Internationalen Beziehungen wie Tauras/Meyer/
Bellers 1994; Pfetsch 1994; List/Behrens/Reichardt/Simonis 1995; Druwe/Hahl-
bohm/Singer 1998; Albrecht 1999.
9 Innovative Impulse für die politikwissenschaftliche Lehre mit Multiplikatoreffekt
wurden zudem mit der großangelegten politikwissenschaftlichen Plattform „Politi-
kON“ (http://www.politikon.org) initiiert. Zum Nutzen und Nachteil der neuen
Medien in der Lehre von den Internationalen Beziehungen vgl. Schieder 2003.
18 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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ren einschlagen werden. So sahen wir es als sinnvoll und notwen-


dig an, eine relativ große Gruppe jener neueren kritischen und
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postmodernen Theorien in ihren unterschiedlichen Ausprägungen


zu integrieren, welche die Konturen der Disziplin der Internatio-
nalen Beziehungen in den letzten Jahren schrittweise verändert
haben bzw. weiterhin verändern werden.
Über die Lektüre des Sammelbandes sollen zwei Lernziele er-
reicht werden: Zum einen ist mit dem Band eine generelle Sensi-
bilisierung für den Theorienpluralismus in den Internationalen Be-
ziehungen beabsichtigt sowie insbesondere die Reflexion darüber,
was Theorie ist und was sie leisten kann und soll (Abschnitt 3.1).
Zum anderen benötigen Studierende auch eine umfassende Kennt-
nis der substanziellen Theorien der Internationalen Beziehungen.
In der Aneignung dieser breiten inhaltlichen Kenntnisse über die
Lektüre der Beiträge in diesem Band liegt das zweite Lernziel.
Alle Beiträge bauen auf ein einheitliches, didaktisches Konzept
auf, das im Abschnitt 3.2 ausführlich erläutert wird.

3.1 Theorieverständnis

Es liegt in der Logik der eingangs skizzierten Entwicklung der


Disziplin, dass weder eine allgemein akzeptierte, noch eine ver-
bindliche Theorie der Internationalen Beziehungen existiert. Folg-
lich sucht man auch vergeblich nach einem allgemein anerkannten
Theoriebegriff. Um dennoch eine Aussage darüber treffen zu kön-
nen, was wir meinen, wenn wir von Theorien der Internationalen
Beziehungen sprechen, müssen wir zunächst den Gegenstandsbe-
reich der Disziplin – die internationalen Beziehungen – zumindest
grob umreißen. Auf der Ebene eines „kleinsten gemeinsamen defi-
nitorischen Nenners“ werden internationale Beziehungen als ein
Beziehungsgeflecht grenzüberschreitender Interaktionen staatli-
cher und nichtstaatlicher Akteure verstanden (Kohler-Koch 2001:
263), die gewöhnlich in die Bereiche der internationalen Politik
und der transnationalen Beziehungen unterteilt werden. Der tradi-
tionelle Begriff der internationalen Politik birgt ein Bild der inter-
nationalen Beziehungen als Staatenwelt, in dem die staatlichen
Akteure aus dem Bereich des politischen Systems als die entschei-
denden angesehen werden. Dieses Bild von der Staatenwelt wird
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 19
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häufig dem der „Gesellschaftswelt“ (Czempiel 1991) gegenüber


gestellt, in der Staaten zwar nach wie vor eine wichtige Rolle spie-
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len, in der aber vor allem der wachsenden Rolle grenzüberschrei-


tender Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure, wie gesellschaftlichen
Akteuren und internationalen Organisationen, Rechnung getragen
wird. Dazu zählen beispielsweise Nichtregierungsorganisationen
(z.B. Amnesty International), wirtschaftliche Akteure (z.B. trans-
nationale Konzerne wie Siemens oder Google Inc.), globale sozia-
le Bewegungen (z.B. die „Antiglobalisierungsbewegungen“) oder
auch zwischenstaatliche internationale Organisationen wie bei-
spielsweise die Vereinten Nationen, supranationale Einrichtungen
wie die Europäische Union oder Regierungsforen wie die G 20.
Der Begriff der „internationalen Beziehungen“ bedarf jedoch einer
weiteren Differenzierung: Als Gegenstand der Internationalen Bezie-
hungen als einer politikwissenschaftlichen Teildisziplin verweist der
Begriff in erster Linie auf das „Politische“ dieser Beziehungen und
ihrer Inhalte. Unter Politik verstehen wir die autoritative Verteilung
von materiellen und immateriellen Werten (etwa die Zu- und Vertei-
lung wirtschaftlichen Reichtums über Steuergesetze und Wohl-
fahrtsprogramme an die Bürgerinnen und Bürger eines Landes) durch
das politische System qua legitimer staatlicher Autorität (Easton
1965). Die Anwendung eines so verstandenen Politikbegriffs auf die
internationalen Beziehungen, wie dies in Deutschland vor allem von
Ernst-Otto Czempiel (1981) vorgeschlagen wurde, erscheint zunächst
schwierig, da es in den internationalen Beziehungen keine mit einem
Gewaltmonopol und damit Sanktionsgewalt ausgestattete Autorität
(etwa eine Weltregierung) gibt, die für alle verbindliche Regeln und
Normen setzt und deren Einhaltung überwacht. Dieser Zustand der
internationalen Beziehungen wird in der Regel mit dem Begriff der
„Anarchie“ gefasst. Auch wenn es in den internationalen Beziehun-
gen diese übergeordnete Instanz nicht gibt, so wird doch deutlich,
dass das Handeln der staatlichen und nichtsstaatlichen Akteure in den
internationalen Beziehungen eine verbindliche Verteilung von Wer-
ten bewirkt oder auf eine solche Verteilung ausgerichtet ist – mithin
also „politisch“ relevant ist. Wer bekommt was und wie viel an Si-
cherheit, Wohlstand, Autonomie usw.10 Durchgesetzt wird die Zu-

10 Im Sinne der klassischen Definition von Politik als „who gets what, when, and
how“ von Harold Lasswell (1958: 13).
20 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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und Verteilung von Werten in den internationalen Beziehungen in


Ermangelung einer übergeordneten Instanz meist über den Modus
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der Macht oder auch auf der Basis freiwilliger Zusammenschlüsse


auf der Grundlage gemeinsamer Werte, Interessen oder Ziele – bei-
spielsweise durch Internationale Organisationen. Zunehmend gewin-
nen Prozesse einer „Verrechtlichung“ der internationalen Politik bei
der Werteallokation und -verteilung an Bedeutung. Für die interna-
tionalen Beziehungen politisch relevant sind ferner Tauschprozesse,
die primär über Märkte und deren Trägerakteure (vor allem Wirt-
schaftsakteure) organisiert werden. Ein Beispiel sind die Aktivitäten
von internationalen Unternehmen, aber auch von anderen Akteuren
im Bereich der internationalen Handels- und Finanzbeziehungen wie
beispielsweise Rating-Agenturen (z.B. Standard & Poor’s, Moody’s
oder Fitch), deren Bewertung der Kreditwürdigkeit von Unternehmen
und Staaten von hoher Relevanz für die Allokation und Verteilung
von Wohlfahrtsgewinnen sind. Die gegenwärtige weltweite Finanz-
und Staatsschuldenkrise hat dies schmerzhaft deutlich gemacht.
Die freiwillige Koordination internationaler Politik erfolgt in
der Regel über Assoziationen bzw. so genannte Netzwerke oder
kann die Form von internationalen nicht-gouvernementalen Orga-
nisationen annehmen. So können internationale Menschenrechts-
netzwerke Druck in Richtung eines Wandels menschenrechtsver-
letzender politischer Systeme erzeugen und wirken dadurch im
Sinne einer Zuweisung von Werten. Gleiches gilt für die Politik
zwischenstaatlicher internationaler Organisationen wie des IWF
oder der Weltbank.
Die internationalen Beziehungen bestehen daher im weitesten
Sinne als das Gesamtgefüge aller grenzüberschreitenden Interak-
tionen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, die zu
politisch relevanten Wertzuweisungen in den Bereichen Sicher-
heit, Wirtschaft, Herrschaft und Umwelt führen.
Theorien der Internationalen Beziehungen treffen dann im wei-
testen Sinne allgemeine Aussagen über dieses Beziehungsgeflecht
grenzüberschreitender Interaktionen und das darin politisch rele-
vante, auf Wertzuweisungen gerichtete Handeln von staatlichen
und nichtstaatlichen Akteuren.
Darüber hinaus halten wir den Verweis auf drei zentrale Di-
mensionen von Theorien für wichtig. Eine Theorie macht erstens
Aussagen über die Sichtweise des Betrachters auf den Untersu-
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 21
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chungsgegenstand. Das ist die ontologische Dimension. Die einer


Theorie zugrundeliegende Ontologie, also das „So-Sein“ von Welt,
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meint die Antwort auf die Frage, welche substanziellen Vorstel-


lungen, welches „Weltbild“ – verstanden als ein System von Über-
zeugungen – eine Theorie von ihrem Gegenstand, hier den inter-
nationalen Beziehungen, erzeugt. Gefragt wird, „was ist?“ bzw.
„wie ist der Gegenstand beschaffen?“ In diesem Sinne formuliert
eine Theorie der internationalen Beziehungen allgemeine Annah-
men über die internationalen Beziehungen, d.h. das Handlungsum-
feld der Akteure, die Art oder „Qualität“ der entscheidenden Ak-
teure, deren Ziele und Präferenzen sowie die Triebkräfte interna-
tionaler Politik und deren grundlegende Probleme und Entwick-
lungsperspektiven. Einige Beispiele mögen das Gesagte ver-
deutlichen: So erzeugt beispielsweise der Neorealismus ein Welt-
bild der internationalen Beziehungen, das diese als ausschließlich
durch staatliche Akteure konstituierte Beziehungen fasst. Betont
wird das Fehlen einer übergeordneten Instanz, die verbindliche
Normen und Regeln setzt, die die Staaten hindern würden, sich
gegenseitig anzugreifen. Auf der Basis von materiellem Eigeninter-
esse ist das Handeln der Staaten daher grundsätzlich auf Sicherheit
gerichtet. Es unterliegt den Strukturzwängen des internationalen Sy-
stems, die aus der Machtverteilung zwischen den Staaten resultieren.
Auch institutionalistische und liberale Theorien gehen von Anarchie
als Grundzustand des internationalen Systems aus, messen Regeln,
Normen und Institutionen sowie im Fall von liberalen Ansätzen in-
nerstaatlichen Präferenzbildungsprozessen jedoch eine weit größere
Bedeutung zu. Für liberale Ansätze sind es nicht die Staaten, son-
dern Individuen und gesellschaftliche Gruppen, die als entscheiden-
de Akteure in den internationalen Beziehungen agieren und damit
die Zuteilung von Werten beeinflussen. Weltsystemtheoretiker da-
gegen nehmen das globale kapitalistische System bzw. „Weltsys-
tem“ als zentrale Analyseeinheit und Ausgangspunkt ihrer theoreti-
schen Überlegungen und machen die Wechselwirkung von staatlich
bzw. in einem zwischenstaatlichen internationalen System organi-
sierter Politik und globaler Ökonomie als Triebkraft internationaler
Beziehungen aus. Sozialkonstruktivisten räumen insbesondere so-
zialen Faktoren, wie Normen, Ideen, Identitäten oder diskursiven
Lernprozessen einen herausragenden Stellenwert als Erklärungs-
faktoren für die Ergebnisse internationaler Politik ein.
22 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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Neben dem zugrunde liegenden Weltbild erhebt jede Theorie


einen Geltungsanspruch bezüglich des Untersuchungsgegenstan-
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des. Dies führt uns zur zweiten, der so genannten epistemologi-


schen Dimension von Theorie. Der epistemologische Standpunkt
bezieht sich auf die Modi der Erkenntnisgewinnung und das da-
hinter liegende Wissenschaftsverständnis. Hierbei geht es also
nicht darum, wie die Welt und der Gegenstandsbereich beschaffen
sind (Ontologie), sondern um eine Begründung dafür, was als Ge-
genstand und Erkenntnis überhaupt in Betracht kommt und wie
wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden können. Dieses
Kriterium wird oft auch als Kriterium „zweiter Ordnung“ oder als
„Meta-Theorie“ bezeichnet. Für die Sozialwissenschaften im All-
gemeinen und die Politikwissenschaft im Speziellen besitzt die
Metatheorie – im Unterschied zur Philosophie oder der Wissen-
schaftstheorie – lediglich eine instrumentelle Funktion. Das be-
deutet jedoch nicht, dass Fragen des Erkenntnisgewinns den on-
tologischen nachrangig seien. Wie im Zusammenhang mit der so
genannten „dritten Debatte“ festgestellt werden konnte, gewann
seit den 1990er Jahren gerade diese Dimension in der theoreti-
schen Kontroverse zunehmend an Bedeutung.
Epistemologische Fragen liegen quer zu den ontologischen
Trennlinien, das heißt, Vertreter ein und derselben Theorieströmung,
die eine ganze Reihe von Grundannahmen (Ontologie) teilen, kön-
nen in der Frage des Erkenntnisgewinns und dessen, was als „Er-
kenntnis“ in den Internationalen Beziehungen Gültigkeit beanspru-
chen kann, zum Teil gegensätzliche Positionen einnehmen. Für den
Zweck einer ersten Annäherung an diese Problematik können die
Theorien der Internationalen Beziehungen sehr grob in „positivisti-
sche“ und „postpositivistische“ Theorien unterteilt werden.11
Positivistische Modi der Erkenntnisgewinnung in den Sozial-
wissenschaften orientieren sich am naturwissenschaftlichen Wis-
senschaftsideal.12 Einem solchen Ideal verpflichtet, fassen Theo-

11 Zur Problematik unterschiedlicher epistemologischer Positionen in den Interna-


tionalen Beziehungen vgl. Wight 2002; Mayer 2003; Hollis/Smith 2004; grund-
sätzlich Chalmers 1986; Outhwaite 1992; Ritsert 1996 und Meinefeld 1995.
12 Der Positivismus – der auf den französischen Philosophen Auguste Comte zu-
rückgeht – geht davon aus, dass nur das Wirkliche, Tatsächliche und mithin das
„Positive“ der Erfahrung zur Erkenntnis führe. Die Position wird traditionell oft
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 23
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rien die gesellschaftliche Wirklichkeit der internationalen Bezie-


hungen als ein „Objekt“ auf, das gewissermaßen von „außen“, also
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durch den Forscher als werturteilsfreiem außen stehenden Beob-


achter, untersucht werden kann. Ziel ist es (und es wird grund-
sätzlich für möglich gehalten), die Genese der Strukturen und den
Ablauf von Prozessen in den internationalen Beziehungen auf der
Basis empirisch „bewiesener“ Kausalitäten zu erklären und so all-
gemeingültige Theorien der internationalen Beziehungen zu for-
mulieren. Der Begriff der Theorie wird hier in einem engeren wis-
senschaftlichen Sinne gebraucht: Positivisten sprechen von Theo-
rie und Theoriebildung immer in einem (natur)wissenschaftlichen
Sinne und meinen damit einen unverrückbaren Satz allgemeiner
Aussagen über Ursache-Wirkungsbeziehungen, die in der Regel
als Beziehungszusammenhänge zwischen Variablen (also Mess-
größen) gefasst werden nach dem Schema: Wirkung B als Verän-
derung des Wertes der abhängigen Variablen tritt durch die Ursa-
che A, also das Auftreten oder Veränderungen von Werten der un-
abhängigen Variablen, ein.
Es lassen sich in der Regel sieben Leistungen von Theoriebil-
dung von diesem epistemologischen Standpunkt aus formulieren.
Theorien bestimmen zunächst einmal, was als relevante Informa-
tion aufgenommen und was als Information vernachlässigt werden
kann (Selektionsleistung). Eine Theorie bezieht sich zweitens auf
einen bestimmten Sachbereich, grenzt ihn damit zugleich ein und
legt seine erkenntnistheoretische Position fest (Definitionsleis-
tung). Drittens sammeln Theorien Aussagen über einen bestimm-
ten Gegenstandsbereich und entfalten dabei eine spezifische Ter-
minologie (Integrationsleistung). Viertens hat eine Theorie auch
die Funktion der Systematisierung, indem sie Phänomene eines
Sachbereichs ordnet und in Beziehung zueinander setzt (Systema-
tisierungsleistung). Fünftens, eine Theorie stellt Hypothesen auf,
konstatiert Gesetzmäßigkeiten, leitet Gesetze her oder entwickelt
Strukturmodelle (Abstraktionsleistung). Sechstens liefert eine Theo-
rie auch Erklärungen für die Gesetzmäßigkeiten ihres Gegenstands-
bereichs (Explikationsleistung). Schließlich stellen Theorien auch
Prognosen für das Auftreten bestimmter Phänomene innerhalb ihres

auch als „Szientismus“ bezeichnet, da sie sich am naturwissenschaftlichen Ideal


(engl. science) ausrichtet.
24 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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jeweiligen Sachbereichs auf (Prognoseleistung).13 Theorien wie der


Neorealismus, die Regimetheorie oder auch die liberalen Theorien
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erheben explizit den Anspruch, „wissenschaftliche“ Erklärungen bis


hin zu Prognosen für das Zustandekommen bestimmter Phänomene
der internationalen Politik zu liefern (Elman/ Elman 2003).14
Der am szientistischen Ideal orientierte Theoriebegriff ist bis
heute dominant, wenngleich sich seine Verfechter zunehmender
Kritik ausgesetzt sehen und ihre Vorherrschaft langsam bröckelt.
So haben insbesondere die 1990er Jahre eine Vielzahl von kriti-
schen, postmodernen oder normativen Ansätzen hervorgebracht,
die sich – bei allen Unterschieden auf der ontologischen Ebene –
in der Zurückweisung des positivistischen Wissenschafts- und Theo-
rieverständnisses einig sind und häufig unter dem Sammelbegriff
„Post-Positivisten“ subsumiert werden. Der Begriff selbst zeigt an,
dass die Auseinandersetzungen eine erkenntnistheoretische Ära
„nach“ dem bis dahin vorherrschenden Positivismus anbrechen
lassen, die durch das Nebeneinanderbestehen einer Vielzahl er-
kenntnistheoretischer Positionen gekennzeichnet ist.
Traditionell verläuft die epistemologische Bruchlinie in den So-
zialwissenschaften – auch dies eine sehr grobe, den Einstieg er-
leichternde Vereinfachung – zwischen „Erklären“ und „Verste-
hen“. Sie wird in den Internationalen Beziehungen – wie bereits
oben angeklungen – als Debatte zwischen Szientismus und Tradi-
tionalismus präsentiert (vgl. auch Hollis/Smith 2004). Erklärende
Ansätze gehen grundsätzlich davon aus, dass Erkenntnisse in Be-
zug auf die soziale und materielle Welt auf dem selben Weg zu er-
reichen sind, weil soziale Phänomene vorwiegend durch objektive,
empirisch erfahrbare Gegebenheiten bestimmt seien. Verstehende
Ansätze dagegen postulieren, dass soziale Phänomene vorrangig
durch subjektive Wahrnehmungen und Sinnzuschreibungen be-
stimmt werden (vgl. Giddens 1982). Folglich ist auch der Erkennt-
nisweg ein anderer. Der sozialwissenschaftliche Forscher oder die
Forscherin kann in dieser Perspektive nicht außerhalb seines oder
ihres Erkenntnisgegenstands stehen, da er oder sie selbst und da-

13 Zu einem zusammenfassenden Überblick vgl. Pittioni 1996. Zu den Funktionen


von Theorien vgl. auch Frei 1977: 13-15 und Haftendorn 1975, 1990: 480-481.
14 Exemplarisch für dieses Verständnis von Theorie ist Kenneth N. Waltz (1979:
Kap. 1). Zu Theoriebildung vgl. auch Hellmann (1994: 71-81) und die dort an-
geführten weiterführenden Hinweise zur relevanten Literatur.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 25
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mit Sozialwissenschaft insgesamt immer Teil der gesellschaftli-


chen Zusammenhänge ist, die es zu untersuchen gilt. Das bedeutet,
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dass für verstehende Ansätze gesellschaftliche Tatbestände grund-


sätzlich keine „Objekte“ sind, die von außen betrachtet werden
können. Das Handeln der Akteure in den internationalen Bezie-
hungen kann also nur von „innen“, aus dem gesellschaftlichen Be-
ziehungszusammenhang heraus, und somit immer nur hermeneu-
tisch und interpretativ, d.h. auf dem Weg des „Verstehens“ vollzo-
gen werden. Sozialwissenschaft ist damit letztlich auch immer rück-
gebunden an die Werturteile derer, die sie betreiben.
Zu dieser traditionellen Trennlinie zwischen „Erklären“ und
„Verstehen“ sind seit den späten 1980er Jahren radikalere episte-
mologische Standpunkte getreten, die das postpositivistische La-
ger „stärken“. So gehen „postmoderne“ bzw. „poststrukturalisti-
sche“ Ansätze von einer epistemologischen Position aus, wonach
„Wissen“ abhängig von kulturellen, historischen und ideologi-
schen Kontexten sei. Die „Realität“ ist immer eine Konstruktion, die
ihre Bedeutung erst in einem größeren Kommunikations- und Dis-
kurszusammenhang erlangt. Mit unseren wissenschaftlichen Er-
kenntnisverfahren bilden wir als Forscher nicht einfach eine außen
liegende Welt adäquat ab, sondern vermittels unserer Begriffe und
sprachlichen Metaphern zeichnen wir vielmehr ein Bild von der
Welt, von dem wir nie mit Sicherheit wissen können, inwieweit es
mit der „realen Welt“ übereinstimmt – „we construct worlds we
know in a world we do not“ (Onuf 1989: 42f). Dieser mit dem Be-
griff des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus umschriebene
Standpunkt distanziert sich von allen Verkürzungsversuchen unse-
rer Erkenntnisformen auf ein einziges Methodenideal (vgl. Guzzi-
ni 2000). Darüber hinaus erhebt eine radikale epistemologische
Perspektive nicht den Anspruch, Veränderungen in der Welt direkt
erfassen und damit erforschen zu können, da das Wissen über sie
selbst wiederum eine sprachliche Konstruktion ist.15

15 Intellektuell gespeist wurde die Vorstellung von der sprachlichen Konstruktion


von Wirklichkeit durch den so genannten „linguistic turn“ im philosophischen
Diskurs der Moderne. Er bezeichnet letztlich die Einsicht, dass die Sprache kon-
struiert, was Wirklichkeit ist. Sprache fungiert nicht mehr nur als transparentes
Medium im Diskurs, sondern sie ist vielmehr eine Wirklichkeit, in der Erkennt-
nis erst entsteht. Diese Einsicht verändert nicht nur die traditionelle Epistemolo-
26 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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Anders als Vertreter eines epistemologischen Konstruktivismus


lehnen dagegen Sozialkonstruktivisten die Erkenntnisgewinnung
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mit Hilfe positivistischer Methoden nicht rundweg ab, sondern


wollen sie lediglich um interpretative bzw. verstehende Methoden
ergänzen und so eine „Brücke“ zwischen rationalistisch-positivis-
tischen und interpretativen Ansätzen bauen (Adler 1997; Checkel
1998: 327; vgl. zusammenfassend auch Risse 2003).
Eine Vielzahl von Theoretikern und Theoretikerinnen der Inter-
nationalen Beziehungen bringen ihre positivismuskritische Posi-
tion dadurch zum Ausdruck, dass sie den am naturwissenschaft-
lichen Ideal orientierten kausalen Theoriebegriff erst gar nicht ver-
wenden und lieber von „Ansätzen“ oder „Perspektiven“ sprechen
– wie bereits in den Titeln einer Reihe von Beiträgen in diesem
Band zu sehen ist.
Schließlich möchten wir auf eine dritte Dimension von Theo-
rien verweisen, nämlich auf die häufig implizite, selten explizite
normative und auf die gesellschaftliche Praxis abzielende Funk-
tion von Theorie. Die normative Funktion von Theorien der Inter-
nationalen Beziehungen wurde lange Zeit in der einschlägigen
theoretischen Literatur eher am Rande diskutiert. In neueren Ein-
führungen in die Theorien und in den Gegenstand der Internatio-
nalen Beziehungen wird hingegen ganz selbstverständlich davon
ausgegangen, dass „all theories of international relations and glo-
bal politics have important empirical and normative dimensions,
and their deep interconnection is unavoidable“ (Reus-Smit/Snidal
2008b: 6). Die normative Dimension kann man als Stiften von
„Handlungssinn“ oder Anleitung zu politischem Handeln um-
schreiben. Sie begründet, was „sein soll“. Dass sozialwissenschaft-
liche Theorien das Handeln von politischen Entscheidungsträgern
beeinflussen ist nicht erst klar, seit die Ideen von John Maynard
Keynes beim politischen Management der wirtschaftlichen Pro-
bleme der Nachkriegszeit in den westlichen Industriestaaten ihre
praktische Umsetzung erfuhren (vgl. Hall 1989). Als praktisch-
politische Handlungsanleitung gewinnen Theorien damit einen
Stellenwert weit über den akademischen Bereich hinaus, wobei ih-
re Funktion nicht nur darin besteht, eine Anleitung zum Handeln

gie, sondern den Begriff von der Erkenntnis selbst. Vgl. dazu grundlegend
Rorty 1967.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 27
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zu geben, sondern eben diese handlungsleitende Funktion auch zu


reflektieren, also die „Theoriegeleitetheit“ der politisch Handeln-
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den selbst zum Thema zu machen. Dieser Aspekt wird – gerade


von positivistischen Theorien mit ihrem primär erklärenden An-
spruch – häufig „vergessen“ oder verschwiegen.
Aus den bisherigen Ausführungen folgt zwangsläufig, dass sich
eine „wissenschaftliche Beratung“ der praktischen Politik letztlich
nie auf die „Wissenschaft“ als Letztinstanz beziehen kann, da un-
terschiedliche Wissensbestände demnach „miteinander konkurrie-
ren und konkurrierende Wahrheitsansprüche nicht zweifelsfrei
aufgelöst werden [können]“ (Renn 2006: 56; vgl. auch Stichweh
2006).16
Mit den in diesem Band versammelten „Theorien“ präsentieren
wir also Theorien, Ansätze, Perspektiven, aber auch Konzepte, die
im weitesten Sinne allgemeine Aussagen über internationale Be-
ziehungen treffen. Auch für Konzepte wie z.B. „Interdependenz“
oder „Weltgesellschaft“ und „Globalisierung“ lassen sich die ge-
nannten Dimensionen von Theorien offen legen, auch wenn es
keine Interdependenz- oder Globalisierungstheorie im engeren
Sinne gibt, sondern allenfalls ein theoretisches Nachdenken über
Probleme der zunehmenden Internationalisierung und Globalisie-
rung. Häufig sind Konzepte wichtige „Bausteine“ für sich an-
schließende Theorieentwicklungen.17

3.2 Das didaktische Konzept der Beiträge

Der in dem Band unternommene Versuch einer Darstellung der


wichtigsten Theorien der Internationalen Beziehungen soll die
Übersicht über die verschiedenen Theorieentwürfe und Theoreti-
ker erleichtern, ohne dass jedoch einem Denken in „Schubladen“

16 Die Politikberatung erlebt in Deutschland seit den vergangenen Jahren einen


enormen Aufschwung. Zu Politikberatung und politikberatenden Einrichtungen
im Überblick u.a. Falk et al. 2006; Bröchler/Schützeichel 2008; Weingart/
Lentsch 2008; Falk/Römmele 2009. Für den Bereich der Internationalen Bezie-
hungen vgl. u.a. Hellmann 2006; Ihne 2007; Perthes 2007. Im VS-Verlag für
Sozialwissenschaften erscheint seit 2008 die „Zeitschrift für Politikberatung“.
17 So fußt beispielsweise die Regimetheorie auf der vorangehenden Konzeptuali-
sierung von „Interdependenz“.
28 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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das Wort geredet wird. Die eingangs skizzierte dominierende Dar-


stellung der Theorien als „Parteien“ in „großen Debatten“ kann
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dies nicht leisten. Eine solche Sichtweise führt zu klar gegenein-


ander abgrenzbaren idealtypischen Konstruktionen zweier „Kon-
kurrenten“ oder gar Gegnern, von denen jeder einzelne über theo-
retische Positionen und Erkenntnisinteressen verfügt, die sich „ge-
genüberstellen“ lassen. Erst durch diese „Konstruktion“ jedoch
entsteht das Bild des jeweils „anderen“, wie des Idealismus, des
Traditionalismus, des Positivismus – in der Regel mit dem Zweck,
eine bestimmte Perspektive zu legitimieren und andere zu delegiti-
mieren (Dryzek/Leonhard 1988).18
Um dieses eher vernebelnde denn erhellende Bild von der Dis-
ziplin zu vermeiden, gehen wir mit diesem Band einen anderen
Weg und orientieren uns bei der Darstellung der Theorien an der
Idee eines Referenztheoretikers bzw. einer Referenztheoretikerin.19
Dies hat zunächst den Vorteil, dass die Studierenden so mit einem
in sich konsistenten theoretischen Kern konfrontiert werden und
nicht mit einer Gesamtdarstellung so genannter „Großtheorien“
wie z.B. dem Realismus, Liberalismus oder Institutionalismus, die
eine Vielzahl „interner“ Verzweigungen enthalten. Eine Annähe-
rung an theorieinterne Differenzierungen und Debattenlinien er-
scheint uns leichter nach der Lektüre eines in sich konsistenten
Theoriemodells, wie es durch die Darstellung der theoretischen
Überlegungen des jeweils wichtigsten Referenztheoretikers bzw.
der wichtigsten Referenztheoretikerin möglich wird. Interne Diffe-
renzierungen der jeweiligen Theorieströmung nehmen damit zwar
einen geringeren Platz ein, dies halten wir jedoch gerade im Hin-
blick auf unsere primäre Zielgruppe für gerechtfertigt, ja für den
Lernerfolg im Grundstudium geradezu erforderlich. Der Unter-
schied zu einem Theorieband für Fortgeschrittene besteht vor al-

18 Vgl. beispielsweise zur Idealismus-Realismus-Debatte Thies 2002, zur Kritik


der „orthodoxen“ Sichtweise insgesamt Schmidt 2002.
19 Wir danken unseren ehemaligen Kollegen am Institut für Politikwissenschaft
der TU Dresden André Brodocz und Gary Schaal, die uns mit ihren Bänden zur
Politischen Theorie (Brodocz/Schaal 2001/2002 eine wichtige Quelle der Inspi-
ration waren. Weitere Impulse für unser Lehrbuchkonzept kommen von Wae-
vers „Figures of International Thought: Introducing Persons instead of Para-
digms“ (Waever 1997). Das Konzept der „ReferenztheoretikerInnen“ hat inzwi-
schen Schule gemacht. Vgl. beispielsweise Bieling/Lerch 2005 zu den Theorien
der europäischen Integration.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 29
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lem darin, dass für das Hauptstudium meta-theoretische, also er-


kenntnistheoretische Betrachtungen sowie der Anwendungsbereich
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von Theorien in konkreten Untersuchungs- und Forschungsde-


signs einen höheren Stellenwert einnehmen.
Die Entscheidung, den Band nach Referenztheoretikerinnen
und Referenztheoretikern und nicht nach den gängigen Paradig-
men zu gliedern, macht es möglich, eine ganze Reihe wichtiger
neuer theoretischer Strömungen in den Internationalen Beziehun-
gen aufzugreifen, die sich gegen einen paradigmatischen Zugriff
sperren und in den gängigen Lehrbüchern nicht repräsentiert bzw.
nur am Rande vertreten sind. Dies betrifft beispielsweise das breite
Spektrum an kritischen Ansätzen, wie die Kritische Theorie, den
Feminismus oder postmoderne Ansätze, die in den einschlägigen
Lehrbüchern allzu oft undifferenziert behandelt werden, aber auch
Theorien und Perspektiven aus dem Bereich der Internationalen
Politischen Ökonomie.
Damit die einzelnen Beiträge den Ansprüchen einer Einführung
gerecht werden, folgt jeder Beitrag einer einheitlichen inhaltlichen
Struktur, in welche die zentrale Darstellung des Referenztheoreti-
kers eingebettet ist. Jeder Beitrag besteht aus fünf Komponenten.
(1) Der erste Teil ist die Einleitung. Hier geht es zum einen um
ein grundlegendes Verständnis der wissenschaftlichen Entstehungs-
zusammenhänge durch ein Verorten der jeweiligen Theorie in ih-
rer wissenschaftshistorischen Tradition. Dieses Anliegen wird sys-
tematisch durch Querverweise zu anderen im Band vorgestellten
Theorien unterstützt. Zum anderen wird gerade auch der Darstel-
lung des historisch-politischen Kontextes viel Platz eingeräumt,
denn Theoriebildung in den Internationalen Beziehungen ist – wie
in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen – immer auch eng an
realhistorische Ereignisse (zum Beispiel weltwirtschaftliche Kri-
senerscheinungen oder militärische Konflikte) wie auch an soziale
Milieus bestimmter Universitäts- und Forschungseinrichtungen
und Besonderheiten des akademischen Diskurses rückgebunden.
(2) Im zweiten Abschnitt erfolgt dann die Rekonstruktion und
Entfaltung der Theorie des gewählten Referenztheoretikers bzw.
der Referenztheoretikerin. Durch welches Grundverständnis inter-
nationaler Beziehungen zeichnet sich der Referenztheoretiker bzw.
die Referenztheoretikerin aus? Welche sind die zentralen Frage-
und Problemstellungen seiner bzw. ihrer Theorie? Wie wird er-
30 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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klärt, d.h. welche Erklärungsfaktoren werden herangezogen, auf


welcher Analyseebene und mit welchem Akteursmodell? Worin
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bestehen für den Theoretiker/die Theoretikerin die „Bewegungs-


gesetze“, welches sind für ihn/sie die wichtigsten „Triebkräfte“ in
den internationalen Beziehungen?
(3) Varianten und Spielarten von Theorien wird damit Rech-
nung getragen, dass im Anschluss an die Darstellung des theoreti-
schen Kerns in einem dritten Teil Raum bleibt für die Erörterung
von theorieinternen Differenzierungen und konzeptionellen Quer-
verbindungen, Weiterentwicklungen und interner Kritik. Theorie-
bildung in den Internationalen Beziehungen geschieht in der Regel
nicht isoliert, sondern theoretische Neuerungen bauen in aller Re-
gel immer auch auf Tradiertem auf. Auch lassen sich die mit ei-
nem bestimmten Referenztheoretiker in Verbindung gebrachten
einzelnen Theoriestränge nicht immer messerscharf voneinander
abgrenzen. Oftmals verhalten sich theoretische Konzepte und Ide-
en eher komplementär als rivalisierend zueinander. Eine als ‚Re-
vue‘ klar abgrenzbarer Ansätze und rivalisierender Theorien kon-
zipierte Darstellung ginge an einem Großteil des Interesses und
des Impetus zeitgenössischer Theoriebildung in den Internationa-
len Beziehungen, die zunehmend „ausfranst“ und deren binnen-
theoretische Grenzziehungen unschärfer werden, vorbei.
(4) Im vierten Abschnitt erfolgt eine Darstellung und Rezeption
der externen Kritik. Was sind die Hauptpunkte der aus anderen
theoretischen Strömungen heraus geäußerten Kritik? Welche Re-
levanz hat die Theorie für die heutige Diskussion und wie innova-
tiv ist ihr Forschungsprogramm? Inwieweit ist die Theorie an-
schlussfähig an neuere Erkenntnisse in den Internationalen Bezie-
hungen? In aller Regel lässt sich bei der Darstellung und Weiter-
entwicklung eines theoretischen Ansatzes zwischen „externer“
Kritik, die bereits die Grundannahmen einer Theorie bestreitet,
und „interner“ Kritik unterscheiden, die zwar innerhalb dieser
Theorieströmung verbleibt und damit in der Regel die wesentli-
chen Grundannahmen teilt, aber trotzdem Defizite feststellt und in
der eigenen Theoriebildung signifikante Unterschiede zum Refe-
renztheoretiker oder zur Referenztheoretikerin aufweist. Es gibt
aber auch Fälle, wo die Trennlinie zwischen „internen“ (Abschnitt
3) und „externen“ Kritiken (Abschnitt 4) nicht immer klar gezogen
werden kann, da die interne Differenzierung und Weiterentwick-
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 31
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lung des Theoriestrangs eines Referenztheoretikers oft bereits eine


Reaktion auf externe Kritik darstellt. In solchen Fällen wird die
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Kritik an der theoretischen Referenzfigur schwerpunktmäßig im


vierten Abschnitt dargestellt.
(5) Im abschließenden fünften Abschnitt findet sich ein didak-
tisch aufbereitetes Literaturverzeichnis. Es soll der Vertiefung und
weiteren, eigenständigen Lektüre dienen, indem es explizit auf die
wichtigsten Primär- und Sekundärtexte verweist.
Jede systematische Erfassung der modernen Theorielandschaft
– ob nun entlang von Paradigmen oder Referenztheoretikern – ist
in einem gewissen Maße subjektiv und damit tendenziell anfecht-
bar. Vor diesem Hintergrund ist auch unsere Perspektive von ins-
gesamt achtzehn Theorien, Ansätzen, Perspektiven und Konzepten
der Internationalen Beziehungen zu sehen, deren Kenntnis wir für
unabdingbar halten und die wir in diesem Band vorstellen. Wir
haben uns für diese achtzehn Theorien entschieden, da sie durch
die Häufigkeit und die Intensität, mit der sie im akademischen Dis-
kurs vertreten sind und diskutiert werden, besonders hervorste-
chen. Der Anordnung der Beiträge liegt keine Systematik zugrun-
de, die einer ausführlichen Erörterung bedarf: Jeder Beitrag steht
für sich selbst und ist über Querverweise mit den anderen Beiträ-
gen verbunden, wodurch ein systematisches Erarbeiten der Theo-
rien möglich wird. Im Prinzip kann also jeder Beitrag als Startpunkt
dienen. Aus der Anordnung der einzelnen Theoriekapitel spricht le-
diglich eine Empfehlung – und zwar gerade für Einsteiger und Ein-
steigerinnen bzw. für Leser und Leserinnen, die sich das Buch nicht
als Teilnehmer und Teilnehmerinnen eines Theorieseminars und
damit als Bestandteil eines Seminarkonzepts erarbeiten –, sich die
Theorien der Internationalen Beziehungen über vier „Gruppen“ zu
erschließen: (1) Realismus, Neorealismus, Interdependenz und Re-
gimetheorie; (2) Neofunktionalismus, Neuer Liberalismus, Ansätze
des „demokratischen Friedens“, Englische Schule, Weltgesellschaft
und Globalisierung; (3) Imperialismustheorie, Weltsystemtheorie,
Neo-Gramscianische Perspektiven und Internationale Politische
Ökonomie; (4) Sozialkonstruktivismus, Kritische Theorie, Postmo-
derne Ansätze, Feminismus und Kritische Geopolitik.
Bei der ersten Gruppe von Beiträgen handelt es sich um tradi-
tionelle staatszentrierte Ansätze, die in ihrer Erklärung in erster
Linie auf rationalistisch verfolgte Staateninteressen abheben, wäh-
32 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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rend die zweite Gruppe von Beiträgen das breite Spektrum an ge-
sellschaftsorientierten Theorien der internationalen Beziehungen
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abdeckt. Die dritte Gruppe umfasst die Ansätze der Internationalen


Politischen Ökonomie, die im weitesten Sinne das Verhältnis zwi-
schen Staat und Markt fokussieren.20 Die letzte Gruppe vereint
Theorieansätze der Internationalen Beziehungen aktuelleren Da-
tums, die die rationalistischen Ansätze der 1960er bis 1980er Jahre
durch postmodernes, (de)konstruktivistisches oder kritisches Den-
ken herausfordern.
Die Theorien der IB sind ein faszinierendes Feld, in dem es viel
zu entdecken gibt. Wir wünschen alle eine gute Lektüre und sind
für Anregungen offen und erreichbar.

4. Literatur

4.1 Einführende Literatur

a) Theorien der Internationalen Beziehungen

Auth, Günther 2008: Theorien der Internationalen Beziehungen. München:


Oldenbourg.
Behrens, Henning/Noack, Paul 1984: Theorien der Internationalen Politik.
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Dreukom Verlag.
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Brown, Chris/Ainley, Kirsten 2009: Understanding International Relations. 4.
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Burchill, Scott/Linklater, Andrew/Devetak, Richard/Donnelly, Jack/Nardin,
Terry/Paterson, Matthew/Reus-Smit, Christian/True, Jacqui (Hrsg.) 2009:
Theories of International Relations, 4. Aufl. Basingstoke: Palgrave.

20 Diese Darstellung von Perspektiven aus dem Bereich der Internationalen Politi-
schen Ökonomie ist keinesfalls umfassend und bedürfte in systematischer und
umfassender Form eines eigenen Bandes. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem
besonderen Konkurrenzverhältnis von Internationalen Beziehungen und Inter-
nationaler Politischer Ökonomie mit ihren Ansprüchen als „eigenständige“ aka-
demische Disziplinen. Unserem Verständnis folgend dürfen diese Perspektiven
gleichwohl in einem Theorieband der Internationalen Beziehungen nicht fehlen.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 33
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Chernoff, Fred 2007: Theory and Metatheory in International Relations. New


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Texte, 3., erg. Aufl. München/Wien: Oldenbourg.
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rien und Problemfelder. 2. überarb. Aufl. München/Wien: Oldenbourg.
Menzel, Ulrich 2004: Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den
Internationalen Beziehungen. 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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entwicklungsgeschichtlicher Überblick. Königstein/Taunus: Droste.
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34 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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Rittberger, Volker (Hrsg.) 1990: Theorien der internationalen Beziehungen.


Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. PVS-Sonderheft 21. Wies-
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Schimmelfennig 2010: Internationale Politik. Paderborn: Schöningh.
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b) Gegenstand der Internationalen Beziehungen


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Czempiel, Ernst-Otto 1981: Internationale Politik. Ein Konfliktmodell. Pader-
born u.a.: Schöningh.
Druwe, Ulrich/Hahlbohm, Dörte/Singer, Alex 1998: Internationale Politik, 2.
Aufl. Neuried: ars una.
Ferdowsi, Mir A. 2002: Internationale Politik. München: Fink.
Feske, Susanne/Antonczyk, Eric/Oerding, Simon (Hrsg.) 2010: Einführung in
die Internationalen Beziehungen. Ein Lehrbuch. Opladen: Barbara Budrich.
Filzmaier, Peter/Gwessler, Leonore/Höll, Otmar/Mangott, Gerhard 2005: In-
ternationale Politik. Eine Einführung. Wien: WUV/UTB.
Frieden, Jeffrey A./Lake, David A./Schultz, Kenneth A. 2009: World Politics:
Interests, Interactions, Institutions. New York: Norton.
Goldstein, Joshua S./Pevehouse, Jon C. 2009: International Relations. 9. Aufl.
London: Pearson.
Griffiths, Martin/O`Callaghan, Terry 2001: International Relations. The Key
Concepts. London: Routledge.
Hartmann, Jürgen 2009: Internationale Beziehungen. 2. Aufl. Wiesbaden: VS-
Verlag.
Knapp, Manfred/Krell, Gert 2004: Einführung in die Internationale Politik.
Studienbuch, 4. überarb. Aufl. München/Wien: Oldenbourg.
Theorien in der Lehre von den internationalen Beziehungen 35
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List, Martin 2006: Internationale Politik studieren. Eine Einführung. Wiesba-


den: VS-Verlag.
Masala, Carlo/Sauer, Frank/Wilhelm, Andreas (Hrsg.) 2010: Handbuch der
Internationalen Politik. Wiesbaden: VS-Verlag.
Pfetsch, Frank R. 1994: Internationale Politik. Stuttgart: Kohlhammer.
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Schimmelfennig, Frank 2010: Internationale Politik. 2. erw. Aufl. Paderborn:
Schöningh/UTB.
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Band 3: Internationale Politik. Münster: Lit.

4.2 Übrige verwendete Literatur

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Albert, Mathias/Cederman, Lars-Erik/Wendt, Alexander 2010: New Systems
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Hochschullehrerberuf? Zur Situation der Lehre in den Internationalen Be-
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Acharya, Amitav/Buzan, Barry 2010: Non-Western International Relations
Theory: Perspectives on and beyond Asia. London/New York: Rout-
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Bieling, Hans-Jürgen/Lerch, Marika (Hrsg.) 2005: Theorien der europäischen
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Bröchler, Stephan/Schützeichel, Rainer (Hrsg.) 2008: Politikberatung. Ein
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Czempiel, Ernst-Otto 1965: Die Entwicklung der Lehre von den Internationa-
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36 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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tem nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. München: C. H. Beck.
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38 Manuela Spindler und Siegfried Schieder
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Discipline and Diversity. 2. Aufl. Oxford: Oxford University Press, 297-
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in: Carslnaes, Walter/Risse, Thomas/Simmons, Beth A. (Hrsg.): Handbook
of International Relations. London u.a.: Sage Publications, 23-51.
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Realismus
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Andreas Jacobs

1. Einleitung
Fragte man noch in den 1970er Jahren nach dem am häufigsten
zitierten theoretischen Text zur internationalen Politik, wurde man
unweigerlich auf das erstmals 1948 erschienene Werk Politics
among Nations von Hans J. Morgenthau verwiesen. Mögen mitt-
lerweile andere Theoriebeiträge Morgenthaus Klassiker den Rang
abgelaufen haben, so hat Politics among Nations nichts von seiner
Bedeutung als zentrales theoretisches Fundament eines Theoriege-
bäudes eingebüßt, das unter der Bezeichnung Realismus in vieler-
lei Hinsicht längst zu einer Art Gründungsbeitrag der Lehre von
den Internationalen Beziehungen geworden ist. Die meisten nach-
folgenden Versuche der Theoriebildung sollten entweder in An-
knüpfung oder – was wesentlich häufiger der Fall war – in Ab-
grenzung zum Realismus von Morgenthau entwickelt werden. An-
gesichts der erheblichen Kritik an der frühen realistischen Theorie-
bildung im Allgemeinen und Morgenthaus Realismus im Beson-
deren mag es kaum verwundern, dass der Realismus spätestens seit
Ende der 1970er Jahren respektvoll behütet ins ‚Museum der Theo-
riegeschichte der internationalen Beziehungen‘ verbannt schien.
Doch dieser Eindruck trügt. Das zunehmende postrealistische In-
teresse an Morgenthau und den anderen Realisten ist deutlicher
Hinweis darauf, dass von Morgenthaus Realismus mehr geblieben
ist als die Hinterlassenschaft einer Reihe von Grundfragen und Im-
pulsen für die Disziplin sowie die Aufforderung, die Welt so zu
sehen wie sie wirklich ist.
Da Morgenthau seine theoretischen Überlegungen in Politics
among Nations nur als Grundlegung einer Theorie verstand und
die Vertreter des Realismus auch in der Folgezeit keine einheitli-
che und in sich kohärente Theorie der internationalen Politik ent-
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Realismus
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Andreas Jacobs

1. Einleitung
Fragte man noch in den 1970er Jahren nach dem am häufigsten
zitierten theoretischen Text zur internationalen Politik, wurde man
unweigerlich auf das erstmals 1948 erschienene Werk Politics
among Nations von Hans J. Morgenthau verwiesen. Mögen mitt-
lerweile andere Theoriebeiträge Morgenthaus Klassiker den Rang
abgelaufen haben, so hat Politics among Nations nichts von seiner
Bedeutung als zentrales theoretisches Fundament eines Theoriege-
bäudes eingebüßt, das unter der Bezeichnung Realismus in vieler-
lei Hinsicht längst zu einer Art Gründungsbeitrag der Lehre von
den Internationalen Beziehungen geworden ist. Die meisten nach-
folgenden Versuche der Theoriebildung sollten entweder in An-
knüpfung oder – was wesentlich häufiger der Fall war – in Ab-
grenzung zum Realismus von Morgenthau entwickelt werden. An-
gesichts der erheblichen Kritik an der frühen realistischen Theorie-
bildung im Allgemeinen und Morgenthaus Realismus im Beson-
deren mag es kaum verwundern, dass der Realismus spätestens seit
Ende der 1970er Jahren respektvoll behütet ins ‚Museum der Theo-
riegeschichte der internationalen Beziehungen‘ verbannt schien.
Doch dieser Eindruck trügt. Das zunehmende postrealistische In-
teresse an Morgenthau und den anderen Realisten ist deutlicher
Hinweis darauf, dass von Morgenthaus Realismus mehr geblieben
ist als die Hinterlassenschaft einer Reihe von Grundfragen und Im-
pulsen für die Disziplin sowie die Aufforderung, die Welt so zu
sehen wie sie wirklich ist.
Da Morgenthau seine theoretischen Überlegungen in Politics
among Nations nur als Grundlegung einer Theorie verstand und
die Vertreter des Realismus auch in der Folgezeit keine einheitli-
che und in sich kohärente Theorie der internationalen Politik ent-
40 Andreas Jacobs
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wickelten, herrscht einige Begriffsverwirrung darüber, was unter


Realismus in der Lehre von den Internationalen Beziehungen zu
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verstehen ist. Diese Problematik beruht zu einem wesentlichen


Teil darauf, dass die von Morgenthau und den anderen Realisten
formulierten Gedanken zur Natur und zum Verständnis der inter-
nationalen Beziehungen in der Tradition einer langen Reihe philo-
sophischer Reflexionen und historischer Abhandlungen über das
Zusammenleben zwischen Völkern und Gemeinwesen standen und
seither vielfach modifiziert und weiterentwickelt worden sind. In
der Literatur wird deshalb meistens von der realistischen Schule
oder dem klassischen Realismus in Abgrenzung zu neueren theo-
retischen Entwicklungen gesprochen, wenn von den Überlegungen
Morgenthaus und den ihm zeitlich und weltanschaulich naheste-
henden Theoretikern die Rede ist. Im Folgenden soll Realismus als
Sammelbegriff für die unter dieser Bezeichnung zwischen den
1930er und 1950er Jahren entwickelten Theorieansätze zur Erklä-
rung internationaler Beziehungen verwendet werden. Darüber hin-
ausgehende Überlegungen werden als realistisches Denken be-
zeichnet.
Obgleich die Entstehung des Realismus in den 1930er und
1940er Jahren auf konkrete Zeitumstände und Krisenerfahrungen
zurückzuführen war, steht das realistische Denken in einer langen
geistesgeschichtlichen Tradition, als deren wichtigste historische
Denker in der Regel Thukydides und Niccolò Machiavelli, ferner
Thomas Hobbes, Friedrich Nietzsche und Max Weber genannt
werden. Im ersten großen Geschichtswerk des Abendlandes, der
Geschichte des Peloponnesischen Krieges, hatte Thukydides (460-
400 v. Chr.) als entscheidende Ursache für die militärischen Aus-
einandersetzungen zwischen den griechischen Stadtstaaten den
Machtzuwachs Athens (Buch I, 23) benannt. Zum ersten Mal wur-
de hier Macht als der konstituierende und regulierende Faktor der
Politik angesehen. Politik wiederum begriff Thukydides als den
ewigen Konflikt zwischen ideellen Prinzipien und der Anwendung
von Macht und Gewalt im Dienste der eigenen Interessen (Buch V).
Macht spielte auch im politischen Denken Machiavellis (1469-
1527) eine erhebliche Rolle. Über die Betonung des Machtaspekts
hinaus stellen ihn aber noch eine Reihe weitere in seinem Haupt-
werk Il Principe angestellte Überlegungen in die geistesgeschicht-
liche Tradition des realistischen Denkens (Machiavelli 1986
Realismus 41
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[1532]). Hierzu gehört zunächst seine Geschichtsauffassung als


Abfolge kausaler Zusammenhänge, die begriffen und analysiert
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werden kann (Il Principe: Widmung). Ferner geht Machiavelli da-


von aus, dass die Praxis Theorie, nicht aber die Theorie Praxis
hervorbringe (Il Principe VI). In dieser Vorstellung ist die spätere
realistische Methode angelegt, beim Nachdenken über Politik
nicht vom Streben nach einer vorgegebenen Ordnung auszugehen,
sondern von den tatsächlichen Umständen politischen Handelns.
Schließlich begreift Machiavelli die Ethik als eine Funktion der
Politik, nicht aber die Politik als eine Funktion der Ethik (Il Prin-
cipe XV). Moral und ethische Gesinnung spielen in seinen Überle-
gungen zwar eine wichtige Rolle, dies können sie aber nur tun,
wenn sie sich auf eine wirkungsvolle Autorität stützen (Il Principe
XVII). Schließlich erweist sich jener Rat Machiavellis an seinen
Fürsten, der tatsächlichen Beschaffenheit der Dinge auf den Grund
zu gehen und sich nicht mit Wunschbildern zu beschäftigen, als
analytisches Leitbild des späteren Realismus.
Waren wichtige Grundannahmen des realistischen Denkens
somit bereits angelegt, ist die Entstehung der Theorie des Realis-
mus nur in ihrem konkreten politischen und wissenschaftlichen
Kontext verstehbar. Der Realismus ist vielfach als Gegenbewe-
gung zu einer politischen Daseinsinterpretation beschrieben wor-
den, welche die Geschichte als fortschreitenden Prozess eines
erlösungsbringenden Vorganges begriff. Diese vor allem nach
dem Ersten Weltkrieg aufkommende Vorstellung war geknüpft
an die zunehmende Verbreitung des amerikanischen wissen-
schaftlichen Denkens, das auf idealistischer, d.h. liberal-pazifis-
tischem Gedankengut verpflichteter Grundlage davon ausging,
die Mängel des internationalen Systems durch eine systemati-
sche Aufarbeitung ihrer Ursachen beseitigen zu können. Im Ver-
trauen auf die Durchsetzung der menschlichen Vernunft sollten
nun Institutionen wie der Völkerbund dafür Sorge tragen, dass in
Zukunft jede Aggression eines Staates durch eine kollektive
Antwort der Staatengemeinschaft sanktioniert werden würde.
Dieser Fortschrittsglaube geriet angesichts der geschichtli-
chen Ereignisse ab den 1930er Jahren und vor allem seit dem
Zweiten Weltkrieg immer mehr ins Wanken. Bereits das Schei-
tern des Völkerbundes und die Weltwirtschaftskrise hatten den
Blick dafür geschärft, dass die Sicherung des Weltfriedens nicht
42 Andreas Jacobs
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allein als organisatorisches Problem betrachtet werden konnte.


Durch die Entwicklung und Propagierung internationaler Orga-
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nisationen allein, so die nun einsetzende Kritik, könnten die be-


stehenden Weltprobleme nicht gelöst werden. Aber der sich un-
ter der Bezeichnung Realismus formierende Widerspruch gegen
utopische oder idealistische Vorstellungen von der internationa-
len Politik ging noch weiter. Über den Vorwurf hinaus, Illusio-
nen über die gesellschaftliche Wirklichkeit in den internationa-
len Beziehungen erlegen zu sein und die wahre Natur politischen
Handelns zu verkennen, warf der Realismus dem idealistischen
Denken vor, die Realitäten der Politik herunterzuspielen und die
gewaltsamen Aspekte von Politik zu ignorieren. Idealistische
Ansätze zur Erklärung internationaler Politik, so die Quintessenz
dieser Kritik, seien somit nicht nur als falsch, sondern auch als
kontraproduktiv anzusehen (Frei 1993: 198-200).
In den Vereinigten Staaten, wo man sich aufgrund einer gesi-
cherten geographischen Lage, dem Aufstieg zur Weltmacht sowie
dem selbst erschlossenen Wohlstand lange Illusionen über das
Wirkliche und Mögliche in der internationalen Politik hingegeben
hatte, bewirkten die Erfahrungen mit dem Zweiten Weltkrieg und
dem hereinbrechenden Kalten Krieg, dass die Frage nach der Be-
grenzung und Beherrschung von Macht zunehmend ins Zentrum
des Nachdenkens über Politik rückte. Der Realismus war somit
auch eine Antwort auf ein politisches Denken, welches das Stre-
ben nach Macht zum Sinn aller Politik erklärt.
Die neue Prominenz der Variable Macht zur Erklärung inter-
nationaler Beziehungen liegt jedoch noch in einem anderen Sach-
verhalt begründet. Die Nachkriegszeit war geprägt von der weit-
gehenden militärischen und ökonomischen Überlegenheit der
Vereinigten Staaten, die nun zunehmend die Verantwortung einer
Weltmacht übernahmen. Gleichzeitig wurde immer deutlicher,
dass die Rooseveltschen Pläne einer weltweiten Kooperation und
der Demokratisierung der ehemaligen Kriegsgegner abgelöst
wurden durch die Konfrontations- und Eindämmungspolitik Tru-
mans und Eisenhowers gegenüber der Sowjetunion. Es war dieser
politische Erfahrungshintergrund vor dem die nahezu ausschließ-
lich angelsächsischen Realisten ihre Vorstellungen von der her-
ausragenden Rolle der Macht in den internationalen Beziehungen
formulierten.
Realismus 43
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In den Vordergrund der Überlegungen zu den internationalen


Beziehungen rückte nun auch in den USA die Frage nach den do-
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minanten Wirkkräften in der Weltpolitik und nach den Möglich-


keiten eines friedlichen Zusammenlebens unter diesen realen Be-
dingungen. Der Realismus entwickelte sich somit zwar vor einem
spezifischen amerikanischen Erfahrungshintergrund, stand aber in
einem geistesgeschichtlichen Traditionsbezug, der an das deutsche
Wissenschaftsverständnis und ein kontinentaleuropäisches Men-
schenbild anknüpfte (Meyers 1977: 57). Nicht zufällig sind viele
Vertreter des realistischen Denkens deutscher Herkunft (John H.
Herz, Henry Kissinger, Hans J. Morgenthau, Reinhold Niebuhr,
Georg Schwarzenberger, Arnold Wolfers, Kenneth N. Waltz) und
deshalb mit einem politischen Milieu vertraut, in dem in den Kate-
gorien von Macht und Interesse gedacht und gehandelt wurde.
Sieht man von der herausragenden Rolle Morgenthaus ab, gibt
es keinen Konsens, wer zu den Hauptvertretern des Realismus ge-
zählt werden muss. In der Regel werden hier Autoren genannt, die
sich in ihren Schriften entweder mit Macht als zentralem Hand-
lungsmotiv in der internationalen Politik beschäftigt haben, oder
die in ihren Betrachtungen internationaler Zusammenhänge oder
der Außenpolitik eines Staates von einer herausragenden Bedeu-
tung machtpolitischer Überlegungen ausgingen. Neben Morgent-
hau (1904-1980) werden zu den Hauptvertretern des Realismus
vor allem der französische Politikwissenschaftler und Soziologe
Raymond Aron (1904-1983), außerdem Edward Hallett Carr
(1892-1982), Walter Lippmann (1889-1974), Reinhold Niebuhr
(1892-1971), Georg Schwarzenberger (1908-1991), Nicholas John
Spykman (1893-1968), Arnold Wolfers (1892-1986) sowie als
Vertreter der jüngeren Generation Stanley H. Hoffmann (geb.
1928), der amerikanische Sicherheitsberater und spätere Außen-
minister Henry Kissinger (geb. 1923) und Kenneth W. Thompson
(geb. 1921) gezählt. Aber auch eine Reihe von politischen Prakti-
kern bekennen sich zum Realismus, neben Kissinger sind hier an
erster Stelle der amerikanische Diplomat George F. Kennan
(1904-2005) und der Sicherheitsberater und Chefunterhändler Paul
H. Nitze (1907-2004) zu nennen.
In Anbetracht der realistischen Tendenz zur empiriegeleiteten
Untersuchung und damit zur politischen Praxis lässt sich zwischen
zwei grundsätzlichen Arten von realistischen Schriften zur inter-
44 Andreas Jacobs
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nationalen Politik unterscheiden. Erstens sind dies theoretische


Überlegungen zu den Funktionsbedingungen und Bewegungsge-
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setzen der internationalen Politik oder der Außenpolitik (Aron


1963; Carr 1951; Hoffmann 1969; Morgenthau 1963; Niebuhr
1932; Schumann 1958; Schwarzenberger 1955; Spykman 1944;
Thompson 1969) und zweitens empirische Studien zur Außenpoli-
tik einzelner Staaten oder zur Entwicklung bestimmter Beziehungs-
konstellationen zwischen Staaten (Kennan 1954; Kissinger 1986;
Morgenthau 1951; Thompson 1960; Wolfers 1959).
Unter den hier genannten Autoren hatten vor allem zwei nach-
haltigen Einfluss auf die von Morgenthau entwickelte Theorie des
Realismus. An erster Stelle ist hier der protestantische Theologe
Reinhold Niebuhr zu nennen. Den Arbeiten Niebuhrs verdankt der
Realismus Morgenthaus seine anthropologischen und soziologi-
schen Grundannahmen.1 Der zweite Autor ist der britische Histo-
riker Edward H. Carr. Carr, der als Begründer der English School
in der Lehre von den Internationalen Beziehungen angesehen wird
(vgl. hierzu den Beitrag von Christopher Daase in diesem Band),
hatte kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges ein Buch mit
dem etwas irreführenden Titel The Twenty Years’ Crisis 1919-
1939 vorgelegt und damit die Renaissance des Realismus als For-
schungsdisziplin ausgelöst. In dieser Arbeit wies Carr als erster
nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer Theorie hin, welche
von einer Orientierung an Wunschvorstellungen und Utopien Ab-
schied nimmt und den Machtfaktor als zentrales Bedingungsele-
ment der internationalen Politik anerkennt. Gleichzeitig fordert er
aber auch eine Anerkennung moralischer Werte als unabdingbare
Voraussetzung für eine Begrenzung der gewaltsamen Auswirkun-
gen des Machtstrebens (Carr 1951: 146-169).

2. Die Theorie des Realismus nach


Hans J. Morgenthau
Hans Joachim Morgenthau wurde 1904 in Coburg als Sohn eines
jüdischen Elternhauses geboren. Er studierte Rechts- und Staats-

1 Vgl. Abschnitt 2.2 dieses Beitrags.


Realismus 45
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wissenschaften an verschiedenen deutschen Universitäten, bevor


er am Institut für Internationale Studien in Genf, wo er das Schei-
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tern des Völkerbundes miterlebte, promovierte und bis 1935 auch


lehrte. Nachdem er zwei Jahre an der Universität Madrid tätig ge-
wesen war, emigrierte er 1937 in die USA, deren Staatsbürger-
schaft er 1943 annahm. Im gleichen Jahr wurde er zum Professor
für Politikwissenschaft an die Universität Chicago berufen, wo er
das Gros seiner theoretischen Schriften zur internationalen Politik
verfasste (Morgenthau 1946, 1958, 1962 und 1963; vgl. auch
Thompson/Myers 1984).2 In erster Linie veröffentlichte er in den
1950er und 1960er Jahren Arbeiten, in denen er die amerikanische
Außenpolitik bzw. allgemein die Entwicklung der internationalen
Beziehungen anhand der von ihm aufgestellten theoretischen Prä-
missen analysierte (Morgenthau 1951, 1969, 1971). Dabei ist Mor-
genthau mit den jeweiligen US-Administrationen streckenweise
hart ins Gericht gegangen – insbesondere dann, wenn er idealisti-
sche oder moralisierende Elemente in der US-Außenpolitik zu
entdecken glaubte, die seinem Konzept einer rationalen, d.h. auf
macht- und interessenpolitischen Kalkülen begründeten Außenpo-
litik nicht entsprachen. Im Zentrum des politikwissenschaftlichen
Interesses an Morgenthau stehen aber vor allem die theoretischen
Überlegungen, die er ab 1948 in Politics among Nations niederlegt
hatte, ein Buch, das 1963 in einer leicht gekürzten Fassung unter
dem Titel Macht und Frieden – Grundlegung einer Theorie der
internationalen Politik auf Deutsch erschien und bis 2005 sieben
Auflagen erlebte.

2.1 Realismus als Kritik des ideologischen Denkens

Politics among Nations war der großangelegte Versuch Morgen-


thaus, aus der Kritik des Idealismus heraus eine rationale Theorie
der internationalen Politik zu entwickeln. Morgenthaus Grundver-
ständnis von internationaler Politik läßt sich daher nur bei Kennt-
nis seiner Kritik an dem erschließen, was er das ideologische Den-
ken nannte. Das zentrale Hindernis zum Verständnis der eigentli-

2 Zum intellektuellen Werdegang Morgenthaus vgl. ausführlich die Biographien


von Frei 1993 und Rohde 2004.
46 Andreas Jacobs
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chen Bewegungsgesetze internationaler Politik war aus der Sicht


Morgenthaus die Ideologie, die den Menschen vorgaukele, die
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Rolle der Macht in der Politik könne überwunden werden. Obwohl


Morgenthau einräumt, dass Staaten aus vielfältigen Motiven han-
deln können, bleibe das Mittel zur Erreichung staatlicher Ziele
doch immer die Macht. Die konstitutive Funktion von Ideologie
sah Morgenthau deshalb auch in der Rechtfertigung politischer
Interessen und damit auch des politischen Handelns. Kennzeich-
nend sei dabei das Phänomen, das jeweilige Eigeninteresse auch
für andere als wünschenswert bzw. darüber hinaus als übergeord-
netes Ziel politischen Handelns festzuschreiben. Einen solchen
übergeordneten Gemeinwillen könne es aber nicht geben, da über
einen schmalen Unterbau an Gemeinsamkeiten hinaus, der auf der
Essenz der menschlichen Existenz beruhe, Menschen unter völlig
unterschiedlichen Bedingungen leben und deshalb auch nicht die
gleichen Interessen entwickeln können (Morgenthau 1963: 233).
Die wichtigste Herausforderung für das Studium der internatio-
nalen Politik bestehe deshalb darin, die „ideologische Verbrämung
zu durchschauen, die wirklichen politischen Kräfte und Erschei-
nungen, die dahinter liegen, zu erfassen (...)“ (Morgenthau 1963:
122). Den weltanschaulichen Selbstdarstellungen von Politikern
dürfe daher auch nicht allzu viel Bedeutung beigemessen werden.
Was zähle seien nicht politische Absichtserklärungen, sondern das
politische Handeln. Dementsprechend identifizierte Morgenthau
auch die sich gegen Ende der 1940er Jahre manifestierende Block-
konfrontation im internationalen System auch als Fortsetzung her-
kömmlicher Machtpolitik. Nicht um Ideologien gehe es im Kalten
Krieg, sondern allein um Macht (Morgenthau 1951: 78-81). Dies
bedeute allerdings nicht, dass Ideologien nicht auch Träger von
Wahrheiten und deshalb auch konkrete Orientierungspunkte des
politischen Handelns sein könnten. In diesem Fall spricht er aller-
dings nicht von Ideologie, sondern von „politischer Philosophie“
(Morgenthau 1963: 233).

2.2 Das Menschenbild des Realismus

Morgenthau betrachtet die Lehre von den Internationalen Beziehun-


gen als eine Wissenschaft vom Menschen. Der Ausgangspunkt von
Realismus 47
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Morgenthaus politikwissenschaftlichem Denken ist daher die Aus-


einandersetzung mit den Widersprüchlichkeiten menschlicher Exis-
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tenz, der Kluft zwischen Norm und Realität, zwischen Wollen und
Können und zwischen Schöpfertum und Ohnmacht (Kindermann
1963: 22). Schon in seinem 1946 erschienen Werk Scientific Man vs.
Power Politics hatte er sich diesen Fragen gewidmet und war dabei
zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gleichzeitigkeit von schöpfe-
rischen und zerstörerischen Potenzialen menschlichen Handelns
letztendlich auf der menschlichen Freiheit beruhe (Morgenthau 1946:
187-201). Hier wird der starke Einfluss Reinhold Niebuhrs deutlich.
Niebuhr hatte in seinem 1932 erschienenen, wichtigsten Werk Mo-
ral Man und Immoral Society die Überlegung formuliert, dass der
menschliche Altruismus in Egoismus und Aggressivität umschlage,
sobald sich Menschen kollektiv organisieren und sich beispielsweise
in Staaten zusammenfinden (Niebuhr 1932: 83). Dieser kollektive
Egoismus wirke aggressiver und konfliktträchtiger, je altruistischer
und aufopfernder sich der einzelne für das Wohl des Kollektivs ein-
setze. Gewalt in den internationalen Beziehungen werde so unver-
meidlich. Da in ein Kollektiv eingebundene Personen weniger mora-
lischen Skrupeln unterliegen als Einzelpersonen, nehme das Macht-
streben auf nationaler und internationaler Ebene gesteigerte und
brutalere Formen an. Eine Zähmung dieses Machtkampfes sei nur
durch die Ausrichtung des politischen Handelns an Ethik und Moral
möglich (Niebuhr 1932: 231).
Obwohl sich Morgenthau in vielen Punkten eng an Niebuhr an-
lehnt, weicht er hinsichtlich der Verortung der Gewaltursachen von
ihm ab. Während Niebuhr die zerstörerischen Elemente mensch-
licher Existenz eher als Resultat der Vergesellschaftung betrachtet,
sieht sie Morgenthau biologisch verwurzelt, d.h. in der Natur des
Menschen begründet. Hier folgt Morgenthau also Hobbes (1588-
1679), der in seinem 1651 verfassten Hauptwerk Leviathan den
Machttrieb als Wesensmerkmal des Menschen definiert hatte
(Hobbes 1976 [1651]). Ähnlich wie der Idealismus, der vom wert-
orientierten Handeln von Individuen auf das Verhalten von Kol-
lektiven schließt, überträgt Morgenthau diese anthropologischen
Prämissen auf das Verhalten von Staaten (Morgenthau 1946: 198).
Morgenthaus Sicht der internationalen Politik beruht deshalb auch
nicht auf dem Konzept einer wie auch immer gearteten Weltge-
meinschaft, sondern auf der Vorstellung eines Staatensystems, in
48 Andreas Jacobs
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dem es keine zentrale Entscheidungs- und Sanktionsgewalt gibt,


das sich in Analogie zur Vorstellung Hobbes also im Naturzustand
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der Anarchie befindet. Hauptakteur der internationalen Politik ist


somit der nach Macht strebende souveräne Nationalstaat, der seine
eigenen Interessen gegen die Interessen anderer Staaten durchzu-
setzen versucht.

2.3 Internationale Politik in der realistischen Erklärung

Ausgehend von diesem Menschenbild basiert der Realismus Mor-


genthaus auf drei zentralen Grundannahmen: erstens der Annahme
einer grundsätzlichen wissenschaftlichen Erklärbarkeit von Politik,
zweitens der zentralen Bedeutung der Kategorien Macht und In-
teresse für das politische Geschehen und drittens der herausragen-
den Rolle, die der Moral bei der Suche nach einer friedlicheren
und gerechteren Welt zugeschrieben wird (Morgenthau 1963: 49-
60).

Die Objektivität der Politik

Die erste methodologische Prämisse Morgenthaus lautet, dass jede


politische Dynamik auf im Wesen des Menschen verankerten un-
veränderlichen Grundelementen beruht, aus denen sich wertfreie
und universal gültige Fundamentalbegriffe für die Politikwissen-
schaft ableiten lassen. Um also eine politische Theorie zu entwi-
ckeln, die als Instrumentarium zur Analyse politischer Prozesse
nutzbar gemacht werden kann, müssen aus der unübersehbaren
Komplexität des politischen Geschehens die Konstanten herausge-
filtert werden. Morgenthau beschreibt dies mit folgenden Worten:
„Der politische Realismus geht davon aus, daß die Politik, so wie die
Gesellschaft allgemein, von objektiven Gesetzen beherrscht wird, de-
ren Ursprung in der menschlichen Natur liegt. Um die Gesellschaft zu
verbessern, muß man vor allem jene Gesetze verstehen, denen sie ge-
horcht (...). Für den Realismus besteht Theorie darin, Tatsachen festzu-
stellen und ihnen durch Vernunft Sinn zu verleihen (...)“ (Morgenthau
1963: 49f).
Dabei kann die Politik die gleiche Eigengesetzlichkeit beanspru-
chen wie die Ökonomie, die Rechtsprechung oder die Moral. Mor-
Realismus 49
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genthau verwendet hierfür folgenden vielzitierten Vergleich: „Der


Ökonom fragt: Wie wirkt Politik auf den Wohlstand der Gesell-
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schaft oder eines Teils davon? Der Jurist fragt: Steht diese Politik
im Einklang mit den Rechtsvorschriften? Der Moralist fragt: Steht
diese Politik im Einklang mit den sittlichen Grundsätzen? Der po-
litische Realist aber fragt: Welche Auswirkungen hat diese Politik
auf die Macht des Staates?“ (Morgenthau 1963: 57, Hervorhebun-
gen i. O.).

Macht und Interesse in der internationalen Politik

Orientierung verleiht dem Realisten der im Sinne von Macht ver-


standene Begriff des Interesses. Diese enge Verknüpfung von
Macht und Interesse im politischen Denken Morgenthaus ist oft
kritisiert und missverstanden worden und bedarf daher der Klä-
rung. Macht konstituiert im Verständnis Morgenthaus menschli-
ches Verhalten nicht nur, sie macht es auch versteh- und erklärbar.
Weil Macht die Grundlage jeder politischen Handlung ist, ist ihr
Verständnis auch der Schlüssel zum Verständnis internationaler
Politik. Internationale Politik ist somit wie alle Politik ein Kampf
um die Macht. Sie ist darauf gerichtet, entweder Macht zu erhal-
ten, Macht zu vermehren oder Macht zu demonstrieren (Morgen-
thau 1963: 69, 81). Problematisch hierbei ist, dass Morgenthau
keine eindeutige Machtdefinition liefert. Macht kann alles umfas-
sen, „was die Beherrschung von Menschen durch Menschen be-
wirkt und erhält. Unter den Begriff der Macht gehören alle gesell-
schaftlichen Beziehungen, die diesem Ziel dienen, von der physi-
schen Gewaltanwendung bis zu den feinsten psychologischen Bin-
dungen, durch die ein geistiger Wille einen anderen beherrschen
kann. Macht ist die Herrschaft von Menschen über Menschen (...)“
(Morgenthau 1963: 54). Indem Morgenthau also an entscheiden-
der Stelle den Begriff der Herrschaft ins Spiel bringt, umgeht er
eine klare definitorische Abgrenzung. Sein Machtbegriff bleibt
dadurch wenig greifbar und – wie noch gezeigt wird – anfällig für
Kritik.
Für die Vagheit des Machtbegriffs bei Morgenthau gibt es al-
lerdings eine Erklärung. Morgenthau schreibt dem Kampf um die
Macht universellen Charakter in Raum und Zeit zu und begreift
ihn als unwiderlegbare Erfahrungstatsache, die nicht begründet
50 Andreas Jacobs
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werden muss (Morgenthau 1963: 75). Diese Evidenz des Macht-


triebes bzw. daraus resultierend des Kampfes um die Macht führt
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gleichzeitig dazu, dass Morgenthau der Versuch einer exakten


Messung von Machtpotenzialen fremd ist. Für ihn ist Macht eine
Kategorie, die sich jeder quantifizierenden Erfassung entzieht,
weil sie sich als psychologische Beziehung zwischen Machtaus-
übendem und Machtadressaten manifestiert, also in starkem Maße
perzeptionsabhängig ist (Kindermann 1963: 26). Diese herausra-
gende Rolle der Macht heißt jedoch nicht, dass Machtbeziehungen
alles politische Handeln bestimmen sollen. Vielmehr dient das
Verständnis von Politik im Sinne von Macht als Bindeglied zwi-
schen dem politischen Geschehen einerseits und dem analytischen
Zugriff auf dieses Geschehen andererseits. Der Begriff der Macht
ist also primär eine Verstehenskategorie, er „dient dem Betrachter
als Orientierungshilfe im Irrgarten der empirischen Phänomene
und legt einen Maßstab der rationalen Ordnung innerhalb dieses
Labyrinthes fest“ (Gebhardt 1991: 92).
Folgerichtig besteht das vorrangige außenpolitische Interesse
des Staates darin, Macht anzuhäufen und zu erhalten. Das konkre-
te Interesse kann sich dabei wandeln und unterschiedliche Formen
annehmen, letztendlich dient es aber immer der Macht. Macht ist
also Mittel und Gegenstand des Interesses zugleich und kann letzt-
endlich sogar zum Selbstzweck werden (Morgenthau 1946: 101).
Spätestens hier wird deutlich, dass Morgenthau den Interessenbe-
griff ebensowenig wie den Machtbegriff klar abgrenzt und ein-
deutig definiert. Nach Kindermann hat Morgenthau an anderer
Stelle allerdings zwischen einem objektiven und einem subjekti-
ven Begriff des außenpolitischen Interesses unterschieden. Unter
dem subjektiven Interesse sei die Bildung des außenpolitischen
Willens auf der Grundlage konkreter Wahrnehmungen und be-
stimmter Auffassungen über Sinn und Ziel der Außenpolitik zu
verstehen. Die objektive Bedeutung des Begriffes meine demge-
genüber den Inbegriff des möglichen Verhaltens eines Staates,
welches den existenziellen Belangen dieses Staates (Sicherheit,
Macht und Wohlfahrt) am besten gerecht werde (Kindermann
1963: 27).
Ungeachtet dieser Konkretisierung bleibt der Eindruck eines
Zirkelschlusses zwischen Macht- und Interessenbegriff, dessen
Auflösung allenfalls im methodischen Denken Morgenthaus zu
Realismus 51
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finden ist. Während Macht für Morgenthau die zentrale Verste-


henskategorie politischen Handelns darstellt, begreift er das Inter-
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esse eher als analytische Kategorie. Dem Studium außenpoliti-


scher Interessenlagen kommt nach Morgenthau daher eine ganz
erhebliche praktische Bedeutung zu. Die Feststellung der eigenen
außenpolitischen Interessen sei notwendig zur Formulierung von
Politikmaßstäben und zur Koordinierung interner Einzelinteressen.
Die Analyse der Interessenlagen anderer Staaten ergibt im Ver-
gleich zur eigenen Interessendefinition das Bild der jeweiligen In-
teressenkonstellation, in der sich ein Staat befindet. Die Betonung
des nationalen Interesses bei Morgenthau bedeutet dementspre-
chend auch nicht die Befürwortung einer rücksichtslosen und aus-
schließlich selbstbezogenen Außenpolitik. Die Definition des na-
tionalen Interesses sollte nach seiner Vorstellung vielmehr immer
unter Berücksichtigung der Interessen anderer Staaten erfolgen.
Nur hierdurch würden die Handlungsspielräume und Handlungs-
grenzen der Außenpolitik und damit die Möglichkeiten zur Reali-
sierung der eigenen Interessen deutlich (Morgenthau 1951; Mor-
genthau 1958: 54-87).3

Die Zähmung der Macht durch die Moral

Der Realismus will nicht nur verstehen und erklären, sondern auch
konkrete Empfehlungen für politisches Handeln geben. Er muss
daher zu den normativen Theorien im weiteren Sinne gerechnet
werden. Kennzeichen solcher normativen Theorien ist über die
rein analytische Erfassung politischer Zusammenhänge hinaus die
Vermittlung von politischen Zielen im Sinne von Werten.
„Es gibt keine politische Moral ohne Klugheit – d.h. ohne Berücksich-
tigung der politischen Folgen eines anscheinend moralisch vertretbaren
Vorgehens. Der Realismus betrachtet diese Klugheit – das Abwägen
der Folgen alternativer politischer Handlungen – daher als die höchste
Tugend der Politik. Abstrakte Ethik beurteilt Handlungen nach ihrer

3 Diese Vorstellung rückt Morgenthau in die Nähe der deutschen Staatsräsonlehre


(Meineke 1976). Vgl. auch Frei 1993: 129 und 159-162. Hier liegen auch die
Anknüpfungspunkte an spätere theoretische Überlegungen zur Bildung außen-
politischer Interessen und Handlungsmaximen von Staaten. Vgl. hierzu u.a.
Link 1987.
52 Andreas Jacobs
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Übereinstimmung mit dem Sittengesetz; politische Ethik beurteilt


Handlungen nach ihren politischen Folgen“ (Morgenthau 1963: 56).
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Zielobjekt der realistischen Politik- und Forschungskritik ist also


nicht der Moralist, sondern der selbstgefällige Gesinnungsethiker,
der meint, die Gestalt der Weltordnung entsprechend seinen nor-
mativen Vorstellungen beeinflussen zu können, bzw. hierzu das
moralische Recht zu haben glaubt. Vor diesem Hintergrund zielt
der Realismus darauf ab, nicht nur die herausragende Rolle des
Machtfaktors in der Politik zu enthüllen, sondern darüber hinaus
Möglichkeiten zur Zähmung der Macht aufzuzeigen.
Schon in Scientific Man vs. Power Politics hatte sich Morgenthau
mit der Frage beschäftigt, wie sich die Destruktivität der Machtpoli-
tik rational eindämmen lasse (Morgenthau 1946: 9f). In Politics
among Nations widmet er sich sogar zu rund zwei Dritteln diesem
Aspekt. Während er einerseits davon ausgeht, dass es wenig Sinn
mache, gegen die Prinzipien der internationalen Politik anzugehen,
wendet er sich andererseits nachdrücklich gegen eine Kapitulation
vor der Immanenz der Machtpolitik. Obwohl er seinem Londoner
Kollegen und Wegbereiter Edward H. Carr letzteres vorwirft, lehnt
er sich in seinem Bemühen, Auswege aus der Destruktivität der
Machtpolitik aufzuzeigen, methodisch an The Twenty Years’ Crisis
an. Ähnlich wie Carr diskutiert Morgenthau in Politics among Na-
tions einzelne Möglichkeiten, die Macht in ihre Schranken zu wei-
sen. Seine Überlegungen über die friedenssichernde Wirkung des
Völkerrechts, über internationale Normen, Ideologien, Institutionen
und über das Prinzip der kollektiven Sicherheit kommen dabei –
stark vereinfacht formuliert – zu einem ähnlichen Ergebnis. Alle
Versuche zur Einschränkung der staatlichen Souveränität, so positiv
sie Morgenthau in einigen Fällen auch bewertet, können letztendlich
keine nachhaltige Sicherung des Weltfriedens bewirken, da sie nicht
in der Lage seien, das nationalstaatliche Streben nach Macht zu
überwinden (Morgenthau 1963: 450).
Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang, dass
Morgenthau auch die Beschränkung der Macht durch Gegen-
macht, also durch das, was man als Gleichgewicht der Mächte
oder balance of power bezeichnet, nicht als funktional betrachtet.
Er sieht in der Vorstellung eines selbst-regulativen Prozesses des
Ausgleichs der Kräfte auf der internationalen Bühne ein überholtes
Denken, das einem mechanistischen Weltbild folge. Die Geschich-
Realismus 53
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te, gerade des 19. und 20. Jahrhunderts, habe demgegenüber ge-
zeigt, dass das Denken in Kategorien des Mächtegleichgewichts
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kaum zweckmäßig zur Herstellung von Stabilität und Ordnung im


internationalen System sei.
„Das Versagen, seine Funktion gegenüber den einzelnen Staaten zu er-
füllen, und das Versagen, seiner Funktion im Staatensystem anders als
durch Krieg oder Kriegsgefahr gerecht zu werden, weisen auf drei we-
sentliche Schwächen des Gleichgewichts der Mächte als Leitgrundsatz
internationaler Politik hin: seine Ungewißheit, seine Unwirklichkeit
und seine Unzulänglichkeit“ (Morgenthau 1963: 179).
Diese Kritik am Denken in den Kriterien der balance of power
leitet Morgenthau nicht aus einer eventuellen Fehlerhaftigkeit des
Prinzips, sondern aus seinem Machtbegriff ab. Macht könne nicht
exakt gemessen oder verglichen werden, weshalb der Versuch der
Herstellung eines machtpolitischen Gleichgewichts zum Scheitern
verurteilt sei (Morgenthau 1963: 146, 179f). Notwendig ist der
Hinweis auf Morgenthaus Skepsis gegenüber der friedensschaf-
fenden Wirkung eines Gleichgewichts der Mächte deshalb, weil
diese Vorstellung ansonsten zum festen Bestandteil des realisti-
schen Denkens gezählt werden muss.
Das eigentliche eindämmende Element der Macht ist für Mor-
genthau daher nicht das Gleichgewicht der Mächte, sondern die
Moral. Morgenthau verwirft deshalb auch die Vorstellung, dass
Politiker und Staatsmänner ausschließlich vom Machttrieb geleitet
seien. Vielmehr seien sie nicht selten aus Erwägungen der Moral
davor zurückgeschreckt, jede sich bietende Machtchance – etwa
durch Genozid – auch wirklich auszunutzen (Morgenthau 1963:
207). Morgenthau hat deshalb das ausschließliche Prinzip der
Machtpolitik immer wieder eingeschränkt und der Moral ihren
Platz eingeräumt.
“Man is an animal longing for power, but he is also a creature with a
moral purpose, and while man cannot be governed by abstract moral
principles alone, he cannot be governed by power alone either” (Mor-
genthau 1962: 130).
Folgerichtig plädiert er für einen verantwortungsbewussten Um-
gang mit der Macht, d.h. er setzt in der Terminologie Max Webers
der idealistischen Gesinnungs- eine realistische Verantwortungs-
ethik entgegen (Menzel 2001: 80).
54 Andreas Jacobs
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Diese Verantwortungsethik manifestiert sich in der Methode des


„Friedens durch Ausgleich“, dessen Instrument die Diplomatie ist
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(Morgenthau 1963: 450). Morgenthau sieht also in einer verantwor-


tungsbewussten, d.h. moralisch fundierten Diplomatie, dem Konzept
von statesmanship, den einzig wirkungsvollen Weg zur Wahrung
von Frieden und Stabilität in der internationalen Politik. Dieses Plä-
doyer für eine kluge und auf Ausgleich bedachte Diplomatie unter-
mauert er mit einer Reihe von diplomatischen Verhaltensregeln, die
aber letztendlich immer auf eine Betonung der moralischen und in-
tellektuellen Befähigung des Diplomaten hinauslaufen (Morgenthau
1963: 471-479). Diese Betonung der Moral zeigt, dass der Realis-
mus nicht gleichgesetzt werden kann mit politischem Pessimismus.
Morgenthau fordert vielmehr ein permanentes diplomatisches Rin-
gen um eine bessere Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit,
wohl wissend, dass dieses Ringen nie vollendet sein wird. Die Ein-
sicht in die wahren Bewegungsgesetze des Politischen ist für ihn die
einzige Voraussetzung für eine Annäherung an das Gesollte und Ge-
wünschte (Morgenthau 1963: 60f und 434, vgl. dazu auch den aktu-
ellen Überblick von Donelly 2008).

3. Differenzierungen und Weiterentwicklungen


des Realismus
Die Tatsache, dass Politics among Nations in vielerlei Hinsicht ei-
ner vortheoretischen, wenig systematisierten Form verhaftet ge-
blieben ist, eröffnete die Möglichkeit für eine unübersehbare Zahl
an Differenzierungen und Weiterentwicklungen, die auf einzelne
Aspekte des realistischen Denkens zurückgreifen. Kennzeichen
vieler dieser Ansätze war es aber, dass sie zwar in einzelnen Fra-
gen über den von Morgenthau entwickelten Realismus hinausgin-
gen, aber kaum dem Anspruch von Politics among Nations nahe-
kamen, die Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik
darzustellen. Ausgenommen werden müssen hiervon die verschie-
denen umfassenderen Versuche der realistischen Theoriebildung,
die vor allem seit den 1970er Jahren unter der Bezeichnung Neo-
realismus angestellt wurden (vgl. dazu den Beitrag von Niklas
Schörnig in diesem Band). Im Folgenden sei auf die wichtigsten
Realismus 55
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Beispiele für Differenzierungen und Weiterentwicklungen des


Realismus verwiesen.
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Morgenthaus Kollege Robert E. Osgood hat sich beispielsweise


darum bemüht, die Begriffe Realismus und Idealismus präziser
voneinander abzugrenzen und die zentrale Rolle des National-
staates in den internationalen Beziehungen zu erklären (Osgood
1975). Der von Morgenthau betonte Aspekt der Perzeption bei der
Einschätzung außenpolitischer Interessen wurde umfassend von
Harold und Margaret Sprout sowie in den 1970er Jahren von Ro-
bert Jervis untersucht (Jervis 1976; Sprout/Sprout 1956). Inis J.
Claude hat sich in seinen Überlegungen zur Rolle der Macht in
den internationalen Beziehungen mit der Konzeption der balance
of power bei Morgenthau beschäftigt und dabei auf einige Wider-
sprüchlichkeiten und Unklarheiten verwiesen (Claude 1962: 25-
37). Den Machtbegriff Morgenthaus hat auch Gottfried-Karl Kin-
dermann – neben vielen weiteren Elementen der Theorie Mor-
genthaus – einer genaueren Analyse unterzogen und weiterentwi-
ckelt. Macht, so Kindermann, müsse als relativer Zustand im
Rahmen einer sozialen Beziehung verstanden werden, weshalb der
Machtbegriff analytisch wesentlich komplexer zu verstehen sei,
als es bei Morgenthau den Anschein habe (Kindermann 1986: 64).
Insgesamt ließe sich die Liste der Modifikationen von Morgen-
thaus Realismus beliebig weiterführen, da es so gut wie kein Ele-
ment in Morgenthaus Theorie gibt, dass nicht hinterfragt, verwor-
fen oder weiterentwickelt worden wären. Trotz dieser theoreti-
schen Unübersichtlichkeit des realistischen Denkens in den Inter-
nationalen Beziehungen soll eine konkrete Ergänzung des Realis-
mus aber an dieser Stelle eingehendere Berücksichtigung finden.
Der aus Düsseldorf stammende amerikanische Politologe John
H. Herz hat sich in seinen Schriften vor allem um eine Synthese
realistischer und idealistischer Annahmen bemüht. Seine Überle-
gungen beruhen auf der Beobachtung, dass die Anarchie im inter-
nationalen System etwa durch das Völkerrecht teilweise abge-
schwächt und gedämpft wird und der Machtkampf nicht immer die
extremsten Formen annehmen muss (Herz 1959: 221). Herz’ Be-
deutung für den Realismus beruhte aber weniger auf der Ausar-
beitung dessen, was er realistischen Liberalismus nannte, sondern
auf seinen Annahmen über die Struktur des internationalen Sys-
tems und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Sicher-
56 Andreas Jacobs
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heit von Staaten. In seinem nach wie vor lesenswerten Aufsatz


Idealistischer Internationalismus und das Sicherheitsdilemma aus
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dem Jahre 1950 hat er in bislang unübertroffener Klarheit einen


Sachverhalt formuliert, der mittlerweile zum Grundinventar realis-
tischen Denkens gezählt werden muss und dafür gesorgt hat, dass
Herz – entgegen seiner eigenen Verortung – üblicherweise zu den
Realisten gezählt wird (Herz 1974). Gemeint ist das so genannte
Sicherheitsdilemma. Das Sicherheitsdilemma ist
„diejenige Sozialkonstellation, die sich ergibt, wenn Machteinheiten
(wie z.B. Staaten und Nationen in ihren außenpolitischen Beziehun-
gen) nebeneinander bestehen, ohne Normen unterworfen zu sein, die
von einer höheren Stelle gesetzt wären und sie hindern würden, sich
gegenseitig anzugreifen (...)“ (Herz 1961: 130f).
Herz geht also davon aus, dass Konflikte und militärische Ausein-
andersetzungen primär aus der anarchischen Struktur des interna-
tionalen Systems resultieren. Anders als Morgenthau identifiziert
Herz damit das Problem von Krieg und Frieden nicht als anthro-
pologisches, sondern als soziales. Konflikte resultieren nach dieser
Einschätzung nicht aus angeborenen Machttrieben, sondern aus
der Struktur des internationalen Systems. Die Unsicherheit in den
internationalen Beziehungen beruht letztlich auf dem Fehlen einer
zentralen Ordnungs- und Sanktionsinstanz. Dies ist eine Position,
die später prägend für die Neorealisten werden sollte.
Hatte sich die Kritik der übrigen Realisten an Morgenthau rela-
tiv lange auf einzelne Aspekte konzentriert, begann sie ab Ende
der 1960er Jahre grundlegender Natur zu werden. Der Realismus
war eine Theorie, die auf empirischen Beobachtungen beruhte und
vor einem konkreten zeitgeschichtlichen Hintergrund entstanden
war. Die in den 1960er Jahren einsetzende weltpolitische Entspan-
nungsphase, die Dekolonisationsprozesse in vielen Teilen der Welt
und der wirtschaftliche Machtzuwachs Westeuropas und einiger
Staaten Ostasiens führten dazu, dass das Augenmerk nun auf Ent-
wicklungstendenzen im internationalen System gerichtet wurde,
die mit realistischen Ansätzen nicht mehr erklärbar schienen. Zu-
nehmend wurde Morgenthaus Politics among Nations nun nicht
mehr als Anknüpfungspunkt der realistischen Theoriebildung und
Instrumentarium der Analyse internationaler Politik gesehen, son-
dern nur noch als klassischer Gründungsbeitrag zur Lehre von den
Realismus 57
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Internationalen Beziehungen mit vorrangig theoriegeschichtlicher


Bedeutung.
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Erst ab Mitte der 1990er Jahre regte sich neues Interesse an


Morgenthau. Im Kontext der Ausdifferenzierung theoretischer
Entwürfe in den Internationalen Beziehungen nehmen Postrealis-
ten, defensive und offensive Realisten und neoklassische Realisten
wieder zunehmend Bezug auf Ideen und Überlegungen Morgent-
haus (Wohlforth 2008: 136-141; für eine Übersicht des realisti-
schen Forschungsprogramms siehe etwa Schweller 2003, Lobell/
Ripsman/Taliaferro 2009). Dieses neue Interesse am Gründungs-
vater der Denkschule des politischen Realismus bezieht sich in der
Regel aber nur auf Grundannahmen und einzelne Elemente des
klassischen Realismus, die im Sinne der eigenen (realistischen)
Theoriebildung nutzbar gemacht werden.
“Although Morgenthau is regularly identified as the father of modern
realism (…) there have been few systematic attempts to unpack the
theory of international politics that is embedded in his central text –
Politics Among Nations. The more prevalent tendency has been for
analysts to ransack his writings looking for quotations that confirm
their particular take on his approach to international Politics” (Little
2006).

4. Die Kritik am Realismus


Angesichts der Heterogenität des realistischen Denkens ist es
kaum verwunderlich, dass ein Großteil der Kritik an Morgenthau
aus dem realistischen Lager selbst kam. Eine Trennung zwischen
realistischer und nicht-realistischer Kritik erscheint deshalb nicht
sinnvoll. Insgesamt lässt sich die vielschichtige Kritik an Morgen-
thau in folgenden Punkten bündeln:

4.1 Das Menschenbild

In der Kritik wird zunächst die Unbekümmertheit bemängelt, mit


der Morgenthau jahrhundertealte anthropologische Vorstellungen
eines biologisch verankerten Machttriebes des Menschen überneh-
me. Diese verallgemeinernden Aussagen über die menschliche
58 Andreas Jacobs
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Natur seien nicht zuletzt durch neuere Erkenntnisse der Soziobio-


logie in Frage gestellt worden (Siedschlag 1997: 64). Als proble-
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matisch wird darüber hinaus die Übertragung des Machtstrebens


vom Individuum auf den Staat gesehen. Morgenthau hole hier die
Ideologie gleichsam durch die Hintertür wieder herein. Indem er
von einem bestimmten, eben ideologisch geprägten Menschenbild
ausgehe, baue er seine Theorie auf einer Grundannahme auf, die
letztendlich nicht wissenschaftlich begründbar sei, weil sie auf
Annahmen über das Wesen menschlichen Handelns beruhe (Hoff-
mann 1969: 196f). Dementsprechend folgen nahezu alle neueren
realistischen Theoriebildungen der bei Niebuhr und Herz ange-
legten soziologischen bzw. strukturellen Verortung der Gewaltur-
sachen in der internationalen Politik (Masala 2006: 89).

4.2 Der Machtbegriff

Die nachhaltigste Kritik handelte sich Morgenthau allerdings mit


seinem Machtbegriff ein. Obwohl Morgenthau als Theoretiker der
Macht schlechthin gilt, bleibt sein Verständnis von Macht eigen-
tümlich amorph und für viele analytisch kaum brauchbar (Hoffmann
1969: 192). Wenngleich die Kritik an der mangelnden definitori-
schen Trennschärfe von Morgenthaus Machtbegriff berechtigt er-
scheint, muss der Vorwurf, Morgenthau und die übrigen Realisten
hätten Apologien der Machtpolitik vorgelegt, zurückgewiesen wer-
den. Morgenthau hat sich vielmehr vehement gegen Ideen abge-
grenzt, die seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts unter dem
Schlagwort Realpolitik vor allem im deutschen politischen Denken
entwickelt wurden. Die begriffliche Nähe von Realismus und Real-
politik und die beiderseitige starke Aufmerksamkeit für das Macht-
phänomen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Morgenthau
sich immer gegen eine Selbstrechtfertigung der Macht gewandt hat.
Die Grundlagen einer naturalistischen und biologischen Gewaltethik
lassen sich aus seinen Schriften nicht herauslesen, wenngleich Mor-
genthau durch die Unschärfe seines Machtbegriffs den Vorwurf
selbst befördert hat, einer rücksichtslosen Durchsetzung national-
staatlicher Interessen mit Hilfe aller zur Verfügung stehenden
Machtmittel das Wort zu reden. Tatsächlich warnen viele Realisten
ausdrücklich davor, aus der Einsicht in die herausragende Rolle der
Realismus 59
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Macht eine Art moralfreie Machtethik abzuleiten (Morgenthau


1958: 357; Spykman 1944: 7; Thompson 1960: 29).
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4.3 Das Theorieverständnis und die Methode

Von den Vertretern des Realismus ist immer wieder eingeräumt


worden, dass der Realismus kein einheitliches Theoriegebäude
darstellt, sondern lediglich Ansatzpunkte einer Theorie liefert, de-
ren Ausarbeitung noch folgen sollte (Hoffmann 1969: 185; Mor-
genthau 1969: 77; Thompson 1969: 62). Schwerer wiegt deshalb
der vor allem von Kenneth N. Waltz erhobene Einwand, Morgen-
thau habe, ebenso wie die meisten anderen Realisten seiner Zeit,
allenfalls eine Theorie der Außenpolitik, nicht aber eine Theorie
der internationalen Politik erarbeitet (Waltz 1990: 26). Diese fun-
damentale Kritik am Realismus ist darauf zurückzuführen, dass die
Realisten bei der Betrachtung internationaler Politik in der Regel
von der Ebene des Individuums ausgehen. Für Morgenthau ist der
Staat bzw. die Nation kein empirischer Gegenstand. „Sprechen wir
(...) empirisch von der Macht oder der Außenpolitik einer be-
stimmten Nation, ist darunter nur die Macht oder die Außenpolitik
bestimmter Individuen, die einer Nation angehören, zu verstehen“
(Morgenthau 1963: 125). Der Realismus leite hieraus lediglich
Annahmen über das Außenverhalten von Staaten, nicht aber über
die Funktionsbedingungen von Politik zwischen Staaten ab. Eine
Theorie internationaler Politik, so Waltz, könne aber nicht nur von
den interagierenden Einheiten ausgehen, sondern müsse vor allem
den sich aus diesen Interaktionen ergebenden Gesamtzusammen-
hang im Blick haben (Waltz 1990: 33).
Die Kritik richtete sich aber auch auf die Vernachlässigung wich-
tiger Erklärungsvariablen. Stanley Hoffmann, um nur einen von vie-
len zu nennen, wirft Morgenthau beispielsweise vor, die Beziehun-
gen zwischen der Innen- und der Außenpolitik sowie die Bedeutung
internationaler Verhaltensnormen zu vernachlässigen. Die Reduzie-
rung der internationalen Politik auf die Erklärungsvariable Macht
führe zu einem vereinfachten, schematischen Bild der Politik (Hoff-
mann 1969: 192f). Widerspruch rief schließlich die erkenntnistheo-
retisch und methodologisch wenig reflektierte Argumentationsweise
Morgenthaus hervor. Politics among Nations, so vor allem Robert
60 Andreas Jacobs
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O. Keohane, lasse eine klare Systematik und eine nachvollziehbare


Argumentationsstruktur vermissen. Morgenthau habe lediglich all-
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gemein bekannte Tatsachen über die internationale Politik formu-


liert, ohne aber kausale Zusammenhänge aufzuzeigen, die als Instru-
mentarium zur Analyse und zum Verständnis internationaler Politik
nutzbar gemacht werden könnten. Über weite Strecken gleiche das
Werk weniger einem fundierten Beitrag zur Theoriebildung als
vielmehr einer Kommentierung politischer und historischer Zusam-
menhänge, wenngleich auf hohem Niveau (Keohane 1986: 7).
Die Kritik der 1970er und 1980er Jahre ist in den vergangenen
Jahren neuem akademischem Interesse am Gründungsvater der Theo-
rie von den internationalen Beziehungen gewichen. Zwar scheint es
übertrieben, Morgenthau in die Nähe eines Kultautors zu rücken,
ein zunehmendes postrealistisches Interesse an Morgenthau und
den anderen Realisten ist jedoch seit Ende der 1990er Jahren un-
übersehbar (Bell 2009; Brooks/Wohlforth 2008; Little 2007; Hacke/
Kindermann/Schellhorn 2005; Rohde 2004; Rose 1998; Scheuer-
man 2009; Williams 2004, 2007). Die neue Aufmerksamkeit für
Morgenthau ist bei weitem nicht nur wissenschaftsgeschichtlich be-
gründet. Nach wie vor werden zahlreiche Ideen und Überlegungen
Morgenthaus von Theoretikern, die sich im weiterem Sinne dem
Realismus zurechnen, als anschlussfähig für die aktuelle Theoriebil-
dung betrachtet. Mindestens zwei Aspekte wären hier zu nennen:
Erstens das von den frühen Realisten betonte Spannungsver-
hältnis von Egoismus und Idealismus bzw. von Eigeninteresse und
Moral. Allein die Diskussion um die Rechtmäßigkeit so genannter
humanitärer Interventionen zeigt, dass Fragen der Moral und Ethik
für die internationale Politik der Gegenwart von mindestens ebenso
großer Bedeutung sind wie zur Zeit Carrs, Niebuhrs und Morgen-
thaus. Umso problematischer erscheint die weitgehende Vernachläs-
sigung dieses Aspekts in den neueren Ansätzen der Theoriebildung.
Aber noch ein zweiter Sachverhalt spricht für die Aktualität des
Realismus. Für Morgenthau, Carr und Niebuhr stellte das Nachden-
ken über Politik alles andere als theoretisches Räsonieren oder in-
tellektuelle Gedankenspielerei dar. Sie leiteten ihre Erkenntnisse un-
mittelbar aus empirischen und persönlichen Erfahrungen und Beob-
achtungen ab und wollten diese Erkenntnisse wieder in die Politik
einfließen lassen. Vor allem Morgenthau hatte für Kollegen, die als
Politikwissenschaftler vor ihrer politischen Verantwortung in die
Realismus 61
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reine Theoriebildung flüchten wollten, wenig übrig. Diese Nähe zum


Gegenstand scheint der gegenwärtigen politikwissenschaftlichen
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Theoriedebatte weitgehend verloren gegangen zu sein.

Literaturverzeichnis

Empfohlene Literatur

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Schumann, Frederik L. 1958 [1933]: International Politics, 6. Aufl. New York:
McGraw-Hill.
64 Andreas Jacobs
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Schwarzenberger, Georg 1955: Machtpolitik – Eine Studie über die internatio-


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Schweller, Randall L. 2003: The Progressiveness of Neoclassical Realism, in:


Elman, Colin/Fendius Elman, Miriam (Hrsg.): Progress in International
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Neorealismus
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Niklas Schörnig

1. Einleitung
Kaum eine Theorie hat die politologische Disziplin der Internatio-
nalen Beziehungen (IB) so stark geprägt wie der Neorealismus.
Dabei zeichnet diese Theorie ein „rather grim picture of world po-
litics“, wie selbst ein bekennender Vertreter des Neorealismus –
John Mearsheimer – eingesteht (1995: 9). Das Bild des Neorea-
lismus von den internationalen Beziehungen ist durch die absolute
Dominanz von Sicherheitsinteressen, den Selbsterhaltungstrieb der
Staaten und die Verweigerung von Kooperation gekennzeichnet.
Da es keine Instanz jenseits der Staaten (z.B. eine Weltregierung)
gibt, die für alle Staaten gültige Regeln und Normen setzt und die-
se notfalls gewaltsam durchsetzen kann, müssen sie in ständiger
Unsicherheit über die Intentionen der Nachbarn leben und deshalb
immer auf den schlimmsten Fall – Krieg – vorbereitet sein. Mit
diesen Annahmen steht der Neorealismus klar in der Tradition
realistischer Autoren wie z.B. Hans J. Morgenthau, Edward H.
Carr oder Henry Kissinger, geht jedoch in Fragen der Theoriebil-
dung über diese hinaus (daher Neo-Realismus). Begründet wurde
er 1979 von Kenneth Waltz mit seinem Buch Theory of Interna-
tional Politics. Dieser wird aufgrund seines prägenden Einflusses
im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen.
Im Gegensatz zum Realismus, der stark durch die Erfahrung der
Zwischenkriegsperiode und des Zweiten Weltkriegs beeinflusst
wurde und Kriege anthropologisch mit der Natur des Menschen be-
gründete, lehnt Waltz eine solche Erklärung der internationalen Be-
ziehungen ab: „While human nature no doubt plays a role in
bringing about war, it cannot by itself explain both war and peace,
except by the simple statement that man’s nature is such that some-
times he fights and sometimes he does not“ (Waltz 1959: 29).
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Neorealismus
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Niklas Schörnig

1. Einleitung
Kaum eine Theorie hat die politologische Disziplin der Internatio-
nalen Beziehungen (IB) so stark geprägt wie der Neorealismus.
Dabei zeichnet diese Theorie ein „rather grim picture of world po-
litics“, wie selbst ein bekennender Vertreter des Neorealismus –
John Mearsheimer – eingesteht (1995: 9). Das Bild des Neorea-
lismus von den internationalen Beziehungen ist durch die absolute
Dominanz von Sicherheitsinteressen, den Selbsterhaltungstrieb der
Staaten und die Verweigerung von Kooperation gekennzeichnet.
Da es keine Instanz jenseits der Staaten (z.B. eine Weltregierung)
gibt, die für alle Staaten gültige Regeln und Normen setzt und die-
se notfalls gewaltsam durchsetzen kann, müssen sie in ständiger
Unsicherheit über die Intentionen der Nachbarn leben und deshalb
immer auf den schlimmsten Fall – Krieg – vorbereitet sein. Mit
diesen Annahmen steht der Neorealismus klar in der Tradition
realistischer Autoren wie z.B. Hans J. Morgenthau, Edward H.
Carr oder Henry Kissinger, geht jedoch in Fragen der Theoriebil-
dung über diese hinaus (daher Neo-Realismus). Begründet wurde
er 1979 von Kenneth Waltz mit seinem Buch Theory of Interna-
tional Politics. Dieser wird aufgrund seines prägenden Einflusses
im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen.
Im Gegensatz zum Realismus, der stark durch die Erfahrung der
Zwischenkriegsperiode und des Zweiten Weltkriegs beeinflusst
wurde und Kriege anthropologisch mit der Natur des Menschen be-
gründete, lehnt Waltz eine solche Erklärung der internationalen Be-
ziehungen ab: „While human nature no doubt plays a role in
bringing about war, it cannot by itself explain both war and peace,
except by the simple statement that man’s nature is such that some-
times he fights and sometimes he does not“ (Waltz 1959: 29).
66 Niklas Schörnig
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Entgegen dem zentralen Anliegen traditioneller Realisten und


hier speziell Morgenthaus, eine Theorie der internationalen Politik
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als Außenpolitiktheorie zu formulieren (vgl. den Beitrag von An-


dreas Jacobs in diesem Band) besteht der Anspruch von Waltz in
der Entwicklung einer systemischen Theorie der internationalen
Politik. So verlagert der Neorealismus den Fokus der Analyse auf
die Ebene des internationalen Systems. Er schließt in seinen Erklä-
rungen von der Struktur des internationalen Systems auf das Ver-
halten der Staaten und wird daher oft auch als struktureller Rea-
lismus bezeichnet. Dabei ist der Neorealismus in seinem realhisto-
rischen Entstehungskontext eng mit dem Ost-West-Konflikt ver-
knüpft. Nachdem sich in den 1970er Jahren nach Jahrzehnten des
Kalten Krieges schließlich eine Phase der Annährung zwischen
den Supermächten abzeichnete, verlor der traditionelle Realismus
zunehmend an Erklärungskraft. Interdependenzansätze oder die
Weltsystemtheorie schienen für die durch verstärkte Kooperation
gekennzeichneten internationalen Beziehungen deutlich besser ge-
eignet (vgl. die Beiträge von Manuela Spindler und Andreas Nöl-
ke in diesem Band). Mit dem Einmarsch der Sowjetunion in Af-
ghanistan schien die kurze Phase der Entspannung allerdings be-
endet und der befriedende Einfluss der USA auf die internationa-
len Beziehungen wurde spätestens mit der Revolution im Iran als
schwindend angesehen. Ebenso schien die ökonomische Vor-
machtstellung der westlichen Führungsmacht angesichts der dras-
tischen Verteuerung des Erdöls zunehmend ins Wanken zu gera-
ten. Genau in diese Zeit des relativen Niedergangs der USA in der
Weltwirtschaft fiel die Veröffentlichung von Kenneth Waltz’
Theory of International Politics.
Der Neorealismus verfolgte zwei zentrale Anliegen: Zum einen
suchte er nach einer Erklärung, warum sich die bipolare und dar-
über hinaus hochgerüstete Welt des Ost-West-Konflikts trotz
wechselnder Phasen der Annährung und Konfrontation als er-
staunlich stabil und kriegsabgeneigt erwiesen hatte. Zum anderen
versuchte er angesichts des Niedergangs der amerikanischen He-
gemonie in den 1970er Jahren und des wirtschaftlichen Wiederer-
starkens Europas und Japans sowie der weltwirtschaftlichen Kri-
senerscheinungen zu erklären, warum sich die Vormachtstellung
der USA als nicht stabil erwiesen hatte. Waltz suchte nach einer
allgemeinen Theorie der Internationalen Beziehungen, mit der so-
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wohl Krieg als auch Phasen des Friedens in der internationalen


Politik erklärt werden können.
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Über den realhistorischen Kontext des Ost-West-Konfliktes


hinaus erwies sich dabei die in den 1960er und 1970er Jahren auf
wissenschaftstheoretischer Ebene vehement geführte Debatte zwi-
schen den so genannten Traditionalisten und den Szientisten über
die Frage nach der richtigen wissenschaftlichen Methode als be-
sonders einflussreich für die neorealistische Theoriebildung. Me-
thodologische Traditionalisten – zu denen die führenden Realisten
gezählt werden können – gehen in der Regel induktiv vor, d.h. sie
schließen auf der Basis einzelner empirischer Beobachtungen auf
Aussagen mit allgemeinem Charakter. Im Gegensatz dazu orientie-
ren sich Szientisten in ihrer Forschung an den Naturwissenschaf-
ten oder der ökonomischen Theorie und versuchen deren Wissen-
schaftsverständnis in die Internationalen Beziehungen zu über-
nehmen (vgl. z.B. Scherrer 1994: 304f). Für Waltz, der sich in die-
ser Debatte klar auf die Seite der Szientisten stellte, steht das de-
duktive Aufdecken und Erklären allgemeiner Muster der interna-
tionalen Beziehungen auf der Basis weniger zentraler Annahmen
im Vordergrund. Inspiriert durch ökonomische Theorien verlagert
sich sein Fokus dazu auf die Ebene des internationalen Systems.
Dessen Struktur zwinge Staaten ein auf Sicherheit und Macht kon-
zentriertes Handeln auf, gleichzeitig bringe das System aber auch
Machtkonstellationen auf internationaler Ebene hervor, die be-
waffnete Konflikte verhindern würden. Die Struktur des interna-
tionalen Systems löst damit in Waltz’ Arbeiten Macht und Macht-
streben als zentrale Analysekategorien der Realisten ab. Der Neo-
realismus überwindet aus dieser Perspektive damit den traditio-
nellen Realismus auf doppelte Weise: sowohl in der Wahl der
zentralen Analysekategorie als auch in der Wahl der wissenschafts-
theoretischen Vorgehensweise. Aus Waltz’ Sicht stellte der Neo-
realismus damit einen enormen wissenschaftlichen Fortschritt ge-
genüber den Arbeiten traditioneller Realisten dar.
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes schien der Neorealis-
mus zunächst in eine Krise geraten zu sein, da er das Ende der
Blockkonfrontation (so wie andere IB-Theorien auch) nicht vor-
hergesagt hatte. Einen unerwarteten Aufschwung erhielt die neo-
realistische Theorie jedoch nach dem 11. September 2001. Pro-
bleme nationaler Sicherheit und die Kriege in Afghanistan und im
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Irak standen und stehen seitdem im Mittelpunkt internationaler


Politik – auch wenn die Staatszentriertheit des Neorealismus zu-
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nächst nicht geeignet scheint, die „neuen“ Bedrohungen und si-


cherheitspolitischen Herausforderungen zu erfassen. Inzwischen
wird immer deutlicher, dass Theorien mit einem Fokus auf Staaten
als den zentralen Akteuren internationaler Politik auch zukünftig
von Bedeutung sind, da die Überwindung des Staates als zentrale
Einheit (Stichwort: Global Governance) in unterschiedlichen geo-
grafischen Räumen sehr unterschiedlich weit vorangeschritten ist
(Müller 2009).
Schließlich ist der Neorealismus trotz aller Kritik auch nicht
zuletzt deshalb eine wichtige Theorie, die es zu kennen gilt, da ei-
ne (neo)realistische Weltsicht in vielen Außen- oder Verteidigungs-
ministerien ihre politische Prägekraft entfaltet (Gyngell/Wesley
2003).

2. Der Neorealismus von Kenneth N. Waltz


Die zentrale Fragestellung des Neorealismus ist, ob, und wenn ja,
warum Staaten trotz unterschiedlich verfasster politischer Systeme
oder differierender Ideologien in ihrem Außenverhalten zu ähnli-
chem Verhalten tendieren und besonders mächtige Staaten immer
damit rechnen müssen, in ihrer Vormachtstellung herausgefordert
zu werden. Gleichzeitig versucht diese Theorie zu erklären, warum
in bestimmten Phasen der Geschichte mehr Kriege auftreten, ande-
re hingegen trotz hoher Spannungen friedlich sind. Dabei konzen-
triert sich die Theorie ausschließlich auf „high politics“ (also
„klassische“ Sicherheitspolitik) und lässt „low politics“ (soziale
und ökonomische Fragen) außer Acht.
Der bis heute bedeutendste und einflussreichste Vertreter des
Neorealismus ist Kenneth N. Waltz. Waltz hat den Anspruch, mit
seinem Buch Theory of International Politics (im folgenden ‚TIP‘)
eine umfassende Theorie der internationalen Beziehungen zu for-
mulieren. Aufgrund des hohen Grades an Abstraktion haben viele
Leser der TIP allerdings Probleme, ihre politischen Alltagser-
fahrungen mit den Annahmen und Schlussfolgerungen dieser
Theorie in Einklang zu bringen. Um Missverständnissen entgegen-
zutreten, ist es deshalb sinnvoll, vor der Präsentation des eigentli-
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chen Theoriegebäudes zunächst zu klären, warum Waltz eine neue


IB-Theorie für nötig hielt, welchen Anspruch er mit dieser Theorie
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verbindet und welches Theorieverständnis er seinem neorealisti-


schen Denken zugrunde legt.

2.1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen

Schon in seinem 1959 veröffentlichten Buch Man, the State and


War unterscheidet Kenneth Waltz drei Ebenen der Analyse, die
seiner Meinung nach zur Erklärung der internationalen Politik her-
angezogen werden können und nennt diese die „Bilder der Welt“
bzw. „levels of analysis“. Das „erste Bild der Welt“ ist die Ebene
des Individuums und basiert auf der Annahme fester anthropologi-
scher Veranlagungen, die auch das Verhalten der politischen Ent-
scheidungsträger bestimmen. Realisten bedienen sich in der Regel
dieser ersten Analyseebene, indem sie Staaten analog zum mensch-
lichen Individuum anthropologische Züge zuordnen. Das politi-
sche System eines Staates bildet die zweite Analyseebene. Die li-
berale Theoriebildung erfolgt beispielsweise auf dieser Ebene,
wenn untersucht wird, ob sich Demokratien nach außen anders als
Nichtdemokratien verhalten (vgl. auch den Beitrag von Andreas
Hasenclever in diesem Band). Als dritte Ebene identifiziert Waltz
schließlich die Ebene des internationalen Systems.
Die meisten Theorien der Internationalen Beziehungen leiden
nach Ansicht von Waltz unter einem gravierenden Nachteil: Sie
beschränken sich in ihrer Analyse internationaler Politik auf das
erste oder zweite Bild der Welt, um von dort aus Rückschlüsse auf
das Zustandekommen der spezifischen Außenpolitik eines einzel-
nen Staates zu ziehen. Das Ganze – die internationale Politik – ist
dann jeweils nicht mehr als die Summe seiner Teile – der einzel-
nen spezifischen Außenpolitiken. Theorien, die so vorgehen, nennt
Waltz „reduktionistisch“ (Waltz 1979: 18), worunter für ihn neben
liberalen Ansätzen auch der traditionelle Realismus fällt. Zwar
werde eine Fülle an empirischen Daten gesammelt, jedoch ließen
sich aus diesen Daten nur bedingt allgemeine theoretische Aussa-
gen (im Sinne von Gesetzmäßigkeiten) über die umfassenderen
Zusammenhänge im internationalen System ableiten. Außerdem,
so argumentiert er weiter, verführe der analytische Verbleib auf
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der subsystemischen ersten oder zweiten Ebene dazu, einer Theo-


rie ad hoc neue Variablen hinzuzufügen, wenn auf der Basis der
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bisher betrachteten eine befriedigende Erklärung nicht zu erzielen


sei. Waltz wendet sich explizit gegen die Forderung „nach mög-
lichst vollständiger Berücksichtigung empirischer Daten“ und for-
dert das genaue Gegenteil, nämlich „Vereinfachung“ (Hellmann
1994: 73, FN 14; Hervorhebung im Original). Erst Vereinfachung
ermögliche es, die zentralen und bestimmenden Elemente interna-
tionaler Prozesse abstrakt zu erfassen, ohne die Sicht darauf durch
irrelevante Faktoren zu verstellen. Das zentrale Stichwort, das in
diesem Zusammenhang immer wieder fällt, ist parsimony, d.h. die
‚Schlankheit‘ der Theorie (vgl. z.B. Scherrer 1994: 304f): Je we-
niger Variablen zur Erklärung bestimmter Verhaltensweisen heran-
gezogen werden müssen, umso besser wird die allgemeine Erklä-
rungskraft einer Theorie eingeschätzt.
Damit ist Waltz’ Theorieverständnis stark an dem der Wirt-
schaftswissenschaften orientiert, die er als Vorbild für die Formu-
lierung einer Theorie der internationalen Politik versteht. Der ent-
scheidende Durchbruch auf dem Weg zu einer wissenschaftlich
allgemein anerkannten volkswirtschaftlichen Theorie war, so
Waltz, die abstrakte – und zugegebenermaßen unrealistische – Tren-
nung der ökonomischen Sphäre von sonstigen gesellschaftlichen
und politischen Fragen (Waltz 1990: 22). Davon inspiriert sieht er
die Notwendigkeit, auch für die internationale Politik zu einer
Theorie zu gelangen, die sich analog ausschließlich auf die Sphäre
der internationalen Politik konzentriert, ohne ökonomische oder
soziale Faktoren einzubeziehen. Nur so sei es möglich, die grund-
legenden Zusammenhänge der internationalen Politik zu erklären.
Damit verlagert sich aber notwendigerweise die analytische Per-
spektive. Waltz wählt entsprechend die Ebene des internationalen
Systems, das dritte Bild der Welt. Ebenso wie der Markt das Ver-
halten der Firmen bestimmt, indem er sie z.B. zwingt, ihr Produkt
zum am Markt üblichen Preis zu verkaufen, sieht Waltz im inter-
nationalen System Kräfte am Werk, die das Verhalten der Staaten
von außen bestimmen, ohne dass sich diese solchen Einflüssen
längerfristig entziehen können. Diesen Kräften soll nun nachge-
spürt werden.
Neorealismus 71
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2.2 Das internationale System: Akteure und Strukturen


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Jede Theorie der Internationalen Beziehungen, deren Analyseschwer-


punkt auf der Ebene des internationalen Systems liegt, muss zu-
nächst ihren Systembegriff definieren. Für Waltz besteht das in-
ternationale System grundsätzlich aus zwei Elementen: den Akteu-
ren bzw. Einheiten des Systems („units“) – das sind die Staaten,
und der separaten Struktur des Systems („structure“). Aus Sicht
des Neorealismus sind beide Elemente getrennt voneinander zu
untersuchen.1
Im Sinne des ‚Reduktionismus-Verbots‘ werden Staaten als ein-
heitliche, bzw. uniforme Akteure verstanden, deren ‚Innenleben‘
für die Formulierung einer neorealistischen Theorie nicht von Be-
deutung ist. Die innere Gestaltung der Staaten – wie beispielswei-
se das konkrete politische System – ist aus neorealistischer Sicht
vernachlässigbar und stellt gleichsam eine ‚black box‘ dar, die der
Neorealismus ungeöffnet lässt. Es ist für die Erklärung internatio-
naler Politik mithin irrelevant, ob ein Staat liberal-demokratisch
verfasst ist oder aber autokratisch, monarchisch oder diktatorisch
regiert wird. Damit werden die wesentlichen Unterscheidungs-
merkmale der Staaten bewusst ausgeblendet. Aus Sicht der Theo-
rie wird also angenommen, alle Staaten wären in ihrem Kern iden-
tisch („like units“, d.h. gleichartige Akteure oder „unitary actors“,
vgl. Waltz 1996: 54). Mit dieser Annahme setzt sich der Neo-
realismus geradezu zwangsläufig der Kritik aus, zentrale Elemente
zu vernachlässigen, die für das Verständnis von politischen Pro-
zessen auf internationaler Ebene relevant sind. Waltz’ Antwort
hierauf ist, dass man für bestimmte Fragestellungen wie z.B. die
Erklärung einer konkreten Außenpolitik durchaus in die Staaten
‚hineinschauen‘ müsse. Allerdings sei es nicht sein Ziel, eine
Theorie der Außenpolitik zu entwickeln. Ihm gehe es vielmehr
darum, allgemeine Tendenzen und Zwänge zu identifizieren
(Waltz spricht von „systemischen Effekten“), die für alle Staaten
gleichermaßen zu berücksichtigen seien. Neorealisten, die sich an
Waltz orientieren, arbeiten daher meist mit drei Kernannahmen:

1 Damit unterscheidet sich Waltz’ Systembegriff von dem anderer systemischer


Perspektiven – wie zum Beispiel der Weltsystemtheorie. Vgl. Ruggie 1983:
262ff. sowie den Beitrag von Andreas Nölke in diesem Band.
72 Niklas Schörnig
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(1) Obwohl konkrete Interessen einzelner Staaten nicht beachtet


werden (da sie in der „black box“ liegen), gehen Neorealisten von
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zumindest einem zentralen Bedürfnis aus, das in der staatlichen


Präferenzordnung an erster Stelle steht: Überleben. Dies kann als
das Streben nach Erhalt der staatlichen und geographischen Inte-
grität verstanden werden.
(2) Staaten verfolgen die Umsetzung ihrer zentralen Präferen-
zen rational, d.h. sie orientieren sich in ihren Entscheidungen an
dem Kriterium der Zweck-Mittel-Rationalität.2 Bezüglich der In-
tentionen der anderen Staaten herrscht allerdings Unsicherheit.
Aggressivität und Expansionsdrang der anderen stehen immer als
drohende Möglichkeiten im Raum und müssen berücksichtigt
werden.
(3) Während die ersten beiden Annahmen für alle Staaten gelten,
gibt es schließlich doch ein Kriterium, anhand dessen Staaten unter-
schieden werden können: nämlich an der Fülle der Machtmittel
(capabilities), über die sie verfügen (Waltz 1979: 195). Wie Macht-
mittel und Macht genau zu bemessen sind, wird nicht näher erläu-
tert. Sie bleiben als abstrakte Konzepte im Raum stehen (Waltz
1979: 129ff). Zumindest unterstellt Waltz, dass es zur Bestimmung
der Macht eines Staates nicht nur auf das Zusammenzählen aller
Waffensysteme und Soldaten ankommt. Auch ökonomische, ja so-
gar soziale Faktoren können staatlicher Macht zugerechnet werden.
Macht ist gleichsam die ‚Recheneinheit‘ der Staaten zum Vergleich
untereinander, so wie die Bewertung mit Geld die Relation unter-
schiedlicher Güter zueinander ermöglicht (Waltz 1986: 333).
Es mag verwundern, dass bisher ausschließlich Staaten als rele-
vante Akteure im internationalen System benannt wurden. Natür-
lich bestreiten auch Neorealisten nicht, dass auch Akteuren wie
transnationalen Konzernen, NGOs oder internationalen Organisa-
tionen in der Realität eine gewisse Bedeutung zukommt. Dennoch
erscheinen solche Akteure aus der theoretischen Perspektive des
Neorealismus vernachlässigbar, da sie keinen Einfluss auf diejeni-
gen Prozesse ausüben, die in einer neorealistischen Perspektive
maßgeblich die internationale Politik bestimmen.

2 Die Annahme der Rationalität der Staaten findet sich in TIP nicht expressis ver-
bis. Waltz gesteht aber in späteren Aufsätzen ein, von dieser Annahme implizit
auszugehen. Vgl. z.B. Waltz 1986: 330.
Neorealismus 73
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Während sich aus Sicht reduktionistischer Theorien die Struktur


aus den Interaktionen der Staaten ergibt und damit von diesen ab-
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hängt, wird bei Waltz die Struktur unabhängig von den Akteuren,
ihren Interessen und ihren Interaktionen definiert. Die Struktur des
internationalen Systems hat in einer neorealistischen Perspektive ei-
nen eigenständigen kausalen Einfluss auf die Akteure und bewirkt,
dass sie sich in bestimmten Situationen grundsätzlich ähnlich ver-
halten. Will man allerdings bestimmen, was genau unter der Struktur
des internationalen Systems zu verstehen ist, so stößt man auf das
Problem, dass sie als solche natürlich nicht direkt beobachtet werden
kann. Sie muss deshalb abstrakt modelliert werden. Nach der Defi-
nition von Waltz sind es drei Elemente, die zur Bestimmung der po-
litischen Struktur des internationalen Systems herangezogen werden:
(1) das Ordnungsprinzip, (2) die Funktionsspezifizierungen oder Ei-
genschaften der Akteure und (3) die Ressourcen- bzw. Machtver-
teilung zwischen den Akteuren.
(1) Das Prinzip, nach dem die Einheiten im internationalen Sys-
tem geordnet sind, ist das Ordnungsprinzip (ordering principle).
Nach Waltz gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie Akteu-
re in einem System organisiert sein können: hierarchisch oder an-
archisch (Waltz 1979: 114ff). Eine hierarchische Struktur zeichnet
sich – wie für nationale politische Systeme charakteristisch –
durch das Vorhandensein einer übergeordneten Instanz mit Sank-
tionsgewalt (Gewaltmonopol) aus, die den Schutz der einzelnen
Einheiten garantiert. Im Gegensatz dazu bezeichnet Anarchie –
abweichend vom umgangssprachlichen Gebrauch – die Abwesen-
heit einer solchen Instanz: Jeder Akteur ist unter diesen Bedingun-
gen auf sich selbst gestellt. Alle Neorealisten gehen davon aus,
dass sich das internationale System durch Anarchie – verstanden
als die Abwesenheit einer „Weltregierung“ bzw. einer übergeord-
neten Instanz – auszeichnet. Die Annahme der Anarchie hat, wie
noch zu sehen sein wird, weitreichende Konsequenzen für die
Theoriebildung.
(2) Das zweite Strukturmerkmal, dem Waltz Beachtung schenkt,
ist die Frage nach der funktionalen Differenzierung der Einheiten
bzw. dem character of the units. Eine funktionale Differenzierung
liegt dann vor, wenn es zwischen den Staaten eine ‚Arbeitsteilung‘
gibt, d.h. die einzelnen Staaten unterschiedliche Funktionen erfül-
len – analog der Arbeitsteilung in einer Gesellschaft. Bei der Be-
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messung, inwieweit Arbeitsteilung im internationalen System zwi-


schen Staaten möglich ist, spielt das Ordnungsprinzip des Systems
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eine zentrale Rolle. Für Waltz folgt aus der Annahme der Anar-
chie, dass Staaten keine funktionale Differenzierung, d.h. interna-
tionale Arbeitsteilung wagen werden. Anarchie zwingt jeden ein-
zelnen Staat, sich um seine zentrale Präferenz – den Erhalt der
Souveränität bzw. das eigene Überleben – zu kümmern und dabei
auf keine äußere Hilfe zu vertrauen. „The international imperative
is: ,take care of yourself‘“ (Waltz 1979: 107). Aus diesem Grund
wird das von Neorealisten beschriebene System auch als „Selbst-
hilfesystem“ (self-help system) bezeichnet.
(3) Das dritte Element, das die Struktur des internationalen Sys-
tems charakterisiert, ist die Machtrelation der einzelnen Staaten
zueinander (distribution of capabilities). Obwohl die Macht jedes
einzelnen Staates ein Attribut der jeweiligen Einheit ist, versteht
Waltz die Verteilung der Macht im internationalen System als Ei-
genschaft der Struktur des Systems (vgl. Waltz 1979: 80 und 98).
Es sind drei konkrete Machtverteilungen denkbar: So kann das
internationale System unipolar (es existiert ein besonders mächti-
ger Staat, der Hegemon), bipolar (es existieren zwei besonders
mächtige Staaten, wie z.B. während des Ost-West-Konfliktes)
oder multipolar (es existieren mehr als zwei besonders mächtige
Staaten) strukturiert sein.
Nach der Klärung der zentralen Annahmen, auf denen die neo-
realistische Theoriebildung fußt, werden im Folgenden die wich-
tigsten politischen Prozesse im internationalen System dargelegt,
die Kenneth Waltz aus diesen Annahmen ableitet.

2.3 Internationale Politik aus neorealistischer Perspektive

Welche Wirkung hat nun die Struktur des internationalen Systems


auf die Akteure, d.h. konkret, wie handeln Staaten unter den Bedin-
gungen von Anarchie? Die Ausgangsüberlegung ist folgende: Staa-
ten, die in einer anarchisch strukturierten Umgebung überleben wol-
len, sind gezwungen, alles daran zu setzen, ihre Sicherheit zu maxi-
mieren. Sicher sind sie erst, so die Argumentation weiter, wenn im
internationalen System ein Machtgleichgewicht existiert, da poten-
ziell aggressive Staaten durch die Möglichkeit einer Niederlage ab-
Neorealismus 75
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geschreckt werden. Dementsprechend gilt es, Machtungleichge-


wichte schon im Ansatz zu kompensieren, da das Überleben durch
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eine drohende Überlegenheit des Gegenübers nicht mehr zwingend


gewährleistet ist. Solche Prozesse werden von Neorealisten als ba-
lancing bezeichnet. Der Handlungsimperativ der Staaten im interna-
tionalen System lautet daher: Wenn Du überleben willst, so gleiche
Machtungleichgewichte aus! Die Struktur des internationalen Sys-
tems ‚wirkt‘ in genau diesem Sinne auf das Verhalten der Staaten
ein, entfaltet also in einer bestimmten Richtung eine kausale Wir-
kung auf die Staaten. Sie besitzt im neorealistischen Erklärungsmo-
dell den Status einer unabhängigen Variablen.
Für Waltz weist das internationale System eine elementare
Grundtendenz in Richtung eines Machtgleichgewichts auf. Das
bedeutet allerdings nicht, dass die Staaten in ihrem Verhalten de-
terminiert sind und immer eine Balancing-Politik betreiben müs-
sen:
“States’ actions are not determined by structure. Rather (...) structures
shape and shove. (...) Because states coexist in a self-help system, they
are free to do any fool thing they care to, but they are likely to be re-
warded for behavior that is responsive to structural pressures and pun-
ished for behavior that is not” (Waltz 1997: 915).
Also ist ein Machtgleichgewicht bzw. die Tendenz in diese Rich-
tung zwar nicht zwingend, aber doch sehr wahrscheinlich:
“A self-help system is one in which those who do not help themselves
(…) will fail to prosper, will lay themselves open to dangers, will suf-
fer. Fear of such unwanted consequences stimulates states to behave in
ways that tend toward the creation of balances of power” (Waltz 1979:
118).
Aus diesen Überlegungen folgt, dass es für einen Staat von beson-
derer Bedeutung ist, permanent seine Machtmittel mit denen der
anderen Akteure zu vergleichen und kontinuierlich die eigene Po-
sition im internationalen System zu bestimmen. Machtverschie-
bungen zugunsten eines anderen Staates können dabei grundsätz-
lich entweder durch eigene Aufrüstung oder durch Bündnisbildung
ausgeglichen werden.
Wenn ein besonders mächtiger Akteur seine Machtmittel zur
Verbesserung seiner Position im internationalen System einsetzt
ist es wahrscheinlich, dass andere Staaten nicht unilateral mit die-
76 Niklas Schörnig
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sem Staat in Konkurrenz treten werden (z.B. durch Aufrüstung),


sondern über die Bildung einer Allianz versuchen werden, die Ba-
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lance wiederherzustellen. Unterstellt man zudem, dass die Mög-


lichkeit, Sicherheit gegenüber mächtigeren Staaten durch eigene
Aufrüstung zu erlangen, aufgrund knapper Ressourcen für die
meisten Staaten nicht gegeben ist, so erscheint es im Sinne eines
Machtgleichgewichts zwingend, dass sich Staaten in diesem Fall
immer der schwächeren Seite anschließen werden, um einen Aus-
gleich zur stärkeren Seite hin zu schaffen.
Wann aber ist das internationale System eher kriegsgeneigt und
wann ist in der Geschichte mit friedlichen Zeitabschnitten zu rech-
nen? Dies ist die zweite der eingangs formulierten Fragen und
Waltz’ Antworten darauf werden im Folgenden näher erörtert.
Zentral sind hier die unterschiedlichen Machtfiguren, durch die
sich das internationale System auszeichnen kann: Uni-, Bi- oder
Multipolarität. Waltz geht davon aus, dass bipolare Systeme mit
zwei besonders mächtigen Staaten am wenigsten zu Kriegen auf
internationaler Ebene neigen bzw. sich langfristig als besonders
stabil erweisen, da bipolare Machtverhältnisse grundsätzlich über-
sichtlich sind. Die Wahrscheinlichkeit von Fehleinschätzungen der
Macht anderer Staaten, die dann eine eigene Reaktion (Aufrüs-
tung) erfordert, ist somit gering. Eine kriegshemmende Machtba-
lance ist hier relativ leicht herzustellen (vgl. Waltz 1979: 161ff).
Ein empirisches Beispiel ist der Kalte Krieg. Für die lange Phase
der Bipolarität während des Kalten Krieges betrachtete Waltz al-
lerdings noch ein zusätzliches Argument als relevant: die stabili-
sierende Wirkung von Nuklearwaffen. Deren enorme Vernich-
tungskraft sowie die gesicherte Zweitschlagskapazität beider Su-
permächte haben ein Machtgleichgewicht erzeugt, in dem ein of-
fensiver kriegerischer Akt keinem der Akteure genutzt hätte. In
multipolaren Systemen ist die Situation dagegen deutlich proble-
matischer, da sich jeder Staat durch eine Vielzahl anderer Staaten
bedroht fühlen muss, deren Machtmittel er nur ungenau einschät-
zen kann und über deren Intentionen er im Unklaren ist. Dement-
sprechend ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass Akteure
in dem Irrglauben, einen Krieg gewinnen zu können, andere Staa-
ten überfallen. Auch ist denkbar, dass Staaten eher zu präventiven
Kriegen neigen, um andere an der Erlangung eines Machtvorteils
zu hindern. In einem unipolaren System hingegen stellt ein Hege-
Neorealismus 77
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mon für alle anderen Staaten eine klar greifbare Bedrohung dar, so
dass gemäß des Balancing-Imperativs Bündnisse als Gegenpole
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geschmiedet werden. Dies liegt grundsätzlich nicht im Interesse


des Hegemons, so dass die Anzahl potenzieller Konflikte und die
Wahrscheinlichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen steigen.
Einige Autoren erwarteten beispielsweise im Zuge des Nieder-
gangs amerikanischer Hegemonie in den späten 1970er und frühen
1980er Jahren eine deutliche Zunahme internationaler Konflikte
und sahen sich z.B. durch die anti-westliche Revolution im Iran
bestätigt (vgl. die Diskussion bei Gilpin 1981: 231ff).
Ist unter diesen Bedingungen aber zwischenstaatliche Koopera-
tion möglich? Es wurde bereits darauf verwiesen, dass Staaten im
Rahmen eines Balancing-Prozesses durchaus zu einer Allianzbil-
dung in der Lage sind. Damit erschöpfen sich nach neorealistischer
Vorstellung die Chancen einer freiwilligen Zusammenarbeit auf in-
ternationaler Ebene weitgehend. Weiterreichende Zusammenarbeit
zur Steigerung des gemeinsamen Wohlstands werden Staaten auf-
grund der Gefahr potenzieller Abhängigkeiten nicht eingehen. Staa-
ten müssen auch immer damit rechnen, dass sich potenzielle Koope-
rationspartner nicht an die getroffenen Übereinkommen halten wer-
den, wenn es für sie einen Vorteil bietet – z.B. indem man heimlich
gegen einen Abrüstungsvertrag verstößt. Man spricht deshalb auch
von einem Betrugsproblem, dem sich Staaten gegenübersehen und
das im Sicherheitssektor besonders virulent ist. Abhängigkeit und
die Gefahr des Betruges sind aus neorealistischer Perspektive vor
dem Hintergrund des Strebens nach Sicherheit in einem self-help sys-
tem nicht hinnehmbar. Internationalen Institutionen und Regimen
wird dementsprechend auch keine besondere Rolle beigemessen, da
sie aus neorealistischer Sicht diese Grundprobleme nur unzureichend
zu lösen in der Lage sind (vgl. auch den Kritikteil im Beitrag von
Bernhard Zangl in diesem Band). Einzig eine Form internationaler
Kooperation, die über Allianzbildung hinaus geht, ist im Neorealis-
mus denkbar: hegemonial induzierte Kooperation. In diesem Fall
zwingt der Hegemon andere Staaten zur funktionalen Differenzie-
rung, um die gemeinsame Wohlfahrt zu steigern. Dabei übernimmt
der Hegemon einen Großteil der Kosten sowie Schutzfunktionen für
die an der Kooperation beteiligten Staaten und bietet ihnen damit
Anreize, sich auf die Kooperation einzulassen (in diesem Sinne
könnte beispielsweise die Rolle der USA bei der Errichtung der
78 Niklas Schörnig
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Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit mit ihren zentralen In-


stitutionen GATT, IWF und Weltbank gedeutet werden).
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Welches Gestaltungspotenzial haben Staaten dann überhaupt im


internationalen System? Waltz unterscheidet in diesem Zusammen-
hang grundlegend zwischen einer Änderung („change“) und einer
Transformation („transformation“) des Systems (Waltz 1986: 342).
Eine Änderung des internationalen Systems liegt dann vor, wenn
Staaten auf die Verteilung der Machtmittel (distribution of capabili-
ties) Einfluss nehmen. Durch unilaterale Auf- oder Abrüstung ist es
für die Akteure zumindest kurzfristig möglich, auf dieses Struktur-
merkmal einzuwirken – ehe der Balancing-Prozess korrigierend
wirksam wird. Von dieser Möglichkeit der Änderung ist die Trans-
formation des Systems zu unterscheiden. Diese vollzieht sich nur,
wenn das Merkmal der Anarchie überwunden wird, z.B. durch den
Aufbau einer Weltregierung oder ein Regieren der Welt durch einen
übermächtigen Staat. Diese Möglichkeit hält Waltz allerdings für
derart unwahrscheinlich, dass er die Anarchie und den aus ihr resul-
tierenden Selbsthilfecharakter des internationalen Systems zu über-
zeitlich konstanten Merkmalen erklärt. Während Wandel, also z.B.
Übergänge von Bi- zu Multipolarität, grundsätzlich möglich sind, ist
eine Transformation des internationalen Systems ausgesprochen
unwahrscheinlich. Dennoch darf die Möglichkeit der Überwindung
der Anarchie nicht ausgeschlossen werden. Damit ist gleichzeitig
aber auch das Verfallsdatum des Neorealismus klar benannt: „If the
anarchy of international politics were to give way to a world hierar-
chy, a theory of international politics [d.h. der Waltz’sche Neoreal-
ismus, N.S.] would become a theory of the past“ (Waltz 1986: 340).
Insgesamt zeichnet der Neorealismus ein sehr pessimistisches
Bild der internationalen Beziehungen. Der aus dem internationalen
System resultierende Druck zwingt die Staaten, primär ihre eigene
Sicherheit zu garantieren. Machtungleichgewichte müssen sofort
ausgeglichen werden und internationale Kooperation ist nur äußerst
schwer zu erreichen.
Neorealismus 79
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3. Theorieinterne Ausdifferenzierung und


Weiterentwicklung
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Obwohl in den Debatten der Disziplin Internationale Beziehungen


der Begriff Neorealismus in erster Linie mit den Arbeiten von Waltz
assoziiert wird, ist die Spannbreite der Autoren, die sich selbst als
Neorealisten verstehen, ausgesprochen groß. Der Begriff „Neorea-
lismus“ kann durchaus auch als Sammelbegriff für alle Arbeiten
dienen, die auf dem Realismus fußen, ihn aber in zentralen Berei-
chen erweitern. So vertritt z.B. Reinhard Meier-Walser die These,
der Begriff Neorealismus bedeute „zunächst nicht mehr und nicht
weniger, als dass die sich einer mit diesem Terminus zu bezeichnen-
den Richtung zugehörig fühlenden Forscherinnen und Forscher
nicht vollständig mit der Tradition des ‚klassischen‘ Realismus
(‚Political Realism‘) Hans Morgenthaus identifizieren, sondern (...)
von dieser älteren Schule abweichen“ (Meier-Walser 1994: 115f).
Aus dem weiten Spektrum an neorealistischen Verzweigungen
und Weiterentwicklungen sollen nun exemplarisch einige bedeu-
tendere Arbeiten und Fragestellungen herausgehoben werden, die
an zentrale Aussagen der TIP anknüpfen, sich kritisch von diesen
abgrenzen oder sie weiterentwickeln.3

3.1 Die Abarbeitung an Waltz: Realismus-interne


Reaktionen auf TIP

Obwohl im Rahmen der inner-realistischen Debatten nach der TIP


eine ganze Reihe von kritischen Einwürfen gegen den Waltz’schen
Neorealismus formuliert wurden, sollen hier nur zwei elementare
Kritikpunkte näher betrachtet werden:
1) Neigen Staaten tatsächlich, wie es Waltz formuliert, zu einem
Verhalten, das zu einer balance-of-power führt oder ist eine
solche Machtbalance eher die Ausnahme?
2) Sind Staaten wirklich an der Maximierung von Sicherheit inter-
essiert, oder wollen sie nicht vielmehr ihre Macht maximieren?

3 Für einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des realistischen Para-
digmas in den Internationalen Beziehungen und in der Internationalen Politi-
schen Ökonomie (International Political Economy) siehe Guzzini 1998.
80 Niklas Schörnig
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(1) Die Balancing-These von Waltz, nach der sich schwache Staaten
gegenüber starken Staaten zu einer Allianz zusammenschließen, war
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schon bald Anlass ausgiebiger empirischer Untersuchungen. Ste-


phen Walt führte in diesem Zusammenhang eine umfangreiche Stu-
die über das Allianzverhalten von Staaten durch (Walt 1985). Sein
Ergebnis ist, dass Balancing zwar als empirisches Phänomen häufig
zu beobachten sei, doch aus anderen Gründen als den von Waltz ge-
nannten. Statt sich bei der Suche des Gleichgewichts immer an ob-
jektiven Machtmitteln zu orientieren, sei für Staaten eher die wahr-
genommene Bedrohung entscheidend. Damit ist Walt bei einer Re-
formulierung des Neorealismus als balance-of-threat Theorie ange-
langt: „Balance-of-power theory predicts that states will ally against
the strongest state in the system, but balance-of-threat theory pre-
dicts they will tend to ally against the most threatening“ (Walt 1997:
933; Hervorhebung im Original). Obwohl diese Überlegung auf den
ersten Blick einige Plausibilität für sich beanspruchen kann, wird
kritisiert, dass mit der Einführung der Kategorie „Bedrohung“ die
systemische Ebene zugunsten subsystemischer bzw. psychologischer
Faktoren verlassen wird (Legro/Moravcsik 1999: 36ff).
Im Unterschied zu dieser Reformulierung gab es auch immer
wieder fundamentale Kritik an der balance-of-power-Hypothese. Im
Gegensatz zu Walt argumentiert z.B. Randall Schweller (1994),
Balancing-Verhalten sei empirisch wesentlich seltener zu beob-
achten, als es von Waltz und Walt angenommen werde (so auch
der Historiker Paul Schroeder 1994 oder jüngst Wohlforth/Little/
Kaufman et al. 2007).4 Schweller argumentiert, es sei unter be-
stimmten Bedingungen näher liegend, dass sich schwächere Staa-
ten freiwillig Stärkeren anschließen. Dieses Verhalten wird als
bandwagoning bezeichnet. Staaten neigen speziell dann zu band-
wagoning, wenn sich durch dieses Verhalten Gewinne erzielen
lassen (Schweller 1994: 74). Diesen Ansatz nennt er „theory of
balance-of-interest“ (Schweller 1994: 99).
Schließlich argumentiert Schweller (2006), dass empirisch oft
auch ein „underbalancing“ zu beobachten sei. Damit ist gemeint,
dass Staaten trotz einer klar erkennbaren Bedrohung auf angemesse-
ne unilaterale Aufrüstung verzichten. Auch hierfür macht Schweller

4 Für eine Antwort auf diese Kritik siehe etwa Masala 2005 und Eilstrup-San-
giovanni 2009.
Neorealismus 81
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innerstaatliche Faktoren verantwortlich (z.B. Grad des Elitenkonsen-


ses und der Elitenkohäsion, soziale Kohäsion oder Stabilität der Re-
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gierung; vgl. Schweller 2006: 11f). Damit setzt auch er sich dem
Vorwurf aus, zentrale Elemente seiner Überlegungen auf die subsys-
temische Ebene zu verlagern (Legro/Morvcsik 1999: 30). Da sich
Schweller – im Gegensatz zu Walt – jedoch selbst eher in der Tradi-
tion des klassischen Realismus sieht („neoklassischer Realismus“),
trifft ihn der Vorwurf weniger stark.5
Schließlich hat die unipolare Machtverteilung des internationa-
len Systems seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu einer De-
batte geführt, ob balancing immer auf der Ebene militärischer
Machtmittel stattfinden muss oder ob auch andere Formen der Ge-
genmachtbildung möglich sind. So kommen einige Autoren in ei-
ner vor allem in der Zeitschrift International Security geführten
Auseinandersetzung6 zu dem Schluss, dass mögliche Herausforde-
rer der USA – allen voran die Volksrepublik China –, die mo-
mentan militärisch (noch) nicht in der Lage sind, Amerika direkt
zu konfrontieren, statt dessen systematisch auf „weiche“ Faktoren
setzten würden, um den Einfluss und die Machtausübung der USA
einzuschränken. Das so genannte „soft balancing“ setze vor allem
auf die Wirkung von „international institutions, economic state-
craft, and diplomatic arrangements“ (Pape 2005: 10), um aggressi-
ve unilaterale Handlungen der USA, wie z.B. den Golfkrieg 2003,
zu unterminieren oder zumindest einzuschränken. Kritiker stellen
allerdings die Erklärungskraft des Konzeptes in Frage und erkennen
weder eine systematische Nutzung weicher Machtmittel gegenüber
den USA noch eine relevante Einschränkung amerikanischer Hand-
lungsräume durch „soft balancing“ (vgl. Brooks/Wohlforth 2005:
75). Vielmehr sei es gerade die eigene „weiche Macht“, die den
USA zu besonders viel Einfluss in den internationalen Beziehungen
verhelfe (Nye 2004).
Die Debatte, inwieweit und in welcher Form balancing als empi-
risches Phänomen tatsächlich zu beobachten ist, hat – je nachdem ob

5 Zum Realismus im Allgemeinen und zum „neoklassischen Realismus“ im Spe-


ziellen siehe den Beitrag von Andreas Jacobs in diesem Band sowie Lobell/
Ripsman/Taliaferro 2009.
6 Vgl. vor allem die Ausgabe Sommer 2005 (30:1), in der auch die beiden zitier-
ten Texte zu finden sind, sowie die Ausgabe Winter 2005/06 (30: 3), hier spezi-
ell den Correspondence-Teil.
82 Niklas Schörnig
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man zu den Kritikern oder Befürwortern des Neorealismus zählt –


weitreichende Konsequenzen. Balancing ist nämlich die einzige
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zentrale Hypothese, die einem empirischen Test zugänglich ist


(Schroeder 1994). Geht man mit Waltz davon aus, dass der Neorea-
lismus nur zu Wahrscheinlichkeitsaussagen fähig sei, und dass ba-
lancing zudem ein Prozess sei, der unter Umständen Jahrzehnte dau-
ern kann, so minimiert man die Prognosefähigkeit der Theorie und
immunisiert sie gegen einen strengen Test – so die Einschätzung der
Kritiker (z.B. Guzzini 1998: 130ff). Entsprechend fordert Schweller:
„[E]ven system theories must investigate historical cases of state be-
havior and foreign policy to see if actors spoke and acted in the
manner predicted by the explanation“ (Schweller 2003: 322). Aller-
dings zeigen sich Neorealisten wie Waltz (1996, 1997) oder Eil-
strup-Sangiovanni (2009) auch von umfangreichen „Tests“ und
widersprüchlichen empirischen Beobachtungen wenig beeindruckt,
da die Analyse konkreter historischer Fälle in den Bereich der Au-
ßenpolitikforschung – und nicht in den der Internationalen Bezie-
hungen – falle (Masala 2005: 99).
(2) Ein zweiter Diskussionspunkt innerhalb des neorealistischen
Lagers war die Frage, ob Staaten uneingeschränkt nach Macht
streben oder aber nur in dem Umfang, wie es notwendig ist, die
eigene Sicherheit und Autonomie zu garantieren. Aus der Beant-
wortung dieser Frage folgte eine inzwischen weitgehend unstritti-
ge Zweiteilung in „defensive“ und „offensive“ Neorealisten. Diese
Zweiteilung wird z.B. von Stephen Walt als „most interesting con-
ceptual development within the realist paradigm“ bezeichnet (Walt
1998: 37). Waltz selbst wird zu den defensiven Vertretern gezählt.
Für ihn besitzt Sicherheit, nicht Macht, die oberste Priorität als
Ziel der Staaten. John Mearsheimer gilt dagegen als einer der ex-
poniertesten offensiven Neorealisten, der den offensiven Neo-
realismus theoretisch am stringentesten gefasst hat. Sein Fokus ist
auf mächtige Staaten – great powers – gerichtet:
“ ‘Offensive’ realists, such as Mearsheimer (…), argue that great pow-
ers seek to maximize security by maximizing their relative power,
while ‘defensive’ realists (…) argue that great powers are generally
more secure when they refrain from power maximization and seek to
defend the status quo” (Walt 1997: 932f).
Neorealismus 83
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Obwohl diese Annahme auf den ersten Blick an klassische Realis-


ten wie z.B. Morgenthau erinnert, erachtet Mearsheimer keine an-
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thropologischen Faktoren als relevant, sondern leitet Machtmaxi-


mierungsstreben als Überlebensstrategie aus systemischen Fakto-
ren ab (Mearsheimer 2001: 29). So streben nach Mearsheimer
Staaten aus Unsicherheit über das Verhalten der anderen so lange
nach Macht, bis sie einen hegemonialen Status erreicht haben –
oder bei diesem Versuch scheitern. Sobald der hegemoniale Status
erreicht ist, hört das Streben nach Macht auf, da der Selbsthilfeim-
perativ nicht mehr relevant ist (Mearsheimer 2001: 35). Bereits
1991 hatte Snyder (Snyder 1991: 6) in defensiv-realistischer Ma-
nier darauf verwiesen, dass das Streben nach Sicherheit durch Ex-
pansion an der unvermeidlichen Gegenmachtbildung und den ex-
ponentiell steigenden Kosten scheitern würde (Snyder 1991: 6).
Allerdings hat Waltz darauf hingewiesen, dass die Frage, ob Staa-
ten nach Sicherheit oder nach Macht streben würden, keinen Ein-
fluss auf die Logik seiner Theorie habe: „(...) a balance of power
system works whether we find states seeking only the minimum of
power needed for security or whether some of them strive for do-
mination“ (Waltz 1986: 334). Im Kern liegen offensiver und de-
fensiver Neorealismus enger beieinander, als es die scharfe Tren-
nung der Ansätze suggeriert. Masala (2005: 113) betrachtet den
offensiven Realismus von Mearsheimer deshalb auch nicht als
Alternative zu Waltz, sondern als „hilfreiche Ergänzung“.7

3.2 Alternativen zu Waltz in Zeiten des Umbruchs?


Die polit-ökonomische Theorie von Robert Gilpin und
die „Power Transition Theorie“

Bis auf wenige Ausnahmen akzeptieren Neorealisten die These,


dass die seit dem Ende des Kalten Krieges andauernde Vorherr-
schaft der USA zeitlich begrenzt sei, da sich langfristig eine Ge-
genmacht bilden werde. Aus Waltz’ Sicht wäre eine solche Gegen-

7 Eine abweichende Meinung vertritt in diesem Zusammenhang Taliaferro (2000/


2001: 130). Dieser argumentiert, die Unterscheidung zwischen dem offensiven
und defensiven Realismus sei nicht zuletzt angesichts der extrem unterschiedli-
chen Politikempfehlungen, die sich jeweils ergäben, ausgesprochen wichtig.
84 Niklas Schörnig
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machtbildung – im Idealfall eine erneut bipolare Welt – zu begrü-


ßen, da sich diese Machtfigur als besonders stabil erwiesen hat.
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Diese „segensreiche“ Wirkung des Machtgleichgewichts wird von


anderen, ebenfalls im weiteren Sinne (neo)realistischen Autoren,
allerdings in Frage gestellt. Besonders Robert Gilpins polit-ökono-
mische Theorie sowie die so genannte Power Transition Theorie
(PTT) kommen zu beunruhigenden Ergebnissen.
(1) Robert Gilpin wählt in seinem Hauptwerk War and Change
in World Politics ebenfalls einen an der ökonomischen Theorie
orientierten Ansatz, legt den Schwerpunkt seiner Analyse aller-
dings nicht auf die Erklärung von Einheitlichkeiten und Stabilität,
sondern stellt „Dynamik“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtun-
gen. Seine Fragen sind entsprechend andere: „How and under
what circumstances does change take place at the level of interna-
tional relations? What are the roles of political, economic, and
technological developments in producing change in international
systems?“ (Gilpin 1981: 2). Bei der Suche nach Antworten scheint
Gilpin zunächst zentrale neorealistische Annahmen zu teilen: „In-
ternational relations continue to be a recurring struggle for wealth
and power among independent actors in a state of anarchy“ (Gilpin
1981: 7). Dabei stellt Gilpin allerdings nicht das internationale Sys-
tem und die aus ihm abzuleitenden Einflüsse auf die Staaten (top-
down) in den Vordergrund, sondern geht bei seiner Analyse von
individuellen Akteuren mit spezifischen Interessen und Präferen-
zen (bottom-up) aus, die allerdings analog zu Waltz im anarchi-
schen Umfeld des internationalen Systems agieren.
Wie stark die Staaten aber in den eigentlich anarchischen interna-
tionalen Beziehungen in ihren Handlungen eingeschränkt sind, wird
zwar auch durch die materielle Machtverteilung bestimmt, allerdings
werden ebenso Faktoren wie „Ansehen“ und „Prestige“ berücksich-
tigt (Gilpin 1981: 26-39). Gilpin bezieht in seiner Analyse neben
dem reinen Überlebenstrieb außerdem weitere (sub)staatliche Inter-
essen ein. Demzufolge können Staaten ein Interesse daran haben,
das internationale System ihren Wünschen gemäß anzupassen – was
aber mit Kosten verbunden ist. Das System ist daher nur dann stabil,
wenn „no state believes it profitable to attempt to change the sys-
tem“ (Gilpin 1981: 10). Dies ist aus Gilpins Sicht aber unwahr-
scheinlich, denn er sieht im Verlauf der Geschichte einen nicht en-
denden zyklischen Wandel des internationalen Systems, in dem
Neorealismus 85
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immer neue Staaten hegemoniale Positionen erobern. Diese Posi-


tion kann aber immer nur für eine bestimmte Zeit eingenommen
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werden, und zwar bis neue Herausforderer den Hegemon verdrän-


gen. Entsprechend sind für das internationale System „Hegemo-
niezyklen“ kennzeichnend. Diese Schlussfolgerung hat auch für
das nukleare Zeitalter Gültigkeit (Gilpin 1988: 34ff).
Auf die Frage, warum die Herrschaft eines Hegemons zwangs-
läufig ein Ende findet, nennt Gilpin drei zentrale Gründe:
Erstens gelte auch für die staatliche Produktion von Machtmit-
teln das „Ertragsgesetz von Turgot“: Zunächst wachse die Macht
eines Staates sehr schnell, dann aber immer langsamer,8 so dass
potenzielle Konkurrenten den Machtvorsprung des Hegemons im
Zeitablauf aufholen können. Zweitens neigten Hegemonien dazu,
prozentual mehr zu konsumieren als zu investieren, was nach öko-
nomischer Einschätzung ebenfalls das Wachstum hemme. Und drit-
tens sei es unmöglich, technologische Vorsprünge zum Zeitpunkt
des Machterhalts über die Zeit zu retten, da die Verbreitung des
Wissens nicht verhindert werden könne. Alle drei Aspekte er-
leichtern es aufstrebenden Staaten mit zeitlich verzögerter Entwick-
lung mit dem Hegemon „gleichzuziehen“ und ihn in seiner Vor-
machtstellung herauszufordern, was letztlich zu Kriegen führe:
Sobald die bestehende Ordnung des internationalen Systems nicht
mehr mit der herrschenden Machtverteilung kompatibel sei, kom-
me es zwangsläufig zu kriegerischen Anpassungsprozessen.
(2) Ähnlich wie Gilpin setzen sich auch A.F.K. Organski und
Jacek Kugler mit den Bedingungen großer Kriege im Rahmen von
Machtübergängen auseinander. In ihrem Hauptwerk The War
Ledger (1980) vertreten sie die These, dass sich jeder Hegemon
früher oder später zwangsläufig einem Herausforderer gegenüber
sehe. Daraus folgt für sie die Frage, ob eine Politik der Machtba-
lance langfristig den Frieden garantiere – eine Frage, die Organski
schon in den 1950er Jahren gegen den vorherrschenden balance-
of-power mainstream negativ beantwortet hatte. Der Ansatz von

8 Dieses 1768 ursprünglich für die Landwirtschaft formulierte Gesetz besagt, dass
der Output eines Produktionsprozesses zunächst überproportional zum Einsatz
der Mittel steigt, ab einem bestimmten Produktionsniveau allerdings nur noch
unterproportional wächst und schließlich sogar ein Maximum erreicht. Gilpin
nennt Turgot allerdings nicht expressis verbis, sondern implizit durch den ge-
wählten Kurvenverlauf. Vgl. z.B. Abbildung 3 in Gilpin 1981:79.
86 Niklas Schörnig
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Organski und Kugler, der inzwischen als Power Transition Theory


bekannt ist, kommt zu dem für Neorealisten überraschenden, ja
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konträren Schluss, dass gerade Phasen relativ ausgeglichener Macht-


verhältnisse zwischen zwei rivalisierenden Staaten ein besonders
hohes Risiko einer kriegerischen Auseinandersetzung bergen. Da-
bei steht wie bei Gilpin der Weg hin zum Gleichgewicht – und
nicht das Gleichgewicht selbst – im Zentrum des Interesses. Auch
sie argumentieren, der Herausforderer könne seine Macht auf-
grund höheren ökonomischen Wachstums schneller steigern als
der bislang dominante Staat, so dass sich die Machtkurven beider
Staaten zwangsläufig kreuzen werden. Allianzen als Mittel exter-
ner Machtsteigerung blendet die PTT aus, da sie ein zu unflexibles
Instrument seien und Staaten sich primär auf ihre eigenen Macht-
ressourcen verlassen würden. Entscheidet der Herausforderer den
Wettstreit mit dem bislang mächtigsten Staat für sich, so kommt es
zu einem Machtübergang.
Aus Sicht von Vertretern des PTT-Ansatzes müssen Machtüber-
gänge aber nicht zwangsläufig zu Krieg führen. Vielmehr komme es
darauf an, ob der Herausforderer die durch den bisher dominieren-
den Staat gesetzten Normen und Regeln des internationalen Sys-
tems akzeptiert oder sie verändern will, sich also „revisionistisch“
verhält (Organski/Kugler 1980: 23). Im ersten Fall ist ein friedli-
cher Machtübergang denkbar, im zweiten ist ein Krieg wesentlich
wahrscheinlicher, der – so ihre Überlegung – nach dem Macht-
übergang vom neuen mächtigsten Staat ausgeht (Organski/Kugler
1980: 206). Damit entscheidet nicht allein die Machtfigur des in-
ternationalen Systems über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges,
sondern auch, ob der Herausforderer die herrschende normative
Ordnung akzeptieren will (er also „satisfied“ ist) oder nicht (also
als „dissatisfied“ zu gelten hat). Allerdings bleiben Organski und
Kugler bei der Frage, wie sich denn bestimmen lasse, ob ein kon-
kreter Herausforderer nun „satisfied“ sei oder nicht, sehr vage und
es gibt eine anhaltende Debatte, woran man revisionistische Staa-
ten nun genau erkennen könne.
Insgesamt liegen Gilpins polit-ökonomische Theorie und der
PTT-Ansatz in ihren Annahmen und ihrer Sicht auf die internatio-
nalen Beziehungen eng beieinander. Beide Ansätze verstehen die
internationale Ordnung viel stärker durch mächtige Staaten beein-
flusst als dies der Neorealismus mit seinem Ansatz der Allianzbil-
Neorealismus 87
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dung zum Machtausgleich annimmt. Sie verweisen auch auf die de-
stabilisierende Wirkung von Machtgleichgewichten und gehen da-
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von aus, dass gerade in Phasen gleicher Machtverteilung die Wahr-


scheinlichkeit eines Krieges steigt. Damit scheinen sie zunächst
besser geeignet, Vorhersagen und Handlungsanleitungen für Her-
ausforderungen der gegenwärtigen internationalen Politik – wie
beispielsweise den Aufstieg der Volksrepublik China und Indiens
– zu liefern, allerdings um den Preis, die Black-Box des Staates zu
öffnen, indem die (subsystemische) Kategorie „Zufriedenheit mit
der herrschenden normativen Ordnung“ eingeführt wird. Damit
greift aber wieder das Diktum von Waltz: „With both system-level
and unit-level forces in play, how can one construct a theory of in-
ternational politics without simultaneously constructing a theory of
foreign policy?“ (Waltz 1988: 42).

3.3 Der Neorealismus – Keine ausschließlich


amerikanische IB-Theorie

Obwohl dem Neorealismus in Deutschland „die Rolle des Aschen-


brödel zu[fiel]“ (Hellmann 1994: 79), gab und gibt es hier Versu-
che, die neorealistische Theorie zu erweitern und anzuwenden.
So nimmt beispielsweise die von Gottfried-Karl Kindermann
begründete Münchner Schule für sich in Anspruch, neorealistisch
zu sein. Denn, wie der Titel eines Aufsatzes von Reinhard Meier-
Walser verlauten lässt: „Neorealismus ist mehr als Waltz“ (Meier-
Walser 1994). Kennzeichnend für diesen speziellen Ansatz ist der
Fokus auf den praktischen Analysewert und die „Orientierung an
der politischen Analyse des Gegebenen“ (Siedschlag 2001: 31).
Deshalb werden auch hier systemische wie subsystemische Fakto-
ren gleichermaßen in die Betrachtung einbezogen (z.B. Meier-
Walser 1994: 115). Insgesamt aber orientieren sich die Münchner
Neorealisten im Rahmen ihrer Arbeiten deutlich stärker an Mor-
genthau, und damit am Realismus als an Waltz.9
Näher an der Waltz’schen Variante hingegen ist auf deutscher
Seite Werner Link (1980). Auf der Basis der Arbeiten von David

9 Zur Diskussion der Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Waltz’schem Neo-


realismus und Münchner Ansatz siehe Meier-Walser 1994: 122ff.
88 Niklas Schörnig
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Singer versucht er am Beispiel des Ost-West-Konfliktes zu zeigen,


wie unterschiedliche Modi der Konfliktbearbeitung durch die je-
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weilige Machtkonstellation bzw. die Veränderungen der Macht-


konstellation zu erklären seien. So gelangt Link zu der These, eine
Verdichtung in den Beziehungen der Supermächte sei gerade dann
erfolgreich zu erzielen gewesen, wenn durch ein Machtgleichge-
wicht die ordnungs- und machtpolitische Existenz nicht gefährdet
gewesen sei (Link 1980: 224ff).

4. Theorieexterne Kritik
Seit der Veröffentlichung von TIP im Jahr 1979 ist die Kritik am
Neorealismus durch Vertreter anderer Schulen praktisch nicht ver-
stummt – nicht zuletzt, da sich der Neorealismus zunehmend als
verzweigtes und uneinheitliches Theoriegebäude präsentiert. Dar-
über hinaus weist diese Theorie bei zentralen Entwicklungen auf
internationaler Ebene wie z.B. der zunehmenden Integration Euro-
pas10 oder dem Ende des Ost-West-Konfliktes eklatante Erklä-
rungsschwächen auf, da gerade dynamische Entwicklungen, deren
Ursachen auf der subsystemischen Ebene liegen, von der Theorie
schlecht bzw. nicht erfasst werden (vgl. z.B. Schweller/Wohlforth
2000; Waltz 2000). Wie bereits gezeigt wurde, greifen auch einige
erklärte (Neo)realisten (etwa Walt) diese Kritik auf. Allerdings
verstehen die meisten Neorealisten die Aufnahme subsystemischer
Faktoren als Zugeständnisse an die komplexe Realität, ohne den
Neorealismus und seine pessimistische Grundhaltung grundsätz-
lich in Frage zu stellen.
Der Blick soll im Folgenden auf zwei grundlegende Auseinan-
dersetzungen gelenkt werden: Zum einen die Debatte zwischen
Neorealisten und Neoinstitutionalisten in den 1980er Jahren (die
so genannte „Neo-Neo Debatte“),11 zum anderen die konstruktivis-
tische Kritik am neorealistischen Anarchieverständnis, die auf
Alexander Wendt zurückgeht. Diese beiden Auseinandersetzungen

10 Neorealisten erklärten die EG bzw. EU anfangs schlicht zu einem unitarischen,


d.h. einheitlichen Akteur, vgl. dazu Grieco 1990.
11 Eine Zusammenstellung der zentralen Aufsätze dieser Debatte findet sich bei
Baldwin 1993.
Neorealismus 89
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erwiesen sich für die Entwicklung der Theorien der Internationa-


len Beziehungen als besonders relevant, da sie dazu beitrugen, die
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dominante pessimistische Weltsicht des Neorealismus zu durch-


brechen, ohne dabei in idealistische Argumentationen abzugleiten.
Schon kurz nach der Veröffentlichung von TIP schien der Neo-
realismus in seine erste Krise zu geraten. Im Verlauf der frühen
1980er Jahre schien sich nach Einschätzung vieler Beobachter die
internationale Vormachtstellung der USA erheblich zu relativieren,
wobei die Ursachen vor allem in den wirtschaftlichen Krisen der
1970er Jahre (vor allem die Ölkrisen) und dem wirtschaftlichen
Erstarken Europas und Japans gesehen wurden. Allerdings schien
die ökonomische Schwäche der USA keine Auswirkungen auf das
Ausmaß an internationaler Kooperation – zum Beispiel im GATT
oder IWF – zu haben, was der neorealistischen Hypothese hege-
monial induzierter Kooperation widersprach. Robert O. Keohane
stellte 1984 schließlich die Frage, ob internationale Kooperation
wider die Lehrmeinung der Neorealisten nicht doch After Hege-
mony12 – also jenseits der Hegemonie – möglich sei.
Zur Beantwortung griffen die Autorinnen und Autoren, die unter
der Bezeichnung „Neoinstitutionalisten“ bzw. „neoliberal institutio-
nalists“ geführt werden, auf eine breite Basis neorealistischer An-
nahmen zurück. Unter Zuhilfenahme der Rational Choice-Theorie –
und hier speziell der Spieltheorie – wurde auf Basis dieser Annah-
men systematisch nach Kooperationschancen geforscht, um den neo-
realistischen Pessimismus nicht nur empirisch, sondern auch theore-
tisch widerlegen zu können. Neoinstitutionalisten wie Robert O. Ke-
ohane (1984) oder Robert Axelrod (1984) glaubten zeigen zu kön-
nen, dass Kooperation grundsätzlich auch unter der Annahme inter-
nationaler Anarchie möglich sei und für alle beteiligten Staaten po-
sitiven absoluten Nutzen ermögliche. Auch sei durch entsprechend
gestaltete internationale Regime das Problem des Betrugs (s.o.) in
den Griff zu bekommen (vgl. auch den Beitrag von Bernhard Zangl
in diesem Band).13 Joseph Grieco stellte dieser Sicht 1988 für die
neorealistische Seite ein Argument entgegen, welches ursprünglich

12 So der Titel seines Buches. Vgl. Keohane 1984.


13 Ein Beispiel für absolute Gewinne zweier Staaten durch Kooperation: Staat A
gewinnt durch Kooperation 50, Staat B hingegen 100 „Machteinheiten“. Dies
bedeutet für beide einen Vorteil gegenüber der Ausgangssituation, da die
„Macht“ beider nun absolut gewachsen ist.
90 Niklas Schörnig
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schon bei Waltz zu finden, bis dahin aber meist übersehen worden
war: das der „relativen Gewinne“ („relative gains“; vgl. Waltz 1979:
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105; Grieco 1988: 499ff). Aufgrund von Anarchie und Selbsterhal-


tungstrieb sei es nicht von Bedeutung, ob Staaten durch Kooperation
absolut gewinnen würden, sondern wie ein gemeinsamer Koopera-
tionsgewinn zwischen den Kooperationspartnern aufgeteilt würde.
Die neorealistische Logik nimmt an, dass Staaten immer prüften, in-
wieweit absolute Kooperationsgewinne der Partner die bisherige
Machtbalance verändern und damit zu einer Destabilisierung des
internationalen Systems beitragen könnten. Würde es Staaten gelin-
gen, durch den Erhalt absoluter Gewinne die Machtkonstellation zu
ihren Gunsten zu verändern, hätten sie auch einen so genannten re-
lativen Gewinn erreicht, da sie die Machtrelation zwischen sich und
den Kooperationspartnern zu ihren Gunsten verändert hätten.14 Es ist
mittels dieser Denkweise möglich, jedes Positivsummenspiel (abso-
luter Gewinn aller an der Kooperation beteiligten Staaten, niemand
wird schlechter gestellt) in ein Nullsummenspiel (d.h. was ein Staat
gewinnt, muss ein anderer zwangsläufig verlieren, so dass sich die
Gewinne aller Beteiligten zu Null addieren) zu transformieren. Diese
Logik gelte sogar für Kooperation zwischen befreundeten Staaten,
so dass die Wahrscheinlichkeit von Kooperation selbst zwischen
Alliierten und Partnern außerordentlich gering sei, wenn die Koope-
ration das Machtgefüge zwischen den Staaten verändere. Denn:
„There is even the danger, however remote, that today’s ally will be-
come tomorrow’s enemy“ (Grieco 1988: 47). Obwohl das Argument
der relativen Gewinne als Kooperation hemmender Faktor in sich
schlüssig ist, konnten spieltheoretische Analysen zeigen, dass die
Bedeutung relativer Gewinne mit zunehmender Anzahl kooperie-
render Akteure sinkt (vgl. Snidal 1991). Ebenso zogen Waltz und
Grieco nicht in Betracht, dass jeder absolute Gewinn auch einen re-

14 An dieser Stelle unterläuft allerdings sowohl Kenneth Waltz als auch Joseph
Grieco eine Ungenauigkeit bei der Beschreibung der Problematik relativer Ge-
winne. So argumentieren sie, relative Gewinne würden durch eine Gleichver-
teilung des Kooperationsgewinns vermieden. Diese Aussage gilt allerdings nur
für den Spezialfall einer identischen Ausgangsbasis. Gesetzt, zwei Akteure A
und B verfügen vor einer Kooperation über 100 bzw. 50 Machteinheiten. Ge-
winnen beide nun durch die Kooperation jeweils 50 Einheiten hinzu verschiebt
sich das Machtverhältnis von 100:50 auf 150:100, bzw. von 2:1 auf 3:2. Akteur
A hat relativ an Macht eingebüßt, obwohl die Kooperationsgewinne absolut
gleich verteilt waren. Vgl. hierzu z.B. Schweller 1996: 109ff.
Neorealismus 91
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lativen Gewinn gegenüber nicht an der Kooperation beteiligten


Staaten bedeutet, so dass der Netto-Effekt an Gewinn, der einem
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Staat durch Kooperation entsteht, nur sehr schwer abzuschätzen ist.


Die wohl substanziellste Kritik am Waltz’schen Neorealismus
formulierte 1992 Alexander Wendt mit seinem provokanten Artikel
„Anarchy is what states make of it: the social construction of power
politics“, mit dem er eine Welle konstruktivistischer Kritik einleitete
(vgl. auch den Beitrag von Cornelia Ulbert in diesem Band). Für
Wendt ist es nicht logisch zwingend anzunehmen, dass aus interna-
tionaler Anarchie automatisch ein Selbsthilfesystem mit dem Zwang
zur Machtpolitik folgen würde (Wendt 1992: 394). Das konstrukti-
vistische Verständnis von „Struktur“ weicht dabei deutlich vom neo-
realistischen ab. Aus neorealistischer Perspektive ist Struktur – und
hier vor allem das Element Anarchie – exogen gegeben, so dass
Staaten im Prinzip keine Möglichkeiten besitzen, auf die Struktur
des internationalen Systems einzuwirken. Aus konstruktivistischer
Sicht hingegen stellt Struktur immer ein soziales Element dar, das
durch Interaktionsprozesse zwischen Staaten maßgeblich gestaltet
und mit einer Bedeutung versehen wird, gleichzeitig aber wiederum
konstitutiv auf die Akteure einwirkt. Für Wendt besteht zwischen
Akteuren und Struktur ein wechselseitig konstitutiver Beziehungs-
zusammenhang („agent-structure-problem“). „Wendt’s key assertion
is that the culture in which states find themselves at any point in time
depends on the discursive social practices that reproduce or trans-
form each actors’s view of self and other“ (Copeland 2000: 195).
Aus konstruktivistischer Sicht ist das Verständnis, das Staaten vom
internationalen System – aber auch von sich selbst – besitzen, das
Ergebnis eines lang andauernden Prozesses der wiederholten Inter-
aktion zwischen den Akteuren, der zu Beginn ergebnisoffen ist. Um
diesen Zusammenhang aufzuzeigen, modelliert Wendt eine hypo-
thetische Situation, in der zwei Akteure – Ego und Alter – ohne
Hintergrundwissen übereinander unter der Bedingung der Anarchie
aufeinandertreffen (vgl. Wendt 1992: 404). Wendt zeigt, dass in ei-
ner solchen Situation die weitere Entwicklung der Beziehungen
nicht determiniert ist, sofern man von der Annahme abrückt, beide
Akteure würden sich am schlimmstmöglichen Fall – der sofortigen
eigenen Vernichtung bei entgegenkommendem Verhalten – orientie-
ren. Anarchie hat in diesem Fall also keinen zwingenden Einfluss
auf den Umgang der Akteure miteinander. Verhalten sich Staaten
92 Niklas Schörnig
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aber von Anfang an egoistisch und setzen in der Folge immer wieder
auf militärische Stärke zur Sicherung des Überlebens, wie es die rea-
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listische und neorealistische Theorie annimmt, so wird es immer


schwieriger, sich dieser „Kultur der Anarchie“ (Wendt) zu entziehen.
Aus konstruktivistischer Perspektive besteht aber immer grundsätz-
lich die Möglichkeit, diesen Prozess umzukehren und von einem
Selbsthilfesystem wieder abzurücken – auch ohne auf einen Hege-
mon angewiesen zu sein, der durch Gewaltandrohung eine hierarchi-
sche Struktur etabliert. Staaten sind also nicht den von Waltz identifi-
zierten strukturellen Kräften auf Gedeih und Verderb ausgesetzt. Mit
dieser fundamentalen Kritik läutete Wendts Artikel schließlich die
„konstruktivistische Wende“ in den Internationalen Beziehungen ein.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass die in der Folge von TIP
geführten internen und externen Debatten für die Ausgestaltung
der neorealistischen Theorie nicht folgenlos blieben. So wurden
auch von Neorealisten in immer stärkerem Maße subsystemische
Faktoren oder konstruktivistische Elemente in ihre Analysen ein-
bezogen und man entfernte sich zusehends von der Schlankheit
des ursprünglichen Waltz’schen Neorealismus. Diese Tendenz
veranlasste Jeffrey W. Legro und Andrew Moravcsik schließlich
zu der provokanten Frage, ob angesichts dieser Vernachlässigung
systemischer Faktoren im aktuellen Neorealismus überhaupt noch
jemand ein (Neo-)Realist sei, da fast alle sich als Neorealisten be-
zeichnenden Autoren in ihre Arbeiten Elemente aufnehmen wür-
den, die den Grundannahmen der Waltz’schen Theorie widersprä-
chen (vgl. Legro/Moravcsik 1999). Auf diese berechtigte Frage
haben ‚bekennende‘ Vertreter des Ansatzes bisher keine befriedi-
gende Antwort finden können.
Neorealismus 93
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Literaturverzeichnis
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94 Niklas Schörnig
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Interdependenz
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Manuela Spindler

1. Einleitung
Die weltweite Finanz- und Staatsschuldenkrise macht schmerzhaft
deutlich, was im Grunde genommen einem jeden von uns bewusst
ist: Wir leben in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten, in der
Ereignisse oder Entscheidungen in einem Staat nicht ohne Folgen
für Politik oder Ökonomie anderer Staaten bleiben. Es sind jedoch in
der Regel die Krisen, welche das Ausmaß der globalen Abhängig-
keiten besonders sichtbar und oft auch für den einzelnen spürbar
machen: Schrumpfungsprozesse der Wirtschaft bedrohen das er-
reichte Niveau materiellen Wohlstands, die Arbeitslosigkeit steigt
weltweit. Was als „US-Immobilienkrise“ im Jahre 2007 begann, hat
– von den USA ausgehend – in einem kaum vorstellbaren Ausmaß
das globale Finanz- und Kapitalsystem erschüttert und in der Folge
weltweit Volkswirtschaften und selbst Staaten destabilisiert. In noch
guter Erinnerung ist die asiatische Finanz-, Währungs- und Wirt-
schaftskrise („Asienkrise“) von 1997/1998, die ihren Ursprung in
Thailand hatte. Von Contagion – ‚Ansteckung‘ – war die Rede, als
sich die Krise flächenbrandartig nicht nur in Ost- und Südostasien
ausbreitete, sondern ihre Auswirkungen auch in den europäischen,
nordamerikanischen und lateinamerikanischen Ökonomien spürbar
wurden. Gleiches gilt für den bis in die Mitte der 2000er Jahre nicht
nur in Südamerika spürbaren „Ansteckungseffekt“ der Argentinien-
Krise. Die Auswirkungen und Gefahren des Klimawandels sowie
globale Sicherheitsbedrohungen sind weitere Beispiele für eine Rea-
lität wechselseitiger Abhängigkeiten in einer zunehmend verflochte-
nen und vernetzten Welt.
Die beschriebene Art von Wirkungszusammenhängen wird in
internationaler Politik und Wirtschaft in der Regel mit dem Begriff
der Interdependenz gefasst. Dabei ist das Phänomen dessen, was als
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Interdependenz
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Manuela Spindler

1. Einleitung
Die weltweite Finanz- und Staatsschuldenkrise macht schmerzhaft
deutlich, was im Grunde genommen einem jeden von uns bewusst
ist: Wir leben in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten, in der
Ereignisse oder Entscheidungen in einem Staat nicht ohne Folgen
für Politik oder Ökonomie anderer Staaten bleiben. Es sind jedoch in
der Regel die Krisen, welche das Ausmaß der globalen Abhängig-
keiten besonders sichtbar und oft auch für den einzelnen spürbar
machen: Schrumpfungsprozesse der Wirtschaft bedrohen das er-
reichte Niveau materiellen Wohlstands, die Arbeitslosigkeit steigt
weltweit. Was als „US-Immobilienkrise“ im Jahre 2007 begann, hat
– von den USA ausgehend – in einem kaum vorstellbaren Ausmaß
das globale Finanz- und Kapitalsystem erschüttert und in der Folge
weltweit Volkswirtschaften und selbst Staaten destabilisiert. In noch
guter Erinnerung ist die asiatische Finanz-, Währungs- und Wirt-
schaftskrise („Asienkrise“) von 1997/1998, die ihren Ursprung in
Thailand hatte. Von Contagion – ‚Ansteckung‘ – war die Rede, als
sich die Krise flächenbrandartig nicht nur in Ost- und Südostasien
ausbreitete, sondern ihre Auswirkungen auch in den europäischen,
nordamerikanischen und lateinamerikanischen Ökonomien spürbar
wurden. Gleiches gilt für den bis in die Mitte der 2000er Jahre nicht
nur in Südamerika spürbaren „Ansteckungseffekt“ der Argentinien-
Krise. Die Auswirkungen und Gefahren des Klimawandels sowie
globale Sicherheitsbedrohungen sind weitere Beispiele für eine Rea-
lität wechselseitiger Abhängigkeiten in einer zunehmend verflochte-
nen und vernetzten Welt.
Die beschriebene Art von Wirkungszusammenhängen wird in
internationaler Politik und Wirtschaft in der Regel mit dem Begriff
der Interdependenz gefasst. Dabei ist das Phänomen dessen, was als
98 Manuela Spindler
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Interdependenz bezeichnet wird, sowie das Nachdenken über Ursa-


chen und Folgen wechselseitiger Abhängigkeiten nicht neu. Schon
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sehr lange ist es Bestandteil wirtschaftswissenschaftlicher Betrach-


tungen im Rahmen der klassischen Lehre, die ihre Aufmerksamkeit
auf internationale Abhängigkeiten im Bereich des Welthandels und
der Währungspolitik richten und dabei die durch internationale Ver-
flechtung entstehenden wechselseitigen Gewinne und Verluste dis-
kutieren. Ihre ideellen Wurzeln liegen bei den Klassikern der Frei-
handelstheorie und des politischen Liberalismus wie Adam Smith,
David Ricardo oder John Stuart Mill (vgl. ausführlich Zacher/
Matthew 1995). Im Gegensatz zum ökonomischen und politischen
Liberalismus werden in einer eher realistisch geprägten Tradition je-
doch nicht die „Gewinne“, sondern die Gefahren und Risiken wech-
selseitiger Abhängigkeiten, insbesondere in Form zwischenstaatli-
cher Konflikte, diskutiert – so beispielsweise schon in den Schriften
Niccolò Machiavellis.
In der Politikwissenschaft des 20. Jahrhunderts geht das Nach-
denken über Interdependenz auf den Idealismus zurück und ist mit
den Schriften der Briten Norman Angell (1910) und Ramsay Muir
(1933), aber auch des Franzosen und Syndikalisten Francis Delaisi
(1925) verknüpft (vgl. ausführlich de Wilde 1991). So erörtert bei-
spielsweise Angell in seinem wohl bekanntesten Werk The Great
Illusion die Nutzlosigkeit militärischer Gewalt für das Ziel des
Wohlstands einer Nation. Vielmehr sei der Wohlstand jeder Na-
tion abhängig von wirtschaftlichen Kontakten, d.h. er resultiert aus
der Interdependenz der Märkte und des Finanzsektors und ist da-
mit abhängig von der Kaufkraft der Bürger anderer Nationen, wel-
che wiederum selbst in der Lage sein müssen, ihre Produkte zu
verkaufen. Traditionelle militärische Eroberungen – so das Argu-
ment – können daher nicht im Eigeninteresse eines Staates liegen
(Angell 1910; vgl. auch de Wilde 1991: Kap. 3). Dieses Postulat
eines Zusammenhangs zwischen Interdependenz, insbesondere im
Bereich der Handelsbeziehungen, und friedlichen zwischenstaatli-
chen Beziehungen („trade-peace-linkage“) wird ebenso wie die ent-
gegen gesetzte These eines Zusammenhangs von Interdependenz
und verstärktem Konfliktverhalten auch heute noch diskutiert und
empirischen Überprüfungen unterzogen (vgl. dazu Abschnitt 3).
Hier zeigt sich die Ambivalenz wechselseitiger Abhängigkeiten in
der internationalen Politik, in der nicht zuletzt die große Heraus-
Interdependenz 99
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forderung für eine Theorie der Interdependenz in den Internatio-


nalen Beziehungen besteht.
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Eingang in die Theoriebildung der politologischen Teildisziplin


der Internationalen Beziehungen (IB) im engeren Sinne fand der
Terminus „Interdependenz“ trotz intellektueller Vorläufer jedoch
erst recht spät.1 Im Kontext der 1960er Jahre kann man zunächst
einen weltpolitischen Interdependenzbegriff im Zusammenhang
mit dem Ost-West-Konflikt ausmachen, durch den sich Interde-
pendenz als Weltfriedensproblem darstellte. Hintergrund war die
Entwicklung von Interkontinentalraketen und damit die enorme
Verkürzung der ‚Distanz‘ zwischen den Staaten, mit der Folge,
dass „neither state can effectively move toward isolation or increa-
se its own autonomy so far as security is concerned“ (Morse 1972:
138-39). Diese sicherheitspolitische bzw. militärisch-strategische
Interdependenz war damit Merkmal eines globalen Wirkungszu-
sammenhangs, der durch den Konflikt zweier sich gegenseitig aus-
schließender Konzeptionen von Weltpolitik und die Existenz von
Nuklearwaffen als (angedrohtes) Mittel des Konfliktaustrags ent-
stand (vgl. auch Kuhn 1962).
Bedeutsamer und für die Theorieentwicklung der IB nachhaltig
prägend waren jedoch die Überlegungen zu Interdependenz, die ge-
gen Ende der 1960er und vor allem in den 1970er Jahren vor dem
Hintergrund weltwirtschaftlicher Krisenerscheinungen und Kon-
flikten in den Beziehungen der westlichen Industrieländer angestellt
wurden. Die zwei gravierendsten ökonomischen ‚Schocks‘ waren
Anfang der 1970er Jahre der Zusammenbruch des Währungssystems
von Bretton Woods, d.h. des Grundsatzes fester Wechselkurse auf
der Basis vereinbarter Goldparitäten, in Folge der Aufhebung der

1 Auf den grundlegenden Zusammenhang einer zunehmenden Interdependenz der


Staaten und der Entwicklung der (westlichen) Theorie der Internationalen Be-
ziehungen verweist Osiander (1995). Zwischenstaatliche Interdependenz ist da-
nach für die Möglichkeit einer Entstehung von Theorien der Internationalen Be-
ziehungen geradezu konstitutiv, da der Bedarf an intensiver theoretischer Refle-
xion über zwischenstaatliche Beziehungen erst mit der Erfahrung einer politi-
schen und gesellschaftlichen Bedeutsamkeit zwischenstaatlicher Abhängigkei-
ten (sei es im Sinne von Wohlfahrtsgewinnen durch Handel oder auch durch das
Bewusstsein militärischer Bedrohung von Sicherheit) einhergeht. Dazu bedurfte
es der historischen Herausbildung des Nationalstaates und seiner sukzessiven
zwischenstaatlichen Verflechtung im Europäischen Staatensystem der Neuzeit
(Westfälisches System).
100 Manuela Spindler
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Gold-Dollar-Konvertibilität durch die US-Administration im August


1971, vor allem aber die erste Ölkrise. Hintergrund der ersten Öl-
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krise von 1973 (eine zweite folgte 1979) war das im Zusammenhang
mit dem arabisch-israelischen Krieg (Oktoberkrieg) von der OPEC
gegen die USA und andere Industrieländer wegen ihrer Unterstüt-
zung Israels verhängte Ölembargo sowie die drastische Erhöhung
der Ölpreise, in deren Folge die westlichen Industriestaaten in einen
Stagflationsprozess gerieten und es im Kampf gegen Rezession und
Inflation untereinander zu Konflikten über die ‚richtige Wirtschafts-
politik‘ kam. Die mit umfangreichen Kompetenzen ausgestatteten
Wohlfahrtsstaaten des Westens benutzten bis dahin z.T. sehr unter-
schiedliche wirtschaftspolitische Instrumente, um das Ziel allgemei-
nen Wirtschaftswachstums zu erreichen. Individuelle – und damit
wenig vorhersehbare – nationalstaatliche Reaktionen auf die Krisen-
erscheinungen – und damit Konflikte – waren die Folge.2 Die Kon-
flikte der 1970er Jahre sind insgesamt vor dem Hintergrund des
Niedergangs der amerikanischen Hegemonie durch den Vietnam-
Krieg und das wirtschaftliche Wiedererstarken Europas und Japans
zu sehen. Verstärkt wurden die Spannungen durch politische Krisen
in den wichtigsten westlichen Industrienationen, die die Glaubwür-
digkeit und Handlungsfähigkeit der Regierungen einschränkten.3
Ende 1974 waren in allen vier führenden westlichen Industriestaaten
(USA, Japan, Bundesrepublik Deutschland und Frankreich) neue
Staats- bzw. Regierungschefs im Amt, die den Krisenerscheinungen
mit Bemühungen um einen weltwirtschaftlichen Koordinationspro-
zess entgegenzutreten versuchten. So wurden 1975 beispielsweise

2 Auch die gegenwärtigen Versuche einer politischen Bewältigung der weltweiten


Finanz- und Staatsschuldenkrise sind durch Konflikte über die „richtigen“ Ko-
ordinationsmechanismen und Kooperationsformen (z.B. in der Frage der Not-
wendigkeit einer Weltwirtschaftsregierung), über Art und Umfang der Maßnah-
men zur Bankenregulierung und Finanzmarktreform sowie durch nationale Al-
leingänge (beispielsweise in der Sparpolitik) geprägt. Erst jüngst hat Uneinig-
keit in der Frage eines Ausstiegs aus der schuldenfinanzierten Konjunkturpolitik
im Vorfeld des G20-Gipfels im Juni 2010 in Toronto zu Verstimmungen zwi-
schen Europäern und Amerikanern geführt. Auch das deutsch-französischen
Verhältnis hat bei der Suche nach europäischen Lösungen der Krise gelitten.
Vgl. u.a. Védrine in der FAZ vom 16.7.2010.
3 Wie der „Watergate-Skandal“ in den USA 1973 oder die „Guillaume-Affaire“
in der Bundesrepublik 1974.
Interdependenz 101
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die „Weltwirtschaftsgipfel“ – heute G8 – ins Leben gerufen.4. Von


ihren Wählern immer noch als verantwortlich für die Kosten des
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Anpassungs- und Stabilisierungsprozesses betrachtet, änderte sich


die politische Rhetorik der nationalen Regierungen der westlichen
Staaten, um der Bevölkerung die weltweiten Verflechtungen und
Abhängigkeiten bei der Krisenbekämpfung und die daraus resultie-
rende Notwendigkeit internationaler Koordinierung zu vermitteln –
die Ursachen und Kosten des Anpassungsprozesses also als „interna-
tional“ oder „weltwirtschaftlich bedingt“ zu erklären und damit die
Durchsetzung von für die Bevölkerung schmerzhaften wirtschafts-
politischen Maßnahmen zu erleichtern. „Interdependenz“ taucht zu-
nehmend an prominenter Stelle in den Reden – vor allem amerikani-
scher Politiker – auf, welche einen allgemeinen Verlust politischen
Steuerungsvermögens und die Notwendigkeit multilateraler Koope-
ration (also nicht mehr ‚atlantischer‘ bzw. unilateraler Steuerung
durch die USA) konstatieren, um die aus Interdependenz erwach-
senden Probleme zu lösen (vgl. de Wilde 1991: 44-45). Damit kam
es vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrisen und unterstützt durch
den Entspannungsprozess im Ost-West-Verhältnis (KSZE, Rüstungs-
kontrolle) in den 1970er Jahren zu einer Politisierung von Proble-
men jenseits militärischer Sicherheit: Fragen der Wohlstandssiche-
rung, Ressourcenverfügbarkeit und auch Umweltzerstörung standen
plötzlich im Mittelpunkt (dazu im Detail Morse 1970, 1972; Cooper
1972). Das Problem des politischen Umgangs mit den aus wechsel-
seitigen Abhängigkeiten resultierenden Effekten wurde zum Kern-
problem internationaler Politik und stellt seitdem eine wachsende
Herausforderung für die politische Steuerungs- und Gestaltungsfä-
higkeit durch den Staat dar. Vor diesem Hintergrund wurde von ei-
ner Reihe von Ökonomen und Politologen die Erklärungskraft des
vorherrschenden realistischen Paradigmas, das vom Vorrang von
„high politics“ (Sicherheit) und dem zentralen Stellenwert militäri-
scher Macht als Mittel der Politik ausgeht, angezweifelt (vgl. den
Beitrag von Andreas Jacobs in diesem Band). Durch eine Verknüp-
fung von Arbeiten aus dem Bereich der Ökonomie und Politikwis-
senschaft wurden Fragestellungen der internationalen politischen
Ökonomie (IPÖ) ins Zentrum gerückt (Morse 1969: 319-320; Stran-

4 Mittlerweile wird nicht mehr nur in der G8, sondern im Rahmen der G20 um ei-
ne weltwirtschaftliche Koordination der Krisenmaßnahmen gerungen.
102 Manuela Spindler
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ge 1970; vgl. auch den Beitrag von Hans-Jürgen Bieling in diesem


Band). Die wichtigsten Impulse kamen von der Arbeit des amerika-
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nischen Wirtschaftswissenschaftlers Richard Cooper The Economics


of Interdependence (1968), einer Reihe von Aufsätzen von Edward
Morse (v.a. „The Politics of Interdependence“, 1969) sowie Arbei-
ten von Robert O. Keohane und Joseph Nye zu transnationalen Be-
ziehungen (Nye/Keohane 1970a und 1970b).5 Einen wichtigen Ein-
fluss hatte ferner die Integrationstheorie der 1950er und 1960er Jah-
re (Neofunktionalismus), in der Änderungen in den Einstellungen
von politischen Entscheidungsträgern aufgrund sich intensivierender
transnationaler und transgouvernementaler Kontakte festgestellt
wurden und untersucht wurde, wie regionale Institutionen diesen
Prozess vorantreiben können (vgl. Keohane/Nye 1975: 394-401;
Nau 1979 sowie den Beitrag von Thomas Conzelmann in diesem
Band).
Zentral und wegweisend für eine erste politikwissenschaftliche
Konzeptualisierung von Interdependenz sind die Arbeiten von Keo-
hane und Nye, insbesondere ihr 1977 erschienenes Buch Power
and Interdependence. World Politics in Transition (im Folgenden
kurz ‚PaI‘). Mit PaI wird grundlegend ein Wandel, eine Verände-
rung in den Strukturen des internationalen Systems konstatiert,
dessen Merkmal eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit von
Staaten – also ein Verlust an politischem Steuerungsvermögen –
mit Konsequenzen für das Erreichen nationaler wirtschaftlicher
und politischer Ziele aufgrund wechselseitiger Abhängigkeiten ist.
Gefragt wird nach den Handlungsmöglichkeiten nationalstaatli-
cher Politik unter diesen Bedingungen, also nach den geeigneten
politischen Instrumenten, auf diesen Wandel zu reagieren – und
zwar auf zwei Ebenen: (1) der Ebene der Außenpolitik (die Frage
der Optimierung außenpolitischen Handelns) sowie (2) der Ebene
internationaler Politik (Gestaltungsmöglichkeiten durch zwischen-
staatliche Kooperation).
Die Arbeiten von Keohane/Nye sollen im Folgenden im Mittel-
punkt stehen, da sie die Linien der Theoriebildung in den IB bis

5 Nye/Keohane stellen fest, dass transnationale Beziehungen – das heißt sämtliche


grenzüberschreitenden Kontakte, Koalitionen und Interaktionen von Akteuren
wie multinationalen Konzernen, Gewerkschaften oder Expertennetzwerken –
zunehmend zu einem Kontrollverlust nationaler Regierungen führen (Nye und
Keohane 1970a: xi).
Interdependenz 103
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heute maßgeblich bestimmt haben.6 Dabei handelt es sich bei „In-


terdependenz“ grundsätzlich nicht um eine Theorie, sondern um
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ein analytisches Konzept (häufig wird auch von „Interdependenz-


Analyse“ gesprochen), das in der nachfolgenden Theoriebildung
der IB (Regimetheorie und neoliberaler Institutionalismus, vgl.
auch den Beitrag von Bernhard Zangl in diesem Band) eine Schlüs-
selposition einnimmt. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem
Konzept von Interdependenz ist nicht nur von theoretischem Inter-
esse. Die aus „Interdependenz“ bzw. der Interdependenzanalyse
folgende, in PaI theoretisch-konzeptuell untermauerte Empfehlung
einer globalen „Politik der Interdependenz“ durch internationale
Kooperation und Politikkoordination ist, wie allein das Beispiel
der gegenwärtigen Bewältigungsversuche der weltweiten Finanz-
krise zeigt, von nach wie vor hoher politischer Relevanz.

2. Interdependenz als Konzept in der


politikwissenschaftlichen Analyse: Robert O.
Keohane und Joseph S. Nye

2.1 Ist Interdependenz messbar? Interdependenz und


Verbundenheit

Ein Blick in die Debatte der 1970er Jahre zeigt, dass sich die Ant-
worten auf die Frage, ob Ausmaß und Intensität der internationalen
Verflechtung der Gegenwart diejenige vergangener Epochen über-
schreitet oder nicht, stark widersprechen (vgl. hier Deutsch/Eckstein
1961; Deutsch et al. 1967; Waltz 1970; Katzenstein 1975). So wei-
sen zum Beispiel Verfechter der These einer abnehmenden Interde-
pendenz wie Deutsch darauf hin, dass der Anteil des Außenhandels
am Bruttosozialprodukt in einer späteren Phase der industriellen Ent-
wicklung eines Landes sinkt. Ein Höhepunkt wird 1913 ausgemacht,
seitdem nehme Interdependenz mit zunehmender Industrialisierung

6 Für einen Einstieg in die Debatte zu Interdependenz in den 1970er und 1980er Jah-
ren wird ein Blick in die (entsprechend den genannten Ebenen fokussierten) Zeit-
schriften Foreign Policy und Foreign Affairs sowie International Organization und
World Politics – den Hauptaustragungsorten der Debatte – empfohlen.
104 Manuela Spindler
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ab (vgl. dazu auch Rosecrance/Stein 1973: 5-6). Für andere dagegen


intensivierte sich Interdependenz zwischen 1950 und 1958 und ver-
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ringerte sich seitdem (Rosecrance et al. 1977: 442). Für Autoren wie
Morse (1972), Cooper (1968) und Keohane/Nye dagegen wächst In-
terdependenz kontinuierlich seit 1945. Wie lassen sich diese unter-
schiedlichen, hier nur exemplarisch aufgeführten Einschätzungen
erklären?
Dies ist zum einen grundsätzlich eine Frage der Methoden zur
Erfassung von Interdependenz, die stark umstritten waren. Bei-
spiele für Methoden sind u.a. das „export percentage model“, mit
dem der prozentuale Anteil der Exporte von Land A zu Land B am
Gesamtimport von Land B gemessen wird oder das „chooser-chosen
GNP model“, mit dem das Verhältnis der internationalen Transak-
tionen eines Landes zu seinem Bruttosozialprodukt erfasst wird.
Diese Art der Erfassung reflektiert die stark an quantitativen Me-
thoden ausgerichtete Forschung der 1950er und 1960er Jahre.
Häufig wurden Korrelationen – also das gleichzeitige Auftreten
und Verändern der Werte von Variablen – als Indikatoren für zu-
grundeliegende Beziehungsmuster von Interdependenz gewertet:
wenn also beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Änderun-
gen in den Handelsströmen und der Veränderung in zwei Typen
von ökonomischen Variablen – Preisen und Löhnen – festgestellt
wird. Hohe Werte der Korrelation wurden dabei als ein Signal für
ein hohes Maß an Interdependenz, niedrige für nur geringe Inter-
dependenz gesehen – mit dem Ergebnis, dass Interdependenz als
Korrelation zwischen Variablen im 20. Jahrhundert stark schwank-
te (zu den unterschiedlichen Methoden der Messung von Interde-
pendenz vgl. Tollison/Willett 1973; Tetrault 1980, 1981; Rosecran-
ce/Gutowitz 1981).7

7 Einwände gegen solche Methoden beziehen sich darauf, dass die Daten meist
auf der Basis von einzelnen Staaten oder Staaten in bilateralen Beziehungen
gewonnen werden (vgl. Tetrault 1980, 1981; zur Kritik an der Messung dyadi-
scher Effekte von Interdependenz aktuell Maoz 2009: 224; Gelpi/Grieco 2008:
18) oder dass qualitative Veränderungen internationaler Transaktionen (z.B. der
‚Austausch‘ von Handelsströmen als wichtigster Typus internationaler Aus-
tauschbeziehungen durch internationale Kapitalströme) nicht erfasst werden
(gemessen würde in diesem Fall lediglich ein Rückgang der Handelsströme).
Vgl. Morse 1969: 318.
Interdependenz 105
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Zum anderen haben diese unterschiedlichen Befunde jedoch mit


der Frage zu tun, was überhaupt gemessen wird bzw. welches Ver-
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ständnis von Interdependenz der Messung zugrunde liegt. In den


obigen Ausführungen deutet sich an, dass oftmals Transaktionen
mit Interdependenz gleichgesetzt wurden. Sinnvoller ist es jedoch,
die Frage, ob Transaktionen zu- oder abgenommen haben, als
nicht identisch mit der Frage nach sich intensivierender oder ab-
nehmender Inderdependenz zu betrachten (vgl. Katzenstein 1975;
auch Jones 1995: 91f). Was gemessen wird, ist eher eine Verbun-
denheit („interconnectedness“) – ein Begriff, der von Inkeles
(1975: 469-70) in die Diskussion zu Interdependenz eingeführt
wurde: „Interconnectedness refers to the volume or frequency of
communication, interaction, or exchange between two sociocultu-
ral systems. It is most often expressed in the exchange of goods
and services, i.e., in trade (…)“.
Der Interdependenzbegriff von Autoren wie Morse, Cooper, Keo-
hane und Nye hebt nun auf die politische Signifikanz der empiri-
schen Interaktionen (also von Verbundenheit) ab – und damit auf ei-
nen Aspekt, der sich direkter Messbarkeit entzieht. Interdependenz
ist dabei gerade nicht abhängig von Umfang und Ausmaß der Trans-
aktionen: „Thus, politically significant interdependence is much hig-
her today than it was during the nineteenth century“ (Rosecrance/
Stein 1973: 12; Hervorhebung, M.S.). Dieser Gedanke soll im Fol-
genden ausführlicher entwickelt werden.

2.2 Der politische Interdependenzbegriff von


Keohane und Nye
Der Unterschied zwischen Verbundenheit und Interdependenz
wird von Keohane/Nye über das Kriterium der Kosten eingeführt:
Dort, und nur dort, wo Interaktionen wechselseitig Kosten verur-
sachen, liegt Interdependenz vor – wobei diese Kosten nicht not-
wendigerweise symmetrisch auf die in den Beziehungszusammen-
hang eingebundenen Akteure verteilt sein müssen. Wo Interaktio-
nen keine wesentlichen Kosten verursachen, besteht einfach eine
wechselseitige Verbundenheit (Keohane/Nye 1977: 9). Diese Un-
terscheidung zwischen Verbundenheit und Interdependenz über
das Kriterium der Kosten ist zentral für das Verständnis der Politik
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der Interdependenz bei Keohane/Nye und wird an späterer Stelle


im Detail aufgegriffen (vgl. Abschnitt 2.4). An dieser Stelle soll
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zunächst festgehalten werden, dass Interdependenz für Keohane/


Nye grundsätzlich immer kostspielig ist, da sie die einzelstaatliche
Autonomie beschränkt und Anpassungsleistungen erforderlich
macht. Hier wird von den Autoren jedoch noch eine Abstufung
eingeführt, indem sie zwei Formen von Interdependenz unterschei-
den: Interdependenz-Empfindlichkeit („sensitivity“) und Interde-
pendenz-Verwundbarkeit („vulnerability“).
„Sensitivity involves degrees of responsiveness within a policy
framework – how quickly do changes in one country bring costly
changes in another, and how great are the costly effects?“ (Keohane/
Nye 1977: 12). Gemeint sind also Kosten, die entstehen, wenn es
keine politische Gegenreaktion eines Staates gibt, der von Verände-
rungen in einem anderen Staat betroffen ist, Politik mithin also kon-
stant bleibt. „Vulnerability can be defined as an actor’s liability to
suffer costs imposed by external events even after policies have been
altered.“ (Keohane/Nye 1977: 13) Die Verwundbarkeits-Dimension
von Interdependenz liegt also in den Kosten, die zu tragen sind, auch
wenn politische Gegenmaßnahmen ergriffen werden – wenn also
über einen bestimmten Zeitraum hinweg wirksame Anpassungen an
eine veränderte Umwelt vorgenommen werden müssen.
Die Verwundbarkeits-Dimension von Interdependenz liegt zudem
in der relativen Verfügbarkeit und Kostenintensität alternativer poli-
tischer Maßnahmen für die Akteure begründet (Keohane/Nye 1977:
13). Sie ist im Vergleich zu Interdependenz-Empfindlichkeit die
wichtigere Dimension von Interdependenz und besitzt im Konzept
von Keohane/Nye einen entscheidenden Stellenwert: „Vulnerability
interdependence is particularly relevant for the analysis of the
structure of relations“ (Keohane/Nye 1975: 370; Hervorhebung im
Original). Auch dieser Gedanke wird erst an späterer Stelle einer ge-
naueren Betrachtung unterzogen (vgl. Abschnitt 2.4).
Der Begriff der Interdependenz wird bei Keohane und Nye
nicht in einem teleologischen Sinne gebraucht, sondern als eine
Art ‚Zustandsbeschreibung‘: „Interdependence has normally been
defined simply as a condition“ (Keohane/Nye 1975: 366). Die Fra-
ge nach den Handlungsmöglichkeiten des Staates unter diesen
‚Bedingungen‘ ist nun die Kernfrage von PaI. Die Antworten dar-
auf versuchen Keohane/Nye in kritischer Abgrenzung zum realis-
Interdependenz 107
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tischen Erklärungsmodell zu entwickeln, wobei sie grundsätzlich


Erklärungen auf der Analyseebene des internationalen Systems
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(und nicht der Ebene des Staates) anstreben (Keohane/Nye 1977:


viii, 223).

2.3 Realismus und „komplexe Interdependenz“:


zwei Idealtypen

Es hätte nicht so viele Irritationen bei der Rezeption von PaI gege-
ben, würden Keohane/Nye nicht im Grunde genommen einen dop-
pelten Interdependenz-Begriff verwenden: Der Begriff der Interde-
pendenz, wie hier unter Abschnitt 2.2 eingeführt, ist nicht identisch
mit „komplexer Interdependenz“ (vgl. im Rückblick dazu auch Keo-
hane/Nye 1987: 730). Komplexe Interdependenz wird in PaI von
den Autoren als ein dem Realismus entgegengesetzter „Idealtypus“
des internationalen Systems konstruiert, indem sie die Grundannah-
men des Realismus einfach ‚umkehren‘. Die Konstruktion dieses
Idealtypus ist damit grundsätzlich als Teil der von den Autoren mit
PaI beabsichtigten Kritik am realistischen Erklärungsmodell zu ver-
stehen, deren Kernargumente im Folgenden entwickelt werden sol-
len.
Nach Keohane/Nye basieren realistische Erklärungsmuster der
internationalen Politik im wesentlichen auf drei Grundannahmen
(Keohane/Nye 1977: 23-24): (1) Staaten werden als in sich geschlos-
sene Einheiten und einzig wichtige, dominierende Akteure in der
Weltpolitik begriffen. (2) Macht ist das wirksamste Mittel der Po-
litik; die Ausübung oder Androhung von Gewalt ist das effektivste
Mittel der Machtausübung. (3) Es gibt eine klare Hierarchie der
Ziele internationaler Politik: Fragen militärischer Sicherheit („high
politics“) dominieren über Ziele im Bereich der Wirtschaft oder
soziale Angelegenheiten („low politics“).
In der ‚Umkehrung‘ dieser drei Grundannahmen liegt für Keoha-
ne/Nye nun der Idealtypus der komplexen Interdependenz (1977:
24-37):
(1) Staaten sind keine in sich geschlossenen Einheiten und nicht
alleinige Akteure in der Weltpolitik. Neben den klassischen zwi-
schenstaatlichen Beziehungen spielen transnationale Beziehungen
eine wichtige Rolle, d.h. neben den Staaten existieren weitere ein-
108 Manuela Spindler
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flussreiche Akteure wie z.B. multinationale Konzerne, Banken oder


wissenschaftliche Expertengruppen („multiple channels of contact“).
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(2) Militärische Macht besitzt in durch komplexe Interdepen-


denz gekennzeichneten Beziehungszusammenhängen nur eine un-
tergeordnete Bedeutung als Mittel der Politik.
(3) Es gibt keine vorgegebene Hierarchie in der Rangfolge von
Zielen in der internationalen Politik: Militärische Sicherheit ist nicht
mehr a priori höherrangig als Ziele im Bereich Wohlfahrt, vielmehr
existiert eine Vielfalt unterschiedlicher Problembereiche („issue
areas“).
Als Idealtypus widerspiegelt komplexe Interdependenz nun gera-
de nicht die politische Realität. Sie ist vielmehr eine analytische Be-
helfskonstruktion von heuristischem Wert oder – wie es die Autoren
ausdrücken – das Ergebnis eines „Gedankenexperiments“ (Keohane/
Nye 1987: 737). Für Keohane/Nye fallen ‚reale Situationen‘ in der
internationalen Politik in der Regel irgendwo zwischen die beiden
Extreme. Komplexe Interdependenz ist dabei manchmal realitätsnä-
her als das realistische Modell: Wenn das der Fall ist, dann sind für
die Autoren „traditionelle“ – also realistische – Erklärungen nicht
mehr anwendbar. Auf der Basis einer Einschätzung, in welchem
Maße die Annahmen des Realismus oder aber komplexer Interde-
pendenz eine konkrete Situation charakterisieren, muss nach Mei-
nung der Autoren vom Forscher eine Entscheidung getroffen wer-
den, welches Erklärungsmodell er für diese Problemsituation zur
Anwendung bringt (Keohane/Nye 1977: 24).
Allerdings stellen Keohane/Nye in PaI fest, „(...) that the con-
ditions of complex interdependence increasingly characterize
world politics in some important issue areas and among some
countries“ (Keohane/Nye 1977: 223; Hervorhebung, M.S.). Sie
machen komplexe Interdependenz annäherungsweise in den Be-
ziehungen der westlichen Industriestaaten (OECD-Welt), und zwar
speziell in den Problemfeldern globaler wirtschaftlicher und öko-
logischer Interdependenz, aus (Keohane/Nye 1977: 225-26).
Neben der allgemeinen Einschränkung auf die Beziehungen
zwischen den westlichen Industriestaaten gewinnt die Unterschei-
dung von Teilbereichen der Weltpolitik („issue areas“) wie Si-
cherheit, Wirtschaft und Umwelt einen zentralen Stellenwert. Keo-
hane/Nye gehen von der Gültigkeit und Anwendbarkeit beider Er-
klärungsmodelle (Realismus und komplexe Interdependenz) für
Interdependenz 109
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jeweils ganz spezifische Problembereiche aus. Internationale Poli-


tik unter Bedingungen komplexer Interdependenz ist jedoch grund-
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legend durch andere politische Prozesse gekennzeichnet als unter


realistischen Annahmen.
„Politische Prozesse“ meint dabei die Antwort auf die Frage, wie
Machtressourcen eines Staates in Macht als Kontrolle über Politi-
kergebnisse ‚übersetzt‘ werden. Im realistischen Erklärungsmodell
bestimmt die allgemeine Machtüberlegenheit eines Staates direkt die
Ergebnisse internationaler Politik. Unter Bedingungen komplexer
Interdependenz stellen Keohane/Nye dagegen eine Diskontinuität
zwischen allgemeiner Machtverteilung und den Politikergebnissen
in konkreten Verhandlungssituationen fest: Je mehr sich eine Situa-
tionsstruktur der komplexen Interdependenz annähert, desto weniger
lässt sich die generelle Machtüberlegenheit eines Staates („overall
power structure“) in die politischen Ergebnisse innerhalb einzelner
Politikbereiche ‚übersetzen‘, denn zwischen Machtressourcen und
Macht als Kontrolle über Politikergebnisse ‚wirkt‘ Interdependenz
als intervenierende Variable (vgl. Keohane/Nye 1977: 29-37):
(1) Es ist unter diesen Bedingungen schwieriger für militärisch
starke Staaten, ihre allgemeine Dominanz zur Kontrolle in Politik-
bereichen zu nutzen, in denen sie nicht überlegen sind. Die Macht-
verteilung und der Grad der Verwundbarkeit in spezifischen Prob-
lemfeldern wird also bedeutsam bei der Analyse der politischen
Prozesse.
(2) Die Möglichkeiten der Gestaltung von Agenden der inter-
nationalen Politik („agenda setting“) verändern sich. Eine erhöhte
Interdependenz führt dazu, dass z.B. innerstaatliche Gruppen oder
transnationale Akteure bestimmte Probleme politisieren können,
die zuvor als innerstaatlich betrachtet wurden und die nun Eingang
in internationale Agenden finden.
(3) Unter diesen Bedingungen kommt es zu einer neuen und
bedeutsamen Rolle internationaler Organisationen in der interna-
tionalen Politik. Internationale Organisationen nehmen Einfluss
auf die Gestaltung von Agenden, regen Koalitionsbildungen an
oder fungieren als Arenen für die Artikulation von Interessen eher
schwacher Staaten.8

8 Keohane/Nye kommen zu diesen Ergebnissen durch Fallstudien, die anhand von


vier Strukturmodellen vorgenommen werden. Die Fallstudien erstrecken sich
110 Manuela Spindler
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2.4 Die Politik der Interdependenz


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Macht und Interdependenz

Für die Untersuchung von Keohane und Nye in PaI ist die Frage
zentral, wie unter den Bedingungen von Interdependenz durch
Staaten Macht ausgeübt werden kann (daher auch der Titel: Power
and Interdependence). Interdependenz – die sich komplexer Inter-
dependenz mehr oder weniger annähert – wird als intervenierende
Variable eingeführt: Sie ‚wirkt‘ zwischen Macht als der unabhän-
gigen und den Ergebnissen des politischen Prozesses als der ab-
hängigen Variablen. Als ‚condition‘ verändert sie damit Kontext
und Struktur internationaler Verhandlungen. Das Problem für die
Politik ergibt sich daraus, dass Interdependenz immer ‚kostspielig’
ist: Sie beschränkt die politische Handlungsautonomie von Staa-
ten, die z.B. in der Geld- und Währungspolitik, Steuerpolitik, Unter-
nehmensregulierung oder bei der Umsetzung redistributiver Pro-
gramme nicht mehr autonom agieren können und erfordert damit
eine Anpassungsleistung an die veränderten Bedingungen.9 Das
heißt, Interdependenz generiert aufgrund des Kosteneffektes ein
klassisches Problem politischer Strategie. Mit ihr einher gehen
Versuche, die Anpassungskosten zu umgehen oder abzuwälzen.
Das Interesse des einzelnen Staates besteht also in der Verteilung
der aus internationalen Austauschbeziehungen resultierenden Kos-
ten und Nutzen jeweils zu seinen Gunsten. PaI basiert grundsätz-
lich auf der Annahme rationaler, aufgrund von egoistischem Eigen-
interesse und Kosten-Nutzen-Kalkülen handelnder Akteure, die in
Folge von Interdependenz unter nunmehr veränderten Bedingun-
gen agieren müssen, denn Interdependenz legt der Realisierung ih-
res jeweils egoistischen Eigeninteresses Beschränkungen auf. PaI

auf die Problemfelder der internationalen Meeres- und Währungspolitik sowie


die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Kanada bzw. USA und Aus-
tralien. Hier kann jedoch nicht näher darauf eingegangen werden. Vgl. Keoha-
ne/Nye 1977: Kap. 3 und 4-7.
9 „Autonomie“ meint die Fähigkeit von Regierungen, Ziele nationaler wirtschaft-
licher Entwicklung formulieren und realisieren zu können, die von denen ande-
rer Staaten abweichen. Nationale Autonomie unterscheidet sich konzeptionell
von „wirtschaftlicher Autarkie“ und „politischer Souveränität“. Vgl. dazu Cooper
1968: 4-5.
Interdependenz 111
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ist damit angesiedelt im Spannungsverhältnis zwischen einer staa-


tenzentrierten Sichtweise des Realismus und der konstatierten He-
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rausbildung einer Weltwirtschaft, die sich dem einzelstaatlichen


Steuerungsvermögen entzieht und für die daher neue politische
Organisationsformen gefunden werden müssen. Machtpotenziale
und damit Handlungsmöglichkeiten entspringen unter diesen Be-
dingungen dem Umstand, dass es sich in den einzelnen Politikfel-
dern in der Regel um asymmetrische Interdependenz handelt. Das
heißt, Staaten sind in verschiedenen Politikfeldern unterschiedlich
verwundbar, die Anpassungskosten also nicht gleichmäßig auf die
in den Beziehungszusammenhang eingebundenen Akteure verteilt.
Interdependenz-Verwundbarkeit beinhaltet damit eine strategische
Dimension: Für Staaten in Positionen relativer Unverwundbarkeit
(relativ, d.h. im Vergleich zu den anderen in den Beziehungszu-
sammenhang eingebundenen Akteuren) eröffnet sich die Möglich-
keit der Manipulation des internationalen Systems zur Verwirkli-
chung ihres Eigeninteresses. Sie werden versuchen, asymmetri-
sche Interdependenz als Machtquelle zu nutzen und internationale
Organisationen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Das Problem
stellt sich für Keohane/Nye auf zwei Ebenen:
(1) „From the foreign-policy standpoint, the problem facing in-
dividual governments is how to benefit from international exchange
while maintaining as much autonomy as possible.“ (2) „From the
perspective of the international system, the problem is how to gen-
erate and maintain a mutual beneficial pattern of cooperation in
the face of competing efforts by governments (and nongovern-
mental actors) to manipulate the system for their own benefit.“
(Keohane/Nye 1987: 730; Hervorhebung, M.S.)
Spätestens an diesem Punkt tritt das politisch motivierte Er-
kenntnisinteresse von PaI hervor, ist es doch erklärtes Ziel von Keo-
hane/Nye, mit ihrer Arbeit zu einer Optimierung amerikanischer
Außenpolitik angesichts der sich spätestens Anfang der 1970er
Jahre offenbarenden „autonomy illusion“ beizutragen, indem sie
dem bis dahin vorherrschenden realistischen Modell eine alternati-
ve wissenschaftliche Politikempfehlung entgegensetzen (Keohane/
Nye 1975: 359, 1977: vii-viii, 242).
Keohane/Nye halten zunächst fest, dass „[u]nilateral leadership
under the conditions of complex interdependence is (…) unlikely
to be effective“ (1977: 232) und erwägen Möglichkeiten einer
112 Manuela Spindler
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neoisolationistischen Strategie.10 Unter Verweis auf die Kosten


wird diese Strategie jedoch wieder verworfen bzw. darauf hinge-
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wiesen, dass es noch eine weitere Möglichkeit gibt, die eigene In-
terdependenz-Verwundbarkeit zu reduzieren: „Reducing one’s
vulnerability to external events can be part of a neoisolationist
strategy; but it can also be one element in a strategy of policy
coordination and international leadership“ (Keohane/Nye 1977:
239; Hervorhebung, M.S.). Keohane/Nye unterscheiden grund-
sätzlich drei „Typen“ von „international leadership“ – Hegemonie,
Unilateralismus und Multilateralismus – und sprechen sich ange-
sichts des Verlustes amerikanischer Hegemonie und der Unwirk-
samkeit von Unilateralismus unter Interdependenzbedingungen für
Multilateralismus als wissenschaftliche Empfehlung für eine Poli-
tik der Interdependenz aus: „[multilateralism] is based on action to
induce other states to help stabilize an international regime“ (1977:
231).
Empfohlen wird also eine aktive und führende Rolle der USA
im Bemühen um internationale Politikkoordination, basierend auf
der Überzeugung, dass internationale Kooperation und deren ‚Ver-
stetigung‘ durch die Bildung und Stabilisierung internationaler
Organisationen und Regime eine geeignete Strategie sind, die aus
Interdependenz resultierenden Konflikte einer für alle Seiten ge-
winnbringenden kooperativen Bearbeitung zuzuführen (vgl. dazu
auch Spindler 2008). Dieser Gedanke wurde v.a. von Keohane in
den 1980er Jahren in Form der Regimetheorie sukzessive weiter-
entwickelt, welche in einem eigenständigen Beitrag in diesem
Band dargestellt wird (vgl. den Beitrag von Bernhard Zangl). Der
Grundgedanke soll aus systematischen Gründen jedoch im Fol-
genden kurz umrissen werden.

10 Beispielsweise werden zur Verringerung der Verwundbarkeit bezüglich des Öl-


problems kurzfristig Möglichkeiten von Importrestriktionen, eine Diversifizie-
rung der Bezugsquellen, das Anlegen einer Ölreserve und Rationierungspläne
für den Fall der Ressourcenknappheit erwogen, langfristig wird für Investitio-
nen zur Erforschung alternativer Energiequellen plädiert. Vgl. Keohane/Nye
1977: 239.
Interdependenz 113
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Interdependenz, Kooperation und internationale Institutionen


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Durch Interdependenz charakterisierte Beziehungszusammenhän-


ge v.a. im wirtschaftlichen und ökologischen Bereich bergen für
Keohane/Nye grundsätzlich die Möglichkeit gemeinsamer Gewinne
durch internationale Kooperation (Keohane/Nye 1977: 32). Dies re-
sultiert daraus, dass die Verwirklichung der Ziele der einzelnen Staa-
ten von den Entscheidungen aller in den interdependenten Bezie-
hungszusammenhang eingebundenen Staaten abhängt („collective
action problem“). Durch die unilaterale Verfolgung der Ziele bleibt
die Erzeugung oder Verteilung eines erstrebten Gutes (wie wirt-
schaftlicher Reichtum, Sicherheit, Umweltschutz) für alle Staaten
unter dem Optimum – also ein unbefriedigendes Resultat für alle.
Für Keohane/Nye führt Interdependenz daher unter bestimmten Be-
dingungen zu einem Interesse der rational handelnden ‚Egoisten‘ an
Kooperation (Keohane 1984: 8). Interdependenz ist dabei beides: die
Bedingung der Möglichkeit von Kooperation und die Ursache des
Bedarfs für Kooperation. Die Einsicht in diese Beziehungsstruktur
bildet die Voraussetzung für kooperatives Verhalten, wobei die Exis-
tenz interdependenter Beziehungszusammenhänge keinesfalls Ko-
operation im Sinne eines ‚Automatismus‘ nach sich zieht, sondern
immer an bestimmte Bedingungen geknüpft ist (vgl. ausführlich den
Beitrag von Bernhard Zangl).
Zusammenfassend kann festgehalten werden: Mit PaI wurde
durch Keohane/Nye für die 1970er und 1980er Jahre eine politik-
wissenschaftlich fundierte Basis für das politische Bemühen der
westlichen Industriestaaten unter Führung der USA um eine Poli-
tikkoordination in multilateralen internationalen Institutionen (wie
beispielsweise dem GATT oder dem IWF) gelegt.

3. Theorieinterne Ausdifferenzierung und


Weiterentwicklungen
Keohane/Nye haben Interdependenz als „condition“ – und damit
als einen ‚Zustand‘ begriffen, der als intervenierende Variable zur
Modifikation des realistischen Erklärungsmodells internationaler
Politik eingeführt wurde. Dieses Verständnis muss grundsätzlich
114 Manuela Spindler
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von anderen Auffassungen abgegrenzt werden, die Interdependenz


in einem teleologischen oder auch normativen Sinne verstehen und
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auf der Basis eher idealistischer Vorstellungen von einer durch In-
terdependenz getriebenen Transformation des internationalen Sys-
tems ausgehen oder diese für wünschenswert erachten (vgl. dazu
die in der Einleitung bereits erwähnten Klassiker Angell 1910;
Muir 1933; auch Morse 1976). In der von Keohane/Nye entwi-
ckelten Konzeptualisierung hatte die Interdependenzanalyse weit-
reichende Implikationen für die Theorieentwicklung in den Inter-
nationalen Beziehungen, waren in ihr doch bereits diejenigen theo-
retischen ‚Pfade‘ angelegt, die zu der äußerst einflussreichen Re-
gimetheorie und zum Neoliberalen Institutionalismus führten (vgl.
dazu den Beitrag von Bernhard Zangl in diesem Band). Diese Wei-
terentwicklungen sowie einige weitere theoretische Ausdifferen-
zierungen verdienen daher im Folgenden besondere Beachtung.
Es sind in erster Linie die Überlegungen zu den Möglichkeiten
der Machtausübung in interdependenten Beziehungszusammen-
hängen, d.h. die Problematik der aus asymmetrischer Interdepen-
denz erwachsenden Handlungs- und Steuerungspotenziale sowie
die Überlegungen zu internationalen Regimen , die bereits in PaI
am umfassendsten entwickelt waren und welche durch die nach-
folgende Regimetheorie eine weitere Ausdifferenzierung erfuhren.
Interdependenz verändert Struktur und Kontext zwischenstaatli-
cher Interaktion und eine Analyse von Interdependenz benötigt ein
Konzept internationaler Verhandlungen. Die beiden zentralen
Punkte – dass internationale Agenden manipuliert werden können
und dass internationale Organisationen die Effekte von Interde-
pendenz modifizieren und regulieren können – waren prädestiniert
für eine Verknüpfung des Konzeptes mit Theorien internationaler
Verhandlungen und Kooperation bzw. für die Entwicklung der
spieltheoretischen Variante der Regimetheorie – insbesondere auch
für Arbeiten zu issue linkage – also der Verknüpfung von Problem-
feldern (vgl. hier u.a. Stein 1980; Haas 1980; Sebenius 1984; Oye
1986) sowie für Studien über die zunehmende Bedeutung kollek-
tiver Güter (u.a. Benjamin 1980; Ostrom 1990). Keohane/Nye ha-
ben mit ihren regimetheoretischen ‚Vorarbeiten‘ durch PaI in den
1970er Jahren grundsätzlich zu einer Renaissance des Studiums
internationaler Institutionen beigetragen und damit den Neolibe-
ralen Institutionalismus in den IB mitbegründet (vgl. den Beitrag
Interdependenz 115
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von Bernhard Zangl in diesem Band, auch Spindler 2008). Zu den


von Keohane/Nye und insbesondere Keohane bereits in den
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1970er und 1980er Jahren erarbeiteten „Kernelementen“ des neo-


liberal- institutionalistischen Forschungsprogramms zählen (1) ein
neuer Fokus auch auf nicht-staatliche Akteure, insbesondere inter-
nationale Institutionen, (2) eine differenzierte Betrachtung von
Machtformen jenseits militärischer Macht und Bedrohung, (3) die
theoretische Reflexion eines sowohl anarchischen als auch inter-
dependenten internationalen Systems sowie (4) die Erforschung
von Konflikt und Kooperation in den internationalen Beziehun-
gen, insbesondere der Bedingungen von zwischenstaatlicher, in-
stitutionalisierter Kooperation und der Möglichkeiten und Formen
von global governance (vgl. Milner 2009). Auf diese „Kernele-
mente“ wurde vielfach Bezug genommen. Sie wurden weiterent-
wickelt und auf neue Forschungsgebiete ausgedehnt.11 In theore-
tisch-konzeptueller Hinsicht erwiesen sich die Arbeiten von Keo-
hane/Nye und insbesondere Keohane von enormer Prägekraft für
nachfolgende Generationen von Wissenschaftlern und Wissen-
schaftlerinnen in den IB und führten zur Etablierung eines kom-
plexen neoliberalen Forschungsprogramms mit nicht nur theoreti-
scher, sondern mit ihrem Plädoyer für Multilateralismus und inter-
nationale Institutionen auch hoher praktisch-politischer Relevanz.
Die aktuellen Schriften Keohanes zeugen von einem bemer-
kenswerten Anpassungsvermögen der Theorie und Konzepte an
aktuelle Prozesse des Wandels in der internationalen Politik. Zen-
tral sind nunmehr Konzepte wie „Globalisierung“, „globalism“
und „governance“. Fragten Keohane/Nye in PaI noch, wie unter
den Bedingungen von Interdependenz durch Staaten Macht ausge-
übt werden kann (vgl. Abschnitt 2.4.), so ist dieses Leitmotiv auch
in neueren Werken klar erkennbar: Das Kernproblem ist die
Machtausübung und politische Steuerung jenseits des Staates (go-
vernance) unter Globalisierungsbedingungen (vgl. beispielsweise

11 Einen guten Überblick zum Neoliberalen Institutionalismus bietet Milner 2009.


Zentrale Arbeiten im Kontext des neoliberal-institutionalistischen Forschungs-
programms, die auf Kernideen von Keohane/Nye und Keohane aufbauen, sind
beispielsweise Legalization and World Politics (Goldstein/Kahler/Keohane/
Slaughter 2001), The Rational Design of International Institutions (Koremos/
Lipson/Snidal 2003) und Delegation and Agency in International Organizations
(Hawkins/Lake/Nielson/Tierney 2006); vgl. Milner 2009: 3).
116 Manuela Spindler
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die Aufsatzsammlung in Keohane 2002: Power and Governance


in a Partially Globalized World). 12
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Die Konzeptualisierung von Interdependenz war jedoch nicht


nur Ausgangspunkt für weiterführende kooperations- und institu-
tionentheoretische Überlegungen, sondern auch für Untersuchun-
gen zum Zusammenhang von wechselseitiger Abhängigkeit und
zwischenstaatlichen Konflikten sowie zu Fragen eine erhöhten
Konflikt- und Gewaltträchtigkeit im internationalen System durch
wechselseitige Abhängigkeiten allgemein. In dieser Hinsicht gin-
gen wichtige Impulse für empirische Überprüfungen der schon al-
ten liberalen These von der pazifizierenden Wirkung internationa-
ler Handelsbeziehungen (pax mercatoria) aus. Gefragt wird nach
den Kausalitäten im Zusammenhang von ökonomischer Interde-
pendenz und Konflikten in den politischen Beziehungen zwischen
Staaten (u.a. Gasiorowski/Polachek 1982; Barbieri 1996, 2002;
Crescenzi 2005; Copeland 1996; Mansfield 1994, vgl. auch die
Beiträge in Mansfield/Pollins 2003). Die liberale Annahme eines
grundsätzlichen „trade-peace-linkage“ in den zwischenstaatlichen
Beziehungen und dessen „Ausweitung“ im Sinne einer Pazifizie-
rung des internationalen Systems, wird durch empirische Untersu-
chungen gestützt (u.a. Maoz 2009: 234). Der Zusammenhang
muss jedoch dahin gehend spezifiziert werden, als er sich nicht für
alle Staaten gleichermaßen feststellen lässt. Die Robustheit der Be-
funde schwankt in Abhängigkeit vom Typus der politischen Sys-
teme (Gelpi/Grieco 2008). Interdependenzanalytische Untersuchun-
gen zeigen einen besonders starken Zusammenhang von Interde-
pendenz und Frieden in den Beziehungen zwischen Demokratien:
„Trade among democratic states may shift the decision to use mi-
litary force from the category of ‚very unlikely‘ to the category of
‚virtually unthinkable‘ (Gelpi/Grieco 2008: 30). Ökonomische In-
terdependenz ist damit ein wichtiger, wenn auch in Relation zum
Faktor „Demokratie“ nachrangiger Teil der theoretischen Erklä-

12 Keohane selbst fasst die Weiterentwicklung seines theoretischen Programms


„from interdependence and institutions to globalization and governance“ (Keo-
hane 2002: 1) in vier Entwicklungsschritten und -linien zusammen: (1) „from
interdependence to institutional theory“, (2) „from institutions to law“, (3)
„from interdependence to globalism“ (Konzept des „thick globalism“) und (4)
„from institutions to governance“ (Keohane 2002: 1-24). Vgl auch die von Mil-
ner/Moravcsik (2009) herausgegebene Festschrift für Keohane.
Interdependenz 117
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rung des interdemokratischen Friedens (vgl. auch den Beitrag von


Andreas Hasenclever in diesem Band).
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Dies gilt auch für Studien zur Friedensleistung internationaler


Institutionen. Dahinter verbirgt sich die These einer zunehmenden
„Zivilisierung“ der internationalen Beziehungen durch deren Ver-
regelung in internationalen Institutionen. Postuliert wird ein Zu-
sammenhang zwischen Interdependenz und dem daraus erwach-
senden Kooperationsbedarf und dem Rückgang militärischer Ge-
walt als Mittel der Konfliktbearbeitung im internationalen System
(u.a. Efinger et al. 1990: 279; de Wilde 1991; im Überblick auch
Spindler 2008). Die Feststellung einer allgemein verminderten
Gewalttätigkeit in den internationalen Beziehungen durch interna-
tionale Institutionen ist jedoch spezifizierungsbedürftig, lässt sich
die „Zivilisierung“ doch in erster Linie für die Beziehungen zwi-
schen den westlichen Industriestaaten feststellen. Sie betrifft also
jene Gruppe von Staaten, deren Beziehungen Keohane/Nye in PaI
mit dem Begriff einer zunehmenden komplexen Interdependenz
umschrieben haben und für deren Beziehungen – der Logik von
PaI folgend – eine besonders hohe Verregelungsdichte durch eine
Vielzahl von Institutionen nicht überraschend ist. Auch damit
werden Fragen der jüngeren Forschung zum so genannten „demo-
kratischen Frieden“ (oder auch „OECD-Frieden“) berührt, mit de-
nen die Zusammenhänge zwischen der internen demokratischen
Verfasstheit von Staaten, ihrer externen Einbindung in die zwi-
schen ihnen bestehenden internationalen Institutionen und dem
Befund der Abwesenheit von Gewalt als Mittel des Konfliktaus-
trags in ihren Beziehungen ergründet werden sollen (insbesondere
Russett/Oneal 2001; vgl. ausführlich den Beitrag von Andreas Ha-
senclever in diesem Band). In diesem Zusammenhang ist es be-
dauerlich, dass gerade das Konzept „komplexer Interdependenz“
in PaI wenig entwickelt und unterbewertet geblieben ist.
Dies betrifft auch einen weiteren Aspekt, der aus der Vernachläs-
sigung von „komplexer Interdependenz“ resultiert: die verpasste
Chance eines angemessenen theoretischen Erfassens der Rolle trans-
nationaler Akteure, wie z.B. multinationaler Konzerne oder anderer
grenzüberschreitend tätiger gesellschaftlicher Akteure. Dies ist
grundsätzlich ein Problem der Analyseebene von PaI. Keohane/ Nye
verharren mit ihren Erklärungen auf der Ebene des internationalen
Systems und vertreten eine staatenzentrierte Sichtweise, in der wie
118 Manuela Spindler
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im Realismus Staaten als dominante Akteure und in sich geschlosse-


ne Einheiten betrachtet werden. Es liegt damit in der Logik der skiz-
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zierten systemischen Perspektive, dass der Fokus auf internationale


Institutionen (bzw. Organisationen) als die einzig theoretisch rele-
vanten nicht-staatlichen Akteure gerichtet bleibt (siehe auch Milner
2009). Eine Betrachtung der Binnendifferenzierung der Staaten wird
damit vernachlässigt, obwohl transnationale Beziehungen und damit
das Handeln gesellschaftlicher Akteure als wesensbestimmend für
internationale Interdependenz gewertet werden, das heißt gerade bei
der Konzeptualisierung von „komplexer Interdependenz“ die strikte
Trennung zwischen dem Binnenbereich eines Staates und dem Sys-
temischen ja aufgebrochen wird. Das Zustandekommen von staat-
lichen Interessen z.B. durch die Einflussnahme gesellschaftlicher
Akteure, transgouvernementaler Netzwerke und policy communities
kann durch den Fokus auf die systemische Ebene nicht erklärt wer-
den, wie auch umgekehrt die Implikationen einer internationalen
Politik der Interdependenz für den binnenstaatlichen Bereich nicht
thematisiert werden können. Empirisch fruchtbare Ergebnisse wur-
den in Arbeiten zu Interdependenz nur möglich, wenn die systemi-
sche Ebene verlassen und die wechselseitige Abhängigkeit einer be-
grenzten Anzahl von Staaten in einzelnen Politikfeldern untersucht
wurde, in denen die Wechselwirkung innenpolitischer, transnatio-
naler und zwischenstaatlicher Prozesse berücksichtigt wurde (Koh-
ler-Koch 1994: 224). Andere Autoren haben mit ihren Arbeiten auf
dieses Problem hingewiesen und den Fokus der Analyse auf die
staatliche Ebene ausgedehnt (vgl. dazu u.a. Gourevitch 1978; Kat-
zenstein 1978, 1985; vgl. auch die Beiträge in Milner/Moravscsik
2009). Hier offenbart sich eine generelle Unmöglichkeit der weite-
ren Entwicklung des Konzepts von Interdependenz ohne Abstriche
an der systemischen Perspektive zu machen. Erwähnt werden muss
in diesem Zusammenhang, dass in der Frage der Analyseebene
wichtige Einsichten von Keohane/Nye, die in ihren PaI vorausge-
henden Arbeiten zu transnationalen Beziehungen bzw. dem „world
politics paradigm“ noch einen entscheidenden Stellenwert besaßen,
offenbar ‚verloren‘ gingen: Noch 1970 erhoben sie den Anspruch
„to transcend the ‚level-of analysis problem‘ both by broadening the
conception of actors to include transnational actors and by concep-
tually breaking down the ‚hard shell‘ of the nation-state“ (Nye/Keo-
hane 1970b: 380).
Interdependenz 119
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Schließlich haben Keohane und Nye mit ihren Arbeiten in den


1970er Jahren maßgeblich zur Herausbildung der Internationalen
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Politischen Ökonomie (IPÖ) als neue akademische Disziplin bei-


getragen (vgl. auch den Beitrag von Hans-Jürgen-Bieling in die-
sem Band; auch Moravcsik 2009). Gleichzeitig hat die starke Fo-
kussierung auf ökonomische Interdependenz Kritik hervorgerufen,
da sie Aspekte strategischer und institutioneller Interdependenz
vernachlässigt. Maoz (2009) versucht gleich mehrere Defizite des
ursprünglichen Konzepts von Interdependenz zu beheben, indem
er auf der Grundlage eines sozialen Netzwerkansatzes ein Analy-
seebenen übergreifendes, multidimensionales Interdependenzmo-
dell entwickelt, das Aspekte ökonomischer, strategischer und insti-
tutioneller Interdependenz integriert und deren Auswirkungen auf
die Konflikthaftigkeit der Beziehungen zwischen Staaten wie auch
auf der Ebene des internationalen Systems insgesamt zu erfassen
versucht.

4. Kritische Betrachtungen des Konzepts der


Interdependenz
Es gibt weitere Gründe für eine Problematisierung des Konzepts der
„komplexen Interdependenz“, die sich nicht durch „Weiterentwick-
lungen“ beheben ließen. Keohane/Nye müssen sich den Vorwurf ge-
fallen lassen, bei der Konzeptualisierung tautologisch vorgegangen
zu sein: Bezüglich der Implikationen von Interdependenz für staatli-
ches Handeln argumentieren sie, dass ein hoher Grad an wechselsei-
tiger Abhängigkeit zu einer veränderten Sicht außenpolitischer Ziele
und zu einem Wechsel in der Wahl der politischen Mittel führe. Ge-
nannt werden ein neuer Stellenwert von Wohlfahrts- gegenüber Si-
cherheitszielen, die nur noch untergeordnete Bedeutung militärischer
Gewalt als Mittel der Politik sowie eine zunehmende Bedeutsamkeit
einzelner Politikfelder (vgl. Abschnitt 2.3). Eben diese Veränderun-
gen werden jedoch bei der Charakterisierung des internationalen Sys-
tems als bereits gegeben unterstellt. Das heißt, Ziele und Instrumente
staatlicher Politik tauchen bei Keohane/Nye sowohl als Merkmale
als auch als Folgen komplexer Interdependenz auf, wie sie später
selbst eingestehen: „Since we define complex interdependence in
120 Manuela Spindler
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terms of the goals and instruments of state policy, any general argu-
ments about how goals and instruments are affected by the degree to
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which a situation approximates complex interdependence or realism


will be tautological“ (Keohane/Nye 1987: 738). Eine in sich konsis-
tente und methodisch umsetzbare Alternative zum Realismus konnte
auf dieser Basis nicht entwickelt werden. Keohane und Nye selbst
fassen die Ergebnisse ihrer Arbeit sehr treffend zusammen:
“Ironically (…) the result of our synthetic analysis in Power and Inter-
dependence, and of subsequent work such as Keohane’s After Hegem-
ony, has been to broaden neorealism and provide it with new concepts
rather than to articulate a coherent alternative theoretical framework
for the study of world politics” (Keohane/Nye 1987: 733).
Für (Neo-)Realisten scheitert PaI nicht nur daran, keine Alternati-
ve bieten zu können, sondern grundsätzlich auch keine fundierte
Kritik am Realismus zu liefern. Dies resultiere nicht zuletzt aus
der stark vereinfachten Präsentation des Realismus, mit der Keo-
hane/Nye einfach einen „straw man“ aufgestellt hätten (vgl. u.a.
Michalak 1979: 145-150; Holsti 1978: 525). Kenneth Waltz, der
Hauptvertreter des Neorealismus, hat sich eingehender mit der
Problematik von Interdependenz befasst und bezeichnet Interde-
pendenz auf der zwischenstaatlichen Ebene schlichtweg als „My-
thos“ (Waltz 1970; auch Mearsheimer 2001). In seinem Erklä-
rungsmodell wird internationale Ordnung über die Interaktion
funktional gleicher Einheiten („units“, die Staaten) hergestellt, die
sich im Selbsthilfesystem in erster Linie um ihre Sicherheit sorgen
und sich lediglich hinsichtlich ihrer Machtpotenziale („capabili-
ties“) unterscheiden (vgl. den Beitrag von Niklas Schörnig in die-
sem Band). Interdependenz kann es für Waltz jedoch nur dort ge-
ben, wo es eine Arbeitsteilung oder Spezialisierung der Einheiten
gibt. Aus der Logik des neorealistischen Erklärungsmodells heraus
muss Interdependenz im internationalen System daher gering sein.
Waltz begreift Interdependenz grundsätzlich als eine Beziehung,
deren Abbruch hohe Kosten verursachen würde. Daher sind für
ihn auch die ungleichen Machtpotenziale der Staaten weitere Indi-
katoren für eine nur geringe Interdependenz. Die mächtigsten Staa-
ten im System können sehr schnell wirtschaftliche Autarkie und
damit Unabhängigkeit erlangen: „high inequality among like units
is low interdependence“ (Waltz 1970: 207; Hervorhebung im Ori-
Interdependenz 121
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ginal). Die Wirtschaftspolitik der mächtigen Staaten hat zwar be-


deutsame Effekte für andere Staaten, jedoch ist dies umgekehrt nur
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marginal der Fall. Für Waltz existiert damit keine politisch bedeut-
same Interdependenz, sondern eine ungleiche Verteilung von Un-
abhängigkeit („independence“) und Abhängigkeit („dependence“)
in den internationalen Beziehungen (Waltz 1970: 214). Als „My-
thos“ verschleiert „Interdependenz“ für ihn die Machtverhältnisse
im internationalen System.
Eine ganze Reihe von Kritikpunkten lässt sich als Fehlen einer
„Theorie der Interdependenz“ zusammenfassen (Kohler-Koch
1990: 119; Zürn 2002: 235):
Wie entsteht eigentlich Interdependenz? Es mag überraschen,
dass diese Frage erst im Kritikteil aufgeworfen wird, jedoch ver-
mögen Keohane/Nye genau auf diese Frage keine Antwort zu ge-
ben. Die Frage nach den Triebkräften und zugrundeliegenden Ur-
sachen von Interdependenz (wie auch von Globalisierung) ist
grundsätzlich eng verknüpft mit der breiteren Debatte über die
Moderne. Hier findet sich häufig ein diffuser Verweis auf unper-
sönliche „Kräfte der Modernisierung“. In dieser Perspektive wird
Interdependenz zum Ergebnis eines von Technologie, Ökonomie
und Kommunikationsmitteln vorangetriebenen Prozesses (vgl.
auch Morse 1970). Damit kontrastieren Sichtweisen, die das ziel-
und zweckgerichtete Handeln menschlicher Akteure (also nicht un-
persönliche ‚Kräfte‘ und ‚Prozesse‘) und damit politische Ent-
scheidungen und die dahinter stehenden Interessen von politischen
und wirtschaftlichen Akteuren als Quellen sich intensivierender
Interdependenz ausmachen.
In der von Keohane/Nye gewählten Perspektive werden wech-
selseitige Abhängigkeiten als ein ‚gegebener Zustand‘ betrachtet,
der in nicht näher erklärter Form durch „Modernisierungskräfte“
herbeigeführt wurde (Keohane/Nye 1977: 227-28). Hier gilt es le-
diglich zu klären, wie unter diesen Bedingungen politische Steue-
rungspotenziale bewahrt oder neue Formen politischer Steuerung
gefunden werden können. In einer ahistorischen Betrachtungswei-
se setzt das von Keohane/Nye entwickelte Konzept der Interde-
pendenz in den 1970er Jahren überhaupt erst an (vgl. auch de Wil-
de 1991). Das Nachdenken über die Ursachen und Triebkräfte von
Interdependenz wird also nicht zum Bestandteil der theoretischen
Überlegungen von Keohane/Nye und macht ihre Arbeit in der
122 Manuela Spindler
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Folge angreifbar. Dies betrifft in erster Linie die vernachlässigte


Rolle des Staates und damit eng verknüpft die Frage der politi-
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schen Gestaltbarkeit von Interdependenz sowie den Vorwurf der


Ideologie.
Edward Morse (1972: 135ff) verweist auf das grundsätzliche
Zusammenspiel der „Modernisierungskräfte“ mit der politischen
Bereitschaft zur Verdichtung der internationalen Austauschbezie-
hungen, z.B. das Bemühen der Regierungen der Industriestaaten,
die Barrieren für wirtschaftlichen Austausch zu senken und abzu-
bauen. Dies geschieht im Bereich des Handels beispielsweise über
die multilateralen Verhandlungsrunden im Rahmen von GATT/
WTO oder auch durch die Vereinbarung von Freihandelszonen,
Zollunionen oder Gemeinsamer Märkte. Interdependenz wird da-
mit wesentlich zur Funktion zweier dominanter Charakteristika der
Moderne: des Systems von Nationalstaaten und des industriellen
Kapitalismus. Sie birgt im Kern die Frage politischer Entschei-
dungen, mit denen die politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen
geschaffen werden, innerhalb derer sich die „Kräfte der Moderni-
sierung“ entfalten können – und damit die Rolle des Staates in
dem von Technologie und Ökonomie vorangetriebenen Prozess
(vgl. Jones 1995: 48). Keohane/Nye thematisieren die Rolle des
Staates in diesem Prozess erst gar nicht. Internationale Interdepen-
denz bleibt in ihrem theoretischen Ansatz damit zum Staat ‚extern‘
(Strange 1994: 20-21).
Am Beispiel des Aufkommens multinationaler Konzerne und
bei der Integration der Finanz- und Kapitalmärkte soll dieses Zu-
sammenspiel von politischen Entscheidungen und „Modernisie-
rungskräften“ kurz illustriert werden. So stellt Gilpin fest:
“From this perspective the multinational corporation exists as a trans-
national actor today because it is consistent with the political interest
of the world’s dominant power, the United States. This argument does
not deny the analyses of economists who argue that the multinational
corporation is a response to contemporary technological and economic
developments. The argument is rather that these economic and tech-
nological factors have been able to exercise their profound effects be-
cause the United States – sometimes with the cooperation of other
states and sometimes over their opposition – has created the necessary
political framework.” (Gilpin 1970: 54; Hervorhebung, M.S.)
Interdependenz 123
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Susan Strange weist für den Bereich der Finanz- und Kapital-
märkte darauf hin, dass technologische Entwicklungen – wie die
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neuen Informations- und Kommunikationstechnologien – auch


hier nicht automatisch und unmittelbar wirksam werden (vgl.
Strange 1994: 133ff). Dazu bedurfte es erst politischer Entschei-
dungen oder aber Nicht-Entscheidungen der Regierungen der wich-
tigsten westlichen Industriestaaten in der Vergangenheit, die eine
globale Integration der Finanz- und Kapitalmärkte überhaupt erst
möglich gemacht haben (vgl. Strange 1986; auch Walter 1991;
Helleiner 1994).13 Die ‚Realitäten‘ von Interdependenz in der in-
ternationalen politischen Ökonomie werden so zu Konsequenzen
gegenwärtiger Politik wie auch vergangener politischer Entschei-
dungen. Dabei wandelt sich die Rolle des Staates an sich. Diesen
Wandel zu erfassen erfordert grundsätzlich eine „Theorie des Staa-
tes“ (so u.a. Cerny 1997) – eine Forderung, die die Interdepen-
denz-Analyse allein aufgrund ihres systemischen Fokus nicht er-
füllen kann und die auch bei den Weiterentwicklungen der Inter-
dependenzanalyse unberücksichtigt blieb (vgl. Abschnitt 3). Die
wissenschaftliche Auseinandersetzung über die veränderte Rolle
des Staates steht mittlerweile im Zentrum der seit den 1990er Jah-
ren geführten Globalisierungs- und Governance- Debatte. Sie ver-
deutlicht eindrucksvoll die Vielzahl gemeinsamer Problemstellun-
gen von Interdependenz-Analyse und Studien zur Globalisierung
in Bezug auf das Problem einer abnehmenden politischen Hand-
lungs-und Gestaltungsmacht des Staates (vgl. ausführlich Jones
1995 und Zürn 2002; auch Keohane/Nye 2001: Kap. 10; siehe
auch Abschnitt 3). So wurde beispielsweise die gegenüber dem
Staat wachsende Handlungs- und Gestaltungsmacht vor allem trans-
nationaler wirtschaftlicher Akteure als „retreat of the state“ – also
als „Rückzug“ des Staates – diskutiert (Strange 1996). „Rückzug“
meint dabei in erster Linie einen Wandel der Rolle oder Funk-
tionsweise des Staates, wie ihn beispielsweise Cerny (1997) be-
grifflich als Übergang vom (interventionistischen) „Wohlfahrts-
staat“ zum „Wettbewerbsstaat“ fasst. Der auf Deregulierung und
Privatisierung gerichtete „Wettbewerbsstaat“ (auch neoliberaler

13 Das Versagen des Staates bei der Regulation der Finanzmärkte gehört zu den
zentralen Ursachenkomplexen, die im Zusammenhang mit der gegenwärtigen
weltweiten Finanzkrise diskutiert werden.
124 Manuela Spindler
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Staat) ist ein Staat, der dem freien Spiel der Marktkräfte zuneh-
mend Raum gibt und damit Interdependenz ‚schafft‘. Ähnliches
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gilt für die Rolle internationaler Institutionen, die bei Keohane/


Nye lediglich als Mittel für ein ‚Management‘ von Interdependenz
und damit als ‚Resultate‘ aus wechselseitigen Abhängigkeiten er-
wachsender Kooperationsimpulse thematisiert werden. Sie selbst
werden jedoch wiederum zu Faktoren – wenn, wie im Fall inter-
nationaler Organisationen, nicht gar Akteuren –, die auf eine sich
intensivierende Interdependenz hinwirken (wie beispielsweise
durch das nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete GATT im Be-
reich des Welthandels oder die Politik des IWF geschehen). Mit
ihnen wird eine Art „institutionelle Interdependenz“ und damit
grundsätzlich eine weitere Interdependenz politischen Ursprungs
geschaffen (Cooper 1972: 163; auch Morse 1969: 322).
Die von Keohane/Nye theoretisch vorgezeichnete ‚Problemlö-
sestrategie‘ durch eine auf internationale Kooperation in einzelnen
Problemfeldern gerichtete Politik der Interdependenz verstellt zu-
dem den Blick auf die Frage der politischen Gestaltbarkeit in ei-
nem umfassenderen, politikfeldübergreifenden Sinne – dem der
Weltordnungspolitik – und damit grundlegend auf bestehende
Macht- und Herrschaftsverhältnisse im internationalen System
(u.a. Cox 1981). Dies berührt konkret die politische Rolle der USA
als überlegene wirtschaftliche und militärische Macht bei der Kon-
struktion eines neuen politischen und wirtschaftlichen Rahmens für
die Beziehungen der Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg und des-
sen Transformation seit den 1970er und 1980er Jahren. Für kritische
Ansätze in den Internationalen Beziehungen – wie beispielsweise
neo-gramscianische Perspektiven – wird die dominierende Rolle der
USA in ihrem Einfluss auf internationale Institutionen manifest,
über die sie eine globale „superstructure of control“ errichtet hätten
(van der Pijl 1989: 161; vgl. auch den Beitrag von Andreas Bieler
und Adam D. Morton). Die Rede von Interdependenz – und hier tref-
fen sich neorealistische Kritiker und kritische Perspektiven – steht al-
so unter Ideologieverdacht: „The word ‚interdependence‘ subtly ob-
scures the inequalities of national capability, pleasingly points to a re-
ciprocal dependence, and strongly suggests that all states are playing
the same game“ (Waltz 1970: 220).
Wenn die Politik der Interdependenz aber als Weltordnungs-
politik und nicht nur problembereichsspezifisches ‚Management‘ für
Interdependenz 125
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die Beziehungen der westlichen Industriestaaten unter Bedingungen


komplexer Interdependenz begriffen wird, dann stellt sich die be-
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rechtigte Frage nach den Auswirkungen der Politik der Interdepen-


denz auf die Gesamtstruktur des internationalen Systems, und zwar
im Sinne der Verteilung von Macht und Einfluss und der Chancen
der Teilhabe, der Verteilung von Gewinnen und Verlusten und gera-
de auch im Sinne von Konflikt und Gewalt im internationalen Sys-
tem durch eine Politik der Interdependenz. Die Dependenzia-For-
schung spricht in diesem Zusammenhang nicht von Inter-Dependenz
sondern Dependenz als einer Form internationaler Interdependenz,
die ihrem Wesen nach essenziell ausbeuterisch und für die abhängi-
gen Staaten – dies sind vor allem die Staaten des Südens – struktu-
rell nachteilig ist (u.a. Holsti 1978: 517; vgl. auch die Beiträge von
Andreas Nölke und Michael Heinrich in diesem Band).
Die Forschung zu Interdependenz – wie auch ihre Weiterent-
wicklung im Rahmen der Regimetheorie und des Neoliberalen In-
stitutionalismus – hat sich gegenüber diesen Fragestellungen bis-
lang weitestgehend ignorant gezeigt. Die von Keohane/Nye (z.B.
2001: 235-248) konstatierte Tauglichkeit der Interdependenz-Ana-
lyse für eine wissenschaftlich begründete Ableitung von Strategien
politischen Handelns auch im Kontext der Globalisierung er-
scheint vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig und bedarf
kritischer Betrachtungen. Es ist naheliegend, dass die sich drama-
tisch verändernden machtpolitischen Parameter des gegenwärtigen
internationalen Systems, insbesondere durch die wachsende weltpoli-
tische und weltwirtschaftliche Bedeutung Chinas oder auch Indiens
bzw. den „Aufstieg“ Asiens als Weltregion zu veränderten Rahmen-
bedingungen für eine auf globale institutionalisierte Kooperation set-
zende „Politik der Interdependenz“ führen werden. Das Scheitern der
Verhandlungen zum Klimaschutz in Kopenhagen im Dezember 2009
belegt dies eindrucksvoll (dazu beispielsweise Leggewie/Messner in
der FAZ vom 22.12.2009). Zunehmend ist vor dem Hintergrund des
Scheiterns der Doha-Runde der WTO, von der durch die Finanzkrise
sichtbar gewordenen Reformbedürftigkeit von Weltbank und IWF
oder dem Versagen der UN-Gemeinschaft angesichts von Konflikten
wie beispielsweise in Darfur von einer Krise der multilateralen Insti-
tutionen die Rede. Deutlich wird, dass kooperatives Verhalten von
Staaten und eine erfolgreiche internationale Politikgestaltung durch
Institutionen anderer Begründungszusammenhänge und Argumen-
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te bedarf, als sie auf rationalen interdependenzpolitischen Kosten-


Nutzen-Abwägungen beruhende institutionalistische Ansätze be-
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reit stellen können.

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Regimetheorie
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Bernhard Zangl

1. Einleitung
Die Regimetheorie entstand in den späten 1970er und frühen
1980er Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit dem zu die-
sem Zeitpunkt in den Internationalen Beziehungen dominierenden
Neorealismus. Als ein Ansatz, der Institutionen in den internatio-
nalen Beziehungen eine besondere Rolle beimisst, ist die Regime-
theorie dem so genannten Neoinstitutionalismus zuzuordnen und
muss von den Theorieschulen sowohl des Neorealismus als auch
des Liberalismus abgegrenzt werden. So nimmt sie – wie der Neo-
realismus – zwar an, dass erstens Staaten die wichtigsten Akteure
in der internationalen Politik sind, die zweitens im Rahmen anar-
chischer Strukturen agieren und drittens durch ihr Handeln ihre ei-
gennützig definierten Interessen rational verfolgen. Allerdings
kommt die Regimetheorie zu vom Neorealismus deutlich abwei-
chenden, eher den Liberalismus stützenden Schlussfolgerungen
(Grieco 1988):
(1) Der Neorealismus folgert in der so genannten Theorie der
hegemonialen Stabilität aus den genannten Prämissen, dass dauer-
hafte internationale Kooperation nur dann möglich ist, wenn eine
hegemoniale Macht bereit ist, diese gegenüber anderen Staaten
durchzusetzen. Demgegenüber betont die Regimetheorie, dass in-
ternationale Kooperation jenseits hegemonialer Machtstrukturen
zumindest auch dann möglich ist, wenn Kooperation angesichts
zunehmend komplexer Interdependenzbeziehungen über Staats-
grenzen hinweg im gemeinsamen Interesse aller beteiligten Staa-
ten liegt.
(2) Der Neorealismus schließt aus den Prämissen zudem, dass
internationale Institutionen allenfalls als Instrument hegemonialer
Mächte dienen. Über die Theorie hegemonialer Stabilität hinaus
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Regimetheorie
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Bernhard Zangl

1. Einleitung
Die Regimetheorie entstand in den späten 1970er und frühen
1980er Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit dem zu die-
sem Zeitpunkt in den Internationalen Beziehungen dominierenden
Neorealismus. Als ein Ansatz, der Institutionen in den internatio-
nalen Beziehungen eine besondere Rolle beimisst, ist die Regime-
theorie dem so genannten Neoinstitutionalismus zuzuordnen und
muss von den Theorieschulen sowohl des Neorealismus als auch
des Liberalismus abgegrenzt werden. So nimmt sie – wie der Neo-
realismus – zwar an, dass erstens Staaten die wichtigsten Akteure
in der internationalen Politik sind, die zweitens im Rahmen anar-
chischer Strukturen agieren und drittens durch ihr Handeln ihre ei-
gennützig definierten Interessen rational verfolgen. Allerdings
kommt die Regimetheorie zu vom Neorealismus deutlich abwei-
chenden, eher den Liberalismus stützenden Schlussfolgerungen
(Grieco 1988):
(1) Der Neorealismus folgert in der so genannten Theorie der
hegemonialen Stabilität aus den genannten Prämissen, dass dauer-
hafte internationale Kooperation nur dann möglich ist, wenn eine
hegemoniale Macht bereit ist, diese gegenüber anderen Staaten
durchzusetzen. Demgegenüber betont die Regimetheorie, dass in-
ternationale Kooperation jenseits hegemonialer Machtstrukturen
zumindest auch dann möglich ist, wenn Kooperation angesichts
zunehmend komplexer Interdependenzbeziehungen über Staats-
grenzen hinweg im gemeinsamen Interesse aller beteiligten Staa-
ten liegt.
(2) Der Neorealismus schließt aus den Prämissen zudem, dass
internationale Institutionen allenfalls als Instrument hegemonialer
Mächte dienen. Über die Theorie hegemonialer Stabilität hinaus
132 Bernhard Zangl
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gehend unterstreicht die Regimetheorie hingegen, dass internatio-


nale Institutionen auch jenseits hegemonialer Machtstrukturen des-
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halb bedeutsam sind, weil sie Staaten helfen können, die aus kom-
plexen Interdependenzbeziehungen resultierenden Kooperations-
probleme im gemeinsamen Interesse zu lösen.
Die Regimetheorie fußt allerdings nicht nur auf der wissen-
schaftlichen Debatte darüber, welche Schlussfolgerungen über die
Chancen internationaler Kooperation aus den von Neorealisten
und Neoinstitutionalisten gleichermaßen vertretenen Prämissen
über internationale Politik zu ziehen sind. Vielmehr geht die Regi-
metheorie auch auf die eher empirische Debatte über den Macht-
verfall der USA seit den 1970er Jahren zurück. Dieser ließ zu-
mindest nach der Theorie des Neorealismus erwarten, dass beste-
hende internationale Institutionen wie das GATT und der IWF in
den 1970er und 1980er Jahren wirkungslos werden und die ent-
sprechende Kooperation in den internationalen Handels- und Wäh-
rungsbeziehungen nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Tat-
sächlich schien die Kooperation in diesen Institutionen auch nach-
zulassen: Das GATT, das ab 1947 zu einer schrittweisen Liberali-
sierung der Handelsbeziehungen beigetragen hatte, sah sich einem
neuen Protektionismus ausgesetzt und der IWF musste die 1944
vereinbarten fixen Wechselkurse aufgeben um zu flexiblen Wech-
selkursen überzugehen.
Doch trotz dieser Turbulenzen blieben die genannten Institutio-
nen in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur weiter bestehen,
sondern es gelang ihnen auch, grundlegende Kooperationsbezie-
hungen zu erhalten. Im Handelsbereich kam es nicht zu dem er-
warteten Protektionswettlauf und im Finanzbereich blieb die freie
Konvertibilität der Währungen bestehen (Keohane 1984). Somit
konnte trotz des Machtverlusts der USA eine weitgehend liberale
Weltwirtschaftsordnung aufrecht erhalten werden, in der die wirt-
schaftlichen Verflechtungen sogar weiter zunahmen. Darüber hin-
aus wurde in den 1970er und 1980er Jahren eine Vielzahl neuer
internationaler Institutionen gegründet. So entwickelten sich im
Ost-West-Kontext internationale Institutionen wie die Konferenz
über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), der
Atomwaffensperrvertrag (NPT) und verschiedene andere Rüs-
tungskontrollregime (SALT, ABM, IMF), in denen Kooperations-
beziehungen entstanden, obwohl hier weder die USA noch die
Regimetheorie 133
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UdSSR eine hegemoniale Machtposition einnahmen (Rittberger


1990).
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Gerade diese neuen internationalen Institutionen bestimmen


auch den eigentümlichen Blick auf internationale Institutionen, der
die Regimetheorie auszeichnet. Waren bis in die 1970er Jahre im
Rahmen des traditionellen Institutionalismus internationale Insti-
tutionen – insbesondere internationale Organisationen – vornehm-
lich aufgrund ihrer formalen Kompetenzen untersucht worden, so
ging es im Rahmen des Neoinstitutionalismus nun verstärkt dar-
um, die Konsequenzen verschiedener breit verstandener Institutio-
nen – nicht nur Organisationen – zu analysieren (Martin/Simmons
1998). Dabei konzentrierte sich die Regimeforschung auf spezi-
fische Institutionen – auf so genannte internationale Regime wie
das internationale Handels- und das internationale Finanzregime
oder die verschiedenen Abrüstungs-, Umwelt- oder Menschen-
rechtsregime. Internationale Regime besitzen im Unterschied zu
internationalen Organisationen keine Akteursqualität. Dementspre-
chend ist die UNO eine internationale Organisation und kein inter-
nationales Regime. Im Unterschied zu übergreifenden internatio-
nalen Ordnungsprinzipien sind internationale Regime auf spezifi-
sche Problemfelder der internationalen Politik bezogen. Das Ord-
nungsprinzip der Souveränität der Staaten ist somit nicht mit ei-
nem internationalen Regime zu verwechseln. Internationale Regi-
me sind mithin kooperative internationale Institutionen, die sich
auf spezifische Problemfelder der internationalen Politik beziehen,
aber nicht als eigenständige Akteure auftreten können (Keohane
1989). Definiert werden Regime als problemfeldspezifische inhalt-
liche wie prozedurale Prinzipien, Normen und Regeln, die von
Staaten vereinbart und als gültig betrachtet werden.1 Als Prinzi-
pien gelten dabei allgemeine Verhaltensstandards; Normen sind
hingegen konkrete Verhaltensvorschriften und in Regeln drücken
sich überprüfbare Verhaltensvorschriften aus, die von den Regel-
adressaten ein spezifisches Verhalten verlangen bzw. ein spezifi-
sches Verhalten verbieten.
Die Regimeforschung entstand als neuer Theorieansatz in den
1970er Jahren zunächst in den USA. Dabei konzentrierte sie sich

1 Für die Debatte um eine angemessene Definition internationaler Regime siehe


Hasenclever/Mayer/Rittberger 1997: 8-22.
134 Bernhard Zangl
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insbesondere auf den Bereich der internationalen politischen Öko-


nomie. Der amerikanischen Regimeforschung ging es vornehmlich
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um ein besseres Verständnis der Kooperation in den Weltwirt-


schaftsbeziehungen. Dabei traten in den 1980er Jahren neben Ro-
bert O. Keohane (1984, 1989), der hier als Referenztheoretiker be-
handelt wird, insbesondere auch Stephen D. Krasner (1983), Ken-
neth Oye (1986) und John G. Ruggie (vgl. die Essaysammlung
1998) hervor. Die Regimeforschung in Deutschland hat sich hin-
gegen erst in den 1980er Jahren etabliert. Sie konzentrierte sich
angesichts der besonderen Sicherheitsbedrohungen im Ost-West-
Konflikt viel weniger auf die internationalen Wirtschafts- als auf
die internationalen Sicherheitsbeziehungen. Regime wurden bei-
spielsweise von Volker Rittberger und Michael Zürn (1990) im-
mer auch als Instrument gesehen, um die Sicherheit im Ost-West-
Kontext zu stabilisieren.

2. Die Regimetheorie von Robert O. Keohane


Robert O. Keohane, der mit Joseph Nye durch Power and Interde-
pendence (1977) bereits die Interdependenzanalyse nachhaltig be-
einflussen konnte, hat mit After Hegemony (1984) auch die Regi-
metheorie entscheidend geprägt.2 Sowohl für die Internationalen
Beziehungen als auch die Internationale Politische Ökonomie war
und ist er seit den 1970er Jahren gleichermaßen einflussreich. Er
lehrte in seiner außerordentlich erfolgreichen akademischen Kar-
riere u.a. an der Stanford University, der Brandeis University, der
Harvard University und der Duke University. Seit 2005 ist er Pro-
fessor für Internationale Beziehungen an der Princeton University
(USA). After Hegemony – sein neben Power and Interdependence
sicherlich einflussreichstes Werk – ist hervorragend geeignet, um
in die Regimetheorie einzuführen.

2 Siehe auch Keohane 1983 und 1989 sowie Axelrod/Keohane 1986. Für einen
ausgezeichneten Überblick über Keohanes Theorie siehe Hasenclever/Mayer/
Rittberger 1997: 27-44.
Regimetheorie 135
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2.1 Internationale Regime und internationale


Kooperation
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In After Hegemony versucht Keohane zu zeigen, dass trotz der


oben genannten ‚garstigen‘ Prämissen über internationale Politik an-
gesichts zunehmend komplexer Interdependenzbeziehungen dauer-
hafte internationale Kooperation im gemeinsamen Interesse der
beteiligten Staaten möglich ist (Keohane 1984: 4). Zugleich unter-
streicht er, dass aufgrund dieser Prämissen internationale Koopera-
tion selbst dann jedoch als prekär gelten muss, wenn Staaten auf-
grund der zunehmend dichten Interdependenzen ein gemeinsames
Interesse an internationaler Kooperation haben.
Wie schwierig internationale Kooperation also auch trotz ge-
meinsamer Interessen zu verwirklichen ist, verdeutlicht Keohane
anhand der Interessenkonstellation des so genannten Gefangenen-
dilemmas (Keohane 1984: 67-69).3 Diese Interessenkonstellation
kann in Bezug auf die internationale Politik beispielsweise anhand
des Rüstungswettlaufs zwischen den USA und der UdSSR wäh-
rend des Kalten Krieges veranschaulicht werden. Jede Supermacht
hatte ein Interesse, durch ihre Rüstungsausgaben gegenüber der
jeweils anderen Supermacht einen Sicherheitsvorteil zu gewinnen
und versuchte zugleich einen Sicherheitsvorteil des anderen unbe-
dingt zu verhindern. Da diesem Interesse entsprechend beide ihre
Rüstungsanstrengungen fortlaufend ausdehnten, konnte keine der
beiden Supermächte die eigene Sicherheit verbessern. Aufgrund der
Wohlfahrtsverluste, die sie durch ihre Rüstungsanstrengungen zu
verkraften hatten, wären Rüstungskontrollvereinbarungen im bei-

3 Das Gefangenendilemma wird als solches bezeichnet, weil zur Illustration die-
ser Interessenkonstellation ursprünglich auf die Geschichte von zwei Gefange-
nen zurückgegriffen wurde. Beide haben gemeinsam einen Mord begangen, der
ihnen aber nicht nachgewiesen werden kann. Deshalb bietet die Staatsanwalt-
schaft jedem der Gefangenen die Kronzeugenregelung an. Dadurch steht jeder
von ihnen vor der schwierigen Entscheidung, ob er durch ein Geständnis seinen
Komplizen verraten soll, um selbst freizukommen oder ob er in der Hoffnung
leugnen soll, dass auch sein Komplize leugnen wird. Das gemeinsame Leugnen
ist zwar für beide gemeinsam vorteilhaft, da aber für jeden einzeln ein Anreiz
besteht, trotzdem ein Geständnis abzulegen, um so sofort freizukommen und
zugleich jeder allein Angst haben muss, dass ihn der andere durch ein Geständ-
nis verrät, besteht die Gefahr, dass beide gestehen und sich damit wechselseitig
schädigen.
136 Bernhard Zangl
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derseitigen Interesse gewesen.4 Da anders als in hierarchischen


(staatlichen) Strukturen in den anarchischen Strukturen der inter-
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nationalen Politik Kooperation nicht zentral durchgesetzt werden


kann, waren Rüstungskontrollvereinbarungen, welche die Interes-
sen beider befördert hätten, kaum zu erreichen. Für jede Super-
macht bestand in dieser Interessenkonstellation zum einen ein An-
reiz, heimlich aus etwaigen Rüstungskontrollvereinbarungen aus-
zuscheren, um sich einen Sicherheitsvorteil zu verschaffen und zu-
gleich die Angst, dass der andere durch vereinbarungswidrige Rüs-
tungsmaßnahmen einen Sicherheitsvorteil erreicht.5 Diese Interes-
senkonstellation, bei der beide ihre gemeinsamen Interessen da-
durch verfehlen, dass sie jeweils versuchen, ihre individuellen In-
teressen zu wahren, lässt sich spieltheoretisch wie folgt darstellen
(vgl. Schaubild 1):

Schaubild 1: Das Gefangenendilemma: Rüstungswettlauf 6


UdSSR Rüstung begrenzen Rüstung ausbauen
USA
Rüstung begrenzen 3/3 1/4
Rüstung ausbauen 4/1 2/2

4 Durch beiderseitige Rüstungskontrolle erreichen die Supermächte ein so ge-


nanntes Pareto-Optimum. Ein Pareto-Optimum bezeichnet solche Handlungser-
gebnisse, die weder von einem Akteur alleine noch von den Akteuren gemein-
sam verlassen werden können, ohne dass dadurch zumindest einer der beteilig-
ten Akteure geschädigt wird.
5 Spieltheoretisch betrachtet stellt der Rüstungswettlauf zwischen den Super-
mächten ein so genanntes Nash-Equilibrium dar. Ein Nash-Equilibrium stellt
das Handlungsergebnis dar, das von keinem der beteiligten Akteure alleine ver-
lassen werden kann, ohne sich selbst zu schädigen.
6 Die spieltheoretische Auszahlungsmatrix bringt eine formalisierte Darstellung
der Interessenkonstellation. Die Auszahlungsmatrix verdeutlicht, dass die USA
und die UdSSR über je zwei Handlungsoptionen (Rüstung begrenzen oder aus-
bauen) verfügen, die sich zu vier denkbaren Ergebnissen kombinieren lassen,
mit denen sie ihre Interessen unterschiedlich weitgehend verwirklichen können.
Dementsprechend ordnen sie diesen Ergebnissen unterschiedliche Präferenzen
zu. Die Präferenzkennziffer ‚4‘ deutet auf das am meisten gewünschte Ergebnis,
die Präferenz ‚1‘ auf das am wenigsten gewünschte Ergebnis hin. Dass die USA
ihre Rüstung begrenzen während die UdSSR weiter rüstet, ist somit das von den
USA am wenigsten, aber von der UdSSR am meisten gewünschte Ergebnis. Für
eine Einführung in die Spieltheorie siehe Morrow 1994.
Regimetheorie 137
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In derartigen Interessenkonstellationen, die insbesondere durch


dichte Interdependenzbeziehungen hervorgerufen werden, scheint
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auf der Grundlage der von Keohane formulierten Prämissen inter-


nationale Kooperation – eine gemeinsame Rüstungskontrollpolitik
– zunächst unmöglich. Denn unabhängig davon, ob eine Super-
macht glaubt, dass sich die andere Supermacht an die Rüstungskon-
trollvereinbarung hält, ist es für sie günstig, vereinbarungswidrig ih-
re Rüstungsanstrengungen fortzusetzen. Nimmt sie an, dass der
Konkurrent heimlich weiter rüstet, so kann sie durch eigene Rüs-
tungsanstrengungen zumindest einen Sicherheitsvorteil des anderen
verhindern. Geht sie dagegen davon aus, dass ihr Konkurrent tat-
sächlich abrüstet, so kann sie sich durch eigene Rüstungsmaßnah-
men selbst einen Sicherheitsvorteil verschaffen. Gleichviel, welche
Rüstungspolitik man dem anderen unterstellt, es ist für beide Super-
mächte immer rational, die eigenen Rüstungsanstrengungen aus-
zudehnen – sich mithin nicht auf internationale Kooperation ein-
zulassen.7
Keohane argumentiert nun aber, dass sich die Kooperationspro-
blematik dann anders darstellt, wenn man berücksichtigt, dass sich
die Staaten wiederholt in derselben Interessenkonstellation befin-
den – wiederholt etwa über Rüstungsmaßnahmen entscheiden
müssen. Aufgrund der Wiederholung kann internationale Koope-
ration von den Staaten mit Hilfe kontingenter Strategien dezentral
durchgesetzt werden (Keohane 1984: 75-78, Oye 1986).8 Dadurch,
dass die Supermächte wissen, dass sie fortlaufend über ihre Rüs-
tungsmaßnahmen entscheiden, stellen sich für sie Rüstungskon-
trollmaßnahmen völlig anders dar als bei einer einmaligen Rüstungs-
entscheidung, auf die keine weiteren entsprechenden Rüstungsent-
scheidungen mehr folgen werden. Gemeinsame Rüstungskontrolle
ist hier möglich, weil sowohl die USA als auch die UdSSR in ihre

7 Spieltheoretisch gesprochen verfügen beide Supermächte über eine dominante


Strategie. Eine dominante Strategie bezeichnet eine Handlungsweise, die für ei-
nen Akteur unabhängig davon, welche Handlungsoption der jeweils andere
Akteur wählt, vorteilhaft ist.
8 Diesen Zusammenhang hat Axelrod 1987 beeindruckend dargestellt. Vgl. auch
Taylor 1987. Als besonders erfolgreich gilt die so genannte tit-for-tat Strategie.
Bei dieser Strategie spielt der Akteur in der ersten Spielrunde die Verhaltensop-
tion Kooperation. In den folgenden Spielrunden wiederholt er stets die Wahl der
Verhaltensoption seines Interaktionspartners aus der vorhergehenden Spielrunde
(Axelrod 1987).
138 Bernhard Zangl
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Rüstungsentscheidungen die künftigen Reaktionen des jeweils An-


deren einbeziehen müssen. Das heißt, sie wissen, dass Rüstungs-
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maßnahmen, mit denen sie heute gegen getroffene Rüstungskon-


trollvereinbarungen verstoßen, schon morgen entsprechende Rüs-
tungsmaßnahmen des anderen nach sich ziehen können, so dass
die Rüstungskontrollbemühungen wieder zusammenbrechen. Durch
diesen Schatten der Zukunft (Axelrod 1987) können somit beide
Supermächte dazu angehalten werden, sich auf eine gemeinsame
Rüstungskontrollpolitik einzulassen bzw. davor abgeschreckt wer-
den, aus der gemeinsamen Rüstungskontrolle auszuscheren.
Keohane argumentiert also, dass trotz der ‚garstigen‘ Prämissen
über internationale Politik internationale Kooperation in Interes-
senkonstellationen wie dem Gefangenendilemma dann zumindest
grundsätzlich möglich ist, wenn sich die beteiligten Staaten wie-
derholt in der jeweiligen Interessenkonstellation wiederfinden.
Doch wahrscheinlich ist nach Keohane internationale Kooperation
nur dann, wenn sie durch internationale Regime gesichert wird
(Keohane 1984: 78-84). Keohane befasst sich deshalb – wie die
Regimeforschung allgemein – in After Hegemony mit zwei Fra-
gen: (1) Welche Wirkungen haben internationale Regime? (2)
Wann wird die Bildung internationaler Regime gelingen? Hier soll
zunächst auf die Wirkungen eingegangen werden, ehe die Bildung
internationaler Regime genauer betrachtet wird. Denn nur wenn
überzeugend argumentiert werden kann, dass internationale Regi-
me wirksam sind, macht es Sinn, sich damit zu befassen, wann sie
entstehen.

2.2 Regimewirkung

Internationale Regime können nach Keohane dazu beitragen, dass


es Staaten, die aufgrund dichter Interdependenzen ein gemeinsa-
mes Interesse an internationaler Kooperation haben, gelingt, ihre
Kooperationsinteressen auch zu realisieren. Die Wirkung interna-
tionaler Regime besteht also nicht darin, die Interessen der betei-
ligten Staaten und damit die Interessenkonstellation selbst zu ver-
ändern um dadurch internationale Kooperation zu erleichtern. Sie
beschränkt sich vielmehr darauf, bei entsprechendem Interesse den
Staaten zu helfen, durch internationale Kooperation diese Interes-
Regimetheorie 139
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sen verwirklichen zu können. Internationale Regime fungieren al-


so als Kooperationskatalysatoren, die die Interessen der Staaten
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unberührt lassen.
Keohane begnügt sich in seiner Regimetheorie freilich nicht da-
mit, die Wirkung internationaler Regime zu konstatieren, sondern
er benennt mehrere Wirkungspfade, mittels derer sie zu internatio-
naler Kooperation beitragen. Danach werden durch internationale
Regime insbesondere die mit internationaler Kooperation verbun-
denen Transaktionskosten reduziert, d.h. die Kosten, die mit den
Verhandlungen über spezifische Kooperationsvereinbarungen, der
Kontrolle der Kooperationstreue sowie der Durchsetzung der Ko-
operationsvereinbarungen verbunden sind. Hier sollen vier dieser
Wirkungspfade, auf denen Transaktionskosten durch Regime re-
duziert werden, kurz skizziert werden (Keohane 1984: 89-109):
(1) Internationale Regime senken die Transaktionskosten, in-
dem sie beispielsweise einen Verhandlungsrahmen anbieten, in dem
Staaten schon allein deshalb spezifische Kooperationsvereinbarun-
gen einfacher erzielen können, weil die Verfahren für die Ver-
handlungen genauso feststehen wie die Verhandlungspartner und
die grundlegenden Verhandlungsziele (Keohane 1984: 89-90). Die
Staaten müssen sich also bei Verhandlungen innerhalb eines inter-
nationalen Regimes nicht vorher in zeitraubenden Vorverhandlun-
gen darauf verständigen, welche Verhandlungsziele mit welchen
Verhandlungspartnern mittels welcher Verfahren erreicht werden
sollen. Durch das Regime ist dies zumeist bereits festgelegt. So ist
durch das internationale Handelsregime des GATT bzw. der WTO
nicht nur bestimmt, wer mit wem wie verhandelt, sondern es wird
insbesondere auch festgelegt, worüber verhandelt wird – nämlich
die Liberalisierung des internationalen Handels. Die Verhandlun-
gen sind dadurch bereits so weit vorstrukturiert, dass im Ver-
handlungsprozess Vereinbarungen etwa über neue Zolltarife er-
heblich einfacher erzielt werden können.
(2) Indem internationale Regime Transaktionskosten senken,
verbessern sie allerdings nicht nur die Chancen, dass internatio-
nale Kooperationsvereinbarungen ausgehandelt werden können,
sondern insbesondere auch die Chancen, dass diese Kooperations-
vereinbarungen auch eingehalten werden. Da internationale Regi-
me die Transaktionskosten senken, können sie dazu beitragen,
dass bestehende Unsicherheiten über die Kooperationstreue ande-
140 Bernhard Zangl
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rer Staaten reduziert werden – Erwartungsverlässlichkeit entsteht.


Keohane betont, dass internationale Regime beispielsweise die
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Transaktionskosten, die mit der Kontrolle der Kooperationstreue


der beteiligten Staaten verbunden sind, senken. Dazu halten inter-
nationale Regime vielfach Kontrollmechanismen bereit (Keohane
1984: 97-100). Beispielsweise werden im internationalen Regime
zur Nichtverbreitung von Atomwaffen der Internationalen Atom-
energiebehörde (IAEA) weitreichende Kontrollbefugnisse zuge-
standen, durch die sichergestellt werden soll, dass kein Staat, der
sich im Atomwaffensperrvertrag zum Atomwaffenverzicht ver-
pflichtet hat, heimlich Atomwaffen bauen kann. Dadurch wird
zum einen der Anreiz reduziert, heimlich Atomwaffen zu produ-
zieren. Denn jeder Staat muss damit rechnen erwischt zu werden,
so dass die Kooperationspartner reagieren können. Zum anderen
reduziert sich aber auch die Angst, andere Staaten könnten heim-
lich Atomwaffen entwickeln, so dass man selbst militärisch ins
Hintertreffen gerät. Die durch die Kontrollmechanismen interna-
tionaler Regime entstehende Erwartungsverlässlichkeit sichert da-
mit die internationale Kooperation ab (Keohane 1984: 92-93).
(3) Keohane unterstreicht, dass internationale Regime zumeist
verschiedene spezifische Kooperationsvereinbarungen innerhalb ei-
nes Problemfelds miteinander verknüpfen, so dass die Durchsetzung
von Kooperationsvereinbarungen in einem Bereich durch Koopera-
tionsanreize in einem anderen Bereich einfacher wird (Keohane
1984: 89-91). Beispielsweise bezieht sich die Kooperation im Rah-
men des Welthandelsregimes der WTO auf ganz unterschiedliche
Produkte. Die Kooperationspartner zu hintergehen, kann sich somit
über eine spezifische Kooperationsvereinbarung hinaus auf die Ko-
operation innerhalb des ganzen Problemfeldes auswirken. Dement-
sprechend wird ein Staat, der geneigt ist, im Agrarhandel aus der
Kooperation auszuscheren, dies beispielsweise mit Blick auf die
Konsequenzen für seinen Kraftfahrzeughandel unterlassen. Das
heißt, es sinkt der Anreiz, aus einmal getroffenen Kooperationsver-
einbarungen auszuscheren und damit auch die Angst, dass andere
aus der Kooperation ausscheren könnten. Die Verknüpfung ver-
schiedener Kooperationsvereinbarungen innerhalb eines Problem-
feldes durch internationale Regime reduziert somit die Unsicherheit
über die Kooperationstreue anderer Staaten; sie schafft damit die für
internationale Kooperation unerlässliche Erwartungsverlässlichkeit.
Regimetheorie 141
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(4) Hinzu kommt, dass internationale Regime die mit der Durch-
setzung von Kooperationsvereinbarungen verbundenen Transak-
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tionskosten auch insofern reduzieren, als sie Kooperation überhaupt


definieren. Durch internationale Regime wird zumeist genau fest-
gelegt, was internationale Kooperation beinhaltet. Weil Staaten so-
mit Kooperationsverstöße nicht mit der Unsicherheit darüber recht-
fertigen können, was internationale Kooperation von ihnen ver-
langt, wird es für sie kostspieliger aus der internationalen Koopera-
tion auszuscheren. Denn der betreffende Staat beschädigt seine Re-
putation, ein vertrauenswürdiger Kooperationspartner zu sein (Keo-
hane 1984: 103-105). Dementsprechend wird er es künftig schwe-
rer haben, Staaten zu finden, die bereit sind, sich mit ihm auch
weiterhin auf internationale Kooperation einzulassen. Ein Staat, der
beispielsweise wiederholt internationale Umweltschutzvereinba-
rungen bricht, wird es schwer haben, bei künftigen Verhandlungen
über internationale Umweltbelange als verlässlicher Kooperations-
partner betrachtet zu werden. Möglicherweise wird er nur unter be-
stimmten Bedingungen – er muss beispielsweise besondere Kon-
trollverfahren über sich ergehen lassen – als Kooperationspartner
akzeptiert. Um diese Reputationskosten zu vermeiden, sind Staaten
nach Keohane vielfach bereit, auch unliebsame oder unliebsam ge-
wordene Kooperationsverpflichtungen zu achten. Auch dies redu-
ziert bestehende Unsicherheiten, stützt die Erwartungsverlässlich-
keit und trägt somit zur internationalen Kooperation bei.

2.3 Regimebildung

Die Wirkung internationaler Regime als Kooperationskatalysato-


ren erklärt in Keohanes rationalistischer Theorie, warum Staaten
neue internationale Regime errichten bzw. bestehende internatio-
nale Regime aufrechterhalten. Der von den Staaten antizipierte Ef-
fekt internationaler Regime, gemeinsame Interessen durch inter-
nationale Kooperation besser verwirklichen zu können, erklärt,
warum die Staaten internationale Regime bilden. Die USA und die
UdSSR haben demnach beispielsweise deshalb verschiedene Rüs-
tungskontrollregime begründet, weil sie annehmen konnten, dass
diese ihnen helfen können, im beiderseitigen Interesse ihre Rüs-
tungskontrollbemühungen zu realisieren.
142 Bernhard Zangl
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Für Keohane übersetzt sich aber nicht jedes gemeinsame Inter-


esse an internationaler Kooperation in die Bildung internationaler
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Regime. Vielmehr hängt selbst dann, wenn die betreffenden Staa-


ten ein gemeinsames Interesse an internationaler Kooperation ha-
ben, die Regimebildung von vielfältigen Bedingungen ab – insbe-
sondere von der Relation von Kosten und Nutzen der Regimebil-
dung: Je geringer die Kosten der Regimebildung und -aufrechter-
haltung sind und je größer der mit einem Regime verknüpfte Nut-
zen ist, um so wahrscheinlicher ist die Regimebildung; je größer
die Kosten der Regimebildung hingegen veranschlagt werden und
je geringer der Nutzen ist, der aus einem Regime gezogen werden
kann, um so weniger ist die Regimebildung wahrscheinlich.
Diese Kosten-Nutzen-Relation wird – so Keohane – u.a. durch
die Interdependenzdichte im jeweiligen Problemfeld beeinflusst
(Keohane 1984: 79; Oye 1986). Die Interdependenzdichte be-
stimmt insbesondere den Nutzen, der den daran beteiligten Staaten
aus einem Regime erwachsen kann. Je größer die Interdependenz-
dichte, um so mehr können sie von internationaler Kooperation
profitieren und um so mehr kann durch Rückgriff auf ‚Selbsthilfe‘
verloren werden. So ist es für Staaten mit dichten Handelsbezie-
hungen viel entscheidender, diese durch ein internationales Han-
delsregime zu stabilisieren, als für Staaten, deren Handelsbezie-
hungen ohnehin kaum entwickelt sind. Das heißt, je höher die In-
terdependenzdichte ist, um so eher werden die Kosten, die mit der
Regimebildung und Regimeerhaltung verbunden sind, durch den
Nutzen des Regimes aufgewogen. Dementsprechend ist bei einer
großen Interdependenzdichte eher mit der Bildung internationaler
Regime zu rechnen als bei geringer Interdependenzdichte (zu In-
terdependenz vgl. ausführlich den Beitrag von Manuela Spindler
in diesem Band).
Die Kosten-Nutzen-Relation wird nach Keohane darüber hinaus
auch durch die Anzahl der Staaten im jeweiligen Problemfeld be-
stimmt (Keohane 1984: 78-79; Oye 1986). Die Anzahl der Staaten
beeinflusst insbesondere die Kostenseite der Regimebildung. Je
mehr Staaten an einem Regime beteiligt sind, umso schwerer ist
es, Kooperation dezentral durchzusetzen. Während bei einer gerin-
gen Anzahl von Staaten eine wechselseitige Kontrolle ihrer Ko-
operationstreue zumeist relativ einfach zu bewerkstelligen ist, ist
die Kooperationstreue bei einer hohen Anzahl von Staaten nur
Regimetheorie 143
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schwer wirksam zu kontrollieren, u.a. deshalb, weil Kooperations-


verstöße viel schwerer zu identifizieren sind. Kooperation ist bei
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einer großen Anzahl von Staaten somit darauf angewiesen, dass


wirksame Kontrollmechanismen in das angestrebte internationale
Regime ‚eingebaut‘ werden. Diese erzeugen aber zusätzliche Kos-
ten, die den mit dem Regime verbundenen Nutzen wieder aufhe-
ben können. Dementsprechend wird die Regimebildung durch eine
große Anzahl von Staaten allein aufgrund dieses Kontrollproblems
behindert. Hinzu kommt, dass bei einer großen Anzahl miteinan-
der kooperierender Staaten die Tendenz besteht, die mit der Sank-
tionierung von Kooperationsverstößen verbundenen Sanktionskos-
ten auf andere Staaten abzuwälzen. Versuchen aber alle Staaten,
die Sanktionskosten auf die übrigen Staaten abzuwälzen, dann
bleiben Kooperationsverstöße gänzlich ungeahndet. Um interna-
tionale Kooperation möglich zu machen, müssen deshalb für inter-
nationale Regime, die die Kooperation einer großen Anzahl von
Staaten ermöglichen sollen, oft besonders wirksame Sanktionsme-
chanismen ausgehandelt werden. Erneut entstehen zusätzliche Kos-
ten, die dazu beitragen können, dass die Regimebildung ganz un-
terbleibt (Axelrod/Keohane 1986: 234-237).
Weiterhin betont Keohane, dass die Machtverteilung im betref-
fenden Problemfeld die Bildung internationaler Regime beeinflus-
sen kann (Keohane 1984: 31-46). Eine hegemoniale Machtvertei-
lung wird zwar in Problemfeldern, in denen Staaten ein gemein-
sames Interesse an internationaler Kooperation haben, für die Re-
gimebildung weder als notwendig noch hinreichend erachtet, doch
ist sie nach Keohane der Regimebildung und -erhaltung zuträglich.
Schließlich stellt sich für eine hegemoniale Macht wie die USA
die mit der Regimebildung verbundene Kosten-Nutzen-Kalkula-
tion gänzlich anders dar als für weniger mächtige Staaten. Wäh-
rend der Nutzen der Kooperation für weniger mächtige Staaten
zumeist nicht so groß ist, dass er die Kosten der Regimebildung
gänzlich aufwiegt, kann für mächtige Staaten, die in einem Pro-
blemfeld eine Hegemonialstellung einnehmen, der Nutzen der Ko-
operation so groß sein, dass es für sie profitabel ist, die Kosten der
Regimebildung ganz alleine zu tragen. Der Nutzen des auf das
GATT gestützten internationalen Handelsregimes beispielsweise
war für die USA in den 1950er und 1960er Jahren so überragend,
dass sie die Kosten der Regimebildung und -erhaltung alleine tra-
144 Bernhard Zangl
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gen konnten. Da die USA dazu auch bereit waren, verschob sich
die Kosten-Nutzen-Relation für die übrigen Staaten, so dass die
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Regimebildung relativ reibungslos erfolgen konnte.


Insgesamt hat Keohane eine umfassende – rationalistische (oder
„interessen-basierte“) Theorie internationaler Regime vorgelegt.
Diese erklärt einerseits mit Hilfe der Wirkung, die internationale
Regime für die Transaktionskosten internationaler Kooperation ha-
ben, warum internationale Regime internationale Kooperation be-
günstigen können. Dadurch wird andererseits verständlich, warum
Staaten internationale Regime ausbilden und aufrechterhalten. Die
besondere Überzeugungskraft seiner Theorie dürfte aber darin lie-
gen zu zeigen, dass sich internationale Kooperation nicht nur auf
idealistische Prämissen über internationale Politik gestützt erklä-
ren lässt, sondern auch auf der Basis der eher pessimistischen neo-
realistischen Prämissen über internationale Politik. Dadurch macht
Keohane deutlich, dass internationale Kooperation nicht nur bei
‚Schönwetter‘ in der internationalen Politik funktioniert, sondern
auch bei ‚Eis und Kälte‘ gelingen kann.

3. Die Weiterentwicklung der Regimetheorie


Die Regimetheorie in der Formulierung von Keohane hat in den
1980er Jahren in den Internationalen Beziehungen verschiedene
theoretisch fruchtbare Debatten über die Bildung und die Wirkung
internationaler Regime ausgelöst. Diese Debatten basieren auf ver-
schiedenen – von Keohane abzugrenzenden – Regimeansätzen, von
denen die wichtigsten hier im Überblick dargestellt werden sollen:
(1) die Theorie hegemonialer Stabilität, (2) der situationsstrukturelle
Ansatz, (3) der Zwei-Ebenen-Ansatz, (4) der problemstrukturelle
Ansatz und (5) Ansätze zu epistemischen Gemeinschaften.
(1) Die Regimetheorie von Keohane grenzt sich gegen die neo-
realistisch geprägte Theorie hegemonialer Stabilität ab. Dabei
kann die Theorie hegemonialer Stabilität durchaus selbst als eine
Form von Regimetheorie verstanden werden. Letztlich besagt sie,
dass die Bildung – und auch der Bestand – internationaler Regime
von den internationalen Machtstrukturen in dem betreffenden Pro-
blemfeld der internationalen Politik abhängt (Kindleberger 1976;
Regimetheorie 145
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Krasner 1976). Internationale Regime können in dieser Perspekti-


ve nur dann entstehen, wenn eine hegemoniale Macht existiert, die
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fähig und willens ist, ein internationales Regime zu begründen und


die entsprechenden Regimenormen gegenüber anderen Staaten
durchzusetzen. Sie besagt weiter, dass internationale Regime nur
solange aufrechterhalten werden können, wie der Hegemon seine
herausgehobene Machtposition verteidigen kann. Verliert er seine
hegemoniale Machtposition, so werden auch die von ihm gegrün-
deten internationalen Regime zerfallen. Die Theorie hegemonialer
Stabilität misst damit internationalen Regimen zwar keine eigen-
ständige Wirkung bei – sie betrachtet sie vielmehr als Epiphänome
–, gleichwohl kann sie beanspruchen, zumindest die Bildung inter-
nationaler Regime analysieren zu können.
(2) Mit dem situationsstrukturellen – oder auch spieltheoreti-
schen – Ansatz wurde die neoinstitutionalistisch argumentierende
Regimetheorie von Keohane weiterentwickelt und verfeinert. Da-
nach wird die Konzentration auf das Gefangenendilemma als der
(einzigen) Interessenkonstellation, aus der in Problemfeldern in-
ternationaler Politik internationale Regime erwachsen können, auf-
gegeben. Stattdessen wird betont, dass die Bildung internationaler
Regime in allen Interessenkonstellationen möglich ist, in denen
sich ein gemeinsames Interesse an Kooperation mit einem jeweils
einseitigen Interesse, aus der Kooperation auszuscheren, überla-
gern (Stein 1983; Snidal 1986; Zürn 1992). Darüber hinaus wer-
den auf die Spieltheorie gestützt verschiedene dieser so genannten
problematischen Interessenkonstellationen unterschieden, die mit
je unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit die Bildung internationa-
ler Regime zulassen. So wird insbesondere zwischen Interessen-
konstellationen, die einem Koordinationsspiel entsprechen, und
solchen, die eher einem Dilemmaspiel gleichkommen, differen-
ziert. Dilemmaspiele zeichnen sich gegenüber Koordinationsspie-
len dadurch aus, dass für alle beteiligten Staaten zum einen stets
der Anreiz besteht, selbst aus einer bereits bestehenden Koopera-
tion auszuscheren, und zum anderen alle Staaten Angst haben
müssen, aufgrund ihrer Kooperation von anderen Staaten hinter-
gangen zu werden. Dies macht aus der Sicht des situationsstruk-
turellen Ansatzes die Regimebildung vergleichsweise unwahrschein-
lich. In Koordinationsspielen hingegen besteht für die beteiligten
Staaten kein Anreiz, aus einer einmal erreichten Kooperation wieder
146 Bernhard Zangl
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auszuscheren und demzufolge ist auch die Angst gering, dass die
Kooperationspartner ‚schummeln‘. Doch hier wird die Regimebil-
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dung zumeist behindert, weil die Staaten unterschiedliche Koopera-


tionsvereinbarungen präferieren. Trotzdem hält der situationsstruktu-
relle Ansatz die Bildung internationaler Regime für vergleichsweise
wahrscheinlicher als bei Dilemmaspielen.
(3) Der so genannte Zwei-Ebenen-Ansatz versucht die neoin-
stitutionalistische Regimetheorie von Keohane noch weiter zu ver-
feinern. So werden hier nicht nur verschiedene Interessenkonstel-
lationen zwischen Staaten, sondern auch verschiedene Interessen-
konstellationen innerhalb von Staaten unterschieden, um die Wahr-
scheinlichkeit der Bildung internationaler Regime noch genauer
abschätzen zu können (Zangl 1994, 1999; Moravcsik 1993; vgl.
auch den Beitrag von Siegfried Schieder in diesem Band). Der
Grundgedanke ist, dass in jedem Problemfeld der internationalen
Politik die Bildung internationaler Regime durch das Zusammen-
spiel von Interessen zwischen und innerhalb von Staaten bestimmt
wird. Demnach müssen bei der Regimebildung die beteiligten
Staatsmänner und Staatsfrauen ein und denselben Schachzug zu-
gleich an zwei Schachbrettern durchführen. Das heißt, sie verhan-
deln bei der Regimebildung nicht nur auf der Grundlage ihrer In-
teressen nach außen mit anderen Staaten, sondern sie müssen zu-
gleich nach innen verhandeln, um zu sichern, dass das avisierte
Regime mit zentralen gesellschaftlichen Interessen vereinbar ist.
Die Wahrscheinlichkeit der Regimebildung hängt dem Zwei-Ebe-
nen-Ansatz folgend also nicht nur davon ab, dass die Interessen
der beteiligten Staaten kompatibel sind, sondern auch davon, dass
dem Regime in den beteiligten Staaten keine gesellschaftlichen In-
teressen fundamental entgegenstehen. Dementsprechend kann –
grob gesprochen – die Regimebildung zwar einerseits durch wi-
derstreitende gesellschaftliche Interessen behindert, aber anderer-
seits auch durch auf eine Regimebildung drängende gesellschaftli-
che Interessen begünstigt werden.
(4) Der problemstrukturelle Ansatz bringt gegenüber der Regime-
theorie von Keohane eine Akzentverschiebung mit sich. Der Ansatz
betont, dass internationale Regime vor allem zur Bearbeitung von
Konflikten begründet werden. Als Konflikt gilt dabei nicht ein spe-
zifisches Interaktionsverhalten, bei dem Staaten sich wechselseitig
schädigen. Als Konflikt werden vielmehr unvereinbare Positionsdif-
Regimetheorie 147
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ferenzen – bzw. nur partiell vereinbare Interessen – konzeptualisiert.


Staaten bilden danach internationale Regime, um Konflikte im bei-
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derseitigen Interesse kooperativ bearbeiten zu können. Regime sind


danach Instrumente kooperativer Konfliktbearbeitung. Der Grund-
gedanke des problemstrukturellen Ansatzes ist nun, dass je nach vor-
herrschendem Konfliktgegenstand in dem betrachteten Problemfeld
der internationalen Politik die Wahrscheinlichkeit der Regimebil-
dung variiert (Rittberger/Zürn 1990). Bei Wertekonflikten – also bei
Konflikten, in denen die Staaten bezogen auf einen bestimmten
Konfliktgegenstand nicht einmal gemeinsame Ziele benennen kön-
nen – gilt sie als besonders gering. Bei Mittelkonflikten hingegen
wird die Wahrscheinlichkeit der Regimebildung als besser einge-
schätzt, weil in Bezug auf den jeweiligen Konfliktgegenstand nur
die Mittel zum Erreichen der Ziele, nicht aber die Ziele selbst um-
stritten sind. Bei Interessenkonflikten hängt die Wahrscheinlichkeit
der Regimebildung davon ab, wie der jeweilige Konfliktgegenstand
bewertet wird: Wird er relativ dazu bewertet, welchen Anteil am
Konfliktgegenstand andere Staaten auf sich vereinen, so ist die
Wahrscheinlichkeit annähernd so gering wie bei Wertekonflikten;
wird er dagegen insofern absolut bewertet, als sich jeder Staat nur
darum kümmert, einen möglichst großen Anteil des Konfliktgegen-
standes zu erhalten (es ihm aber egal ist, wie viel der jeweils Andere
davon erhält), so gilt die Wahrscheinlichkeit der Regimebildung als
besonders groß – noch größer als bei Mittelkonflikten.
(5) Ansätze zu epistemischen Gemeinschaften setzen sich deut-
lich von Keohanes Regimetheorie ab. In diesen Perspektiven hängt
die Bildung internationaler Regime insbesondere von der „Wis-
sensverteilung“ in dem jeweils betrachteten Problemfeld der inter-
nationalen Politik ab. Ist das Wissen über die Ursachen von be-
stimmten Problemen und die Wirkungen bestimmter Problemlö-
sungsmöglichkeiten konsensual, so wird die Wahrscheinlichkeit,
dass Bestrebungen zur Bildung eines internationalen Regimes Er-
folg beschieden sein wird, groß. Ist das Wissen über die Ursache-
Wirkung-Zusammenhänge in einem Problemfeld der internatio-
nalen Politik hingegen nicht konsensual, so wird diese Wahr-
scheinlichkeit als gering eingeschätzt. Die Entwicklung internatio-
naler Regime hängt dementsprechend von der Existenz so ge-
nannter epistemischer Gemeinschaften ab. Epistemische Gemein-
schaften setzen sich aus Experten zusammen, die hinsichtlich der
148 Bernhard Zangl
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Ursache-Wirkung-Zusammenhänge in einem bestimmten Pro-


blemfeld über konsensuales Wissen verfügen (Haas 1989, 1990,
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1992). Ihre Bedeutung für die Entwicklung internationaler Regime


wird insbesondere in den Problemfeldern als hoch eingeschätzt, in
denen aufgrund eines hohen Maßes an Komplexität die Ursachen
der Probleme sowie die Wirkung bestimmter Problemlösungs-
möglichkeiten nur schwer zu bemessen sind.

4. Kritik
Die Regimetheorie, nicht nur von Keohane, sondern auch in ihren
vielschichtigen Erweiterungen und Ergänzungen, hat aus zwei
ganz unterschiedlichen Lagern Kritik auf sich gezogen: Zum einen
sah sie sich seit den späten 1980er Jahren zunehmend der Kritik
aus dem neorealistischen Lager ausgesetzt und zum anderen muss-
te sie seit den frühen 1990er Jahren vermehrt Kritik aus dem sich
formierenden sozialkonstruktivistischen Lager einstecken.
Die neorealistische Kritik wurde von Grieco (1988, 1990) beson-
ders pointiert vorgetragen (auch Mearsheimer 1994/95). Grieco be-
hauptet, die Regimetheorie habe nicht überzeugend gezeigt, dass
man auf der Grundlage realistischer bzw. neorealistischer Prämissen
über internationale Politik funktionalistische bzw. institutionalisti-
sche Aussagen über internationale Kooperation stützen kann. Die
Regimetheorie habe insbesondere die Bedeutung der anarchischen
Strukturen in der internationalen Politik verkannt. Grieco argumen-
tiert, dass aus den anarchischen Strukturen in der internationalen
Politik zwei zentrale Kooperationshindernisse erwachsen, von denen
die Regimetheorie zwar das eine, nicht aber das andere hinreichend
beachte. Für die Regimetheorie bestehe in anarchischen Strukturen
das zentrale Kooperationsproblem darin, dass Kooperationsverein-
barungen nicht zentral durchgesetzt werden können, so dass ein
Vertrauensproblem entsteht. Doch die Regimetheorie übersehe, dass
in anarchischen Strukturen das Verteilungsproblem ein erheblich
weiterreichenderes Kooperationshindernis darstellt (so auch Krasner
1991). Die Regimetheorie unterschätze das Verteilungsproblem,
weil sie davon ausgehe, dass Staaten in den anarchischen Strukturen
der internationalen Politik als Egoisten handeln, d.h. versuchen, un-
Regimetheorie 149
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abhängig von den Kooperationsgewinnen anderer Staaten ihre Ko-


operationsgewinne absolut zu mehren. Die anarchischen Strukturen
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zwängen die Staaten aber – so Grieco – als ‚Neider‘ zu handeln, d.h.


relative Kooperationsgewinne anderer Staaten zu verhindern. Da in
den anarchischen Strukturen jeder Staat für seine eigene Sicherheit
sorgen müsse, könnten es sich Staaten nicht erlauben, nur auf abso-
lute Kooperationsgewinne zu achten. Staaten könnten nicht nur fra-
gen: „will both of us gain?“. Vielmehr müssten sie darauf achten, re-
lative Kooperationsgewinne anderer Staaten unbedingt zu verhin-
dern. Sie müssten sich fragen: „who will gain more?“, denn ange-
sichts der Sicherheitsproblematik in anarchischen Strukturen kann
der Kooperationspartner von heute der Kriegsgegner von morgen
sein. Dem Kooperationspartner relative Kooperationsgewinne zuzu-
gestehen, um absolute Kooperationsgewinne einzustreichen, könne
sich somit als ernsthaftes Sicherheitsrisiko darstellen. Da Staaten
dementsprechend nicht nur auf absolute, sondern auch auf relative
Kooperationsgewinne achten müssten, sei durch internationale Regi-
me gestützte dauerhafte Kooperation insgesamt sehr unwahrschein-
lich. Internationale Regime könnten letztlich nur dann erfolgreich
sein, wenn die Kooperationsgewinne unter den beteiligten Staaten
gleichmäßig verteilt werden könnten.9
Der grundlegende sozialkonstruktivistische Kritikpunkt an der
Regimetheorie besteht in dem Vorwurf, dass diese die Interessen
und Identitäten von Staaten als gegeben voraussetzt.10 Danach be-
gegnen sich Staaten mit ihren vorgefertigten Interessen und Iden-
titäten, um miteinander in – durch internationale Regime gestützte
– Kooperationsbeziehungen zu treten. Die internationalen Regime
selbst werden von den Staaten nur instrumentell eingesetzt, um ih-
re Interessen zu verwirklichen. Die Regimetheorie übersehe dabei
– so haben beispielsweise Hurrell (1993) und Wendt (1992, 1999)
kritisiert –, dass internationale Regime nicht nur die Interessen von
Staaten reflektieren, sondern ihrerseits die Interessen von Staaten

9 Für die entsprechende Debatte vgl. u.a. Powell 1991, Snidal 1993, Baldwin
1993 sowie Keohane/Martin 1995. Für eine etwas anders gelagerte neorealisti-
sche Kritik an der Regimetheorie siehe Krasner 1991 und 1993. Er bemängelt,
dass die Regimetheorie die Machtverhältnisse in der internationalen Politik un-
terbelichtet.
10 Für die sozialkonstruktivistische Kritik vgl. u.a. Hurrell 1993, Müller 1994,
Wendt 1992 und 1999, Risse 2000.
150 Bernhard Zangl
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prägen – also auch verändern – können. Internationale Regime


würden, wie soziale Institutionen ganz allgemein, nicht nur von
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Staaten mit vorgegebenen Interessen instrumentell eingesetzt, um


ihre Interessen besser verwirklichen zu können, sondern Regime
wären wie jede soziale Institution für die Interessen der beteiligten
Staaten konstitutiv. Diese konstitutive Institutionenwirkung werde
von der Regimethorie insbesondere deshalb übersehen, weil sie
davon ausgeht, dass Staaten stets rational handelnd ihre eigenen
Interessen verfolgen. Dabei spielten – so haben unter anderem
Müller (1993, 1994) und Risse (2000) argumentiert – neben dem
rationalen, an den eigenen Interessen orientierten Handeln auch
argumentative, stärker durch Regimenormen geprägte Handlungs-
weisen eine bedeutsame Rolle (kommunikatives bzw. verständi-
gungsorientiertes Handeln). Staaten versuchten nicht immer, le-
diglich ihre Interessen rational durchzusetzen, sondern ließen sich
vielfach darauf ein, gemeinsam mit anderen Staaten argumentativ
ausfindig zu machen, welche Interessen sie aufgrund der in inter-
nationalen Regimen verankerten Normen verfolgen sollen. Die
Staaten handeln mithin nicht immer auf der Grundlage vorgegebe-
ner Interessen, sondern gerade innerhalb von internationalen Re-
gimen werden ihre Interessen selbst Gegenstand des Handelns.11
Da sie diese Handlungsweisen ausblende, unterschätze die Regime-
forschung die Wirkung internationaler Regime erheblich.
Die Regimetheorie hat sich sowohl mit der neorealistischen als
auch der sozialkonstruktivistischen Kritik intensiv auseinanderge-
setzt. Die neorealistische Kritik wurde seitens der Regimetheorie
weitgehend zurückgewiesen. Die Orientierung auf relative Koopera-
tionsgewinne behindere internationale Kooperation nur in bilatera-
len, nicht aber in multilateralen Kontexten. Hier muss sich jeder
Staat fragen, ob er durch einen Kooperationsverzicht gegenüber den-
jenigen Staaten, die miteinander Kooperationsbeziehungen einge-
hen, nicht nur absolut, sondern insbesondere auch relativ geschwächt
wird. Um diese relativen Kooperationsgewinne anderer Staaten zu
verhindern, kann er sich demnach sogar gezwungen sehen, an der
Kooperation selbst dann teilzunehmen, wenn dabei einzelne Staaten

11 Für die entsprechende Debatte über einen angemessenen Handlungsbegriff sie-


he u.a. Müller 1994, Keck 1995, Risse-Kappen 1995, Zangl/Zürn 1996 und
Schimmelfennig 1997.
Regimetheorie 151
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relativ größere Kooperationsgewinne erzielen (Snidal 1993). Die so-


zialkonstruktivistische Kritik hat die Regimetheorie dagegen verän-
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dert. Die Regimetheorie hat sich in den 1990er Jahren sukzessive


davon gelöst, anzunehmen, dass Staaten ausschließlich an gegebe-
nen Interessen orientiert handeln. Dementsprechend geht die Regi-
meforschung heute auch davon aus, dass internationale Regime nicht
nur von Staaten instrumentell eingesetzt werden, um ihre vorgegebe-
nen Interessen besser zu verwirklichen, sondern dass internationale
Regime für die Interessen der beteiligten Staaten konstitutiv sein
können. Beispielsweise wird in der neueren Regimeforschung weit-
gehend akzeptiert, dass sich die Interessen von Staaten durch argu-
mentatives Handeln – begünstigt durch internationale Regime –
wandeln können (Zangl/Zürn 1996, 1999). Die Regimetheorie ist
somit nicht mehr auf die von Keohane geprägte rationalistische For-
mulierung beschränkt, sondern besitzt heute auch eine stärker kon-
struktivistisch orientierte Variante.
Dazu kommt, dass der Institutionalismus, dem die Regimetheorie
zuzuordnen ist, in den späten 1990er Jahren den Fokus auf interna-
tionale Regime hinter sich gelassen hat, um auch andere internatio-
nale Institutionen in den Blick zu nehmen. Dabei wird vermehrt
auch das Design internationaler Institutionen untersucht. Dies ist
durch die Vermutung begründet, dass nicht jede Institution unab-
hängig von ihrem Design gleichermaßen wirksam ist. Deshalb wird
hier insbesondere untersucht, welche Unterschiede im Design inter-
nationaler Institutionen Unterschiede in ihrer Wirksamkeit begrün-
den (Koremenos et al. 2001). Dabei trifft sich diese Forschung zum
Design internationaler Institutionen letztlich auch mit der Forschung
zu Global Governance, welche allerdings den für die Regimetheorie
noch konstitutiven Fokus auf zwischenstaatliche Institutionen über-
windet und sich u.a. privaten Regimen zuwendet (Cutler et al. 1999).
152 Bernhard Zangl
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Neofunktionalismus
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Thomas Conzelmann

1. Einleitung
(Neo-)Funktionalistische Ansätze sind innerhalb der Disziplin der
Internationalen Beziehungen den Großtheorien des Liberalismus
bzw. des Idealismus zuzuordnen. Liberal sind der Funktionalismus
und seine neo-funktionalistische Fortentwicklung, weil sie als
wichtigste Triebkraft der Politik und zugleich als normatives Leit-
bild die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Interes-
sen ausmachen. Der idealistische Aspekt liegt darin, dass die ein-
schlägigen Autoren von der Überwindbarkeit aggressiv-egoisti-
scher Verhaltensweisen in der Staatenwelt ausgehen und die Suche
nach Wegen zu einer friedlichen Welt zu ihrem zentralen Anliegen
machen.1
Der zeithistorische Hintergrund funktionalistischer und neo-
funktionalistischer Ansätze ist die Erfahrung zweier Weltkriege
und das Scheitern des Völkerbunds in der Zwischenkriegszeit.2 Aus
diesen Erfahrungen zogen funktionalistische Autoren die Lehre,
dass friedenssichernde internationale Kooperation nicht ‚von oben‘
durch einen politischen Entschluss der Staaten herbeigeführt wer-

1 Ausführlich zur Einordnung in die Ideengeschichte und in die Theorieansätze


der Internationalen Beziehungen Meyers 1997: 403-424. Zur Einordnung des
Neofunktionalismus in die – vor allem am Beispiel der Europäischen Gemein-
schaft (EG) entwickelten – Integrationstheorien siehe Rosamond 2000, Faber
2005 und Niemann/Schmitter 2009.
2 Der Völkerbund, 1919 als zwischenstaatliche Reaktion auf die Ereignisse des
Ersten Weltkrieges gegründet, hatte die Bewahrung des internationalen Friedens
und die Schaffung eines kollektiv getragenen internationalen Sicherheitssystems
zum Ziel. Er trug zwar in einigen Fällen zum verregelten Austrag von Konflik-
ten bei, blieb aber gegenüber der aggressiven und expansionistischen Politik Ja-
pans, Italiens und Deutschlands ab Beginn der 1930er Jahre letztlich wirkungs-
los (Craig/George 1995: Kap. 6 und 7).
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Neofunktionalismus
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Thomas Conzelmann

1. Einleitung
(Neo-)Funktionalistische Ansätze sind innerhalb der Disziplin der
Internationalen Beziehungen den Großtheorien des Liberalismus
bzw. des Idealismus zuzuordnen. Liberal sind der Funktionalismus
und seine neo-funktionalistische Fortentwicklung, weil sie als
wichtigste Triebkraft der Politik und zugleich als normatives Leit-
bild die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Interes-
sen ausmachen. Der idealistische Aspekt liegt darin, dass die ein-
schlägigen Autoren von der Überwindbarkeit aggressiv-egoisti-
scher Verhaltensweisen in der Staatenwelt ausgehen und die Suche
nach Wegen zu einer friedlichen Welt zu ihrem zentralen Anliegen
machen.1
Der zeithistorische Hintergrund funktionalistischer und neo-
funktionalistischer Ansätze ist die Erfahrung zweier Weltkriege
und das Scheitern des Völkerbunds in der Zwischenkriegszeit.2 Aus
diesen Erfahrungen zogen funktionalistische Autoren die Lehre,
dass friedenssichernde internationale Kooperation nicht ‚von oben‘
durch einen politischen Entschluss der Staaten herbeigeführt wer-

1 Ausführlich zur Einordnung in die Ideengeschichte und in die Theorieansätze


der Internationalen Beziehungen Meyers 1997: 403-424. Zur Einordnung des
Neofunktionalismus in die – vor allem am Beispiel der Europäischen Gemein-
schaft (EG) entwickelten – Integrationstheorien siehe Rosamond 2000, Faber
2005 und Niemann/Schmitter 2009.
2 Der Völkerbund, 1919 als zwischenstaatliche Reaktion auf die Ereignisse des
Ersten Weltkrieges gegründet, hatte die Bewahrung des internationalen Friedens
und die Schaffung eines kollektiv getragenen internationalen Sicherheitssystems
zum Ziel. Er trug zwar in einigen Fällen zum verregelten Austrag von Konflik-
ten bei, blieb aber gegenüber der aggressiven und expansionistischen Politik Ja-
pans, Italiens und Deutschlands ab Beginn der 1930er Jahre letztlich wirkungs-
los (Craig/George 1995: Kap. 6 und 7).
158 Thomas Conzelmann
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den könne, sondern ‚von unten‘ aus der grenzüberschreitenden


Zusammenarbeit auf spezifischen Sachgebieten entstehen müsse.
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Anstelle der Stärkung internationaler oder supranationaler Autori-


tät und der Einbindung der Staaten in einen übergreifenden Ord-
nungsrahmen wurde die Abschwächung und schließlich die Über-
windung der staatlichen Grenzen zum zentralen Ziel. Dies sollte
durch eine sich schrittweise ausdehnende, unpolitische und strikt
am Kriterium der Sachgerechtigkeit orientierte Zusammenarbeit
auf einzelnen Problemfeldern geschehen. Der Anreiz zur zwischen-
staatlichen Kooperation besteht für Funktionalisten in der wech-
selseitigen Abhängigkeit der einzelnen Staaten. Der friedenspoliti-
sche Impuls entsteht dann aus den konkreten Kooperationserfah-
rungen und der sich allmählich verbreitenden Überzeugung von
der sachlichen Überlegenheit grenzüberschreitender Zusammenar-
beit. Die institutionelle Form der Zusammenarbeit habe sich dabei
an den konkreten Erfordernissen des jeweiligen Sachbereichs zu
orientieren – und nicht an politischen Entwürfen der Staatsmänner:
„Form follows function“ – mit diesem auch in der zeitgenössi-
schen Architektur- und Designtheorie verwendeten Leitsatz ist der
Funktionalismus bekannt geworden.
In der politischen und akademischen Diskussion im Nachkriegs-
europa zogen funktionalistische Konzepte große Aufmerksamkeit
auf sich. Zum einen ist dies der häufig unterstellten (allerdings nur
bei vordergründiger Betrachtung bestehenden) Affinität der ersten
europäischen Integrationsschritte zu funktionalistischem Gedan-
kengut geschuldet.3 Zum anderen erfolgten die wissenschaftliche
Kritik und die spätere ‚neofunktionalistische‘ Fortentwicklung des
Funktionalismus vor allem vor dem Hintergrund des (west-)euro-
päischen Integrationsprozesses. Als zentraler ‚Referenztheoreti-
ker‘ ist dabei der 1924 in Frankfurt geborene und 2003 in Berke-

3 Diese Affinität besteht insbesondere in der im so genannten Schuman-Plan von


1950 und in der Präambel des Gründungsvertrags der Europäischen Gemeinschaft
für Kohle und Stahl (EGKS) zum Ausdruck gebrachten Erwartung, dass den an-
fänglich begrenzten Integrationsschritten aufgrund der durch sie geschaffenen „tat-
sächlichen Verbundenheit“ bald weitere Integrationsschritte folgen würden. Aller-
dings widerspricht die Europäische Gemeinschaft einem zentralen Credo funktio-
nalistischen Gedankenguts, indem sie die alte territoriale Logik des Nationalstaats
auf einer supranationalen Ebene reproduziert und die Reichweite der Kooperation
gerade nicht an der bestmöglichen Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse ori-
entiert. Siehe dazu Abschnitt 2.1.
Neofunktionalismus 159
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ley verstorbene deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Ernst


B. Haas zu nennen (Haas 1961, 1964, 1968,4 1970, 1975, 2001,
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2004). Seine Beiträge sind bis heute ein zentraler Bezugspunkt


theoretischer Diskussionen in der politikwissenschaftlichen Euro-
paforschung (Rosamond 2005, Ruggie et al. 2005).5 Dies ist nicht
allein in der lange anhaltenden Auseinandersetzung mit dem Inter-
gouvernementalismus6 als wichtigstem theoretischem Gegenpart
des Neofunktionalismus begründet. Auch hat Haas ein theoretisch
stringentes Konzept entwickelt, dessen Leistungsfähigkeit in der
klaren Darlegung von kausalen Zusammenhängen und der Mög-
lichkeit zur Hypothesenbildung liegt. Auf diese Weise wurde eine
bis heute ungeheuer fruchtbare Theoriediskussion ermöglicht.
Dieses Kapitel konzentriert sich auf den Neofunktionalismus als
wissenschaftliche Integrationstheorie und veranschaulicht seine
Fortentwicklung in der Auseinandersetzung mit dem europäischen
Integrationsprozess. Im Zentrum stehen neben den Beiträgen von
Ernst Haas auch andere neofunktionalistische Autoren wie Leon N.
Lindberg, Joseph S. Nye, Stuart A. Scheingold und Philippe C.
Schmitter. Das Neue und Originelle der neofunktionalistischen Kon-
zeption lässt sich jedoch nur dann würdigen, wenn in der gebotenen
Kürze auch das Fundament betrachtet wird, auf dem Haas aufbaut –
nämlich der vor allem durch David Mitrany (1933, 1966) formulierte
eigentliche Funktionalismus (Abschnitt 2.1). In den folgenden Ab-
schnitten wird dann auf zentrale Bausteine der neofunktionalistischen
Theoriediskussion eingegangen (Abschnitt 2.2) und deren Entwick-
lung in jüngerer Zeit vorgestellt (Abschnitte 2.3 und 3). Der Beitrag
schließt mit einer Diskussion der Kritik am Neofunktionalismus
(Abschnitt 4).

4 Das zentrale Werk The Uniting of Europe von Haas wurde erstmals 1958 veröf-
fentlicht. Im folgenden Text beziehe ich mich ausnahmslos auf die zweite Auf-
lage von 1968, die auch eine sehr lehrreiche Auseinandersetzung von Haas mit
der ursprünglichen Formulierung des Neofunktionalismus enthält. The Uniting
of Europe ist inzwischen in 3. Auflage (2004) mit einem neuen Vorwort von
Haas erschienen (Haas 2004).
5 Vgl. auch das Sonderheft des Journal of European Public Policy: „The Disparity
of European Integration: Revisiting Neofunctionalism in Honour of Ernst Haas“
(12: 2 von 2005).
6 Siehe hierzu den Beitrag von Siegfried Schieder in diesem Band.
160 Thomas Conzelmann
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2. Die neofunktionalistische Theorie regionaler


Integration von Ernst B. Haas
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2.1 Ausgangspunkt: Der Funktionalismus von David


Mitrany

Auch wenn die funktionalistische Diskussion in der ersten Hälfte


des 20. Jahrhunderts breit ausgefächert war, so ist doch David Mi-
trany der „unangefochten wichtigste Theoretiker funktionalisti-
scher Friedensprogrammatik“ (Senghaas-Knobloch 1969: 15-16).7
Sein Kernargument lautete, dass die Erfüllung gesellschaftlicher
Bedürfnisse – für Mitrany der zentrale normative Maßstab – durch
die staatliche Ordnung behindert werde. Zum einen sei die Bear-
beitung grenzüberschreitender Probleme in einer territorial zer-
splitterten Welt nur bedingt möglich. Zum anderen verbinde sich
mit dem Nationalstaat eine kompetitive und auf gegenseitige Ab-
grenzung gerichtete zwischenstaatliche Ordnung, in der die Bear-
beitung von Interdependenz8 erschwert werde. Nur eine „unpoliti-
sche“ (am Kriterium der Sachgerechtigkeit ausgerichtete) grenz-
überschreitende Zusammenarbeit von Fachleuten erlaube es, die
durch technischen Fortschritt möglich gewordenen Wohlfahrtsge-
winne auch realisieren zu können. Das Ziel müsse es somit sein,
die „politische“ Bearbeitung von Sachfragen im Rahmen territorial
abgegrenzter Einheiten zugunsten aufgabenbezogener („funktio-
naler“) grenzüberschreitender Kooperation in den Hintergrund zu
drängen. Es geht dabei nicht nur um eine andere Form der interna-
tionalen Zusammenarbeit, sondern auch um eine Konzentration
auf für die Bevölkerung wirklich relevante Fragen wie die Be-
kämpfung von Hunger, Krankheit und Analphabetismus. Im Ge-
genzug müssten Fragen der nationalen Sicherheitspolitik und mi-
litärischen Rüstung in den Hintergrund treten. Die Essenz dieses
Vorschlags drückt sich in einem Wortspiel im Titel von Mitranys

7 Weitere wichtige Funktionalisten sind George D. H. Cole und Pittman Porter. Zur
zeithistorischen Einordnung siehe Rosamond 2000: 31-32.
8 D.h. wechselseitiger Abhängigkeit. Mitrany verwendete den Interdependenzbe-
griff bereits 1933, also rund 40 Jahre bevor er ins Zentrum der Theoriediskussi-
on der Internationalen Beziehungen rückte. Vgl. hierzu den Beitrag von Ma-
nuela Spindler in diesem Band.
Neofunktionalismus 161
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berühmtem Essay A Working Peace System von 1943 aus. „Wor-


king“ steht dabei nicht allein für „funktionierend“, sondern auch
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für „auf (Zusammen-)Arbeit begründet“. Diese Idee wird von Mit-


rany dem auf Abgrenzung, Abschreckung und den schwachen
Stützen des Völkerrechts begründeten Frieden gegenübergestellt
(„protected peace“):
“The task that is facing us is how to build up the reality of a common
interest in peace. But with a revolutionary element (...) that also de-
mands a new sense of peace: not a peace that would keep the nations
quietly apart but a peace that would bring them actively together, not
the old static and strategic view but a social view of peace. Or one
might say that we must put our faith not in a protected peace but in a
working peace; it would indeed be nothing more nor less than the idea
and aspiration of social security taken in its widest range.”9
Zum konkreten Ansatzpunkt für das funktionalistische Friedens-
konzept werden damit alltägliche und für eine „unpolitische“ Be-
arbeitung geeignete Fragen wie die Regulierung bestimmter Sekto-
ren der Wirtschaft oder die gemeinsame Erledigung grenzüber-
schreitender Aufgaben (z.B. das internationale Postwesen oder die
gemeinsame Nutzung von Wasserwegen). In bereichsspezifischen
Agenturen sollten anstelle von Politikern und Diplomaten Exper-
ten und Verwaltungsfachleute aus unterschiedlichen Staaten zusam-
menarbeiten. Diese technokratische Zusammenarbeit gilt dem Funk-
tionalismus als friedenspolitisch bedeutsam, weil in ihr der Keim
zu weiter gehender Kooperation gesehen wird: Der sachliche Zu-
sammenhang der verschiedenen Regelungsbereiche, die Befriedi-
gung gesellschaftlicher Bedürfnisse und die auf alltäglicher Ko-
operation basierenden Lernprozesse schaffen die Grundlage für
die gemeinsame Bearbeitung weiterer Sachaufgaben. Aus einem
ursprünglich begrenzten Programm der Zusammenarbeit erwächst
so ein in immer neue Bereiche ausgreifender Prozess der gemein-
samen Problemlösung, der auch die staatlich-territoriale Ordnung
der Welt relativiert und schließlich überwindet:
“The only sound sense of peaceful change is (...) to make changes of
frontiers unnecessary by making frontiers meaningless through the

9 Zitiert nach dem Abdruck von A Working Peace System in dem gleichnamigen
Buch von Mitrany 1966: 92.
162 Thomas Conzelmann
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continuous development of common activities and interests across


them. (…) The functional approach may be justifiably expected to (…)
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help the expansion of such positive and constructive common work, of


common habits and interests, making frontier lines meaningless by
overlaying them with a natural growth of common activities and
common administrative agencies” (Mitrany 1966: 62-63; eigene Her-
vorhebung).
Bemerkenswert ist dabei die explizite Stellungnahme Mitranys ge-
gen alle Formen der territorial – also nicht funktional – bestimm-
ten Kooperation. Regionale Kooperationsformen wie die spätere
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft könnten den wechselnden
Erfordernissen funktionaler Kooperation nicht gerecht werden
(Mitrany 1965; vgl. auch Mitrany 1966: 44-46, Rosamond 2000:
36-38). Durch die territoriale Begrenzung würden sachlich be-
gründete Kooperationsmöglichkeiten und -notwendigkeiten be-
hindert und neue Rivalitäten begründet.10 Wie die zu schaffenden
internationalen Agenturen zu organisieren seien und wer in ihnen
Mitglied werden könne, sei allein anhand der konkreten Aufga-
benstellung zu bestimmen (Mitrany 1966: 72-73).
Die Konzeption Mitranys – insbesondere die Vorstellung einer
vernunftgeleiteten und schrittweisen Ausweitung von sachbezoge-
ner Kooperation zu Lasten einer ‚politischen‘ Aufgabenerfüllung –
ist von stärker konflikttheoretisch inspirierten Autoren kritisiert
worden. Kritisiert wird vor allem Mitranys Annahme einer Trenn-
barkeit von sachbezogener und politischer Bearbeitung von Kon-
flikten. Auch bleibe offen, auf welche Weise sich die Koopera-
tionserfahrung einzelner Akteure in die – letztlich nur politisch zu
treffende – Entscheidung zu weiterer Kooperation übertragen
sollte.11

10 „There is little promise of peace in the mere change from the rivalry of powers
and alliances to the rivalry of whole continents (...). Continental unions would
have a more real chance than individual states to practice the autarky that makes
for division“ (Mitrany 1966: 45). Zur Diskussion siehe Senghaas-Knobloch
1969: 19-23.
11 So kommt Senghaas-Knobloch zu dem Ergebnis, dass in der Konzeption Mit-
ranys „der Charakter politischen Handelns ungenügend begriffen wird. (...) Der
neue politische Stil wird als apolitisch ausgegeben. Die sachlichen Probleme
aber, bei denen er sich bewähren soll, sind nur eine schwache Basis, denn als
rein technisch zu lösende können sie nur dann begriffen werden, wenn auch das
Entstehen jener Probleme selbst als unabhängig von politischem Handeln und
Neofunktionalismus 163
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2.2 Der Neofunktionalismus


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Vom Funktionalismus zum Neofunktionalismus

Das ‚Neue‘ am Neofunktionalismus gegenüber der Konzeption


Mitranys kann in drei Punkten zusammengefasst werden: Erstens
wurde die funktionalistische Hoffnung, dass eine friedlichere in-
ternationale Ordnung durch funktionale Gemeinschaftsbildung mög-
lich sei, nun näher an die sozialwissenschaftliche Theoriebildung
herangeführt. Zwar sind auch die Arbeiten von Ernst Haas von ei-
nem friedenswissenschaftlichen Interesse geprägt. Ihm geht es je-
doch nicht in erster Linie um die Formulierung von Handlungs-
empfehlungen, sondern um die intersubjektiv nachvollziehbare
Analyse realweltlicher Integrationsprozesse (vgl. auch Senghaas-
Knobloch 1969: 177). Die zentrale Forschungsfrage ist für Haas,
“how and why states cease to be wholly sovereign, how and why they
voluntarily mingle, merge and mix with their neighbors so as to lose
the factual attributes of sovereignty while acquiring new techniques for
resolving conflict between themselves” (Haas 1970: 610).
Zweitens bemühte sich der Neofunktionalismus im Rahmen dieser
Fragestellung um eine Klassifikation der real auftretenden Stufen
der wirtschaftlichen und politischen Integration und fragte, wie
und unter welchen Bedingungen Integrationsprozesse von einer
Stufe zur nächsten gelangen können. Konkret geht es darum, unter
welchen Bedingungen ökonomische Integration zu politischer Ko-
operation und schließlich zu einer „politischen Gemeinschaft“ füh-
re. Zur Erklärung gelingender Integration zog Haas neben funktio-
nalen Notwendigkeiten auch die Handlungsstrategien pro-integra-
tiver Eliten und die Aktivitäten supranationaler Organe heran. Das
funktionalistische Gedankengut wurde so mit pluralistischen und
handlungstheoretischen Elementen unterfüttert. Damit verabschie-
dete sich der Neofunktionalismus zugleich auch von der Vorstel-
lung einer notwendigen Zurückdrängung „politischer“ Aufgaben-
erfüllung, so wie sie im Funktionalismus Mitranys anzutreffen

besonderen Interessen gesehen werden könnte“ (Senghaas-Knobloch 1969: 25).


Vgl. auch die Auseinandersetzung von Haas mit einigen der funktionalistischen
Grundannahmen Mitranys (1964: 47-50).
164 Thomas Conzelmann
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war. Integration ist nicht nur technokratische Optimierungsstrate-


gie, sondern hat unweigerlich einen politischen Charakter (Haas
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1964: 23).
Ein damit zusammenhängender dritter Unterschied zum klassi-
schen Funktionalismus liegt in der stärkeren Betonung der Rolle
supranationaler Organe wie den Kommissionen der 1951 gegrün-
deten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und
der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG). Supranationale Organe gelten Haas als bedeutsam, weil
sie den erreichten Integrationserfolg absichern, die Regeleinhal-
tung kontrollieren und weitere Integrationsschritte erleichtern kön-
nen. Insbesondere in diesem Zusammenhang wird deutlich, wie
eng das neofunktionalistische Konzept an die reale Entwicklung des
europäischen Integrationsprozesses angelehnt ist (Haas 1968; vgl.
hierzu auch Rosamond 2000: 51-54).
Wegen dieser wichtigen Unterschiede ist der Neofunktionalismus
nicht nur eine Verfeinerung des ursprünglichen funktionalistischen
Gedankenguts. Es handelt sich um einen speziellen sozialwissen-
schaftlichen Ansatz zur Analyse und Erklärung zwischenstaatlicher
Integration und nicht (wie noch im Funktionalismus Mitranys) um
den normativ begründeten Versuch, Wege zu einer internationalen
Friedensordnung jenseits nationalstaatlicher Kategorien zu weisen.
Aus diesem Grund wählt Haas zeitgenössische Formen der zwi-
schenstaatlichen Kooperation zum Ausgangspunkt und sucht nach
einer generalisierenden Erklärung dieser Prozesse. Gleichzeitig han-
delt es sich nicht mehr um eine strikt „funktionale“ Erklärungsstra-
tegie, sondern um die für politikwissenschaftliche Theorien typische
Mischung funktionaler, struktureller und intentionaler Erklärungs-
formen. Als „funktionalistisch“ kann der Neofunktionalismus jedoch
insofern gelten, als auch er sich bewusst von föderalen Integrations-
strategien abwendet und mit der Vorstellung einer in Teilbereichen
beginnenden und sich allmählich im politischen Bereich verdichten-
den Kooperation arbeitet. Vor diesem Hintergrund ist es besonders
interessant, die vom klassischen Funktionalismus inspirierten, nun
jedoch als klassifizierende Begriffe bzw. als erklärende Variablen
verwendeten Bausteine des Haas’schen Hypothesengerüsts zu kon-
turieren. Dies sind erstens der Begriff der „politischen Gemein-
schaft“ und der „technischen“ bzw. „politischen Kooperation“ als
Stufen, die bei der Gemeinschaftsbildung zu durchlaufen sind, und
Neofunktionalismus 165
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zweitens die dynamische Komponente des Neofunktionalismus, für


die Haas den Begriff des „spill-over“ (wörtlich: Übergreifen bzw.
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‚Überschwappen‘) verwendet.

Die Integration zu einer politischen Gemeinschaft

Zum Verständnis des neofunktionalistischen Integrationskonzeptes


ist es wichtig, zwischen Integration als Prozess und Integration als
Zustand zu unterscheiden. Im alltäglichen Sprachgebrauch vermi-
schen sich beide Bedeutungen, während im Neofunktionalismus
allein für den Prozess der Begriff „Integration“ verwendet wird.
„Politische Integration“ definiert Haas als
“the process whereby political actors in several distinct national set-
tings are persuaded to shift their loyalties, expectations, and political
activities toward a new centre, whose institutions possess or demand
jurisdiction over the pre-existing national states. The end result of a
process of political integration is a new political community, superim-
posed over the pre-existing ones” (Haas 1968: 16).
Die schrittweise Umorientierung von Loyalitäten, Erwartungen
und politischen Aktivitäten auf die supranationale Ebene und die
Schaffung von supranationalen Organisationen bedingen sich ge-
genseitig. Die Herausbildung einer politischen Gemeinschaft („po-
litical community“) versteht Haas als Endzustand, wobei auf dem
Weg dorthin typischerweise verschiedene Zwischenstufen durchlau-
fen werden. Wiederum angelehnt an die konkreten Erfahrungen des
europäischen Integrationsprozesses (Haas 1964, 1968) sowie der In-
ternationalen Arbeitsorganisation (Haas 1964) gilt die technische
Kooperation in einem begrenzten wirtschaftlichen Sektor als Initial-
zündung. Im nächsten Schritt könne es zur Zusammenarbeit in ande-
ren Wirtschaftssektoren kommen. Weitere Stufen seien die politi-
sche Kooperation und schließlich die Bildung einer die National-
staaten überwölbenden politischen Gemeinschaft.
Diese Stufenfolge und die Vorstellung eines Übergreifens von
Kooperation auf benachbarte ökonomische Sektoren und schließ-
lich auf höhere politische Integrationsstufen wurden von Haas mit
einer aus theoretischen Überlegungen gewonnenen Erklärung un-
termauert. Der Beginn der Kooperation auf einem begrenzten wirt-
schaftlichen Gebiet sei darin begründet, dass sich dort die besten
166 Thomas Conzelmann
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Chancen zu gewinnbringender Zusammenarbeit und zugleich we-


nig Anlässe zu politischen Kontroversen böten.12 Gleichzeitig stel-
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le der ökonomische Bereich die meisten Möglichkeiten zum Aus-


greifen der Kooperation in andere Bereiche bereit. Haas spricht in
diesem Zusammenhang an verschiedenen Stellen von der „expan-
siven Logik sektoraler Integration“. Damit ist zum einen gemeint,
dass die einzelnen Sektoren der Volkswirtschaften so stark mitein-
ander verflochten seien, dass Integration in einem wirtschaftlichen
Sektor integrative Tendenzen in anderen Sektoren nach sich ziehe.
Zum anderen sei aufgrund der engen Verflechtung von Politik und
Ökonomie in den entwickelten Industriegesellschaften die Wahr-
scheinlichkeit hoch, dass ökonomische Kooperation über kurz
oder lang auch einen Bedarf an politischer Zusammenarbeit erzeu-
ge: Die politische Integration folgt der ökonomischen auf dem Fu-
ße (Haas 1968: 311-313).

„Spill-over“ als dynamische Komponente

Im neofunktionalistischen Ansatz stellt der so genannte „spill-


over“ eine zentrale Komponente dar. Der Kerngedanke lautet, dass
die sachliche Verbundenheit unterschiedlicher Problemfelder, die
sich allmählich auf die supranationale Ebene ausrichtenden Hand-
lungsstrategien der Eliten und das politische Unternehmertum su-
pranationaler Bürokratien zu einem „Überschwappen“ („spill-over“)
der Integration in benachbarte Bereiche führen. Dabei bleibt das
Konzept in seiner ursprünglichen Formulierung durch Haas aller-
dings unscharf: Teils ist „spill-over“ eine Chiffre für Integrations-
erfolge, teils wird er als erklärender Mechanismus verwendet;
überdies bezieht er sich auf unterschiedliche Dimensionen des Inte-

12 Im Hintergrund steht das aus der klassischen politischen Ökonomie abgeleitete


Argument, dass wirtschaftlicher Austausch zwischen den Nationalstaaten für
alle Beteiligten zu Wohlstandsmehrung führe. Diese Vorstellung hatte im Euro-
pa der Nachkriegszeit nahezu unangefochtene Anerkennung erlangt (siehe hier-
zu Herbst 1986 sowie allgemein im Kontext der Entstehung der EGKS als erster
Europäischer Gemeinschaft Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004: Kap. 3).
Die geringe Umstrittenheit wirtschaftlicher Integration in der Bevölkerung wur-
de in späteren neofunktionalistischen Arbeiten (insbesondere bei Lindberg/
Scheingold 1970) mit dem Begriff des „gestattenden Konsenses“ („permissive
consensus“) belegt. Er wird als erlaubende Bedingung gelingender Integration
gesehen.
Neofunktionalismus 167
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grationsprozesses. Diese Schwachstelle wird von neofunktionalisti-


schen Autoren selbst (Schmitter 1969: 162-163; Nye 1971: 65)
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sowie in der späteren Rezeption von Haas (Tranholm-Mikkelsen


1991: 4-6) auf unterschiedliche Weise behandelt. Schmitter (1969)
begreift den „spill-over“ als Erscheinungsform von Integration (al-
so als abhängige Variable) und differenziert zwischen einer Ver-
tiefung der Kooperation innerhalb eines Sektors (level of commit-
ment) und einer Ausdehnung von Kooperation in bislang noch
nicht gemeinschaftlich bearbeitete Problemfelder (scope of com-
mitment). Tranholm-Mikkelsen hingegen unterscheidet – wie vor
ihnen schon Nye – zwischen unterschiedlichen Ausprägungen und
Triebkräften von „spill-over“ und interpretiert diesen damit stärker
als erklärenden Faktor für Integrationsprozesse. Im Folgenden wird
dieses zweite Verständnis zugrunde gelegt und mit Tranholm-
Mikkelsen (1991) zwischen „funktionalem“, „politischem“ und „er-
zeugtem“ spill-over unterschieden.13
Funktionaler „spill-over“: Mit dieser Form des „spill-over“ wird
direkt an die ursprüngliche funktionalistische Auffassung ange-
knüpft. Funktionaler „spill-over“ entsteht aufgrund der Verflech-
tung unterschiedlicher wirtschaftlicher Sektoren. Die durch grenz-
überschreitende Kooperation in einem Sachbereich zu erzielenden
Wohlfahrtsgewinne könnten ohne die Einbeziehung benachbarter
Sektoren nicht dauerhaft oder nicht vollständig ausgeschöpft wer-
den. Die geringere Effizienz bloß sektoraler Lösungen erzeugt
weiteren Integrationsdruck, ohne dass es hierzu spezieller politi-
scher Initiativen bedarf. Haas führt hierzu aus:
“Sector integration begets its own impetus toward extension to the en-
tire economy even in the absence of specific group demands and their
attendant ideologies. Thus, ECSC14 civil servants speaking for national
governments have constantly found it necessary to ‘harmonize’ their
separate policies in order to make it possible for the integrated sectors
to function, without necessarily implying any ideological commitment
to the European idea” (Haas 1968: 297).

13 Die Begriffe des „functional“, „political“ and „cultivated“ spill-over knüpfen an


die Überlegungen von Haas (1961, 1968: 287-313) und Nye (1971: 64-75) an,
werden jedoch in deren Beiträgen nicht systematisch eingeführt.
14 Die Abkürzung steht für die englische Bezeichnung der Europäischen Gemein-
schaft für Kohle und Stahl (EGKS).
168 Thomas Conzelmann
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Politischer „spill-over“: Bei dieser Form des „spill-over“ handelt es


sich um eine originäre Weiterentwicklung durch Haas. Politik wird –
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aufbauend auf pluralistischen Prämissen – als das Resultat von inter-


essengeleiteten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ge-
sellschaftlichen Gruppen gesehen, die beispielsweise in Verbänden,
Gewerkschaften und Parteien organisiert sind. Durch supranationale
Integration, so die These, findet ein Lernprozess15 von Mitgliedern
und Funktionären statt. Im Zuge dessen verändern sich Auffassun-
gen über die Angemessenheit von Problemlösungen auf der natio-
nalen bzw. der supranationalen Ebene. Das Resultat ist eine Verlage-
rung politischer Loyalität und politischer Erwartungshaltungen auf
die supranationale Ebene. Gleichzeitig integrieren sich zuvor natio-
nal organisierte Gruppen mit ihrem Gegenpart in anderen Staaten
und werden auf der europäischen Ebene selbst aktiv. Ziel ist die Be-
einflussung der Kompetenzausübung durch die supranationalen Or-
gane, die Vertretung gemeinsamer Interessen und die Sicherung von
Ressourcen. Durch diesen Prozess entsteht Druck auf die nationalen
Regierungen, sich der Aufgabe von Souveränität zugunsten einer
weiteren supranationalen Integration nicht zu widersetzen.16 Als Er-
gebnis der wachsenden Kompetenzen der supranationalen Organe,
der rationalen Nutzenkalküle der diesen Organen gegenüber stehen-
den gesellschaftlichen Gruppen und der von diesen Gruppen abhän-
gigen Regierungsakteure entsteht so eine zunehmende Integrations-
dynamik.
Erzeugter „spill-over“: Hier beruht der „spill-over“ auf den Akti-
vitäten der supranationalen Organe. Die Einbindung gesellschaft-
licher Gruppen, die Vermittlung zwischen den einzelnen Staaten
und das Schnüren von Paketlösungen sind dabei die wichtigsten

15 Das Konzept des Lernens ist für Haas zentral, doch wird der theoretische Hin-
tergrund nur unklar ausgefüllt. Für Haas gibt es sowohl eine instrumentelle
Form des Lernens, bei der Eliten entdecken, dass ihre Interessen durch einen
neuen Ansatz supranationaler Kooperation besser verfolgt werden können als
auch eine reflexive Variante, bei der Interessen und Loyalitäten als Folge von
Kooperationserfahrungen umdefiniert werden. Vgl. Haas 1964: 48-50. Zu den
offensichtlichen Anknüpfungspunkten an die konstruktivistischen Theorien der
Internationalen Beziehungen siehe Haas (2001, 2004) und Risse 2005. Vgl.
auch den Beitrag von Cornelia Ulbert in diesem Band.
16 Vor allem in dieser Hinsicht ist die auch von Haas (1970: 628) anerkannte Veran-
kerung des neofunktionalistischen Konzepts in der US-amerikanischen Pluralis-
musdiskussion evident. Vgl. hierzu Rosamond 2000: 55-58.
Neofunktionalismus 169
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Instrumente dieser Organe, um die politische und wirtschaftliche


Integration voranzubringen. Neofunktionalistische Autoren argu-
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mentierten am Beispiel der EWG-Kommission, dass supranatio-


nale Organe durch organisatorische Hilfestellungen und das Ange-
bot zur Mitsprache den Prozess der grenzüberschreitenden Integra-
tion gesellschaftlicher Gruppen anregen oder verstärken können
und so eigene Impulse zur Umorientierung von Loyalitäten und
Erwartungshaltungen geben. Zum anderen sind für Neofunktiona-
listen die durch supranationale Institutionen und Organe geleiste-
ten Dienste bei der zwischenstaatlichen Aushandlung von Kom-
promissen bedeutsam. Es gelinge in zwischenstaatlichen Verhand-
lungen oft nicht, mögliche Problemlösungen zu entdecken und zu
einem politischen Gesamtpaket zu schnüren (z.B. Nye 1970: 806-
807). Hier habe die EWG-Kommission durch die Unterbreitung
von Kompromissvorschlägen entscheidende Hilfestellung geleis-
tet. Die „spill-over“-Dynamik beruht darauf, dass die Kommission
bei diesen Vermittlungsdiensten systematisch supranationale Lö-
sungen bevorzuge. Schmitter (1969: 162) spricht in diesem Zu-
sammenhang von den „creative talents of political elites, espe-
cially the administrators of regional institutions, who seize upon
frustrations and crisis in order to redefine and expand central or-
ganizational tasks“. Aus diesem Grund komme es zu Einigungen,
die „in der Regel auf einem höheren Integrationsniveau angesie-
delt sind, als es die anfänglichen Verhandlungspositionen der Par-
teien hätten erwarten lassen“ (Haas 1961: 369, 372, eigene Über-
setzung).
Zentral für den Mechanismus des „spill-over“ sind im Neofunk-
tionalismus somit nicht alleine die funktionalen Verflechtungen
zwischen einzelnen ökonomischen Sektoren. Auch die geänderten
Erwartungshaltungen gesellschaftlicher Gruppen und die Aktivitä-
ten supranationaler Bürokratien spielen eine wichtige Rolle. Die
supranationale Ebene dient als neuer Referenzpunkt für Loyalitä-
ten und Erwartungen und gibt – in Form supranationaler Organe –
selbst Impulse für den Integrationsprozess. Dabei ist das Ergebnis
dieser Prozesse für den Neofunktionalismus vorbestimmt: Unter
dem Einfluss funktionaler Sachzwänge, politischer und ökonomi-
scher Nutzenerwartungen gesellschaftlicher Gruppen sowie pro-
aktiver supranationaler Bürokratien werden auftretende politische
Konflikte in der Regel durch ein „upgrading of the common inte-
170 Thomas Conzelmann
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rests“ gelöst (Haas 1961: 368), also eine weitere Ausdehnung und
Intensivierung der Kooperation (vgl. auch Schmitter 1969: 164).
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Insofern ist ein zwar nicht konfliktfreier, aber insgesamt stetig


verlaufender Integrationsprozess zu erwarten, sobald die ersten in-
tegrativen Schritte getan wurden. Es ist vor allem dieses Element
des „Automatismus“, das in der späteren Diskussion kritisiert und
von den neofunktionalistischen Autoren schließlich über Bord ge-
worfen wurde.

2.3 Verfeinerung und „Obsoleszenz“ des ursprünglichen


Konzepts

Haas hatte seine Thesen vor allem am Beispiel der Europäischen Ge-
meinschaften entwickelt und lud damit zweierlei Formen von Kritik
ein: Erstens, dass der Neofunktionalismus zu wenig die begünsti-
genden Rahmenbedingungen thematisiert habe, die den Integrations-
prozess in Westeuropa vorangetrieben hätten. Hierzu zählten Kri-
tiker die pluralistische Verfasstheit der westeuropäischen Gesell-
schaften, ihre gemeinsamen kulturellen und historischen Wurzeln
und das relativ hohe wirtschaftliche Entwicklungsniveau. Diese be-
günstigenden Bedingungen seien in anderen Weltregionen nicht in
gleichem Maße gegeben. Aus diesem Grund könne der Neofunktio-
nalismus seinen analytischen und normativen Anspruch als allge-
meine regionale Integrationstheorie nicht aufrechterhalten.17
Zweitens wurde kritisiert, dass die tatsächliche Entwicklung der
Europäischen Gemeinschaften nicht mit dem theoretischen Rüst-
zeug des Neofunktionalismus begriffen werden könne. Aufhänger
dieser Kritik war vor allem die so genannte „Krise des leeren
Stuhls“ in den Jahren 1965/66, welche die ungebrochene politi-
sche Bedeutung der Nationalstaaten als potenziell bremsende Ak-
teure und als Identifikationsebene deutlich zu machen schien (z.B.
Hoffmann 1966).18 Es wurde argumentiert, dass der Neofunktio-

17 Zu dieser Kritik siehe beispielsweise Nye 1970 und Hansen 1969.


18 Der damalige französische Staatspräsident de Gaulle zog aus Protest gegen be-
stimmte supranationale Entwicklungstendenzen der EWG die französischen Mi-
nister aus den Tagungen des Ministerrats ab – der französische Stuhl blieb
‚leer‘. Die Gemeinschaft, die damals noch auf dem Einstimmigkeitsprinzip ba-
sierte, wurde dadurch de facto entscheidungsunfähig. Die Krise wurde mit dem
Neofunktionalismus 171
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nalismus die Bedeutsamkeit nationaler (anstelle funktionaler) In-


teressendefinitionen und die ungebrochene Wichtigkeit von Macht-
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aspekten in der internationalen Politik unterschätzt habe. Zudem


verkenne der Neofunktionalismus den entscheidenden Unterschied
zwischen der routinemäßigen Regulierung von wenig souveräni-
tätsrelevanten Bereichen wie Zöllen und Agrarpolitik und der Inte-
gration von Kernbereichen der mitgliedstaatlichen Souveränität
wie der Steuer- und Finanzpolitik oder der Außenpolitik.19
Die beiden genannten Kritikpunkte liefen darauf hinaus, dass
der Neofunktionalismus eine zu optimistische Einschätzung der
Wahrscheinlichkeit von Integration habe und zu wenig auf ermög-
lichende bzw. bremsende Rahmenbedingungen achte. Die Reakti-
on der Neofunktionalisten auf diese Kritik bestand zunächst darin,
den Ablauf des Integrationsprozess als ergebnisoffener anzusehen.
Haas gestand zu, dass „dramatisch“ auftretende Staatsmänner wie
de Gaulle und fortbestehende anti-integrative Haltungen der Eliten
Integrationsprozesse erschweren könnten.20 Gleichzeitig wurde –
etwa in den Arbeiten von Schmitter sowie von Lindberg/Schein-
gold – stärker der kontingente Verlauf von Integration betont. Die
These eines stetig ausgreifenden Integrationsprozesses wich der
Vorstellung, dass die Interaktion strategisch handelnder Akteure
zu verschiedenen Resultaten führen könne – beispielsweise auch
zu einem „spill-back“, bei dem die Breite und Tiefe der Koopera-
tion ab- statt zunehmen würde (Lindberg/Scheingold 1970, Schmit-
ter 1970, vgl. auch Schmitter 2004).
Mit der Frage der Anwendbarkeit des neofunktionalistischen
Integrationskonzepts auf andere Weltregionen hatte sich Haas be-
reits früh beschäftigt. In einem Beitrag von 1961 identifizierte
Haas verschiedene Bedingungen gelingender Integration, welche
im europäischen Fall eine besonders günstige Ausprägung aufwie-

Luxemburger Kompromiss von 1966 beendet. Mit ihm wurde den Mitgliedstaa-
ten ein Vetorecht gegenüber Entscheidungen eingeräumt, die gegen „wichtige
nationale Interessen“ verstoßen.
19 Diese Diskussion wird in der Literatur häufig anhand der von Hoffmann (1966)
eingeführten Unterscheidung zwischen „low politics“ und „high politics“ aufgegrif-
fen. Zur Auseinandersetzung Haas’ mit diesem Argument siehe Haas 1970: 621
und 629-630.
20 Siehe hierzu die bereits erwähnte Einleitung von Haas zum 1968 in zweiter
Auflage erschienenen The Uniting of Europe sowie Haas 1970: 627-628.
172 Thomas Conzelmann
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sen, nämlich eine pluralistische und entlang ähnlicher Konfliktli-


nien strukturierte Interessenvermittlung, hochentwickelte Volks-
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wirtschaften, eine weitgehende politische und ideologische Über-


einstimmung der beteiligten Regierungen sowie die Existenz rela-
tiv starker supranationaler Institutionen (Haas 1961: 374-378). In
einem von Haas zusammen mit Philippe Schmitter verfassten Bei-
trag von 1964 wurde dieses Variablenset weiter verfeinert. Behan-
delt werden hier allgemeine Hintergrundvariablen (wie z.B. das
Ausmaß des gesellschaftlichen Pluralismus), Prozessvariablen (wie
die Reaktionsfähigkeit von Regierungen gegenüber Enttäuschun-
gen und Krisen des Integrationsprozesses) und die im Rahmen der
ökonomischen Zusammenarbeit erreichte Kooperationsdichte re-
gionaler Integration. Sofern diese Variablen eine ungünstige Aus-
prägung aufwiesen, sei ein Übergreifen der ökonomischen zur po-
litischen Kooperation nicht zu erwarten (Haas/Schmitter 1964).21
Mit diesen Überlegungen wurde die Vorstellung eines nach den
ersten Schritten quasi „automatisch“ ablaufenden Integrationspro-
zesses weiter relativiert – nicht jedoch die Annahme der oben dar-
gelegten idealtypischen Abfolge bestimmter Stufen ökonomischer
und politischer Integration. Auch ließen Haas und Schmitter offen,
ob es nicht in anderen Erdteilen funktionale Äquivalente zu den
genannten begünstigenden Bedingungen westeuropäischer Inte-
gration geben könne.
Parallel zu den Bemühungen von Lindberg, Scheingold, Nye
und Schmitter (Lindberg/Scheingold 1970, Lindberg 1971, Nye
1970, 1971, Schmitter 1969, 1970) um die weitere analytische
Verfeinerung und Ausdifferenzierung des neofunktionalistischen
Ansatzes begann sich Ernst Haas zunehmend aus der Diskussion
zurückzuziehen. In einem 1970 erschienenen Artikel erklärte Haas
regionale Integrationstheorien wie den Neofunktionalismus zu
„Vortheorien“ (pre-theories), die eine Reihe empirischer Generali-
sierungen anböten, jedoch konzeptionelle Unschärfen aufwiesen
und „nicht in eine umfassendere intellektuellere Struktur einge-
bettet“ seien (Haas 1970: 614, eigene Übersetzung).22 In einem

21 Weitere Verfeinerungen, insbesondere im Hinblick auf die wahrgenommene


Verteilungsgerechtigkeit regionaler Integration, wurden später von Nye (1970)
vorgenommen.
22 Haas fährt fort: „The findings of regional integration studies (…) are no more
than empirical generalizations. (…) Their theoretical status is doubtful because
Neofunktionalismus 173
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1975 erschienenen Beitrag spitzte Haas diese Kritik schließlich zu.


Er erklärte die Bemühungen der regionalen Integrationstheorie zur
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Erklärung des westeuropäischen Integrationsprozesses als „über-


holt“ (obsolete) und zur Analyse der regionalen Integrationsbe-
strebungen in anderen Erdteilen als „allmählich außer Gebrauch
kommend“ (obsolescent).
Haas’ Arbeit konzentrierte sich in den Folgejahren auf die Ana-
lyse internationaler Regime und auf den Wandel internationaler
Organisationen (Haas 1980, 1982, 1990; vgl. auch Ruggie et al.
2005). Dabei wurden von Haas und anderen Autoren wiederum
funktionalistische Ansätze verwendet, welche das Entstehen bzw.
das Fortbestehen von Kooperation auf bestehende geteilte Sach-
probleme zurückführen. Beispielsweise wurde im Zusammenhang
mit dem Ende der hegemonialen Rolle der USA im Verlauf der
1960er und 1970er Jahre die Frage gestellt, wie der Fortbestand
bzw. die Weiterentwicklung von internationalen Regimen und Or-
ganisationen in dieser veränderten Situation zu erklären ist. Eine
Antwort, die Robert O. Keohane in seinem wegweisenden Werk
After Hegemony gibt, sind die Funktionsleistungen bestehender
Regime bzw. die Leistungserwartungen der Akteure an diese Regi-
me (Keohane 1984; siehe hierzu auch den Beitrag von Bernhard
Zangl in diesem Band). Auch die von Haas diskutierten Prozesse
des Lernens und des Organisationswandels in internationalen Or-
ganisationen gaben Anstöße für die spätere konstruktivistische
Diskussion in den Internationalen Beziehungen (Haas 1990, Risse
2005, vgl. auch den Beitrag von Cornelia Ulbert in diesem Band).

3. Metamorphosen der neofunktionalistischen


Integrationstheorie
Die Periode von Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre wird
bisweilen als das „dunkle Zeitalter“ der europäischen Integration
wie der Integrationstheorie beschrieben. Nach dem vorzeitigen Er-
reichen der Zollunion begannen die Mitgliedstaaten der Europäi-

their relationship to still other variables and their relative weight in a group of
potentially important variables is not specified. Nor is their position in a recur-
ring sequence of trends or events spelled out“ (Haas 1970: 614).
174 Thomas Conzelmann
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schen Gemeinschaft vermehrt damit, mittels nicht-tarifärer Maß-


nahmen die Marktintegration zu hintertreiben und heimische Pro-
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duzenten zu schützen. Das ehrgeizige Projekt einer europäischen


Währungsunion wurde vorerst aufgegeben, und Schritte zu einer
gemeinsamen Außenpolitik der Gemeinschaft waren nur auf der
Ebene deklaratorischer Politik möglich. Zudem wurde die Ge-
meinschaft mit langwierigen Streitigkeiten um die Höhe des briti-
schen Beitrags zum Gemeinschaftshaushalt belastet. Das europäi-
sche Integrationsprojekt hatte einen Teil seiner ursprünglichen
Faszination eingebüßt und schien sich auf dem Weg zurück in die
bekannten Muster zwischenstaatlicher Interessenpolitik zu befin-
den. Hierdurch und im Zusammenhang mit der „Obsoleszenz“-Er-
klärung von Haas erlahmten die theoretische Debatte und auch die
Auseinandersetzung mit dem Werk von Haas.23
Auch wenn das Urteil des politischen und theoretischen Still-
stands für diese Periode der europäischen Entwicklung nicht zutrifft
(Caporaso/Keeler 1995: 36-42), entstand ein verstärktes theoreti-
sches Interesse am europäischen Integrationsprozess erst wieder
Mitte der 1980er Jahre. 1986/87 erfolgten mit der Beschlussfas-
sung zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) und dem Bin-
nenmarktprogramm zwei wichtige Integrationsschritte.24 Ins Zent-
rum der theoretischen Debatte rückte die Frage, welche Faktoren
den neu erwachten Integrationswillen der EG-Staaten erklären konn-
ten (Faber 2005). Auslöser waren dabei zwei gegensätzliche Inter-
pretationen: einerseits der supranational orientierte und häufig als
„neofunktionalistisch“ bezeichnete Ansatz von Wayne Sandholtz
und John Zysman (Sandholtz/Zysman 1989), andererseits eine inter-
gouvernementale Kritik der Arbeit von Sandholtz und Zysman

23 Die Zahl der Nennungen von The Uniting of Europe im Social Science Citation
Index fiel von einem Wert von durchschnittlich 550 Nennungen pro Jahr im
Zeitraum 1973-75 auf einen Wert von etwa 270 im Zeitraum 1976-78 und lag
im Verlauf der 1980er Jahre bei einem Wert von um bzw. unter 200. Zwischen
1987 und 1990 verdoppelte sich der Wert dann wieder (Caporaso/ Keeler 1995:
38).
24 Die EEA verstärkte mit der Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen im Minis-
terrat und der Aufwertung des Europäischen Parlaments den supranationalen Cha-
rakter der EG und übertrug der supranationalen Ebene neue Kompetenzen, wäh-
rend das Binnenmarktprogramm die Beseitigung verbleibender nicht-tarifärer Han-
delshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten bis zum 31.12.1992 zum Ziel hatte.
Vgl. Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004: Kap. 4.
Neofunktionalismus 175
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durch Andrew Moravcsik (1991).25 Das auffällige Zusammenfallen


der „Wiederbelebung“ des Binnenmarktes mit dem Antritt einer
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neuen Kommission unter Jacques Delors im Jahr 1985 bildet dabei


den Ausgangspunkt der Analyse von Sandholtz und Zysman. Ihr
wichtigstes Argument lautet, dass es die Kommission in Zusammen-
arbeit mit einer Unterstützergruppe von Wirtschaftsverbänden und
transnational organisierten Unternehmen vermocht habe, die Eliten
entscheidender EG-Mitgliedstaaten hinter dem Vorhaben eines ge-
meinsamen europäischen Binnenmarktes zu vereinen.26 Speziell mit
ihrer Konzentration auf die Initiativrolle der Kommission machen
Sandholtz und Zysman dabei deutliche Anleihen bei der Denkfigur
des „erzeugten spill-over“.27 Andere Autoren gehen noch weiter als
Sandholtz und Zysman und argumentieren, dass der Prozess auch
Merkmale eines funktionalen und politischen „spill-over“ aufweise
(Taylor 1989: 23-24; Tranholm-Mikkelsen 1991). Allerdings fehlt
bei diesen Autoren ebenso wie bei Sandholtz und Zysman der An-
spruch, jenseits der ex post-Erklärung der EEA und des Binnen-
marktprogramms Integrationstheorie mit prognostischem oder gar
präskriptivem Charakter zu betreiben. Insofern ist der analytische
und theoretische Anspruch deutlich geringer als in der neofunktio-

25 Die Argumentation von Moravcsik wird unten in Kap. 4 knapp skizziert. Eine
ausführliche Diskussion bietet Siegfried Schieder in diesem Band.
26 Ein wichtiges Forum hierbei sei der so genannte European Round Table of Indus-
trialists (ERT) gewesen, in dem sich bereits seit den frühen 1980er Jahren große
europäische Firmen in einer lockeren Gesprächsrunde zusammengefunden hat-
ten. Vgl. dazu Green Cowles 1995. Zur vergleichenden Analyse der Bedeutung
wirtschaftlicher Eliten wie des ERT in regionalen Integrationsprozessen siehe
auch Spindler 2003.
27 Sandholtz und Zysman argumentieren dabei nicht rein neofunktionalistisch, da sie
Ansätze aus verschiedenen intellektuellen Traditionen zu einem komplexen Modell
zusammenfügen. Allerdings bringen diese anderen Traditionen lediglich zusätzli-
che Rahmenbedingungen ein (speziell die Bedeutung des internationalen Kontextes
und die Wichtigkeit der innenpolitischen Debatten in den großen Mitgliedstaaten),
während die eigentliche Erklärungsarbeit nach wie vor von neofunktionalistischem
Gedankengut geleistet wird. Vgl. hierzu auch die kritische Auseinandersetzung
von Sandholtz und Zysman mit dem neofunktionalistischen Ansatz (Sandholtz/
Zysman 1989: 97-99). Ihre beiden wichtigsten Kritikpunkte sind, dass der Neo-
Funktionalismus die „stop-go-nature“ des europäischen Integrationsprozess und
den konkreten Zeitpunkt bestimmter Integrationsschritte nicht erklären könne
und die „nationale Option“, also der den Mitgliedstaaten nach wie vor uneinge-
schränkt offen stehende Rückzug auf nationale Problemlösung, vernachlässigt
werde.
176 Thomas Conzelmann
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nalistischen Theoriediskussion in den 1960er und frühen 1970er


Jahren.
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Die beschriebenen Merkmale – Konzentration auf die tatsächli-


che Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft, Verzicht auf
prognostische oder präskriptive Aussagen und Kombination neo-
funktionalistischen Gedankenguts mit Versatzstücken aus anderen
Denkschulen – kennzeichnen auch die Beiträge der Theoriediskus-
sion der 1990er Jahre, die explizit oder implizit Anleihen beim
Neofunktionalismus vornehmen. Beispielhaft seien dabei die Ar-
beiten von Corbey (1995), Stone Sweet/Sandholtz (1997) sowie
Burley/Mattli (1993) herausgegriffen, die sich entweder in die
Traditionslinie neofunktionalistischen Denkens stellen oder gar
selbstbewusst mit dem Anspruch einer Reformulierung oder Ergän-
zung des Neofunktionalismus auftreten. Ein Kernargument lautet
dabei, dass der Integrationsprozess die Handlungsautonomie der
Regierungen inzwischen weitgehend eingeschränkt hat: Entweder,
weil ein unilaterales, mit den anderen Mitgliedstaaten nicht abge-
stimmtes Vorgehen negative Folgewirkungen hat und langfristig
zu Effektivitätsverlusten führt, die nur durch weitere Integrations-
schritte aufzufangen sind (Corbey 1995), oder weil den Mitglied-
staaten die Kontrolle über die Agenda europäischer Politik auf
Grund der Initiativen gesellschaftlicher Akteure und supranatio-
naler Organe allmählich entgleitet (Stone Sweet/Sandholtz 1997).28
Bei Burley/Mattli (1993) ist es vor allem der Europäische Ge-
richtshof, der aufgrund seines Monopols zur verbindlichen Ausle-
gung von Europarecht und seiner integrationsfreundlichen Grund-
haltung wichtige Integrationsanstöße gibt. Dieser habe es ver-
mocht, nach und nach die Reichweite des Europarechts und damit
auch seine eigene Rolle über die Grenzen auszuweiten, die von
den Mitgliedstaaten durch die Verträge gesetzt worden sind. Ähn-
lich wie bei der ökonomischen Integration laufe die „rechtliche

28 “Thus, we view intergovernmental bargaining and decision-making as embed-


ded in processes that are provoked and sustained by the expansion of transna-
tional society, the pro-integrative activities of supranational organizations, and
the growing density of supranational rules. (…) These processes gradually, but in-
evitably, reduce the capacity of the member states to control outcomes. (...) As in-
tegration proceeds, member state governments become less and less proactive, and
more and more reactive to changes in the supranational environment to which they
belong” (Stone Sweet/Sandholtz 1997: 299-301).
Neofunktionalismus 177
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Integration“ der Gemeinschaft durch einen supranationalen Impe-


rativen gehorchenden und von den Mitgliedstaaten weitgehend
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abgeschotteten Prozess ab. In einem an funktionalen „spill-over“


erinnernden Prozess unterwerfe der Gerichtshof immer neue Sach-
bereiche dem Regelungsanspruch supranationalen Rechts.29

4. Kritik und Ausblick


Als der wichtigste Vertreter des Neofunktionalismus hat Ernst B.
Haas seine Überlegungen vor allem anhand des Beispiels der eu-
ropäischen Gemeinschaftsbildung entwickelt. Die Attraktivität des
europäischen Integrationsprozesses für Zwecke der politikwissen-
schaftlichen Analyse und Theoriebildung ist dabei schnell einsich-
tig: „It is one of the very few current situations in which the de-
composition of old nations can be systematically analysed within
the framework of the evolution of a larger polity“ schrieb Haas
1958 im Vorwort zu The Uniting of Europe.30 Dabei ist diese Kon-
zentration auf die europäische Integration zugleich Stärke und
Schwäche der neofunktionalistischen Theoriebildung. Stärke, weil
anhand der empirisch zu beobachtenden Integrationsprozesse in
Europa eine klare Benennung von kausalen Wirkungszusammen-
hängen und von Stufenfolgen der Gemeinschaftsbildung vorge-
nommen wurde. Schwäche, weil es der Neofunktionalismus nie
wirklich vermocht hat, sich von seinem empirischen Ausgangs-
punkt in Westeuropa zu emanzipieren und eine allgemeine Theorie
regionaler Integration zu entwickeln. Die anspruchsvollen Voraus-
setzungen, unter denen die vom Neofunktionalismus diskutierten
Prozesse des „spill-over“ und der Gemeinschaftsbildung zu erwar-
ten waren, wurden erst allmählich Teil der Diskussion. Allerdings
verlor der Neofunktionalismus als allgemeine Theorie regionaler
Integration umso mehr an theoretischer Eleganz, je stärker solche
zusätzlichen Variablen in das Theoriegebäude aufgenommen wur-
den (Mattli 2005). Nach dem Abebben der ursprünglichen neo-

29 Vgl. hierzu auch Weiler 1991 und Alter 1998. Siehe Garrett 1992 als wichtige
Gegenposition sowie die Kritik von Schmitter (2004: 72-73) an den Thesen von
Burley und Mattli.
30 Zitiert nach dem Abdruck in der zweiten Auflage (1968: xxxi).
178 Thomas Conzelmann
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funktionalistischen Diskussion in den 1970er Jahren ist es deshalb


im Bereich des „Comparative Regionalism“31 auch nicht mehr zu
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einem Wiederaufleben des Neofunktionalismus gekommen. Ein-


zelne Versatzstücke, so beispielsweise die Betonung der Rolle su-
pranationaler Akteure und der Umorientierung politischer und ge-
sellschaftlicher Eliten in Integrationsprozessen spielen allerdings
nach wie vor eine Rolle (Choi/Caporaso 2002: 486).
Auch im Kontext der europäischen Integration kam es zu einer
schrittweisen Ausdifferenzierung der neofunktionalistischen Theo-
rie, insbesondere durch Überlegungen zu ermöglichenden Rah-
menbedingungen der Integration. Die Aufnahme solcher zusätzli-
chen Aspekte sowie die schließlich erfolgenden Modifikationen
des „spill-over“-Mechanismus können dabei sowohl als Beleg für
die Fruchtbarkeit der neofunktionalistischen Theoriediskussion
und die intellektuelle Aufrichtigkeit ihrer Protagonisten gelten wie
als Beleg für die nicht überzeugenden Erklärungsangebote dieses
Theorienzweigs. In jedem Fall sind sie symptomatisch für den
auch in anderen Bereichen der Internationalen Beziehungen und
der Politikwissenschaft ablaufenden Prozess des Abschieds von
„großen Theorien“ zugunsten der so genannten „Theorien mittle-
rer Reichweite“ (Merton 1968: 39-72; vgl. auch Nohlen/Schultze
1995: 654-655).
Der große theoretische Gegenspieler des Neofunktionalismus ist
– sowohl im Hinblick auf die allgemeine Analyse regionaler Inte-
grationsprozesse als auch im Hinblick auf die europäische Integrati-
on – der so genannte liberale Intergouvernementalismus (siehe den
Beitrag von Siegfried Schieder in diesem Band). Die Kernargumente
von Hoffmann, Moravcsik und anderen Autoren lauten, dass der
Neofunktionalismus auf dramatische Weise den (potenziell brem-
senden) Einfluss der Mitgliedstaaten auf Integrationsprozesse unter-
schätze und zugleich eine unrealistische Vorstellung von der Interes-
senformation der Staaten habe. Staaten seien sowohl widerstreiten-
den innenpolitischen Interessen als auch jeweils unterschiedlichen
Einflüssen aus dem breiteren internationalen Umfeld ausgesetzt und
könnten unterschiedlich stark von Integrationsprozessen profitieren.
Dieser Umstand bewirke Interessenheterogenität, welche auch nicht

31 Z.B. Mattli 1999, Hettne 2001. Eine theorieorientierte Einführung bieten Choi/
Caporaso 2002 und Sbragia 2008.
Neofunktionalismus 179
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durch Interdependenz oder eine schrittweise Umorientierung von


Loyalitäten auf die supranationale Ebene abgemildert werde. Folg-
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lich seien Integrationsfortschritte nur durch intergouvernementales


Aushandeln zu erzielen. Die sich dabei ergebenden Kompromisse
seien jedoch in der Regel der kleinste gemeinsame Nenner der wi-
derstreitenden nationalen Interessen. Mehr sei wegen der Souveräni-
tätsvorbehalte und der ungebrochenen Vetomöglichkeiten der Mit-
gliedstaaten nicht zu erwarten. Deshalb unterstellen intergouverne-
mentale Ansätze auch eine nur geringe Bedeutung pro-integrativer
gesellschaftlicher Gruppen oder der Aktivitäten supranationaler Or-
gane. Im Hinblick auf die Kommission wird argumentiert, dass es
ihr in einer Reihe von Fällen gelungen sei, die Interessen der mit-
gliedstaatlichen Regierungen korrekt zu antizipieren und mit dem
Vorlegen konsensfähiger Vorschläge zum Verhandlungserfolg bei-
zutragen. Ein weiter gehender inhaltlicher Einfluss komme ihr je-
doch nicht zu.32 Soweit Integrationserfolge erzielt worden seien –
beispielsweise im Bereich des Binnenmarktes – sei dies in wirt-
schaftlichen Interessen der Mitgliedstaaten und den geringen Souve-
ränitätseinbußen begründet (Moravcsik 2005: 358-363). Allerdings
muss zu dieser Diskussion angemerkt werden, dass sich der inter-
gouvernementale Ansatz vorrangig auf Momentaufnahmen zwi-
schenstaatlicher Verhandlungen zur Reform der Verträge konzen-
triert, während für den Neofunktionalismus die alltägliche Politikge-
staltung und der Prozess einer schrittweisen Umorientierung von
Handlungslogiken im Vordergrund standen: „To a considerable ex-
tent, neofunctionalists and intergovernmentalists talked past each
other“ (Hooghe/Marks 2008: 4).
In der zeitgenössischen integrationstheoretischen Diskussion
wird kaum noch mit originär neofunktionalistischen Konzepten
gearbeitet. Die neofunktionalistische Diskussion ist vielmehr mit

32 Eine Relativierung dieses Arguments findet sich in Moravcsiks Analyse des


Verhandlungsprozesses zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) und zum
Binnenmarktprogramm (Moravcsik 1998: 314-78, insbes. S. 371ff). Die Kom-
mission sei insofern wichtig gewesen, als sie eine Rolle als Manager und Me-
diator der zwischenstaatlichen Verhandlungen gespielt habe und es ihr darüber
hinaus gelungen sei, Allianzen von substaatlichen Akteuren zu bilden, die sich
aktiv für die Beschlussfassung zur EEA einsetzten. Der Kommission sei damit
eine „wichtige, aber letztlich zweitrangige Rolle im Schnüren des Verhand-
lungspakets“ zugekommen (1998: 372, eigene Übersetzung).
180 Thomas Conzelmann
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Elementen der institutionalistischen und der konstruktivistischen


Theorie der Internationalen Beziehungen zu einem neuen Ansatz
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verschmolzen, der in der Diskussion oft als „Supranationalismus“


bezeichnet wird (Rittberger/Schimmelfennig 2005). Zwar macht
dieser eindeutige Anleihen beim Neofunktionalismus,33 aber das
„spill over“-Konzept wird hier allenfalls noch implizit mitgeführt.
So geht der Supranationalismus von der Vorstellung aus, dass die
„von den Regierungen geschaffenen Institutionen (...) eine eigen-
dynamische Entwicklung aus[lösen], die der Kontrolle der Staaten
entgleitet und diese selbst transformiert“ (Rittberger/Schimmel-
fennig 2005: 23). Allerdings sind diese Überlegungen nun sehr
viel deutlicher an rationalistische und konstruktivistische Hand-
lungstheorien zurückgebunden, womit eine häufig kritisierte (z.B.
Moravcsik 2005) Schwachstelle der neofunktionalistischen Theo-
rie ausgeräumt wird.
Diese Fortentwicklung hat vor allem damit zu tun, dass die zu-
vor skizzierte Diskussion zwischen Neofunktionalismus und Inter-
gouvernementalismus zunehmend als unfruchtbar empfunden wird.
In der neueren integrationstheoretischen Debatte geht es nicht
mehr in erster Linie darum, welche Kräfte den Integrationsprozess
vorantreiben oder ihn bremsen. Stattdessen lautet die zentrale Fra-
gestellung, durch welche Besonderheiten das existierende System
des Regierens in der EU gekennzeichnet ist und welche normati-
ven Qualitäten es besitzt (Jachtenfuchs 2001; Pollack 2005; Koh-
ler-Koch/Rittberger 2006). Damit wird anerkannt, dass sich auf
europäischer Ebene ein weitgehend stabiles politisches System
herausgebildet hat, das sich auch im Rahmen der letztlich fruchtlo-
sen Debatte um eine europäische Verfassungsgebung als erstaun-
lich stabil erwiesen hat. Auch der Vertrag von Lissabon entwickelt
das bestehende Institutionengerüst behutsam fort, ohne jedoch ein
neues Zeitalter der europäischen Integration einzuläuten. Insofern
sind Fragen nach der konkreten Ausgestaltung einzelner Politikbe-
reiche, den Implikationen der verschiedenen Erweiterungsrunden,

33 Diese bestehen in der grundlegenden Auffassung von der Überwindbarkeit zwi-


schenstaatlicher Machtpolitik, der Vorstellung von Pfadabhängigkeiten und
Sperrklinkeneffekten einmal erreichter Integrationsschritte, welche die Kon-
trolle der Mitgliedstaaten über den Integrationsprozess relativieren sowie in der
Betonung der Bedeutung gesellschaftlicher und supranationaler Akteure in der
Erklärung von Integrationsschritten.
Neofunktionalismus 181
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der demokratischen Legitimität der EU oder den Systemen der In-


teressenvermittlung und der Einbeziehung der Zivilgesellschaft im
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europäischen Regieren drängender geworden, während auch im


Zusammenhang mit einer zunehmenden Politisierung der europäi-
schen Integration einstweilen keine tiefgreifenden Weiterentwick-
lungen der EU zu erwarten sind. Mit Verweis auf die zunehmen-
den politischen Kontroversen um das europäische Integrations-
projekt wird in einem Beitrag von 2008 sogar das Zeitalter einer
„postfunktionalistischen“ Integrationstheorie ausgerufen (Hooghe/
Marks 2008; vgl. auch Börzel 2005).34
Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass es sich bei der
Diskussion um das Regieren in der EU eher um einen Perspekti-
venwechsel handelt als um eine vollständige Absage an die alten
Fragestellungen. Nach wie vor wird davon ausgegangen, dass das
Regieren in der EU die „institutionelle Struktur [der EU] im weite-
ren Sinne“ und letztlich auch „den Verlauf des Integrationsprozes-
ses verändert“ (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2003: 15, 16). Auch in
Abwesenheit bahnbrechender formeller und vertraglich fixierter
Integrationsschritte findet institutioneller Wandel „in kleinen,
scheinbar belanglosen Schritten“ (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2003:
42) statt, welche zusammengenommen zu einer weitreichenden
Transformation der Grundlagen des Integrationsprozesses und der
auf ihn gerichteten Präferenzen der Regierungen führen können
(vgl. auch Schimmelfennig 2005). Gerade die Analyse solcher
kleinteiligen Veränderungen ist mit dem Neofunktionalismus und
seiner „supranationalistischen“ Fortentwicklung sehr viel besser
möglich als mit dem intergouvernementalen Ansatz. Kritisch anzu-
merken bleibt jedoch, dass sich sowohl der Neofunktionalismus
und seine Fortentwicklung als Supranationalismus als auch der
intergouvernementale Ansatz trotz aller Unterschiede vor allem für

34 Das Kernargument von Hooghe und Marks lautet, dass die europäische Integra-
tion zwar eine effektive Antwort auf die Probleme der ökonomischen Interde-
pendenz biete, die von den Bürgern akzeptierten Identifikationsräume jedoch
nach wie vor regional oder national bestimmt sind. Nicht die von Eliten voran-
getriebene Realisierung von Wohlfahrtsgewinnen, sondern die Sicherstellung
der politischen Akzeptanz der Integration durch die Bevölkerung ist das Kern-
problem des „postfunktionalistischen“ Zeitalters. Anstelle eines „gestattenden
Konsens“ greife ein „einengender Dissens“ um sich, welcher den Integrations-
prozess zunehmend bremse. Siehe auch oben, Fußnote 12.
182 Thomas Conzelmann
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gelingende Integrationsschritte interessieren. Integrationstheorie


erachtet per definitionem „Vertiefungs-, Erweiterungs- und Re-
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formprojekte … für untersuchenswerter als Krisen und rückläufige


Entwicklungen“ (Faber/Wessels 2005: 355). Gerade solche Krisen
und Rückschläge scheinen jedoch die Entwicklung des politischen
Systems der EU zumindest momentan stärker zu kennzeichnen –
vom Scheitern des Verfassungsprojektes über die schwierige Rati-
fikation des Lissabon-Vertrags bis hin zum drohenden Auseinan-
derbrechen der Währungsunion. Für die Analyse solcher integrati-
onspolitischer Schwierigkeiten bietet die zeitgenössische Integra-
tionstheorie einstweilen kaum interessante Ansätze (Faber/Wessels
2005).

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Neuer Liberalismus
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Siegfried Schieder

1. Einleitung
Spätestens seit den 1990er Jahren hat in den Theorien der Interna-
tionalen Beziehungen (IB) eine Renaissance des Liberalismus ein-
gesetzt.1 Das Wiedererstarken liberaler Ansätze, die sich während
der Entspannungspolitik im Kontext der Ost-West-Beziehungen
und des Aufkommens der Friedensforschung in den 1970er Jahren
herausgebildet hatten (vgl. Czempiel 1972), ist eng mit dem Ende
des Kalten Krieges und dem Sturz der kommunistischen Herr-
schaftsordnungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten ver-
knüpft. Wie kein anderer Vorgang hat der weltpolitische Umbruch
von 1989/90 einen Blick in die gesellschaftlichen Tiefenschichten
der internationalen Politik freigegeben und die Gültigkeit der libe-
ralen Analyse internationaler Politik bestätigt (Doyle 1994). Zwar
kollidiert in der Empirie die noch zu Beginn der 1990er Jahre ge-
hegte optimistische Vision einer demokratischen Weltordnung mit
gegenläufigen Trends in Gestalt von ethno-nationalen Konflikten,
regionalen Machtbestrebungen und dem Kampf gegen den inter-
nationalen Terrorismus, weshalb einige Beobachter rückblickend
auf die 1990er Jahre auch von einem „liberal moment“ (Latham
1997) gesprochen haben. In historischer Perspektive betrachtet ist
aber trotz der Kriege in Irak und Afghanistan unverkennbar, dass
die Domestizierung und Vergesellschaftung der auswärtigen und
internationalen Politik durch die weltpolitische Zäsur 1989/90
weiter Auftrieb bekam und den Blick freimachte für das eigentli-

1 Zur Renaissance der liberalen Theorieperspektive siehe u.a. die Überblicksarti-


kel von Zacher/Matthew 1995, Müller/Risse-Kappen 1990 und Gourevitch
2002; für eine Übersicht über den Liberalismus als politische Theorietradition
siehe Richardson 2001.
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Neuer Liberalismus
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Siegfried Schieder

1. Einleitung
Spätestens seit den 1990er Jahren hat in den Theorien der Interna-
tionalen Beziehungen (IB) eine Renaissance des Liberalismus ein-
gesetzt.1 Das Wiedererstarken liberaler Ansätze, die sich während
der Entspannungspolitik im Kontext der Ost-West-Beziehungen
und des Aufkommens der Friedensforschung in den 1970er Jahren
herausgebildet hatten (vgl. Czempiel 1972), ist eng mit dem Ende
des Kalten Krieges und dem Sturz der kommunistischen Herr-
schaftsordnungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten ver-
knüpft. Wie kein anderer Vorgang hat der weltpolitische Umbruch
von 1989/90 einen Blick in die gesellschaftlichen Tiefenschichten
der internationalen Politik freigegeben und die Gültigkeit der libe-
ralen Analyse internationaler Politik bestätigt (Doyle 1994). Zwar
kollidiert in der Empirie die noch zu Beginn der 1990er Jahre ge-
hegte optimistische Vision einer demokratischen Weltordnung mit
gegenläufigen Trends in Gestalt von ethno-nationalen Konflikten,
regionalen Machtbestrebungen und dem Kampf gegen den inter-
nationalen Terrorismus, weshalb einige Beobachter rückblickend
auf die 1990er Jahre auch von einem „liberal moment“ (Latham
1997) gesprochen haben. In historischer Perspektive betrachtet ist
aber trotz der Kriege in Irak und Afghanistan unverkennbar, dass
die Domestizierung und Vergesellschaftung der auswärtigen und
internationalen Politik durch die weltpolitische Zäsur 1989/90
weiter Auftrieb bekam und den Blick freimachte für das eigentli-

1 Zur Renaissance der liberalen Theorieperspektive siehe u.a. die Überblicksarti-


kel von Zacher/Matthew 1995, Müller/Risse-Kappen 1990 und Gourevitch
2002; für eine Übersicht über den Liberalismus als politische Theorietradition
siehe Richardson 2001.
188 Siegfried Schieder
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che und bestimmende Subjekt der internationalen Politik: die Ge-


sellschaft.2
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Die Renaissance liberaler Ansätze, die lange Zeit unter den La-
beln „moralism“, „idealism“ oder „utopianism“ firmierten und
wegen ihres optimistischen Fortschrittglaubens diskreditiert schie-
nen (Moravcsik 1997: 514), ist nun allerdings keineswegs nur
Spiegelbild realhistorischer Entwicklungen. Sie hängt auch und
gerade mit der wachsenden Unzufriedenheit systemischer Ansätze
zusammen (vgl. Sterling-Folker 1997).3 Die Unfähigkeit des Rea-
lismus, das Ende des Ost-West-Konfliktes vorherzusagen, ist ein
beredtes Beispiel (vgl. den Beitrag von Niklas Schörnig in diesem
Band). Dessen zentrale Grundannahme, wonach die Staaten die
internationalen Beziehungen bestimmen, stieß in der Forscherge-
meinschaft immer weniger auf Resonanz. Wichtige Vertreter des
Liberalismus wie z.B. Ernst-Otto Czempiel, Bruce Russett, Mi-
chael Doyle, Robert D. Putnam, Thomas Risse und nicht zuletzt
Andrew Moravcsik vertreten die Auffassung, dass sich staatliches
Handeln aus gesellschaftlichen Strukturen und Interessen ableite.
Aus ihrer Sicht gilt es, den Staat als einheitlichen und zentralen
Akteur der internationalen Ordnung aufzubrechen, um zu einem
historisch kontingenten und dynamischen Bild der Weltpolitik zu
gelangen (Zacher/Matthew 1995: 118).
Trotz dieser Gemeinsamkeiten ist der Begriff „liberale Theo-
rien“ der internationalen Beziehungen alles andere als unumstrit-
ten. Dies zeigt schon allein die Vielfalt an Bezeichnungen in der
Literatur: „second image approach“ (Waltz 1959; Gourevitch 1978,
2002), „domestic theories of international politics“ (Putnam 1988),
„theories of ‚state-society relations‘ “ (Moravcsik 1993a: 6) oder
einfach „pluralism“ (Viotti/Kauppi 2009) – um nur einige zu nen-
nen. Die Betonung auf „liberal“ hat sich letztlich durchgesetzt,

2 „Vergesellschaftung“ bedeutet die zunehmende Partizipation gesellschaftlicher


Interessengruppen am außenpolitischen Entscheidungsprozess (Czempiel 1994;
vgl. schon Krippendorff 1963). Da diese überwiegend transnationalen Charakter
aufweisen, verändert sich auch die Außenpolitik (grundlegend Risse-Kappen
1995b). Unter „Domestizierung“ wird hingegen ein Prozess verstanden, in dem
die domestischen politischen Akteure versuchen, das außenpolitische Handeln
von Demokratien an bestimmte innerstaatliche Normen zu binden (vgl. Harnisch
2006).
3 Die liberalen Kerngedanken sind bereits im Idealismus als einer der zwei „Ur-
theorien“ der IB angelegt.
Neuer Liberalismus 189
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weil es ursprünglich Denker in der Tradition der europäischen


Aufklärung und der liberalen politischen Theorietradition waren,
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die von der Möglichkeit der Zivilisierung von internationaler Poli-


tik und des gesellschaftlichen Fortschritts ausgingen (Zacher/Mat-
thew 1995: 111-117). Dennoch blieb der alte Liberalismus in den
IB lange Zeit defizitär, legt man als Maßstab „parsimony“ (Spar-
samkeit in den zentralen theoretischen Grundannahmen) und „dis-
tinctiveness“ (die Unterscheidbarkeit dieser Grundannahmen von
konkurrierenden Theorieparadigmen) als weithin akzeptierte positi-
vistische Kriterien für eine adäquate Theoriebildung an.4 Dies hat
zunächst damit zu tun, dass unter dem Dach einer gemeinsamen
liberalen Grundhaltung relativ isolierte und wenig systematisierte
Theoriebausteine erarbeitet worden sind. Liberale wie Adam
Smith, Immanuel Kant, John Stuart Mill, Giuseppe Mazzini, John
Hobson oder Woodrow Wilson haben zwar aus ihren philosophi-
schen und politischen Annahmen wichtige Schlussfolgerungen ge-
zogen, welche den Zusammenhang zwischen innerstaatlicher Ver-
fasstheit und auswärtigem Verhalten betrafen, und an denen die li-
berale Theorie der IB explizit anknüpfte (vgl. Richardson 2001).
Aber sie haben es versäumt, die ideengeschichtlichen Erkenntnisse
zu einem kohärenten Theoriegebäude zu vereinen, welches als
Grundlage für ein kumulatives wissenschaftliches Forschungspro-
gramm hätte dienen können (vgl. Lakatos 1970).5 Mehr noch als
der Realismus war der Liberalismus aufgrund seines reichen histo-
rischen Erbes lange durch Konturlosigkeit geprägt (vgl. Doyle
1986: 1152; Moravcsik 1997: 514-515; Zacher/Matthew 1995:
107). Je nachdem, von welcher Bestimmungsgröße ein prägender
Einfluss auf die Außenpolitik von Staaten zu erwarten ist, lassen
sich unterschiedliche liberale Stränge unterscheiden: der republi-
kanische Liberalismus (demokratisch verfasste Staaten verhalten

4 Zur positivistischen Orthodoxie vgl. King/Keohane/Verba 1994.


5 Ein wissenschaftliches Forschungsprogramm soll sowohl in positiver als auch
negativer Hinsicht einen Leitfaden für die Forschung bieten. Unter Bezugnahme
auf den Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos versteht Moravcsik (2003b) un-
ter einem wissenschaftlichen Forschungsprogramm einen „harten Kern“ und ei-
nen „Schutzgürtel“ von Hilfshypothesen. Der „harte Kern“ stellt die Grund-
überzeugungen einer Forschergruppe dar, der von ihnen für unverzichtbar und
als nicht falsifizierbar angesehen wird. Um diesen Kern bildet sich ein Kranz
von Hilfshypothesen, die – im Unterschied zum Kern – an den Erfahrungen ge-
prüft und ggf. durch Falsifikation scheitern können.
190 Siegfried Schieder
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sich nach außen friedlicher und kooperativer als nicht-demokra-


tische Staaten), der pluralistische Liberalismus (eine ausgewogene
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Machtverteilung und geringe Verteilungskämpfe zwischen den so-


zialen Gruppen fördern kooperatives Außenverhalten), der sozio-
logische Liberalismus (transnationale Beziehungen fördern koope-
ratives Verhalten der Staaten) oder der Handelsliberalismus (offe-
ne Handelsbeziehungen und Interdependenz fördern die Koopera-
tion) – um nur die wichtigsten zu nennen (Zacher/Matthew 1995:
120-137; Burchill 2009: 57-85).
Neben der Konturlosigkeit litt die liberale Denkschule auch an
ihrem präskriptiven Handlungsstatus. Liberale Theorie in der Tra-
dition des Idealismus begnügte sich nicht damit, Phänomene der
internationalen Politik zu beschreiben, sondern versuchte stets
Wege und Möglichkeiten aufzuzeigen, die bestehenden innerge-
sellschaftlichen Herrschafts- und Machtverhältnisse zu verändern.
Sie war damit immer auch Gesellschaftsanalyse und -kritik (Krell
2009: 175-225). Gerade die Ambivalenz von empirischer Beschrei-
bung und politischer Ideologie verhinderte, dass sich auf der Basis
liberaler Grundannahmen ein analytischer Ansatz zur Beschrei-
bung und Erklärung der internationalen Beziehungen entwickeln
konnte. Es ist das Verdienst des zur Zeit an der Woodrow Wilson
School der Universität Princeton lehrenden Politikwissenschaftlers
Andrew Moravcsik, dieses Manko durch die Neuformulierung einer
„liberal international relations theory in a nonideological and non-
utopian form appropriate to empirical social science“ behoben und
damit die Systematisierung der liberalen Theoriebildung vorange-
trieben zu haben (Moravcsik 1997: 513). Moravcsik verengt und
erweitert die liberale Theorietradition gleichermaßen: Er verengt
sie, indem er den Liberalismus auf „a minimalist classical libera-
lism“ reduziert (Long 1995: 499). Gleichzeitig erweitert er die libe-
rale Tradition, indem er die Fortschrittsperspektive offener und
weniger teleologisch formuliert. Da der Sammelband auf eine wis-
senschaftliche Betrachtung der Theorie der IB angelegt ist und
Moravcsik wohl am konsequentesten eine überprüfbare liberale

6 Keohane (1990) hat zusätzlich noch den regulatorischen Liberalismus unter-


schieden. Dieser stellt im Liberalismus jedoch einen Fremdkörper dar, da er
dauerhaften Fortschritt und Frieden nicht primär „liberal“, sondern institutionalis-
tisch erklärt.
Neuer Liberalismus 191
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Theorie der IB entfaltet (vgl. Moravcsik 1991, 1992, 1997, 2003b,


2008) sowie auf deren Basis mit dem liberalen Intergouvernemen-
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talismus auch einen eigenständigen Ansatz (regionaler) europäi-


scher Integration formuliert und getestet hat (Moravcsik 1993b,
1998; Moravcsik/Schimmelfennig 2009), soll er nachfolgend als
Referenztheoretiker des neuen Liberalismus im Mittelpunkt ste-
hen.

2. Der „positive turn“ in der liberalen Theorie der


Internationalen Beziehungen: Andrew Moravcsik
Die Wurzeln der liberalen Theorie der IB reichen bis zum Neo-
funktionalismus von Ernst B. Haas, dem Bürokratiemodell von
Graham T. Allison, dem Transnationalismus von Joseph S. Nye
und Robert O. Keohane sowie zu den frühen Arbeiten von James
N. Rosenau zurück (vgl. Katzenstein/Keohane/Krasner 1998:
658f). Sie alle gehen von einer pluralistischen „bottom-up“-Kon-
zeption von Politik aus. Europäische Außenpolitikforscher wie z.B.
Czempiel (1979, 1981), aber auch Arbeiten über den wechselseiti-
gen Einfluss staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen und Ak-
teure auf das außenpolitische Verhalten (z.B. Katzenstein 1976)
knüpften an diese Theorietradition an, die von jüngeren Autoren
wie Evangelista (1995), Risse-Kappen (1991, 1995a) oder jüngst
Narizny (2003a, 2003b, 2007) aufgegriffen wurde (vgl. im Über-
blick Müller/Risse-Kappen 1990; Dunn 2010). Seit den 1990er
Jahren war es vor allem Moravcsik, der den Liberalismus zurück
auf die Theorieagenda der Internationalen Beziehungen brachte.7
Ausgehend von einem positivistischen Wissenschaftsverständ-
nis entwickelte Moravcsik in Auseinandersetzung mit systemi-
schen Ansätzen eine liberale Theorie, deren Kern gleichsam die
Differenz zum Neorealismus und Institutionalismus ausmacht:
„For liberals, the configuration of state preferences matters most in
world politics – not, as realists argue, the configuration of capabi-

7 Der erste Versuch der Begründung einer liberalen Theorie erfolgte 1992 (Mo-
ravcsik 1992). In dem vielzitierten Aufsatz Taking Preferences Seriously (Mo-
ravcsik 1997) hat er dann seine Überlegungen präzisiert. Für eine Bewertung
seines liberalen Forschungsprogramms siehe Moravcsik 2003b, 2008.
192 Siegfried Schieder
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lities and not, as institutionalists (…) maintain, the configuration


of information and institutions“ (Moravcsik 1997: 513, 2003b:
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170, 2008: 234). Mit seiner präferenzorientierten liberalen Theorie


reklamiert Moravcsik selbstbewusst den Status einer überprüfba-
ren „general theory“ wie die anderen prominenten IB-Theorie-
schulen und bemerkt prägnant: „Liberal international theory is a
paradigmatic alternative theoretically distinct, empirically coequal,
and in certain respects analytically more fundamental, than exis-
ting paradigms such as realism, institutionalism, or constructi-
vism“ (Moravcsik 2008: 235).
Moravcsiks liberale Theorie steht in der Tradition des metho-
dologischen Individualismus, da im Zentrum des Interesses das
Handeln von gesellschaftlichen Individuen steht (Moravcsik 1992:
4-6). Zwar schließen sich Individuen in aller Regel zu kollektiv
handlungsfähigen sozialen Gruppen wie Parteien, Gewerkschaf-
ten, religiösen oder ethnischen Gruppierungen bis hin zu Staaten
zusammen. Aber das Handeln von Gruppen lässt sich immer auch
auf das Agieren von Individuen zurückführen. Das damit korre-
spondierende Menschenbild ist das des „homo oeconomicus“, ei-
nes rationalen Eigennutzmaximierers. Moravcsik schränkt jedoch
die Rationalitätsannahme im Sinne von „bounded rationality“ ein
(Moravcsik 1998: 21-23). Zwar müssen staatlich aggregierte Inter-
essen nicht über längere Zeiträume gleich sein, ebenso wie sie sich
nicht immer am materiellen Nutzen orientieren. Moravcsik geht
jedoch davon aus, dass jede Regierung versucht, möglichst effizi-
ent und auf rationale Weise die „state preferences“ (im Unter-
schied zu den „state strategies“ oder „policy positions“) umzuset-
zen, die sich liberal über innerstaatliche und transnationale Aus-
handlungsprozesse herausbilden.8 Der innerstaatliche und transna-

8 Es ist wichtig, zwischen Interessen, Präferenzen und Strategien zu unterschei-


den. Interessen stellen die grundsätzlichen Ziele von Akteuren dar. Sie sind re-
lativ stabil und verändern sich im Zeitverlauf nur wenig. „State preferences“
werden hingegen als vergleichende Bewertung unterschiedlicher Handlungsal-
ternativen verstanden. Im Unterschied zu Strategien und Taktiken werden Präfe-
renzen unabhängig vom internationalen Umfeld oder den Interessen anderer
Staaten ausgebildet (Moravcsik 1993b: 519; Frieden 1999). In den Worten Mo-
ravcsik (2010a: 116): „State preferences (…) comprise a set of fundamental in-
terests defined across ,states of the world‘. Preferences are thus by definition
causally independent of and analytically prior to specific interstate political in-
teractions, including external threats, incentives, manipulation of information, or
Neuer Liberalismus 193
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tionale soziale Handlungskontext, in denen staatliches Handeln


eingebettet ist, variiert dabei erheblich in räumlicher und zeitlicher
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Hinsicht. „The resulting globalization-induced variation in social


demands and state preferences is a fundamental cause of state be-
havior in world politics. This is the central insight of liberal inter-
national relations theory“, so Moravcsik (2008: 234).

2.1 Akteure – Repräsentation – Präferenzen:


Drei zentrale Grundannahmen des neuen
Liberalismus

Ausgehend von der grundlegenden Prämisse jeglicher liberalen


Theorie, dass staatliches Verhalten wesentlich durch die Beziehun-
gen zwischen Staaten und ihrem innerstaatlichen und transnationa-
len gesellschaftlichen Umfeld geprägt werden, entwickelt Mo-
ravcsik seine drei zentralen Kernannahmen (Moravcsik 1997: 516-
521, 2003b: 161-167, 2008: 236-239).

1) Vorrang des sozialen Akteurs und der Gesellschaft vor dem


Staat

Während Neorealisten und Institutionalisten die Staaten als die


zentralen Akteure in der internationalen Politik ansehen, setzt Mo-
ravcsik bei den handlungsfähigen und autonomen Individuen und
gesellschaftlichen Gruppen an, die gemäß ihren jeweiligen Präfe-
renzen materielle und ideelle Interessen innerhalb des Staates, aber
auch im transnationalen Beziehungsgeflecht durchsetzen (Morav-
csik 1997: 516, 2008: 236).9 Von den sozialen Gruppen und Indi-

other tactics – at least in the short term. By contrast, strategies and tactics are
policy options defined across intermediate political aims, as when governments
declare an ,interest‘ in ,maintaining the balance of power‘, ,containing‘ or
,apeasing‘ an adversary, exercising ,global leadership‘, or ,maintaining imperial
control‘ “ (H.i.O.).
9 Dass soziale Gruppen Präferenzen auf der Grundlage von materiellen Interessen
und Ideen ausbilden, sieht Moravcsik (2003b: 162) weit weniger kontrovers an
als dies in der Literatur den Anschein hat: „Neither the assumption that indi-
viduals pursue their preferences instrumentally, nor the assumption that the for-
mation of such preferences is exogenous to interstate politics, implies that indi-
vidual preferences are atomistic. Cultural or sociological arguments that privi-
194 Siegfried Schieder
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viduen wird erwartet, dass sie rational und risikoavers agieren und
dass sie um Einfluss auf Regierungsentscheidungen konkurrieren.
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Für Moravcsik ist der Staat keine feststehende Variable, sondern


immer das Ergebnis ganz spezifischer gesellschaftlicher Verhält-
nisse. „Society is analytically prior to the state, and domestic state-
society relations constitute the central issues of politics“ (Moravc-
sik 1992: 7).
Im Unterschied zu systemischen Theorien, die von exogenen In-
teressen und Präferenzen der Staaten ausgehen, ist für Liberale wie
Moravcsik die funktionale Differenzierung sowie die Definition der
Interessen gesellschaftlicher und transnationaler Akteure von zentra-
ler theoretischer Bedeutung. Globalisierung – so Moravcsik (2008:
236) – generiere unterschiedliche Forderungen von gesellschaftli-
chen Individuen und Gruppen an das internationale Politikgesche-
hen. Liberale lehnen die Vorstellung ab, wonach es eine Harmonie
der Interessen in der Gesellschaft gibt, sondern diese ist vielmehr
von einem ständigen Wettbewerb zwischen Einzel- und Gruppen-
interessen geprägt (Moravcsik 1997: 517, 2003b: 162). Die Wahr-
scheinlichkeit von innergesellschaftlichen Konflikten ist dann hoch,
wenn divergierende Wertvorstellungen über das gesellschaftliche
Zusammenleben, Konflikte über knappe Ressourcen sowie unglei-
che politische Zugangsmöglichkeiten innerhalb des Staates bestehen
(Moravcsik 1997: 517). Dort, wo Ungleichheit hinsichtlich des ge-
sellschaftlichen Einflusses herrscht, werden eher Konflikte entste-
hen, da gewisse soziale Gruppen über die Möglichkeit verfügen, die
Kosten auf die übrige Gesellschaft abzuwälzen. Wo soziale Macht
hingegen gerecht verteilt ist, können Kosten und Nutzen leichter in-
ternalisiert werden, etwa durch legitimierte politische Institutionen.
Wie der innergesellschaftliche Wettbewerb letztlich ausgetragen
wird und welche gesellschaftlichen Interessen und Werte über den
innerstaatlichen Aushandlungsprozess die offizielle Politik von Re-
gierungen prägen, hängt vor allem vom politischen System und
den Machtverhältnissen zwischen den konkurrierenden sozialen Ak-
teuren ab (Milner 1998: 767-779; vgl. Moravcsik 2003: 163).

lege collective social beliefs, either domestic or transnational, as sources of such


social preferences, are not excluded. Some metatheoretical discussions between
,constructivists‘ and ,rationalists‘ obscure this potential complementary between
rationalist and cultural explanations (…)“.
Neuer Liberalismus 195
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2) Innergesellschaftliche Repräsentation und staatliche


Präferenzbildung
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Der Wettbewerb zwischen gesellschaftlichen Akteuren wird von


den binnenstaatlichen Strukturen und Institutionen der Interessen-
vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft bestimmt (Moravcsik
1997: 518). Staaten (oder andere politische Institutionen) stellen
einen Teil der Gesellschaft insgesamt dar und sind daher ein Trans-
missionsriemen dominanter gesellschaftlicher Präferenzen, die sich
auf die Außenpolitik eines Staates übertragen. Im Unterschied zu
realistischen und institutionalisten Ansätzen wird der Staat jedoch
nicht als einheitlicher Akteur angesehen, sondern als „a represen-
tative institution constantly subject to capture and recapture, con-
struction and reconstruction by coalitions of social actors“ (Mo-
ravcsik 1997: 518). Pluralistische liberale Theoretiker gehen weder
davon aus, dass alle Individuen und Gruppen den gleichen Einfluss
auf die Regierungen haben, noch dass die staatlichen Institutionen
irrelevant sind. Im Gegenteil. Jede Regierung repräsentiert be-
stimme Gruppen und Individuen mehr oder weniger vollständig
als andere – von Diktaturen im Stile eines Josef Stalin bis hin zu
breiten Formen der demokratischen Partizipation. Es ist der spezi-
fische Charakter der repräsentativen Institutionen – wobei für Mo-
ravcsik innerstaatliche Repräsentation nicht auf formale Merkmale
von staatlichen Organen reduziert werden kann, sondern auch in-
formelle Institutionen umfasst – der den Ausschlag dafür gibt,
welche gesellschaftlichen Gruppen das „nationale Interesse“ be-
einflussen (Moravcsik 2003b: 164).
Die Annahme, dass das Verhalten eines Staates Ausdruck der
aggregierten Präferenzen gesellschaftlicher Akteure ist, die sich im
komplexen Interessenvermittlungs- und Entscheidungsprozess
durchsetzen, hat wichtige Implikationen für das Außenverhalten
von Staaten. Regierungen versuchen aus liberaler Sicht nicht auto-
matisch Sicherheit und Macht zu maximieren, denn gesellschaftli-
che Akteure folgen in aller Regel keiner Staatsräson. Ihr Grundmo-
tiv ist vielmehr das Streben nach Wohlfahrtsgewinnen. Dies
schließt jedoch nicht aus, dass Machtpolitik im Sinne staatlicher
Autonomie- oder Einflussmaximierung im Interesse einflussrei-
cher gesellschaftlicher Gruppen liegt und von ihnen auch durchge-
setzt werden kann (Bienen/Freund/Rittberger 1999: 9). So hat Sny-
196 Siegfried Schieder
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der (1991) die zentrale Rolle der Eliten bei der Mobilisierung des
Volkes in Bezug auf imperialistische Ziele herausgearbeitet, wäh-
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rend Narizny (2003a, 2003b) in Beiträgen zum Parteiverhalten in


Fragen der Wiederaufrüstung und zur politischen Ökonomie von
Sicherheitsstrategien gezeigt hat, „that a nation’s grand strategy ra-
rely serves the best interests of all its citizens. Instead, every stra-
tegic choice benefits some domestic groups at the expense of oth-
ers (…). As a result, the overarching goals and guiding principles
of grand strategy, as formulated at the highest levels of govern-
ment, derive from domestic coalitional interests“ (Narizny 2007:
3). Im Gegensatz zu dem von den Realisten stets postulierten
Handlungsziel des ,nationalen Interesses‘ kann es also aus Grün-
den des innerstaatlichen Parteienwettbewerbes vorkommen, „dass
nationale Sicherheit nicht in dem notwendigen und möglichen
Umfang bereitgestellt wird; ein Problem, das der Realismus so
nicht kennt“ (Hasenclever 2001: 88).

3) Internationale Umwelt und interdependente


Präferenzordnungen

Nun bezweifeln Vertreter der liberalen Theorie der IB zwar nicht,


dass auch von der internationalen Umwelt wichtige Handlungsan-
reize ausgehen. Aber sie kehren die realistische Perspektive um, in-
dem die Frage nach den Handlungsoptionen in der internationalen
Umwelt eine Funktion des innerstaatlichen und innergesellschaft-
lichen Präferenzbildungsprozesses darstellt. Für pluralistische Li-
berale ergeben sich die Handlungsmuster internationaler Politik
nicht aus der internationalen Machtverteilung oder den internatio-
nalen Institutionen, sondern „what states want is primary determi-
nant of what they do“ (Moravcsik 1997: 521).
Die theoretische Verbindung zwischen den staatlichen Präfe-
renzen und dem Außenverhalten von Staaten wird durch das so
genannte Konzept der „policy interdependence“ hergestellt (Mo-
ravcsik 1997: 520, 2003b: 165-166). Moravcsik versteht darunter
„the distribution and interaction of preferences – that is, the extent
to which the pursuit of state preferences necessarily imposes costs
and benefits upon other states, independent of the ‚transaction
costs‘ imposed by the specific strategic means chosen to obtain
them“ (Moravcsik 2008: 239). Während realistische Ansätze grund-
Neuer Liberalismus 197
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sätzlich von konfliktträchtigen Beziehungen zwischen Staaten aus-


gehen, argumentiert Moravcsik, dass die Anordnung interdepen-
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denter Präferenzordnungen dem außenpolitischen Verhalten ganz


spezifische Restriktionen auferlegt. Die Bereitschaft von Staaten,
ihre Ressourcen auszudehnen oder aber in Verhandlungen Kon-
zessionen zu machen, ist somit primär eine Funktion staatlicher
Präferenzbildung und nicht an ein unabhängiges politisches Macht-
portfolio geknüpft. Staaten sind nämlich „rarely prepared to mort-
gage their entire economy or military capabilities in pursuit of any
single foreign-policy goal. Few wars are total, few peace Cartha-
ginian“ (Moravcsik 2008: 239-240).
Moravcsik unterscheidet drei Arten der Verteilung interdepen-
denter Präferenzen: Sind die spezifischen Präferenzen verschiede-
ner Staaten kompatibel bzw. konvergieren sie, dann bestehen star-
ke Anreize für Verhandlungen und zwischenstaatliche Kooperati-
on. Divergierende staatliche Präferenzen hingegen bewirken Span-
nungen und Konflikte zwischen Staaten. Sie führen zu Nullsum-
menkonstellationen, die wenig Raum für wechselseitige Koopera-
tion lassen, da dominante soziale Gruppen eines Landes versu-
chen, ihre Präferenzen durch staatliche Politik durchzusetzen, die
dann notwendigerweise Kosten für andere wichtige gesellschaftli-
che Gruppen in anderen Ländern verursachen. Im Falle von kom-
plementären nationalen Präferenzordnungen bestehen hingegen
ausreichend Anreize für zwischenstaatliche Verhandlungen, Kon-
zessionen und Formen der internationalen Politikkoordination
(Moravcsik 1992: 10-11, 2008: 239-240).

2.2 Drei Theorievarianten: Ideeller, kommerzieller


und republikanischer Liberalismus

Aus den drei Kernannahmen über die Natur der Akteure und ihren
Forderungen an die internationale Politik, der Staaten und des in-
ternationalen Systems leitet Moravcsik mit dem ideationalen, öko-
nomischen und republikanischen Liberalismus drei konkrete Theo-
rievarianten ab (Moravcsik 1997: 524-533, 2003b: 167-176, 2008:
240-246), die jeweils unterschiedliche Einflussfaktoren und kau-
sale Mechanismen zwischen nationaler Präferenzbildung und staat-
lichem Verhalten betonen: Identität, Interesse und Institutionen.
198 Siegfried Schieder
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Ideationaler Liberalismus: Eine erste Quelle staatlicher Präfe-


renzbildung sind innerstaatliche soziale Ordnungsvorstellungen
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und Identitäten. Unter Verweis auf Liberale wie Mill, Mazzini,


Wilson oder Keynes nimmt Moravcsik an, dass außenpolitische
Präferenzen durch soziale Identitäten und Werte bestimmt werden,
die innerhalb eines Staates als legitim gelten. Zur sozialen Identität
gehört ein „set of preferences shared by individuals concerning the
proper scope and nature of public goods provision, which in turn
specifies the nature of legitimate domestic order by stipulating
which social actors belong to the polity and what is owed them“
(Moravcsik 1997: 525). Als bestimmende Legitimationsquellen
innerstaatlicher sozialer Ordnungen heben Liberale vor allem die
nationale Identität, die politische Ideologie und die sozioökonomi-
sche Wohlfahrtsregulierung hervor (Moravcsik 1997: 525, 2003b:
168-171).10 Je nachdem, wie stark diese politischen, sozialen oder
sozioökonomischen Identitäten innerhalb eines Staates ausgeprägt
sind, lassen sich unterschiedliche Hypothesen über außenpoliti-
sches Verhalten ableiten. Konvergierende innerstaatliche Präferen-
zen über ideelle Interessen fördern die außenpolitische Koopera-
tion, während divergierende ideelle außenpolitische Präferenzen
über Interessen zu internationalen Spannungen und Konflikten
führen. Anhand einer Reihe von Beispielen aus der europäischen
und internationalen Politik versucht Moravcsik empirisch zu bele-
gen, „that substantial prior convergence of underlying values is a
necessary prerequisite for cooperation in regulatory issue areas
like environmental and consumer protection, (...) social policies,
immigration, and foreign policies, as well as for significant sur-
renders of sovereign decision making to supranational courts and
bureaucracies“ (Moravcsik 1997: 528).
Kommerzieller Liberalismus: Eine zweite Quelle staatlicher libe-
raler Präferenzbildung ist ökonomischer Natur. So erklärt der kom-
merzielle Liberalismus individuelles und kollektives Verhalten von
Staaten, indem die Anreize des Marktes betrachtet werden, denen
sich innenpolitische und transnationale ökonomische Akteure wie

10 Affinitäten des ideationalen Liberalismus zu konstruktivistischen Arbeiten, die


ebenfalls die Bedeutung von sozialen legitimen Ordnungen, kollektiven Identi-
täten oder den sozialen Ursprung von Sozialisationsprozessen betonen, sind hier
unübersehbar (Moravcsik 2008: 214). Siehe dazu den Beitrag von Cornelia Ul-
bert in diesem Band.
Neuer Liberalismus 199
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Firmen und Unternehmen ausgesetzt sehen. Das Außenverhalten


von Staaten ist von den Gewinnen und Verlusten gesellschaftlicher
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Akteure durch transnationale wirtschaftliche Austauschbeziehungen


abhängig (Moravcsik 1997: 524, 2003b: 171, 2008: 242-244). Je in-
tensiver Produzenten und Konsumenten von der internationalen Ar-
beitsteilung profitieren, desto stärker werden sie sich für offene
Märkte und stabile Wirtschaftsbeziehungen einsetzen und sich ge-
gen Protektionismus wenden, der ihre vorteilhaften Außenhandels-
beziehungen gefährdet. Umgekehrt gilt: „The more costly the ad-
justment imposed by the proposed economic exchanges, the more
opposition is likely to arise. The resulting commercial liberal expla-
nation of ,relative gains-seeking‘ in foreign economic policy is quite
distinct from that of realism, which emphasizes security externalities
and relative (hegemonic) power, or that of institutionalism, which
stresses informational and institutional constraints on optimal inter-
state collective action. (…) Liberal IR theory (…) employs market
structure as a variable to explain both openness and closure“
(Moravcsik 2003b: 172, 171; vgl. auch Keohane/Milner 1996). Der
kommerzielle Liberalismus hat wichtige Implikationen für die Sicher-
heitspolitik. Regierungen sind sich der Tatsache bewusst, dass Krie-
ge, Sanktionen oder andere militärische Zwangsmaßnahmen weit
mehr Kosten verursachen als der grenzüberschreitende Austausch
von Waren und Dienstleistungen. Folglich ist der ökonomische An-
reiz in der Gesellschaft groß, dass Staaten sich nach außen koopera-
tiv verhalten und auf aggressive Selbsthilfestrategien verzichten.
Republikanischer Liberalismus: Während der ideationale und
kommerzielle Liberalismus die Präferenzbildung als Ergebnis be-
stimmter Muster sozialer Identitäten und ökonomischer Interessen
betrachten, stellt der republikanische Liberalismus den Modus der
innerstaatlichen Repräsentation in den Vordergrund. Hierdurch
soll erklärt werden, welche gesellschaftliche Gruppe speziell ihre
Interessen in den Prozess der außenpolitischen Präferenzbildung
einspeisen kann. Es wird also die Art und Weise in den Blick ge-
nommen, wie gesellschaftliche Interessen durch politische Institu-
tionen aggregiert werden. Moravcsik spricht von bestimmten
Gruppen, die den Staat ‚erobern‘ (Moravcsik 1997: 530-533, 2003b:
173-174, 2008: 244-246).
Generell ist der politische Einfluss einer sozialen Gruppe umso
größer, je stärker sie in den wichtigsten Entscheidungsgremien re-
200 Siegfried Schieder
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präsentiert ist und je besser diese gegen anderweitige Einflüsse ab-


geschottet werden können (Moravcsik 1997: 530, 2003b: 174-175).
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Eine differenziertere Sichtweise über die Mechanismen der Aggre-


gation gesellschaftlicher Präferenzen ergibt sich, wenn wir den Blick
auf den Einfluss von Partikularinteressen („rent-seeking“) richten.
Wenn in einer Gesellschaft der politische Einfluss auf wenige Grup-
pen mit spezifischen Interessen konzentriert ist, erwarten Liberale im
Allgemeinen eher eine konfrontative als eine kooperative Außenpo-
litik. Konfrontation und expansives staatliches Verhalten sind selten
mit einem Netto-Gewinn für die Gesellschaft insgesamt verbunden.
Wahrscheinlicher ist das Gegenteil. Bei einer gleichmäßigen Vertei-
lung des politischen Einflusses innerhalb der Gesellschaft tendieren
Staaten daher mehr zu Kooperation, um Konflikte zu vermeiden. Ist
hingegen der Einfluss auf wenige Gruppen konzentriert, besteht für
diese eher die Möglichkeit, die Expansions- oder Konfrontationspo-
litik so zu gestalten und durchzusetzen, dass deren materielle und
ideelle Vorteile hauptsächlich ihnen selbst zugute kommen. Die Ri-
siken und Kosten werden hingegen überproportional vom unterre-
präsentierten Rest der Gesellschaft getragen.11 Da aber die meisten
Individuen und sozialen Gruppen zu risikoscheuem Verhalten nei-
gen, wird – bei einer möglichst breiten politischen Repräsentation –
die Unterstützung für eine konfliktorientierte und kostenintensive
Außenpolitik fehlen. Moravcsik kommt zu dem Schluss, dass ag-
gressives Außenverhalten in autoritären Regimen und Diktaturen am
wahrscheinlichsten ist, da dort die privilegierten Individuen die Fol-
gekosten internationaler Konflikte und Kriege relativ einfach auf
den Rest der Gesellschaft abwälzen können. Demokratisch verfasste
Staaten hingegen neigen weit weniger zu konflikthaftem Verhalten,
da der Einfluss auf die politischen Entscheidungen in den Händen
einer breiten Entscheidungsträgerschaft liegt und diese letztlich als

11 Eine Reihe von Arbeiten haben gezeigt, dass unter den Bedingungen von Oli-
garchien oder imperialistischen Staatsstrukturen privilegierte Gruppen wenig
Veranlassung sehen, Abstriche an ihren jeweiligen Zielsetzungen zu akzeptie-
ren. Viel eher versuchen dominante Gruppen ihre konfrontativen Zielsetzungen
einfach zu einem in der Summe antagonistischen Programm („log-rolling coali-
tions“) zu addieren, zumal Risiken und Kosten abgewälzt werden können, wenn
über diesen Eliten kein von ihnen allen akzeptiertes Entscheidungsorgan steht
(vgl. Moravcsik 1997: 532, 2003b: 175). Zur republikanisch inspirierten libera-
len Theorie des Krieges u.a. Snyder 1991, Wolf 2001, Narizny 2007 und den
Beitrag von Andreas Hasenclever in diesem Band.
Neuer Liberalismus 201
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Steuerzahler für die Kosten aufkommen muss. Weshalb demokrati-


sche Staaten gegenüber autoritären Regimen trotzdem Kriege füh-
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ren, führt Moravcsik letztlich auf die Risikofreudigkeit politischer


Entscheidungsträger oder rent-seeking zurück. „There is substantial
historical evidence that the aggressors who have provoked modern
great power wars tend either to be extremely risk-acceptant indi-
viduals, or individuals well able to insulate themselves from the
costs of war, or both“ (Moravcsik 2003b: 175).

2.3 Wie progressiv und leistungsfähig ist das


Forschungsparadigma von Moravcsik?

Moravcsik erhebt mit seinem neuen Liberalismus den Anspruch,


eine „systemic theory“ (Moravcsik 2008: 246) entwickelt und da-
mit ihre Überlegenheit im Kontext möglicher theoretischer Syn-
thesen mit dem Realismus oder Institutionalismus begründet zu
haben.12 Damit dehnt er die Erklärungsreichweite seines liberalen
Forschungsprogramms explizit auf die systemische Ebene, d.h. die

12 Damit eine liberale Theorie für empirische Untersuchungen von Nutzen sei,
müssen nach Moravcsik vier Kriterien gegeben sein. Erstens müsse sie einfach
sein und ein großes Spektrum bislang unverknüpfter Hypothesen über Phäno-
mene aufwerfen, die von verfügbaren Theorien nicht erklärt werden können;
zweitens die konzeptionellen Grenzen der eigenen Theorie klar bestimmen;
drittens Anomalien und methodische Schwächen in bislang verfügbaren Theori-
en bzw. empirischen Arbeiten aufzeigen; und viertens müsse sie belegen, wie
eine rigorose Kombination mit anderen Theorien möglich ist, um kohärente
multikausale Erklärungen zu ermöglichen (Moravcsik 1997: 533). Inzwischen
hat Moravcsik die liberale Theorie der IB unter Rückgriff auf drei zentrale Kri-
terien von Lakatos zur Bewertung wissenschaftlicher Forschungsprogramme –
„strict temporal novelty“, „the heuristic definition of novelty“ und „background
theory novelty“ – einer kritischen Prüfung unterzogen und gezeigt, dass die li-
berale IB-Theorie ein innovatives Forschungsparadigma darstelle (Moravcsik
2003b: 160f, 177-196). Obwohl die wissenschaftlichen Standards von Lakatos
der liberalen Theorie in die Hände spielen, relativierte Moravcsik deren Bedeu-
tung für die IB und plädierte stattdessen für Theoriesynthese (Moravcsik
2003a): „Yet Lakatos’s focus on the scope of theories might encourage scholars
to advance ,universal‘ and mono-causal claims when it is inappropriate to do so.
More appropriate may be a clear specification of proper empirical limits or more
subtle theoretical syntheses. Overall, a more pragmatic ,problem-solving‘ ap-
proach based on Larry Laudan’s philosophy of science seems more appropriate
than one based on strict Lakatosian criteria“ (Moravcsik 2003b: 196, 204).
202 Siegfried Schieder
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Interaktion zwischen den Staaten, aus. Damit geht er vom An-


spruch her deutlich über die liberale IB-Theorie hinaus, wie sie in
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der Bundesrepublik Deutschland insbesondere von Czempiel be-


gründet wurde und in zahlreichen Studien zur liberalen deutschen
und US-amerikanischen Außenpolitik seit den 1990er Jahren An-
wendung fand (u.a. Medick-Krakau 1999; Hils/Wilzewski 2006;
Ikenberry 2007; Hils 2007). Im Anschluss an die Systemtheorie von
David Easton hat Czempiel schon früh ein komplexes Modell zur
liberalen Erklärung der Handlungszusammenhänge zwischen po-
litischem System, gesellschaftlichen Umfeldern und internationa-
ler Umwelt entwickelt, für das er den Begriff des „asymmetri-
schen, gebrochenen Gitters“ prägte (Czempiel 1981). In den Frie-
densstrategien hat er versucht, anhand dieses Modells die Wir-
kung herrschaftlicher und systemischer Strukturen auf die interna-
tionalisierende Politik der Akteure herauszuarbeiten (Czempiel
1986). Allerdings hat Czempiel wiederholt darauf hingewiesen,
dass die Politikwissenschaft (noch) nicht über das erforderliche
theoretische Rüstzeug verfüge, um Interaktionen im Sinne von
Wechselwirkungen zwischen Staaten angemessen abzubilden
(Czempiel 1986: 362). Mit seiner liberalen Theorie der internatio-
nalen Beziehungen hat Moravcsik gerade dieses Defizit liberaler
Theoriebildung behoben.
Will der neue Liberalismus seinen Status als ‚systemische Theo-
rie‘ behaupten, dann muss er auf alle Staaten anwendbar sein,
ganz gleich ob es sich um totalitäre, autoritäre oder demokratische
Systeme handelt. Im Unterschied zur Theorie der zwischendemo-
kratischen Beziehungen ist die präferenzorientierte liberale Theo-
rie der IB nicht an die Präsenz historisch kontingenter Staatsfor-
men gebunden. Gerade im Bereich der Erklärung von Konflikt
und Kooperation, der internationalen Verrechtlichung sowie nicht
zuletzt des „demokratischen Friedens“ hat sich das liberale For-
schungsprogramm empirisch bewährt (vgl. Moravcsik 2000; Wolf
2001; Narizny 2007; vgl. auch den Beitrag von Andreas Hasen-
celver in diesem Band und die dort zitierte Literatur zum „demo-
kratischen Frieden“). Insbesondere im Vergleich zum realistischen
erweist sich das liberale Forschungsprogramm als progressiver, da
der Realismus es nicht vermochte, bestehende Defizite und An-
omalien auszuräumen (Legro/Moravcsik 1999; für eine kritisch
Evaluation des liberalen Forschungsprogramms Rathbun 2010).
Neuer Liberalismus 203
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Die eigentliche Herausforderung für die liberale Theorie stellt ge-


genwärtig also nicht so sehr das realistische, sondern das kon-
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struktivistische Forschungsparadigma dar. Inwieweit der neue Li-


beralismus sich vor dem Hintergrund der „konstruktivistischen“
Gegenbewegung“ behaupten kann, hängt letztlich von der empiri-
schen Erklärungskraft ab. Moravcsik selbst hat dazu mit dem libe-
ralen Intergouvernementalismus einen exemplarischen Beitrag ge-
leitet, der die Offenheit des liberalen Forschungsprogrammes für
Theoriesynthese unterstreicht.13

2.4 Empirische Anwendung und Kritik:


Der liberale Intergouvernementalismus

Aus der Beschäftigung mit der Dynamik der europäischen Integra-


tion entwickelte Moravcsik seit Ende der 1980er Jahre den libera-
len Intergouvernementalismus (LI), wonach die Vertiefung und
Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses durch die
Konvergenz der nationalen Präferenzen der Mitgliedsstaaten zu
erklären sei (Moravcsik 1991, 1993b, 1998; Moravcsik/Vachudo-
va 2003; Moravcsik/Schimmelfennig 2009). Er übernimmt zu-
nächst die Prämissen des „klassischen“ oder realistischen Intergou-
vernementalismus (Hofmann 1966, 1982), der die Dynamik des In-
tegrationsprozesses als Ergebnis zwischenstaatlicher Verhandlun-
gen erklärt. Gleichzeitig geht Moravcsik über die neorealistische
Integrationstheorie hinaus, indem er ein „principal-agent“-Modell
des innenpolitischen Entscheidungsprozesses in den Ansatz ein-
fügt, das die liberale Herausbildung staatlicher Präferenzen erklä-
ren soll (Moravcsik 1993b: 474).14 In The Choice for Europe (Mo-
ravcsik 1998), der theoretisch profiliertesten Explikation des LI,
schlägt Moravcsik schließlich ein dreistufiges Modell für die Er-

13 Moravcsik (2008: 246) hat wiederholt auf drei wichtige Implikationen liberaler
Theoriebildung hingewiesen: „its unique empirical predictions, its status as
systemic theory, and its openness to multitheoretical synthesis“.
14 Gemäß diesem ökonomischen Modell delegieren oder begrenzen gesellschaftli-
che „principals“ die Macht des „governmental agent“. Sie können dies deshalb
tun, weil in Demokratien Regierungen letztlich von der Unterstützung einer
breiten „Koalition“ von Wählern, Parteien, Interessengruppen und Bürokratien
abhängen.
204 Siegfried Schieder
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klärung europäischer Integration vor, wobei – ganz im Sinne der


von ihm propagierten Theoriesynthese – jeder der drei Stufen eine
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Theorie mittlerer Reichweite zugeordnet wird (vgl. im Überblick


Rittberger/Schimmelfennig 2005: 23-31).
Auf der ersten Stufe wird mit Hilfe der liberalen Theorie der
Präferenzbildung danach gefragt, wie sich die Präferenzen der Re-
gierungen herausbilden (Moravcsik 1993a: 481; Moravcsik/
Schimmelfennig 2009: 69-70). Um die dominanten sozialen Ak-
teure zu identifizieren, greift Moravcsik auf das Theorem der Lo-
gik des kollektiven Handelns von Olson (1992) zurück. Danach
hängt es nicht vom hohen Repräsentationsgrad oder dem Mobili-
sierungsvorsprung großer Organisationen ab, ob soziale Gruppen
Zugang zu Regierungsentscheidungen bekommen, sondern der
Mobilisierungsgrad ist um so größer, je kleiner die Gruppe ist. Vor
allem klar umrissene Gruppen, die viel zu gewinnen und zu verlie-
ren haben, üben den größten Einfluss auf das Regierungshandeln
aus. Muss eine Regierung zwischen den Interessen kleiner und gut
organisierter Gruppen (etwa Produzenten oder Lobby-Gruppen)
und den allgemeineren, oft eher „latenten“ Interessen diffuser Grup-
pen (z.B. Steuerzahler oder Konsumenten) abwägen, dann ent-
scheidet sie sich meist zugunsten für erstere (Steinhilber 2005:
178-180).
Auf der zweiten Stufe werden die Präferenzen in den zwischen-
staatlichen Verhandlungen umgesetzt. Dies wird erklärt durch eine
Verhandlungs- oder Bargaining-Theorie internationaler Koopera-
tion (vgl. Putnam 1988; Moravcsik 1993a). Hier kommt das realis-
tische Element des LI zum Tragen. Ist einmal der nationale Präfe-
renzbildungsprozess zu einer spezifischen Sachfrage abgeschlos-
sen, werden die Präferenzen der sozialen Gruppe bis zum Ende der
Verhandlungen als stabil angenommen. Definiert die Nachfrage
nach internationaler Kooperation die nationale Präferenzforma-
tion, so bestimmten die internationalen Verhandlungen das Ange-
bot an Koordination. Mit der Einführung der Verhandlungstheorie
internationaler Kooperation sind mehrere Annahmen verknüpft
(Moravcsik 1998: 60f): Entscheidungen zwischen Regierungen
werden auf der Grundlage von Freiwilligkeit und ohne Androhung
von Gewalt am Verhandlungstisch getroffen. Darüber hinaus ver-
fügen die Regierungen jeweils über ein breites Wissen über die
Implikationen der verschiedenen Politikoptionen und auch über
Neuer Liberalismus 205
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ausreichende Informationen über die Präferenzen der Verhand-


lungspartner und den Verhandlungsspielräumen. Um effektiv ver-
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handeln zu können, sind die Staaten nicht auf internationale bzw.


supranationale Institutionen angewiesen (Moravcsik 1998: 7).
Schließlich hängt das Verhandlungsergebnis von der relativen Ver-
handlungsmacht der Regierungen und der Fähigkeit, unterschied-
liche Verhandlungsgegenstände zu verknüpfen, ab. Dies führt Mo-
ravcsik (1998: 62) auf die Intensität der innerstaatlichen Präferen-
zen zurück.
Auf der dritten Stufe geht es schließlich um die Wahl europäi-
scher Institutionen. Hier greift Moravcsik auf eine funktionale
Theorie internationaler Institutionen zurück (vgl. Pollack 2003;
Franchino 2007). Er argumentiert, dass Nationalstaaten nur des-
halb Souveränität bündeln oder delegieren und sich auf institutio-
nelle Arrangements auf EU-Ebene einlassen, um sich glaubwürdig
an die eingegangenen Kooperationsverpflichtungen („credible
commitments“) zu binden (Moravcsik/Nicolaïdis 1999). Die euro-
päischen Institutionen können allerdings helfen, die Kooperations-
bedingungen zu verbessern, indem sie die Transaktionskosten re-
duzieren sowie zur Lösung von so genannten „second-order“-Pro-
blemen (die Überwachung von Regelungen durch die EU-Kom-
mission, die rechtliche Sanktionierung durch den EuGH oder die
Verteilung von Kooperationsgewinnen) internationaler Koopera-
tion beitragen (Zangl 1995). Die Übertragung nationaler Autorität
oder Schaffung neuer Loyalitäten auf der europäischen Ebene tritt
hingegen in den Hintergrund (dazu der Beitrag von Thomas Con-
zelmann in diesem Band).15
Die umfangreichste empirische Anwendung seines LI hat Mo-
ravcsik bisher in The Choice for Europe unternommen (Moravcsik
1998).16 Ziel von Moravcsiks historischer Analyse ist es, „to ex-
plain why sovereign governments in Europe have chosen repea-
tedly to coordinate their core economic policies and surrender so-

15 Im Unterschied zum Neofunktionalismus bzw. Supranationalismus gesteht der


LI supranationalen Behörden wie der EU-Kommission allenfalls die Rolle eines
Agenten in den zwischenstaatlichen Verhandlungen zu (Moravcsik 1991, 1999a).
16 Siehe dazu auch das Symposium „The choice for Europe: Social purpose and
state power from Messina to Maastricht“ im Journal of European Public Policy
(Wallace et al. 1999) mit einer Replik von Moravcsik. The Choice for Europe ist
inzwischen in mehreren Sprachen übersetzt worden.
206 Siegfried Schieder
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vereign prerogatives within an international institution“ (Morav-


csik 1998: 1). Hierzu untersucht er die zentralen Vertragsver-
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handlungen von der europäischen Gründungsphase (Messina 1955)


bis zum Vertrag von Maastricht 1992. In keiner dieser Vertrags-
entscheidungen seien – so Moravcsik – die üblicherweise ange-
führten Integrationsmotive leitend gewesen. Weder technokrati-
sche Anreize im Sinne des Neofunktionalismus und realistisch ge-
färbte geopolitische Erwägungen, noch europäischer Idealismus
oder der Versuch, den europäischen Wohlfahrtsstaat zu retten
(Milward 2000), hätten die Entscheidungen maßgeblich bestimmt.
Vielmehr entspringen die Meilensteine europäischer Integration
einem rationalen Kalkül der Regierungen, wobei drei Faktoren zu-
sammenwirken müssen: „patterns of commercial exchange, the
relative bargaining power of national governments, and the incen-
tives to enhance the credibility of interstate commitments. Most
fundamental of these was commercial interest. (…) When such
interests converged, integration advanced“ (Moravcsik 1998: 3).
Europäischen Institutionen und insbesondere dem Führungsperso-
nal dieser Institutionen wird kein entscheidender Einfluss auf die
Verhandlungsergebnisse eingeräumt (Moravcsik 1998: 479-485).
Obwohl der LI offenkundige Erklärungsvorteile gegenüber den
teleologisch fixierten föderalistischen und neofunktionalistischen
Integrationstheorien besitzt, ist Moravcsik von verschiedenen Sei-
ten kritisiert worden. An dieser Stelle können nur die wichtigsten
Einwände kurz genannt werden:
1. Moravcsik richtet sein Augenmerk auf die großen historischen
Vertragsverhandlungen und übersieht damit wesentliche Zu-
sammenhänge des alltäglichen Integrationsprozesses in der EU.
Die vielfältigen Kommunikations- und Entscheidungsverfahren
zwischen Kommission, Rat und Parlament sind in so kompli-
zierter Weise miteinander verknüpft, dass die daraus hervorge-
henden unintendierten Folgen der so genannten day-to-day-
politics für den Integrationsprozess nicht auf den ersten Blick
erkennbar sind (u.a. Wincott 1995; Tsebelis/Garrett 2000).

17 Die theoretische Debatte zwischen LI und Neofunktionalismus hat sich seit den
1990er Jahren im Wesentlichen in drei Zeitschriften abgespielt: International
Organization, Journal of Common Market Studies und im Journal of European
Public Policy.
Neuer Liberalismus 207
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2. Von primär institutionalistischer Perspektive wird kritisiert,


dass Moravcsik die Dynamik und das Eigeninteresse der euro-
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päischen Institutionen unterschätze, die weit mehr sind als von


den Mitgliedstaaten kontrollierte Instrumente zur Senkung von
Transaktionskosten und Überwachung von Entscheidungen
(Sandholtz/Stone Sweet 2004; Gehring 2002; Rittberger/Schim-
melfennig 2005: 78-80).
3. Der LI verkennt die Sachlogik funktionaler ‚spill-over‘- Effek-
te, die beim Übergang von der Zollunion zum Binnenmarkt, und
vom Binnenmarkt zur Wirtschafts- und Währungsunion die „Ra-
tionalität“ der nationalen Regierungen maßgeblich determinierte
(vgl. den Beitrag von Thomas Conzelmann in diesem Band).
4. Moravcsik führt den europäischen Integrationsprozess primäre
auf materielle ökonomische Interessen in den Gesellschaften
zurück und unterschlägt damit Wirkungen, die von gemein-
schaftlichen Sozialisierungs- und europäischen Lernprozessen
ausgehen (vgl. Risse 2009).
5. Schließlich schätze Moravcsik das Legitimationsproblem in der
EU falsch ein, indem er das Demokratiedefizit einseitig und
grob als eine fundamentale Quelle des Integrationserfolges ver-
kürzt (u.a. Føllesdal/Hix 2006). Spätestens jedoch seit Maa-
stricht ist das Demokratiedefizit zu einer zentralen Herausforde-
rung europäischer Integration geworden (u.a. Merkel 1999:
315).18

3. Theorieinterne Ausdifferenzierung
Moravcsiks Bemühungen, die analytische Verwirrung liberaler
Theoriestränge zu ordnen und diese systematisch aufeinander zu
beziehen, hat auf die liberale Theoriebildung der IB in den 1990er
Jahren zweifelsohne integrativ gewirkt. Dennoch bleibt das Spek-
trum komplementärer liberaler Ansätze nach wie vor breit. Neben
Moravcsiks präferenzorientierter liberaler Theorie haben sich in
den 1990er Jahren vor allem die so genannten Zwei-Ebenen-An-

18 In den letzen Jahren wurde vor allem kontrovers diskutiert, ob und inwieweit
die EU an einem „demokratischen Defizit“ leide. Moravcsik hat dies in einer
Reihe von Beiträgen (u.a. Moravcsik 2002, 2006, 2008) stets verneint.
208 Siegfried Schieder
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sätze etabliert.19 Der entscheidende Impuls für die Integration der


internationalen mit der nationalen Ebene ging von Robert Putnam
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(1988) aus (vgl. auch Evans/Jacobson/Putnam 1993). Damit rea-


gierte die Theoriebildung zum einen auf die Defizite struktureller
domestischer Erklärungen (Bienen/Freund/Rittberger 1999: 4), zum
anderen auch auf den seit den 1970er Jahren immer stärker wer-
denden Bedarf an internationaler Politikkoordination. Mit seiner
Metapher des „two-level game“ geht Putnam davon aus, dass Re-
gierungen von Staaten an zwei Tischen gleichzeitig spielen: mit
den internationalen Verhandlungsführern anderer Staaten und mit
den innenpolitischen Akteuren und Interessengruppen. Politische
Entscheidungen können nur dann getroffen und umgesetzt werden,
wenn diese sowohl international als auch in allen beteiligten natio-
nalen Entscheidungsarenen angenommen und umgesetzt werden
(Putnam 1988: 433-441).
Analysen innenpolitischer Konstellationen haben gezeigt, dass
nicht alle innenpolitischen Interessen über den gleichen Einfluss
verfügen. Zum einen haben die Organisationsfähigkeit und die
Größe von Interessengruppen einen entscheidenden Einfluss auf
deren politische Durchsetzungsfähigkeit. Empirische Studien etwa
zur US-amerikanischen Handelspolitik haben gezeigt, dass kleine
und wohl organisierte Gruppen ihre Interessen in überdurch-
schnittlichem Maße in nationale Verhandlungsergebnisse einbrin-
gen können (Medick-Krakau 1994). Zum anderen wirken die for-
malen Institutionen des politischen Systems sowie die Organisa-
tion von Parteien auf die Konstellation von Veto-Spielern,20 deren
Zustimmung für grenzüberschreitende Politikkoordination notwen-
dig ist. Auf der Basis der innenpolitischen Akteurskonstellation
hat Bernhard Zangl eine Verknüpfung zwischen der Spielstruktur
auf der internationalen Ebene mit dem Zusammenspiel staatlicher
und gesellschaftlicher Akteure im Rahmen internationaler Ver-
handlungen vorgeschlagen und gleichsam eine Brücke zwischen
Neoinstitutionalismus, Liberalismus und Sozialkonstruktivismus
geschlagen (Zangl 1999: 91-114).

19 Einen wichtigen liberalen Strang stellt die Theorie des „demokratischen Frie-
dens“ dar. Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Hasenvlecer in diesem Band.
20 Bei den Veto-Spielern handelt es sich um diejenigen Individuen und kollektiven
Akteure, deren Zustimmung für eine Veränderung in einem Politikfeld notwen-
dig ist. Ausführlich dazu Tsebelis 2002.
Neuer Liberalismus 209
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So brauchbar die Zwei-Ebenen-Metapher sich für die praktische


Analyse internationaler Politik auch erwiesen hat, so ist das Mo-
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dell bei der Herausbildung von Präferenzen von Regierungen –


wie Gourevitch richtig bemerkt hat – insgesamt theoretisch defi-
zitär geblieben: „We do not have very good theories to handle
what happens when both are in play, when each influence the
other, when the domestic politics of one country interact with the
domestic politics of other, an interaction which itself helps define
a system that reverberates back on the parts. We have good meta-
phors, but not clear research programs“ (Gourevitch 2002: 321).
Während Putnams zentrale Schlussfolgerung lautet, dass die Exe-
kutive als nationale Verhandlungsführerin danach strebt, sich in-
nenpolitisch die „Hände binden zu lassen“, um auf der internatio-
nalen Verhandlungsebene eine stärkere Verhandlungsposition ein-
nehmen zu können, dreht Moravcsik in seinem politischen Res-
sourcenansatz diese Schlussfolgerung um. Die Fähigkeit gesell-
schaftlicher Gruppen, die Exekutive in der Außenpolitik zu kon-
trollieren, hängt nach Moravcsik davon ab, ob sie mit Hilfe von
Verfahren die politische Agenda kontrollieren (Initiative) und den
Entscheidungsfindungsprozess beeinflussen können (Institutio-
nen), ob sie über genügend Informationen bezüglich der Hand-
lungsoptionen der Exekutiven verfügen und ob sie andere inner-
staatliche Gruppen von ihren Politikinhalten überzeugen (Ideen)
können (Moravcsik 1994: 4). Entscheidend ist also das Kräftever-
hältnis zwischen Exekutive und gesellschaftlichen Gruppen. Durch
internationale Kooperation werden aber Regierungen in die Lage
versetzt, sich einerseits einen größeren Handlungsspielraum ge-
genüber innenpolitischen und gesellschaftlichen Akteuren zu ver-
schaffen, da sie am längeren außenpolitischen Hebel sitzen (Mo-
ravcsik 1994: 43). Andererseits kann die Exekutive aber auch den
Einfluss der gesellschaftlichen Gruppen manipulieren, indem sie
das formale oder informelle Ratifikationsverfahren oder das in-
nenpolitische Machtgleichgewicht durch Ausgleichszahlungen,
verstärkte Parteidisziplin oder selektive Mobilisierung politischer
Gruppen verändert (Moravcsik 1993a: 24-27).
Moravcsiks Hauptargument ist, dass sich die nationalen Exeku-
tiven der Logik des Zwei-Ebenen-Spiels auch zur Durchsetzung
innenpolitischer Ziele bedienen können. Internationale Koopera-
tion wird von den Regierungen instrumentalisiert, um den gesell-
210 Siegfried Schieder
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schaftlichen Gruppen die Kontrolle über die kritischen Machtres-


sourcen (Initiative, Institutionen, Informationen und Ideen) zu ent-
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ziehen, so dass diese nicht mehr in der Lage sind, positiven oder
negativen Einfluss auf die Regierungspolitik auszuüben. Für Mo-
ravcsik liegt hierin die rationale Motivation der Staaten, sich an in-
ternationalen Kooperations- und Integrationsprozessen zu beteili-
gen, obwohl dies mit Souveränitätseinbußen verbunden ist (Mo-
ravcsik 1994: 1). Klaus Dieter Wolf (2000) hat in Die Neue
Staatsräson eine ähnliche Ansicht vertreten. Mit Hilfe der Zwei-
Ebenen-Analyse zeigt er, wie in Zeiten der Globalisierung zwi-
schenstaatliche Kooperation und staatliche Selbstbindung ganz be-
wusst als Optionen zur Wiedererlangung staatlicher Handlungs-
autonomie gegenüber ihren Gesellschaften dienen können, aller-
dings um den Preis der Untergrabung demokratisch legitimierter
Politik. Zusammen mit anderen Autoren hat Moravcsik hingegen
geltend gemacht, dass die staatliche Einbindung in multilaterale
Institutionen „can enhance the quality of national democratic pro-
cesses, even in well-functioning democracies (…) by restricting
the power of special interest factions, protecting individual rights,
and improving the quality of democratic deliberation, while also
increasing capacities to achieve important public purposes“ (Keo-
hane/Macedo/Moravcsik 2009: 2).
Eine dem präferenzorientiertem Liberalismus ähnliche Theorie,
die auf das „two-level game“ zurückgreift, hat Helen Milner
(1997, 1999) entwickelt.21 In Interests, Institutions, and Informati-
on geht sie anhand wichtiger zwischenstaatlicher Verhandlungen
über die Schaffung der internationalen Wirtschaftsinstitutionen der
Nachkriegsära der Frage nach, unter welchen Bedingungen Staa-
ten in bestimmten Politikfeldern kooperieren. Zwischenstaatliche
Zusammenarbeit hängt weniger von den relativen Kooperations-
gewinnen ab, als von den „domestic distributional consequences of
cooperative endeavors“ (Milner 1997: 9; vgl. auch Keohane/Mil-
ner 1986). Kooperation schafft Gewinner und Verlierer innerhalb
eines Landes, was wiederum zu Kooperationsbefürwortern und
-gegnern führt. Es ist der innenpolitische Wettbewerb und Kampf

21 Siehe zu diesem liberalen Theoriestrang, der sich vor allem mit den innenstaatli-
chen Voraussetzungen für das Zustandekommen von internationalen Handels-
abkommen beschäftigt, Milner/Mansfield/Pevehouse 2007.
Neuer Liberalismus 211
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zwischen diesen Gruppen, welche die Bedingungen der Möglich-


keit von zwischenstaatlicher Kooperation schafft, die sie auf drei
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zentrale innenpolitische Faktoren zurückführt: „the structures of


domestic preferences, the nature of domestic political institutions,
and the distribution of information internally“ (Milner 1997: 234).
Milners liberale Theorie ist in mancher Hinsicht sogar detaillierter,
büßt aber viel von ihrer Trennschärfe ein, sobald sie nicht mehr
auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen (liberalen) Demokratien
angewandt wird (Wolf 2001). Während sie argumentiert, dass die
Interessen gesellschaftlicher Akteure von materiellen Erwartungen
bestimmt werden, schließt Moravcsik nicht aus, dass gesellschaft-
liche Gruppen mit ideellen Interessen und Werten den Staat ‚er-
obern‘ (Moravcsik 2008: 240-242).

4. Externe Kritik
Moravcsiks paradigmatische Erneuerung der liberalen Theorietra-
dition hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. An dieser
Stelle kann nicht auf alle Einwände eingegangen werden, weshalb
ich mich vor allem auf drei Kritikpunkte beschränke: Erstens fühl-
ten sich durch den präferenzorientierten Liberalismus vor allem
Vertreter traditioneller systemischer Ansätze herausgefordert. Kri-
tik kam zweitens von Seiten konstruktivistischer Ansätze, die die
rationalistische Ontologie und das rigorose methodologische Ver-
ständnis von Moravcsik zurückweisen. Schließlich wurden drit-
tens auch normative bzw. kritisch-ideologische Einwände erhoben.
(1) Von Vertretern systemischer Theorien wurde der Vorwurf er-
hoben, dass die liberale Theorie der IB für eine „systemische“ Ana-
lyse der internationalen Politik „überkomplex“ sei, da immer unter-
schiedliche innerstaatliche Faktoren zur Erklärung des außenpoliti-
schen Verhaltens bemüht würden. Keohane schlug deshalb vor, auf
innenpolitische Faktoren zur Erklärung von Anomalien nur dann zu-
rückzugreifen, wenn das außenpolitische Verhalten eines Staates mit
Hilfe systemischer Faktoren nicht erklärbar sei (Keohane zit. in Mo-
ravcsik 1993a: 9; vgl. auch Schweller 2006). Darüber hinaus be-
mängelten Neoinstitutionalisten, dass zwar die Institutionen in den
nationalen politischen Systemen die Interaktion zwischen den ver-
schiedenen Gruppen in einem Staat beeinflussen, die Institutionen
212 Siegfried Schieder
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im internationalen System aber für die Interaktion zwischen ver-


schiedenen Staaten unerheblich sind. Diese grundlegend unter-
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schiedliche Bewertung von Strukturen auf der subsystemischen und


systemischen Ebene von Moravcsik scheint für rationalistische Insti-
tutionalisten kaum plausibel (Zangl 1999: 55; vgl. auch Keohane
1994). Zudem wurde kritisiert, dass jedes Verständnis vom Staat als
bloßer Spiegel durchsetzungsfähiger wirtschaftlicher oder zivilge-
sellschaftlicher Interessen zu kurz greife (Bienen/Freund/Rittberger
1999: 10). Vielmehr müssen – wie schon bei dem Bürokratiemodell
(Allison/Zelikow 1999) – auch die Akteure und deren Präferenzen
innerhalb des Staatsapparates als Teil des politisch-administrativen
Systems berücksichtigt werden.
(2) Eine etwas grundlegendere Kritik am neuen Liberalismus
wurde von sozialkonstruktivistischer Seite vorgebracht. Obwohl
Moravcsik argumentiert, dass die Institutionen in nationalen politi-
schen Systemen die Identitäten von Staaten und deren Präferenz-
bildung prägen, bleiben die Institutionen im internationalen Sys-
tem für die Identitäten von Staaten unerheblich. Eine Reihe von
Studien haben gezeigt, wie wichtig internationale Institutionen für
die Bildung von Identitäten sind. So werden im europäischen Inte-
grationsprozess nicht nur innerstaatliche Machtressourcen umver-
teilt, indem zielorientierte Akteure in strategischen Interaktionen
ihren Nutzen zu maximieren versuchen und fixe Präferenzen aus-
tauschen, sondern es bilden sich neue Gemeinschaftsnormen und
Identitäten heraus. Die Mitgliedschaft in der EU „zähle“, d.h. die
Rationalität der Akteure ist immer kontextgebunden und sozial
konstruiert. Normen, Ideen und Identitäten ermöglichen angemes-
senes soziales Handeln, indem sie kollektiv geteilte Bedeutungs-
gehalte und Verhaltenserwartungen bereitstellen (vgl. grundlegend
Wendt 1999). Institutionen werden dann nicht mehr nur ausschließ-
lich durch die Akteure bestimmt, sondern sie konstituieren wech-
selseitig auch Akteurspräferenzen und wirken damit identitätsstif-
tend auf die einzelnen Mitgliedstaaten. Indem Moravcsik jedoch
die wechselseitige Konstituierung von sozialen Akteuren und so-

22 Vgl. dazu das Sonderheft „The Social Construction of Europe“ der Zeitschrift
Journal of European Public Policy von 1999, hrsg. von Thomas Christiansen,
Knut E. Jørgensen und Antje Wiener mit Beiträgen u.a. von Jeffrey T. Checkel,
Thomas Diez und Thomas Risse. 2001 sind die Beiträge auch in Buchform er-
schienen.
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zialen Strukturen und die sozialisierende Wirkung internationaler


Institutionen ignoriere, verkenne er letztlich die fundamentalen An-
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triebskräfte des europäischen Integrationsprozesses. „A significant


amount of evidence suggests that, as a process, European integra-
tion has a transformative impact on the European state system and
its constituent units. European integration itself has changed over
the years, and it is reasonable to assume that in the process agents’
identity and subsequently their interests and behaviour have
equally changed. While this aspect of change can be theorized
within constructivist perspectives, it will remain largely invisible in
approaches that neglect processes of identity formation and/or as-
sume interests to be given exogenously“ (Christiansen/Jørgensen/
Wiener 1999: 529, H.i.O.).
Moravcsik hat auf die konstruktivistische Kritik reagiert, indem
er „a characteristic unwillingness of constructivists to place their
claims at any real risk of empirical disconfirmation“ auszumachen
scheint. „Hardly a single claim (…) is formulated or tested in such
a way that it could, even in principle, be declared empirically in-
valid“ (Moravcsik 1999b: 670, H.i.O.).23 Zum einen sei es dem
Konstruktivismus nicht gelungen, unterscheidbare Hypothesen zu
entwickeln und diese einem breiten empirischen Test zu unterzie-
hen, zum anderen mangele es ihm an geeigneten Methoden, um
die Hypothesen gegenüber alternativen Theorien mittlerer Reich-
weite konkurrierend zu testen (Moravcsik 1999b: 670).24 Dagegen
haben Konstruktivisten ihrerseits eingewandt, Moravcsik bevor-
zuge rationalistische Erklärungen per se und versuche damit den
wissenschaftstheoretischen Diskurs hegemonial zu steuern, indem
er konstruktivistischen Ansätzen höhere empirische und metho-

23 Moravcsik (1999b: 669) hat seine Kritik mit dem provokanten Titel „Is some-
thing rotten in the state of Denmark? Constructivism and European integration“
überschieben, indem er auf die „Kopenhagener Schule“ anspielt, „the force of
continental constructivist theories“. Siehe auch den Disput zwischen Checkel/
Moravcsik (2001).
24 Moravcsik weist den Vorwurf zurück, rationalistische Erklärungsansätze gingen
davon aus, dass Akteure über keine Ideen verfügten. „Collective ideas are like
air; it is essentially impossible for humans to function as social beings without
them. In this (trivial) sense there is little point in debating whether ,ideas mat-
ter.‘ Existing rationalist theories claim only something far more modest, namely
that ideas are causally epiphenomenal to more fundamental underlying influ-
ences on state behavior“ (Moravcsik 1999b: 674, H.i.O.).
214 Siegfried Schieder
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dologische Standards abverlange als seinen eigenen (Risse/ Wie-


ner 1999: 777-781; vgl. auch Risse 2009 und Diez 1999). Dabei
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habe gerade die Europaforschung inzwischen gezeigt, dass „most


empirical work from a constructivist perspective does engage al-
ternative explanations and demonstrates its claims against compe-
ting hypotheses. Thus, social constructivist research on the EU has
quickly entered the realm of ,normal social science‘ “ (Risse 2009:
158). Postmoderne Autoren sind mit ihrer Kritik noch weiter ge-
gangen, indem sie das auf Hypothesentest und Falsifikation fu-
ßende liberale Forschungsprogramm von Moravcsik ablehnen (sie-
he etwa Diez 1999).
(3) Moravcsiks neuer Liberalismus wurde schließlich auch aus
einer normativen Sichtweise heraus kritisiert. David Long hat ein-
gewendet, dass „each of Moravcsik’s propositions involves a sig-
nificant narrowing (…) of liberal political thought. On the one
hand, there is a reduction to a minimalist classical liberalism. On
the other, there is a bad positivism that dispenses with liberal phi-
losophy. (…) The result is a distortion of liberalism and a mis-
naming of a theory of international relations“ (Long 1995: 499).
Dass durch Moravcsiks Reformulierung der liberalen Theorie der
politische Charakter der Theorie untergraben wird, darauf hat auch
Christian Reus-Smit verwiesen: „The ideational and material pref-
erences of individuals, which are the bedrock of his liberal under-
standing of the world, are forged in a pre-political realm, and thus
fall outside of the explanatory purview of his theory. It is only when
we come to the secondary tier of preferences – the state prefer-
ences derived from ascendant individual or group preferences –
that his theory comes close to taking preferences seriously“ (Reus-
Smit 2001: 584). Indem er das genuin Politische vernachlässigt
und von einem „dünnen“ Präferenzverständnis ausgeht, entferne
Moravcsik die normative Reflexion aus dem Bereich ernsthafter
sozialwissenschaftlicher Forschung (Reus-Smit 2001: 574).
Die unpolitische, vom sozialen Charakter internationaler und
europäischer Politik abstrahierende Konzeption der liberalen Theo-
rie wurde auch von marxistischer Seite kritisiert. So setze Mo-
ravcsik ahistorisch die Fortdauer der bestehenden internationalen
Ordnung voraus. Zwar nimmt er den pluralistischen Interessen-
wettbewerb innerhalb der Nationalstaaten in den Blick, „die grund-
legenden Macht- und Herrschaftsmechanismen und politischen
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Kräfteverhältnisse blendet er jedoch aus“ (Steinhilber 2005: 188).


Moravcsik selbst weist an einigen Stellen auf Parallelen zwischen
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liberaler und marxistischer Theorie hin und hält die nichtteleologi-


schen Annahmen des Marxismus – „the centrality of domestic
economic interests, the importance of transnational interdepen-
dence, the state as a representative of dominant social forces“ – für
durchaus kompatibel mit den Prämissen seines neuformulierten
Liberalismus (Moravcsik 1997: 522). Allerdings weist er die nor-
mative und ideologiekritische Sichtweise des Marxismus als mit
einer positiven liberalen Theorie der IB nicht vereinbar zurück.
Dagegen hat Beate Jahn eingewendet, dass – entgegen seinem
eigenen Anspruch, eine nicht-ideologische liberale Theorie der
internationalen Beziehungen formulieren zu wollen – Moravcsiks
neuer Liberalismus selbst „deeply ideological“ sei (Jahn 2009: 409).
In ihrem Beitrag mit dem Titel „Liberal internationalism: from
ideology to empirical theory – and back again“ in der Zeitschrift
International Theory kritisiert sie Moravcsik nicht nur für dessen
implizite normative Grundannahmen beim Design seiner empiri-
schen Forschungsprogramme, sondern Jahn zieht auch den An-
spruch des neuen Liberalismus als distinkte Theorie der interna-
tionalen Beziehungen in Zweifel.25 Schließlich seinen die Implika-
tionen der liberalen Theorie auch politisch nicht wünschenswert,
weil damit der Verbreitung des liberalen Narratives in einer nicht-
liberalen Welt Vorschub geleistet werde. Unter Bezugnahme auf
Richard Wagners Meistersänger von Nürnberg hat Moravcsik mit
dem bezeichnenden Titel ,Wahn, Wahn, Überall Wahn‘ regiert
(Moravcsik 2010a). Moravcsik wirft Jahn nicht nur wissenschaft-
liche Unredlichkeit und Unterstellung vor, sondern er weist auch
entschieden die Kritik von sich, wonach jeder Versuch der For-
mulierung einer generalisierbaren Theorie in den Sozialwissen-
schaften gleichsam inhärent ideologisch sei. Nicht weniger deut-
lich antwortet Jahn (2010) darauf, indem sie die Frage nach „Uni-
versal languages?“ stellt, worauf Moravscik (2010b: 172) mit der
Bemerkung reagiert: „She [Beate Jahn, S.S.] has spent dozens of

25 So moniert Jahn (2009: 419), „that the liberal paradigm does not fulfill the crite-
rion of distinctnessy. Moravcsik’s general assumptionsy are shared by a host of
other ,approaches‘“ – eine Interpretation, die Moravcsik mit dem Hinweis zu-
rückweist, sie würde seine Arbeiten nicht wirklich zur Kenntnis nehmen (Mo-
ravcsik 2010a: 115).
216 Siegfried Schieder
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pages tilting at paradigmatic windmills rather than doing the hard


empirical and mid-range work required to establish her argument
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vis-à-vis those of other scholars who have invested in the topic.


This isolates her work intellectually“.
Mag diese jüngste Auseinandersetzung zwischen Moravcsik
und seinen Kritikern auch Erinnerungen an frühere Debatte über
die Annahme einer methodologischen Einheit der Wissenschaften
wach rufen, so ist sie letztlich insofern interessant und lehrreich
als liberale Theorieansätze in den internationalen Beziehungen gut
daran täten, sowohl die normativen als auch die positiven Dimen-
sionen ihres Gegenstandes zu reflektieren. Denn obwohl klar ist,
dass wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das eine
nicht mit dem anderen verwechseln dürfen, können wir doch nicht
hoffen, normative Fragen dadurch zu vermeiden, dass wir uns aus-
schließlich auf die positiven Aspekte eines politischen Gegenstan-
des konzentrieren. In neueren Einführungen in die Theorien und in
den Gegenstand der Internationalen Beziehungen wird inzwischen
selbstverständlich davon ausgegangen, dass empirische und nor-
mative Fragen zusammengedacht werden müssen und dass es sich
folglich lohnt, den impliziten normativen Gehalt des neuen Libe-
ralismus explizit zu machen (Simpson 2008).

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222 Siegfried Schieder
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Liberale Ansätze zum „demokratischen


Frieden“
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Andreas Hasenclever

1. Einleitung
Mitte der 1980er Jahre bemerkten die Statistiker, dass sie etwas
übersehen hatten. Bislang meinten sie, dass Demokratien in ihrer
Außenpolitik genauso gewaltbereit agieren würden wie andere
Staaten auch. Offenkundig schreckten sie weder vor militärischen
Konflikten noch vor der bewaffneten Einmischung in die inneren
Angelegenheiten fremder Länder zurück. Die USA kämpften in Viet-
nam, England kämpfte um die Falklandinseln, Frankreich kämpfte in
Schwarzafrika und Indien kämpfte gegen Pakistan, um nur vier Bei-
spiele zu nennen. Außerdem hielten westliche Demokratien über
Jahrzehnte hinweg eine Politik der nuklearen Abschreckung auf-
recht. Sie signalisierten ihre Entschlossenheit, im Falle eines sowje-
tischen Angriffs eher den massenhaften Tod unschuldiger Zivilisten
in Kauf zu nehmen, als sich einer fremden Macht zu beugen.
Mit dieser offenkundigen Gewaltbereitschaft gewählter Regie-
rungen erfuhr die realistische These von der Bedeutungslosigkeit
der Innenpolitik für die Außenpolitik eine auf den ersten Blick
eindrucksvolle Bestätigung (vgl. hierzu den Beitrag von Andreas
Jacobs in diesem Band). Zeigte doch das ‚normale‘ Verhalten von
Demokratien, dass alle Staaten unter den Bedingungen internatio-
naler Anarchie ihre nationalen Interessen rational und notfalls
auch mit militärischen Mitteln verfolgen würden. Für Realisten
stand deshalb die Hoffnung auf eine Befriedung der internationa-
len Staatengemeinschaft durch die Demokratisierung ihrer Mit-
glieder auf tönernen Füßen. Das auswärtige Verhalten gewählter
Regierungen war nachweislich nicht von besonderer Zurückhal-
tung geprägt. Vielmehr schienen diese die Regeln der Machtpolitik
perfekt zu beherrschen und das ‚große Spiel‘ um Allianzen und
Einflusszonen gekonnt mitzuspielen.
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Liberale Ansätze zum „demokratischen


Frieden“
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Andreas Hasenclever

1. Einleitung
Mitte der 1980er Jahre bemerkten die Statistiker, dass sie etwas
übersehen hatten. Bislang meinten sie, dass Demokratien in ihrer
Außenpolitik genauso gewaltbereit agieren würden wie andere
Staaten auch. Offenkundig schreckten sie weder vor militärischen
Konflikten noch vor der bewaffneten Einmischung in die inneren
Angelegenheiten fremder Länder zurück. Die USA kämpften in Viet-
nam, England kämpfte um die Falklandinseln, Frankreich kämpfte in
Schwarzafrika und Indien kämpfte gegen Pakistan, um nur vier Bei-
spiele zu nennen. Außerdem hielten westliche Demokratien über
Jahrzehnte hinweg eine Politik der nuklearen Abschreckung auf-
recht. Sie signalisierten ihre Entschlossenheit, im Falle eines sowje-
tischen Angriffs eher den massenhaften Tod unschuldiger Zivilisten
in Kauf zu nehmen, als sich einer fremden Macht zu beugen.
Mit dieser offenkundigen Gewaltbereitschaft gewählter Regie-
rungen erfuhr die realistische These von der Bedeutungslosigkeit
der Innenpolitik für die Außenpolitik eine auf den ersten Blick
eindrucksvolle Bestätigung (vgl. hierzu den Beitrag von Andreas
Jacobs in diesem Band). Zeigte doch das ‚normale‘ Verhalten von
Demokratien, dass alle Staaten unter den Bedingungen internatio-
naler Anarchie ihre nationalen Interessen rational und notfalls
auch mit militärischen Mitteln verfolgen würden. Für Realisten
stand deshalb die Hoffnung auf eine Befriedung der internationa-
len Staatengemeinschaft durch die Demokratisierung ihrer Mit-
glieder auf tönernen Füßen. Das auswärtige Verhalten gewählter
Regierungen war nachweislich nicht von besonderer Zurückhal-
tung geprägt. Vielmehr schienen diese die Regeln der Machtpolitik
perfekt zu beherrschen und das ‚große Spiel‘ um Allianzen und
Einflusszonen gekonnt mitzuspielen.
224 Andreas Hasenclever
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Unbemerkt blieb in der realistischen Analyse freilich, dass De-


mokratien – wenn überhaupt – nur sehr selten Kriege gegeneinan-
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der führen. Selbst unterhalb der Kriegsschwelle sind sie in deutlich


weniger militärische Auseinandersetzungen mit ihresgleichen verwi-
ckelt, als statistisch gesehen zu erwarten wäre. Es ist das Verdienst
von Michael Doyle (1983), die Forschung auf diese bemerkenswert
geringe Gewaltanfälligkeit zwischendemokratischer Beziehungen
aufmerksam gemacht zu haben. Seither fahndet eine Unzahl von So-
zialwissenschaftlerInnen nach einer liberalen Erklärung für dieses
Phänomen. Dabei kennzeichnet der Begriff „liberal“ all jene theore-
tischen Bemühungen, welche die Friedfertigkeit von Demokratien
gegenüber ‚Artgenossen‘ auf ihre besondere innenpolitische Verfas-
sung zurückzuführen versuchen.1 Demnach sind gewählte Regierun-
gen gemeinsam mit anderen gewählten Regierungen in der Lage, in-
ternationale Sicherheitsgemeinschaften im Sinne Karl W. Deutschs
(1957) zu bilden, in denen keine Kriege mehr geführt werden. Des-
halb sollten Demokratien nach Meinung vieler liberaler Analytike-
rInnen auch für die Verbreitung ihres Herrschaftssystems in der
Welt Sorge tragen. Dass dieser Ratschlag nach dem Ende des Kalten
Kriegs in den Führungsetagen der Politik angekommen ist, zeigt ein
Zitat des damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, der An-
fang der 1990er Jahre erklärte: Die Demokratisierung autoritärer Sys-
teme „serves all of America’s strategic interests – from promoting
prosperity at home to checking global threats abroad“, und zwar ge-
nau deswegen, weil „democracies rarely wage war on one another“
(zit. nach Gowa 1999: 3).
Wie wir allerdings noch sehen werden, erweisen sich die Ver-
haltensauffälligkeiten demokratischer Staaten für die liberale
Theoriebildung als ausgesprochen widerspenstig. Zwar gab es in
den letzten Jahren vermehrt Indizien dafür, dass gewählte Regie-
rungen auch jenseits demokratischer Zonen weniger gewaltbereit
agieren als Staaten anderen Typs. Trotzdem bleibt der markante
Doppelbefund bestehen: Demokratien treten gegenüber Staaten
mit fremden Verfassungssystemen deutlich aggressiver auf als ge-

1 Zur ausführlichen Diskussion der spezifischen Merkmale liberalen Denkens in


den Internationalen Beziehungen vgl. den Beitrag von Siegfried Schieder in die-
sem Band. Zwei nicht-liberale Erklärungsversuche des demokratischen Friedens
werden in Abschnitt 4 kurz vorgestellt und diskutiert.
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 225
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genüber Artgenossen. Während also Realisten das Problem haben,


den „demokratischen (Separat-)Frieden“ zu erklären, werden libe-
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rale Autoren mit dem Rätsel konfrontiert, dass Demokratien in der


übrigen Staatenwelt regelmäßig als Großmächte im traditionellen
Sinne auftreten und dies von ihrer Bevölkerung akzeptiert wird.
Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags stehen im zweiten Ab-
schnitt die Arbeiten des amerikanischen Politikwissenschaftlers
Bruce Russett und seines deutschen Kollegen Ernst-Otto Czem-
piel.2 Beide Autoren haben die liberale Forschung zum „demokra-
tischen Frieden“ maßgeblich beeinflusst, wobei Russett das Phä-
nomen stärker aus der Perspektive von Staatenpaaren – so genann-
ten Dyaden – analysiert, während Czempiel die Meinung vertritt,
dass Demokratien nicht nur in ihren wechselseitigen Beziehungen,
sondern generell – also von ihrem Wesen her – friedfertiger sind
als andere Staaten.3 Die Beschäftigung mit diesen zwei Referenz-
theoretikern darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass über
das Theorem des „demokratischen Friedens“ seit fast zwanzig Jah-
ren mit Hochdruck gearbeitet wird. Es gibt eine ganze Reihe von
SozialwissenschaftlerInnen, die wichtige Beiträge geleistet haben
und deren Ergebnisse, soweit es der Raum zulässt, genannt werden
sollen.4 Nach den modernen Klassikern zum „demokratischen
Frieden“ wird im dritten Abschnitt ein kurzer Blick auf drei aktu-
elle Entwicklungen in der liberalen Theoriebildung geworfen. Sie
teilen das Anliegen, die etablierte Forschung von ihrer strikten
Ausrichtung auf die Bedeutung der Innenpolitik für die Außenpo-
litik zu lösen und für die Besonderheiten interdemokratischer Be-
ziehungen zu öffnen. Während allerdings die einen argumentieren,
dass Demokratien aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft eine ge-
meinsame Identität entwickeln, die dem Einsatz von Gewalt gegen
‚Artgenossen‘ entgegenwirkt, betonen andere die Ambivalenz der

2 Zentrale Publikationen dieser beiden Autoren sind Czempiel 1986; Czempiel


1996; Russett 1993; Russett/Oneal 2001.
3 Mittlerweile nähert sich Russett der Position Czempiels an (vgl. Russett/ Oneal
2001: 116). Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass die lange Zeit aufrecht er-
haltene Unterscheidung zwischen dyadischer und monadischer Forschungsper-
spektive schon immer künstlich war und heute allenfalls noch von theoriege-
schichtlicher Bedeutung ist.
4 Nützliche und durchaus kritische Überblicke zum Stand der höchst komplexen
und sich weiter verzweigenden Forschung liefern Geis 2001; Geis/Wagner
2006; Nielebock 2004; Rauch 2005; Zimmermann 2009.
226 Andreas Hasenclever
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liberalen Kultur, welche die unterschiedliche Gewaltbereitschaft


von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien erklären soll.
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Schließlich wird darauf abgehoben, dass demokratische Friedens-


zonen in besonders hohem Maß von internationalen Institutionen
durchsetzt sind, wodurch gerade in diesen Regionen Gewalt als
Mittel der Politik dysfunktional wird. Im vierten Teil des Beitrags
sollen die KritikerInnen liberaler Ansätze zum „demokratischen
Frieden“ zu Wort kommen. Ihre Einwände machen deutlich, dass
die theoretische Debatte über die Gründe für die auffallend gerin-
ge Gewaltanfälligkeit interdemokratischer Beziehungen noch lan-
ge nicht beendet ist.

2. Moderne Klassiker der liberalen Forschung über


den „demokratischen Frieden“: Bruce Russett und
Ernst-Otto Czempiel
Noch gibt es keine zufriedenstellende liberale Erklärung des „de-
mokratischen Friedens“. Gleichwohl haben sich in der einschlägi-
gen Forschung Argumentationsmuster herausgebildet, die zu den
intellektuellen Grundbausteinen einer solchen Erklärung zählen
werden. Gemeinsam ist ihnen das Anliegen, außenpolitische Ge-
waltanwendung auf innenpolitische Interessen- und Machtkonstel-
lationen zurückzuführen (Moravcsik 1997: 516-521; Risse-Kappen
1995a: 24-34). Demnach agieren Regierungen in gesellschaftlichen
Kontexten und reagieren auf die Anforderungen organisierter
Gruppen in ihrem Entscheidungsumfeld. Welche dieser Anforde-
rungen sich wie in außenpolitischen Aktionen niederschlagen,
hängt wesentlich vom politischen System und der politischen Kul-
tur ab. Beide werden deshalb sowohl von Czempiel (1986: 112-
131) als auch von Russett und Oneal (2001: 53-58) zu zentralen
Kontextfaktoren außenpolitischer Gewaltanwendung erklärt.5

5 In jüngeren Arbeiten weicht Russett davon ab, politisch-institutionelle und poli-


tisch-kulturelle Ansätze zum „demokratischen Frieden“ einander gegenüberzu-
stellen und ihre Erklärungskraft konkurrierend zu beurteilen (Russett/Oneal
2001: 53). Vielmehr folgt er Bueno de Mesquita und dessen Kollegen (1999),
die beide Ansätze in ein Modell der strategischen Entscheidung gewählter Re-
gierungen integrieren (s.u.).
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 227
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Das politische System eines Landes legt fest, wem gegenüber


eine Regierung rechenschaftspflichtig ist. Hängt die Stabilität ihrer
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Herrschaft von einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung ab,


oder aber wird sie von einer verhältnismäßig kleinen Gruppe ge-
tragen? Die politische Kultur eines Landes informiert über die Ge-
waltbereitschaft in einer Gesellschaft. Wird der Rückgriff auf or-
ganisierten Zwang zur Eroberung und Verteidigung von Herr-
schaft eher für legitim oder für verwerflich gehalten? Der erste
Kontext gibt Hinweise auf die politischen Teilhabechancen mehr
oder weniger umfangreicher Bevölkerungsgruppen, der zweite
Kontext auf die Alltäglichkeit von Gewalt in innenpolitischen Aus-
einandersetzungen. Wie wir im Folgenden sehen werden, lassen
sich in beiden Kontexten typische Ausprägungen für Demokratien
identifizieren, die sie nach Russett und Oneal (2001: 55) zu „Tau-
ben“ im internationalen System machen. Sie erscheinen als beson-
ders gewaltunwillig, wobei sich diese Gewaltabneigung nach Mei-
nung der beiden Autoren vor allem in den interdemokratischen
Beziehungen optimal entfalten kann.

2.1 Das politische System als Kontextfaktor


außenpolitischen Verhaltens von Staaten

Demokratische Systeme sind durch die wechselseitige Kontrolle


von Legislative, Exekutive und Judikative gekennzeichnet und
wirken der anhaltenden Konzentration politischer Macht in den
Händen einheitlicher Eliten entgegen Zu diesem Zweck werden
Autorität und Zusammensetzung der drei Staatsorgane mittelbar
oder unmittelbar an freie, allgemeine und geheime Wahlen zurück-
gebunden, die regelmäßig stattfinden. Regierungen mit Wieder-
wahlinteresse müssen einerseits darauf achten, dass ihre Politik
mit den Machtverhältnissen in Legislative und Judikative kompati-
bel ist, wenn sie imageschädliche Blockaden oder Implementie-
rungsprobleme vermeiden wollen. Andererseits sind sie darauf an-
gewiesen, dass ihre Entscheidungen in der Bevölkerung zustim-
mungsfähig bleiben. Gewählte Regierungen stehen mithin unter
dem Imperativ der doppelten Konsonanz: Nicht nur sollen ihr wei-
te Teile der politischen Eliten freiwillig folgen, sondern auch die
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. In diesem Zusammenhang
228 Andreas Hasenclever
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hat schon Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden.


Ein philosophischer Entwurf bemerkt, dass Kriege in aller Regel
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höchst unpopuläre Phänomene sind:


„Wenn (...) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um
zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so ist nichts natürlicher,
als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen
müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer
eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt,
kümmerlich zu verbessern; zum Übermaß des Übels endlich noch eine
den Frieden selbst verbitternde, nie [wegen naher, immer neuer Krie-
ge] zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr be-
denken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“ (Kant 1973 [1795]:
127f).
Kurz: Kriege sind den SteuerzahlerInnen nach liberaler Überzeu-
gung ein Gräuel (Czempiel 1996: 80; Russett/Oneal 2001: 272-
273). Folglich werden sich rechenschaftspflichtige Regierungen
erst dann auf ein solches Wagnis einlassen, wenn sie über sehr
gute Gründe verfügen, mit denen sie Kampfeinsätze nationaler
Truppen in internationalen Konflikten vor der Bevölkerung recht-
fertigen können. In der Regel wird dies der Verweis darauf sein,
dass das Land und seine vitalen Interessen von einem äußeren
Feind bedroht sind.
Umgekehrt ist es ein Kennzeichen autokratischer Systeme, dass
die Bevölkerungsmehrheit systematisch von der politischen Mitbe-
stimmung ausgeschlossen wird. Deshalb müssen deren Regierun-
gen weniger Rücksicht auf die Interessen ihrer Bürgerinnen und
Bürger nehmen (Czempiel 1986: 130; Russett/Oneal 2001: 54).
Vielmehr orientieren sie sich an den Präferenzen der gesellschaft-
lichen Gruppen, die ihre Herrschaft tragen, seien dies nun Groß-
grundbesitzer, Industrielle, Kleriker, Militärs, Staatsbürokraten
oder eine Mischung von allen. Autokratische Regierungen sind
deshalb nach liberalem Verständnis eher in der Lage, Kampfein-
sätze zu beschließen, deren Kosten sie auf die Allgemeinheit um-
legen und deren Gewinne sie privatisieren.
In der Tat zeigen empirische Untersuchungen, dass demokrati-
sche Regierungen aus aggressiver Außenpolitik keinen Gewinn
ziehen (Chiozza/Goemans 2004; Goemans 2008). Ihre Wieder-
wahlchancen werden durch siegreiche Feldzüge nicht beeinflusst.
Umgekehrt haben Autokratien starke Anreize, in internationalen
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 229
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Krisen zu bestehen und diese notfalls bis zu einem Krieg eskalie-


ren zu lassen. Denn Erfolg in der Krise verbessert die Aussichten
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autokratischer Regierungen auf Amtserhalt deutlich, während die


Gefahr des Amtsverlusts nach einem verlorenen Krieg nicht höher
ist als nach einer verlorenen Krise. Dass autokratische Regierun-
gen nach einem verlorenen Krieg ein höheres Risiko tragen, aus
dem Amt gejagt und sogar empfindlich bestraft zu werden als de-
mokratische Regierungen, führen Bruce Bueno De Mesquita und
seine Kollegen (2003: 264) darauf zurück, dass demokratische Re-
gierungen wegen ihrer Rechenschaftspflicht vor der Gesamtgesell-
schaft viel größere Sorgfalt darauf verwenden, nur solche Kon-
flikte eskalieren zu lassen, die sie aller Voraussicht nach gewinnen
können und bei denen selbst ein negativer Ausgang ihre Wieder-
wahlchance nicht merklich gefährdet. Wie Philip Arena (2008)
gezeigt hat, ist letzteres vor allem dann der Fall, wenn es der Re-
gierung gelingt, die Opposition in die Kriegspolitik einzubinden.
Empirische Untersuchungen von Dan Reiter und Allan C. Stam
(2002; 2009) belegen in diesem Sinne dann auch, dass Demokra-
tien ihre Kriegsziele sorgfältig auswählen und ihre Kämpfe des-
halb überdurchschnittlich oft gewinnen.

2.2 Die politische Kultur als Kontextfaktor


außenpolitischen Verhaltens von Staaten

Nach Czempiel (1986: 112-115) und Russett (1993: 30-38; 90-92)


stehen nicht nur die politischen Institutionen von Demokratien ge-
gen den Einsatz außenpolitischer Gewalt, sondern auch ihre politi-
sche Kultur. Letztere sei geprägt vom Respekt vor dem Individu-
um, seinem Leben und seinem Besitz. Demokratien treten dem-
nach typischerweise als Rechtsstaaten in Erscheinung und politi-
sche Konflikte werden über Parteienkonkurrenz, Wahlen und Min-
derheitenschutz ausgetragen. Entsprechend ausgeprägt ist unter
Demokraten die Ablehnung von Gewalt als Instrument der politi-
schen Auseinandersetzung.6 Vielmehr ergibt sich aus dem grund-

6 Empirische Studien zeigen, dass Demokratien als Staatengruppe ein außerge-


wöhnlich niedriges Niveau innenpolitischer Gewalt aufweisen (Hegre et al.
2001). Vergleichbar niedrige Gewaltkennziffern erreichen ansonsten nur noch
230 Andreas Hasenclever
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legenden Respekt vor der Würde und den Rechten des Anderen
eine fundamentale Präferenz für Interessenausgleich und Kompro-
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miss. Nach Russett (1993: 31) hat sich in Demokratien mit ande-
ren Worten eine Kultur des „Live-and-let-live“ etabliert, und diese
Kultur macht sich auch in den auswärtigen Beziehungen demokra-
tischer Staaten bemerkbar, weil die Bürgerinnen und Bürger von
ihren Regierungen erwarten, dass sie so wenig Gewalt wie mög-
lich bei der Verfolgung nationaler Interessen einsetzen.
Im Unterschied zu Demokratien herrscht für liberale Autoren in
Autokratien eine Kultur der Gewalt. Anders ist es beispielsweise
nach Czempiel (1986: 113-114) nicht zu verstehen, wie es einer
Minderheit gelingen kann, auf Kosten der Mehrheit zu regieren.
Demnach gehen autokratische Systeme notwendigerweise mit ei-
ner ungerechten Verteilung von Wohlfahrts- und Teilhabechancen
in einer Gesellschaft einher. Würden sie dies nicht tun, könnten sie
ihre Politik in freien Wahlen zur Abstimmung stellen. Ungerech-
tigkeit aber lässt sich auf Dauer nur mit organisiertem Zwang auf-
rechterhalten. Doyle (1986: 1161) bemerkt deshalb: „Non-liberal
governments are in a state of aggression with their own people“.
Da kulturell geprägte Verhaltensdispositionen unteilbar sind, über-
trägt sich interner Unfrieden auf externen Unfrieden. Autokrati-
sche Regierungen gelten als notorisch unfähig, Konflikte mit
friedlichen Mitteln zu lösen. Vielmehr stellen sie eine permanente
Gefahr für die internationale Sicherheit und den Frieden in der
Welt dar. Entsprechend wachsam müssen Demokratien im Um-
gang mit Autokratien sein (Russett 1993: 32-33).
Der „demokratische Frieden“ wird damit aus liberaler Perspek-
tive aus dem innenpolitischen Entscheidungsumfeld gewählter Re-
gierungen heraus erklärt, die ein fundamentales Interesse am Er-
halt ihrer Ämter haben. Sie müssen darauf achten, für militärische
Einsätze in internationalen Konflikten eine möglichst breite und
anhaltende Unterstützung innerhalb des politischen Systems und
der Bevölkerung zu mobilisieren. Ansonsten ist das Risiko groß,
dass oppositionelle Parteien das Thema aufgreifen und der Regie-
rung spätestens beim nächsten Urnengang politische Inkompetenz
vorwerfen. Das Leben von Soldaten und der Reichtum der Nation

äußerst repressive Diktaturen, in denen bildlich gesprochen ‚Friedhofsruhe‘


herrscht.
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 231
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wurden in einem Konflikt riskiert, der niemals zu einem Waffen-


gang hätte eskalieren dürfen.7 Deshalb sind gewählte Regierungen
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im liberalen Verständnis zurückhaltend, wenn es um auswärtige


Gewaltanwendung geht. Diese Zurückhaltung spiegelt sich empi-
risch in dem Befund wider, dass Demokratien in der Regel nur sol-
che Kriege aus eigenem Willen anfangen, bei denen zumindest
zum Zeitpunkt der Entscheidung die Erfolgsaussichten als hoch
und die Dauer der Auseinandersetzung als gering eingeschätzt
werden (Reiter/Stam 2002, 2009).
Dass sich die Friedfertigkeit von Demokratien im internationa-
len System vor allem gegenüber ihresgleichen entfaltet, hat nach
liberaler Überzeugung einen einfachen Grund (Russett/Oneal 2001:
54f und 90). Demokratien und Autokratien befinden sich im ‚Na-
turzustand‘, weil demokratische Regierungen nicht erkennen kön-
nen, dass autokratische Regierungen ähnlichen Gewaltbeschränkun-
gen unterworfen sind wie sie selbst. Zwischen ihnen herrscht tief-
stes Misstrauen und entsprechend brutal entfaltet das Sicherheits-
dilemma seine Wirkung (vgl. hierzu die Ausführungen von An-
dreas Jacobs in diesem Band). Das wiederum führt dazu, dass de-
mokratische Regierungen meinen, sich vor der Ausbeutung ihrer
natürlichen Zurückhaltung durch gewaltbereite Autokratien schüt-
zen zu müssen. Deshalb versetzen sie sich in die Lage, schnell,
hart und unter Umständen sogar präemptiv auf Bedrohungen ihrer
Interessen durch autokratische Staaten reagieren zu können. Dem-
gegenüber ist das Sicherheitsdilemma in interdemokratischen Be-
ziehungen entschärft, da gewählte Regierungen um die interessen-
und kulturbedingte Zurückhaltung ihres politischen Gegners wis-
sen (Czempiel 1996: 82; Russett 1993: 31-32). Den Verantwortli-
chen ist klar, dass weder sie noch andere gewählte Regierungen
ihrer jeweiligen Bevölkerung eine Demokratie als Bedrohung prä-
sentieren können. Vielmehr wird von den Bürgerinnen und Bür-
gern jede gewaltsame Eskalation eines Konflikts mit einer anderen
Demokratie zu Recht als politisches Versagen gewertet.

7 So zeigt beispielsweise Arena (2008), dass demokratische Regierungen dann


damit rechnen müssen, bei der nächsten Wahl für ihre Kriegspolitik abgestraft
zu werden, wenn die Opposition konsequent die Politik der Regierung kritisiert
hat.
232 Andreas Hasenclever
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2.3 Die spannungsreiche Empirie zum „demokratischen


Frieden“
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Für die liberale Interpretation des „demokratischen Friedens“ spricht


zunächst eine ganze Reihe von Befunden. Nicht nur führen Demo-
kratien kaum Kriege gegeneinander und sind mit ihresgleichen au-
ßerordentlich selten in gewaltsame Konflikte unterhalb der Kriegs-
schwelle verwickelt.8 Vielmehr zeigen empirische Studien, dass
Demokratien auch in ihren Beziehungen zu Staaten mit fremden
Herrschaftssystemen militärisch zurückhaltender agieren als im in-
ternationalen Durchschnitt zu erwarten ist (vgl. Ray 2000: 300-
302; Russett/Oneal 2001: 116). Die alte These von der gleich ho-
hen Kriegsbeteiligung von Demokratien und Autokratien wird in
neueren Veröffentlichungen angezweifelt. Außerdem mehren sich
Stimmen, für die Kriegsbeteiligung nicht gleich Kriegsbeteiligung
ist. So haben Demokratien nach Gleditsch und Hegre (1997: 294)
die Tendenz, Allianzen mit ihresgleichen zu bilden und sich an
den Kriegen anderer Demokratien zu beteiligen. Dabei hätte die
Beteiligung oftmals nur symbolische Bedeutung und die Verluste
der Bündnispartner seien in vielen Fällen gering. Gleichwohl wür-
de ihr Engagement in den Statistiken als vollwertige Kriegsbeteili-
gung verbucht. Dadurch entstehe der falsche Eindruck, Demokra-
tien seien ähnlich oft in militärische Auseinandersetzungen ver-
wickelt wie alle anderen Staaten auch.
Unberücksichtigt blieb in früheren Studien des Weiteren, dass
Demokratien seltener als andere Staaten internationale Krisen pro-
vozieren, die eine Vorstufe für militärische Auseinandersetzungen
sind (Rousseau et al. 1996). Gleditsch und Hegre (1997: 295-297)
weisen ferner darauf hin, dass die größten Konflikte des 20. Jahr-
hunderts von nicht-demokratischen Staaten eröffnet worden seien.
Sie denken an den Ersten Weltkrieg, den Chinesisch-Japanischen-

8 Die statistischen Berechnungen basieren auf der Analyse des Gewaltvorkom-


mens in politisch relevanten Dyaden pro Jahr. Politisch relevante Dyaden sind
solche, in denen sich beide Staaten entweder in geographischer Nähe befinden
oder aber mindestens einer der beiden Staaten eine Großmacht ist. Mit dem
Blick auf das Ausmaß zwischenstaatlicher Gewalt werden Kriege von anderen
Formen militarisierter Konflikte wie der Drohung mit militärischer Gewalt, ei-
nem Truppenaufmarsch oder kleineren Gefechten unterschieden (vgl. Russett/
Oneal 2001: 94-96, 100-102).
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 233
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Krieg, den Zweiten Weltkrieg, den Koreakrieg und den Iranisch-


Irakischen Krieg. Schließlich sind nach Rummel (1995) die Krie-
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ge, die von Demokratien begonnen wurden, im internationalen


Durchschnitt weniger verlustreich. Der Eindruck äquivalenter Ge-
waltbereitschaft könne deshalb nur entstehen, wenn Kriege nicht
nach Schwere und Ausmaß der in ihnen verübten Grausamkeiten
unterschieden würden.
Neben der direkten Bestätigung liberaler Erwartungen zum Ge-
waltverhalten demokratischer Staaten gibt es indirekte Indizien,
die in der einen oder anderen Form die zentralen Kausalmechanis-
men des liberalen Erklärungsmodells unterstützen – also die mate-
riellen Interessen der Bürgerinnen und Bürger, die politische Kul-
tur von Demokratien und das politische Kalkül gewählter Regie-
rungen. So fällt Dixon (1994) auf, dass zwischendemokratische
Streitigkeiten im internationalen Vergleich überdurchschnittlich
häufig auf dem Verhandlungswege, unter Zuhilfenahme von Ver-
mittlungsdiensten Dritter oder durch Rückgriff auf Schiedsverfah-
ren bearbeitet werden. Demokratien suchen und nutzen also gezielt
zivile Formen der Konfliktbearbeitung im internationalen System.
Dem entspricht der Befund, dass sie bemerkenswert oft in interna-
tionalen Institutionen engagiert sind und dass sie in der Staaten-
welt als besonders zuverlässige Kooperationspartner gelten. Nicht
von ungefähr sind die Handelsbeziehungen zwischen Demokratien
außergewöhnlich intensiv und das Volumen des Austausches an
Waren, Dienstleistungen und Kapital ist besonders hoch (vgl. Rus-
sett/Oneal 2001: 72), was die Bedeutung materieller Wohlfahrt für
die Wiederwahlchancen von demokratischen Regierungen unter-
streicht.
Trotz der genannten Evidenz bleiben für liberale Ansätze zum
„demokratischen Frieden“ empirische Widersprüchlichkeiten und
Anomalien bestehen. Denken wir nur an die imperiale Politik von
Frankreich und Großbritannien im 19. und 20. Jahrhundert oder an
die verlustreichen Kolonialkriege nach 1945. Sie lassen kaum eine
spezifisch demokratische Kultur der Zurückhaltung oder auch nur
volkswirtschaftliche Rationalität erkennen. Auch ist immer wieder
zu beobachten, dass mächtige Demokratien kleine Autokratien vor
allem auf der südlichen Erdhälfte mit militärischer Gewalt über-
ziehen, ohne dass von diesen Ländern eine ernsthafte Bedrohung
ihrer vitalen Interessen ausgeht (Bueno de Mesquita et al. 1999:
234 Andreas Hasenclever
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792; Czempiel 1996: 82). Zu denken ist beispielsweise an die wie-


derholten Einsätze französischer Truppen in Schwarzafrika oder
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die zahlreichen US-amerikanischen Interventionen in Lateinameri-


ka. Wenn aber große Demokratien immer wieder schnell und mit
aller Härte über kleine Autokratien herziehen, warum machen sie
dies nicht auch gegenüber kleinen Demokratien?

2.4 Erster Lösungsversuch der empirischen Spannungen:


Der „demokratische Friede“ als Abschreckungsfriede

Angesichts solcher und vergleichbarer Widersprüchlichkeiten ha-


ben Bueno de Mesquita und seine Kollegen (1999; 2003) versucht,
den „demokratischen Frieden“ als „Abschreckungsfrieden“ zwi-
schen besonders risikoscheuen Staaten zu interpretieren. Auch sie
gehen davon aus, dass gewählte Regierungen in internationalen
Konflikten nur dann auf Gewaltstrategien zurückgreifen, wenn sie
von einem äußeren Feind dazu gezwungen werden oder wenn sie
mit einem leichten Sieg rechnen. Letzteres gilt augenscheinlich für
die meisten der kleinen Feldzüge in Länder des Südens. Demge-
genüber agieren Demokratien in Konflikten mit ihresgleichen zu-
rückhaltend. Alle Erfahrungen sprechen in solchen Fällen gegen
einen schnellen militärischen Erfolg. Vielmehr zeigt die Statistik,
dass Demokratien sehr ernst zu nehmende Gegner sind, da sie ihre
Kriege deutlich öfter gewinnen als andere Staaten (Bueno de Mes-
quita et al. 1999: 791; Russett/Oneal 2001: 66). Dies wird unter
anderem darauf zurückgeführt, dass sie in kürzester Zeit maximale
Ressourcen mobilisieren, um eine Auseinandersetzung zügig zu
einem für sie günstigen Ende zu bringen. Kritisch wird es für ge-
wählte Regierungen vor allem dann, wenn sich lange und verlust-
reiche Auseinandersetzungen entwickeln (Russett/Oneal 2001: 67).
Weil genau dies bei Demokratien zu erwarten ist, schrecken demo-
kratisch legitimierte Regierungen vor kriegerischen Konfrontatio-
nen mit ihnen zurück.
In asymmetrischen Konflikten zwischen Demokratien wieder-
um lenkt die schwächere Seite nach Überzeugung von Bueno de
Mesquita und seinen Kollegen (1999: 801) ein. Sie weiß um die
Chancenlosigkeit ihrer Ansprüche und ist bereit, selbst nachteiligen
Kompromissen zuzustimmen. Denn insgesamt ist aus Sicht einer
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 235
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gewählten Regierung die Vermeidung eines riskanten und verlust-


reichen Waffengangs mit einem mächtigen Gegner immer besser
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als ein schlechtes Verhandlungsergebnis – ganz nach dem Motto:


Krieg zahlt sich nicht aus! Da die Herrschaft autokratischer Regie-
rungen durch Verluste auf dem Schlachtfeld kaum gefährdet ist
und sie entsprechend risikofreudig agieren, kann umgekehrt immer
wieder beobachtet werden, dass sich Autokratien auf militärische
Auseinandersetzungen mit Demokratien einlassen (Bueno de Mes-
quita et al. 1999: 794). Allerdings zeigt die Geschichte, dass sie
dabei oft verlieren. Sie spielen also mit hohem Einsatz, den sie
sich freilich aufgrund ihrer innenpolitischen Verhältnisse auch
eher leisten können.
Die Interpretation des „demokratischen Friedens“ als Abschre-
ckungsfrieden hat intellektuelle Attraktivität. Sie berücksichtigt
zum einen das besondere politische System von Demokratien, das
sie in der Staatenwelt zu überdurchschnittlich vorsichtigen Ak-
teuren macht. Zum anderen ist sie aber auch anschlussfähig an die
gängige Interpretation des „langen Friedens“ (John Lewis Gaddis)
zwischen Ost und West während des Kalten Krieges als Abschre-
ckungsfrieden. Schließlich wird ersichtlich, warum Demokratien
aus eigenem Entschluss bislang keine Kriege mit ernst zu nehmen-
den Gegnern angefangen haben. Gleichwohl kann das Erklärungs-
angebot von Bueno de Mesquita und seinen Kollegen nicht alle
Rätsel lösen, vor die uns die Befunde zum „demokratischen Frie-
den“ stellen. So schrecken kleine Demokratien wider allen Er-
wartungen nicht immer vor ernsthaften Auseinandersetzungen mit
großen Artgenossen zurück. Island beispielsweise zeigte sich wäh-
rend mehrerer Fischereikonflikte mit Großbritannien wenig beein-
druckt von der britischen Flotte und setzte seine Interessen gegen-
über einem zweifellos übermächtigen Gegner durch (Hellmann/
Herboth 2001). Auch Thomas Risse (1995a) zeigt in seiner Analy-
se von Entscheidungskonflikten innerhalb der NATO, dass es kei-
neswegs immer die militärisch überlegenen Mitglieder waren, die
ihre Positionen wahren konnten. Schließlich gibt es in Westeuropa
und in den transatlantischen Beziehungen nur wenige Anhalts-
punkte dafür, dass kleine Demokratien sich mit politischen Forde-
rungen zurückhalten, weil sie ihre mächtigen Nachbarn fürchten.
Vielmehr hat sich in Westeuropa und in den transatlantischen Bezie-
hungen eine stabile Sicherheitsgemeinschaft etabliert, in welcher
236 Andreas Hasenclever
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der Einsatz militärischer Gewalt selbst weit unterhalb der Kriegs-


schwelle nahezu undenkbar geworden ist (Risse-Kappen 1995a).
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2.5 Zweiter Lösungsversuch der empirischen


Spannungen: Die Unvollkommenheiten des
„demokratischen Friedens“ als Folge
unvollkommener Demokratien

Czempiel (1996: 82) sieht die spannungsreichen Befunde zum


„demokratischen Frieden“ und bietet eine auf den ersten Blick ver-
blüffend einfache Lösung an. Demnach gilt weiterhin, dass wahre
Demokratien Gewalt als Mittel der Außenpolitik ablehnen und nur
zum Zweck der Selbstverteidigung einsetzen. Dies ergibt sich seit
Kant schlüssig aus der normativen Demokratietheorie: Die Bürge-
rinnen und Bürger eines Staates können nicht wollen, was ihnen
nachweislich schadet, und rechenschaftspflichtige Regierungen
müssen die Interessen der Bevölkerung berücksichtigen. Dass es
von diesem Ideal immer wieder und mitunter deutliche Abwei-
chungen gibt, hängt nach Czempiel (1996: 82f) damit zusammen,
dass selbst die westlichen Demokratien noch keine im vollen Sin-
ne demokratischen Staaten sind. Vielmehr zeigt die Analyse politi-
scher Prozesse in diesen Ländern den „privilegierten Zugang von
partikularen Interessengruppen zum Gewaltmonopol des politi-
schen Systems“ (Czempiel 1996: 86). Immer wieder gelingt es
kleinen Eliten, den Staat für ihre begrenzten Zwecke zu instru-
mentalisieren und ohne Rücksicht auf die berechtigten Interessen
der breiten Bevölkerung in militärische Konfrontationen hineinzu-
ziehen. Deshalb ist es für Czempiel angesichts der verfügbaren Evi-
denz zum Außenverhalten westlicher Demokratien „nur wenig über-
trieben, sie als kollektive Monarchien zu bezeichnen“ (Czempiel
1996: 86). Unterstützt wird dabei die Usurpation der militärischen
Macht demokratischer Staaten durch die geringe Aufmerksamkeit
der Bürgerinnen und Bürger für außenpolitische Themen. Damit las-
sen sie die Hasardeure gewähren und tragen nach Czempiel ein ge-
höriges Maß an Mitverantwortung dafür, dass demokratische Staaten
sträflich hinter ihren zivilisatorischen Potenzialen zurückbleiben.
Dass die unvollkommene Demokratisierung von Demokratien
bislang nicht wissenschaftlich problematisiert worden ist, erklärt
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 237
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Czempiel (1996: 86-87) mit dem die Forschung bislang dominieren-


den formalistischen Demokratieverständnis. Den meisten Studien
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liegen Kriterien zur Typologisierung von Staaten zugrunde, die auf


Verfassungsmerkmale zielen und die politischen Prozesse im Land
unberücksichtigt lassen. So haben wir es beispielsweise bei Russett
und Oneal (2001: 44) dann mit einer Demokratie zu tun, wenn (1)
die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger das Wahlrecht hat, (2) die
amtierende Regierung aus fairen und freien Wahlen hervorgeht, in
denen mindestens zwei Parteien um die Mehrheit der Stimmen kon-
kurrieren, und (3) die Exekutive entweder direkt dem Wahlvolk oder
aber dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Nach
Czempiel können nun diese oder ähnliche Kriterien in vollem Um-
fang erfüllt sein und dennoch die Usurpation der Außenpolitik durch
kleine Machteliten nicht verhindern. Deshalb müsse im Detail und
für jede einzelne Demokratie untersucht werden, inwiefern ihre aus-
wärtigen Beziehungen tatsächlich an den Mehrheitswillen in der Be-
völkerung zurückgebunden sind. Dabei würde in vielen Fällen ent-
deckt werden, dass von einer Mitbestimmung der Bürgerinnen und
Bürger nicht die Rede sein kann. Aus diesem Grunde brauche sich
niemand zu wundern, wenn deren Interessen und Werte bei außen-
politischen Entscheidungen kaum eine Rolle spielten.
In einer jüngeren Studie greifen Sandra Dietrich, Hartwig Hum-
mel und Stefan Marschall (2009) die Intuition Czempiels auf und
untersuchen für 25 europäische Demokratien, ob Unterschiede in
der „Parlamentarisierung“ von Sicherheitspolitik Unterschiede in
ihrer Gewaltbereitschaft erklären können. In der Tat zeigt sich,
dass Demokratien mit sicherheitspolitisch starken Parlamenten im
Irakkonflikt 2003 deutlich kriegsabgeneigter agiert haben als De-
mokratien, in denen die Exekutive die Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik klar dominiert.
Czempiel wie auch Dietrich, Hummel und Marshall versuchen
also, die ‚Aussetzer‘ im „demokratischen Frieden“ – verstanden
als die Situationen, in denen ein strukturell friedliebender Staat
jenseits der Selbstverteidigung Gewalt vor allem gegenüber schwa-
chen Autokratien anwendet – mit Mitbestimmungsdefiziten und
sicherheitspolitisch schwachen Parlamenten zu erklären. Aller-
dings hat auch dieser Lösungsvorschlag seinen Preis. Denn entge-
gen aller Beschwörung – „Kants Theorem wirkt im Verhältnis zwi-
schen den Demokratien des OECD-Bereichs, vor allem aber denen
238 Andreas Hasenclever
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der Atlantischen Gemeinschaft“ (Czempiel 1996: 97) – wird un-


verständlich, warum selbst dergestalt defizitäre Demokratien bis-
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lang keine Kriege gegeneinander geführt haben und auch sonst im


wechselseitigen Verhältnis nur sehr selten auf Gewaltstrategien
zurückgreifen. Umgekehrt ist es gerade eine Stärke der von Czem-
piel kritisierten Studien, dass der Zusammenhang zwischen De-
mokratie und Frieden auch dann bestehen bleibt, wenn nur mini-
male Anforderungen an die praktizierte Mitbestimmung in den un-
tersuchten Ländern gestellt werden (Gleditsch/Hegre 1997: 289-
291; Maoz 1997: 180). In der Sprache der Statistiker ausgedrückt:
Der Befund zum demokratischen (Separat-)Frieden ist bemerkens-
wert robust. Er zeigt sich selbst dann, wenn die formalen Kriterien
zur Identifikation von demokratischen Systemen sehr weit gefasst
werden und damit Staaten in der Stichprobe auftauchen, die – kri-
tisch betrachtet – kaum als entwickelte Demokratien gelten kön-
nen.

3. Neue Perspektiven auf den „demokratischen


Frieden“: Die Berücksichtigung
interdemokratischer Beziehungen
Überspitzt formuliert besteht das zentrale Rätsel für die dargestell-
ten liberalen Ansätze also darin, dass Demokratien die Außenpoli-
tik ihrer ‚Artgenossen‘ je nach Adressatenkreis unterschiedlich be-
werten. Jedenfalls schließen sie von deren Politik jenseits der de-
mokratischen Zonen nicht auf das zu erwartende Verhalten inner-
halb der demokratischen Zone. Gewalt gegen Autokraten erzeugt
offenkundig keine Unsicherheiten unter Demokraten. Zur Erklä-
rung dieses merkwürdigen Befundes zeichnen sich in der For-
schung drei möglicherweise kombinierbare Wege ab. Gemeinsam
ist ihnen, dass sie die etablierten Ansätze um Analysen der inter-
demokratischen Beziehungen erweitern. Denn es spricht einiges
dafür, dass sich Demokratien anders verhalten, wenn sie Demokra-
tien begegnen. Aber diese Unterschiede im Verhalten müssen
nicht ausschließlich auf Akteursmerkmale rückführbar sein, son-
dern können auch etwas mit der Art ihrer Beziehungen zu tun ha-
ben. Während allerdings Vertreter des ersten Weges argumentie-
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 239
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ren, dass Demokratien aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft eine


gemeinsame Identität entwickeln, die dem Einsatz von Gewalt ge-
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gen ihresgleichen entgegenwirke, gehen Vertreter des zweiten We-


ges von der Wirksamkeit einer gemeinsamen politischen Kultur
aus, die auf der einen Seite genau dieses leistet – Frieden zwischen
Demokratien –, deren Ambivalenz allerdings auch das unter-
schiedliche Gewaltverhalten demokratischer Staaten gegenüber
Autokratien erklären kann. Vertreter des dritten Weges schließlich
weisen darauf hin, dass demokratische Friedenszonen in besonde-
rer Weise von internationalen Institutionen durchsetzt sind, wo-
durch gerade in diesen Regionen Gewalt als Mittel der Politik dys-
funktional wird.

3.1 Der „demokratische Friede“ als Folge von


Gruppenbildungsprozessen

Nach Risse (1995b: 502-509, 1996: 366-371) sind zwischendemo-


kratische Beziehungen durch ein hohes Maß an wechselseitiger
Sympathie und Wertschätzung geprägt. Demokratien vertrauen
einander, und die Sorge vor relativen Verlusten aus internationalen
Unternehmungen spielt nur eine untergeordnete Rolle. Diese be-
sondere Ausprägung interdemokratischer Beziehungen führt Tho-
mas Risse darauf zurück, dass Demokratien sich aufgrund institu-
tioneller Ähnlichkeiten zu einer „In-Group“ zusammenschließen,
die sich von einer „Out-Group“ – nämlich der nichtdemokrati-
schen Umwelt – abgrenzt.
Mit der Abgrenzung geht eine Freund-Feind-Unterscheidung
einher, die wiederum zur Folge hat, dass Konflikte innerhalb der
Gruppe als unproblematisch eingeschätzt werden, während Kon-
flikte mit der Außenwelt als riskant gelten. Diese unterschiedliche
Wahrnehmung von Konflikten je nach Ähnlichkeit oder Unähn-
lichkeit der Parteien entwickelt für die interdemokratischen Bezie-
hungen eine Eigendynamik. Wesensverwandtschaft erzeugt Ver-
trauen und erleichtert die Zusammenarbeit. Fremdheit erzeugt Miss-
trauen und erschwert die Zusammenarbeit. Die Beziehungen zwi-
schen Artgenossen erscheinen als vergleichsweise stabil und nütz-
lich, während die Kontakte zur Außenwelt als unzuverlässig und
wenig erfreulich wahrgenommen werden. Im Ergebnis bildet sich
240 Andreas Hasenclever
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eine demokratische Sicherheitsgemeinschaft heraus, die nach in-


nen durch Verständnis und Solidarität gekennzeichnet ist und nach
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außen auf Unabhängigkeit und Distanz achtet. Die Gemeinschafts-


mitglieder entwickeln ein starkes Gruppenbewusstsein oder „Wir-
Gefühl“. Sie haben ein gemeinsames Interesse am Erhalt ihrer
Gruppe und sind zunehmend bereit, Ressourcen zu ihrer Verteidi-
gung zu mobilisieren. Dadurch wird einmal mehr der interne Zu-
sammenhalt gestärkt und das Risiko zerstörerischer Konflikte zwi-
schen Mitgliedern verringert.
Aber auch die Erklärung des „demokratischen Friedens“ durch
„In-Group-Out-Group“-Interaktionen hat Schwachpunkte. So ist
beispielsweise die Vermutung, dass Ähnlichkeiten zwischen Staa-
ten gruppenbildend wirken, theoretisch unterentwickelt. Sie be-
schreibt den „demokratischen Frieden“ mehr, als dass sie ihn er-
klärt. Es bleibt unersichtlich, warum gerade politisch-institutio-
nelle Übereinstimmungen und nicht etwa religiöse oder kulturelle
Gemeinsamkeiten Staaten zusammenführen. Außerdem hat die
Forschung zu Bürgerkriegen gezeigt, dass Ähnlichkeiten gleich
welcher Art oftmals eben nicht ausreichen, um Vertrauen und So-
lidarität zwischen Gruppen zu erzeugen. Schließlich ist die Ver-
mutung, dass Demokratien auf internationaler Ebene eine kollekti-
ve und handlungsleitende Identität bilden, empirisch nur schwach
belegt. Generell hat sich die „In-Group-Out-Group“-Hypothese bis-
lang lediglich im Kontext von Kleingruppen bewährt. Schon die
Übertragung auf die Ebene des Nationalstaates konnte bislang kei-
ne konsistenten Ergebnisse produzieren.

3.2. Die Ambivalenz der liberalen Kultur: Analyse der


Gewaltbereitschaft von Demokratien

Harald Müller hat in seinen Arbeiten immer wieder auf so ge-


nannte „Antinomien des Demokratischen Friedens“ hingewiesen
(Müller 2002, 2004, 2008; Müller/Wolff 2006). Unter einer Anti-
nomie versteht er im Kern widersprüchliche Tendenzen, die ein
und derselben Struktur innewohnen. Auf Demokratien übertragen
heißt dies, dass dieser Staatsverfassung sowohl ein Imperativ zu
rücksichtsvollem Außenverhalten als auch zur nachdrücklichen
Verbreitung der eigenen Staatsform im internationalen System inne-
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 241
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wohnt. Beide Imperative gründen in den als universell anerkann-


ten Menschenrechten. Demnach kommt allen Männern, Frauen
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und Kindern ein Recht auf ein Leben in Würde zu, und das be-
deutet, dass sie prima facie einen unbedingten Anspruch auf
Schutz vor Krieg und vor staatlicher Repression haben.
Durch die gewaltfreie Verbreitung der Demokratie als Staats-
form können nach Überzeugung vieler Liberaler meistens beide
Ziele erreicht werden. Es sind aber auch Situationen vorstellbar, in
denen zu diskutieren ist, ob eine Mission mit dem Schwert zuläs-
sig, wenn nicht gar gefordert ist. Dies ist dann der Fall, wenn es
gegen einen „ungerechten Feind“ geht (Immanuel Kant, zit. nach
Müller 2006: 236). Ein solcher „ungerechter Feind“ ist nicht nur
ein internationaler Gegner. Vielmehr verletzt er die Grundrechte
seiner Bürger und Bürgerinnen systematisch, anhaltend und schwer-
wiegend. Es handelt sich mit anderen Worten um einen Staat, der
aus Perspektive der Menschenrechtsmoral ein Unrechtsstaat ist.
Unter solchen Bedingungen kommt alles darauf an, wie das Mittel
des Krieges im Verhältnis zu dem angestrebten Zweck der Demo-
kratisierung beurteilt wird: Lässt sich mit Waffengewalt ein Un-
rechtszustand unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits-
prinzips beenden und eine gerechte Staatsform aufbauen oder er-
scheint dies als nicht möglich?
Nach Meinung von Müller (2004: 507-510; Müller/Wolff 2006:
58-62) wird die Antwort auf diese Frage nachhaltig von der politi-
schen Kultur beeinflusst, die in einzelnen Demokratien dominant
ist. Hier unterscheidet er idealtypisch zwischen einem pazifisti-
schen Liberalismus und einem militanten Liberalismus. Während
im militanten Liberalismus der Akzent auf der tätigen Befreiung
von Menschen aus Unrechtsverhältnissen liegt und militärische
Gewalt als mögliches und sinnvolles Mittel gilt, setzen Vertreter
des pazifistischen Liberalismus auf die unwiderstehliche Kraft von
Modernisierungsprozessen. Mit der Zeit würden autokratische
Strukturen unter dem Druck sich ausdifferenzierender Verhältnisse
zusammenbrechen und sich zu Demokratien entwickeln.
Müller arbeitet nun heraus, dass der Liberalismus als gemein-
same politische Kultur aller Demokratien die Anwendung von Ge-
walt gegeneinander strikt delegitimiert und damit höchst unwahr-
scheinlich macht. Die unterschiedliche Gewaltbereitschaft von De-
mokratien gegenüber Autokratien wiederum führt Müller auf die
242 Andreas Hasenclever
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jeweils vorherrschende Form des Liberalismus zurück. Demokra-


tien mit einer eher pazifistischen Kultur wie beispielsweise Deutsch-
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land oder Japan verhalten sich im internationalen System generell


militärisch zurückhalten. Demokratien mit einer eher militanten
Kultur wie Großbritannien, Indien, Israel und die USA sind dem-
gegenüber wesentlich gewaltbereiter. Das hängt nach Müller eben
damit zusammen, dass die Regierungen dieser Länder ihre Gesell-
schaften viel leichter von der Angemessenheit kriegerischer Maß-
nahmen gegenüber einem nicht-demokratischen Staat überzeugen
können als dies in Demokratien mit einer pazifistischen Kultur
machbar sei. Es ist also die Differenz in der Möglichkeit, kriegeri-
sche Gewalt zu rechtfertigen, welche zu den deutlichen Unter-
schieden im Konfliktverhalten von Demokratien gegenüber Nicht-
demokratien führt. An einer anspruchsvollen empirischen Über-
prüfung dieses in sich sehr stimmigen Arguments wird gegenwär-
tig gearbeitet.

3.3 Der „demokratische Friede“ als Folge


interdemokratischer Institutionen

Ein dritter Versuch, sich dem Frieden zwischen Demokratien von


der Beziehungsebene her zu nähern, setzt bei der Beobachtung an,
dass es nirgendwo sonst im internationalen System ein vergleich-
bar dichtes Netz von Organisationen und Regimen gibt wie zwi-
schen Demokratien (Rittberger 1987: 9f). Denken wir nur an die
Europäische Union, den Europarat, die NATO oder die OECD, de-
ren Mitgliedschaft sich entweder ausschließlich oder in der über-
wältigenden Mehrheit aus gewählten Regierungen zusammensetzt.
Demokratien scheinen mithin in besonders hohem Maße bereit zu
sein, mit ihresgleichen bei der Lösung internationaler Probleme zu
kooperieren und zu diesem Zwecke Institutionen einzurichten.9
Die deutliche Konzentration internationaler Institutionen zwi-
schen Demokratien wurde in der liberalen Forschung lange Zeit
allenfalls am Rande notiert, aber nicht in die Analyse miteinbezo-
gen. Herrschende Meinung war, dass internationale Institutionen

9 Zur Analyse internationaler Institutionen vgl. den Beitrag zur Regimetheorie


von Bernhard Zangl in diesem Band.
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 243
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generell für die Bewahrung des Friedens zweitrangig seien (vgl.


hierzu ausführlicher Hasenclever 2002: 82-83). Vor diesem Hin-
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tergrund ist es das Verdienst von Russett und Oneal (2001: 157-
196), die herrschende Meinung erschüttert zu haben. Sie konnten
mit statistischen Mitteln zeigen, dass entgegen der weitverbreiteten
Skepsis ein Zusammenhang zwischen der Einbindung von Staaten
in Institutionen und der Gewaltanfälligkeit ihrer Beziehungen be-
steht: Je höher die Zahl geteilter Mitgliedschaften in internationa-
len Organisationen ist, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit,
dass zwischen zwei Staaten ein Krieg ausbricht. Dieser Zusam-
menhang ist allerdings nur schwach ausgeprägt und wird von der
Wirkung anderer Variablen wie der Verfassung der interagieren-
den Staaten, ihrer gemeinsamen Mitgliedschaft in Allianzen, der
Machtverteilung im internationalen System oder dem Grad wirt-
schaftlicher Verflechtungen überlagert.
Die unübersehbar schwache Ausprägung des statistischen Be-
funds bei Russett und Oneal mag damit zusammenhängen, dass sie
nicht zwischen unterschiedlichen Typen internationaler Organisa-
tionen differenzieren. Vielmehr haben sie alle internationalen Re-
gelwerke in ihren möglichen Friedenswirkungen gleichwertig be-
handelt (Russett/Oneal 2001: 170). In einer neueren Studie unter-
scheiden Pevehouse/Russett (2006) internationale Organisationen
nach der Zusammensetzung ihrer Mitglieder. Dabei zeigt sich, dass
internationale Organisationen mit überwiegend demokratischen
Mitgliedsstaaten das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen
zwischen ihren Mitgliedstaaten deutlich verringern. Eine plausible
Erklärung für ihren Befund liefern die beiden Autoren aber noch
nicht.
Es ist an dieser Stelle nicht möglich ins Detail zu gehen.10 Aber
es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass interdemokratische
Institutionen im Unterschied zu anderen Regelwerken in der inter-
nationalen Politik hervorragend geeignet sind, die Sicherheitsbe-
ziehungen zwischen ihren Mitglieder zu stabilisieren, die Zusam-
menarbeit in Wirtschaft, Umwelt und Kultur zu fördern und die
Autonomie der verregelten Politikfelder zu erhöhen. Wenn dies

10 Vgl. hierzu ausführlicher Hasenclever 2002: 87-100, Hasenclever/Weiffen 2006


und Prins/Daxecker 2007. Kritisch zur Erklärungskraft des Arguments in Dya-
den nicht-westlicher Demokratien Zimmermann 2009.
244 Andreas Hasenclever
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der Fall ist, dann wären drei gefährliche Eskalationspfade in der


internationalen Politik blockiert. Denn aus der Kriegsursachenfor-
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schung (vgl. hierzu die Beiträge in Midlarsky 2000 und Vasquez


2000) ist bekannt, dass internationale Konflikte dann ein beson-
ders hohes Risiko tragen, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu
münden, wenn die Parteien erstens ihre Sicherheit gefährdet sehen,
wenn sie zweitens auf unilaterale Selbsthilfestrategien zurückgrei-
fen und wenn sich drittens ihre Beziehungen polarisieren.11 Inter-
demokratische Institutionen wirken dem nachhaltig entgegen: Sie
organisieren zuverlässig eine gemeinsame Verteidigungspolitik
und funktionieren als effektive Frühwarnsysteme für mögliche
Verschiebungen in der Machtbalance, sie mehren den Nutzen ihrer
Mitglieder durch Kooperation und erhöhen die Kosten für den
Rückgriff auf Selbsthilfestrategien, und sie verknüpfen die Pro-
blembearbeitung auf internationaler Ebene mit interessierten in-
nenpolitischen Akteuren, die darauf achten, dass verhandelbare
Einzelfragen nicht zu übergreifenden Konfliktbündeln verschmel-
zen.
Schließlich bietet eine stärkere Berücksichtigung der internatio-
nalen Organisation des „demokratischen Friedens“ – verstanden
als das Netzwerk von Institutionen, das demokratische Staaten
miteinander verbindet – die Möglichkeit, die Herausbildung ge-
meinsamer Identitäten im Sinne von Risse (1995b; 1996) analy-
tisch zu erfassen. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Studien, die
zeigen, dass dauerhafte Kooperation im Rahmen gemeinsamer In-
stitutionen die Herausbildung eines „Wir-Gefühls“ unter den Teil-
nehmern fördert. Sie nehmen sich mehr und mehr als Gruppe wahr
und beginnen, sich für deren Erhalt einzusetzen. Dadurch tritt neben
den konkreten Nutzen der Kooperation als Motivation zur Regelein-
haltung der Respekt vor den legitimen Interessen der PartnerInnen.
Dieser Respekt übersetzt sich in die moralische Verpflichtung, ver-
tragliche Absprachen und die mit ihnen verbundenen Ansprüche an-

11 Polarisieren meint, dass einzelne Konflikte in verschiedenen Politikfeldern zu


einer übergreifenden Auseinandersetzung „Wir gegen Sie“ zusammenfallen und
nicht mehr individuell bearbeitet werden. Solche Prozesse sind deshalb gefähr-
lich, weil zum einen die Feindseligkeiten zwischen den Parteien zunehmen und
ihr Vertrauen in den anderen abnimmt und zum anderen bekannt ist, dass Kriege
in aller Regeln nicht um einzelne, sondern um mehrere Konfliktgegenstände ge-
führt werden.
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 245
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derer zu achten. Als Konsequenz erfährt die Zusammenarbeit ei-


nen Gewinn an Robustheit. Die Parteien fangen an, einander zu ver-
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trauen, und fürchten nicht schon bei der kleinsten Unregelmäßigkeit,


dass ihre Gutmütigkeit ausgenützt werden könnte. Insofern nun De-
mokratien aufgrund ihres politischen Systems in besonderer Weise
zur regelgeleiteten Kooperation befähigt sind, kann damit gerech-
net werden, dass sie auch am ehesten gemeinsame Identitäten im
Sinne eines „Wir-Gefühls“ herausbilden. Diese würden dann die
Institutionen der demokratischen Zone in ihren zivilisierenden
Wirkungen stärken, sie aber freilich nicht ersetzen.

4. Die Kritik an den liberalen Interpretationen des


„demokratischen Friedens“
Gegen liberale Interpretationen des „demokratischen Friedens“
und die mit ihnen verbundene Hoffnung, die Welt könne durch
Demokratisierung sicherer gemacht werden, werden von den Ver-
treterInnen anderer Denkschulen in den Internationalen Beziehun-
gen eine ganze Reihe von Einwänden formuliert. Vier von ihnen,
denen in der Literatur besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird,
sollen kurz skizziert werden. (1) Die Vermutung, dass der „demo-
kratische Frieden“ in Wahrheit ein Bündnisfriede ist; (2) die Ver-
mutung, dass der „demokratische Frieden“ vor allem ein Ausbeu-
tungsfriede ist; (3) die Sorge, dass Demokratisierungsprozesse be-
waffnete Auseinandersetzungen mit der Außenwelt provozieren
und (4) die Erwartung, dass sich die Demokratie im Zuge von
Globalisierungsprozessen als Staatsform auflösen wird.
(1) Vor allem realistische Autoren wie Gowa (1999), Hender-
son (2002) und Rosato (2003, 2005) halten nicht viel von der libe-
ralen Interpretation des „demokratischen Friedens“. Für sie ist die
Abwesenheit größerer militärischer Konfrontationen zwischen De-
mokratien nach 1945 eine Folge der Machtverteilung im interna-
tionalen System. Die demokratischen Staaten haben sich demnach
unter der Führung der USA gegen die Sowjetunion und ihre Satel-
liten zu einem Verteidigungsbündnis zusammengeschlossen und
darauf geachtet, dass ihre militärische Stärke nicht durch interne
Konflikte unterlaufen wird. Folglich ist mit dem Ende des Kalten
246 Andreas Hasenclever
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Krieges auch der Niedergang des „demokratischen Friedens“ zu


erwarten.
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Bislang haben sich die Erwartungen realistischer Autoren aller-


dings nicht bestätigt. Die Beziehungen zwischen Demokratien sind
nach wie vor gewaltarm und es ist nicht erkennbar, dass sich dies
in absehbarer Zeit ändern wird. Außerdem haben realistische Au-
toren ein Konsistenzproblem. Militärische Bündnisse gegen einen
gemeinsamen Feind gehen nicht durchgängig mit gewaltfreien Be-
ziehungen zwischen ihren Mitgliedern einher. So gab es beispiel-
weise innerhalb des Ostblocks immer wieder Spannungen, die zum
Einsatz sowjetischer Truppen gegen Allianzpartner geführt haben.
Die besonderen Beziehungen zwischen Demokratien lassen sich
deshalb nicht bruchlos auf eine externe Bedrohung zurückführen.
Schließlich bleibt im realistischen Verständnis unklar, warum sich
alle Demokratien im Kalten Krieg auf der gleichen Seite wieder-
fanden. Auch dies spricht dafür, dass sie zunächst aufgrund ihrer
internen Merkmale eine geordnete Gruppe bildeten, deren Bestand
erst in zweiter Linie von einem gemeinsamen Gegner gefestigt
wurde (Oneal/Russett 2001: 60-61).
(2) Eine ganz andere Erklärung des „demokratischen Friedens“
bieten die VertreterInnen kritischer Ansätze in den Internationalen
Beziehungen. Barkawi und Lafey (1999) beispielsweise deuten die
Waffenruhe in der demokratischen Zone als Folge eines Zweck-
bündnisses mächtiger Industriestaaten zur besseren Ausbeutung
der restlichen Welt. Die Industriestaaten würden ihre Kräfte bün-
deln, um mit aller Macht die Globalisierung kapitalistischer Märk-
te durchzusetzen und von ihr zu profitieren. In diesem Zusammen-
hang kritisieren die beiden Autoren auch den Friedensbegriff der
liberalen Ansätze. Frieden würde mit der Abwesenheit offener mi-
litärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen gleichge-
setzt. Nach Maßgabe dieses Verständnisses erscheinen Demokra-
tien spätestens seit den 1980er Jahren tatsächlich als außerordent-
lich friedfertig. Dies sei freilich nur der Fall, weil die vielen For-
men verdeckter und struktureller Gewalt des Nordens gegenüber
dem Süden ausgeblendet werden und weil die militärische Unter-
stützung von Unrechtsregimen durch Waffenlieferungen und Mi-
litärberater nicht berücksichtigt würde. Wenn diese in die Analyse
mit einbezogen werden, dann erscheinen die demokratischen Zo-
nen im internationalen System weniger als Friedensregionen denn
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 247
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als Herzstücke einer brutalen Unrechtsordnung. Die Gewaltarmut


zwischen Demokratien findet damit seine notwendige Entspre-
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chung in ihrer Gewalttätigkeit nach außen und in den vielen bluti-


gen Konflikten in den Staaten der Dritten Welt.
Eine informierte Debatte zwischen den liberalen Protagonisten
des „demokratischen Friedens“ und ihren linken KritikerInnen
steht noch aus. Sie müsste zum einen klären, ob die kriegerischen
Auseinandersetzungen in weiten Teilen der Welt tatsächlich ihren
Ursprung in einer mehr oder weniger gewalttätigen Globalisierung
westlicher Gesellschafts- und Produktionsformen haben, oder ob
sie primär auf lokale und regionale Rivalitäten zurückzuführen
sind. Zum anderen müssten die VertreterInnen kritischer Positio-
nen die Kausalmechanismen benennen, die den Frieden zwischen
Demokratien unterschiedlicher ökonomischer Entwicklungsstufen
in einen so nachvollziehbaren wie überprüfbaren Zusammenhang
mit ihrem unfriedlichen Verhalten gegenüber Staaten jenseits der
demokratischen Zonen bringen. Schließlich haben Anna Geis und
Jonas Wolff (2007) aus neo-gramscianischer Perspektive gezeigt,
dass die liberalen und friedensförderlichen Normen des hegemo-
nialen Zentrums nicht beliebig durch rücksichtslose Gewaltpolitik
mächtiger Demokratien in der Peripherie kompromittiert werden
können. Vielmehr setze das liberale Zentrum auf die Demokrati-
sierung der Peripherie, um das eigene Weltordnungsmodell ohne
Rückgriff auf potentiell delegitimierende direkte Gewalt aufrecht-
erhalten zu können.
(3) Ein dritter Einwand gegen die liberale Forschung bezieht
sich auf deren praktische Empfehlung, den internationalen Frieden
durch die Verbreitung von Demokratie als Staatsform zu fördern.
So befürchten Edward Mansfield und Jack Snyder (2002, 2005,
2009), dass vor allem Demokratisierungsprozesse in schwachen
Staaten das Kriegsrisiko erhöhen. Entweder würden neu gewählte
Amtsinhaber in kritischen Phasen des Wandels auf die Eskalation
außenpolitischer Gewalt zur Ablenkung von innenpolitischen Kon-
flikten zurückgreifen, oder aber die innere Zerrissenheit einer
Übergangsgesellschaft würde externe Mächte zur militärischen In-
tervention provozieren. Die Thesen von Mansfield und Snyder
zum Zusammenhang von Demokratisierung eines Landes und au-
ßenpolitischer Gewaltanfälligkeit sind in der Forschung nach wie
vor stark umstritten. (vgl. Russett/Oneal 2001: 116-122; Zimmer-
248 Andreas Hasenclever
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mann 2009: 50). So legen manche Arbeiten nahe, dass politische


Instabilität generell das Risiko bewaffneter Auseinandersetzungen
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mit anderen Staaten erhöht. Andere Studien wiederum zeigen, dass


das Kriegsrisiko in Folge von Demokratisierung kontextabhängig
ist. Während es in einem eher autokratisch geprägten internatio-
nalen Umfeld hoch ist, tendiert es in einem demokratischen Um-
feld gegen Null. Außerdem scheinen kontinuierliche Transforma-
tionsprozesse ungefährlicher zu sein als das unstete Hin- und Her-
pendeln zwischen Autokratie und Demokratie. Generell lässt sich
sagen, dass der Zusammenhang zwischen Demokratisierung und
außenpolitischer Gewaltanfälligkeit noch weit davon entfernt ist,
methodisch zuverlässig erforscht zu sein.
(4) Ein vierter und in unserem Zusammenhang letzter Einwand
gegen die liberale Forschung zum „demokratischen Frieden“ wur-
de von Teusch und Kahl (2001) formuliert. Die beiden Autoren
prognostizieren das Ende der Demokratie als Staatsform. Natio-
nale Regierungen würden im Zuge der Globalisierung ihre Eigen-
ständigkeit verlieren und zu Spielbällen transnationaler Wirtschafts-
interessen werden. Demokratische Wahlen verkümmern zu „bloß
formalen, praktisch folgenlosen Verfahren“ (Teusch/Kahl 2001:
301), da politische Herrschaft zunehmend autokratische Züge an-
nimmt. Deshalb muss damit gerechnet werden, dass mit dem Ende
der traditionellen Demokratie der Anfang neuer und unkontrollier-
ter Gewalt in weiten Teilen der Welt einhergeht. Folglich kann
„die These vom „Demokratischen Frieden“ nur für einen begrenz-
ten historischen Zeitabschnitt volle Gültigkeit beanspruchen“
(Teusch/Kahl 2001: 313).
Noch sind die Zukunftsszenarien von Teusch und Kahl nicht
viel mehr als informierte Spekulation. Wie sich der Prozess der
Globalisierung auf die Organisation politischer Herrschaft in der
Welt auswirken wird, ist alles andere als absehbar. Es ist auch
nicht entschieden, ob in diesem Zusammenhang eine globale Re-
naissance autoritärer Herrschaft eintritt. Teusch und Kahl machen
aber zu Recht darauf aufmerksam, dass der „demokratische Frie-
den“ kein Selbstläufer ist. Gerade freie Gesellschaften können au-
ßenpolitische Kräfte freisetzen, die auf lange Sicht die Mitbestim-
mungsrechte der Bürger und Bürgerinnen untergraben. Nicht von
ungefähr beklagen deshalb Beobachter mit Blick auf die Europäi-
sche Union ein massives Demokratiedefizit. Augenscheinlich ist
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 249
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die wirtschaftliche und politische Integration ihrer demokratischen


Integration weit voraus. Ähnliche Ungleichgewichte zwischen staat-
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licher Entscheidungskompetenz und bürgerlicher Kontrollkompe-


tenz lassen sich auch für andere internationale Organisationen fest-
stellen, in deren Hallen mittlerweile wichtige politische Entschei-
dungen fallen.
Die Debatte um die liberale Interpretation des „demokratischen
Friedens“ in den Internationalen Beziehungen bleibt spannend. Al-
lerdings wird erkennbar, dass sich aus einer ursprünglich sehr be-
grenzten Fragestellung – „Lässt sich der demokratische Frieden
methodisch einwandfrei nachweisen und wie ist die Abwesenheit
kriegerischer Konflikte zwischen Demokratien zu erklären?“ – ein
umfangreiches Forschungsprogramm entwickelt hat. Dessen Ziel
ist es, auf der einen Seite möglichst viele Besonderheiten in den
Beziehungen zwischen Demokratien und in ihrem außenpoliti-
schen Verhalten zu identifizieren, um diese auf der anderen Seite
konsistent auf interne Verfassungsmerkmale zurückzuführen. Be-
arbeitet werden hierzu beispielsweise die außergewöhnlich inten-
siven Wirtschaftsverflechtungen zwischen Demokratien, ihr Enga-
gement in internationalen Institutionen oder auch die Vorliebe ge-
wählter Regierungen für verdeckte militärische Operationen. Je
besser sich die liberalen Kernannahmen und Kausalmechanismen
dabei in diversen Untersuchungskontexten bewähren, und je mehr
sie auch die ‚dunklen Seiten‘ des „demokratischen Frieden“ erhellen
können, desto schwieriger wird es für die KritikerInnen sein, das
Forschungsprogramm unter Verweis auf einzelne Anomalien und
Widersprüchlichkeiten in Frage zu stellen. Wichtig wird in diesem
Zusammenhang vor allem zweierlei sein (vgl. Müller 2002). Die
liberale Forschung wird der Sorge nachgehen müssen, dass der
Frieden innerhalb demokratischer Zonen mit Unfrieden in und ge-
genüber ihrer Umwelt einhergeht. Sie wird ebenso zu untersuchen
haben, ob Demokratie als Staatsform nicht vom Spiel jener gesell-
schaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte gefährdet wird, die sie ur-
sprünglich in Freiheit gesetzt hat.
250 Andreas Hasenclever
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ternationale Beziehungen 8: 2, 287-320.
Vasquez, John A. (Hrsg.) 2000: What Do We Know About War. Lanham et
al.: Rowman & Littlefiel Publishers.
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Die Englische Schule1


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Christopher Daase

1. Einleitung
Ist es nicht merkwürdig, dass in einer Zeit der Globalisierung und
Entstaatlichung ein theoretischer Ansatz Furore macht, der eine
bestimmte Nation im Namen trägt?2 Die „Englische Schule“ feiert
seit über zehn Jahren ein erstaunliches Comeback. In den 1980er
Jahren totgesagt und fast vergessen, häuften sich in den 1990 Jah-
ren die Aufsätze und Bücher, die über die Englische Schule oder
in ihrem Geiste geschrieben wurden. Auf der Jahreskonferenz der
British International Studies Association (BISA) 1999 wurde die
Englische Schule offiziell wieder belebt (Buzan 2001) und mit ei-
ner eigenen Internetseite3 gehört sie zu den vermutlich am besten
organisierten theoretischen Ansätzen in der Disziplin Internatio-
nale Beziehungen.
Doch können all diese Aktivitäten nicht darüber hinwegtäuschen,
dass bis heute ernsthafte Zweifel bestehen, ob die Englische Schule
überhaupt ein kohärentes Forschungsprogramm darstellt und ob sie
das theoretische Potenzial besitzt, das für eine progressive Erfor-
schung internationaler Beziehungen notwendig ist. Tatsächlich wur-
de die Bezeichnung „Englische Schule“ zuerst von einem Kritiker
verwendet, der in einer scharfen Polemik dazu aufrief, dieses Kapitel
politikwissenschaftlicher Forschung zu schließen, weil es theoretisch
steril und empirisch fruchtlos sei (Jones 1981). Doch gerade dieser
Ruf nach Auflösung weckte das Gruppenbewusstsein und trug zur
Wiedergeburt der Englischen Schule bei.

1 Der Beitrag wurde nicht überarbeitet und ist in der Textfassung der 2. Aufl. von
2006 abgedruckt.
2 Ich danke Tina Bruns für die Literaturrecherche und -beschaffung.
3 Die Adresse ist: http:www.leeds.ac.uk/polis/englishschool/
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Die Englische Schule1


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Christopher Daase

1. Einleitung
Ist es nicht merkwürdig, dass in einer Zeit der Globalisierung und
Entstaatlichung ein theoretischer Ansatz Furore macht, der eine
bestimmte Nation im Namen trägt?2 Die „Englische Schule“ feiert
seit über zehn Jahren ein erstaunliches Comeback. In den 1980er
Jahren totgesagt und fast vergessen, häuften sich in den 1990 Jah-
ren die Aufsätze und Bücher, die über die Englische Schule oder
in ihrem Geiste geschrieben wurden. Auf der Jahreskonferenz der
British International Studies Association (BISA) 1999 wurde die
Englische Schule offiziell wieder belebt (Buzan 2001) und mit ei-
ner eigenen Internetseite3 gehört sie zu den vermutlich am besten
organisierten theoretischen Ansätzen in der Disziplin Internatio-
nale Beziehungen.
Doch können all diese Aktivitäten nicht darüber hinwegtäuschen,
dass bis heute ernsthafte Zweifel bestehen, ob die Englische Schule
überhaupt ein kohärentes Forschungsprogramm darstellt und ob sie
das theoretische Potenzial besitzt, das für eine progressive Erfor-
schung internationaler Beziehungen notwendig ist. Tatsächlich wur-
de die Bezeichnung „Englische Schule“ zuerst von einem Kritiker
verwendet, der in einer scharfen Polemik dazu aufrief, dieses Kapitel
politikwissenschaftlicher Forschung zu schließen, weil es theoretisch
steril und empirisch fruchtlos sei (Jones 1981). Doch gerade dieser
Ruf nach Auflösung weckte das Gruppenbewusstsein und trug zur
Wiedergeburt der Englischen Schule bei.

1 Der Beitrag wurde nicht überarbeitet und ist in der Textfassung der 2. Aufl. von
2006 abgedruckt.
2 Ich danke Tina Bruns für die Literaturrecherche und -beschaffung.
3 Die Adresse ist: http:www.leeds.ac.uk/polis/englishschool/
256 Christopher Daase
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In einer ersten systematischen Darstellung der Geschichte der


Englischen Schule hat Tim Dunne drei Kriterien genannt, die die
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Mitglieder der Englischen Schule von Vertretern anderer theoreti-


scher Ansätze in den Internationalen Beziehungen unterscheiden
(Dunne 1998: 6-11): Erstens die Identifikation mit einer bestimm-
ten Forschungstradition. Spätestens seit Mitte der 1960er Jahre
hatten die Historiker Herbert Butterfield und Martin Wight mit
dem British Committee on the Theory of International Politics eine
Institution geschaffen, in der gleich gesonnene Forscher ihre Ar-
beiten diskutieren und Gedanken austauschen konnten. Die erste
Publikation aus diesem Kreis, die Diplomatic Investigations (But-
terfield/Wight 1966), fungierte als ein Art Manifest der Gruppe.
Hinzu kommt, dass die älteren Vertreter wie Butterfield und Wight
ihre jeweiligen Doktoranden in den Kreis einführten, insbesondere
Adam Watson und Hedley Bull, was die Entstehung einer intel-
lektuellen Tradition unterstützte. Spätere Vertreter wie R. J. Vin-
cent haben sich explizit in dieser Tradition gesehen. Das zweite
Kriterium, das Dunne für die Mitgliedschaft in der Englischen
Schule nennt, ist das überwiegend geteilte Bekenntnis zu einem in-
terpretativen Ansatz. Angefangen mit Martin Wights „Drei Tradi-
tionen“ (vgl. Wight 1991) bis zu Hedley Bulls Polemik gegen so-
zialwissenschaftliche Ansätze in den USA (Bull 1966) durchzieht
die Englische Schule eine starke Abneigung gegen positivistische,
am Muster der Naturwissenschaften orientierte Forschung. Schließ-
lich nennt Dunne als drittes Merkmal der Mitglieder der Engli-
schen Schule die Überzeugung, dass die Theorie der internationa-
len Beziehungen eine normative Theorie sein muss. Wights Versu-
che, eine klare moralische Position für die internationale Politik zu
formulieren (Wight 1977) und Bulls Fortentwicklung des Kon-
zepts einer „internationalen Gesellschaft“ (Bull 1995 [1977]) deu-
ten auf ein gemeinsames normatives Projekt hin, ethische Stan-
dards für die internationalen Beziehungen zu entwickeln.
Selbst wenn man diese drei Aspekte als kleinsten gemeinsamen
Nenner der Englischen Schule akzeptiert, ist es schwierig genau zu
entscheiden, wer Mitglied ist und wer nicht. Dunne nennt zum
Beispiel E. H. Carr als Vertreter der Englischen Schule, dessen
Buch The Twenty Years’ Crisis zwar von großem Einfluss gewe-
sen war (Carr 1962 [1939]), der aber in keinem Fall zur Diskus-
sionsrunde um Butterfield und Wight gehörte und auch das nor-
Die Englische Schule 257
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mative Credo kaum geteilt haben dürfte (vgl. auch den Beitrag
zum Realismus von Andreas Jacobs in diesem Band). Ebenso prob-
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lematisch ist Dunnes Ausschluss von Charles Manning, dessen


Buch The Nature of International Society eine große Wirkung auf
Bull hatte (Manning 1975), der aber wegen persönlicher Animosi-
täten mit Wight nicht zum British Committee eingeladen wurde
und auch heute wegen seiner Verteidigung der Apartheidspolitik
in Südafrika lieber übergangen wird. All dies wäre nur eine kurio-
se Randerscheinung wissenschaftlicher Gemeinschaftsbildung und
nicht der Rede wert, wenn mit der „revisionistischen Geschichts-
schreibung“ der Disziplin, die Dunne befürwortet, nicht nur eine
Wiederentdeckung, sondern auch eine Wiederbelebung der Engli-
schen Schule beabsichtigt wäre. Dann nämlich fällt die selektive
Auswahl der ‚wirklichen‘ Mitglieder der Englischen Schule ins
Gewicht und es wird erkennbar, wie hier eine theoretische Tradition
‚konstruiert‘ wird.
Nimmt man nämlich andere Kriterien für die Mitgliedschaft in
der Englischen Schule hinzu, etwa das Bekenntnis zur „internatio-
nalen Gesellschaft“ als einer sozialen Ordnung oder ein bestimm-
tes Verhältnis zur politischen Praxis (Jones 1981; Suganami 1983;
Grader 1988), dann bleibt allein Hedley Bull in der Schnittmenge
übrig. Eine etwas größere Kerngruppe würde Martin Wight, Her-
bert Butterfield, Hedley Bull und Adam Watson umfassen. Der
nächste Kreis würde zusätzlich R. John Vincent, Charles Manning,
Michael Howerd, Allen James, James Mayall und jüngere Wissen-
schaftler wie Richard Little, Barry Buzan und noch jüngere wie
Nicholas Wheeler und Tim Dunne umfassen. Es scheint mir des-
halb gerechtfertigt zu sein, die weitere Darstellung der Englischen
Schule auf Hedley Bull zu konzentrieren, dessen Buch The Anar-
chical Society. A Study of Order in World Politics (Bull 1995
[1977]) zweifellos als ein, wenn nicht das Hauptwerk der Engli-
schen Schule angesehen werden kann.

2. Die Englische Schule – Hedley Bull


Hedley Bull gehört sicher zu den großen Theoretikern seiner Ge-
neration. Sein Versuch, eine Theorie der internationalen Bezie-
hungen zu entwickeln, die weder realistisch noch idealistisch ist
258 Christopher Daase
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und eine Methode zu vertreten, die weder historisch noch natur-


wissenschaftlich ist, haben ihn aber zu einer Art tragischen Helden
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gemacht, der, weil unverstanden, ohne prägenden Einfluss auf die


Gesamtdisziplin geblieben ist. Bis heute herrscht Uneinigkeit dar-
über, wie Hedley Bull in die Entwicklung der Theorie internatio-
naler Beziehungen einzuordnen ist. Einige bezeichnen ihn rund-
heraus als Realisten (Halliday 1992: 438; Griffiths 1992: 155-67;
Brown 2001: 424), während ihn andere als Wegbereiter einer Kri-
tischen Theorie internationaler Politik ansehen (Linklater 1990: 14;
Wheeler/Dunne 1996: 94). Bull ist selber nicht unschuldig an die-
ser Lage. Er hat immer wieder starke Positionen vertreten und sie
häufig nicht gut begründen können. Und er hat keine Chance zur
Polemik ausgelassen, ohne sich selbst an seine Maximen zu halten.
In gewisser Weise, so könnte man sagen, ist Hedley Bull auch da-
rin paradigmatisch für die Englische Schule, denn er verkörpert all
ihre Widersprüche in sich selbst.
Im Folgenden sollen fünf Gesichtspunkte von Hedley Bulls
Werk angesprochen werden, durch die seine Stellung innerhalb
der Englischen Schule – aber auch zu anderen Theorien interna-
tionaler Beziehungen – deutlicher wird: Zunächst wird gezeigt,
wie Hedley Bull auf der Grundlage von Wights Einteilung der po-
litischen Geistesgeschichte in drei Traditionen eine Entscheidung
für den theoretischen Mittelweg fällte und die „internationale Ge-
sellschaft“ als zentrale Idee der Englischen Schule etablierte. Dar-
auf aufbauend wird, zweitens, sein Verständnis des ‚Machtgleich-
gewichts‘ erörtert, das sich deutlich von realistischen und neo-rea-
listischen Verständnissen unterscheidet. Damit wird es, drittens,
nötig, Bulls interpretative Methodologie zu verstehen und, vier-
tens, sein normatives Theoriekonzept zu erläutern. Abschließend
wird kurz auf sein Verhältnis zur politischen Praxis eingegangen.

2.1 Drei Theorietraditionen und die „internationale


Gesellschaft“

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Australier zum


Bannerträger der Englischen Schule werden sollte. Hedley Bull
machte seinen Magister 1952 an der Universität von Sydney. Da-
nach ging er nach Oxford, um seine Doktorarbeit zu schreiben und
Die Englische Schule 259
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wurde 1955 Assistent bei Charles Manning an der London School


of Economics (LSE). In den späten fünfziger Jahren arbeitete er
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mit Philip Noel-Baker an einem Projekt zur Abrüstung. Den größ-


ten intellektuellen Einfluss auf Bull übte aber sein akademischer
Mentor an der LSE, Martin Wight, aus. Hedley Bull kehrte als
Professor nach Oxford zurück, wo er 1985 starb.
Von Wight übernahm Bull die „drei Rs“, die Einteilung der po-
litischen Geistesgeschichte in drei philosophische Traditionen:
Realismus, Rationalismus und Revolutionismus. Unter Realismus
verstand Wight die anthropologisch pessimistische Weltsicht, die
den Menschen auf seine Machtgelüste reduziert und die internatio-
nale Politik als ein Feld betrachtet, das von Anarchie, Machtpolitik
und Kriegsführung bestimmt ist. Als Revolutionisten bezeichnete
Wight die kosmopolitischen Idealisten, die an die Existenz univer-
seller Werte glauben und an der Errichtung der Weltgesellschaft
arbeiten. Rationalisten nannte Wight schließlich diejenigen, die
zwar die politischen Realitäten anerkennen, doch an die Vernunft
des Menschen glauben und die Möglichkeit einer besseren Welt
durch soziale Institutionen betonen. Wight favorisierte diese ratio-
nalistische Tradition, die er als den „breiten Mittelweg des euro-
päischen Denkens“ bezeichnete (Wight 1991: 14).
Für Bull waren jedoch diese Traditionen als solche nicht wich-
tig: er interessierte sich weniger für philosophische Geistesgeschich-
te als für ihre Nutzbarmachung für die Einschätzung der gegen-
wärtigen internationalen Lage. In seinem Buch The Anarchical
Society abstrahierte er deshalb Wights „Rs“ weiter und reduzierte
sie auf drei konkurrierende Geistestraditionen, die er paradigma-
tisch als realistisch oder hobbesianisch (nach Thomas Hobbes
1588-1679), universalistisch oder kantianisch (nach Immanuel Kant
1724-1804) und internationalistisch oder grotianisch (nach Hugo
Grotius 1583-1645) bezeichnete. Thomas Hobbes verkörperte für
Bull das realistische Denken. Dabei übertrug er leichthin Hobbes’
Vorstellung des Naturzustands auf die internationale Politik, in der
die Staaten in einem permanenten Kriegszustand existieren. Weil
es keine Zentralgewalt gibt, könne es Frieden nur vorübergehend
geben. Demgegenüber identifizierte er Immanuel Kant mit der uni-
versalistischen Tradition, die nicht Staaten, sondern menschliche
Individuen in den Mittelpunkt stellt. Ihr Ziel sei nicht ein Frie-
denszustand zwischen Staaten, sondern die Herstellung einer Ge-
260 Christopher Daase
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meinschaft von Weltbürgern. Hugo Grotius steht schließlich für


die internationalistische Tradition, die zwar von den politischen
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Gegebenheiten der Anarchie in der internationalen Politik ausgeht,


doch an der Möglichkeit festhält, dass durch allgemeine Regeln
und Institutionen das Ausmaß von Krieg und Konflikt begrenzt
werden kann (Bull 1995 [1977]: 22-26).
Diese Schematisierung mag Philosophiegeschichtlern als gar zu
oberflächlich erscheinen, und Bull hat viel Kritik für seine Simpli-
fizierung einstecken müssen. Doch ging es ihm weniger um eine
genaue Interpretation als um eine ungefähre Kategorisierung theo-
retischer Strömungen. Dabei betonte Bull, dass keine dieser Tradi-
tionen allein selig machend ist. Andererseits hatte Bull selber aber
eine starke Präferenz für die grotianische Perspektive (Bull et al.
1990). Diese Unentschiedenheit ist mit dafür verantwortlich, dass
es so schwer fällt, Bulls eigene Position in der Theoriedebatte zu
bestimmen. Insbesondere seine Haltung gegenüber dem Realismus
muss geklärt werden.
Die hobbesianische Tradition des Realismus kann die interna-
tionale Politik als System darstellen und auf der Grundlage bloßer
Interaktion atomistischer Einheiten in einem leeren Raum erklären:
„A system of states (or international system) is formed when two
or more states have sufficient contact between them, and have suf-
ficient impact on one another’s decision, to cause them to behave
– at least in some measure – as parts of a whole“ (Bull 1995
[1977]: 9). Im internationalen System sind die Beziehungen zwi-
schen den Staaten reine Konflikte: Die Interessen des einen Staa-
tes schließen die Interessen aller anderen aus. Internationale Poli-
tik ist ein Nullsummen-Spiel (Bull 1995 [1977]: 23). Doch ist
nach Ansicht Bulls diese Perspektive einseitig. Ebenso wichtig sei
es, unter einer grotianischen Perspektive die Normen und Regeln
zu sehen, die das internationale System zu einer internationalen Ge-
sellschaft transformieren:
“A society of states (or international society) exists when a group of
states, conscious of certain common interests and common values,
form a society in the sense that they conceive themselves to be bound
by a common set of rules in their relations with one another, and share
in the working of common institutions” (Bull 1995 [1977]: 13).
Die Englische Schule 261
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Diese Unterscheidung von internationalem System und internatio-


naler Gesellschaft ist für die gesamte Englische Schule zentral. In
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gewisser Weise ist das internationale System grundlegender als die


internationale Gesellschaft. Es kann ein System ohne eine Gesell-
schaft, aber keine Gesellschaft ohne ein System geben. Hedley
Bull weist in einem späteren Aufsatz darauf hin, dass die Ausdeh-
nung Europas im 15. Jahrhundert zu einem Staatensystem führte,
lange bevor eine Staatengesellschaft in Europa entstand (Bull
1984). Wenn aber ein internationales System die Voraussetzung
für eine internationale Gesellschaft ist, dann stellt sich die Frage,
wie man den Übergang vom einen zum anderen beschreibt, oder
kurz: woran erkennt man, dass eine Gesellschaft von Staaten ent-
steht? Bull hilft an dieser Stelle nicht viel weiter. Er argumentiert,
dass eine internationale Gesellschaft auf der Idee einer „internationa-
len Ordnung“ basiere, wobei Ordnung als „arrangement of social life
such that it promotes certain goals or values“ definiert wird (Bull
1995 [1977]: 4). Ordnung und Gesellschaft scheinen für ihn syno-
nym zu sein und das Argument droht tautologisch zu werden.
Im Grunde stellen sich hinsichtlich des Konzepts der „internatio-
nalen Gesellschaft“ zwei Fragen, eine theoretische und eine histo-
rische. Die theoretische Frage ist: Was gewinnen wir mit der Be-
trachtung internationaler Konstellationen als „internationale Gesell-
schaften“ gegenüber ihrer Konzeptualisierung als „internationale
Systeme“? Die Frage ist unabhängig vom historischen Entwick-
lungsstand solcher Konstellationen, da es ohnehin schwierig sein
dürfte, sich eine reine „internationale Gesellschaft“ als regelgeleite-
ten sozialen Organismus oder ein reines „internationales System“
vorzustellen, in dem es keinerlei soziale Regeln gibt. Die Antwort
liegt darin, dass innerhalb des Paradigmas der „internationalen Ge-
sellschaft“ soziale Normen und Regeln, die das Verhalten von Staa-
ten prägen, besser beschrieben und erklärt werden können. Wie eine
„internationale Gesellschaft“ aber überhaupt entsteht, ist damit noch
nicht erklärt. Das führt zur zweiten, historischen Frage: Gibt es eine
Entwicklung von „internationalen Systemen“ zu „internationalen
Gesellschaften“, und, wenn ja, wie kann diese Entwicklung erklärt
werden? Das Problem liegt darin, dass der historische Nachweis von
solchen Entwicklungen noch keine sozialwissenschaftliche Erklä-
rung ist. Die Frage, wie eine „internationale Gesellschaft“ möglich
ist, bleibt deshalb einstweilen unbeantwortet.
262 Christopher Daase
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2.2 Das Machtgleichgewicht als Beispiel


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An dieser Stelle kann ein genauerer Blick auf die Theorie des
Machtgleichgewichts weiterhelfen. Bull erkennt den Wert der rea-
listischen Perspektive durchaus an. Nicht umsonst ähnelt seine De-
finition des internationalen Systems der von John Herz und Hans
Morgenthau (vgl. dazu den Beitrag zum Realismus von Andreas
Jacobs in diesem Band). Allerdings ziehen die Realisten aus der
Definition des internationalen Systems als einer Interaktion von
machtmaximierenden Staaten andere Schlüsse als Bull, indem sie
einen Automatismus annehmen, der das Gleichgewicht der Mächte
stabilisiert und, wenn es aus der Balance gerät, wieder herstellt
(Morgenthau 1963 [1948]; Gilpin 1981). Dem hält Bull allerdings
entgegen, dass die Staaten durchaus nicht immer bestrebt sind, ihre
Machtpositionen auszubauen. Deshalb könne auch von einer not-
wendigen Tendenz zur Herstellung eines Machtgleichgewichts
keine Rede sein. Allenfalls könne ein zufälliges (fortuitous) Gleich-
gewicht entstehen, das ohne politische Absicht der beteiligten Mit-
glieder aber instabil bleiben müsse (Bull 1995 [1977]: 100).
Diese Idee des fortuitous balance of power hat starke Ähnlich-
keiten mit der neorealistischen Theorie des Machtgleichgewichts
bei Kenneth Waltz. Waltz beschreibt die Entstehung des Gleich-
gewichts als eine nicht-intendierte Konsequenz systemischer Fak-
toren: Staaten, die sich in einem anarchischen Selbsthilfe-System
behaupten müssen, sind gezwungen, gegen den jeweils stärksten
Staat oder die stärkste Staatengruppe ein Gegengewicht zu bilden,
um langfristig ihr Überleben zu sichern. Weil die anarchische
Struktur des internationalen Systems unüberwindbar ist, ist das
Machtgleichgewicht ein notwendiges Ergebnis internationaler Po-
litik (Waltz 1979: 102-128; vgl. auch den Beitrag von Niklas
Schörnig in diesem Band). Für Bull hingegen ist weder die Anar-
chie des internationalen Systems ein immer währendes Struktur-
merkmal, noch ist der Macht- und Überlebenswille von Staaten
absolut. Für ihn und andere Vertreter der Englischen Schule ist das
Gleichgewicht der Mächte deshalb kein notwendiges, sondern eher
ein zufälliges Ereignis internationaler Politik (Little 2000: 406).
Der Nutzen, internationale Politik unter dem Gesichtspunkt des
internationalen Systems zu betrachten, ist also begrenzt. Das Bei-
spiel des Machtgleichgewichts zeigt, dass es für Bull nicht aus-
Die Englische Schule 263
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reicht, nur das internationale System zu betrachten, sondern dass


es gleichzeitig notwendig ist, die internationale Gesellschaft zu be-
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rücksichtigen. Ein Machtgleichgewicht kann nämlich auch ab-


sichtlich entstehen und zu einem institutionellen Element der in-
ternationalen Beziehungen werden. Um aber dieses „geplante“
(contrived) Machtgleichgewicht zu verstehen, ist es notwendig,
die internationale Politik nicht realistisch als System, sondern in-
ternationalistisch als Gesellschaft zu begreifen. Bull definiert „in-
ternationale Gesellschaft“ als eine Anzahl von Staaten, die sich ge-
meinsamer Interessen und Werte bewusst sind und dieses Be-
wusstsein zur Richtschnur ihrer Handlungen machen. Auf dieser
Grundlage behauptet Bull, dass ein stabiles Machtgleichgewicht nur
dann existieren kann, wenn sich eine entsprechende Zahl mäch-
tiger Staaten entscheidet, ein Gleichgewicht zu schaffen und es
aufrechtzuerhalten. Die Wahl für oder gegen ein Machtgleichge-
wicht ist nicht einfach eine Kosten-Nutzen-Kalkulation und schon
gar nicht ein Diktat der anarchischen Struktur des internationalen
Systems. Vielmehr ist es eine normative Übereinkunft, wie die Ge-
sellschaft der Staaten am besten stabilisiert werden kann. Ein
Machtgleichgewicht basiert also letztlich nicht einfach auf der Fä-
higkeit, anderen Beschränkung aufzuerlegen, sondern auch auf der
Bereitschaft, sich selber Beschränkungen zu unterwerfen (Bull 1995
[1977]: 97-121).
Der Übergang von einem internationalen System zu einer inter-
nationalen Gesellschaft ist also dort zu sehen, wo einer Menge von
Staaten gemeinsame Werte und Ideen bewusst und für diese hand-
lungsleitend werden. Hier wird deutlich, dass internationale Sys-
teme und internationale Gesellschaften auf vollkommen anderen
ontologischen Voraussetzungen basieren, das heißt, unterschiedli-
che Verständnisse sozialer Wirklichkeit erfordern und entsprechend
unterschiedliche Methodologien zu ihrer Erforschung benötigen
(Little 2000: 408). Für die Identifikation und Analyse von interna-
tionalen Systemen ist es ausreichend, die Interaktion von Staaten
zu beobachten und entsprechend den positivistischen Verfahren
auszuwerten. Internationale Gesellschaften setzen hingegen ein
Element intersubjektiver Übereinstimmung zwischen den Akteu-
ren voraus und erfordern daher eine interpretative Methode, die
die Überlegungen und Motive, die Ideen und Werte der Akteure
zu analysieren im Stande ist. Kurz, um die Kategorien von Hollis
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und Smith zu verwenden (Hollis/Smith 1990): Internationale Sys-


teme kann man erklären, Internationale Gesellschaften muss man
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verstehen.
Um das Muster des Machtgleichgewichts in der internationalen
Politik zu begreifen, reicht es nach Bull also nicht aus, die Inter-
aktion der Staaten im internationalen System zu beobachten und
daraus kausale Schlussfolgerungen zu ziehen, wie Neorealisten,
z.B. Waltz, es tun. Vielmehr ist es notwendig, die Entwicklung des
Konzepts des Gleichgewichts der Mächte zu analysieren und zu
zeigen, wie sich konzeptioneller Wandel politisch niedergeschla-
gen hat. Hierbei konnte sich Bull auf die historischen Vorarbeiten
seiner Kollegen im British Committee, Herbert Butterfield und
Martin Wight, berufen. Diese hatten festgestellt, dass die Gleich-
gewichtspolitik in anderen internationalen Systemen, zum Beispiel
im antiken Griechenland oder zwischen den italienischen Stadt-
staaten der Renaissance, ganz anders betrieben wurde, als in der
europäischen internationalen Gesellschaft des 17. und 18. Jahr-
hunderts (Butterfield 1966; Wight 1966). Erst die Idee des Macht-
gleichgewichts und die damit zusammenhängenden Vorstellungen
von Souveränität und Legitimität haben das Gleichgewicht der
Mächte zu einer Institution gemacht und dazu beigetragen, dass
sich das europäische internationale System zu einer europäischen
internationalen Gesellschaft gewandelt hat.

2.3 Interpretative Methodologie

Die Bedeutung ideeller und normativer Faktoren für das zentrale


Theorem der Englischen Schule – die internationale Gesellschaft –
macht verständlich, warum das British Committee in der Einfüh-
rung naturwissenschaftlicher, auf empirische Beobachtung be-
schränkter Methoden eine Bedrohung sah. Ideen, Werte – all das,
was ein internationales System zu einer internationalen Gesell-
schaft macht – ist in der positivistischen Methodologie irrelevant,
weil es nicht operationalisierbar ist und folglich nicht beobachtet
werden kann. Die Forderung nach einer wissenschaftlichen (scienti-
fic) Theoriebildung in den Internationalen Beziehungen, wie sie
Morton Kaplan erhob (Kaplan 1961), traf die Englische Schule
deshalb ins Mark.
Die Englische Schule 265
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Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Infragestellung


wird die Feindseligkeit, mit der die Mitglieder des British Commit-
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tee die methodologischen Erneuerungen in der amerikanischen Po-


litikwissenschaft betrachteten, ebenso verständlich, wie die scharfe
Polemik, die Hedley Bull gegen Morton Kaplan, Thomas Schel-
ling, Karl Deutsch und Kenneth Boulding richtete, also diejenigen
Autoren, die die behavioristische Wende in den Internationalen
Beziehungen einleiteten. Mit seinem berüchtigten Artikel Interna-
tional Theory. The Case for a Classical Approach machte sich
Bull 1966 zum Wortführer gegen die Einführung der Spieltheorie,
die Verbreitung der Statistik und anderer an den modernen Natur-
wissenschaften geschulter Methoden in den Internationalen Bezie-
hungen. Sein Hauptargument war, dass „the scientific approach is
likely to contribute very little to the theory of international rela-
tions, and in so far as it is intended to encroach upon and ulti-
mately displace the classical approach, it is positively harmful“
(Bull 1966: 366).
Im Einzelnen warf Bull den Positivisten in der Politikwissen-
schaft sieben Verfehlungen vor (Bull 1966: 366-376): Erstens füh-
re die Fokussierung auf Fragen der Methodologie dazu, dass die
großen Fragen der internationalen Politik aus den Augen verloren
würden. Zweitens würde die Beschäftigung mit formalen Model-
len die Fähigkeit zur Urteilsbildung vermindern. Drittens würde
von den Positivisten eine naive Vorstellung wissenschaftlichen
Fortschritts vertreten. Viertens würden ihre formalen Modelle die
politische Wirklichkeit verzerren. Fünftens führe die Manie, alle
sozialen Phänomene messen zu wollen, zu Fehlurteilen. Sechstens
würden die Positivisten behaupten, im alleinigen Besitz wissen-
schaftlicher Tugenden zu sein, obwohl Strenge und Präzision auch
Teil der klassischen Tradition seien, und siebtens führe die Entfer-
nung von Philosophie und Geschichte zum Verlust der Selbstre-
flexion und der Fähigkeit zur Selbstkritik.
Diese Liste enthält ernst zu nehmende Kritik ebenso wie pure
Ressentiments. Der Grundton von Bulls Aufsatz ist eine aggressi-
ve, wissenschaftstheoretisch nicht tiefer begründete Ablehnung
wissenschaftlicher Standards für die Erforschung internationaler
Politik. Dabei macht Bull wenig Anstrengungen, die meta-theore-
tischen Prämissen seiner Gegner nachzuvollziehen und den Wert
ihrer Forschungen einzuschätzen. Auch seine eigene Position be-
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gründet er nicht besser. So stark der Angriff gegen den Szientis-


mus ist, so schwach ist die Verteidigung des Traditionalismus.
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Auch hier macht sich Bull nicht die Mühe, etwa auf hermeneuti-
sche oder phänomenologische Wissenschaftstheorien zurückzugrei-
fen, um seine Behauptung zu untermauern, dass der Erforschung
internationaler Politik am besten durch den Rückgriff auf Philoso-
phie, Geschichte und Recht gedient sei (Bull 1966: 361).
Mit dieser Streitschrift hat Bull zweifellos die Grundbefindlich-
keit des British Committee getroffen; und nicht zu Unrecht gilt
dieser Aufsatz als methodologische Bekenntnisschrift der Engli-
schen Schule. Wie aber dieses Pamphlet zum Höhepunkt der Zwei-
ten Großen Debatte4 in den Internationalen Beziehungen stilisiert
werden konnte (Knorr/Rosenau 1969), wird immer ein Geheimnis
bleiben; warum der Szientismus diese Debatte nach Punkten ge-
wann, ist dagegen offensichtlich.

2.4 Normative Theorie

In einem Punkt treffen sich Bulls methodologische Kritik am Szien-


tismus und seine politische Kritik am Realismus, nämlich dort, wo
er beiden das Fehlen einer normativen Komponente vorwirft, die
für sein eigenes Theorieverständnis zentral ist. In einem Aufsatz
über E. H. Carrs einflussreiches Buch The Twenty Years’ Crisis
entwickelt Bull eine Alternative zu dem, was er als moralischen
Relativismus bezeichnet. Realisten wie Carr, so Bull, würden jed-
wede unabhängige Bedeutung ethisch-moralischer Argumente leug-
nen:
“The idea of an international society – of common interest and com-
mon values perceived in common by modern states – is scarcely rec-
ognized in the Twenty Years’ Crisis. In the course of demonstrating
how appeals to an overriding international society subserve the special
interests of the ruling group of powers, Carr jettisons the idea of inter-
national society itself” (Bull 1969: 638).

4 Als Zweite Debatte wird die methodologische Auseinandersetzung zwischen


Traditionalisten und Behavioristen in den 1960er Jahren verstanden. Vgl. dazu
die Beiträge in Knorr/Rosenau 1969.
Die Englische Schule 267
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Diese Behauptung mag bei genauerer Lektüre von Carrs Buch


übertrieben erscheinen, aber sie zeigt, wie wichtig Bull die spezi-
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fisch normative Seite seines Konzepts einer „internationalen Ge-


sellschaft“ ist.
Den bekannten Einwänden der Realisten, Staaten würden nur
dann internationales Recht befolgen, wenn es sowieso in ihrem
Interesse liege so zu handeln, hält Bull entgegen, dass es viel auf-
schlussreicher ist, darüber nachzudenken, warum es eigentlich die
Staaten so häufig für opportun halten, internationalem Recht zu
folgen (Bull 1995 [1977]: 140). Seine Antwort ist, dass Staaten in
einer internationalen Gesellschaft leben, deren rechtlichen Rahmen
sie für so wertvoll halten, dass sie seine Regeln und Normen häu-
fig auch dann einhalten, wenn es ihren unmittelbaren Interessen
nicht entspricht.
Für Bull gibt es also Werte in der internationalen Politik, die
gleichsam objektiven Charakter haben, wie „Ordnung“, und Wer-
te, wie „Gerechtigkeit“, die subjektiven Charakter haben. Dem
Staat als solchem kommt in der Konzeption von Bulls internationa-
ler Gesellschaft durchaus ein objektiver Wert zu. Die Ablehnung ei-
ner universalistischen Gerechtigkeitsvorstellung, die dem Individu-
um vor allen anderen sozialen Einheiten normative Priorität einräu-
men würde, und die Betonung des Aspekts internationaler Ordnung
als Staatenordnung zeigt unmissverständlich, dass Bulls internatio-
nalistische Position dem Staat einen unabhängigen Wert als Garant
internationaler Gesellschaft einräumt. Insofern ist Bulls Theorie ein-
deutig staatszentriert. Genau diese Überlegungen führten ihn auch
dazu, das Konzept der „humanitären Intervention“ in einem von
ihm selbst herausgegebenen Sammelband 1984 abzulehnen:
“As regards to the right of so-called humanitarian intervention (...)
there is no present tendency of states to claim, or for the international
community to recognize, any such right. The reluctance evident in the
international community even to experiment with the conception of a
right of humanitarian intervention reflects not only an unwillingness to
jeopardise the rules of sovereignty and non-intervention by conceding
such a right to individual states, but also the lack of any agreed doc-
trine as to what human rights are” (Bull 1984: 193).
Nicholas Wheeler und Tim Dunne resümieren, dass Bull zwar eine
gewisse Neigung zu universalistischen Vorstellungen einer allge-
268 Christopher Daase
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meinen Gerechtigkeit gehabt habe, doch durch seine Überzeu-


gung, dass letztlich die internationale Gesellschaft der Hort inter-
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nationaler Ordnung sei, daran gehindert wurde, sich weitergehen-


den Vorstellungen „solidarischer Politik“ zu öffnen (Wheeler/
Dunne 1996: 98).

2.5 Theorie und Praxis

Hedley Bulls starkes Bekenntnis zur Normativität internationaler


Theorie und Ablehnung wertfreier Forschung scheint nicht recht
zu seiner ausgesprochenen Verachtung zu passen, die er wissen-
schaftlichen Kollegen entgegenbrachte, die ihre Aufgabe auch da-
rin sahen, aktiv in die Politik einzugreifen.
Schon Ende der 1950er Jahre hatte Bull sich mit Philip Noel-
Baker überworfen, der in seinem Buch The Arms Race: A Pro-
gramme for Disarmament für eine umfassende Abrüstung einge-
treten war (Noel-Baker 1958). Bull befürwortete dagegen ein sehr
viel weniger ‚radikales‘ Vorgehen. Im Rahmen der Institutionen
der internationalen Gesellschaft, sprich: dem Machtgleichgewicht,
sollte durch schrittweise Rüstungsbeschränkung der Wettlauf ein-
gedämmt werden (O’Neill/Schwartz 1987). Noel-Bakers Eintreten
für eine weitergehende Abrüstung hielt Bull für unwissenschaft-
lich. Noch heftiger griff er Richard Falk an, einen prominenten
Rechtswissenschaftler der Princeton-Universität, der für univer-
selle moralische Werte wie Frieden, Verteilungsgerechtigkeit, öko-
logisches Gleichgewicht und Menschenrechte eintrat. Falk, so mo-
nierte Bull, sei vom Pfad wissenschaftlicher Objektivität abge-
kommen und habe sich der politischen Propaganda verschrieben:
“The task of the academic inquirer is not to jump on bandwagons but
to stand back and assess, in a disinterested way, the distinction they are
going. Any writer can join a political movement and devote his intel-
lectual talents to supplying the rhetoric, the exaggeration, the denun-
ciation and the slurring of issues which will help to speed it on its way.
It does not seem the best use for the talents of the Albert G. Milbank
Professor of International Law” (Bull 1972: 588).
Aber nicht nur Friedensforscher waren Bulls Opfer, auch auf der
anderen Seite des politischen Spektrums kritisierte er Wissen-
Die Englische Schule 269
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schaftler, die sich zu sehr mit der Politik einließen. Henry Kissin-
ger bezeichnete er in diesem Sinne als „a very unfortunate exam-
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ple of a profession whose business is, after all, with thinking, not
with doing“ (Bull 1980: 484). Allerdings war auch Bull selber
nicht Politik-abstinent. In den sechziger Jahren war er Mitglied der
British Special Advisory Group on Arms Control. Seine Kritik
scheint deshalb vor allem politischer Natur zu sein, insofern er nur
diejenigen Wissenschaftler kritisiert, die der realistischen und der
universalistischen Tradition anhängen, nicht aber, wie er selber,
der internationalistischen. Grotianische Politikberatung schien für
Bull akzeptabel zu sein, kantianische und hobbesianische lehnte er
ab.

3. Die Englische Schule – Die Zweite Generation


Hedley Bull ist nicht der erste Theoretiker der Englischen Schule
gewesen und nicht ihr letzter geblieben. Aber er hat, wie kein
zweiter, ihre Grundgedanken formuliert, zugespitzt und mit einer
Heftigkeit im internationalen Diskurs vertreten, dass es nicht mög-
lich war, sie zu übergehen. Im verzweifelten Kampf, sich Gehör
zu verschaffen, drückt sich nicht zuletzt das Schicksal einer klei-
nen Forschungsgemeinde aus, die droht, von einem übermächtigen
Konkurrenten kolonisiert und schließlich geschluckt zu werden.
Nicht umsonst hat Stanley Hoffmann die Internationalen Bezie-
hungen als eine „amerikanische Disziplin“ bezeichnet (Hoffman
1977). Während sich aber in anderen europäischen Staaten auf-
grund der Sprachunterschiede akademische Subkulturen in den In-
ternationalen Beziehungen hatten halten können, war die britische
Disziplin der „behavioralistischen Revolution“, wie der Siegeszug
naturwissenschaftlicher Methoden in den USA häufig genannt
wird, direkt ausgesetzt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass
sich die frühen Vertreter der Schule im British Committe on the
Theory of International Politics als spezifisch nationale Gruppe
von Theoretikern verstand (Holsti 1985) und auch heute das „Eng-
lische“ der Englischen Schule durchaus programmatisch als „nicht-
amerikanisch“ (und doch englischsprachig) verstanden werden kann
(Dunne 1998).
270 Christopher Daase
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Das heißt freilich nicht, dass sie nationalistisch in dem Sinne


ist, dass nur Engländer ihr angehören. Im Gegenteil hat sich die
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Englische Schule in den letzten Jahren insofern internationalisiert,


als nicht nur Australier, Südafrikaner und Kanadier, sondern auch
Skandinavier und andere Europäer sowie Asiaten zu ihr gestoßen
sind.5 Was allerdings diese Forscher jenseits der Opposition gegen
den als hegemonial wahrgenommenen Mainstream amerikanischer
Politikwissenschaft eint, wird immer weniger deutlich. Die Beru-
fung auf die Englische Schule als intellektuelle Tradition wird da-
bei umso weniger glaubwürdig, als genau diese Tradition immer
kontroverser interpretiert wird.
Dabei zeichnen sich vor allem zwei Strategien ab, die Tradition
der Englischen Schule zu interpretieren und fortzuentwickeln. Ei-
nerseits wird der Pluralismus der Englischen Schule betont und
nach Verbindungsmöglichkeiten zu den amerikanischen Mainstre-
am-Ansätzen, insbesondere Neorealismus und Regimetheorie, ge-
sucht (Buzan 1993; Little 2000; Buzan/Little 2000). Andererseits
wird die Englische Schule in eine ganz bestimmte Richtung hin
interpretiert, die sie zum Vorläufer Kritischer Theorie macht und
universalistische Positionen unterstützt (Wheeler/Dunne 1996; Dun-
ne 1998; Wheeler 2000). Gemeinsam ist diesen Strategien, dass
sie von Hedley Bull ausgehend auf Martin Wight zurückgehen, um
mit Martin Wight über Hedley Bull hinauszugehen.

3.1 Die Englische Schule als Analyse internationaler


Systeme

Es liegt nahe, die drei Traditionen, die Bull zur Unterscheidung


von „internationalen Systemen“, „internationalen Gesellschaften“
und „Weltgesellschaften“ benutzt, als unvereinbare und miteinan-
der in Wettstreit liegende Paradigmen zu begreifen. Richard Little
(2000) hat jedoch betont, dass es im Selbstverständnis der Engli-
schen Schule liegt, diese Traditionen, wenn nicht zu versöhnen, so
doch in ihrer jeweiligen Stärke gelten zu lassen. Tatsächlich hat
Wight diese Traditionen als „three interrelated political conditions

5 Eine Liste von Mitgliedern und Sympathisanten der Zweiten Generation der Engli-
schen Schule findet sich auf der eingangs genannten Internetseite.
Die Englische Schule 271
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which comprise the subject matter of what is called international


relations“ (Wight 1991: 7) verstanden.
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Das Problem dieser drei Traditionen ist nach Meinung von


Wight, dass sie nur jeweils einen Aspekt der internationalen Poli-
tik betonen. Realisten betonen die systemische Bedingung der An-
archie, weil sie das Fehlen einer zentralen Machtinstanz für eine
immer währende und unveränderliche Bedingung internationaler
Politik halten. Rationalisten dagegen konzentrieren sich auf Diplo-
matie und Wirtschaftsbeziehungen, weil sie der Meinung sind,
dass regelmäßiger Kontakt zwischen den Akteuren der internatio-
nalen Politik die Folgen der Anarchie mildern kann. Revolutionis-
ten schließlich würden sich auf die Frage konzentrieren, wie Staa-
ten eine normative und kulturelle Ordnung entwickeln können, um
die Bedingungen der Anarchie zu überwinden. Little betont, dass
die Reduzierung der Englischen Schule auf eine „rationalistische“
Position im Sinne von Wight und auf die Idee einer „internationa-
len Gesellschaft“ im Sinne von Bull eine Vereinfachung darstellt.
In Wirklichkeit habe die Englische Schule noch viel mehr zu bie-
ten (Little 2000: 398).
Die Betonung des ontologischen und methodologischen Plura-
lismus der Englischen Schule erlaubt es, nach Anknüpfungsmög-
lichkeiten zu anderen Theorien der internationalen Beziehungen
zu suchen, auch und gerade zu solchen, die als vermeintlich „posi-
tivistisch“ gelten. Bereits in einem früheren Buch, das Little zu-
sammen mit Barry Buzan und Charles Jones schrieb, setzten sich
die Autoren mit dem Neorealismus von Kenneth Waltz auseinan-
der, um ihn in Verbindung mit den Ideen der Englischen Schule zu
einer integrativen, kohärenten Theorie internationaler Beziehun-
gen fortzuentwickeln (Buzan/Jones/Little 1993). Insbesondere Bu-
zans Absicht war es zu zeigen, wie aus der Logik der Anarchie (im
Sinne des Neorealismus) eine internationale Gesellschaft (im Sin-
ne der Englischen Schule) als ein natürliches Produkt entstehen
kann. Buzan unterscheidet dabei zwei unterschiedliche Pfade: ei-
nen, der durch kulturelle und normative Angleichung gleichsam
organisch eine Gemeinschaft (im Sinne von Tönnies 1979 [1887])
herstellt, und einen, der durch soziale und rechtliche Vereinbarun-
gen eine gleichsam rationale Gesellschaft konstruiert. Buzan er-
klärt die Entstehung „internationaler Gesellschaften“ (im Sinne
Hedley Bulls) einerseits mit Hilfe des Neorealismus, der es ermög-
272 Christopher Daase
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licht, die rationale Gesellschaftsbildung (im Sinne Tönnies) auf


der Grundlage gemeinsamer Interessen zu erklären; und anderer-
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seits mit Hilfe der Englischen Schule, die es erlaubt, die kulturelle
Gemeinschaftsbildung (im Sinne Tönnies) auf der Grundlage ge-
teilter Werte zu verstehen (Buzan 1993: 348; vgl. dazu auch den
Aufsatz zu Weltgesellschaft und Globalisierung von Ingo Take in
diesem Band).
In ihrem neuesten Buch versuchen Buzan und Little diese Über-
legungen komparativ auf andere internationale Systeme zu über-
tragen, um damit der Erforschung internationaler Politik eine neue
Perspektive zu eröffnen, die „more holistic, more integrated and
more historically contextualized“ ist (Buzan/Little 2000: 1). Dass
sie sich dabei von den traditionellen Vorstellungen der Englische
Schule immer weiter entfernen, stört sie wenig. Auf den Vorwurf
eines Kritikers, die Theorie der Englischen Schule würde damit in
ihrer Substanz verändert (Hall 2001: 941), antworteten sie lako-
nisch, sie hätten das Buch gar nicht „as an English-school book“
schreiben wollen (Buzan/Little 2001: 944). Viel wichtiger ist ih-
nen die kreative Weiterentwicklung der Englischen Schule als ei-
ner „underexploited resource“ (Buzan 2001).

3.2 Die Englische Schule als Kritische Theorie

In eine ganz andere Richtung zielen die Versuche einer jüngeren


Generation von Politikwissenschaftlern, die Geschichte der Engli-
schen Schule systematisch aufzuarbeiten und in eine bestimmte
Richtung (um-)zuinterpretieren (Dunne 1998; Epp 1998). Tim
Dunne räumt freimütig ein, dass es ihm dabei nicht um Authenti-
zität geht, also um die Frage, ob seine Interpretation den Autoren
‚gerecht‘ wird; viel mehr will er nach dem normativen Potenzial in
ihren Texten suchen und die Frage beantworten „what can we
make of it?“ (Dunne 1998: 182).
Mit dieser Position beruft sich Dunne auf Andrew Linklater,
der eine eigenwillige Interpretation von Wights „drei Traditionen“
vorgeschlagen hat. Nach Linklater können die „drei Rs“ Realis-
mus, Rationalismus und Revolutionismus methodologisch als Po-
sitivismus, Hermeneutik und Kritische Theorie umgedeutet wer-
den. Mehr noch: Nach Meinung Linklaters stehen sie in einem
Die Englische Schule 273
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dialektischen Verhältnis zueinander, wobei aus der Thesis „Positi-


vismus“ und der Antithesis „Hermeneutik“ die Synthesis „Kriti-
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sche Theorie“ entstehe (Linklater 1990: Kap. 1; vgl. dazu auch


den Beitrag zur Kritischen Theorie von Christoph Humrich in die-
sem Band). Mit diesem Kunstgriff, der zweifellos nicht der ur-
sprünglichen Intention der ersten Generation der Englischen Schu-
le und schon gar nicht Hedley Bulls entspricht, wird die Englische
Schule zum Wegbereiter einer Kritischen Theorie internationaler
Beziehungen.
Ähnlich verfahren Nicholas Wheeler und Tim Dunne in einem
Artikel, der das Ziel verfolgt, eine „solidaristische“ (solidarist)
Theorie internationaler Gesellschaft zu etablieren und das Recht auf
humanitäre Intervention normativ zu begründen. Unter „Solidaris-
mus“ wird in der Englischen Schule das universalistische Bekennt-
nis zu globalen Werten verstanden und gegen „Pluralismus“, die
Vorstellung dass Normen und Werte kulturabhängig sind, abgesetzt.
Auch Wheeler und Dunne lassen sich weitgehend auf die Texte der
‚alten‘ Vertreter der Englischen Schule ein und suchen nach intel-
lektuellen Entwicklungen, die dann konsequent extrapoliert und in
eine bestimmte Richtung fortinterpretiert werden können. So deuten
sie Bulls Unzufriedenheit mit dem moralischen Relativismus des
Realismus als eine Abwendung von realistischen hin zu pluralisti-
schen Positionen, die, wenn sie konsequent fortgesetzt worden wäre,
zu einem „solidaristischen“ Verständnis internationaler Politik ge-
führt hätte. Trotz der wiederholt von Bull geäußerten Ablehnung
universalistischer Wertvorstellungen erreichen Wheeler und Dunne
den Punkt, an dem sie behaupten können: „Bull was a solidarist“
(Wheeler/Dunne 1996: 106). Auf diese Weise wird Hedley Bull, der
sich 1984 ausdrücklich gegen die „humanitäre Intervention“ ausge-
sprochen hatte (Bull 1984), zu einem Vertreter universalistischer
Werte und zum Vorkämpfer für humanitäre Interventionen.
Eher traditionell gestimmte Zeitgenossen mögen diese Form der
Interpretation schlicht als unseriös bezeichnen, sie liegt aber ganz
in der Logik der revisionistischen Geschichtsschreibung der Dis-
ziplin Internationale Beziehungen, die Dunne mit dem Argument
betreibt, dass alle Theorie normativ ist und es darauf ankommt, die
Vorstellung der „internationalen Gesellschaft“ in eine kosmopoli-
tisch-universalistische Richtung fortzuentwickeln (Dunne 1998:
181-190). Nicholas Wheeler teilt „the same normative agenda of
274 Christopher Daase
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radicalizing the English School“ (Wheeler 2000: xi) und versucht


in seinem Buch Saving Strangers. Humanitarian Intervention in
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International Society das „solidaristische“ Verständnis internatio-


naler Gesellschaft zu etablieren. Er stützt sich dabei in seiner Dis-
kussion der normativen Argumente für humanitäre Interventionen
auf drei Autoren, R. J. Vincent, Michael Walzer und Fernando Té-
son, von denen nur der erste zur Englischen Schule gezählt wird,
aber eine „pluralistische“ Position vertritt, während die anderen
beiden zwar nicht zur Englischen Schule gehören, aber eine „soli-
daristische“ Position vertreten. Weil Wheeler aber zeigen will,
dass das Recht auf humanitäre Intervention in der logischen Wei-
terentwicklung der Englischen Schule liegt, kooptiert er einfach
Téson als „located in the solidarist wing of the English School“
(Wheeler 2000: 39).
Zu einer ganz anderen Einschätzung der Interventionsproble-
matik gelangt Robert Jackson. Auch er nimmt für sich in An-
spruch, den klassischen Ansatz der Englischen Schule weiterzu-
entwickeln und Antworten auf aktuelle normative Fragen zu ge-
ben. Im Gegensatz zu Dunn und Wheeler akzentuiert Jackson je-
doch nicht die solidaristische, sondern die pluralistische Position
und weist damit der Souveränitätsnorm eine größere Bedeutung zu
als den Menschenrechten. Staaten hätten zwar die Verantwortung,
dort, wo es möglich ist, für internationale Gerechtigkeit zu sorgen;
sie dürften dabei aber andere fundamentale Werte der internationa-
len Gesellschaft nicht verletzen: „International order and stability,
international peace and security, are such values. In my view, the
stability of international society, especially the unity of the great
powers, is more important, indeed far more important, than mi-
nority rights and humanitarian protections in Yugoslavia or an
other country – if we have to choose between those two sets of
values“ (Jackson 2000: 291).
Ganz gleich, ob man die Argumente für oder gegen humanitäre
Interventionen für stichhaltiger hält, kann man an der Debatte zwi-
schen Solidaristen und Pluralisten erkennen, dass sich aus der Eng-
lischen Schule und dem Konzept der Internationalen Gesellschaft
keine eindeutigen normativen Aussagen ableiten lassen. Immerhin
aber bietet die Englische Schule das Vokabular und die Katego-
rien, diese und andere ethische Fragen überhaupt zu thematisieren
(Mapel/Nardin 1998). Und genau darin ist die Englische Schule
Die Englische Schule 275
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vielen anderen theoretischen Ansätzen der Internationalen Bezie-


hungen überlegen.
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4. Englische Schule – Welche Zukunft?


Die gegenwärtigen theoretischen Tendenzen innerhalb der Engli-
schen Schule deuten in entgegengesetzte Richtungen. Einerseits
wird der ontologische und methodologische Pluralismus betont
und der Dialog mit amerikanischen Mainstream-Ansätzen gesucht;
andererseits werden die normativ-kritischen Komponenten heraus-
gehoben und zu einem direkt gegen den Mainstream gerichteten
Paradigma geschmiedet. Einstweilen publizieren die Vertreter und
Vertreterinnen beider Richtungen noch gemeinsam in Sammelbän-
den zur theoretischen Entwicklung der Englischen Schule (Rober-
son 2002; Little/Williams 2006; Linklater/Suganami 2006). Aber
zunehmend wird fraglich, was eigentlich noch die Gemeinsamkeit
derer ist, die sich in der Tradition der Englischen Schule sehen.
Diese Frage hatte allerdings Roy Jones schon vor fünfundzwan-
zig Jahren gestellt und verkündet, es sei Zeit, das Kapitel „Englische
Schule“ zu schließen (Jones 1981). Ian Hall hat jüngst diese Kritik
wieder aufgenommen und insofern radikalisiert, als er behauptet,
dass das Kapitel gar nicht geschlossen werden müsse, weil es die
Englische Schule „as a cohesive approach to the study of internatio-
nal relations“ gar nicht mehr gebe (Hall 2001: 942). In der Tat:
Wahrscheinlich ist es am besten, von der Englischen Schule nicht im
Sinne einer bestimmten Theorie und nicht einmal im Sinne eines Pa-
radigmas zu sprechen, sondern einfach „as a tradition of conversati-
on, marked off from others by its focus on the ‚three traditions‘ as a
set, in which people can participate without being committed to par-
ticular strictures“ (Buzan/Little 2001: 944). Das würde einige Pro-
bleme lösen, denen sich die Englische Schule gegenüber sähe, wenn
sie weiter die Illusion verbreiten würde, sie sei ein kohärentes For-
schungsprogramm der Internationalen Beziehungen.
Eines dieser Probleme ist die Vielfalt, die verloren gehen könnte,
wenn die Englische Schule verstärkt auf eine bestimmte theoretische
Position verengt würde. In diesem Sinne hat Ole Weaver (1999) da-
vor gewarnt, die Parallelen zwischen der Englischen Schule und
dem, was allgemein als Konstruktivismus bezeichnet wird, überzu-
276 Christopher Daase
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betonen. Zwar gibt es gewisse Parallelen in der Betonung der via


media bei der Englischen Schule (einem Mittelweg in der politi-
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schen Geistesgeschichte bei Wight und ontologischen wie methodo-


logischen Position bei Bull) auf der einen Seite und dem Suchen
nach dem epistemologischen middle ground der Konstruktivisten
(Adler 1997; Wendt 1999) auf der anderen (vgl. auch den Beitrag
zum Sozialkonstruktivismus von Cornelia Ulbert in diesem Band).
Doch überwiegen bei Weitem die Unterschiede. Daraus resultieren
unterschiedliche Stärken: bei der Englischen Schule, makrohistori-
schen Wandel zu erforschen und sich mit Fragen politischer Ethik zu
befassen; beim Konstruktivismus, kausale Mechanismen zu analy-
sieren und normative Ideen empirisch zu erfassen. Deshalb schließt
Weaver: „Both the English School and (American mainstream) con-
structivism are valuable, but it would be a pity to give up one in or-
der to look like the other“ (Weaver 1999: 13).
Das schließt nicht aus, dass sich beide Ansätze positiv befruch-
ten können. Hidemi Suganami regt etwa an, dass der Konstrukti-
vismus, der – zumindest in seiner Mainstream-Form à la Wendt –
überaus abstrakt und geradezu empiriefeindlich sei, sich von der
Englischen Schule zu historischen Analysen anregen lassen könn-
te, während die Englische Schule, die – zumindest in ihrer klassi-
schen Variante – keine großen Mühen auf die Generalisierung ih-
rer historischen Erkenntnisse verwendet hat, zu konsequenterer
Theoriebildung veranlasst werden könnte (Suganami 2001). In die-
sem Sinne sollten Konstruktivismus und Englische Schule kom-
plementär, der eine deduktiv, die andere induktiv, an der gemein-
samen Frage nach den Bedingungen der „internationalen Gesell-
schaft“ arbeiten. Freilich sind, wie Martha Finnemore kritisch an-
merkt, für diese Zusammenarbeit aber noch Vorleistungen von den
Vertretern der Englischen Schule zu erbringen. Denn bis heute sei
völlig unklar, welche theoretischen und methodischen Behauptun-
gen von der Englischen Schule überhaupt erhoben würden (Finne-
more 2001). Was methodische Reflexion und theoretische Klarheit
angehe, könne die Englische Schule vom Konstruktivismus mehr
lernen als der Konstruktivismus von der Englischen Schule.
Noch einem zweiten Problem könnte begegnet werden, wenn
die Englische Schule nicht als Theorie, sondern als „tradition of
conversation“ verstanden würde, nämlich den notorischen Versu-
chen von außen, die Englische Schule durch empirische Falsifika-
Die Englische Schule 277
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tion zu ‚widerlegen‘. Einer der wenigen amerikanischen Autoren,


die die Englische Schule ernst nehmen, ist Stephen Krasner. In
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seinem Buch Sovereignty. Organized Hypocrisy diskutiert er ver-


schiedene Theorien (Neorealismus, Neoliberalismus und die Eng-
lische Schule) daraufhin, ob sie die internationale Politik im Rah-
men des Westfälischen Systems erklären können. Er stellt dar, wie
die Englische Schule das ‚Westfälische System‘ als eine interna-
tionale Gesellschaft auffasst, die aus allgemeinen Normen der Sou-
veränität und Nicht-Intervention besteht. Doch kommt er zu dem
Schluss, dass „empirically, the frequency with which the domestic
autonomy of states has been violated suggests that the shared
norms and internalized constraints stipulated by the English school
do not exist at least with regard to the Westphalian model. Even
the rules associated with international legal sovereignty are not
taken for granted“ (Krasner 1999: 55f). Doch erstens bedeutet die
Tatsache, dass Institutionen und Regeln gebrochen werden, nicht,
dass Institutionen und Regeln nicht existieren. Und zweitens lässt
Krasners Beobachtung den normativen Kern der Aussage, das West-
fälische System sei eine auf Institutionen gegründete internationale
Gesellschaft, unangetastet.
Schließlich könnte ein weniger rigides Verständnis der Engli-
schen Schule die „scholastische Diskussion“ (Hurrell 2001) über-
flüssig machen, was genau denn die Glaubenssätze der Englischen
Schule seien und wer sich als Mitglied dieser Schule bezeichnen
dürfe. Zur Zeit führen die Versuche, eine theoretische Tradition
künstlich zu konstruieren nur dazu, dass mehr über die Englische
Schule, und weniger im Sinne der Englischen Schule geforscht
wird. So verständlich der Wunsch ist, die eigene (nationale) For-
schungstradition gegen eine übermächtige Herausforderung aus
den USA zu schützen, so sehr hat die Abkapselung und Gegner-
schaft gegen die Mainstream-Ansätze die theoretische Weiterent-
wicklung der Englischen Schule behindert. Vielleicht würde ein
wenig frische Luft dem Englischen Patienten ganz gut tun.
278 Christopher Daase
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Literaturverzeichnis
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Empfohlene Literatur
Primärliteratur
Bull, Hedley 1966: International Theory: The Case for a Classical Approach,
in: World Politics 18: 3, 361-377.
Bull, Hedley 1995 [1977]: The Anarchical Society. A Study of Order in World
Politics, 2. Aufl. London/New York: Macmillan.
Butterfield, Herbert/Wight, Martin (Hrsg.) 1966: Diplomatic Investigations:
Essays in the Theory of International Politics. London: Allen & Unwin.
Wight, Martin 1991: International Theory. The Three Traditions. Herausgegeben
von Gabriele Wight und Brian Porter. Leicester: Leicester University Press.

Sekundärliteratur
Buzan, Barry 2001: The English School: An Underexploited Resource in IR,
in: Review of International Studies 27: 3, 471-488.
Dunne, Tim 1998: Inventing International Society. A History of the English
School. Basingstoke: Macmillan.
Little, Richard 2000: The English School’s Contribution to the Study of Interna-
tional Relations, in: European Journal of International Relations 6: 3, 395-422.

Übrige verwendete Literatur


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Weltgesellschaft und Globalisierung


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Ingo Take

1. Einleitung
Weltgesellschaft und Globalisierung sind Begriffe, die interdiszip-
linär Verwendung finden.1 Die daraus resultierende Diversität an
Verwendungszusammenhängen verhinderte bisher eine analytisch
sinnvolle Systematisierung, die für eine künftige – auch interdiszip-
linäre – Forschung fruchtbar gemacht werden könnte.2 Als gemein-
samer Kern aller Varianten der Begriffsverwendung lässt sich aber
immerhin der Anspruch festhalten, Veränderungen in der Welt und
die daraus resultierenden Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesell-
schaft konzeptionell zu erfassen. Globalisierung soll hier als die Art
und Weise betrachtet werden, in der soziale Beziehungen durch glo-
bale Kontexte definiert werden. Demnach unterliegen staatliche
Ordnung, politische Kultur und Identität als Merkmale von Gesell-
schaften einem systemischen Wandel, der durch globalisierungsin-
duzierte Entwicklungen forciert wird. Betrachtet man die Gesell-
schaft als ein globales System sozialer Beziehungen, in welchem alle
Menschen durch die vereinigenden Kräfte moderner Produktion,
Märkte, Kommunikation sowie kultureller Symbole und politischer
Institutionen miteinander verbunden sind und in einer Vielzahl glo-
baler sowie regional, national und lokal segmentierter und differen-
zierter Räume interagieren, dann lässt sich bereits heute von einer

1 Die Begriffsgeschichte von Globalisierung und Weltgesellschaft wird unter an-


derem von Tyrell (2005) nachgezeichnet, der dabei auch auf die verschiedenen
beteiligten Denkschulen rekurriert.
2 Einen interessanten und zugleich originellen Ansatzpunkt hierfür liefert Albert mit
seiner Untersuchung „Zur Politik der Weltgesellschaft“ (2002), die Anknüpfungs-
punkte zwischen systemtheoretischer Gesellschaftstheorie und Theorien der Inter-
nationalen Beziehungen (IB) identifiziert. In einem weiteren Aufsatz betont er den
potenziellen Mehrwert der Differenzierungstheorie für die IB (Albert 2009).
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Weltgesellschaft und Globalisierung


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Ingo Take

1. Einleitung
Weltgesellschaft und Globalisierung sind Begriffe, die interdiszip-
linär Verwendung finden.1 Die daraus resultierende Diversität an
Verwendungszusammenhängen verhinderte bisher eine analytisch
sinnvolle Systematisierung, die für eine künftige – auch interdiszip-
linäre – Forschung fruchtbar gemacht werden könnte.2 Als gemein-
samer Kern aller Varianten der Begriffsverwendung lässt sich aber
immerhin der Anspruch festhalten, Veränderungen in der Welt und
die daraus resultierenden Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesell-
schaft konzeptionell zu erfassen. Globalisierung soll hier als die Art
und Weise betrachtet werden, in der soziale Beziehungen durch glo-
bale Kontexte definiert werden. Demnach unterliegen staatliche
Ordnung, politische Kultur und Identität als Merkmale von Gesell-
schaften einem systemischen Wandel, der durch globalisierungsin-
duzierte Entwicklungen forciert wird. Betrachtet man die Gesell-
schaft als ein globales System sozialer Beziehungen, in welchem alle
Menschen durch die vereinigenden Kräfte moderner Produktion,
Märkte, Kommunikation sowie kultureller Symbole und politischer
Institutionen miteinander verbunden sind und in einer Vielzahl glo-
baler sowie regional, national und lokal segmentierter und differen-
zierter Räume interagieren, dann lässt sich bereits heute von einer

1 Die Begriffsgeschichte von Globalisierung und Weltgesellschaft wird unter an-


derem von Tyrell (2005) nachgezeichnet, der dabei auch auf die verschiedenen
beteiligten Denkschulen rekurriert.
2 Einen interessanten und zugleich originellen Ansatzpunkt hierfür liefert Albert mit
seiner Untersuchung „Zur Politik der Weltgesellschaft“ (2002), die Anknüpfungs-
punkte zwischen systemtheoretischer Gesellschaftstheorie und Theorien der Inter-
nationalen Beziehungen (IB) identifiziert. In einem weiteren Aufsatz betont er den
potenziellen Mehrwert der Differenzierungstheorie für die IB (Albert 2009).
282 Ingo Take
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Weltgesellschaft sprechen (vgl. Albert 2009). Die Weltgesellschaft


wäre demnach als Feld sozialer Beziehungen zu konzeptualisieren,
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in welchem sich eine Vielzahl unterschiedlicher Interaktionszusam-


menhänge herausgebildet hat – einige von ihnen bereits mit globaler
Reichweite, andere auf dem Weg dorthin und wiederum andere auf
nationale oder lokale Kontexte beschränkt. Damit gerät das in den
Internationalen Beziehungen vorherrschende Konzept von Staaten
als souveränen und das Feld der internationalen Beziehungen weit-
gehend allein strukturierenden Akteuren von oben und unten unter
Druck. Neben der Herausbildung spezifischer globaler Institutionen
zur Regulierung grenzüberschreitender wirtschaftlicher (WTO, IMF,
G8 etc.) und politischer (UNO, NATO etc.) Prozesse, kann ein An-
stieg der kollektiven Handlungsfähigkeit zivilgesellschaftlicher und
privatwirtschaftlicher Akteure beobachtet werden. Gestützt auf eine
grenzüberschreitende Vernetzung sowie weltweit verbreitete Er-
wartungen, Werte und Ziele, widmen sich vor allem Nichtregie-
rungsorganisationen (NGOs), aber zunehmend auch Unternehmen
der Bearbeitung jeweils spezifischer krisenhafter Phänomene glo-
baler Reichweite und suchen Einfluss auf die internationale Politik
zu nehmen. Die „Gesellschaftswelt“ gerät dabei in Konflikt mit der
„Staatenwelt“, deren traditionelle Formen politischer Steuerung vor
dem Hintergrund zunehmend komplexer werdender Regulierungs-
bedürfnisse immer öfter versagen. Dieser abnehmenden Steuerungs-
fähigkeit der Nationalstaaten steht die Zunahme steuerungsrelevan-
ter Ressourcen auf Seiten der problemfeldorientierten nichtstaat-
lichen Akteure gegenüber. Gesellschaftliche Akteure stellen etablier-
te Machtstrukturen in Frage und sind gleichzeitig Ausdruck einer
funktionalen Differenzierung, die in zunehmendem Maße als globa-
les Ordnungsprinzip an Bedeutung gewinnt (Buzan/Albert 2010).
Die Theoriebildung der Internationalen Beziehungen steht damit vor
der Herausforderung, sowohl ihre Beschränkung auf zwischenstaat-
liche Politik als auch ihre Trennung von Innen- und Außenpolitik
aufzugeben. In diese Richtung weisen Konzepte grenzüberschrei-
tender sozialer Interaktionen, die neben den Staaten auch nichtstaat-
liche Akteure integrieren und unter dem Begriff Global Governance
firmieren.3

3 Konzeptionen von Global Governance erweitern den Bezugsrahmen, in wel-


chem sich die Theorien der IB bisher bewegt haben, indem sie neue Akteure
Weltgesellschaft und Globalisierung 283
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Die Diffusion von Akteuren und Handlungsebenen als Dimen-


sionen der internationalen Vergesellschaftung wurde bereits in der
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Transnationalismus-Debatte Ende der 1960er Jahre thematisiert.


„Transnationale Politik“ war die analytische Grundkategorie, mit
der die Disziplin der Internationalen Beziehungen auf den mit so-
zioökonomischen Verflechtungs- und politischen Integrationspro-
zessen einhergehenden Bedeutungsverlust sowohl der realen als
auch der analytisch-kategorialen Grenzziehungen zwischen Gesell-
schafts-, Innen-, Außen- und internationaler Politik reagierte (vgl.
Risse 2002). „Transnationale Politik“ öffnet den Blick für gesell-
schaftliche Prozesse, die von anderen Staaten ausgehend auf die
eigene Gesellschaft einwirken und so staatliche Politik auf indirek-
tem Wege beeinflussen. So beschreibt John Burton in seinem
Buch World Society (1972) eine Vielzahl unterschiedlicher funk-
tional bestimmbarer Beziehungsgeflechte, die Akteure auf den
verschiedenen Handlungsebenen mit einer Vielzahl anderer, auch
nichtstaatlicher Akteure in einem „Spinnwebmodell“ verknüpfen.
Da die Mehrzahl der grenzüberschreitenden Interaktionen zwi-
schen nichtstaatlichen Akteuren verlaufen, eigne sich das Territo-
rialprinzip nicht mehr zur Differenzierung und Kategorisierung
dieser Beziehungen. Konstitutiv seien vielmehr funktionale Bezie-
hungssysteme, die in ihrer Totalität nur in einem Weltgesellschafts-
modell zu erfassen seien. Mit seinem Spinnwebmodell nimmt
Burton also auch unterhalb und außerhalb der staatlichen Ebene
ablaufende Interaktionsprozesse in den Blick und macht sie für ei-
ne politikwissenschaftliche Analyse fruchtbar. Damit überwindet
der Ansatz von Burton die staatszentrierte Sichtweise der realisti-
schen Schule. Das Modell der komplexen Interdependenz (vgl.
den Beitrag von Manuela Spindler in diesem Band) stellte in den
1970er Jahren einen weiteren Versuch dar, die gestiegene Kom-
plexität internationaler Prozesse und Strukturen adäquat zu erfas-
sen. Das Modell zielt dazu sowohl auf die Analyse der im Allge-
meinen asymmetrischen Abhängigkeitsstrukturen politischer Ak-
teure und Systeme als auch auf die gegenseitige Durchdringung

und Interaktionsräume in die Theoriebildung mit einbeziehen. Auf diese Weise


werden die Theorien der IB, die wissenschaftlich begründete Aussagen über
dem internationalen System zugrunde liegende Gesetzmäßigkeiten beinhalten,
in einen neuen Kontext gestellt. Damit bieten diese Konzepte selber aber noch
keine Aussagen über gesetzmäßige Wirkungszusammenhänge.
284 Ingo Take
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politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse. Da


sich diese Abhängigkeitsstrukturen von Fall zu Fall unterscheiden,
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erlaubt das Interdependenz-Modell keine verallgemeinerungsfähi-


gen Aussagen. Es bietet jedoch einen analytischen Rahmen für den
zunehmend komplexen Charakter der internationalen Beziehun-
gen, indem es die Rolle des Nationalstaates neu definiert und die
Trennung zwischen Außen- und Innenpolitik negiert. Die hier an-
gedeutete Auflösung einer rein staatszentrierten Sichtweise der in-
ternationalen Beziehungen konnte sich jedoch lange nicht gegen
die etablierten Theorien des Neorealismus und auch des Neo-Insti-
tutionalismus durchsetzen (vgl. dazu die Beiträge von Niklas Schör-
nig und Bernhard Zangl in diesem Band).
Erst die sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verstärken-
den Globalisierungstendenzen in der Wirtschaft, aber auch in den
Bereichen Migration, Umwelt und Sicherheit sowie die daraus re-
sultierende Verflechtung der nationalstaatlichen Ökonomien führ-
ten in den Internationalen Beziehungen zu einer Korrektur der bis
dahin dominierenden staatszentrierten Perspektive. In der Folge
wurden die Wechselbeziehungen zwischen politischen Systemen
oder Teilen davon, nichtstaatlichen Akteuren, gesellschaftlichen
Gruppen und internationalen Institutionen stärker betont (Brock/
Albert 1995). Da mit der Transnationalisierung der internationalen
Politik unter Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure allein aber
nicht an die globalisierungsinduzierten Herausforderungen und
Veränderungen der heutigen Zeit angeschlossen werden konnte,
sind neuere Konzepte globalen Regierens durch wesentlich offene-
re, vielschichtigere Darstellungen gekennzeichnet, welche die glo-
bale Vernetzung gesellschaftlicher Akteure und deren gemeinschaft-
liche Grundlagen berücksichtigen (Joerges/Sand/Teubner 2004;
Djelic/Sahlin-Andersson 2006; Graz/Nölke 2008; Take 2009). In
dieser globalen Vernetzung, wie zum Beispiel in Form von Public-
Private Partnerships oder rein privaten Formen der Selbstregulie-
rung, und in der Herausbildung gemeinschaftlicher Werte werden
erste Ansätze zur Herausbildung einer Weltgesellschaft gesehen.
Die Forschungsgruppe Weltgesellschaft (im Folgenden ‚FWG‘)4

4 Die Forschungsgruppe Weltgesellschaft besteht seit 1994 als eine gemeinsame


Arbeitsplattform von Forscherinnen und Forschern der Technischen Universität
Darmstadt, der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main und der Uni-
Weltgesellschaft und Globalisierung 285
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hat Kriterien für eine Konzeptualisierung von Weltgesellschaft


entwickelt, mit denen die wesentlichen Dimensionen des Wandels
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der internationalen Beziehungen systematisch analysiert werden


sollen. Gleichzeitig erweist sich das Konzept offen für die Erfas-
sung auch widersprüchlicher Entwicklungen in der Weltpolitik.
Deshalb soll das Weltgesellschaftskonzept der FWG im zweiten
Kapitel ausführlicher dargestellt werden, um exemplarisch in die
Thematik einzuführen. Die Forschungsgruppe nimmt zwar nicht
den Rang eines Referenztheoretikers ein, an dem sich andere
Theoretiker abgearbeitet haben. Einen solchen Referenztheoretiker
kann es aber aufgrund der Vielfältigkeit von Globalisierungs- und
Weltgesellschaftskonzeptionen gar nicht geben. Stattdessen be-
zieht das Konzept der FWG die Rechtfertigung einer intensiveren
Auseinandersetzung daraus, dass es für die Analyse einiger zen-
traler Fragen der Disziplin der Internationalen Beziehungen nutz-
bar gemacht werden kann, wie etwa der nach den Dimensionen
des Wandels der internationalen Beziehungen, den daraus resultie-
renden Steuerungsanforderungen sowie der Reaktion der in der
Weltpolitik agierenden Akteure auf diese Herausforderungen. Im
dritten Kapitel wird auf weitere Konzeptualisierungen von Welt-
gesellschaft Bezug genommen, die zum Beispiel konstruktivisti-
sche und systemtheoretische Perspektiven in die Betrachtung ein-
bringen. Schließlich werden im abschließenden vierten Kapitel
Kritikpunkte an Weltgesellschaftskonzepten im Allgemeinen und
dem der Forschungsgruppe im Besonderen dargestellt.

2. Das Konzept der Forschungsgruppe


Weltgesellschaft
Konzepte von Weltgesellschaft basieren auf der Annahme, dass
die Dominanz der Nationalstaaten, welche die internationalen Be-

versität Bielefeld. Aus der Forschungsgruppe ist eine Reihe von Forschungs-
projekten hervorgegangen, deren gemeinsame Klammer darin besteht, den glo-
balen politischen Wandel in einen größeren staats- und steuerungstheoretischen
Rahmen einzubetten. Dabei haben sich die Arbeitsschwerpunkte der Mitglieder
der Gruppe auf der Grundlage eines gemeinsam entwickelten Weltgesell-
schaftskonzepts zunehmend ausdifferenziert und spezialisiert.
286 Ingo Take
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ziehungen maßgeblich strukturieren, durch den Bedeutungszu-


wachs nichtstaatlicher Akteure eingeschränkt worden ist. Darauf
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verweisen neben den oben angeführten Vertretern des Transnatio-


nalismus auch die Vertreter der so genannten „Englischen Schule“
mit ihrem Konzept einer „internationalen Gesellschaft“ (vgl. den
Beitrag von Christopher Daase in diesem Band). Beide weisen die
Annahmen der realistischen Schule von einem anarchischen inter-
nationalen System, welches sich allein auf Selbsthilfe stützt, zu-
rück. In Abgrenzung zum internationalen System, welches sich le-
diglich auf den regelmäßigen Kontakt zwischen den Staaten und
eine daraus erwachsende wechselseitige Erwartungshaltung stützt,
zeichnet sich eine internationale Gesellschaft dadurch aus, dass ei-
ne Gruppe von Staaten im Bewusstsein gemeinsamer Interessen
und Werte eine Gesellschaft in dem Sinne formt, dass sie sich in
ihren Beziehungen zueinander an ein gemeinsames Set von Regeln
gebunden fühlen und in gemeinsamen Institutionen zusammenar-
beiten, um den politischen Organisationsgrad des internationalen
Systems zu erhöhen (vgl. Bull 1977: 13). Die Englische Schule
sieht in der Anerkennung eines internationalen Rechts, das über
die völkerrechtlichen Prinzipien der formalen Gleichheit aller Staa-
ten und das Souveränitätsprinzip hinausgeht, und der Befolgung
dieses Rechts sowie der Einrichtung internationaler Regime und
Institutionen, die es Staaten ermöglichen, gemeinsame Probleme
zu bearbeiten, die Fundamente einer internationalen Gesellschaft
von Staaten. Diese internationale Gesellschaft soll durch ihre in-
teressen- und normgeleitete Fortentwicklung dazu beitragen, den
konflikthaften Charakter des internationalen Systems abzumildern
und eine neue und bessere internationale Ordnung bzw. Weltord-
nung zu schaffen, die auf universell anerkannten Werten basiert.
Einige Theoretiker der Englischen Schule versuchten darüber hin-
aus, gesellschaftliche Entwicklungen als nicht allein durch das in-
ternationale Staatensystem befördert zu verstehen, sondern prog-
nostizierten das Entstehen einer auf universalistischen Werten und
einklagbaren individuellen Rechten basierenden Weltgesellschaft.
Während Bull (1977) die internationale Gesellschaft als aus dem
internationalen System der Staaten hervorgehend beschreibt, er-
weiterte Buzan dieses Konzept durch die Einbeziehung weiterer
sozialer Akteure. Folgt man dem Ansatz von Buzan, so bildet die
internationale Gesellschaft eine Art ‚Zwischenstation‘ auf dem his-
Weltgesellschaft und Globalisierung 287
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torischen Weg von einer unregulierten Anarchie hin zu einer


Weltgesellschaft (vgl. Buzan 1993: 338). Während Staaten das
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konstitutive Element einer rechtlich verfassten Staatengesellschaft


bilden, stellen Individuen das konstitutive Element einer Weltge-
sellschaft dar (Buzan 2004: 90f).5 Beide basieren auf geteilten
Normen, Regeln und Identitäten, einmal auf der Ebene der Staaten
und einmal auf der Ebene der Individuen. Eine Weltgesellschaft
setzt demnach eine Gemeinwohlformulierung voraus, welche ge-
meinsame Ziele und Werte einer universellen Gemeinschaft von
Menschen umfasst. Eine solche Weltgesellschaft existiert so lange
nicht, wie es an einem zusammenhängenden, geteilten Wertesys-
tem und einem Verständigungshorizont fehlt, auf den die interna-
tionale Gesellschaft zumindest ansatzweise verweisen kann. Aus
dieser Perspektive kommt der internationalen Gesellschaft die Auf-
gabe zu, die negativen Auswirkungen der Anarchie zu mildern
und einen Rahmen bereitzustellen, in dem sich eine Weltgesell-
schaft entwickeln kann. Aus funktionalistischer Sicht bildet die
internationale Gesellschaft eine langfristige Reaktion auf das Be-
stehen eines zunehmend dichten und interaktiven Systems (vgl.
Buzan 1993: 334). Diese zunehmende Regelungsdichte und Inter-
aktion in der Staatengesellschaft bleibt nicht ohne Auswirkungen
auf die Gesellschaften der beteiligten Länder. Regelungen, Institu-
tionen und Normen, die das Fundament einer internationalen Ge-
sellschaft bilden, bieten Anknüpfungspunkte für Individuen bzw.
gesellschaftliche Interessengruppen, ihre Anliegen auch auf die
internationale Ebene zu tragen und dort Einfluss zu nehmen. Sie
können außerdem eine identitätsstiftende Wirkung entfalten. Die
Entwicklung einer Staatengesellschaft geht demnach mit der He-
rausbildung universeller Prinzipien einher, welche zur Begrün-
dung einer Weltgesellschaft beitragen. In dieser stellen Individuen,
gesellschaftliche Akteure sowie die Weltbevölkerung als Ganzes
den Fokus globaler gesellschaftlicher Identitäten und Beziehungen
dar (Buzan 1993: 337). Mit diesem Konzept von Weltgesellschaft
bringt Buzan die von Bull vernachlässigte Gemeinschaftsdimen-

5 Individuen werden zu Trägern einer Weltgesellschaft, indem sie als souveräni-


tätsfreie Akteure über nationalstaatliche Grenzen hinweg interagieren und damit
zur Ergänzung der von Staaten unterhaltenen internationalen Beziehungen
durch Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Gesellschaften beitragen
(Rosenau 1990: 11).
288 Ingo Take
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sion in Form von transnationalen Netzwerken als Element in die


internationalen Beziehungen ein. Dabei stehen bei ihm das Kon-
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zept der internationalen Gesellschaft und das der Weltgesellschaft


in einem komplementären Verhältnis. Allerdings spricht er so
nicht nur den Staaten die Fähigkeit ab, sich zu vergemeinschaften,
sondern verneint zusätzlich, dass auch nichtstaatliche Akteure po-
litische Akteure sein können. Er vernachlässigt also die Wechsel-
wirkungen zwischen Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaf-
tungsprozessen.
Das Konzept der „internationalen Gesellschaft“ spiegelt den his-
torischen Hintergrund des Ost-West-Konflikts wider, was aber
nicht heißt, dass das Konzept heute keine Brauchbarkeit mehr be-
sitzt. Es wird jedoch durch widersprüchliche Entwicklungen heraus-
gefordert, die es auf Grund seiner theoretischen Prämissen nicht
mehr erklären kann. So hat einerseits das Wiederaufleben von Na-
tionalismus und ethnischen Konflikten zu einem Bedeutungszu-
wachs sub-internationaler Politik im internationalen System ge-
führt. Andererseits streben immer mehr Staaten grenzüberschrei-
tende Abkommen an und beziehen sich – zumindest rhetorisch –
auf westliche Prinzipien und Normen, während zugleich Prinzi-
pien wie Souveränität und Nicht-Einmischung an Bedeutung ver-
lieren – Prinzipien, die zu den theoretischen Prämissen des Kon-
zepts der internationalen Gesellschaft gehören (Albert/Brock 2009).
Triebkraft dieser Entwicklungen in den internationalen Bezie-
hungen ist die Globalisierung. Bereits 1990 hatte James N. Rose-
nau darauf hingewiesen, dass bei der Analyse internationaler Poli-
tik auf qualitative Veränderungen im internationalen System ein-
gegangen werden muss, die unter dem Begriff der Globalisierung
gefasst und als strukturbildende Merkmale zukünftiger grenzüber-
schreitender Politik interpretiert werden. Da etliche Weltregionen
von den unter dem Stichwort Globalisierung diskutierten Entwick-
lungen mehr oder weniger ausgeschlossen bleiben, scheint die
Verwendung des Begriffs Denationalisierung (Zürn 1992) ange-
messener. In der Sachdimension erweist sich der Globalisierungs-
begriff dagegen oft als zu eng. So lässt sich heute eine Verdich-
tung von Handlungszusammenhängen bzw. eine gesellschaftliche
Denationalisierung in einer Vielzahl von Sachbereichen nachwei-
sen. Der hier verwendete Globalisierungsbegriff wird deshalb als
die Zunahme der Intensität, der Reichweite und der Geschwindig-
Weltgesellschaft und Globalisierung 289
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keit grenzüberschreitender Austausch- und Interaktionsbeziehun-


gen in den Sachbereichen Kommunikation und Kultur, Mobilität,
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Sicherheit, Umwelt und Wirtschaft definiert (Beisheim et al. 1999).


Vor dem Hintergrund solcher „Entgrenzungsprozesse“ (vgl. Brock/
Albert 1995) bilden sich neue Formen des globalen Regierens, die
durch je spezifische Handlungslogiken und daraus resultierende
Pfadabhängigkeiten gekennzeichnet sind (Brock 2004).6 Die For-
schungsgruppe Weltgesellschaft erblickt in diesen Entwicklungen
drei Dimensionen des Wandels des internationalen Systems: die
Institutionalisierung grenzüberschreitender Beziehungen, die sich
an der Zunahme globaler Regelungsarrangements und deren wach-
sender Verrechtlichung ablesen lässt, die Ausdifferenzierung von
Handlungsebenen, die neben staatlichem und internationalem Re-
gieren auch transnationales (staatliche bzw. internationale Akteure
mit nichtstaatlichen Akteuren) und privates (privatwirtschaftliche
und zivilgesellschaftliche Akteure) Regieren umfasst und die Dif-
fusion von Akteuren (FWG 1996: 15-16). Die ungleichzeitige De-
nationalisierung politischer Handlungszusammenhänge einerseits
sowie ökonomischer und gesellschaftlicher Handlungszusammen-
hänge andererseits führt darüber hinaus entweder zu politischer In-
tegration in Form eines demokratischen komplexen Weltregierens
(Zürn 1998) mit unterschiedlichen Ebenen der politischen Kon-
trolle oder zu politischer Fragmentierung mit protektionistischen
Tendenzen. Das Konzept der FWG ist offen für beide Tendenzen:
„Die sich daraus ergebenden neuen inter- und transnationalen Kon-

6 Brock (2004) geht davon aus, dass Internationales System, Internationale Ge-
sellschaft und Weltgesellschaft Referenzsysteme von Politik und Wissenschaft
darstellen, die nebeneinander bestehen und die herangezogen werden, um Hand-
lungen je nach Präferenzen zu rahmen (vgl. die Ende des 19. Jahrhunderts be-
stehende Gleichzeitigkeit von Nationalismus, dem Aufbau erster internationaler
Organisationen und der Entstehung des humanitären Völkerrechts). Aus der Rah-
mung, die sich immer auch auf eine bestimmte Handlungslogik bezieht (Selbst-
hilfe, Selbstbindung, konstitutionelle Einschränkung von Handlungsfreiheit),
ergeben sich Pfadabhängigkeiten der eigenen Argumentation bzw. Politik. Die
Weltgesellschaft ist somit genauso ein Referenzrahmen für Staatenpolitik (Men-
schenrechte, Responsibility to Protect, Armutsbekämpfung) wie für gesell-
schaftliche Akteure und internationale Organisationen.
290 Ingo Take
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fliktlinien und deren Vermengung sind aus unserer Sicht konstitu-


tiv für die Herausbildung von Weltgesellschaft“ (FWG 1996: 12).7
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2.1 Die gewandelten Bedingungen politischer Steuerung


in den internationalen Beziehungen

In der gegenwärtigen Epoche eines beschleunigten und qualitativ


neuartigen globalen Wandels wird die Handlungsfähigkeit der
Staaten von mehreren Seiten unterhöhlt – so z.B. durch die Forde-
rungen diverser ethnischer und anderer Gruppen, die Globalisie-
rung der Wirtschaft, die wachsende Einflussstärke gesellschaftli-
cher Organisationen sowie die Ausbreitung globaler Interdepen-
denzen, befördert durch Finanzkrisen, Ressourcenknappheit, Staats-
zerfall, transnationalen Terrorismus, die Verbreitung von Massen-
vernichtungswaffen und zahlreiche andere globale Probleme. Die
Zunahme von Problemen globaler Reichweite zeigt, wie globale
Dynamiken unmittelbar das Leben beeinflussen. Der Verlust an
Handlungsfähigkeit von Staaten bzw. Regierungen und die Schwä-
chung gesellschaftlicher Institutionen (Parteien, Gewerkschaften)
gehen einher mit der Zunahme neuer gesellschaftlicher Formen
kollektiven Handelns, und zwar über die Grenzen des National-
staates hinaus. Diese institutionalisierten Formen kollektiven Han-
delns haben sich in Form von transnationalen und rein privaten
Regelungsarrangements als Akteure in der Weltpolitik etabliert
(Brock 2007: 162/163; Wolf 2008: 226; Take 2009). Dies impli-
ziert die Aufhebung der herkömmlichen Trennung von Innen- und
Außenpolitik bzw. Staat und Gesellschaft genauso wie es neue
Steuerungsmodi erfordert (Konsensorientierung, Argumentieren,
Verhandeln und Lernen statt Subordination oder Mehrheitsent-
scheidungen). Mit den von der FWG identifizierten Dimensionen
des Wandels der internationalen Beziehungen sollen sowohl die
unterschiedlichen Stränge der Erforschung zwischen- und innerge-
sellschaftlicher Einflüsse auf die internationalen Beziehungen zu-
sammengeführt als auch mit der Diskussion über die Institutionali-
sierung grenzüberschreitender Handlungszusammenhänge ver-

7 Für eine Analyse der Akteure, Strukturen und Dynamiken von Konflikten der
Weltgesellschaft siehe Bonacker/Weller 2006.
Weltgesellschaft und Globalisierung 291
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knüpft werden. Diese Bündelung dient der Beantwortung der Fra-


ge nach den globalisierungsbedingten Steuerungsanforderungen und
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Steuerungsfähigkeiten, welcher sich die FWG unter den beiden


Leitkategorien Souveränität und Autonomie nähert. Mit dem Wan-
del des Organisationsgrades des internationalen Systems (sowie
der Durchdringung klassischer Bereiche außenpolitischen Staats-
handelns seitens gesellschaftlicher, ökonomischer, technologischer
und ökologischer Wirkkräfte) verliert die staatliche Souveränität
an Bedeutung und es rückt die Frage nach der Neuverteilung von
Zuständigkeiten auf den verschiedenen Handlungsebenen in den
Mittelpunkt. Die Diffusion von Autonomie impliziert einen Wan-
del von Staatlichkeit in dem Sinne, dass zur gemeinschaftlichen
Bearbeitung öffentlicher Probleme und Konflikte internationale,
staatliche und nichtstaatliche politische, wirtschaftliche und gesell-
schaftliche sowie kommunale, nationale und transnationale Akteu-
re interagieren (Wolf 2008). Dies geschieht vor dem Hintergrund
der Herausbildung gemeinsamer Institutionen und Normen, die zur
Überwindung des anarchischen internationalen Systems beitragen,
sowie durch den Zuwachs steuerungsrelevanter Ressourcen auf
Seiten der nichtstaatlichen Akteure. Diese Entwicklungen werden
von der FWG in ihrer Gesamtheit idealtypisch als Dimensionen
einer Weltgesellschaft modelliert, „die sich von der internationalen
Gesellschaft durch eine Relativierung der zwischenstaatlichen
Handlungsebene zugunsten transnationaler und transgouverne-
mentaler sowie lokal-globaler Beziehungen und durch eine Diffe-
renzierung der Akteure in staatenübergreifenden Räumen auszeich-
net“ (Brock 1998: 55; vgl. auch: Forschungsgruppe Weltgesell-
schaft 1996).8 Dabei lösen sich die Grenzen zwischen den Hand-
lungsebenen sowie zwischen den Sphären des Politischen, des Wirt-
schaftlichen und des Sozialen bzw. Soziokulturellen immer mehr
auf (Brock/Albert 1995: 276). Neben die grenzüberschreitenden
Beziehungen zwischen Staaten treten transstaatliche Wirtschafts-
räume und transnationale Gemeinschaften. Letztere konfrontieren
staatliche und wirtschaftliche Akteure mit gesteigerten gesellschaft-

8 Damit hat sich das primäre Differenzierungsprinzip globaler Politik gewandelt.


Die territoriale Differenzierung ist durch eine funktionale Differenzierung er-
gänzt worden, die neue Ansatzpunkte für die Herausbildung einer Weltgesell-
schaft bietet (Albert 2002; Buzan/Albert 2010).
292 Ingo Take
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lichen Anforderungen und Teilhabeansprüchen und zielen auf die


Beeinflussung der internationalen Politik. Die globale Verbreitung
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neuer Kommunikationstechnologien fördert das Bewusstsein der


weltweiten Interdependenz und resultiert in immer stärker artiku-
lierten Forderungen nach der Durchsetzung von Menschenrechten
und weltweit geltenden Sozial- und Umweltstandards. Vor diesem
Hintergrund kann Außenpolitik nicht länger als Domäne der staat-
lichen Diplomatie konzeptualisiert werden. Diese Ausdifferenzie-
rung von Akteuren und Handlungsebenen bedeutet nicht die Ablö-
sung einer staats- durch eine gesellschaftszentrierte Sichtweise.
Vielmehr fokussiert das Konzept der FWG die Wechselbeziehun-
gen zwischen den verschiedenen Akteursgruppen, die an grenz-
überschreitenden Beziehungen partizipieren.
Nachdem die aus der Globalisierung resultierenden neuen Steue-
rungsanforderungen umrissen sind, soll nun der Frage nachgegan-
gen werden, welche Akteure im Prozess der internationalen Ver-
gesellschaftung auf welche Weise an Gestaltungsvermögen gewin-
nen oder verlieren. Nationalstaaten versuchen durch die Koopera-
tion mit anderen Staaten in Form von horizontaler Steuerung ihren
Handlungsspielraum zu erweitern. Vor diesem Hintergrund haben
sich über die Jahre nicht nur zahlreiche internationale Institutionen
zur Verregelung grenzüberschreitender Probleme herausgebildet.
Es konnten auch gemeinsame Normen entwickelt werden, welche
die Staaten bis zu einem gewissen Grad an die kollektiv verein-
barten Regeln und Abkommen binden (Zangl/Zürn 2004). Eine
internationale Gesellschaft, die – wie die westliche Staatengesell-
schaft während des Ost-West-Konfliktes – von einer ausgeprägten
Gemeinschaftsbildung begleitet wird, sich also auf gemeinsame
Werte und Ordnungsvorstellungen stützt, ist nach den Vorstellungen
der FWG besonders belastbar. Beispiele dafür sind auf regionaler
Ebene die europäische Integration sowie auf globaler Ebene die
Charta der Vereinten Nationen (insbesondere die Präambel) sowie
die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Im Umgang mit
nichtstaatlichen Akteuren stehen den Nationalstaaten im Wesentli-
chen zwei strategische Optionen zur Verfügung. Sie können sich
entscheiden, ob sie ihre Politik an den Anforderungen einer effek-
tiven Problembearbeitung orientieren und zu diesem Zweck mit
gesellschaftlichen Akteuren kooperieren, um deren Ressourcen
fruchtbar zu machen. Staaten können sich aber auch eher strate-
Weltgesellschaft und Globalisierung 293
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gisch verhalten und versuchen, durch gegenseitige Einbindung in


vertragliche Verpflichtungen Handlungsspielräume bzw. Autono-
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mie gegenüber ihren Gesellschaften ‚zurückzuholen‘ (Wolf 2000).


Aber nicht nur Staaten, sondern auch nichtstaatliche Akteure wer-
den als Handlungseinheiten konzeptualisiert, die sowohl inhaltli-
che als auch strategische, auf die Sicherung der eigenen Autono-
mie gerichtete Ziele verfolgen. Die Institutionalisierung der grenz-
überschreitenden Beziehungen sowohl zwischen staatlichen als
auch zwischen nichtstaatlichen Akteuren sowie die Ausdifferenzie-
rung der Handlungsebenen eröffnet zivilgesellschaftlichen und pri-
vatwirtschaftlichen Akteuren eine Vielzahl von Zugangspunkten,
um Einfluss auf politische Prozesse zu nehmen. So sind sie nicht
nur in der Lage, Themen auf die politische Agenda zu setzen und
ihre Anliegen an die internationale Politik zu vermitteln. Sie ver-
fügen auch über Ressourcen, mit denen die Umsetzung auf inter-
nationaler Ebene getroffener Entscheidungen kontrolliert und ge-
gebenenfalls sanktioniert werden kann (Take 2000). Indem NGOs
unter Verweis auf universalistische Werte Staaten öffentlich an-
klagen und so deren Legitimität in Frage stellen, tragen sie zur Er-
höhung der Responsivität des internationalen Rechts bei (Brozus/
Take/Wolf 2003). Außerdem zielen sie auf die Ausweitung des
internationalen Rechts auf Individuen, indem sie mit der gleichen
Strategie versuchen, individuelle Menschenrechte gegen staatliche
Interessen durchzusetzen (Risse/Jetschke/Schmitz 2002). Schließ-
lich treten NGOs, Unternehmen und andere nichtstaatliche Akteu-
re zunehmend in Regel setzender Funktion in Konkurrenz oder Er-
gänzung zu staatlichen bzw. internationalen Regelungsbemühun-
gen auf (Conzelmann/Wolf 2007; Wolf 2008; Take 2009). Insbe-
sondere die seit den 1990er Jahren noch einmal stark gestiegene
Anzahl von NGOs, ihr verbesserter Status in politischen Gremien
auf allen Ebenen der Politik und ihre gegenüber ihren Vorgängern
dichtere transnationale Vernetzung weisen auf eine Stärkung der
für die Herausbildung einer Weltgesellschaft konstitutiven Ele-
mente der grenzüberschreitenden Vergesellschaftung und Verge-
meinschaftung der gesellschaftlichen Beziehungen hin. So er-
scheint es als angemessen, die Vergesellschaftung nicht nur auf einer
Beziehungsebene, der zwischenstaatlichen, zu untersuchen. Viel-
mehr sind auch nichtstaatliche Akteure als potenzielle Träger von
Vergesellschaftung (und nicht nur von Vergemeinschaftung) zu be-
294 Ingo Take
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trachten. So ist es nichtstaatlichen Akteuren in den letzten Jahren


gelungen, durch eine intensive grenzüberschreitende Vernetzung un-
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tereinander Einfluss auf die auswärtige Politik jeweils anderer Staa-


ten sowie die internationale Politik zu gewinnen. Als Beispiele
hierfür ließen sich die Demonstrationen in Seattle anlässlich der
WTO-Tagung 1999 sowie in Genua (2001) und Heiligendamm
(2007) anlässlich der G8-Gipfel anführen. Der Widerstand gegen
die Globalisierungsstrategien der tagenden internationalen Organi-
sationen konstituierte eine Protestgemeinschaft, die ohne jegliche
institutionelle Verfasstheit auskommt und sich allein über die lose
ad-hoc-Kommunikation per Internet und Handy vermittelt. Ihre
Kritik basiert auf einem globalen Verantwortungsbewusstsein. Sie
verknüpft politische, soziale, wirtschaftliche und ökologische Pro-
bleme miteinander und ist so offen für weit reichende Allianzbil-
dungen gesellschaftlicher Akteure auch auf transnationaler Ebene
(Brunnengräber 2005). Insofern stellt sich die Frage, ob Seattle
den Auftakt für eine neue Ära des Protestes bzw. der Mobilisie-
rung bildete. Für die FWG konstituieren sich darin möglicherweise
bereits Strukturelemente einer Weltgesellschaft (vgl. FWG 1996:
14).

2.2 Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung

Die von der FWG identifizierten Dimensionen des Wandels der


internationalen Beziehungen verändern aber nicht nur die Bedin-
gungen politischer Steuerung, sondern befördern auch Integra-
tions- und Fragmentierungstendenzen. Als deren Folge entstehen
neue, miteinander vermischte inter- und transnationale Konfliktli-
nien, die aus Sicht der FWG konstitutiv für die Herausbildung von
Weltgesellschaft sind (FWG 1996: 12; Bonacker/Weller 2006;
Take 2006; Weller 2007).9 Um mit ihrem Weltgesellschaftskon-
zept sowohl Tendenzen der Integration als auch der Fragmentie-
rung fassen zu können, knüpft die FWG an die Unterscheidung
Ferdinand Tönnies’ zwischen Vergemeinschaftung und Vergesell-

9 In einer daran anschließenden Konzeption resultieren Konflikte aus der Gleich-


zeitigkeit und Überlappung der Handlungslogiken und Formen globaler Struk-
turbildung des Internationalen Systems, der Internationalen Gesellschaft und der
Weltgesellschaft (Albert/Brock 2009).
Weltgesellschaft und Globalisierung 295
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schaftung an. Dabei bezeichnet Vergemeinschaftung eine soziale


Beziehung, die auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit der
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Beteiligten basiert, während Vergesellschaftung eine soziale Be-


ziehung bezeichnet, die auf rational motiviertem Interessenaus-
gleich oder einer Interessenverbindung beruht. Während Buzan
(1993) die Staaten in den internationalen Beziehungen als Träger
von Vergesellschaftungsprozessen konzeptualisiert, welche die Ent-
wicklung kollektiver Verhaltensregeln sowie gemeinsamer Insti-
tutionen und Normen fördern, treten NGOs als Träger von Verge-
meinschaftungsprozessen auf, indem sie ein Zusammengehörig-
keitsgefühl erzeugen, welches sich nicht auf Interessen oder Nut-
zenkalküle stützt. Die FWG kritisiert diese einschränkende Zuord-
nung mit dem Hinweis, dass dadurch nicht-staatliche Akteure wie
multinationale Unternehmen ebenso aus der Betrachtung ausge-
schlossen werden, wie die sich in der Institutionalisierung der grenz-
überschreitenden Beziehungen von zivilgesellschaftlichen und pri-
vatwirtschaftlichen Akteuren abzeichnenden Vergesellschaftungs-
prozesse. Das Konzept der FWG verweigert also die Zuordnung
von Vergesellschaftungsprozessen zur internationalen und Verge-
meinschaftungsprozessen zur transnationalen Ebene und richtet
stattdessen den Blick auf
„Vergemeinschaftungsprozesse, die sich im Rahmen der zwischen-
staatlichen Beziehungen vollziehen und die die internationale Verge-
sellschaftung teils vorantreiben und absichern [z.B. europäische Inte-
gration], teils auf sie reagieren und darauf ausgerichtet sind, sich dem
Vergesellschaftungsprozess zu entziehen oder sich ihm gegenüber zu
immunisieren [z.B. neue Formen des Nationalismus]“ (FWG 1996:
21).
Die Wahrscheinlichkeit der Herausbildung von partikularistischen
Vergemeinschaftungsprozessen erhöht sich in dem Maße, in dem
bestimmte Gruppen ihre Identität oder ihre Interessen als Gruppe
durch Vergesellschaftungsprozesse gefährdet sehen. Diese desinte-
grativen Tendenzen, die als Gemeinschaftsbildung innerhalb be-
stimmter Staatengruppen auftreten und ihren Ausdruck in neuen
Formen von Nationalismus finden, sind ebenfalls Ausdruck eines
Wandels der internationalen Beziehungen und müssen deshalb in
die Analyse mit einbezogen werden, so die FWG (vgl. Brock
2004: 90). Da die Gemeinschaftsbildung innerhalb bestimmter
296 Ingo Take
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Staatengruppen aufgrund existierender Interdependenzen nur ein-


geschränkt möglich ist, einer Weltgesellschaft jedoch ein soziales
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Umfeld sowie gemeinschaftliche und moralische Anknüpfungs-


punkte als Integrationsmechanismen fehlen, rechnet die FWG
auch weiterhin mit einem Spannungsverhältnis zwischen partiku-
laristischen Vergemeinschaftungs- und universalistischen Verge-
sellschaftungstendenzen.10 „Der positiven steht also eine negative
Wechselwirkung zwischen Vergesellschaftung und Vergemeinschaf-
tung gegenüber“ (FWG 1996: 20). Für beide Formen der Wech-
selwirkung lassen sich in den internationalen Beziehungen empiri-
sche Beispiele finden. Hier stehen den Bemühungen um die Fest-
schreibung von weltweit geltenden Normen und gemeinschaftli-
chen Verpflichtungen, etwa im Rahmen der großen UN-Konferen-
zen in den 1990er Jahren, oder der Etablierung eines Internatio-
nalen Strafgerichtshofes, neue Formen des Nationalismus, Funda-
mentalismus oder der Werte-Abgrenzung als Reaktion auf Verge-
sellschaftungsprozesse gegenüber. Auf einer niedrigeren Organi-
sationsstufe lässt sich eine wachsende Anzahl funktional differen-
zierter grenzüberschreitender Netzwerke zwischen gesellschaft-
lichen Gruppen beobachten, die gemeinsam bestimmte politische
oder soziale Anliegen verfolgen. Dabei ist keinesfalls ausgemacht,
ob sich Individuen global vernetzen, um die Realisierung univer-
salistischer Werte und Zielvorstellungen zu fördern oder ob sie
sich kleineren Gruppen mit einer stärker identitätsstiftenden Kraft
anschließen und eigennützige Ziele verfolgen. Die abnehmende Be-
deutung territorialstaatlich definierter Identitäten zugunsten neuer
Formen politischer und sozialer Identitäten können sowohl als Ur-
sache neuartiger ethnischer oder religiöser Konflikte in National-
staaten oder über deren Grenzen hinweg11 als auch als Vorausset-

10 Auf ein weiteres Spannungsverhältnis, nämlich das zwischen den internationa-


len Normen, die innerhalb der Referenzrahmen des Internationalen Systems, der
Internationalen Gesellschaft und der Weltgesellschaft entstehen, weisen Albert
und Brock hin. Demnach haben wir es „mit der gleichzeitigen gegenseitigen
Anerkennung des Rechts auf Selbsthilfe, des Gewaltverbots und der Schutz-
pflichten der Staaten und der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Zivil-
gesellschaft zu tun“ (Albert/Brock 2009: 64).
11 Albert (2009) verweist zusätzlich auf Konflikte zwischen und innerhalb von
Funktionssystemen, die auf unterschiedliche Formen der Systemdifferenzierung
zurückzuführen sind (überwiegend segmentäre Differenzierung im politischen
Weltgesellschaft und Globalisierung 297
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zungen für die Herausbildung einer kollektiven Identität interpre-


tiert werden, die sich auf eine weltweite wirtschaftliche und kultu-
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relle Integration und einen Sinn globaler Verantwortung gründet.


Transnationale kollektive Identitäten stellen demnach eine Form
der Vergemeinschaftung auf transnationaler Ebene dar, die sowohl
zur Globalisierung als auch zur Fragmentierung der grenzüber-
schreitenden Beziehungen beitragen können, indem sie einerseits
als Bindeglieder zwischen den verschiedenen nationalen Gesell-
schaften wirken, andererseits aber auch eine Herausforderung an
eben diese Gesellschaften darstellen (Weller 2000; Albert 2002:
80). Tatsächlich lassen sich auf globaler Ebene zwei konträre Ent-
wicklungen beobachten: ein integrativer Prozess, in dessen Rah-
men Gesellschaften in zunehmende Abhängigkeit voneinander ge-
raten, und ein desintegrativer Prozess, der durch wachsende Auto-
nomiebestrebungen von Teilen einer Gesellschaft gekennzeichnet
ist, die durch oben genannte Entwicklungen ihre Identität oder In-
teressen bedroht sehen. Für die FWG sind die sich daraus entwik-
kelnden Konfliktstrukturen von besonderem Interesse.12 Folgen
kollektive Identitätsbildungen weiterhin geographischen Grenzen,
so ist ein gewaltsamer Konfliktaustrag wahrscheinlich. Durch Mi-
gration und kulturellen Wandel haben sich die meisten Gesell-
schaften jedoch weiter pluralisiert. Sie werden nun nicht mehr al-
lein durch eine nationale Identität, sondern durch eine Vielzahl
von entgrenzten Identitäten zusammengehalten, die sowohl territo-
rial als auch funktional ausdifferenziert sind. Menschen verstehen
sich beispielsweise als Berliner, Deutsche und Europäer, fühlen
sich aber gleichzeitig der Gruppe der Naturschützer, der Geistes-
wissenschaftler und der Sozialdemokraten zugehörig. Wenn sich
die Grenzen kollektiver Identitäten hingegen überschneiden, kann
davon ausgegangen werden, dass Konflikte eher friedlich ausge-
tragen werden (vgl. Weller 2000). Diese integrativen und desinte-
grativen Prozesse stellen die soziale Integrationsfunktion des

System vs. überwiegend funktionale Differenzierung im ökonomischen Sys-


tem).
12 Mit diesen neuen Konfliktstrukturen setzt sich unter anderem der von Bonacker
und Weller herausgegebene Sammelband „Konflikte in der Weltgesellschaft“
(2006) auseinander. Dort wird die Weltgesellschaftsperspektive genutzt, um
Konfliktkonstellationen als Folge von Globalisierungs- und Entgrenzungspro-
zessen und ihrer Strukturen zu verstehen.
298 Ingo Take
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Staates zunehmend in Frage und verweisen darauf, dass sich bei


der Analyse von Gesellschaften keine einzelne Identität mehr als
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dominierendes Differenzierungsprinzip identifizieren lässt. Statt-


dessen muss immer auf die globale Vernetzung sozialer Beziehun-
gen Bezug genommen werden.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich Verge-
sellschaftungsprozesse immer in positiver Wechselwirkung mit ei-
ner zumindest rudimentären Vergemeinschaftung vollziehen, zu-
gleich aber auch partikularistische Vergemeinschaftungsprozesse
hervorrufen oder begünstigen können, deren Grenzen sich nicht mit
denen der Vergesellschaftung decken. Die Idealtypen sozialer Be-
ziehungen treten realiter also in Mischformen mit unterschiedli-
cher Gewichtung der einen oder anderen Ausprägung auf. Die FWG
stellt deshalb insbesondere das komplexe Wechselspiel zwischen
dem Prozess der Vergesellschaftung und dem der Vergemeinschaf-
tung sowie zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen und Hand-
lungsebenen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Können die oben
genannten Wechselbeziehungen, wie bereits angedeutet, sowohl
einen integrativen als auch einen desintegrativen Charakter an-
nehmen, muss die Frage nach den Konsequenzen der Herausbil-
dung einer Weltgesellschaft vorerst offen bleiben. Folglich enthält
sich die FWG einer normativen Wertung der widersprüchlichen
Ausformungen des globalen Vergesellschaftungsprozesses. Auch
die herkömmliche Auffassung von der zeitlichen Aufeinanderfolge
von Gemeinschaft und Gesellschaft (traditional/modern) wird durch
die Konzeptualisierung der FWG, die Vergesellschaftung auch als
Auslöser von Vergemeinschaftungsprozessen fasst, in Frage ge-
stellt. Es wird kein linearer Prozess unterstellt, sondern dessen
Umkehrbarkeit ausdrücklich in den Möglichkeitshorizont aufge-
nommen. So deutet die FWG lediglich auf die mit der Entwick-
lung der Weltgesellschaft einhergehenden zivilisatorischen Errun-
genschaften hin, „die die Chance für eine positive Weiterentwick-
lung im Sinne der Gewaltminderung und der Effektivierung der
Problembearbeitung eröffnen“ (FWG 1996: 23; vgl. auch Weller
2007: 46).
Weltgesellschaft und Globalisierung 299
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3. Alternative Konzepte von Weltgesellschaft


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Das Konzept der FWG ist aus anderen Weltgesellschaftskonzepten


(z.B. dem der Englischen Schule) und dem Transnationalismus
heraus entwickelt worden und beansprucht für sich, die neueren
Entwicklungen in den internationalen Beziehungen in ihrer Kom-
plexität und Widersprüchlichkeit vollständiger erfassen zu können
und zugleich Kriterien für eine Konzeptualisierung von Weltge-
sellschaft zu bieten, „die weder theoretisch voreingenommen, nor-
mativ, noch teleologisch sein soll“ (FWG 1996: 5). Damit grenzt
sich die FWG deutlich von John Meyers Konzept einer World So-
ciety ab, dass – wie im Folgenden gezeigt werden soll – weniger
offen für die vielfältigen widersprüchlichen weltgesellschaftlichen
Entwicklungen ist (1). Schließlich wird noch die von Albert adap-
tierte Weltgesellschaftskonzeption der modernen Systemtheorie
skizziert, die gerade in den letzten Jahren zunehmende Aufmerk-
samkeit in der Disziplin der Internationalen Beziehungen erfahren
hat (2).
(1) Meyer et al. (1997) zeichnen einen von den Vorstellungen
der Forschungsgruppe Weltgesellschaft differierenden Prozess glo-
baler Vergesellschaftung nach, welcher durch die globale Verbrei-
tung einheitlicher kultureller Muster, Normen sowie politischer
Konzepte und Zielvorstellungen gekennzeichnet ist (vgl. auch
Meyer 2005). Nach Meyer et al. bauen die in der Welt dominie-
renden kulturellen Muster, Normen und Zielsetzungen auf dem
westlichen Christentum sowie Rationalisierungsprozessen auf und
werden primär durch wissenschaftliche Diskurse weiterentwickelt.
Diese Muster, Normen und Zielsetzungen bestimmen die Wahr-
nehmung, die Strukturen und das Handeln gesellschaftlicher, staat-
licher und internationaler Akteure in praktisch allen gesellschaftli-
chen Bereichen. Während die FWG den Prozess globaler Verge-
sellschaftung aus einer akteursbezogenen Perspektive heraus er-
klärt (Brock 2004: 101), nehmen Meyer et al. also die Systemper-
spektive eines globalen kulturellen Rationalisierungsprozesses ein,
der die Strukturen und Agenden des internationalen Systems sowie
das Handeln der darin agierenden Akteure bestimmt. Während im
Weltgesellschaftskonzept der FWG die Akteure einer globalisier-
ten Politik nicht länger territorial bestimmt werden, sondern funk-
tional nach dem Grad ihrer Entscheidungs- und Handlungsauto-
300 Ingo Take
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nomie und nach dem Maß der erfolgreichen Erledigung bestimm-


ter Funktionen und Aufgaben, sehen Meyer et al. den National-
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staat und die ihn nach außen vertretenden Regierungen nicht ledig-
lich als eine Teilmenge der in sich stark differenzierten Gesamt-
menge von auf der internationalen Ebene agierenden Akteuren,
sondern als Träger und Resultat von Globalisierung. Aus ihrer Sicht
organisieren und legitimieren Akteure sich routinemäßig in Anleh-
nung an universalistische Modelle wie das der Staatsangehörig-
keit, der Bürgerrechte, der sozioökonomischen Entwicklung und
der Gerechtigkeit. Aus der Perspektive von Meyer et al. sind Na-
tionalstaaten also kulturell konstruiert und eingebunden in eine
Kultur, deren Elemente weltweite Anerkennung genießen.
Diese Weltkultur ist insofern hochgradig dynamisch, als die Er-
folge und Misserfolge einzelner Staaten Lernprozesse erzeugen
und zur Diffusion neuer Konzepte der Problemlösung beitragen.
Die Elemente der Weltkultur (Normen, Modelle, Zielsetzungen)
setzen weltweit gültige Standards und beanspruchen weltweite An-
wendbarkeit und sind so konstitutiv für eine Weltgesellschaft. Da
in der Weltkultur aber eine Vielzahl miteinander konkurrierender
Modelle vorhanden sind, welche bei eklektischer Implementation
miteinander in Konflikt geraten, erzeugt ihre Übernahme Konse-
quenzen, die für die sie anwendenden Gesellschaften nicht immer
funktional sind. Darüber hinaus führen die auf verschiedenen Ebe-
nen und durch eine Vielzahl von Akteurskoalitionen verlaufenden
Diffusionsprozesse zur Inkongruenz mit den in den unterschiedli-
chen Nationalstaaten jeweils vorfindbaren Praktiken, Erfordernis-
sen und Kostenstrukturen. Inkonsistenzen und Widersprüche be-
züglich weit verbreiteter Wertvorstellungen (Gleichheit versus
Freiheit, Wachstum versus Gerechtigkeit, Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen versus Wachstum) äußern sich in Auseinander-
setzungen über zu viel oder zu wenig individuelle Freiheiten, zu
viel oder zu wenig staatliche Regulierung, zu viel oder zu wenig
Nationalismus. Solche Differenzen, so Meyer et al., sind ange-
sichts des dezentralisierten Mehrebenencharakters moderner Poli-
tik und in Abwesenheit einer Weltregierung in eine Analyse mit
einzubeziehen.
Dies deutet darauf hin, dass eine von universellen Werten und
Zielvorstellungen angeleitete Strukturierung der Akteure konflikt-
trächtiger sein kann als eine segmentierte Welt. Das Versagen der
Weltgesellschaft und Globalisierung 301
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Weltgesellschaft in Bosnien (Norm: Menschenrechte) und Afrika


(Modell: Entwicklung) sowie die abnehmende Verantwortlichkeit
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einzelner Entscheidungsträger überall auf der Welt zeigen nach


der Auffassung von Meyer et al. allerdings nicht die Schwäche
dieser Institutionen der Weltkultur, sondern deren Stärke. Ereig-
nisse wie Folter, Mülldumping oder Korruption, denen vor nicht
allzu langer Zeit keine Beachtung geschenkt wurde bzw. die als
tragische lokale Abweichungen abgetan wurden, finden nun welt-
weit Beachtung und stoßen auf Widerstand. Lokale Abweichun-
gen von weltweit als gültig betrachteten Normen und Zielen kön-
nen nur noch unter Verweis auf universelle Prinzipien gerechtfer-
tigt werden. Damit überwiegt der integrative Charakter der Welt-
gesellschaft, in der aber auch desintegrative Tendenzen sichtbar
werden. Das Weltgesellschaftskonzept von Meyer et al. unterschei-
det sich also nicht allein durch seine Systemperspektive vom Kon-
zept der FWG, sondern ist auch in seiner normativen Bewertung
weniger zurückhaltend als die Forschungsgruppe Weltgesellschaft.
(2) Mathias Albert, originäres Mitglied der Forschungsgruppe
Weltgesellschaft, bemüht sich seit einigen Jahren um die Frucht-
barmachung der von Niklas Luhmann entwickelten modernen Sys-
temtheorie für die Analyse der internationalen Beziehungen. Er
bemängelt, dass im Rahmen der Disziplin der Internationalen Be-
ziehungen das internationale System und gesellschaftlicher Wan-
del weitgehend unabhängig voneinander analysiert werden. Ge-
sellschaft werde in erster Linie als nationale Gesellschaft gedacht
und nicht als Weltgesellschaft. Stattdessen müsse Weltgesellschaft
nicht als etwas neben den nationalen Gesellschaften existierendes
betrachtet werden, sondern als etwas, was nationale Gesellschaften
enthält (Albert 2004: 17). Die moderne Systemtheorie schließt die
internationalen Beziehungen ein, indem sie Gesellschaft als eine
primär funktional (Wirtschaftssystem, Wissenschaftssystem, Rechts-
system) und allenfalls noch in Teilen sekundär territorial (politi-
sches System) differenzierte Einheit begreift. Da sich soziale Funk-
tionssysteme durch Kommunikationen reproduzieren, lässt sich
seit der weltweiten Verbreitung von Kommunikationsmöglichkei-
ten Gesellschaft nur noch als Weltgesellschaft verstehen.13 Ein so-

13 Kommunikation bezeichnet bei Luhmann „nicht einfach ein Mitteilungshandeln,


das Informationen „überträgt“, sondern eine eigenständige autopoietische Ope-
302 Ingo Take
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ziales System, das alle Kommunikationen umfasst, kann unmög-


lich als Einheit und schon gar nicht als integrierte Einheit kon-
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zeptualisiert werden. Es geht also nicht um die Frage, was eine


Gesellschaft zusammenhält, sondern wie sie intern differenziert ist
(Albert 2004: 18).
Wie können extreme Ungleichheiten als interne Differenzie-
rung eines sozialen Systems analysiert werden? Wie können vor
dem Hintergrund der Komplexität von Kommunikation und der
Möglichkeit ihrer Verweigerung Kommunikationen aufrechterhal-
ten werden und stabile soziale Formen entstehen? Hier nehmen
symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien eine zentrale
Rolle ein (Geld im Wirtschaftssystem, Wahrheit im Wissenschafts-
system, Macht im politischen System etc.), die ein funktionales
Äquivalent zum normativ basierten sozialen Zusammenhalt bilden.
Sie beeinflussen die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz oder Ab-
lehnung von Kommunikation und ersetzen dadurch die Moral, die
unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Welt dazu
nicht mehr in der Lage ist. Eine solche Gesellschaftstheorie ver-
sucht nicht die Homogenität einer Gesellschaft zu erklären, son-
dern deren Zusammenhalt trotz Inhomogenität (Albert 2004: 18).
Die Weltgesellschaft erreicht ihre einheitliche Form nicht durch
Integration, sondern durch ihre interne (funktionale) Differenzie-
rung und unterscheidet sich damit von stratifizierten oder segmen-
tierten Gesellschaften. Es gibt keine globale, regionale oder lokale
Systemebene, so dass Weltpolitik alle füreinander erreichbaren
Kommunikationen des politischen Systems umfasst. Insofern muss
Weltpolitik auch nicht „global“ sein. Auch ist keines der Teilsys-
teme für die Integration der Gesellschaft verantwortlich (auch
nicht das politische System). Die funktionale Differenzierung der
Weltgesellschaft führt vielmehr zu Konflikten zwischen den ver-
schiedenen, sich wechselseitig beobachtenden, Funktionssystemen
(Albert 2009). Diese Konflikte sind auf die unterschiedlichen For-
men der Differenzierung der einzelnen Funktionssysteme zurück-
zuführen. Während das politische System intern noch weitgehend
segmentär bzw. territorial differenziert ist (in Staaten), ist das öko-

ration, die drei verschiedene Selektionen, nämlich Information, Mitteilung und


Verstehen, zu einer emergenten Einheit verknüpft, an die weitere Kommunika-
tionen anknüpfen können“ (Luhmann 1990: 267).
Weltgesellschaft und Globalisierung 303
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nomische System primär funktional differenziert, so dass beide


Systeme nicht füreinander erreichbar sind.14 Konflikte entstehen
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außerdem innerhalb von Funktionssystemen während des Über-


gangs von einer Form der internen Differenzierung zu einer ande-
ren. Insbesondere das politische System ist hierfür anfällig, da es
sich selbst einerseits als segmentär differenziert beobachtet, ande-
rerseits aber mit funktional definierten globalen Problemen kon-
frontiert ist (Albert 2009). Damit weist die moderne Systemtheorie
ein gänzlich anderes Verständnis von Vergesellschaftung (hier am
ehesten als Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung zu ver-
stehen) und Vergemeinschaftung (hier am ehesten als Komplexi-
tätsreduzierung innerhalb von Funktionssystemen zu verstehen)
auf als die bisher skizzierten Ansätze. Inwieweit sich die moderne
Systemtheorie eignet, alternative Erklärungen für Phänomene der
internationalen Beziehungen zu liefern, muss sich erst noch zei-
gen.

4. Externe Kritik
Die Kritik an Weltgesellschaftskonzepten macht sich an unter-
schiedlichen Punkten fest. So wird nicht nur bestritten, dass sich
die internationalen Beziehungen signifikant gewandelt haben (neo-
realistische Perspektive), umstritten ist auch die Realisierbarkeit
(funktionalistische Perspektive) und Wünschbarkeit (normative Per-
spektive) einer Weltgesellschaft. Zunächst ist der Frage zu begeg-
nen, ob sich die internationalen Beziehungen wirklich in einem
Maße gewandelt haben, das die Verwendung eines Konzepts von
Weltgesellschaft rechtfertigt. Gesellschaften haben sich schon im-
mer gegenseitig beeinflusst. Neben den internationalen Beziehun-
gen gab es auch immer transnationale Beziehungen. Der National-
staat steht nicht erst seit 1945 ‚unter Druck‘, wobei allerdings der
Kalte Krieg zur Konservierung des nationalstaatlichen Konzepts

14 „Diese neuen Formen von Konflikt und Krieg erstaunen allein deswegen kaum,
da die im Prozess der funktional bedingten Entgrenzung entstehenden „Neujus-
tierungen“ gewohnter semantischer und struktureller Formen nicht nur Zustim-
mung finden, sondern eben auch Widerspruch – und damit: Konflikt – provozie-
ren“ (Albert/Stetter 2006: 71).
304 Ingo Take
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beigetragen hat. Aber auch nach dem Ende des Ost-West-Kon-


flikts ist der Nationalstaat der bedeutendste Akteur in den grenz-
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überschreitenden Beziehungen. Der Nationalismus hat seit 1989


sogar eine neue Dynamik erhalten. Multinationale Gebilde wie die
Sowjetunion oder Jugoslawien zerbrechen und es entsteht eine
Vielzahl kleiner Nationalstaaten, innerhalb derer wiederum ver-
schiedene Ethnien um die Vorherrschaft kämpfen und sich vonein-
ander abgrenzen. Dieser neue Nationalismus besitzt nicht mehr
den integrativen Charakter früherer Nationalstaatsbildungen, in
deren Rahmen unterschiedliche Kulturen zu einer Gesamtheit zu-
sammengefasst wurden, sondern zielt auf ein ethnisch homogenes
Volk, welches andere Völker ausschließt. Diese Desintegration ist
nicht immer allein ethnisch motiviert, oft spielen auch religiöse,
soziale oder kulturelle Identitäten eine Rolle. Vor diesem Hinter-
grund ist es unrealistisch anzunehmen, dass sich in absehbarer Zu-
kunft ein weltweit geteiltes Normen- und Wertesystem herausbil-
den wird und mit ihm Institutionen, die allgemeine Anerkennung
genießen und es stützen.15 Solche Entwicklungen hätten sich nicht
nur gegen die Prinzipien der Souveränität und Nichteinmischung
durchzusetzen, sondern würden auch eine Neuverteilung der Rol-
len, Rechte und Pflichten von Bürgern, Gesellschaften, Staaten,
des Staatensystems sowie internationaler Institutionen implizieren.
Damit wären nicht nur die Interessen aller Staaten, sondern auch
die ihnen gegebenenfalls innewohnenden demokratischen Struktu-
ren in erheblicher Weise berührt. Weil aber die Beharrungskräfte
des internationalen Systems sowie der großen Mächte in ihm
enorm sind, scheint die Durchsetzung eines solchen Wandels, zu-
mindest in neorealistischer Perspektive, in ferner Zukunft zu liegen.
Des Weiteren ist nicht nur der Begriff der Weltgesellschaft in
der Disziplin der Internationalen Beziehungen Gegenstand von
Kontroversen. Umstritten ist auch die Realisierbarkeit und Wünsch-
barkeit einer Weltgesellschaft. Dabei werden gegen das Konzept
der Weltgesellschaft immer wieder Einwände erhoben, die sich im
Wesentlichen in zwei Ausprägungen zeigen. Aus einer funktiona-

15 In diesem Zusammenhang sei auf die Studie von Koenig verwiesen (Koenig
2005). Er untersucht die weltgesellschaftlichen Faktoren des Formwandels des
Nationalstaates, wie er sich in Konflikten um die Anerkennung kollektiver
Identitäten artikuliert und analysiert dabei insbesondere den Bedeutungswandel,
den Menschenrechte im Zuge ihrer Institutionalisierung erfahren haben.
Weltgesellschaft und Globalisierung 305
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listischen Perspektive wird argumentiert, dass die Herausbildung


einer Weltgesellschaft aufgrund der Vielzahl politischer, sozialer,
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kultureller und ökonomischer Differenzen auf globaler Ebene un-


wahrscheinlich ist. Mithin steht die Frage im Vordergrund, wie rea-
listisch insbesondere die Herausbildung einer globalen Verantwor-
tungsgemeinschaft als eines der Kernelemente einer im Entstehen
begriffenen Weltgesellschaft ist (vgl. Kielmansegg 1996; Scharpf
2005). In normativer Hinsicht wird hingegen vor allem darüber de-
battiert, ob eine Weltgesellschaft überhaupt demokratisch konzipiert
bzw. gedacht werden kann. Hier geht es also darum, wie sich inter-
nationale bzw. globale Politik – gesetzt den Fall, eine Weltgesell-
schaft könne entgegen den funktionalistischen Einwänden doch ent-
stehen – auf effektive und demokratische Weise steuern ließe (vgl.
Habermas 1998; Höffe 1999; Schmalz-Bruns 2005).
Zwei weitere Kritikpunkte sollen hier Erwähnung finden. Kriti-
sche Perspektiven, die den Blick auf die Macht- und Herrschafts-
strukturen im internationalen System richten, fassen staatliche Po-
litikformulierung als abhängige Funktion dominanter sozialer In-
teressenkoalitionen auf, die sowohl innerhalb des Staates als auch
im internationalen politischen Prozess ihren Ausdruck finden und
den Staat instrumentalisieren. Diese institutionalisierte Verlänge-
rung der nationalen Klassenstrukturen basiert auf der vertikalen
internationalen Arbeitsteilung. In einer solchen Perspektive ist die
Weltgesellschaft demnach nicht durch wechselseitige Interdepen-
denz, sondern durch Abhängigkeitsverhältnisse gekennzeichnet,
die ihre Grundlage in der ungleichen Verteilung von Durchsetzungs-
chancen haben. Die sich daraus entwickelnde internationale Ord-
nungsstruktur spiegelt die Interessen dominanter transnationaler
Interessengruppen (insbesondere multinationaler Konzerne) wider
und stützt sich auf unterschiedliche staatliche und internationale,
ökonomische und politische Institutionen. Haupttriebkraft der (welt-)
gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik ist die dem Kapital in-
newohnende Tendenz zur Schaffung eines Weltmarktes. Der Vor-
wurf kritischer Autoren an das Konzept der Forschungsgruppe
Weltgesellschaft besteht im Wesentlichen darin, den Primat der
Ökonomie als global dominierendes Ordnungsprinzip und die auf
ökonomische Leistungsfähigkeit gründenden Machtstrukturen weit-
gehend auszublenden (vgl. Altvater/Mahnkopf 1996; Wallerstein
2000; Lederer/Müller 2005).
306 Ingo Take
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Aus einer anderen Perspektive kritisiert Jung den Gesellschafts-


begriff der FWG als reduktionistisch, weil er Gesellschaft von Po-
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litik und Ökonomie abgrenze und mit der Unterscheidung von


zwischenstaatlich und zwischengesellschaftlich „eine Art Antithe-
se“ zum Staat bilde (Jung 1998: 245). Damit beraube sich die For-
schungsgruppe einerseits der Möglichkeit, „die tatsächliche Kom-
plexität des Wandels in den internationalen Beziehungen als einen
sozialen Gesamtzusammenhang zu erfassen“ (Jung 1998: 248) und
bleibe andererseits blind für „Fragen des sozialen Wandels in den
Regionen der ehemaligen Dritten Welt und dessen regionaler Spe-
zifika“ (Jung 1998: 248). Die drei von der FWG identifizierten
Dimensionen des Wandels der internationalen Politik ließen sich,
so ein weiterer Einwand gegen das Konzept, primär in den OECD-
Staaten beobachten: Entwicklungsländer nehmen zwar an der funk-
tionalen Integration der Staatenwelt in internationalen Institutionen
teil, die in ihnen dominierende soziale Lebenswelt ist allerdings
durch gleichzeitig traditionelle und moderne Elemente gekennzeich-
net und kann mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten. Ein glo-
bales Gemeinschaftsgefühl kann sich aber nur auf der Grundlage ei-
ner rationalisierten Lebenswelt und eines reflektierten Solidaritäts-
bewusstseins entwickeln. In den nicht selten von internen Konflikten
zerrissenen Gesellschaften in den Entwicklungsländern ist eine sol-
che Basis nicht vorhanden. Aber selbst in der Europäischen Union,
in der die entsprechenden Voraussetzungen noch am ehesten vor-
handen sind, ist die Herausbildung eines europäischen Identitätsbe-
wusstseins allenfalls in Ansätzen zu beobachten. Auch von einer
Ausdifferenzierung von Handlungsebenen und von wachsenden
Partizipationsmöglichkeiten gesellschaftlicher Akteure im Sinne
einer Diffusion von Akteuren kann in den Entwicklungsländern
kaum die Rede sein. Wie aber kann „die in der Institution des Na-
tionalstaates erfolgte funktionale und soziale Integration moderner
Lebensverhältnisse und damit die zur Legitimation einer interna-
tionalen demokratischen Friedenspolitik notwendige Rationalisie-
rung der Lebenswelt in Regionen der Welt erreicht werden, in denen
die dafür notwendigen Verrechtlichungs- und Bewusstseinsprozesse
noch in ihren Anfängen stecken?“, fragt Jung (1998: 262). Eben hier
erweist sich ein weiteres Mal die analytische Brauchbarkeit des
Konzepts der FWG, das eine teleologische Entwicklung hin zur
Weltgesellschaft zurückweist und stattdessen Fragmentierungspro-
Weltgesellschaft und Globalisierung 307
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zesse als integralen Bestandteil der weltgesellschaftlichen Entwick-


lung betrachtet. Es betont insbesondere den konflikthaften Charakter
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von Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsprozessen und


lässt damit die Frage nach den Konsequenzen der Herausbildung ei-
ner Weltgesellschaft vorerst offen.

Literaturverzeichnis

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Imperialismustheorie
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Michael Heinrich

1. Einleitung
Unter Imperialismus wird einerseits jene Politik eines Staates ver-
standen, die auf Machtausdehnung und Einfluss jenseits seiner
Grenzen abzielt, sei es direkt durch Vergrößerung des Staatsgebie-
tes, sei es indirekt, indem eine politische, ökonomische oder militäri-
sche Dominanz gegenüber anderen Staaten angestrebt wird. Ande-
rerseits bezeichnet Imperialismus eine bestimmte historische Perio-
de, die etwa 1880 begann und in deren Verlauf sich eine Reihe euro-
päischer Staaten sowie die USA und Japan darum bemühten, Ge-
biete in der übrigen Welt (vor allem in Asien, Afrika und Lateiname-
rika) entweder durch Eroberung oder durch ökonomische Vorherr-
schaft ihrem eigenen Machtbereich anzugliedern und für die eigenen
Interessen zu nutzen. Dieser klassische Imperialismus führte zu rie-
sigen Kolonialreichen und deren ökonomischer Ausbeutung, bluti-
gen Kolonialkriegen sowie einer weitgehenden Aufteilung der Welt
unter die kapitalistischen Großmächte. Schon vor dem Ersten Welt-
krieg produzierte die imperialistische Expansion Rüstungswettläufe
und zunehmende Spannungen unter den Großmächten. Die liberale
Auffassung vom „Frieden durch Handel“ wurde durch die imperiali-
stische Politik praktisch widerlegt. Handelsinteressen führten zur
Eroberung fremder Länder und die Konsequenz kapitalistischer
Konkurrenz im Weltmaßstab war der Weltkrieg. Mit der Entkolo-
nialisierung ging der klassische Imperialismus in den 1960er Jahren
zu Ende, ohne dass dies jedoch das Ende der Einflussnahme und di-
rekter Interventionen der entwickelten kapitalistischen Länder in der
so genannten Dritten Welt bedeutet hätte. Allerdings ist umstritten,
ob und inwieweit solche Einflussnahme es erlaubt, die Außenpolitik
einzelner Staaten bzw. das Gefüge der internationalen Beziehun-
gen auch heute noch als „imperialistisch“ zu charakterisieren.
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Imperialismustheorie
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Michael Heinrich

1. Einleitung
Unter Imperialismus wird einerseits jene Politik eines Staates ver-
standen, die auf Machtausdehnung und Einfluss jenseits seiner
Grenzen abzielt, sei es direkt durch Vergrößerung des Staatsgebie-
tes, sei es indirekt, indem eine politische, ökonomische oder militäri-
sche Dominanz gegenüber anderen Staaten angestrebt wird. Ande-
rerseits bezeichnet Imperialismus eine bestimmte historische Perio-
de, die etwa 1880 begann und in deren Verlauf sich eine Reihe euro-
päischer Staaten sowie die USA und Japan darum bemühten, Ge-
biete in der übrigen Welt (vor allem in Asien, Afrika und Lateiname-
rika) entweder durch Eroberung oder durch ökonomische Vorherr-
schaft ihrem eigenen Machtbereich anzugliedern und für die eigenen
Interessen zu nutzen. Dieser klassische Imperialismus führte zu rie-
sigen Kolonialreichen und deren ökonomischer Ausbeutung, bluti-
gen Kolonialkriegen sowie einer weitgehenden Aufteilung der Welt
unter die kapitalistischen Großmächte. Schon vor dem Ersten Welt-
krieg produzierte die imperialistische Expansion Rüstungswettläufe
und zunehmende Spannungen unter den Großmächten. Die liberale
Auffassung vom „Frieden durch Handel“ wurde durch die imperiali-
stische Politik praktisch widerlegt. Handelsinteressen führten zur
Eroberung fremder Länder und die Konsequenz kapitalistischer
Konkurrenz im Weltmaßstab war der Weltkrieg. Mit der Entkolo-
nialisierung ging der klassische Imperialismus in den 1960er Jahren
zu Ende, ohne dass dies jedoch das Ende der Einflussnahme und di-
rekter Interventionen der entwickelten kapitalistischen Länder in der
so genannten Dritten Welt bedeutet hätte. Allerdings ist umstritten,
ob und inwieweit solche Einflussnahme es erlaubt, die Außenpolitik
einzelner Staaten bzw. das Gefüge der internationalen Beziehun-
gen auch heute noch als „imperialistisch“ zu charakterisieren.
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Imperialismustheorien versuchen eine Erklärung für die Entste-


hung und Ausbreitung imperialistischer Politik zu liefern. Je nach
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den herangezogenen Erklärungsfaktoren lassen sich sehr grob po-


litische und ökonomische Imperialismustheorien unterscheiden:
Erstere stellen auf Faktoren der internationalen Politik oder der In-
nenpolitik der jeweiligen Länder ab, bei den zweiten stehen Pro-
bleme der Kapitalverwertung innerhalb der imperialistischen Län-
der im Vordergrund.1
Vom theoretischen Gehalt wie von der historischen Wirksam-
keit her erwiesen sich vor allem die ökonomischen Imperialis-
mustheorien als bedeutsam. Sie lassen sich dem „strukturalisti-
schen“ Paradigma in der Lehre von den Internationalen Beziehun-
gen zurechnen (Menzel 2001: 182).2 In ihm gelten die Strukturen
des Weltmarkts, der internationalen Arbeitsteilung und der inter-
nationalen Wettbewerbsfähigkeit als die entscheidende materielle
Basis des Systems der internationalen Beziehungen.3 Insbesondere
die Leninsche Imperialismustheorie erlangte erhebliche politische
Bedeutung, gehörte sie doch bis zum Ende der Sowjetunion zur
offiziellen Weltsicht sowohl der Warschauer Pakt-Staaten als auch
der kommunistischen Parteien des Westens. Daher werden Impe-
rialismustheorien häufig mit einer marxistischen Auffassung inter-
nationaler Politik gleichgesetzt. Es wird dabei aber nicht nur aus-
geblendet, dass es auch nicht-marxistische Imperialismustheorien
gibt (wie auch der Strukturalismus sowohl marxistische als auch
linksliberale Anhänger hat). Es lässt sich ebenso in Frage stellen,
ob Lenins Imperialismustheorie tatsächlich eine genuine Fortbil-

1 Einen guten Überblick über die verschiedenen Imperialismustheorien bietet


Mommsen 1987. Immer noch informativ sind auch Wehler 1976, Hampe 1976
und Krippendorff 1976. Speziell mit marxistischen Imperialismustheorien be-
schäftigen sich Brewer 1980, Barone 1985, Nachtwey 2005 und ten Brink
2008b. Wolfe 1997 gibt einen Überblick vor allem über jüngere Beiträge, die
von der marxistischen Diskussion sowie den „postcolonial studies“ beeinflusst
wurden.
2 Vgl. hierzu u.a. auch den Beitrag von Andreas Nölke in diesem Band.
3 Dieses strukturalistische Paradigma in der Lehre von den Internationalen Bezie-
hungen ist nicht zu verwechseln mit dem, was gemeinhin unter „Strukturalis-
mus“ verstanden wird: einer in den 1960er Jahren von Frankreich ausgehenden
Denkrichtung, die vor allem in Ethnologie, Soziologie, Philosophie, Sprach-
und Literaturwissenschaft einflussreich ist.
Imperialismustheorie 313
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dung der Marxschen Ökonomiekritik darstellt, wie innerhalb des


„Marxismus-Leninismus“ stets behauptet wurde.
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Imperialismustheorien spielten nicht nur zur Zeit des klassi-


schen Imperialismus eine wichtige Rolle. In den 1960er und 1970er
Jahren versuchten verschiedene theoretische Ansätze aufzuzeigen,
dass imperialistische Abhängigkeitsstrukturen auch nach dem Ende
der Entkolonialisierung weiter existierten. In den Vordergrund
rückten imperialismustheoretische Konzepte erneut in der seit Mit-
te der 1990er Jahre geführten Globalisierungsdiskussion, insofern
Globalisierung nicht als naturwüchsiger Sachzwang, sondern als ein
durch Interessen und Machtverhältnisse bestimmter Prozess aufge-
fasst wurde.
Die zentrale theoretische Quelle der Leninschen Imperialismus-
theorie war John A. Hobsons Buch Der Imperialismus (London
1902). Hobson war kein Marxist, sondern ein linksliberaler, sozialre-
formerischer Autor, dessen Auffassung über den Zusammenhang
von Kapitalismus und Imperialismus von Lenin in seiner Schrift Der
Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (Petrograd
1917) zu einem großen Teil übernommen und in einen marxisti-
schen Kontext eingeordnet wurde. Als Referenzautor zur Darstel-
lung der Imperialismustheorie wird uns zunächst Hobson dienen.

2. Die Imperialismustheorie von John A. Hobson


John Atkinson Hobson (1858-1940) war ein englischer Publizist, der
sich in einer Vielzahl von Artikeln vor allem mit ökonomischen Fra-
gen beschäftigte. Als ökonomischer „Häretiker“, der nicht in das
vorherrschende Loblied auf den freien Markt einstimmte, sondern
die Unterkonsumtionstheorie wiederbelebte, wurde er allerdings von
der akademischen Zunft abgelehnt und erhielt nie eine Professur.
Der theoretische Kern der Hochschätzung des Marktes ist das
„Saysche Gesetz“, wonach jedes Angebot durch die im Verlauf sei-
ner Produktion geschaffenen Einkommen eine gleich große Nach-
frage erzeugt.4 Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage

4 Der französische Ökonom Jean-Baptiste Say formulierte dieses „Gesetz“ zu Be-


ginn des 19. Jahrhunderts, in modifizierter Form liegt es auch noch der gegen-
wärtigen neoklassischen Theoriebildung zugrunde.
314 Michael Heinrich
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kann es dann nur sektoral geben, aber nicht in der Ökonomie als
Ganzer: eine kapitalistische Marktwirtschaft sollte demnach keine
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inhärenten Krisen kennen; treten dennoch Krisenprozesse auf, wer-


den sie als Wirkungen externer Schocks (Naturkatastrophen, Kriege,
falsche Wirtschaftspolitik etc.) aufgefasst. Die Unterkonsumtions-
theorie bestreitet jedoch die Gültigkeit des Sayschen Gesetzes. Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts wurde sie vor allem von Malthus ver-
treten, dem ökonomischen Mainstream galt die Unterkonsumtions-
theorie dann aber durch das Werk von David Ricardo als widerlegt.
In seinem gemeinsam mit F. A. Mummery verfassten Buch The
Physiology of Industry (1889) erneuerte Hobson die Unterkonsum-
tionstheorie und versuchte zu begründen, dass gesellschaftliches
„over-saving“ (Übersparen) den Konsum vermindere, so dass es
tendenziell zu einer allgemeinen Überproduktion komme. Für diese
Wiederbelebung der Unterkonsumtionstheorie wurde Hobson später
von John Maynard Keynes, trotz Kritik im Detail, ausführlich ge-
würdigt (vgl. Keynes 1936: 308-313). Die Unterkonsumtionstheorie
bildete die wichtigste ökonomietheoretische Grundlage von Hobsons
Imperialismusanalyse.
Der historische Hintergrund von Hobsons Imperialismustheorie
ist die oben angesprochene, etwa 1880 einsetzende Phase imperia-
listischer Expansion, für die Hobson die erste umfassende ökono-
mische Begründung lieferte. Allerdings beschränkte sich Hobson
nicht auf die rein wissenschaftliche Erklärung, es ging ihm vor al-
lem um eine Kritik der imperialistischen Politik. Er verurteilte den
Imperialismus als eine Politik, die nicht nur für die Bevölkerung
der angeeigneten Territorien, sondern auch für die Bevölkerungs-
mehrheit innerhalb der imperialistischen Länder schädlich sei.
Hobsons Buch stand in der Tradition der englischen Sozialreform
mit ihrer Mischung aus moralisch-idealistischen und utilitaristi-
schen Momenten. Es sollte aufklären und zu einer Änderung der
kritisierten Politik beitragen: statt durch imperialistische Expan-
sion sollte der Unterkonsumtion durch Sozialreformen begegnet
werden.5

5 Die Umstände, die ihn dazu veranlassten, sein Buch zu schreiben, werden in ei-
ner autobiographischen Skizze (Hobson 1938) mitgeteilt. Als Einführung in sein
Werk vgl. Schröder 1976.
Imperialismustheorie 315
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Hobson will den zu seiner Zeit zu beobachtenden Expansions-


drang der führenden kapitalistischen Länder erklären. Dieser Expan-
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sionsdrang konnte sich auf einen weitgehenden Konsens innerhalb


der gebildeten Schichten stützen. Ein großer Kolonialbesitz schien
für eine prosperierende nationale Wirtschaft unabdingbar zu sein.
Die üblichen Rechtfertigungsargumente dafür werden von Hobson
aber geradezu ‚zerpflückt‘. Am Beispiel England kann er überzeu-
gend deutlich machen, dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen
den Kosten für Erwerb und Unterhalt der Kolonien einerseits und
den Handelsgewinnen, die aus ihrem Besitz gezogen werden, ande-
rerseits, existiert. Da die meisten Kolonien auch nicht besonders
wichtig seien, um Auswanderer aufzunehmen, sei ihr Nutzen für die
expandierenden Länder keineswegs so eindeutig wie in der öffentli-
chen Meinung unterstellt wurde. Zu erklären wäre dann, warum es
doch (und zwar nicht nur in England) zu einer imperialistischen Po-
litik kommt und warum diese auf so breite Zustimmung stößt. Hob-
son beantwortet diese Frage auf zwei Ebenen, einer wirtschaftsso-
ziologischen und einer ökonomisch-strukturellen.

2.1 Wirtschaftssoziologische Erklärung des Imperialismus

Auch wenn die Nation als Ganze beim Imperialismus verliert, gibt
es doch – so Hobson – besondere Interessengruppen, die von ihm
profitieren: die Hersteller von Gütern, die in den Kolonien benö-
tigt werden, die entsprechenden Transportunternehmen, weiter die
Rüstungsindustrie, die Streitkräfte, die schon aus Berufsinteresse
imperialistisch orientiert seien, schließlich aristokratische Grup-
pen, die im Militärdienst und in der Kolonialbürokratie für sich
und ihre Kinder Aufstiegsmöglichkeiten sehen. Diese am Imperia-
lismus interessierten Gruppen, die Hobson als „wirtschaftliche Pa-
rasiten des Imperialismus“ bezeichnet, nutzen ihren Einfluß in
Medien, Parteien, Kirchen, Schulen und Universitäten, um Ideolo-
gien zu fördern, die den Imperialismus stützen. Dabei komme ih-
nen zugute, dass sich rein wirtschaftliche Interessen mit weiteren
Motiven vermischten, die von Abenteuerlust bis zur Begeisterung
für nationale Größe reichen. In militärischen, geistlichen, akade-
mischen und Beamtenkreisen entstehe so ein „interessiertes Vorur-
teil zugunsten des Imperialismus“ (Hobson 1902: 71), das sich
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hinter vorgeblich edlen Absichten wie etwa der Ausbreitung von


Zivilisation und Christentum verstecke.
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Mit der Identifizierung verschiedener Berufsgruppen und Schich-


ten, die entweder unmittelbar am Imperialismus verdienen oder
Aufstiegsmöglichkeiten durch ihn erhalten, hat Hobson den Impe-
rialismus zwar soziologisch erklärt, doch erweist sich diese Erklä-
rung als unbefriedigend. Denn es bleibt die Frage offen, warum
sich die am Imperialismus interessierten und von ihm profitieren-
den Kreise ausgerechnet gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch-
setzen können, und warum sie dazu in fast allen entwickelten ka-
pitalistischen Ländern in der Lage sind.

2.2 Ökonomisch-strukturelle Erklärung des Imperialismus

Die Antwort auf diese Fragen findet sich in einem weiteren Argu-
ment Hobsons, welches ökonomisch-struktureller Natur ist. Der
wichtigste Faktor, der zur imperialistischen Politik führe, sei das im
Ausland investierte Kapital. Die zunehmenden Gewinne aus den
Auslandsinvestitionen würden diejenigen, die aus dem Warenexport
herrühren, bei weitem übersteigen. Die Sicherung dieser Gewinne
sieht Hobson als die eigentliche Ursache des Imperialismus:
„In einem alljährlich steigenden Ausmaß wird Großbritannien ein
Land, das von Tribut aus dem Ausland lebt, und die Klassen, die die-
sen Tribut genießen, haben einen ständig zunehmenden Anreiz, die öf-
fentliche Politik, die öffentliche Geldbörse und die öffentliche Gewalt
zu benutzen, um das Feld ihrer privaten Kapitalanlagen auszudehnen
und ihre bestehenden Anlagen abzuschirmen und zu verbessern“ (Hob-
son 1902: 72).
Aber nicht nur die Unternehmer, die im Ausland investieren, ha-
ben Interesse an einer imperialistischen Politik, sondern auch die
Banken und die großen Finanziers. Da die Investoren stets auf
Kredite angewiesen sind, haben die Finanziers zum einen diesel-
ben Interessen wie die im Ausland investierenden Unternehmen.
Zum anderen hätten die Finanzkreise aber noch ein weiteres Inter-
esse am Imperialismus, da die imperialistische Politik nicht ohne
öffentliche Anleihen zu finanzieren sei. Hobson argumentiert, der
Imperialismus führe zwangsläufig zu einer höheren Staatsver-
schuldung. Denn würden die Kosten für die enormen Rüstungsan-
Imperialismustheorie 317
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strengungen und den Erhalt der Kolonien über Steuern finanziert,


würde sich bei großen Teilen der Bevölkerung Widerstand regen.
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An den Staatsschulden können Banken und Finanziers aber ohne Ri-


siko verdienen. In den Banken und Finanzkreisen sieht Hobson so-
mit die stärkste Triebkraft für eine imperialistische Politik (Hobson
1902: 76).
Mit den Kapital exportierenden Unternehmen und den Groß-
banken hat Hobson aber nicht nur zwei weitere Gruppen benannt,
die ein Interesse an der imperialistischen Politik haben. Vielmehr
versucht er mit dem Nachweis, dass der Kapitalexport das not-
wendige Resultat einer ungehemmten Entwicklung des Kapitalis-
mus ist, eine genuin ökonomisch-strukturelle Erklärung des Impe-
rialismus zu liefern. Hobson argumentiert, die Ära einer unge-
bremsten kapitalistischen Konkurrenz habe bereits zu einer erheb-
lichen Konzentration der Kapitalien geführt. Ein gewaltiger Reich-
tum habe sich in den Händen weniger Kapitalmagnaten angesam-
melt, die nun eine enorme Sparleistung aufweisen, was zu einer
immer höheren Produktion führe. Damit übersteigt aber die Pro-
duktivkraft die effektive Konsumtion – es liegt also eine Unter-
konsumtionssituation vor – und es wird immer schwieriger, zu-
sätzliches Kapital gewinnbringend anzulegen. Die Unterkonsum-
tion führt zur Bildung von Kartellen und Trusts.6 Dadurch wird
zwar die Produktion begrenzt und profitabel gehalten, das Problem
des überschüssigen Kapitals wird aber eher noch verschärft: das
angelegte Kapital bleibt zwar profitbringend, doch lassen sich die-
se Profite nicht mehr in der selben Branche investieren. Dieser
Prozess spielt sich nacheinander in fast allen Industriezweigen ab.
Kapital kann jetzt nur noch investiert werden, wenn die über-
schüssigen Produkte exportiert werden, oder – was erheblich ef-
fektiver ist – wenn als Investitionsgebiet gleich das Ausland dient.
Im Kapitalüberschuss und dem daraus resultierenden Kapitalex-
port sieht Hobson (1902: 85) „die wirtschaftliche Hauptwurzel des
Imperialismus“.

6 Von Kartellen spricht man, wenn rechtlich selbständige Unternehmen ihre Kon-
kurrenz einschränken, z.B. durch Preisabsprachen, von einem Trust, wenn sie
sich unter einer einheitlichen Führung zusammenschließen.
318 Michael Heinrich
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2.3 Imperialismus und Politik


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Der Kapitalexport, der zum Imperialismus führt, ist keine aus-


tauschbare Strategie einiger Gruppen von Kapitalisten, sondern
strukturell in einer Ökonomie angelegt, die einen beständigen
Kapitalüberschuss produziert. Allerdings findet diese Struktur,
so Hobson, ihre Ursache nicht in der kapitalistischen Produk-
tionsweise als solcher oder dem technischen Fortschritt, sondern
in der „mangelhaften Verteilung der Konsumtionskraft“ (Hobson
1902: 96). Ist es aber lediglich die ungleiche Vermögensvertei-
lung, die den Kapitalüberschuss hervorbringt, dann lässt sich
diese Situation, die letzten Endes zum Imperialismus führt, auch
auf politischem Wege ändern: durch eine andere Verteilung.
Im Imperialismus sieht Hobson nicht nur eine Verschwendung
gesellschaftlicher Mittel, er hält ihn auch politisch, sowohl nach
innen wie nach außen, für außerordentlich schädlich. Im Innern
der imperialistischen Länder werden soziale Reformen durch die
imperialistische Politik verhindert und es entsteht eine Neigung zu
Militarismus und autoritären Regierungsformen: imperialistische
Politik benötigt auch im Innern einen starken Staat. Insofern sind
auch konservative Kreise für die imperialistische Propaganda emp-
fänglich oder benutzen sie ganz gezielt zur Sicherung ihrer politi-
schen Macht. Nach außen ist der Imperialismus gefährlich, da sich
die verschiedenen Imperien in einem ständigen Zustand der Rivalität
befinden und große Rüstungsanstrengungen unternehmen. Imperia-
listische Politik ist daher in hohem Maße friedensgefährdend. Die
imperialistische Expansion, so ließe sich Hobsons Imperialismus-
theorie zuspitzen, produziert erst jenes Sicherheitsdilemma, das vom
realistischen Paradigma in der Lehre der Internationalen Beziehun-
gen als unhintergehbarer Naturzustand des internationalen Systems
immer schon vorausgesetzt wird (vgl. hierzu die Beiträge von An-
dreas Jacobs und Niklas Schörnig in diesem Band).
Insofern Sozialreform und Imperialismus einander als Gegensätze
gegenüberstehen, sieht Hobson in der Arbeiter- und Gewerkschafts-
bewegung den natürlichen Feind des Imperialismus. Allerdings ver-
kennt er nicht, dass die Beschäftigten, die von der imperialistischen
Politik besonders profitieren, durchaus für imperialistische Propa-
ganda empfänglich sind (Hobson 1902: 105). In erster Linie sind es
für ihn aber Industrie- und Finanzkapitalisten, welche die imperialis-
Imperialismustheorie 319
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tische Politik „eingefädelt“ haben (Hobson 1902: 104). Insofern kön-


ne nur eine „echte Demokratie“, in welcher das Volk tatsächlich die
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Politik bestimmt, die Macht der imperialistischen Kräfte brechen


(Hobson 1902: 301). Diese echten Demokratien würden auch die
unter dem Imperialismus stets latente Kriegsgefahr beseitigen: Auf-
geklärte Demokratien würden die Gemeinsamkeit ihrer Interessen er-
kennen und diese durch eine freundschaftliche Politik sichern. Damit
formuliert Hobson zwar mit großer Emphase und ganz ähnlich wie
schon Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Ein
philosophischer Entwurf den Grundgedanken des idealistischen Para-
digmas der Lehre von den Internationalen Beziehungen, doch bleibt
er gegenüber dessen Realisierungschancen skeptisch. Hobson sieht
nämlich auch die Möglichkeit, dass ein imperialistisches Bündnis, ei-
ne
„Allianz westlicher Staaten, eine Föderation der europäischen Groß-
mächte entstehen könnte. Weit entfernt, die Sache der Weltzivilisation
zu fördern, könnte sie im Gegenteil die gigantische Gefahr eines west-
lichen Parasitismus heraufbeschwören. Die Oberschichten einer Grup-
pe fortgeschrittener Industrienationen würden aus Asien und Afrika
ungeheure Tribute beziehen“ (Hobson 1902: 304)
und die Welt ihrem „parasitären Imperialismus“ (Hobson 1902:
305) unterwerfen.

3. Imperialismustheorien im 20. und 21. Jahrhundert

3.1 Klassische Imperialismustheorien

Während mit Hobson ein Vertreter des linksliberalen Bürgertums


schon früh eine Analyse des Imperialismus vorgelegt hatte, sollte
dies auf der Seite der (marxistischen) Linken noch etwas dauern. Die
beiden ersten grundlegenden marxistischen Auseinandersetzungen
mit dem Imperialismus, die aber von Hobsons Buch nicht beeinflusst
wurden, finden sich bei Rudolf Hilferding und Rosa Luxemburg.7

7 Vgl. zu den frühen Imperialismusanalysen Schröder 1973. Vor dem Hintergrund


ihrer spezifischen Marx-Rezeption werden sie von Paul 1978 kritisch diskutiert.
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Die Diskussionen in der marxistischen Sozialdemokratie:


Rudolf Hilferding und Rosa Luxemburg
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Hilferding analysierte im Anschluss an das Marxsche Kapital Geld,


Kredit und Banken. Er prägte den Begriff des „Finanzkapitals“:
Bankkapital, das über Kredite oder Beteiligungen in industrielles
Kapital verwandelt wird (Hilferding 1910: 309). Die Dominanz
des Finanzkapitals und damit auch die Abhängigkeit der Industrie
von den Banken sah er als Merkmal einer neuen Phase des Kapi-
talismus an, die Freihandel und Konkurrenz ablöste. Das Finanz-
kapital wolle den Staat auch nicht mehr auf den liberalen Nacht-
wächterstaat reduzieren, vielmehr „braucht es den Staat, der ihm
durch seine Zollpolitik und Tarifpolitik den inländischen Markt si-
chert, die Eroberung ausländischer Märkte erleichtern soll. (...)
Das Finanzkapital braucht endlich einen Staat, der stark genug ist,
um Expansionspolitik treiben und neue Kolonien sich einverleiben
zu können“ (Hilferding 1910: 456f).8
Während Hilferding den Imperialismus aus einem Wandel ka-
pitalistischer Verhältnisse ableitete, fasste Rosa Luxemburg den
Imperialismus als Folge der Funktionsweise kapitalistischer Akku-
mulation auf. Zur fortgesetzten Akkumulation sei der Kapitalis-
mus auf ein „nicht-kapitalistisches Milieu“ angewiesen: einerseits
um billige Arbeitskräfte und Rohstoffe zu beziehen, andererseits,
um dort den innerhalb des Kapitalismus geschaffenen Mehrwert
zu realisieren. Denn dieser Mehrwert benötige nicht-kapitalistische
Abnehmer. Ähnlich wie Hobson geht auch Rosa Luxemburg von
einer strukturellen Unterkonsumtion aus, die den Waren- und Ka-
pitalexport bedingt. Die kapitalistische Durchdringung des nicht-
kapitalistischen Milieus führe dort aber zur Etablierung kapitalisti-
scher Verhältnisse, so dass sich erneut dieselben Probleme stellen.
Während der Kapitalismus in seiner Aufstiegszeit die Akkumula-
tion dadurch sichern konnte, dass er das nicht-kapitalistische Mi-
lieu im Innern einer Nation durchdrang und alle vorkapitalisti-
schen, auf Subsistenzwirtschaft oder einfacher Warenproduktion
beruhenden Verhältnisse auflöste, sei er nun gezwungen, sich nach
außen zu wenden, und genau dies sei die Phase des Imperialismus:

8 Eine kritische Auseinandersetzung mit Hilferdings Werk Das Finanzkapital


findet sich u.a. bei Schimkowsky 1974a, 1974b und Stephan 1974.
Imperialismustheorie 321
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„Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Ka-
pitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch
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nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus“ (Lu-


xemburg 1913: 391).
Mit der Aufteilung der Welt und dem Verschwinden der freien
Territorien sei der Kapitalismus ans Ende seiner Entwicklungs-
möglichkeit gelangt, wobei bereits die „Tendenz zu diesem End-
ziel“ die Schlussphase des Kapitalismus in eine „Periode der Kata-
strophen“ verwandle (Luxemburg 1913: 391f).9

Lenins Imperialismustheorie

Ihre wirkungsgeschichtlich entscheidende Fortsetzung fand Hobsons


Imperialismustheorie bei Wladimir I. Lenin (1870-1924). In grund-
legenden politischen und theoretischen Fragen stimmte Lenin vor
dem Ersten Weltkrieg weitgehend mit dem sozialdemokratisch po-
pularisierten Marxismus überein, wie er insbesondere von Karl
Kautsky repräsentiert wurde. Dieser galt nach dem Tod von Fried-
rich Engels im Jahre 1895 in der internationalen Arbeiterbewegung
als der führende marxistische Theoretiker. Zu einer dramatischen
Wende kam es nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als die
sozialdemokratischen Parteien die Kriegspolitik ihrer jeweiligen Re-
gierungen mehrheitlich unterstützten und den Krieg als „Verteidi-
gungskrieg“ rechtfertigten. Lenin widersetzte sich dieser allen frühe-
ren friedenspolitischen Beschlüssen zuwider laufenden Politik. Die
Spaltung der Arbeiterbewegung in einen sozialdemokratischen und
einen kommunistischen Flügel hatte in diesem Konflikt ihren Aus-
gangspunkt.
Mit seiner Imperialismusschrift verfolgte Lenin unmittelbar po-
litische Ziele. Er wollte zeigen, dass der Krieg ein imperialisti-
scher Krieg war, der zum Zwecke der Aufteilung der Welt unter
den Großmächten geführt wurde und bei dem es für die Arbeiter-
bewegung keine Rechtfertigung gab, eine Seite zu unterstützen.

9 Der auf einer spezifischen Marx-Interpretation beruhende theoretische Kern der


Imperialismustheorie Luxemburgs – die kapitalistische Reproduktion setze stets
ein nichtkapitalistisches Milieu voraus – wurde bereits von Otto Bauer im Jahr
1913 kritisiert. Ausführlich setzt sich Rosdolsky 1969 mit dieser Problematik
auseinander.
322 Michael Heinrich
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Zugleich versuchte Lenin zu erklären, wieso nicht nur die Führer,


sondern auch viele Mitglieder der Sozialdemokratie bereit waren,
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die Kriegspolitik mit zu tragen. Darüber hinaus sollte deutlich


werden, dass mit dem Imperialismus der Niedergang des Kapita-
lismus einsetzt, was Lenin als Voraussetzung der proletarischen
Revolution betrachtete.
Die theoretische Grundlage seiner Imperialismusanalyse bildete
Hilferdings Werk Das Finanzkapital sowie das Buch von Hobson,
dessen zentrale Aussagen Lenin gewissermaßen „marxistisch“
übersetzte. Dabei bewegte sich der Leninsche Marxismus weitge-
hend in jenem schematischen Rahmen, der sich im Anschluss an
die popularisierenden Spätschriften von Friedrich Engels als „ma-
terialistische Weltanschauung“ in der sozialdemokratischen Ar-
beiterbewegung durchgesetzt hatte. Dieser Populärmarxismus war
durch einen oftmals kruden Ökonomismus (Ideologie und Politik
werden auf eine unmittelbare und bewusste ‚Übersetzung‘ öko-
nomischer Interessen reduziert) und einen starken historischen
Determinismus (notwendiger Aufstieg des Kapitalismus und eben-
so notwendig erfolgende proletarische Revolution) charakterisiert.
Ökonomismus und historischer Determinismus sind auch für Le-
nins Imperialismustheorie kennzeichnend.
Die grundlegenden Merkmale des Imperialismus fasst Lenin
folgendermaßen zusammen:
„1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe
Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirt-
schaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des
Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanz-
oligarchie auf der Basis dieses ‚Finanzkapitals‘; 3. der Kapitalexport,
zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Be-
deutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalisten-
verbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Auftei-
lung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet“ (Le-
nin 1917: 270f).
Die schon von Hobson vertretene Auffassung, die Konkurrenz der
Einzelkapitale werde durch Monopole ersetzt, wird von Lenin in
ein deterministisches Schema eingebaut: Der ‚alte‘ Kapitalismus
der Konkurrenz gehe zwangsläufig in einen ‚neuen‘ Kapitalismus
über, den Monopolkapitalismus, der durch die „Herrschaft der Fi-
nanzoligarchie“ (Lenin 1917: 230) charakterisiert sei. Diese stelle
Imperialismustheorie 323
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mit ihrem Interesse am Kapitalexport die Triebkraft hinter den im-


perialistischen Unternehmungen dar. Während Hobson die Not-
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wendigkeit des Kapitalexports mit der Unterkonsumtionstheorie


zu begründen versucht, findet sich bei Lenin dazu lediglich die
Behauptung, dass „in einigen Ländern der Kapitalismus ‚überreif‘
geworden sei“ und dem Kapital deshalb die Möglichkeit zu renta-
bler Betätigung fehle (Lenin 1917: 245).
Im Unterschied zu Hobson sieht Lenin im Imperialismus eine un-
ausweichliche historische Notwendigkeit. Der Imperialismus ist für
Lenin das „höchste“ und damit auch letzte „Stadium“ des Kapitalis-
mus. Er ist daher auch nicht, wie bei Hobson, durch eine Reform der
Verteilungsverhältnisse, sondern nur durch die proletarische Revo-
lution, die den Kapitalismus als Ganzes beseitigt, zu überwinden.
Diese ökonomische und historische Zwangsläufigkeit des Impe-
rialismus wendet Lenin vor allem gegen Kautskys Vorstellung ei-
nes möglichen „Ultraimperialismus“, eines friedlichen, kartellähn-
lichen Ausgleichs zwischen den imperialistischen Ländern (Kauts-
ky 1914). Ihm gegenüber betont Lenin, dass die expansionistische
Politik des Imperialismus nicht gegen eine andere Politik aus-
tauschbar, sondern die notwendige Folge der ökonomischen Grund-
lage sei: Die Monopole benötigten diese Expansion. Die Auftei-
lung der Welt unter den Trusts wie auch unter den imperialisti-
schen Ländern sei aber nicht stabil, denn die „ungleichmäßige
Entwicklung“ der Produktivkräfte und der Akkumulation verschiebe
die Kräfteverhältnisse. Da aber die Aufteilung der Welt weitgehend
abgeschlossen sei, könne es sich jetzt nur noch um eine Neuauf-
teilung unter den imperialistischen Ländern handeln, und diese sei
nur durch einen Krieg zu bewerkstelligen (Lenin 1917: 280).
Imperialismustheorie ist bei Lenin Bestandteil der Begründung
revolutionärer Politik. Um die Schwäche des Imperialismus aufzu-
zeigen, welche die Revolution erst möglich macht, benutzt Lenin
die schon von Hobson verwendete Charakterisierung des Imperia-
lismus als „Parasitismus“ und ergänzt sie noch durch den Begriff
„Fäulnis“. Worin diese Fäulnis besteht, bleibt jedoch vage. Einer-
seits schreibt Lenin, das Monopol bringe „unvermeidlich die Ten-
denz zur Stagnation und Fäulnis“ hervor. Mit dem Monopol
schwinde „bis zu einem gewissen Grade der Antrieb zum techni-
schen und folglich auch zu jedem anderen Fortschritt“ (Lenin
1917: 281). Andererseits betont er, dass die Monopole die Anar-
324 Michael Heinrich
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chie kapitalistischer Produktion überwinden und nahe an die so-


zialistische „Vergesellschaftung der Produktion“ heranführen wür-
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den (Lenin 1917: 209). Schließlich heißt es kategorisch: „Es wäre


ein Fehler zu glauben, daß diese Fäulnistendenz ein rasches
Wachstum des Kapitalismus ausschließt“ (Lenin 1917: 305).
Mit „Parasitismus“ meint Lenin die „Ausbeutung einer immer
größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz we-
nige reiche oder mächtige Nationen“ (Lenin 1917: 305). Dieser
Parasitismus wirke sich auch auf die Arbeiterklasse aus: Aufgrund
der hohen Monopolprofite könnten Teile der Arbeiterklasse „be-
stochen“ und zu Unterstützern des Imperialismus gemacht werden.
Aus diesen Merkmalen folgert Lenin am Ende seiner Schrift etwas
überraschend: „Aus allem, was über das ökonomische Wesen des
Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, daß er charakterisiert
werden muß als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als ster-
bender Kapitalismus“ (Lenin 1917: 307).
Die Vorstellung eines notwendigen „Zusammenbruchs“ des
Kapitalismus, zu der sich zwar kaum Anhaltspunkte im Marxschen
Kapital finden, die im sozialdemokratischen Populärmarxismus
der Zeit vor 1914 aber weit verbreitet war, erscheint hier in neuer
Form: der Imperialismus als krisenhafte Endzeit des Kapitalismus,
der zu keiner dauerhaften Entwicklung mehr in der Lage sei, son-
dern nur immer wieder erneut imperialistische Kriege hervorbrin-
ge.10
Lenins Imperialismustheorie blieb für die kommunistischen
Parteien weltweit für Jahrzehnte die theoretische Grundlage zur
Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus schlechthin. In dem Ma-
ße, in dem sich in der Sowjetunion in den 1920er Jahren ein auto-
ritärer Staatssozialismus durchsetzte, degenerierte auch die theo-
retische Diskussion in den kommunistischen Parteien. Es bildete
sich ein parteioffizieller „Marxismus-Leninismus“ heraus, der den
alten sozialdemokratischen Populärmarxismus mit den politischen
Kampfschriften Lenins kombinierte. Dieses auf einfache Formeln
reduzierte und in unzählige Lehrbücher gepresste Konglomerat,
dem der Status unumstößlicher Wahrheiten zugesprochen wurde,
diente vor allem der Legitimation der jeweiligen Politik der Partei-
führungen bzw. im Falle der Sowjetunion der Staatsführung.

10 Vgl. dazu auch Lenins Vorwort zur französischen Ausgabe seiner Schrift.
Imperialismustheorie 325
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Theoretische Weiterentwicklungen der Imperialismustheorie blie-


ben in diesem Kontext außerordentlich beschränkt.
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3.2 Die Renaissance strukturalistischer Ansätze

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte eine weltpolitisch völlig


neue Situation, die ganz vom Ost-West-Gegensatz dominiert wur-
de. Dieser Gegensatz sowie die enorme ökonomische und militäri-
sche Überlegenheit der USA gegenüber den übrigen westlichen
Ländern zügelte die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen
Staaten. Außerdem erfolgte eine umfassende Dekolonisierung, die
in den 1960er Jahren weitgehend abgeschlossen wurde. Nachdem
die imperialistische Expansion bereits mit dem Ersten Weltkrieg
zu Ende gegangen war, schien der Imperialismustheorie ihr Ge-
genstand nun endgültig abhanden gekommen zu sein.
Doch gerade jetzt setzte – nach der Unterbrechung der Diskus-
sion durch Faschismus, Stalinismus und Kalten Krieg – eine Re-
naissance des strukturalistischen Paradigmas ein. Es war nämlich
nicht zu übersehen, dass die unabhängig gewordenen Kolonien
oftmals von den früheren Kolonialmächten wirtschaftlich abhän-
gig blieben und dass selbst Länder wie die Staaten Lateinamerikas
kaum eine Chance hatten, innerhalb des kapitalistischen Welt-
markts ihre subalterne ökonomische Position grundlegend zu ver-
ändern. Zudem machte in den 1960er Jahren der Vietnamkrieg
deutlich, dass die Interventionen der kapitalistischen Großmächte
in der Dritten Welt keineswegs beendet waren. Der alte Imperialis-
mus hatte sich anscheinend in einen Neoimperialismus transfor-
miert. Mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg und der Studen-
tenbewegung entstand in vielen westlichen Ländern auch ein neu-
es Interesse am Marxismus und an einer Analyse dieses Neoimpe-
rialismus.

Neoimperialismustheorien

In den Ländern des Ostblocks war Lenins Imperialismustheorie


nach wie vor die offizielle Doktrin. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde sie zur Theorie vom „staatsmonopolistischen Kapitalismus“
erweitert, der in einem Lehrbuch folgendermaßen definiert wurde:
326 Michael Heinrich
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„In der Vereinigung der Macht der Monopole mit der Macht des impe-
rialistischen Staates zu einem Herrschaftsmechanismus zur Sicherung
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hoher Monopolprofite, zur Rettung der kapitalistischen Ordnung und


zum Kampf gegen die revolutionären Kräfte in der Welt besteht das
Wesen des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ (Richter 1989:
336).11
In diese Theorie eingeschlossen wurde die in der Phase der De-
kolonisierung gewonnene Erkenntnis, dass es zur Ausübung von
politischer und ökonomischer Dominanz nicht des Kolonialstatus
eines Landes bedarf, sondern dass Handelsverträge, Militärpakte,
Kreditvergabe usw. ebenfalls als Mittel der imperialistischen Herr-
schaft dienen können. Wichtige Veränderungen gegenüber dem
ursprünglichen Leninschen Ansatz wurden jedoch eher lautlos und
implizit vorgenommen: Sowohl die Vorstellung eines bald bevor-
stehenden Endes des Imperialismus wie auch diejenige von der
Notwendigkeit immer wieder auftretender imperialistischer Kriege
um die Aufteilung der Welt wurden stillschweigend verabschiedet.
Politisch bildete die Imperialismustheorie die Grundlage des
von der Sowjetunion schon früh angestrebten Bündnisses mit den
kolonialen Völkern der Dritten Welt sowie mit den im Zuge der
Dekolonisierung entstandenen „nationalen Befreiungsbewegun-
gen“, die den Kampf gegen die herrschenden, westlich-kapitalisti-
schen Oligarchien aufnahmen. Nicht nur der Sowjetunion, auch
vielen westlichen Solidaritätsgruppen galt der Nationalismus die-
ser Befreiungsbewegungen als „fortschrittlich“, wendete er sich
doch gegen den Imperialismus der kapitalistischen Länder.
Offener und weniger dogmatisch als in Osteuropa entwickelte
sich die Diskussion imperialismustheoretischer Ansätze im Rah-
men des „westlichen Marxismus“ – so die von Perry Anderson
(1978) eingeführte Bezeichnung für marxistische Ansätze in den
westlichen Ländern jenseits der traditionellen Parteien der Arbei-
terbewegung. Diese größere Offenheit gilt bereits für die trotzkisti-
sche Variante des Marxismus-Leninismus wie sie etwa von Ernest
Mandel (1972) repräsentiert wurde, der versuchte, Lenins Imperia-
lismustheorie mit einer ganzen Reihe weiterer theoretischer Ent-
wicklungen zu kombinieren.

11 Vgl. zu einer grundsätzlichen marxistischen Kritik Wirth 1973.


Imperialismustheorie 327
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Noch relativ nah an Lenins Imperialismustheorie argumentierte


zunächst auch Paul Sweezy. Er erweiterte sie, indem er heraus-
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stellte, dass „der Annexionsdrang der imperialistischen Nationen


keineswegs auf rückständige, nichtindustrialisierte Gebiete be-
schränkt ist“ (Sweezy 1942: 375). Vor allem wurde die neue Rolle
des Staates betont. Dieser habe jetzt nicht nur die Voraussetzungen
für eine erfolgreiche Kapitalverwertung zu schaffen, sondern wer-
de im Zeitalter des Monopolkapitalismus direkt in Anspruch ge-
nommen, um den Absatz und die Verwertung des kapitalistischen
„Surplus“ zu ermöglichen (Baran/Sweezy 1967), was auch eine
Alternative zum Kapitalexport darstelle. Während der alte Impe-
rialismus noch durch eine Konkurrenz rivalisierender imperialisti-
scher Mächte gekennzeichnet war, erschien der Neoimperialismus
als eine gemeinsame Front der imperialistischen Länder, die unter
der Führung der USA der Dritten Welt und dem Ostblock gegen-
über standen. O’Connor (1972: 153) sprach sogar von der „Kon-
solidierung einer internationalen herrschenden Klasse, die sich auf
der Grundlage des Eigentums und der Kontrolle der multinationa-
len Firmen konstituiert hat“.

Dependenztheorie und strukturelle Theorie des Imperialismus

Während die gerade genannten Ansätze ihr Augenmerk eher auf


die entwickelten kapitalistischen Länder legten und den Ursachen
des Neoimperialismus nachspürten, wurden auch zunehmend des-
sen Folgen für die Dritte Welt zum Thema. Dass deren „Unter-
entwicklung“ nicht Resultat interner Probleme, sondern Ergebnis
der „Entwicklung“ der führenden kapitalistischen Länder sei,
wurde im Rahmen verschiedener Ansätze ausgearbeitet. In gewis-
ser Weise wurde damit der von Hobson und Lenin als „Parasitis-
mus“ gefasste Gedanke wieder aufgenommen. Einige Autoren
versuchten, ausgehend von der Marxschen Werttheorie, einen
„ungleichen Tausch“ zwischen Erster und Dritter Welt nachzuwei-
sen (Emanuel 1972; Amin/Palloix 1973; Amin 1975).12 Die durch
Untersuchungen der Situation Lateinamerikas angestoßene „De-
pendenztheorie“ (Frank 1972; Sunkel 1972; Cardoso/Faletto 1976)

12 Eine marxistische Kritik an der These vom „ungleichen Tausch“ lieferte Busch
1973.
328 Michael Heinrich
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betonte, dass die unterentwickelten Länder unter Mitwirkung einer


einheimischen „Kompradorenbourgeoisie“ in einer Weise in den
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Weltmarkt eingebunden würden, die nur an den Interessen der


multinationalen Konzerne und der Wirtschaft der entwickelten
Länder orientiert sei. Die Konzentration auf Rohstoffproduktion
und landwirtschaftliche Monokulturen sowie ein beständiger Ab-
fluss der Profite verhindere eine eigenständige Entwicklung. Nicht
„Modernisierung“ sondern „strukturelle Unterentwicklung“ sei das
Resultat des kapitalistischen Weltmarkts. Ähnliche Überlegungen
lagen auch der Theorie des „Peripheren Kapitalismus“ zugrunde
(Amin 1974). Der „autozentrierten“ Entwicklung der Industrieländer
des Nordens wurde die „abhängige Entwicklung“ des „peripheren
Kapitalismus“ gegenübergestellt, die sich nicht zwangsläufig durch
einen Mangel an Akkumulation auszeichne, sondern durch eine an
den Interessen der entwickelten Länder ausgerichtete „fragmentier-
te“ Akkumulation (vgl. die Beiträge in Senghaas 1974, kritisch dazu:
Elsenhans 1979 und 1987). Die direkte politische Herrschaft spielt
für die dependenztheoretischen Ansätze nur noch eine untergeord-
nete Rolle. Im Unterschied zur marxistisch-leninistischen Tradition,
die das Wirken des Staates unter dem Einfluss der Monopole für die
Herstellung der Abhängigkeiten verantwortlich macht, sind es hier
die strukturellen Wirkungen des Weltmarkts, die einen „imperialisti-
schen“ Zusammenhang herstellen. Entscheidend ist weniger die „di-
rekte“ Gewalt als vielmehr die „strukturelle“ Gewalt der ökono-
mischen Verhältnisse.
Im Anschluss an solche Überlegungen entwickelte Johann
Galtung, der bereits den Begriff der strukturellen Gewalt in die
Sozialwissenschaften eingeführt hatte, eine stark formale „struktu-
relle Theorie des Imperialismus“ (Galtung 1972 und 1980). Er un-
terscheidet zwischen Zentralnationen (entwickelte Länder) und Pe-
ripherienationen (Entwicklungsländer) und innerhalb jedes einzel-
nen Landes nochmals zwischen Zentrum (privilegierte Gruppen)
und Peripherie (unterprivilegierte Gruppen). Unter Imperialismus
versteht Galtung nun nicht jede Machtausübung einer Zentralna-
tion über Peripherienationen, sondern nur solche Formen der Macht-
ausübung, bei denen eine Interessenharmonie zwischen dem Zen-
trum der Zentralnation und dem Zentrum der Peripherienation be-
steht: Das Zentrum der Peripherienation fungiert als „Brücken-
kopf“ des Zentrums der Zentralnation. Es dient als „Transmissions-
Imperialismustheorie 329
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riemen“, um Werte von der Peripherie in die Zentralnation zu


bringen. Das Zentrum der Zentralnation kann auch die eigene Peri-
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pherie an diesem Werttransfer teilhaben lassen, eine Auffassung,


mit der Galtung explizit an Lenins These einer „Bestechung“ der
„Arbeiteraristokratie“ anknüpft. Als Konsequenz sind die Interes-
sengegensätze zwischen Zentrum und Peripherie in der Zentralna-
tion geringer als in der Peripherienation und es besteht ein Interessen-
gegensatz zwischen den Peripherien von Zentralnation und Peripheri-
enation (Galtung 1972: 35ff).
Damit hat Galtung das, was Hobson und Lenin als „Parasitismus“
bezeichneten, in einem formalen Rahmen dargestellt. Darüber hin-
aus skizziert er zwei „Mechanismen des Imperialismus“ und nimmt
damit die von der Dependenztheorie betonte Thematik der „struktu-
rellen Unterentwicklung“ auf. Als „vertikale Interaktionsbeziehung“
bezeichnet er das Verhältnis zwischen Akteuren in Zentrum und Pe-
ripherie: Dabei geht es in ökonomischer Hinsicht nicht allein um die
über ungleichen Tausch vermittelte Ausbeutung, sondern vor allem
um die Auswirkungen auf die Akteure selbst. Werden z.B. an-
spruchsvolle Fertigwaren der Zentralnation gegen Rohstoffe eines
Peripherielandes getauscht, dann wird dies eher die industrielle Ent-
wicklung des Zentrums als der Peripherie fördern. Nicht imperiali-
stisch wäre eine horizontale Interaktionsbeziehung, die aber Produk-
tionsstrukturen auf ähnlich hohen Niveaus voraussetzt. Den zweiten
Mechanismus bezeichnet Galtung als „feudale Interaktionsstruktur“:
Die Peripherieländer sind einseitig auf die Zentralnation ausgerich-
tet, so dass eine Interaktion zwischen den Peripherieländern weitge-
hend ausgeschlossen ist, was die Abhängigkeit von der Zentralnation
weiter verstärkt. Zusammengenommen stellen die „Mechanismen des
Imperialismus“ eine strukturelle Abhängigkeit der Peripherie vom
Zentrum her, so dass der Einsatz direkter Gewalt überflüssig wird:
„Nur der nicht perfekte Imperialismus benötigt Waffen; der profes-
sionale Imperialismus stützt sich eher auf strukturelle als auf direkte
Gewalt“ (Galtung 1972: 55).
Während sowohl die klassischen als auch die Neoimperialis-
mustheorien vom Vorrang der ökonomischen Seite ausgingen, un-
terschied Galtung fünf verschiedene Typen von Imperialismus –
ökonomischen, politischen, militärischen, kulturellen und Kom-
munikationsimperialismus – und betonte, dass keiner dieser Typen
grundlegender sei als der andere. Eine imperialistische Beziehung
330 Michael Heinrich
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könne vermittelt über die oben skizzierten zwei „Mechanismen


des Imperialismus“ von jedem dieser Typen ausgehen, wobei sich
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die unterschiedlichen Typen wechselseitig absichern könnten


(Galtung 1972: 55ff). Als in den 1970er und 1980er der (angebli-
che) „american decline“ breit diskutiert wurde, stützten sich Kriti-
ker dieser These gerade auf solche Aspekte eines erweiterten Im-
perialismusbegriffs (vgl. Russett 1985; Strange 1987).

Vom „Postimperialismus“ zum „Empire“

Die 1990er Jahre brachten für die internationalen Beziehungen ein-


schneidende Veränderungen. Einerseits hatte mit dem Zusammen-
bruch der Sowjetunion der Ost-West Konflikt ein Ende gefunden,
andererseits war schnell deutlich geworden, dass dies keineswegs zu
einer Verminderung internationaler Konflikte führte, wie der zweite
Golfkrieg (1991), der Kosovokrieg, kriegerische Auseinanderset-
zungen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und nicht zuletzt
der Krieg gegen Afghanistan und die Besetzung des Irak 2003 deut-
lich machten. Zugleich deuteten die unter dem Label „Globalisie-
rung“ zusammengefassten Prozesse auf eine erhebliche Modifizie-
rung des ökonomischen und politischen Systems hin, vor allem was
die Rolle und Einflussmöglichkeiten der Nationalstaaten angeht,
wobei aber stark umstritten blieb, wie weit diese Modifikation tat-
sächlich geht (zum Vergleich von Globalisierung und Imperialismus
siehe Kößler 2003).
Einige prominente Themen der Globalisierungsdebatte wurden
auch schon früh in unorthodoxen Varianten der Imperialismusthe-
orie angesprochen. So versuchte Warren (1973 und 1980) im An-
schluss an die Marxschen Untersuchungen zu Indien deutlich zu
machen, dass der Imperialismus keineswegs eine Niedergangspha-
se des Kapitalismus sei, sondern dass er erst zu einer umfassenden
Durchkapitalisierung der Welt führe, die entgegen den depen-
denztheoretischen Auffassungen auch zur Modernisierung der
Dritten Welt beitrage. In eine ähnliche Richtung zielt auch der Post-
imperialismusansatz von Sklar und Becker (Becker et al. 1987;
Becker/Sklar 1999), der bestreitet, dass die kapitalistische Expan-
sion notwendigerweise zu einer imperialistischen Ausbeutung und
Unterentwicklung der Peripherie führen müsse. Als zentrale Ak-
teure werden hier weniger die Staaten als vielmehr die multinatio-
Imperialismustheorie 331
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nalen Konzerne aufgefasst, deren Ausbreitung die Entstehung


transnationaler Klassenformationen begünstige, die durchaus ein
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gemeinsames Interesse an einer kapitalistischen Entwicklung der


Länder der Peripherie hätten. Mit dem Postimperialismus würde
somit auch eine neue „postnationale Ära“ anfangen.
Beeinflusst wurde die imperialismustheoretische Diskussion in
den letzten Jahren auch von den kulturwissenschaftlich ausge-
richteten „postcolonial studies“. Diese „dekonstruierten“ die übli-
chen Unterscheidungen von Zentrum/Peripherie und zivilisiert/un-
zivilisiert: Sie würden weniger objektive Sachverhalte ausdrücken,
als vielmehr die Wahrnehmung von kolonialisierten Völkern, Im-
perialismus usw. strukturieren und unterwerfende Praktiken legi-
timieren. Die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus erfolgte
zwar in erster Linie auf kulturellem Gebiet (Said 1994; Darby
1997; 1998), doch wurde die postkoloniale Kritik am Eurozen-
trismus auch zu einem Thema für Imperialismustheoretiker wie
Samir Amin (1989). Ideologiekritisch wendete sich Amin gegen
den Begriff Globalisierung insofern er die imperialistische Struk-
tur des Weltsystems verdecken würde (Amin 1998). Andre Gun-
der Frank ging in seinen späten Arbeiten noch einen Schritt weiter
und kritisierte zentrale Begriffe der Dependenz- und Imperialis-
mustheorien wie „Entwicklung“, „Kapitalismus“ oder „Depen-
denz“, da sie einer europäisch-westlichen, ethnozentrischen Sicht-
weise verhaftet seien (Frank 1998: 336f). Den Versuch, Fragen
von Globalisierung und Imperialismus aus einer nicht-westlichen
Perspektive zu diskutieren, unternehmen die Beiträge in dem von
Randeria/Eckert (2009) herausgegebenen Sammelband anhand ei-
ner Vielzahl von Fallbeispielen.
In ihrem viel diskutierten Beitrag zur imperialismustheoretischen
Diskussion kombinieren Antonio Negri und Michael Hardt den in
der Globalisierungsdiskussion diagnostizierten Souveränitätsverlust
der Nationalstaaten mit Konzepten zur Analyse von Macht, die auf
Michel Foucault zurückgehen: Das Weltsystem werde nicht mehr
durch die Rivalität imperialistischer Mächte charakterisiert, vielmehr
habe sich ein umfassendes „Empire“ herausgebildet. Dieses sei aber
nicht das Projekt eines einzelnen Staates, sondern ein weltumspan-
nendes Netzwerk (Hardt/Negri 2002: 11). Ausbeutung sei damit kei-
neswegs verschwunden, im Gegenteil, die ganze Gesellschaft sei
jetzt einer „biopolitischen Ordnung“ unterworfen, die Leben im Sin-
332 Michael Heinrich
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ne der kapitalistischen Verwertung reguliere. Der Staat verliere seine


Autonomie, seine Funktionen seien in die Kommandomechanismen
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der transnationalen Konzerne integriert (Hardt/Negri 2002: 319). Es


existiere auch keine bestimmbare Arbeiterklasse mehr, sondern nur
noch die „Multitude“, die Menge. Macht und Ausbeutung setzten
sich nicht durch die Gewalt eines Machthabers durch, sondern ver-
mittels einer strukturellen Logik, der in der „Kontrollgesellschaft“
letztlich alle – national wie international – unterworfen sind. Macht
ist daher unfassbar, doch omnipräsent (Hardt/Negri 2002: 202). An-
gesichts des von den USA ausgerufenen langanhaltenden Krieges
gegen den Terrorismus und den Tendenzen einer verstärkten Kon-
kurrenz zwischen den USA und der EU erscheinen die Thesen von
Negri/Hardt recht fragwürdig (vgl. zur kritischen Auseinandersetzung
u.a. Brand 2002, Hartmann 2002, ten Brink 2008a: 66ff., 166f.; Dunn
2009 und die von Atzert/Müller 2002 und 2004 herausgegebenen
Sammelbände).
Der auf die Anschläge vom 11. September 2001 folgende Krieg
der USA gegen Afghanistan und die Besetzung des Irak gaben den
imperialismustheoretischen Diskussionen einen starken Anstoß. In
einer affirmativen, vor allem in den USA geführten Debatte, wurde
ganz offen die Notwendigkeit eines (US-amerikanischen) Imperiums
für die Aufrechterhaltung der Weltordnung betont, so etwa Michael
Ignatieff (2003). Damit wurde eine Diskussion zugespitzt, die es auf
neokonservativer Seite bereits seit Ende der 1990er Jahre gab (am
bekanntesten wurde der Bericht des „Project for a New American
Century“ 2000). In der deutschen Diskussion wird die Idee vom se-
gensreichen Wirken eines US-amerikanischen Imperiums vor allem
von Münkler (2005) vertreten: unter weitgehender Ausblendung
ökonomischer Strukturen und Interessen wird dies mit einer univer-
salhistorischen „Logik der Weltherrschaft“ begründet.
Andererseits wurden die imperialen Tendenzen der US-ameri-
kanischen Politik aus einer kritischen Perspektive analysiert, die
an imperialismustheoretische Ansätze anknüpft und einen „neuen
Imperialismus“ konstatiert (vgl. einführend in die neueren Debat-
ten Deppe et al. 2004). Dabei heben Panitch/Gindin (2004) gegen
die These vom Bedeutungsverlust des Nationalstaates die nach wie
vor bestehende Wichtigkeit des Staates für die kapitalistische Ent-
wicklung hervor. Sie betonen die fortbestehende Hegemonie der
USA, des „prototypischen Globalstaats“ (Panitch 2002: 80), dem
Imperialismustheorie 333
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es gelinge, die anderen Staaten weitgehend zu integrieren und kom-


men so Kautskys Vorstellung eines „Ultraimperialismus“ recht
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nahe (vgl. zur weiteren Diskussion auch Socialist Register 2004).


Während Panitch/Gindin (2004) von der ungebrochenen Stärke
der US-amerikanischen Vorherrschaft ausgehen, betont Harvey
(2005) eher die vor allem in jüngster Zeit zunehmende Rivalität
der kapitalistischen Zentren sowie die Schwäche der kapitalisti-
schen Entwicklung. Diese habe zu einer imperialistisch abgestütz-
ten „Akkumulation durch Enteignung“ geführt, womit der staatlich
vermittelte Zugriff auf Ressourcen (Öl beim Irakkrieg), für das
Kapital vorteilhafte Privatisierungen und Entrechtungen der loka-
len Bevölkerung gemeint sind. Diese brächten die Mechanismen
der vorkapitalistischen, auf unmittelbaren Gewaltverhältnissen be-
ruhenden „ursprünglichen Akkumulation“ (Marx 1867: 741ff) er-
neut hervor (vgl. dazu auch die Beiträge in Zeller 2004). Die Be-
deutung der imperialistischen Staatenkonkurrenz wird auch von
Callinicos (2007, 2009) und in der breit angelegten Studie von ten
Brink (2008a) betont, wobei vor allem letzterer herausstellt, dass
es für diese Staatenkonkurrenz kein allgemeingültiges Konflikt-
muster gibt: Charakter und Verlauf der Staatenkonkurrenz sowie
die davon hervorgebrachten Politikmuster hingen vielmehr von
den historisch zu unterscheidenden „Weltordnungsphasen“ ab.

4. Kritik am imperialismustheoretischen Ansatz


Im Folgenden werden Kritiken präsentiert, die sich auf grundle-
gende Bestandteile vor allem der klassischen, ökonomischen Im-
perialismustheorien beziehen. Dabei kann man „externe“ Kritik,
die bereits die Grundannahmen des ökonomisch-strukturalisti-
schen Paradigmas bestreitet, von eher „interner“ Kritik unterschei-
den, die zwar innerhalb dieses Paradigmas verbleibt, aber trotzdem
fundamentale Defizite der Imperialismustheorien feststellt.
Die externen Kritiker bestreiten in der Regel die überwiegende
Erklärungskraft ökonomischer Faktoren für die imperialistische
Politik. Joseph Schumpeter kritisierte den imperialismustheoreti-
schen Ansatz von Hobson und Lenin aus einer universalhistori-
schen Perspektive. Unter Imperialismus versteht Schumpeter „die
334 Michael Heinrich
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objektlose Disposition eines Staates zu gewaltsamer Expansion


ohne angebbare Grenze“ (Schumpeter 1919: 74). Für das imperia-
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listische Expansionsstreben machte er nicht konkrete wirtschaftli-


che Interessen verantwortlich, sondern die psychische Disposition
aristokratischer Herrenschichten, die diese im Laufe der geschicht-
lichen Entwicklung ausgebildet hätten. Daher sei die Expansions-
tendenz auch keinem rationalen Ziel geschuldet, sondern „objekt-
los“ – irrational, einer triebhaften Neigung zur Eroberung ent-
springend. So verstanden ist Imperialismus dann nicht das „höchs-
te“ Stadium des Kapitalismus wie bei Lenin, sondern ein histori-
sches Überbleibsel, ein „Atavismus“ (Schumpeter 1919: 119).
Monopolistische Praktiken, die zu imperialistischer Politik verfüh-
ren können, seien Reste vorkapitalistischer Verhältnisse. Für den
voll entwickelten Konkurrenzkapitalismus sei eine gewaltsame Ex-
pansion ein Fremdkörper, der mit der weiteren Entwicklung des
Kapitalismus immer weiter verschwinden werde.
Differenzierter argumentierte David Landes (1976). Er bezwei-
felte zwar nicht den Einfluss ökonomischer Interessen, allerdings
hebt er hervor, dass diese immer eine Rolle spielen würden, nicht
nur bei imperialistischer Politik. Daher käme ihnen keineswegs die
große Erklärungsrelevanz zu, die sie in den ökonomischen Impe-
rialismustheorien besitzen. Die Entstehung von Imperialismus
werde vielmehr immer dann begünstigt, wenn ein Machtungleich-
gewicht vorliege. Unter Macht versteht Landes allerdings nicht nur
staatliche Macht, sondern die Gesamtheit politischer, ökonomi-
scher, technologischer und kultureller Machtmittel, so dass nicht
nur die gewaltsame Expansion, sondern auch die Durchsetzung
von „Einfluss“ als imperialistische Ausnutzung eines Machtun-
gleichgewichtes verstanden werden kann.
Mit dem in den 1960er Jahren wiedererwachten Interesse am
Marxismus entstanden nicht nur Neoimperialismustheorien, die
mehr oder weniger stark an Vorstellungen von Hobson und Lenin
anknüpften, sondern in den westlichen Ländern wurde auch die bis
dato übliche Identifikation des Marxismus-Leninismus mit dem
Marxismus schlechthin in Frage gestellt. Gemessen am unabge-
schlossenen Unternehmen der Marxschen Kritik der politischen
Ökonomie, welche die spezifisch gesellschaftlichen Formbestim-
mungen der kapitalistischen Ökonomie und die daraus resultieren-
den Fetischisierungen betonte, denen sowohl Arbeiter wie Kapita-
Imperialismustheorie 335
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listen unterliegen, erschien der Marxismus-Leninismus als dog-


matisches Konstrukt,13 das die Kapitalismusanalyse auf eine So-
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ziologie der Herrschaft und Ausbeutung reduzierte (also auf das,


was der Kapitalismus mit vorkapitalistischen Gesellschaften ge-
meinsam hat). Während Marx die unpersönliche, sich „hinter dem
Rücken“ der Akteure vollziehende Herrschaft des Wertgesetzes
herausstellte, wurde im Marxismus-Leninismus die bewusste Herr-
schaft von Kapitalfraktionen und einer mit ihnen verbundenen po-
litischen Elite betont. Diese Differenzen führten zu der im Folgen-
den kurz skizzierten marxistischen Kritik an der klassischen Impe-
rialismustheorie.14
Bereits die Vorstellung eines historischen Phasenwechsels, des
Übergangs vom „Konkurrenzkapitalismus“ zum „Monopolkapita-
lismus“, wurde kritisiert. Sowohl Hobson als auch Lenin unter-
stellten, dass mit zunehmender Größe vieler Unternehmungen und
der Tatsache, dass in vielen Branchen einige wenige Unternehmen
große Teile der Produktion auf sich konzentrierten, eine grundle-
gende Veränderung der ökonomischen Struktur einher gehen wür-
de: Die Ökonomie werde nicht mehr über das anonym wirkende
„Wertgesetz“ gesteuert, sondern durch die Herrschaft der Mono-
pole; ihrer „Willkür“ (Lenin 1917: 210) sei nun die Gesellschaft
ausgeliefert. Hatte Marx den Kapitalismus gerade dadurch von
vorkapitalistischen Formationen unterschieden, dass der „stumme
Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx 1867: 765) die
persönliche Herrschaft in der Ökonomie abgelöst habe, sieht Lenin
diese persönliche Herrschaft vermittels der Monopole erneut am
Werk.15

13 Vgl. Heinrich 2006, Elbe 2008 und Hoff 2009 zu dem neuen, dem traditionellen
Marxismus entgegen stehenden Marxismusverständnis, das sich seit den 1970er
Jahren nicht nur in (West-)Deutschland durchsetzte.
14 Vgl. dazu u.a. Neusüss 1972: Teil I; Jordan 1974; Held/Ebel 1983: 48-65. Diese
Kritik, dass die klassischen Imperialismustheorien trotz ihres marxistischen Voka-
bulars gerade nicht auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie aufbauen, sondern
mit dieser brechen, wird von Milios/Sotiropoulos 2009 systematisch aufgenommen
und für eine Analyse internationaler Abhängigkeits- und Herrschaftsbeziehungen
fruchtbar gemacht.
15 So spricht Lenin nicht nur vom „Druck der wenigen Monopolinhaber auf die
übrige Bevölkerung“ (Lenin 1917: 209f), sondern betont: „Das Herrschaftsver-
hältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die ‚jüngste
Entwicklung des Kapitalismus‘, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger
336 Michael Heinrich
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Unter dieser Voraussetzung erscheint es auch plausibel, dass


die Monopole bzw. die „Finanzoligarchie“ ihre Interessen unmit-
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telbar über die Benutzung des Staates durchsetzen. Marx und En-
gels fassten den Staat hingegen als „ideellen“ Gesamtkapitalisten
auf: Der Staat müsse dafür Sorge tragen, dass die allgemeinen Be-
dingungen und Voraussetzungen der Kapitalverwertung gewähr-
leistet seien, und gerade deshalb müsse er (zumindest im Prinzip)
unabhängig von den besonderen Interessen der einzelnen Kapitalis-
ten sein. Dagegen reduzierte Lenin (darin eher Hobson als Marx
und Engels folgend) den Staat auf ein bloßes Instrument in der
Hand der Monopolisten und Bankiers und eliminierte damit im
Grunde genommen eine Theorie des Politischen aus dem Marxis-
mus.
Stattdessen wurde eine Kritik mit moralisierendem Unterton
eingeführt, indem Lenin im Anschluss an Hobson auf den „Parasi-
tismus“ des Imperialismus pochte. Dass die Kapitalisten die Arbei-
terklasse fremder Länder ausbeuten und nicht nur die des eigenen
Landes, gilt Hobson wie Lenin als besonderer Skandal. Für Hob-
son ist dies noch nachvollziehbar, da er keine grundsätzliche Kri-
tik am Kapitalismus liefert, sondern dessen Fehlentwicklungen re-
formerisch korrigieren will und insofern immer eine Vorstellung
von einem „gesunden“ oder normalen Funktionieren des Kapita-
lismus unterstellen muss (in seinem Fall eine autonome, nationale
Entwicklung, die nicht auf internationalen Profittransfer angewie-
sen ist). Im Rahmen von Lenins grundsätzlicher Kapitalismuskri-
tik bleibt es aber unklar, warum die Ausbeutung fremder Länder
schlimmer sein soll als die der einheimischen Arbeiterklasse.
Die klassischen Imperialismustheorien erscheinen für die mar-
xistische Kritik gerade in ihrer spezifischen ökonomischen Grund-
lage äußerst fragwürdig: Weder lässt sich trotz aller Konzentra-
tionstendenzen von einem Übergang vom Konkurrenz- zum Mo-
nopolkapitalismus ausgehen, noch sind Verwertungsprobleme in-
nerhalb von Metropolen der Hauptgrund des Kapitalexports: Der
größte Teil des Kapitalexports geht nicht aus den kapitalistischen
Metropolen in eine imperialistisch beherrschte Peripherie, sondern
in andere Metropolen.

wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegan-


gen ist“ (Lenin 1917: 211).
Imperialismustheorie 337
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Mit der Globalisierungsdebatte hat zwar einerseits das struktu-


ralistische Paradigma in der Lehre von den internationalen Bezie-
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hungen an Plausibilität gewonnen und in vielen „globalisierungs-


kritischen“ Ansätzen spielen auch Argumentationsfiguren eine
Rolle, die Analogien zu Elementen der klassischen Imperialismus-
theorien aufweisen (vgl. etwa bezüglich der Dominanz der Finanz-
märkte den Beitrag zu Susan Strange von Hans-Jürgen Bieling in
diesem Band), doch ist andererseits der verkürzte Politik- und
Staatsbegriff der Imperialismus- wie auch der Neoimperialismus-
theorien unübersehbar: Die Reduktion der internationalen Aktio-
nen der Staaten auf die Exekution der Interessen großer Konzerne
greift prinzipiell zu kurz, auch wenn sich ein derartiges Verhalten
von Regierungen in vielen Einzelfällen belegen lässt.16
Ein Staat, in dessen Staatsgebiet eine kapitalistische Wirtschaft
existiert, muss – noch ohne jede Einflussnahme einzelner Kapitalis-
ten – am Prosperieren dieses Kapitalismus interessiert sein, da die-
ser auch für ihn die ökonomische Grundlage bildet. Diese Prospe-
rität fördert der Staat aber nicht, indem er einzelne, sondern indem
er „allgemeine“ Kapitalinteressen durchsetzt bzw. erst einmal er-
möglicht, solche allgemeinen Interessen zu definieren. Denn es ist
eben nicht von vornherein klar, wie viel Sozialstaat oder wie viel
internationale Einflussnahme tatsächlich notwendig ist, um eine
erfolgreiche Akkumulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals
zu gewährleisten. Gerade die „Autonomie“ des Staates, die in den
klassischen Imperialismustheorien negiert wird, ermöglicht es,
diese „allgemeinen“ Kapitalinteressen innerhalb der „Öffentlich-
keit“ und der politischen Institutionen überhaupt zu ermitteln, nor-
mativ zu rechtfertigen und schließlich einen möglichst großen ge-
sellschaftlichen Konsens herzustellen. Auf internationaler Ebene
geht es für die Staaten dann nicht allein um die Durchsetzung
konkreter Interessen, sondern stets auch darum, sich überhaupt
Handlungsoptionen zu sichern, sei es durch „Machtpolitik“ oder
durch institutionelle Strategien, durch unilaterales oder multilate-

16 Dieses ökonomistisch verkürzte Staatsverständnis wird auch in den neueren


Beiträgen zur Imperialismusdebatte bei Harvey (2005) und vor allem bei Pa-
nitch/Gindin (2004) kritisiert.
338 Michael Heinrich
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rales Vorgehen – je nach ihren höchst ungleichen ökonomischen,


politischen und militärischen Voraussetzungen.17
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Literaturverzeichnis

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17 Vgl. einführend zum Verhältnis von Staat, Kapital und Weltmarkt Heinrich
2004, Kapitel 11.
Imperialismustheorie 339
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Weltsystemtheorie
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Andreas Nölke

1. Einleitung
Die Weltsystemtheorie ist eine Theorie der internationalen Bezie-
hungen, deren Ursprünge im Marxismus liegen. Ihr zentrales Ar-
gument lautet, dass die heutige Welt nur im Kontext der Entwick-
lung des globalen Kapitalismus verstanden werden kann. Gerade
im Kontext von Globalisierung und Finanzkrise kommt dieser
Theorie eine unverändert hohe Relevanz zu: Viele Globalisie-
rungsphänomene sehen aus der Perspektive dieser Theorie wie
moderne Ausprägungen jahrhundertealter Entwicklungen aus,
gleiches gilt für die Entwicklung globaler Wirtschaftskrisen. Ver-
glichen mit Ansätzen wie der Interdependenzanalyse oder dem
Neorealismus bietet die Weltsystemtheorie jedoch eine eher unge-
wöhnliche Perspektive auf die internationale Politik. Während die
konventionellen Ansätze relativ viele Parallelen zu der üblichen
Berichterstattung in den Medien aufweisen, eröffnet die Weltsys-
temtheorie eine Perspektive, die tiefer liegende, weniger offen-
sichtliche Entwicklungen in den Vordergrund rückt. Zudem ist die
von der Weltsystemtheorie favorisierte Sichtweise für viele Be-
trachter (insbesondere in den westlichen Industrieländern) sehr un-
bequem, indem sie darauf hinweist, dass eine der wichtigsten Funk-
tionen des gegenwärtigen Weltsystems darin besteht, den Wohl-
stand der Reichen und Mächtigen auf Kosten der Armen und
Schwachen zu sichern (Hobden/Jones 1997: 125f).
Die Wurzeln der Weltsystemtheorie im Marxismus sind nicht
zu übersehen. Allerdings hat Marx selbst sich in seiner Theorie –
im Gegensatz zu seinen journalistischen Arbeiten – kaum mit in-
ternationaler Politik beschäftigt. Die erste systematische Anwen-
dung marxistischer Konzepte auf die internationale Politik wurde
von Imperialismustheoretikern wie Hobson (allerdings kein Mar-
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Weltsystemtheorie
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Andreas Nölke

1. Einleitung
Die Weltsystemtheorie ist eine Theorie der internationalen Bezie-
hungen, deren Ursprünge im Marxismus liegen. Ihr zentrales Ar-
gument lautet, dass die heutige Welt nur im Kontext der Entwick-
lung des globalen Kapitalismus verstanden werden kann. Gerade
im Kontext von Globalisierung und Finanzkrise kommt dieser
Theorie eine unverändert hohe Relevanz zu: Viele Globalisie-
rungsphänomene sehen aus der Perspektive dieser Theorie wie
moderne Ausprägungen jahrhundertealter Entwicklungen aus,
gleiches gilt für die Entwicklung globaler Wirtschaftskrisen. Ver-
glichen mit Ansätzen wie der Interdependenzanalyse oder dem
Neorealismus bietet die Weltsystemtheorie jedoch eine eher unge-
wöhnliche Perspektive auf die internationale Politik. Während die
konventionellen Ansätze relativ viele Parallelen zu der üblichen
Berichterstattung in den Medien aufweisen, eröffnet die Weltsys-
temtheorie eine Perspektive, die tiefer liegende, weniger offen-
sichtliche Entwicklungen in den Vordergrund rückt. Zudem ist die
von der Weltsystemtheorie favorisierte Sichtweise für viele Be-
trachter (insbesondere in den westlichen Industrieländern) sehr un-
bequem, indem sie darauf hinweist, dass eine der wichtigsten Funk-
tionen des gegenwärtigen Weltsystems darin besteht, den Wohl-
stand der Reichen und Mächtigen auf Kosten der Armen und
Schwachen zu sichern (Hobden/Jones 1997: 125f).
Die Wurzeln der Weltsystemtheorie im Marxismus sind nicht
zu übersehen. Allerdings hat Marx selbst sich in seiner Theorie –
im Gegensatz zu seinen journalistischen Arbeiten – kaum mit in-
ternationaler Politik beschäftigt. Die erste systematische Anwen-
dung marxistischer Konzepte auf die internationale Politik wurde
von Imperialismustheoretikern wie Hobson (allerdings kein Mar-
344 Andreas Nölke
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xist), Luxemburg und Lenin vorgenommen (vgl. den Beitrag von


Michael Heinrich in diesem Band). Die Weltsystemtheorie knüpft
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hier vor allem an eine Weiterentwicklung der Marx’schen Theorie


durch Lenin an (vgl. Shannon 1996: 12f; Hobden/Jones 1997:
127). Lenin argumentiert, dass sich die Natur des Kapitalismus seit
der Publikation des Kapital im Jahr 1867 verändert habe und dabei
der internationale Kontext zunehmend wichtiger werde. Marx nahm
noch einen von geographischer Lage unabhängigen einfachen An-
tagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie an, in dem es
keinen Interessengegensatz zwischen Arbeitern in verschiedenen
Ländern gibt. Lenin hingegen argumentiert, dass der Kapitalismus
eine hierarchische Struktur in der Weltökonomie erzeugt hat, bei
der ein dominantes Zentrum eine weniger entwickelte Peripherie
ausbeutet. Damit entfallen jedoch die Annahmen eines einfachen
Interessengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit sowie einer
Interessenharmonie zwischen den Arbeitern verschiedener Länder.
Nun ist es der Bourgeoisie des Zentrums möglich, die Arbeiter des
Zentrums auf der Grundlage der Ausbeutung der Peripherie besser
zu stellen, sie quasi aus einem internationalen Proletariatsbündnis
‚herauszukaufen‘. Diese grob vereinfachte Darstellung der Lenin-
schen Imperialismustheorie verdeutlicht bereits einige Grundprin-
zipien der darauf aufbauenden Weltsystemtheorie: Jede Politik,
national wie international, kann nur im Zusammenhang mit dem
kapitalistischen Weltsystem verstanden werden. Staaten sind nicht
die einzigen relevanten Akteure in der internationalen Politik,
sondern soziale Klassen sind die eigentlichen Antriebskräfte. Die
Einbettung in die Struktur des kapitalistischen Weltsystems deter-
miniert das Verhalten und die Interaktionen einzelner Klassen und
Staaten (Hobden/Jones 1997: 127) – ähnlich wie im strukturellen
Realismus die Einbindung von Staaten in die Machtverteilung im
internationalen System deren Verhalten determiniert (vgl. den Bei-
trag von Niklas Schörnig in diesem Band).
Marxistische Analysen der internationalen Politik waren in den
ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst we-
nig populär. Der lange Nachkriegsboom sowie der Dekolonialisie-
rungsprozess ließen die Ausbeutung der Peripherie durch das ka-
pitalistische Weltsystem weniger zwingend erscheinen. Der Kalte
Krieg stellte nicht nur marxistisches Ideengut pauschal unter Kol-
laborationsverdacht, sondern führte auch dazu, dass ökonomische
Weltsystemtheorie 345
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Fragen gegenüber militärischen weniger relevant erschienen. Die-


se Situation änderte sich erst gegen Ende der 1960er bzw. zu Be-
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ginn der 1970er Jahre, als der Zusammenbruch des Bretton Woods-
Systems, die Ölkrisen und die darauf folgenden Rezessionen einer-
seits sowie der Entspannungsprozess andererseits ein zeithistorisch
günstigeres Klima für kapitalismuskritische Analysen schufen (Hob-
den/Jones 1997: 128). In diesem Kontext entstanden eine Reihe
marxistisch inspirierter Analysen der Auswirkungen des globalen
Kapitalismus auf die Nord-Süd-Beziehungen, die häufig unter der
Bezeichnung Dependenztheorie zusammengefasst werden. We-
sentliche Vorarbeiten stammen von Raúl Prebisch, dem ersten Exe-
kutivdirektor der United Nations Economic Commission for Latin
America (ECLA), der das – theoretisch und statistisch umstrittene
– Argument einer zunehmenden Verschlechterung der internatio-
nalen Austauschverhältnisse zu Lasten der Entwicklungsländer
entwickelte. Danach können die Entwicklungsländer auf Grund der
Preisentwicklung in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen
für die von ihnen exportierten Primärgüter immer weniger verar-
beitete Güter aus den Industrieländern importieren. Aufbauend auf
diesen Überlegungen entwickelten andere Autoren dann umfas-
sendere Theorien über Nord-Süd-Abhängigkeitsverhältnisse, in po-
lemischen, aber dafür sehr populären (Andre Gunder Frank) oder
aber sehr differenzierten Versionen (Enzo Faletto mit Henrique
Fernando Cardoso, dem späteren Präsidenten Brasiliens). Im Ge-
gensatz zu den meisten früheren Imperialismustheorien ging es
den Dependenztheoretikern allerdings weniger um eine Erklärung
der Gründe der kapitalistischen Expansion (in Europa), sondern
um die Auswirkungen dieser Expansion auf die dominierten Län-
der (Boeckh 1985: 58). Widerpart der Dependenztheorien waren
Modernisierungstheorien, die traditionelle ökonomische, politische
und soziale Strukturen – und nicht exogene Einflüsse – für die fort-
dauernde Unterentwicklung in den Ländern des Südens verant-
wortlich machten (vgl. Shannon 1996: 2-8).
Eine bedeutende theoretische Entwicklung war in diesem Zu-
sammenhang die umfassende Formulierung der Weltsystemtheorie
in einem zusammenhängenden Theoriegebäude durch Immanuel
Wallerstein. Im Gegensatz zu den Dependenztheoretikern be-
schränkt Wallerstein sich nicht auf die Analyse der aktuellen Aus-
tauschbeziehungen zwischen einer begrenzten Gruppe von Staaten
346 Andreas Nölke
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(sowie ggf. noch ihrer kolonialen Vorprägung), sondern entwi-


ckelt seine Theorie für einen geographisch breiteren und zeitlich
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längerfristigen Rahmen, wobei er sowohl – wie die Imperialismus-


theoretiker – die Ursachen der kapitalistischen Expansion erklärt,
als auch – wie die Dependenztheoretiker – ihre Folgen. Neben mar-
xistischen bzw. dependenztheoretischen Einflüssen greift Waller-
stein dabei vor allem auf Vorarbeiten durch die Annales-Schule
zurück.1 Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Ein-
fluss, den der Annales-Historiker Fernand Braudel mit seiner Be-
tonung langfristiger historischer Einflüsse – bis hin zu den Aus-
wirkungen globaler Klimaveränderungen auf die „longue durée“ –
auf Wallerstein ausübt (Hobden/Jones 1997: 128f).2
Im Zentrum von Wallersteins Arbeit steht seine dreibändige
Geschichte des modernen Weltsystems (Wallerstein 1974, 1980,
1989). Auch wenn Wallersteins eigene Theorieentwicklung bis
heute noch nicht abgeschlossen ist (vgl. Wallerstein 2000) und in-
zwischen von einem breiten Forschungsprogramm anderer Auto-
ren ergänzt wird (u.a. Samir Amin, Giovanni Arrighi und Andre
Gunder Frank), stellt diese eindrucksvolle Trias doch nach wie vor
ein intellektuelles Zentrum der Weltsystemtheorie dar, so wie sie
nachfolgend in ihren Grundzügen beschrieben wird.

2. Die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein

2.1 Was ist ein Weltsystem?

Zentral für das Verständnis von Wallersteins Arbeit ist das Kon-
zept des Weltsystems. Wallerstein geht davon aus, dass das Welt-
system die angemessene Analyseeinheit für das Studium verschie-

1 Die Annales-Schule ist nach ihrem wichtigsten Publikationsorgan „Annales


d’histoire économique et sociale“ benannt. Sie hebt sich von der traditionellen
Geschichtsschreibung dahingehend ab, dass sie an Stelle der detaillierten Be-
schreibung politischer Ereignisse und Persönlichkeiten ihren Schwerpunkt auf
längerfristige sozioökonomische Entwicklungen legt.
2 Das Konzept der „longue durée“ beschreibt den Einfluss von Umweltverände-
rungen auf die menschliche Entwicklung, im Gegensatz zur mittelfristigen Wir-
kung sozialer Strukturen (z.B. Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus) und dem
kurzfristigen Fokus der konventionellen Geschichtsschreibung.
Weltsystemtheorie 347
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denster sozialer Phänomene darstellt (Wallerstein 2000: 149) –


nicht nur der internationalen Politik. Ein System wird dabei durch
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zwei wesentliche Merkmale definiert (vgl. Hobden/Jones 1997:


130f): Zunächst sind alle Elemente eines Systems miteinander in
einer dynamischen Beziehung verbunden. Wenn man das Verhal-
ten eines Elementes verstehen will, muss man seine Position im
Gesamtsystem verstehen. Diese Annahme kann man zunächst
räumlich verstehen. Das Verhalten eines Staates z.B. ist nur im
Zusammenhang mit seiner Stellung im zwischenstaatlichen Sys-
tem zu analysieren. Ein System besteht darüber hinaus nicht nur
aus rein politischen oder nur ökonomischen oder nur sozio-kultu-
rellen Phänomenen. Im Gegenteil, Wallersteins holistische Per-
spektive verlangt nach einer Einbeziehung der vielfältigen Interde-
pendenzen zwischen diesen Phänomenen. Wallerstein verficht da-
her einen ausgesprochen transdisziplinären Ansatz – unter Rück-
griff auf Soziologie (seiner Heimatdisziplin), Politikwissenschaft,
Ökonomie, Geschichtswissenschaft etc. – und argumentiert konsis-
tent für die Notwendigkeit einer „Wiedervereinigung“ der Sozial-
wissenschaften (Wallerstein et al. 1996). Das zweite Merkmal be-
steht darin, dass ein System mehr oder weniger selbstgenügsam,
also von der Außenwelt unabhängig ist. Wenn also Veränderungen
in einem System erklärt werden sollen, muss der Fokus dieser Er-
klärung nicht auf externen Schocks, sondern auf internen System-
dynamiken liegen. Das Präfix „Welt“ bedeutet nun nicht etwa,
dass jedes einzelne System notwendigerweise den gesamten Glo-
bus umfasst, sondern lediglich, dass es sich dabei um unterscheid-
bare, in sich kohärente Bereiche handelt (Hall 2000: 4). So be-
trachtet Wallerstein das Römische Reich als ein Weltsystem, ob-
wohl es nicht die gesamte Welt umspannte. Weltsysteme sind also
bestimmte geographisch definierbare Räume, die von einer ein-
heitlichen Logik ‚regiert‘ werden. Es gehört allerdings zu den neu-
artigen Aspekten des modernen Weltsystems, dass es den gesamten
Globus umspannt (vgl. Abschnitt 2.2).
Wallerstein unterscheidet im Wesentlichen zwei Typen von Welt-
systemen: „Weltreiche“ und „Weltökonomien“ (ein dritter Typ,
„Minisysteme“, wird von ihm kaum analysiert). Der wesentliche
Unterschied zwischen diesen beiden Typen liegt in der Art und
Weise, wie Entscheidungen über die Ressourcenverteilung getrof-
fen werden. In einem Weltreich nutzt ein zentralisiertes politisches
348 Andreas Nölke
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System seine Macht dazu, Ressourcen aus der Peripherie in das


Zentrum umzuverteilen, etwa in Form von Tributzahlungen. In ei-
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ner Weltökonomie findet sich dagegen kein einzelnes Zentrum po-


litischer Macht, sondern eine Reihe miteinander konkurrierender
Machtzentren. Die Ressourcenumverteilung – von der Peripherie
zum Zentrum – findet daher weniger mittels politischer Entschei-
dungen statt, sondern im Rahmen des transnationalen Marktme-
chanismus. Das moderne Weltsystem ist ein Beispiel einer Welt-
ökonomie. Diese spezielle Weltökonomie ist laut Wallerstein in
Europa im „langen“ 16. Jahrhundert (ca. 1450-1620) entstanden
und hat sich danach rund um den Globus verbreitet. Die zentrale
Dynamik dieser speziellen Weltökonomie ist ihr kapitalistischer
Charakter – im Sinne einer endlosen Akkumulation von Kapital
durch eine ausgeprägte weltweite Arbeitsteilung zugunsten des
Zentrums, bei der insbesondere die Arbeiter der Peripherie durch
die mit dem „ungleichen Tausch“ (Arghiri Emmanuel) verbundene
Unterbezahlung systematisch ausgebeutet werden (vgl. Shannon
1996: 34-36). Dabei bleiben die einzelnen Elemente innerhalb die-
ses Weltsystems nicht konstant, sondern werden durch die Dyna-
mik der kapitalistischen Akkumulation permanent verändert, egal
ob es ökonomische Institutionen wie Unternehmensverfassungen
sind oder aber soziale und politische Institutionen wie Staatsfor-
men und die Organisation von Haushalten (vgl. zu letzteren Wal-
lerstein 2000: 234-252). Wie andere Weltsysteme ist auch das mo-
derne kapitalistische Weltsystem zeitlich begrenzt: Es hatte einen
Anfang und es wird ein Ende haben, nach Wallersteins Einschät-
zung in nicht allzu ferner Zukunft (Wallerstein 1979: 66f).

2.2 Die räumliche und zeitliche Bestimmung des


modernen Weltsystems

Die räumliche Dimension des modernen Weltsystems bezieht sich


auf die unterschiedlichen Rollen, die Regionen in der kapitalisti-
schen Weltökonomie spielen. Hier differiert Wallersteins Perspek-
tive von den konventionellen dependenztheoretischen Zentrum-
Peripherie-Modellen in der Nachfolge von Lenin. Zunächst geht
auch Wallerstein davon aus, dass im Zentrum solche Produktions-
prozesse stattfinden, die anspruchsvollere Fähigkeiten und einen
Weltsystemtheorie 349
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höheren Kapitaleinsatz erfordern, während die Peripherie als Roh-


stofflieferant und zur besonders rücksichtslosen Abschöpfung von
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Mehrwert dient. Wallerstein führt nun jedoch in Form der dazwi-


schen liegenden „Semiperipherie“ eine weitere Kategorie ein. Die-
se Semiperipherie vereinigt einige der charakteristischen Kennzei-
chen von Zentrum und Peripherie. Obwohl sie vom Zentrum aus-
gebeutet wird, verfügt sie doch gleichzeitig in einigen Branchen
der verarbeitenden Industrie über erfolgreiche Unternehmen. Zu
ihren wichtigsten Funktionen im kapitalistischen Weltsystem ge-
hört einerseits Arbeitskräfte bereitzustellen, die Lohnerhöhungen
im Zentrum auf Grund einer Verknappung von Arbeit begrenzen,
und andererseits jene Industrien zu beherbergen, die im Zentrum
nicht mehr profitabel genug sind, wie zum Beispiel die Textilpro-
duktion. Auch die Semiperipherie reiht sich in die Kernlogik des
kapitalistischen Weltsystems ein, bei der jeweils die stärkere Re-
gion die schwächere ausbeutet (Hobden/Jones 1997: 131; vgl.
auch Abschnitt 2.4). Im Gegensatz zu den Dependenztheoretikern
geht Wallerstein allerdings davon aus, dass eine gewisse Mobilität
zwischen diesen ökonomischen Regionen möglich ist (vgl. Shan-
non 1996: 146-149). Nicht möglich hingegen ist für ihn – wiederum
im Gegensatz zu den Dependenztheoretikern – eine Abschottung der
Semiperipherie vom Zentrum. Für Wallerstein kann der Kapitalis-
mus nur als Ganzes überwunden werden (Hobden 1998: 144).
Wallersteins Analyse des modernen Weltsystems erschöpft sich
jedoch nicht in dieser relativ statischen räumlichen Differenzie-
rung. Verständlich wird die Funktionsweise dieses Systems erst,
wenn man dessen zeitliche Dynamik hinzuzieht (vgl. Hobden/
Jones 1997: 132-134; Wallerstein 2000: 207-220). Dabei differen-
ziert Wallerstein vier Prozesstypen im modernen Weltsystem:
(1) Zyklische Rhythmen bezeichnen die Tendenz der kapitalisti-
schen Weltwirtschaft, regelmäßig Phasen von massiven Wachstums-
und Rezessionsschüben zu unterliegen, wie sie beispielsweise der
russische Ökonom Nikolai D. Kondratieff beschrieben hat (ein Kon-
dratieff-Zyklus umfasst 40-60 Jahre). Ökonomisch determiniert sind
auch die politischen Hegemoniezyklen im Zentrum (vgl. Abschnitt
2.4).
(2) Mit säkularen Trends bezeichnet er die langfristige Ent-
wicklung dieses Weltsystems, wie z.B. Expansion, Kommodifizie-
rung, Urbanisierung (vgl. Abschnitt 2.6).
350 Andreas Nölke
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(3) Widersprüche sind für Wallerstein ein zentrales Bewegungs-


gesetz der modernen Weltökonomie. Er definiert sie als Umstände,
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bei denen das kurzfristig und das mittelfristig rationale Handeln der
Akteure auseinanderfallen. Der berühmteste Widerspruch besteht in
der Tendenz des kapitalistischen Weltsystems zur Unterkonsump-
tion: Während es kurzfristig im Interesse der Kapitalisten liegt, Löh-
ne zu beschränken, führt diese Lohnbeschränkung langfristig zu
einem Kaufkraftausfall und damit zu einer Minderung der Profite.
(4) Krisen sind bei Wallerstein – im Gegensatz zum gängigen
Sprachgebrauch – einmalige Ereignisse in der Geschichte jedes
Weltsystems und führen zu dessen Ablösung durch ein anderes Sys-
tem. Sie ergeben sich aus einer ungünstigen Kombination der üb-
rigen drei Dynamiken und schwächen im Gegenzug die systemi-
schen Restriktionen auf das Handeln der Akteure, so dass ein Aus-
bruch aus diesen Zwängen möglich wird (vgl. Abschnitt 2.6).

2.3 Die Rolle des Staates und der internationalen Politik


im modernen Weltsystem

Die Weltsystemtheorie ist jedoch nicht nur eine Theorie der glo-
balen wirtschaftlichen Entwicklung, sie ist auch eine Theorie der
internationalen Politik (wobei viele, v.a. marxistische Beobachter
der Weltpolitik, ohnehin die Untrennbarkeit von Politik und Öko-
nomie und den eminent politischen Charakter wirtschaftlicher Ent-
wicklungs- und Verteilungsprozesse betonen würden). Im Vorder-
grund von Wallersteins Annahmen über die Rolle der Politik im
kapitalistischen Weltsystem steht die Stabilisierung des Systems
durch die Form der politischen Organisation. Für Wallerstein ist
die Stabilität dieses Systems in den vergangenen 500 Jahren be-
merkenswert, trotz aller innerer Widersprüche, trotz aller Kriege,
Hungersnöte etc. Ein wichtiger Schlüssel zu dessen Stabilität liegt
für Wallerstein in der Rolle des souveränen Staates sowie des zwi-
schenstaatlichen internationalen Systems (vgl. zum Folgenden Hob-
den/Jones 1997: 134-140).
Staaten haben in doppelter Weise eine essenzielle Rolle für die
Funktionsweise der kapitalistischen Weltökonomie. Zunächst bie-
ten sie einen Rahmen für die Wahrnehmung und Sicherstellung
von Eigentumsrechten. Ohne sichere Eigentumsrechte kann die
Weltsystemtheorie 351
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kapitalistische Ökonomie nicht funktionieren, beispielsweise bei


der langfristigen Refinanzierung von Investitionen oder der Rück-
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zahlung von Krediten. Solche Eigentumsrechte können in verschie-


dener Form sichergestellt werden, nicht nur durch einen Rechtsstaat
westlichen Typs, sondern auch durch entsprechende Vorkehrun-
gen autoritärer Regime. Die zweite zentrale Funktion des Staates
im Kapitalismus ergibt sich aus den internen Widersprüchen, die
dieses Wirtschaftssystem produziert (vgl. Abschnitt 2.2). Beson-
ders deutlich zeigen sich diese Widersprüche im Unwillen der ka-
pitalistischen Produktionsweise, die für ihr Funktionieren notwen-
dige Infrastruktur selbst bereitzustellen. Für jedes individuelle ka-
pitalistische Unternehmen wäre es irrational, Infrastrukturen wie
Primärbildung oder flächendeckende Verkehrsverbindungen selbst
zu organisieren und zu finanzieren. Diese Aufgabe übernimmt der
Staat.
Nicht nur die Existenz von Staaten ist für die Funktionsweise
des kapitalistischen Weltsystems essenziell, sondern auch ihre Or-
ganisation als ein zwischenstaatliches System, bei dem – insofern
dem realistischen Konzept der Anarchie ähnlich – kein Staat eine
absolute Dominanz über andere ausüben kann. Die Existenz rivali-
sierender Machtzentren stellt sicher, dass kein Staat übermäßig re-
striktive Kontrollen über die in seinem Staatswesen angesiedelten
Unternehmen ausüben kann, da diese Unternehmen sonst in ande-
re Staaten abwandern und damit die Einkommensbasis des regulie-
renden Staates unterminieren würden. Sollte jedoch ein einziger
Weltstaat entstehen – in Wallersteins Terminologie ein Weltreich
– wäre dieser Staat in der Lage, solche Kontrollen auszuüben und
damit die Basis der kapitalistischen Weltökonomie effektiv zu un-
terminieren. Aber gerade weil die politische Organisation dieser
Ökonomie aus einer rivalisierenden zwischenstaatlichen Struktur be-
steht, ist die Bildung eines solchen Weltstaates sehr unwahrschein-
lich. Der wesentliche Grund liegt darin, dass der Wettbewerb zwi-
schen kapitalistischen Unternehmen regelmäßig zu solchen Fluktua-
tionen in der relativen Machtverteilung zwischen verschiedenen
Staaten und Regionen innerhalb des Systems führt, dass es keinem
Staat gelingt, alle anderen Staaten zu kontrollieren. In dieser Hin-
sicht ist nicht nur das zwischenstaatliche System für die Funk-
tionsweise der kapitalistischen Weltökonomie notwendig, sondern
auch die Ökonomie für die Aufrechterhaltung des zwischenstaatli-
352 Andreas Nölke
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chen Systems. Dieser enge Zusammenhang mit der Weltökonomie


unterscheidet die Weltsystemtheorie dann auch deutlich vom Neo-
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realismus, der ansonsten ebenfalls die Bedeutung von souveränen


Staaten und des anarchischen zwischenstaatlichen Systems betont.

2.4 Der Staat in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie

Neben diesen allgemeinen Zusammenhängen zwischen Staatensys-


tem und Kapitalismus geht Wallerstein von einer jeweils spezifi-
schen Rolle des Staates in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie
aus. Dies ist ein weiterer Unterschied zum Neorealismus, der eine
funktionelle Äquivalenz von Staaten in verschiedenen Weltregio-
nen annimmt (vgl. auch den Beitrag von Niklas Schörnig in die-
sem Band). Staaten des Zentrums haben eine spezielle Doppel-
funktion für die Aufrechterhaltung der Strukturen des modernen
Weltsystems. Zunächst haben einzelne dieser Staaten eine hege-
moniale Führungsrolle im zwischenstaatlichen System übernom-
men (vgl. Shannon 1996: 136-146; Wallerstein 2000: 253-263).
Die Niederlande in der Mitte des 17. Jahrhunderts, Großbritannien
in der Mitte des 19. Jahrhunderts und die USA in der Mitte des 20.
Jahrhunderts haben eine solche Funktion wahrgenommen, weil sie
ökonomisch ihren Rivalen deutlich überlegen waren. Die entschei-
dende Bedeutung dieser Hegemone für die Existenz des kapitalisti-
schen Weltsystems bestand in ihrer Führungsrolle, über die sie be-
stimmte Standards durchgesetzt haben, denen alle internationalen
Transaktionen unterlagen – so z.B. die USA gegen Ende des Zwei-
ten Weltkriegs mit der Initiierung des Bretton Woods-Systems.
Während diese Standards im Regelfall in erster Linie den Interessen
des jeweiligen Hegemons entsprechen, schaffen sie gleichzeitig jene
Berechenbarkeit, die für die Funktionsweise der kapitalistischen
Wirtschaft so unabdingbar ist – und im Fall des Bretton Woods-Sys-
tems für den Nachkriegsboom mitverantwortlich war. Viele dieser
Standards bestehen auch dann weiter, wenn ein Hegemon den Hö-
hepunkt seiner militärischen und ökonomischen Macht überschritten
hat, so dass diese etwa 100 Jahre andauernden Hegemoniezyklen
über einen längeren Zeitraum jene Stabilität schaffen, die – zwischen
den Extremen von Weltstaat und politischer Anarchie – den Kapi-
talismus funktionsfähig erhalten.
Weltsystemtheorie 353
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Die zweite wichtige Funktion der Staaten des Zentrums für die
Stabilisierung dieses Systems liegt im (potenziellen) Einsatz ihrer
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militärischen Macht gegenüber der Peripherie und Semiperipherie,


um ihre dominante Position innerhalb der Weltökonomie aufrecht-
zuerhalten. Dabei geht es nicht nur um den Zugang zu essenziellen
Rohstoffen und Absatzmärkten, sondern auch darum, Staaten zu
disziplinieren, die die Stabilität dieses ökonomischen Systems zu
unterminieren drohen. Vertreter der Weltsystemtheorie führen als
Beispiel für solche Aktivitäten die „Operation Desert Storm“ (1991)
gegen den Irak an, aber auch den Sturz linker Regierungen in La-
teinamerika, wie z.B. des Allende-Regimes in Chile (1973).
Wie bereits angesprochen hat auch die Semiperipherie eine es-
senzielle Funktion bei der Stabilisierung des kapitalistischen Welt-
systems. Auch hier spielt der Staat eine wichtige Rolle. Verglichen
mit Staaten der Peripherie verfügen jene der Semiperipherie über
relativ funktionsfähige Verwaltungsstrukturen. Diese Strukturen
sind zunächst dazu da, das Projekt der nationalen Entwicklung zu
organisieren, d.h. zu versuchen, das Land von der Semiperipherie
in das Zentrum zu führen. Wichtiger für die Funktionsweise des
kapitalistischen Weltsystems ist jedoch der im Grunde autoritäre
Charakter dieser Staaten: Selbst wenn diese augenscheinlich de-
mokratisch verfasst sind, werden sie doch im Regelfall von einer
kleinen Elite regiert, zumeist unter den wachsamen Augen des
Militärs. Der autoritäre Charakter ist wichtig, damit diese Staaten
in der Lage sind, die gewerkschaftlichen Ambitionen in ihren Län-
dern zu kontrollieren. Diese Kontrolle ist wiederum notwendig,
um geringere Lohn- und Sozialstandards als im Zentrum durchzu-
setzen und damit über adäquate Bedingungen für jene traditionel-
len Industrien zu verfügen, die im Zentrum nicht mehr wettbe-
werbsfähig sind.
Innerhalb der Peripherie hat die Existenz einer mit dem Staats-
apparat verbundenen dominanten Klasse, deren Verhalten im End-
effekt den Interessen der dominanten Klassen des Zentrums – und
nicht der Bevölkerung ihres eigenen Landes – dient, eine ebenfalls
wichtige Funktion für die Stabilität des kapitalistischen Weltsys-
tems. Diese so genannte „Comprador-Klasse“ wird daher vom
Zentrum – ähnlich wie die Eliten der Semiperipherie – gestützt,
um zumindest einen Teil der potenziellen, aus dem ausbeuteri-
schen Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie stammenden
354 Andreas Nölke
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Spannungen abzufangen. Diese Unterstützung kann die Form di-


rekter Militärhilfe annehmen, aber auch der Toleranz brutaler und
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repressiver Regime in diesen Staaten.

2.5 Geokultur

In der jüngsten Zeit hat Wallerstein sich in seinen Schriften ver-


mehrt dem Konzept der Geokultur zugewandt (vgl. Wallerstein
1991, 1995; Shannon 1996: 204-207; Hobden/Jones 1997: 139f).
Mit Geokultur bezeichnet Wallerstein den kulturellen Rahmen des
modernen Weltsystems, wobei er einen sehr breiten Kulturbegriff
verwendet, der Werte und Denkweisen miteinschließt. Im Gegen-
satz zur ökonomischen und politischen Dimension des Weltsys-
tems ist die Geokultur weniger leicht zu greifen, trägt aber wie je-
ne maßgeblich zur Stabilisierung des Systems bei, hauptsächlich
durch dessen Legitimierung. Zwei Aspekte stehen im Vordergrund
von Wallersteins Überlegungen zur Geokultur im modernen kapi-
talistischen Weltsystem: einerseits die Rolle des Liberalismus als
dessen dominante Ideologie, andererseits die Funktion des Szien-
tismus als dessen vorherrschendes Wissenssystem.
Wenn eine etablierte Ordnung von einer weitverbreiteten Ideo-
logie unterstützt wird, sichert das diese Ordnung wesentlich effek-
tiver ab als bloßer Zwang (vgl. den Beitrag von Andreas Bieler
und Adam David Morton zum Neogramscianismus in diesem
Band). Wallerstein argumentiert, dass das moderne Weltsystem
seit etwa 200 Jahren mit dem Liberalismus von einer außerordent-
lich erfolgreichen Ideologie legitimiert wird, welche nach einer
weit verbreiteten Meinung die einzige rationale Art der gesell-
schaftlichen Organisation darstellt. Der Liberalismus ist sogar so
erfolgreich, dass selbst die konkurrierenden Ideologien des Kon-
servatismus und des Sozialismus heute Grundpostulate des Libe-
ralismus übernommen haben und somit nur mehr Varianten der li-
beralen Ideologie darstellen (vgl. Wallerstein 2000: 416-422). Be-
sonders wichtig für die stabilisierende Rolle des Liberalismus ist
seine Legitimierung des Staates:
“Liberalism is the only ideology that permits the long-term reinforce-
ment of the state structures, the strategic underpinning of a functioning
capitalist world-economy. Conservatism and socialism appeal beyond
Weltsystemtheorie 355
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the state to a ‘society’ which finds its expression in other institutions.


Liberalism, precisely because it is universalistic and contractual, finds
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the ultimate resolution of conflicts in state decisions, the state alone


being presumed to have no ‘interests’ of its own but to be the vector of
the majority compromise and consensus” (Wallerstein 1991: 10).
Der Szientismus als dominantes Wissenssystem entstand im Kon-
text der Säkularisierung und erlebte seinen Siegeszug durch den
Triumph der modernen Naturwissenschaften. Naturwissenschaftli-
che Gesetzmäßigkeiten wurden nicht nur sehr erfolgreich im Pro-
duktionsprozess und damit für die Kapitalakkumulation angewen-
det, sondern erheben hier den Anspruch, universell gültig zu sein,
unabhängig von Zeit, Raum und Erkenntnisinteresse. Dieses Mo-
dell der Wissensrepräsentation beschränkte sich in der Folge nicht
auf die Naturwissenschaften, sondern wurde auch auf andere Dis-
ziplinen übertragen, darunter die Sozialwissenschaften. Hier ver-
drängt der Szientismus normativ-kritische Alternativen und trägt
dadurch zur Stabilisierung des modernen Weltsystems bei.
Der gemeinsame Nenner von Liberalismus, Szientismus und
Kapitalismus besteht für Wallerstein in ihrem universalisierenden
Charakter. Dieser Charakter steht allerdings in einem auffälligen
Kontrast zu den massiven Ungleichheiten im kapitalistischen Welt-
system. Um diese Ungleichheiten zu erklären und gleichzeitig den
universalisierenden Charakter der Geokultur zu bewahren, umfasst
sie als weitere essentielle Elemente Rassismus und Sexismus (vgl.
Wallerstein 2000: 272-289, 344-352). Unterschiedliche Eigenschaf-
ten von „Rassen“ und Geschlechtern erklären, warum trotz des
universellen Charakters des Weltsystems manche Menschen „glei-
cher“ sind als andere (Hobden/Jones 1997: 140) – und dienen
gleichzeitig im Rahmen einer „divide et impera“-Strategie dazu,
den potenziellen antisystemischen Widerstand zu schwächen.

2.6 Die Krise des modernen Weltsystems

Obwohl Wallerstein eine Reihe von präzise ineinandergreifenden


Faktoren identifiziert, die die bemerkenswerte Stabilität des mo-
dernen Weltsystems sichern, geht er davon aus, dass diese Stabi-
lität zunehmend unterminiert wird und das Weltsystem sich seiner
Krisenphase nähert. Eine solche Überlegung erscheint zunächst
356 Andreas Nölke
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angesichts des Kollapses der Sowjetunion und des vorgeblichen


Triumphs des Kapitalismus als Paradoxon. Wallerstein identifi-
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ziert jedoch bedeutende Erosionsfaktoren, die sich nicht nur auf


die ökonomischen, sondern auch auf die – damit eng verbundenen
– politischen und geokulturellen Aspekte des Weltsystems erstrek-
ken (vgl. Shannon 1996: 149-151; Hobden/Jones 1997: 140-142;
Wallerstein 2000: 428-434).
Die ökonomischen Krisentendenzen ergeben sich unmittelbar
aus den bereits angesprochenen inneren Widersprüchen des kapi-
talistischen Weltsystems (vgl. Abschnitt 2.2). Wallerstein argu-
mentiert, dass dieses System bisher in der Lage war, die Wider-
sprüche durch einen kontinuierlichen Expansionsprozess zu kom-
pensieren. Dieser Expansionsprozess hat zwei wesentliche Formen
angenommen (vgl. auch Shannon 1996: 127-131). Relativ nahe-
liegend ist der räumliche Expansionsprozess, bei dem der Kapita-
lismus sich über den ganzen Globus ausdehnt. Weniger offensicht-
lich ist hingegen der Prozess der Intensivierung der kapitalisti-
schen Ökonomisierung, der sich insbesondere durch Urbanisie-
rung und Kommodifizierung vollzieht. Urbanisierung hat dazu ge-
führt, dass ein wachsender Teil der Weltbevölkerung aus dem
ländlichen Raum in städtische Agglomerationen gezogen ist und
dabei häufig auch seine frühere Mischung aus Produktion für den
Markt und den Eigenbedarf zugunsten einer reinen Marktorien-
tierung aufgegeben hat. Kommodifizierung bezeichnet einen Pro-
zess, bei dem mehr und mehr Aspekte des täglichen Lebens von
Marktprozessen erfasst werden – wenn also beispielsweise heute
die Kinderbetreuung nicht mehr von den Großeltern, sondern durch
entsprechende Dienstleistungsunternehmen übernommen wird.
Wallerstein behauptet nun, dass dieser Expansionsprozess inzwi-
schen an seine Grenzen gestoßen ist, sowohl in geographischer
Hinsicht, als auch dahingehend, dass fast alle Aspekte des Lebens
inzwischen kommodifiziert sind. Schließlich haben mehrere Jahr-
hunderte der ununterbrochenen kapitalistischen Akkumulation auch
dazu geführt, dass der Zustand des Ökosystems sich zunehmend
verschlechtert. Die Struktur der kapitalistischen Produktionsweise
erlaubt jedoch Wallerstein zu Folge nicht, dass die notwendigen,
sehr teuren ‚Reparaturprozesse‘ stattfinden: Unternehmen können
nicht zahlen, weil sie dadurch bei der Kapitalakkumulation zu-
rückfallen würden und der Staat kann sie ebenfalls nicht finanzie-
Weltsystemtheorie 357
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ren, weil dieses nur auf Kosten der sozialen Wohlfahrt stattfinden
könnte und damit die soziale Stabilität des Systems unterminieren
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würde.
Die Ungleichheiten und Widersprüche des kapitalistischen Welt-
systems haben regelmäßig zur Bildung von oppositionellen Grup-
pierungen geführt. Die Entstehung dieser Oppositionsgruppen hat
jedoch zu keinem Zeitpunkt dazu geführt, dass das System auf
Grund dieser politischen Entwicklungen in eine grundlegende Kri-
se geriet. Im Gegenteil, diese antisystemischen Bewegungen haben
im Regelfall sogar zu einer Stabilisierung des Systems beigetra-
gen. Diese paradoxe Entwicklung ergibt sich daraus, dass jene Be-
wegungen in das kapitalistische Weltsystem kooptiert wurden, so
dass sie selbst ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Systems
entwickelten. Laut Wallerstein stößt nun auch diese Form der Sta-
bilisierung an ihre Grenzen. Zunächst werden die Kosten der bis-
herigen Vorgehensweise zu hoch, insbesondere bei den verschie-
denen Arbeiterbewegungen, die durch einen immer komplexer
werdenden Wohlfahrtsstaat in das System inkorporiert wurden.
Nun gerät dieser Wohlfahrtsstaat auf Grund einer Kombination
von demographischer Entwicklung und ökonomischer Stagnation
zunehmend in eine Krise, so dass er nicht mehr aufrechterhalten
werden kann, ohne das bisherige Niveau der Kapitalakkumulation
zu verringern. Verringerte Wohlfahrtsleistungen, aber auch eine
deutliche Reduktion der bisherigen Hilfsleistungen für die Peri-
pherie reduzieren die Legitimation der herrschenden Ordnung.
Weitere politische Krisenursachen erwartet Wallerstein aus der ak-
tuellen Entwicklung von antisystemischen Bewegungen, die sich
nicht ohne Weiteres kooptieren lassen. Sei es, weil sie sich wei-
gern, sich in die disziplinierte, zentralisierte Form politischer Par-
teien zu organisieren oder weil sie – außer der Ablehnung des Sys-
tems – zu heterogene Ziele verfolgen (als Beispiel nennt er hier die
Entwicklung von „Regenbogenkoalitionen“ in einer Reihe von Ge-
sellschaften des Zentrums). Unterstützt werden diese Krisenten-
denzen noch von der rasanten Entwicklung der globalen Kommu-
nikationssysteme, die es zunehmend erschweren, die massiven
Ungleichheiten im kapitalistischen Weltsystem zu verbergen und
gleichzeitig die globale politische Mobilisierung erleichtern. Das
jüngste Beispiel solcher antisystemischen Bewegungen ist der
Protest gegen die WTO (Seattle-Bewegung).
358 Andreas Nölke
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Die ökonomischen und politischen Krisenursachen werden


schließlich durch solche in der herrschenden Geokultur ergänzt.
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Einen Wendepunkt für die herrschende Ideologie des Liberalismus


sieht Wallerstein in den Unruhen von 1968, die an verschiedenen
Orten der Welt Koalitionen von Studenten und Arbeitern zu Streiks,
Demonstrationen und unorthodoxen, nicht-kooptierbaren Formen
der politische Organisation zusammenführte (vgl. auch Wallerstein
2000: 355-373). Als besonders gravierend empfindet Wallerstein
dabei die Attacke auf den Staat als Pfeiler der herrschenden Ord-
nung, der nun als paternalistisch und repressiv dargestellt wird und
damit das Vertrauen der Bürger in die Legitimität der herrschen-
den Ordnung erschüttert. Ergänzt wird diese Unterminierung der
herrschenden Geokultur von der Krise des Szientismus, bei der
selbst in den Naturwissenschaften das Ideal der absoluten Wahr-
heit zunehmend in Frage gestellt wird.
Wenn wir uns Wallersteins Annahme anschließen, dass wir
heute die Krise des herrschenden Weltsystems erleben, stellt sich
die Frage, wie lange diese Krisenphase andauert und was für ein
Weltsystem aus dieser Krise hervorgehen wird. Wallerstein selbst
geht davon aus, dass diese Krise sich über die nächsten 20 bis 40
Jahre erstrecken wird (vgl. Wallerstein 2000: 435-453, Wallerstein
2009), jedoch im Ergebnis heute kaum absehbar ist. Wallersteins
zentrales Argument ist hier, dass sich in Krisenphasen die systemi-
schen Zwänge lockern, die ansonsten das Handeln der Akteure in
feste Bahnen lenken, so dass der jetzigen Generation eine maß-
gebliche Rolle beim Strukturieren des neuen Systems zukommt.
Gerade den Sozialwissenschaften fällt in dieser Situation die Auf-
gabe zu, Alternativen für diese neue Ordnung zu entwickeln.
Wallerstein selbst hofft auf die Etablierung eines demokratischen
und relativ egalitären Weltstaats, hält jedoch auch eine Entwick-
lung für möglich, bei der sich soziale Ungleichheiten, kriegerische
Auseinandersetzungen und autoritäre Tendenzen intensivieren.

3. Theorieinterne Weiterentwicklungen
Wallersteins Weltsystemtheorie ist ein in sich geschlossenes Theo-
riegebäude, welches zudem von seinem Verfasser permanent weiter-
entwickelt wird. Dieser Status hat jedoch andere Autoren nicht daran
Weltsystemtheorie 359
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gehindert, ihrerseits an der Weiterentwicklung dieses Gebäudes mit-


zuwirken. Im Gegenteil, wie nur wenige zeitgenössische Theoretiker
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der Internationalen Beziehungen war Wallerstein in der Lage, eine


Schule aufzubauen, die sein Werk in breitem Maßstab weiterführt.
Ragin/Chirot (1984: 276) sprechen sogar von einem „akademischen
Kult“. Aus dem breiten Spektrum des so verstandenen Weltsystem-
paradigmas – im Gegensatz zu Wallersteins eigener Weltsystem-
theorie – können hier nur wenige Anwendungsbeispiele herausge-
griffen werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Beiträgen mit zu-
mindest mittelbarem Bezug zu den Internationalen Beziehungen,
während Studien zur Anthropologie, Archäologie, Geographie etc.
an dieser Stelle vernachlässigt werden (vgl. dazu Hall 2000).

3.1 Methodische Verfeinerungen

Viele theorieinterne Weiterentwicklungen konzentrieren sich auf


die Verfeinerung des von Wallerstein vorgegebenen, jedoch mit-
unter unscharfen analytischen Instrumentariums sowie seiner For-
malisierung (vgl. Shannon 1996: 202-204). Visuell besonders ein-
drucksvoll ist hier die Verwendung der Netzwerkanalyse für die
Bestimmung der Position von Staaten im modernen Weltsystem
(vgl. Grimes 2000: 36). Die ersten Anwendungen dieser mathema-
tischen Techniken in den Sozialwissenschaften beschäftigten sich
mit der Machtstruktur in Gemeinden. Einwohner wurden danach
gefragt, an wen sie sich wenden (und wie oft), wenn Probleme in
der Gemeinde auftreten. Auf Grundlage systematischer Umfragen
ist dann die mathematische und graphische Abbildung der Macht-
strukturen innerhalb dieser Gemeinden möglich. Analog verwenden
Weltsystemtheoretiker statt Telefonanrufen diplomatische Kontakte,
Handelsvolumina und militärische Interventionen, um die Position
einzelner Staaten in Zentrum, Peripherie und Semiperipherie ab-
zubilden (vgl. Snyder/Kick 1979; Knoke 1990: 175-202; Kick/
Davis 2001). Da die umfassende Datengrundlage für netzwerkana-
lytische Studien nur für einen relativ kurzen Zeitraum für alle Staa-
ten vorliegt, haben andere Forscher sich auf einfachere, dafür aber
für ein längeres Intervall vorliegende Daten beschränkt, wie z.B.
das Bruttosozialprodukt. Alle diese Studien bestätigen jedoch
Grundannahmen der Weltsystemtheorie, nämlich die Möglichkeit
360 Andreas Nölke
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einer Dreiteilung der Welt in Zentrum, Semiperipherie und Peri-


pherie sowie die permanent wachsende Ungleichheit zwischen die-
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sen Staatengruppen (Grimes 2000: 38).


Alle Weltsystemtheoretiker stimmen darin überein, dass Welt-
systeme sowohl Zyklen als auch langfristigen Trends unterliegen
(vgl. Abschnitt 2.2). Aufbauend auf Wallersteins Theorie ist je-
doch das Spektrum und die Datenbasis der untersuchten Trends
und Zyklen deutlich ausgeweitet worden (vgl. Shannon 1996: 177-
180; Grimes 2000: 38-49). So liegen für die bereits geschilderten
Trends von Demographie, Technologieaneignung und Kommodifi-
zierung inzwischen wesentlich bessere Datengrundlagen vor. Wei-
terhin hat sich auch die Forschung über ökonomische Zyklen weiter
verfeinert. Allen wichtigen Zyklen liegt dieselbe Logik zugrunde:
“[A] new set of products are introduced that sell well, the market ex-
pands, and related employment swells, allowing for an expansion of
worker/‘consumer’ spending. The market eventually becomes satu-
rated, sales drop, income contracts, and workers are laid off. The effect
of the contraction is prolonged by the extended feedback loop through
those firms producing capital goods. These manufacturers of the means
of production take orders in advance, which means that they are pro-
ducing machinery for constructing the end product long after the slump
in sales of that product has started. This long feedback only prolongs
the downturn. But eventually, the excess inventory is sold out, produc-
tion resumes, and renewed growth is possible (...)” (Grimes 2000: 42f).
Diese Gesetzmäßigkeit gilt nicht nur für den „normalen“, 6-8 Jah-
re andauernden Geschäftszyklus (oder „Juglar-Zyklus“), der mit
der Anschaffung neuer Kapitalgüter sowie deren Abschreibung
verbunden ist, sondern auch für die etwa 20-25 Jahre dauernden
„Kuznets-Zyklen“ und die bereits erwähnten, für Wallerstein be-
sonders wichtigen Kondratieff-Zyklen. Noch länger als Kondra-
tieffs wirken die allerdings konzeptionell etwas vagen „logistics“
(vgl. Shannon 1996: 135f). Zu allen diesen Zyklen sind in den
letzten Jahren methodisch verfeinerte Studien erschienen. Neben
diesen ökonomischen Zyklen spielen Hegemoniezyklen für die
Analyse des kapitalistischen Weltsystems eine große Rolle. Auch
hier sind in jüngerer Zeit differenziertere empirische Studien vor-
gelegt worden. Umstritten war dabei nicht nur der Zusammenhang
zwischen ökonomischen Zyklen (insbesondere Kondratieffs) und
dem Aufstieg neuer Hegemone, sondern auch, wie viele Staaten
Weltsystemtheorie 361
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des Zentrums die Rolle von Hegemonialmächten einnehmen. Ab-


weichend von Wallersteins Trias Niederlande – Großbritannien –
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USA nennen Modelski/Thompson (1996) beispielsweise zusätz-


lich Portugal (16. Jahrhundert) sowie für Großbritannien einen
„doppelten“ Hegemonialzyklus (zwei Jahrhunderte).

3.2 Ein „world system“ oder mehrere „world-systems“?

Nicht alle Weltsystemtheoretiker beschränken sich auf eine bloße


Verfeinerung der von Wallerstein vorgegebenen Kategorien. Eini-
ge stellen einzelne Elemente von Wallersteins Theoriegebäude in
Frage und versuchen sich an der Neukonstruktion dieser Elemente
oder des ganzen Gebäudes (ein guter Überblick findet sich bei
Denemark et al. 2000). Einer dieser Konstruktionsversuche soll
hier exemplarisch dargestellt werden: Zu den innerhalb Waller-
steins Nachfolge besonders intensiv debattierten Themen gehört
die Frage nach der ‚richtigen‘ Definition eines Weltsystems. Je
nach Definition ergeben sich sehr unterschiedliche Perspektiven
auf die Weltgeschichte, z.B. hinsichtlich der Frage nach dem Be-
ginn des aktuellen Systems sowie seiner Unterscheidbarkeit von
früheren Weltsystemen (vgl. Shannon 1996: 195-202; Grimes 2000:
31-33; Chase-Dunn/Anderson 2005). Wallerstein geht davon aus,
dass das moderne Weltsystem auf Grund seines kapitalistischen
Charakters einzigartig ist und dass der Kapitalismus zum ersten
und einzigen Mal im 16. Jahrhundert in Europa entstanden und
von dort in andere Regionen der Welt verbreitet worden ist. Andre
Gunder Frank und Barry Gills (2000) hingegen argumentieren,
dass wir seit mindestens 5000 Jahren in einem kontinuierlichen
afro-eurasischen Weltsystem – um sich auch sprachlich von Wal-
lersteins „world-system“ abzuheben, bezeichnen sie es als „world
system“ – leben, das bereits seit Jahrtausenden kapitalistische
Elemente in sich trägt. Ausgehend von dieser Grundüberlegung
entwickeln sie einen ähnlich weitreichenden Theorieanspruch, der
sich folgendermaßen zusammenfassen lässt:
“(1) the existence and development of the world system stretches back
not just five hundred but some five thousand years; (2) the world
economy and its long-distance trade relations form a centerpiece of
this world system; (3) the process of capital accumulation is the motor
362 Andreas Nölke
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force of world system history; (4) the center-periphery structure is one


of the characteristics of the world system; (5) alternation between he-
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gemony and rivalry is depictive of the world system, although system


wide hegemony has been rare or non-existent; and (6) long economic
cycles of ascending and descending phases underlie economic growth
in the world system” (Frank/Gills 2000: 3).
Umstritten ist in dieser Kontroverse zunächst, wie einschneidend der
Umbruch im frühen 16. Jahrhundert war – ob also erst hier eine
„endlose“ (ceaseless) Akkumulation von Kapital einsetzte (wie
Wallerstein annimmt). Weiterhin stellt sich die Frage, ob für die
Existenz eines Weltsystems eine ausgeprägte internationale Arbeits-
teilung notwendig ist (wie Wallerstein annimmt) oder ob dafür die
wesentlich freiere Definition von Frank/Gills (2000: 4) ausreicht: „A
criterion of systemic participation in a single world system is that no
part of this system would be as it is or was if other parts were not as
they are or were“. In Bezug auf historische (archäologische, anthro-
pologische) Daten schließt sich dann eine Kontroverse über das
Ausmaß von Fernhandelsbeziehungen in der Region zwischen
Ägypten und Zentralasien um 3000 vor Christus sowie die Auswir-
kungen dieses Handels auf die beteiligten Gesellschaften an. Wei-
terhin divergieren Frank/Gills und Wallerstein hinsichtlich der Rolle
von Märkten in vormodernen Gesellschaften: Während Wallerstein
diese Gesellschaften durch militärischen Zwang charakterisiert
(„Weltreiche“, vgl. Abschnitt 2.1), gehen Frank/Gills davon aus,
dass auch diese Gesellschaften viel stärker durch Märkte geprägt
waren. Auch das Ausmaß weltweiter Hegemonien, der Beginn zy-
klischer Entwicklungen usw. sind umstritten zwischen „continuatio-
nists“, die von einer kontinuierlichen Existenz des Kapitalismus
ausgehen (neben Frank/Gills u.a. Kajsa Ekholm-Friedman, Jonathan
Friedman, George Modelski) und „transformationists“, die von ei-
nem wesentlichen Einschnitt im Europa des 16./17. Jahrhunderts
ausgehen (neben Wallerstein u.a. Samir Amin, Christopher Chase-
Dunne, Thomas D. Hall). Aus der Perspektive der überwiegenden
Theorien der internationalen Politik hingegen sind diese Kontrover-
sen minimal, wenn man die radikal andere Perspektive auf die Welt-
politik hervorhebt, die den Theoretikern von „world system“ und
„world-system“ gemein ist. Diese lebhaft geführten Kontroversen
über den Verlauf – und die Zukunft – der Weltgeschichte zeigen im
Endeffekt vor allem die Fruchtbarkeit und anhaltende Brisanz der
Weltsystemtheorie 363
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von Wallerstein und anderen in den letzten drei Dekaden angeregten


Theorieentwicklung. Gleichzeitig sollte nochmals hervorgehoben
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werden, dass die hier vorgestellte Kontroverse nur ein Beispiel für
aktuelle empirische und theoretische Weiterentwicklungen der Welt-
systemtheorie darstellt. Gerade im Kontext der internationalen Fi-
nanzkrise dürfte auch die von Giovanni Arrighi (1994, 2008, Arrig-
hi/Silver 2004) vorgelegte Theorie der globalen Kapitalakkumula-
tion zu einem größeren Interesse am analytischen Potential von
Weltsystemtheorien führen insbesondere das Argument, dass der Fi-
nanzmarktkapitalismus, die aktuell dominante Entwicklungsphase
des Kapitalismus (Nölke 2009), kein neuartiges Phänomen sei, son-
dern eine wiederkehrende Übergangsphase zwischen zwei aufeinan-
der folgenden Akkumulationsregimen, lässt die aktuellen wirtsch-
lichen Entwicklungen in einem deutlich anderen Licht erscheinen,
verglichen mit konventionellen Interpretationen der Finanzkrise
(Schmalz 2009: 6).

4. Externe Kritik
Grundsätzliche Kritik an der Weltsystemtheorie setzt entweder an
der Struktur von Wallersteins Theorie oder an ihrer empirischen
Grundierung an. Daneben wird sie von vielen Betrachtern auf
Grund ihres marxistisch beeinflussten Charakters und ihrer ent-
sprechenden Terminologie generell abgelehnt. Da mit dieser Kritik
jedoch im Regelfall keine intensive Beschäftigung mit der Weltsys-
temtheorie verbunden ist, wird sie hier vernachlässigt. Waller-
steins Hauptwerk dient im Regelfall als Referenzpunkt der Kritik,
so dass es auch hier im Mittelpunkt steht (für einen ausführlichen
Überblick vgl. Shannon 1996: 155-186).

4.1 Kritik am Theoriegebäude

Als strukturalistische Theorie teilt Wallersteins Gedankengebäude


einen Kritikpunkt mit anderen strukturellen Schemata (wie z.B.
dem Neorealismus), nämlich den Vorwurf eines übertriebenen De-
terminismus, der der „agency“ einzelner Akteure zu wenig Raum
lässt. Dieser Vorwurf wird zum Teil noch dadurch verstärkt, dass
364 Andreas Nölke
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Wallerstein ein ökonomischer Reduktionismus vorgeworfen wird,


der alle Phänomene der internationalen Politik auf ökonomische
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Gegebenheiten zurückführen will (vgl. Skocpol 1977: 1078f; Zol-


berg 1981: 255; Shannon 1996: 155-159). Wallersteins Theorie-
formulierung ist in der Tat recht deterministisch, indem er davon
ausgeht, dass die Struktur des jeweiligen Weltsystems – mit Aus-
nahme von dessen Krisenstadium – die Handlungsmöglichkeiten
eines einzelnen Staates, einer sozialen Klasse oder sogar eines
Haushaltes relativ weitgehend einengt und diesen nur wenig Ma-
növrierfreiheit zugesteht. Diese Perspektive ist in Bezug auf die
staatliche Handlungsfähigkeit mit den Grundannahmen anderer
Theorien der Internationalen Beziehungen wie z.B. dem klassi-
schen Realismus (vgl. den Beitrag von Andreas Jacobs in diesem
Band) oder der liberalen Theorie (vgl. den Beitrag von Siegfried
Schieder) kaum vereinbar. Wallerstein lässt nur wenige Ausnah-
men von seinen strukturellen ökonomischen Handlungszwängen
für das staatliche Handeln zu. Abgesehen von der weniger struktu-
rierten Transitionsphase von einem Weltsystem zum anderen,
räumt er nur unter sehr eingeschränkten Umständen einzelnen Staa-
ten die Möglichkeit ein, von einer Position in der Weltökonomie –
Zentrum, Semiperipherie oder Peripherie – in eine andere zu wech-
seln, wie es z.B. Japan gelungen ist, aktuell möglicherweise ge-
folgt von anderen ostasiatischen Staaten. In einer anderen Begriff-
lichkeit kommt der Frage der Autonomie von Regierungen bei der
Wahl des wirtschaftlichen Entwicklungspfades im Kontext der ak-
tuellen Globalisierungsdiskussion nach wie vor eine große Bedeu-
tung zu. Auch wenn die Antwort auf diese Frage empirisch nach
wie vor heftig umstritten ist, muss doch Wallerstein bei ihrer For-
mulierung eine Pionierrolle zugebilligt werden – und eine ganze
Menge Evidenz hinsichtlich der Gültigkeit seiner Antwort für Re-
gierungen in der Peripherie und Semiperipherie (Hobden/Jones
1997: 135).
Während Wallersteins Sichtweise für manche Betrachter zu
marxistisch ist, ist sie anderen nicht marxistisch genug. Dabei geht
es vor allem um die Frage, ob Wallerstein den Kapitalismus richtig
definiert, eine Frage, der gerade aus marxistischer Perspektive eine
große Bedeutung zukommt. Für Wallerstein ist das zentrale Merk-
mal des Kapitalismus die endlose Akkumulation von Kapital durch
die Aneignung von Profit im Rahmen von Austauschbeziehungen,
Weltsystemtheorie 365
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wobei die Kapitalisten Güter zu einem höheren Preis als dem Ein-
kaufspreis (bzw. den Produktionskosten) verkaufen. Kritik an dieser
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Definition betrifft zunächst ihre Trennschärfe. So weist Brenner


(1977: 32) darauf hin, dass die Produktion für den Austausch ein
Merkmal vieler Wirtschaftssysteme sei, die jedoch gemeinhin nicht
als kapitalistisch bezeichnet werden. Wesentlich weiter geht jedoch
sein Vorwurf, Wallerstein verkenne den Kern des Charakters des
Kapitalismus, der aus marxistischer Perspektive kein Austauschver-
hältnis, sondern eine Produktionsweise ist, die von einer Klasse von
Eigentümern und Managern kontrolliert wird und bei der Arbeit wie
jedes andere Gut gekauft und verkauft wird (Brenner 1977: 31f).
Profit wird durch die Ausbeutung der Arbeiterklasse erzielt, die von
den Kapitalisten nicht den vollen Wert der Güter und Leistungen er-
halten, den sie produzieren. Diese unterschiedlichen Annahmen über
die Herkunft des Profits und damit den Kern des Kapitalismus er-
zeugen in der Konsequenz sehr unterschiedliche Perspektiven über
die Entwicklungsdynamik und die Krisen dieses Wirtschaftssystems
(Hobden/Jones 1997: 135; vgl. auch Shannon 1996: 162-165).
Ein weiterer, relativ häufig artikulierter Kritikpunkt betrifft den
potenziell teleologischen oder funktionalistischen Charakter der
Weltsystemtheorie (vgl. Skocpol 1977: 1088; Boeckh 1985: 60f;
Shannon 1996: 180-182). Bei diesem Argument wird darauf hin-
gewiesen, dass Wallerstein bestimmten historischen Gegebenhei-
ten eine Bedeutung überstülpt, die sachlich nicht unbedingt ge-
rechtfertigt ist. So interpretiert Wallerstein ausgehend vom heuti-
gen Weltsystem die Vorgänge der Vergangenheit so, dass sie nur
ein denkbares Ergebnis (das heutige Weltsystem) haben konnten.
Damit gibt er aus der Sicht dieser Kritiker nicht nur der Weltge-
schichte zu viel Kohärenz, sondern vernachlässigt auch eine Viel-
zahl potenzieller Entwicklungs- und Erklärungsalternativen (Hob-
den/Jones 1997: 135). Damit einher geht häufig auch eine Kritik
an der Forschungsstrategie der Weltsystemtheoretiker: Diese su-
chen gezielt nach solchen empirischen Fällen, die ihre Theorie
stützen („soft cases“) und scheuen die Auseinandersetzung mit –
zumindest auf den ersten Blick – konträrer Evidenz („hard cases“),
die zu einer Modifikation des Theoriegebäudes führen könnte.
366 Andreas Nölke
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4.2 Kritik an den empirischen Grundlagen


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Weiter als die Funktionalismuskritik und der damit verbundene


Vorwurf einer einseitigen Wahrnehmung historischer Gegebenhei-
ten gehen Kontroversen, die Wallersteins empirische Behauptun-
gen anzweifeln. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den
Entstehungsbedingungen des Kapitalismus im 16. Jahrhundert.
Dabei ist sowohl die Frage umstritten, ob der Kapitalismus über-
haupt erst im 16. Jahrhundert in Europa entstanden ist (vgl. Ab-
schnitt 3.2) als auch die Ursachen für die – von vielen Beobach-
tern akzeptierte – Transition zum Kapitalismus zu diesem Zeit-
punkt. Aus der Fülle von Kapitalismuserklärungen (u.a. Marx,
Polanyi, Schumpeter, Weber) soll hier eine Alternative exempla-
risch kurz vorgestellt werden, die es an Komplexität des theoreti-
schen Arguments und Breite des empirischen Details mit Waller-
steins Entwurf aufnimmt und ähnlich wie Wallerstein die globale
Dimension des Kapitalismus betont: jene von Hartmut Elsenhans
(eine Kurzfassung des Arguments findet sich bei Elsenhans 1984:
Kap. 1). Elsenhans stimmt mit Wallerstein darin überein, dass der
Kapitalismus im 16. Jahrhundert in Europa entstanden ist. Aller-
dings bezweifelt er (ähnlich wie Brenner 1977; vgl. auch Shannon
1996: 169-172), dass für die Entstehung des Kapitalismus die
Ausbeutung des Südens notwendig war. Wallerstein – und viele
andere Beobachter, insbesondere Dependenztheoretiker – sehen
einen engen Zusammenhang zwischen der Entstehung dieses Wirt-
schaftssystems und der Entdeckung der Neuen Welt (1492) sowie
des Seeweges um das Kap der Guten Hoffnung (1498), die das
Etablieren des europäischen Fernhandels und damit die Akkumu-
lation von Kapital durch Ausbeutung – Zwangsarbeit, Sklaven-
handel, Aneignung von monopolistischen Handelsprofiten, Zu-
strom von Edelmetallen etc. – möglich machten. Diese Ausbeu-
tung fand zwar statt, war jedoch laut Elsenhans für die Entstehung
des Kapitalismus ebenso wenig notwendig wie später der Kolonia-
lismus. Das in den Händen der großen Fernhandelskompanien
konzentrierte Geld wurde nicht zur Finanzierung des industriellen
Wachstums in Europa verwendet, sondern für Landkäufe, den
Kauf von Ämtern oder das Führen von Kriegen. Die industrielle
Entwicklung in Europa ging für ihn von der Ausweitung kleinge-
werblicher Produktion aus und wurde durch die Handelskompani-
Weltsystemtheorie 367
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en eher behindert (Elsenhans 1984: 18). So ist der Kapitalismus ja


auch nicht in Portugal, Spanien oder Norditalien entstanden, son-
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dern in England. Hier sorgten die gegen Ende des 16. Jahrhunderts
eingeführten Armengesetze für die Schaffung von Massenkauf-
kraft. Diese Massenkaufkraft wurde in erster Linie durch rasch
wachsende Kleinbetriebe abgeschöpft, die vom niedrigen Adel
und durch ehemalige Bauern in zunftfreien Gebieten betrieben
wurden (Elsenhans 1984: 31). Diese Kombination von Umvertei-
lung zugunsten der Armen und kleingewerblicher Produktions-
struktur ist für Elsenhans (aus modifiziert keynesianischer Per-
spektive) der Schlüssel zur Entstehung des Kapitalismus.
Eine solche Kontroverse über den Ursprung des Kapitalismus ist
nicht bloß von historischem Wert. Je nachdem, wie der Kapitalismus
entstanden ist – durch Kapitalakkumulation auf Grundlage von Aus-
beutung oder durch die Produktion von Massenartikeln für Mas-
senbedarf – funktioniert er auch heute und erfordert unterschiedliche
Maßnahmen zu seiner Stabilisierung oder Überwindung. In einigen
Punkten sind sich aber Elsenhans und Wallerstein einig: wissen-
schaftlich hinsichtlich der Notwendigkeit von transdisziplinären,
insbesondere auch historischen und regional übergreifenden Analy-
sen, politisch-praktisch hinsichtlich der überragenden Bedeutung der
Verringerung der massiven Ungleichheiten im weltweiten Maßstab.
Trotz der zum Teil sehr polemisch vorgetragenen Kritik treffen
sich viele Beobachter in ihrer Bewunderung für das Werk Immanuel
Wallersteins. Gerade in einer Zeit von akademischer Fragmen-
tierung und Spezialisierung überragt Wallersteins Leistung, ins-
besondere durch die Kombination von visionärer Weite und Pro-
vokation mit einer quasi enzyklopädischen Beherrschung von his-
torischen Details (Buzan/Little 2001: 30). Dass eine konzeptionell
sparsame Theorie, die mit relativ wenigen Variablen die groben Li-
nien der Weltgeschichte der vergangenen Jahrhunderte erklären
möchte, den empirischen Einzelheiten nicht immer gerecht werden
kann, dürfte von ihren Verfechtern zu verschmerzen sein. Und in ei-
ner Zeit, in der ökonomische Globalisierungsphänomene, aber auch
Spannungen zwischen dem Westen und dem Süden die internatio-
nale Agenda dominieren, lohnt sich ein Blick in Wallersteins – in
der letzten Dekade etwas unmodisches – Ideengebäude ganz beson-
ders. Selbst wenn Wallerstein sich irrt – und insbesondere hinsicht-
lich der Entstehungsursachen des Kapitalismus spricht einiges dafür
368 Andreas Nölke
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– geht von der Beschäftigung mit seinem komplexen Werk und sei-
ner Vision der Sozialwissenschaften eine besondere intellektuelle
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Faszination aus, auch und gerade für Studierende der Internationalen


Beziehungen. Gerade die Subprime-Finanzkrise verweist auf die
Aktualität von Theorien, die die Bedeutung des Kapitalismus und
seiner globalen Verfasstheit in den Mittelpunkt der Analyse interna-
tionaler Politik stellen.

Literaturverzeichnis

Empfohlene Literatur

Primärliteratur

Wallerstein, Immanuel 1974: The Modern World-System I. Capitalist Agri-


culture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth
Century. New York et al.: Academic Press.
Wallerstein, Immanuel 1979: The Capitalist World-Economy. Cambridge:
Cambridge University Press.
Wallerstein, Immanuel 1980: The Modern World-System II. Mercantilism and
the Consolidation of the European World Economy. New York et al.: Aca-
demic Press.
Wallerstein, Immanuel 1989: The Modern World-System III. The Second Era
of Great Expansion of the Capitalist World-Economy. New York et al.:
Academic Press.
Wallerstein, Immanuel 2000: The Essential Wallerstein. New York: The New
Press.
Wallerstein, Immanuel 2004: World-Systems Analysis: An Introduction. Dur-
ham: Duke University Press.
Außerdem sei generell auf die beiden Zeitschriften zur Weltsystem-Forschung
verwiesen, einerseits den „Review“ des früher von Wallerstein geleiteten
„Fernand Braudel Centers“ an der State University of New York (SUNY),
Binghamton sowie andererseits das nur im Internet erscheinende „Journal of
World-Systems Research“ http://csf.colorado. edu/jwsr/).

Sekundärliteratur

Blaschke, Jochen (Hrsg.) 1983: Perspektiven des Weltsystems. Materialien zu


Immanuel Wallerstein: „Das moderne Weltsystem“. Campus Verlag: Frank-
furt a.M., New York.
Weltsystemtheorie 369
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370 Andreas Nölke
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Neo-Gramscianishe Perspektiven
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Andreas Bieler und Adam David Morton

1. Einleitung
Die globale politische Ökonomie ist im Wandel begriffen.1 Die
Entwicklungen seit den weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen
der 1970er Jahre führen dies deutlich vor Augen, und spätestens
mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus Anfang der 1990er
Jahre kann ein Ende der Nachkriegsordnung festgestellt werden.
Charakteristisch für die internationale Nachkriegsordnung war
das maßgeblich durch die USA geprägte System von Bretton
Woods, mit dem über den Internationalen Währungsfonds (IWF)
auf der Basis fester Wechselkurse mit dem Dollar als Leitwährung
die internationalen Finanzbeziehungen einerseits, mit dem Allge-
meinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) die internationalen
Handelsbeziehungen andererseits gesteuert wurden. Diese Ord-
nung basierte auf dem Prinzip des so genannten embedded libera-
lism. Dessen Grundgedanke war generell das Prinzip der Liberali-
sierung und des internationalen Freihandels. Es berechtigte die Re-
gierungen jedoch zum Zwecke innerer Stabilität und des sozialen
Friedens durch eine Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums
regulierend in ihre jeweilige nationale Volkswirtschaft einzugrei-
fen (daher embedded, vgl. Ruggie 1982) – ein Prinzip, das über
die westlichen Wohlfahrtsstaaten realisiert wurde.
Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich die Struktur-
merkmale des embedded liberalism seit Anfang der 1970er Jahre
aufgelöst haben und die Ordnung der so genannten Pax Americana
nicht mehr existiert. Die weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen
zu Beginn der 1970er Jahre, vor allem die Aufhebung der Gold-

1 Besonderer Dank geht an Marianne Bieler und Markus Peiter für ihre sprachli-
che Hilfe bei der deutschen Fassung dieses Kapitels.
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Neo-Gramscianishe Perspektiven
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Andreas Bieler und Adam David Morton

1. Einleitung
Die globale politische Ökonomie ist im Wandel begriffen.1 Die
Entwicklungen seit den weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen
der 1970er Jahre führen dies deutlich vor Augen, und spätestens
mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus Anfang der 1990er
Jahre kann ein Ende der Nachkriegsordnung festgestellt werden.
Charakteristisch für die internationale Nachkriegsordnung war
das maßgeblich durch die USA geprägte System von Bretton
Woods, mit dem über den Internationalen Währungsfonds (IWF)
auf der Basis fester Wechselkurse mit dem Dollar als Leitwährung
die internationalen Finanzbeziehungen einerseits, mit dem Allge-
meinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) die internationalen
Handelsbeziehungen andererseits gesteuert wurden. Diese Ord-
nung basierte auf dem Prinzip des so genannten embedded libera-
lism. Dessen Grundgedanke war generell das Prinzip der Liberali-
sierung und des internationalen Freihandels. Es berechtigte die Re-
gierungen jedoch zum Zwecke innerer Stabilität und des sozialen
Friedens durch eine Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums
regulierend in ihre jeweilige nationale Volkswirtschaft einzugrei-
fen (daher embedded, vgl. Ruggie 1982) – ein Prinzip, das über
die westlichen Wohlfahrtsstaaten realisiert wurde.
Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich die Struktur-
merkmale des embedded liberalism seit Anfang der 1970er Jahre
aufgelöst haben und die Ordnung der so genannten Pax Americana
nicht mehr existiert. Die weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen
zu Beginn der 1970er Jahre, vor allem die Aufhebung der Gold-

1 Besonderer Dank geht an Marianne Bieler und Markus Peiter für ihre sprachli-
che Hilfe bei der deutschen Fassung dieses Kapitels.
372 Andreas Bieler und Adam David Morton
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Dollar-Konvertibilität durch US-Präsident Nixon und die nachfol-


genden ‚Ölpreisschocks‘, stürzten die westlichen Industriestaaten
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in eine tiefe wirtschaftliche Rezession. Das auf Massenproduktion


und Massenkonsum beruhende fordistische Akkumulationsregime
schien erschöpft zu sein. Eine keynesianische Politik der Nachfra-
gesteuerung auf nationaler Ebene konnte die Wirtschaft offenbar
nicht mehr ankurbeln. Vor dem Hintergrund der Internationalisie-
rung der Produktion und den Aktivitäten transnationaler Konzerne
als neuen bedeutsamen internationalen Akteuren sowie der Her-
ausbildung eines globalen Finanzmarktes wurde die Frage gestellt,
ob Staaten überhaupt noch in der Lage seien, ihre eigene Wirt-
schaft zu gestalten. Dies betraf vor allem vor dem Hintergrund des
konstatierten Niedergangs der amerikanischen Hegemonie in Fol-
ge von ‚Vietnam‘ und des wirtschaftlichen Wiedererstarkens von
Japan und Europa die Frage der Steuerungsfähigkeit der USA im
internationalen System und damit die Frage, ob Kooperation After
Hegemony2 möglich sei (vgl. auch die Beiträge von Manuela
Spindler und Bernhard Zangl in diesem Band).
Diese empirischen Entwicklungen führten zu einem Hinterfra-
gen der etablierten Ansätze in den Internationalen Beziehungen
(IB). Weder institutionalistische Ansätze, wie die Interdependenz-
analyse oder die Regimetheorie, noch der Neorealismus schienen
aus der Sicht „kritischer“ Autoren akzeptable Erklärungen für die
sich wandelnden Strukturen zu bieten. Folglich kam es Anfang der
1980er Jahre zu einer grundlegenden Herausforderung dieser auch
als „traditionell“ bezeichneten Ansätze in den IB durch kritische
Perspektiven, zu denen feministische und postmoderne Ansätze
ebenso gehören wie die Kritische Theorie (vgl. die Beiträge von
Barbara Finke, Thomas Diez und Christoph Humrich in diesem
Band). Auch die Entwicklung neo-gramscianischer Perspektiven
zu Beginn der 1980er Jahre muss als Teil der Ablehnung etablier-
ter Ansätze in den IB verstanden werden. Ausgehend von einem
historisch-materialistischen Verständnis sozialen Wandels und un-
ter Rückgriff auf Erkenntnisse des italienischen Marxisten Anto-

2 So der Titel des Buches von Keohane 1984, mit dem er – an die Interdepen-
denzanalyse anknüpfend – die Regimetheorie maßgeblich begründete.
Neo-Gramscianishe Perspektiven 373
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nio Gramsci3 (daher die Bezeichnung neo-gramscianische Per-


spektiven sowie manchmal auch Italian School oder auch transna-
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tionaler historischer Materialismus, vgl. dazu Bieling/Deppe/Ti-


dow 1998: 7) entwickelte Robert Cox4 eine kritische Theorie der
Hegemonie, der Weltordnung und des historischen Wandels (v.a.
Cox 1981, 1983 und 1987). Während es Gramscis hauptsächliches
Interesse war, die Mechanismen bürgerlicher Herrschaft innerhalb
westlicher Nationalstaaten zu erklären, dehnen neo-gramsciani-
sche Perspektiven dieses Erkenntnisinteresse auf die transnationa-
len Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus und entwickeln eine
Kritik des globalen Kapitalismus. Dies erfolgt in kritischer Aus-
einandersetzung mit dem Neorealismus (v.a. Waltz 1979), dem
neoliberalen Institutionalismus (v.a. Keohane 1984) wie auch Welt-
systemansätzen (v.a. Wallerstein 1974). Kritisiert wird die ‚Statik‘
dieser Ansätze und damit ihr Unvermögen, Wandel zu erklären.
So kritisiert Cox am Neorealismus das eng auf den Staat fixierte
Verständnis internationaler Macht- und Herrschaftsbeziehungen,
in dem die Struktur des internationalen Systems ein immer glei-
ches Verhalten der Staaten erzwingt (vgl. auch den Beitrag von
Niklas Schörnig in diesem Band). Auch der neoliberale Institutio-
nalismus (v.a. die Regimetheorie) basiere auf der Annahme, dass
Staaten als die einzig wichtigen Akteure zu betrachten seien (vgl.
den Beitrag von Bernhard Zangl). Die Weltsystemtheorie gehe
von einem statischen Weltsystem aus, das sich aus Staaten der Pe-
ripherie, Semiperipherie und des Zentrums zusammensetzt (vgl.
den Beitrag von Andreas Nölke). Dadurch werde nicht nur eine

3 Antonio Gramsci (1891-1937) war gegen Ende des Ersten Weltkrieges vor al-
lem als Herausgeber der Zeitung L’Ordine Nuovo (Neue Ordnung) in der Be-
triebsratsbewegung – einer radikalen Arbeiterbewegung – in Turin aktiv und
später an der Gründung der italienischen kommunistischen Partei beteiligt, de-
ren Vorsitz er bis zu seiner Verhaftung durch das faschistische Regime 1926 in-
nehatte. In der Zeit seiner Gefangenschaft verfasste er 33 Notizbücher, die unter
dem Titel „Gefängnishefte“ erstmals in den 1950er Jahren auf Italienisch, dann
in vielen anderen Sprachen veröffentlicht wurden.
4 Robert Cox lehrt und forscht seit 1977 als Politikwissenschaftler an der York
University von Toronto (Kanada). Zuvor war er Direktor des Internationalen In-
stituts für Arbeitsstudien bei der International Labour Organisation (ILO) und
Professor an der Columbia University in New York. Im Band von Cox 1996
findet sich eine kurz gehaltene Autobiographie bezüglich Cox’ intellektueller
Einflüsse.
374 Andreas Bieler und Adam David Morton
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Analyse strukturellen Wandels unmöglich, sondern darüber hinaus


tragen diese Ansätze auch zum Erhalt herrschender sozialer Macht-
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verhältnisse mit allen ihren Ungerechtigkeiten innerhalb einer be-


stehenden Ordnung bei. Diese Ansätze werden von Cox auch als
problemlösende (problem solving) Ansätze bezeichnet. Eine kri-
tische Theorie hingegen „does not take institutions and social and
power relations for granted but calls them into question by con-
cerning itself with their origins and whether they might be in the
process of changing“ (Cox 1981: 129).
Cox’ Theorie ist insofern kritisch, als sie sich grundsätzlich da-
für interessiert, wie eine Weltordnung entsteht, welche Macht- und
Herrschaftsstrukturen für eine Weltordnung charakteristisch sind,
wie diese reproduziert und abgesichert werden und welche „Kräf-
te“ (i.S. von Akteuren) innerhalb einer bestehenden Weltordnung
das emanzipatorische Potenzial haben könnten, die herrschende
Ordnung zu verändern. Cox’ kritische Theorie basiert auf einem
dialektischen Geschichtsverständnis, das sich mit dem ständigen
Prozess historischen Wandels und der Erforschung des Potenzials
für alternative Entwicklungen beschäftigt (Cox 1981: 129, 133-
134). Einen besonderen Stellenwert haben in dieser Perspektive
die Produktionsbeziehungen.5 Der Ansatz von Cox soll im Folgen-
den Schritt für Schritt entfaltet werden.

2. Hegemonie, Weltordnung(en) und historischer


Wandel: Die neo-gramscianische Perspektive
von Robert Cox
Um einen ersten Zugang zu neo-gramscianischen Perspektiven zu
finden, ist es sinnvoll, zunächst den Begriff der Hegemonie näher
zu erläutern. Hegemonie bedeutet umgangssprachlich soviel wie
Vorherrschaft, Vormachtstellung oder auch Führung. Auch der Neo-
realismus bedient sich dieses Begriffs. Hier wird Hegemonie je-

5 Cox folgt damit dem „produktionistischen Paradigma“ Kritischer Theorie. Vgl.


auch den Beitrag zur Kritischen Theorie von Christoph Humrich in diesem
Band, der in seiner Einleitung dezidiert das „kommunikative Paradigma“ Kriti-
scher Theorie im Gefolge von Habermas vom „produktionistischen Paradigma“
Kritischer Theorie unterscheidet.
Neo-Gramscianishe Perspektiven 375
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doch schlicht als die auf ökonomischen und militärischen Kapazi-


täten basierende Dominanz eines Staates begriffen. Der Aufstieg
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und Niedergang hegemonialer Mächte folgt bestimmten ehernen


(und zeitlosen) Gesetzmäßigkeiten (Hegemoniezyklen) (vgl. den
Beitrag von Niklas Schörnig in diesem Band). Neo-gramsciani-
sche Perspektiven entwickeln dagegen ein historisches Verständ-
nis der Herausbildung von Hegemonie, welches hegemoniale Struk-
turen als Produkt sozialer Prozesse begreift und soziale, kulturelle
und ideologische Dimensionen in seine Definition hegemonialer
Strukturen einbezieht. Der Begriff bezieht sich auf vorherrschende
Macht- und Herrschaftsstrukturen, die durch einen hegemonialen
Konsens abgesichert sind. Dieser drückt sich in der allgemeinen
Akzeptanz bestimmter Ideen durch eine Vielzahl von Akteuren
aus und wird ebenso von materiellen Ressourcen und Institutionen
gestützt. Hegemonie begründet also ein Macht- und Herrschafts-
verhältnis im Sinne einer durch Konsens und damit Zustimmung
getragenen (Welt-)Ordnung.
„Hegemonie auf der internationalen Ebene ist (...) nicht nur eine Ord-
nung von Staaten. Es ist eine Ordnung innerhalb einer Weltökonomie
mit einer dominanten Produktionsweise, die alle Länder durchdringt
und zu anderen, untergeordneten Produktionsweisen führt. Es ist auch
ein Komplex internationaler Sozialbeziehungen, der die sozialen Klas-
sen unterschiedlicher Länder verbindet. Welthegemonie ist als soziale
Struktur, als ökonomische Struktur und als politische Struktur zu be-
schreiben; sie kann nicht nur eines beinhalten, sondern muss alle drei
umfassen. Weiter drückt sich die Welthegemonie in universellen Nor-
men, Institutionen und Mechanismen aus, die generelle Regeln festle-
gen für das Verhalten von Staaten und für die sozialen Kräfte, die die
nationalen Grenzen überschreiten – Regeln, die die dominante Produk-
tionsweise unterstützen“ (Cox 1983: 172f).6
Neo-gramscianische Perspektiven gehen davon aus, dass sich He-
gemonie innerhalb einer ganz konkreten „historischen Struktur“
auf drei Handlungsebenen herausbildet:7
(1) auf der Ebene der sozialen Produktionsbeziehungen, die die
Totalität der sozialen Beziehungen in materiellen, institutionellen

6 Hier in der deutschen Übersetzung von Bieling/Deppe/Tidow (1998: 15).


7 Den Begriff der „historischen Struktur“ übernimmt Cox von Fernand Braudel.
376 Andreas Bieler und Adam David Morton
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und diskursiven Formen umfassen und welche die sozialen Kräfte


als Hauptakteure hervorbringen;
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(2) auf der Ebene des Staates bzw. der Staatsformen, die auf
jeweils historisch bedingten, miteinander verwobenen Komplexen
von Staat und Gesellschaft beruhen und
(3) auf der Ebene der jeweiligen Weltordnungen, die nicht nur
Phasen des Friedens und des Konflikts darstellen, sondern auch
die Möglichkeit bieten, darüber nachzudenken, wie alternative For-
men der Weltordnung entstehen könnten. Die Handlungsebenen
sind folgendermaßen schematisch präsentiert (Cox 1981: 138):

Soziale
Produktionsbeziehungen

Staatsformen Weltordnungen

Die „sozialen Kräfte“ als Akteure sind jeweils auf einer Ebene wie
auch übergreifend auf allen drei Ebenen aktiv. Daraus, dass das
Verhältnis zwischen den Handlungsebenen nicht linear, sondern
dialektisch gedacht wird, folgt für die wissenschaftliche Analyse,
dass jede dieser Ebenen eigenständiger Ausgangspunkt für eine
Untersuchung historischer Prozesse sein kann (Cox 1981: 153).
Cox argumentiert, dass sich auf jeder der drei Handlungsebenen
drei weitere reziproke Elemente zu historischen Strukturen verbin-
den, die für ein Verständnis der Entstehung von Hegemonie wich-
tig sind. Dies sind
(1) Ideen, die als intersubjektive Überzeugungen oder als kol-
lektive Vorstellungen von sozialer Ordnung verstanden werden,
(2) auf Ressourcen beruhende materielle Kapazitäten und
(3) Institutionen, durch die Ideen und materielle Bedingungen
miteinander auf eine spezifische Art und Weise verknüpft werden
und die als Mittel der Stabilisierung einer bestimmten Ordnung
fungieren.
Neo-Gramscianishe Perspektiven 377
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Das dialektisch gedachte Verhältnis von materiellen Bedingun-


gen, Institutionen und Ideen ist im Folgenden ebenfalls schema-
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tisch dargestellt:

Ideen

Materielle
Kapazitäten Institutionen

Ziel der neo-gramscianischen Forschungsperspektive ist also eine


Rekonstruktion hegemonialer historischer Strukturen durch das
Offenlegen der gesellschaftlichen und internationalen Zusammen-
hänge von Produktion, Macht und Herrschaft. Eine historische
Struktur besteht dabei aus einer jeweils unterschiedlichen Konstel-
lation zwischen sozialen Produktionsbeziehungen, der Staatsform
und der Weltordnung (Cox 1987: 396-398).
Der bislang durch Darstellung seiner grundlegenden Elemente
nur grob umrissene Ansatz von Cox soll nun näher spezifiziert
werden.

2.1 Produktionsbeziehungen und soziale Kräfte

Die Strukturen der Produktionsverhältnisse sind für Cox der grund-


legende Ansatzpunkt, um die Herausbildung von Hegemonie ver-
stehen und analysieren zu können. Das heißt jedoch nicht, dass der
Ansatz damit einem ökonomischen Reduktionismus oder Determi-
nismus das Wort redet: Obwohl er als historischer Materialist die
Produktion der materiellen Existenzbedingungen als grundlegende
menschliche Aktivität begreift, wehrt sich Cox gegen die Annah-
me, dass soziale Strukturen und unterschiedliche Staatsformen
durch die ökonomischen Produktionsbeziehungen einfach nur de-
terminiert sind. Sein Produktions-Begriff ist wesentlich weiter ge-
fasst:
378 Andreas Bieler und Adam David Morton
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“Production … is to be understood in the broadest sense. It is not con-


fined to the production of physical goods used or consumed. It covers
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the production and reproduction of knowledge and of the social rela-


tions, morals and institutions that are prerequisites to the production of
physical goods” (Cox 1989: 39).
Die in der Sphäre der Produktion vorfindbaren Strukturen werden
daher als „Formen sozialer Produktionsbeziehungen“ (modes of
social relations of production) bezeichnet, die die Konfigurationen
sozialer Kräfte umfassen, die am Produktionsprozess beteiligt
sind. Beispiele sind eine landwirtschaftliche Subsistenzproduktion
oder aber über multinationale Konzerne organisierte ‚internationa-
lisierte‘ Produktionsformen. Das Ziel der Darstellung unterschied-
licher Formen sozialer Produktionsbeziehungen ist die Antwort
auf die Frage, was das Erscheinen solcher Formen fördert und in
welcher Art und Weise sich diese Formen verbinden bzw. trans-
formieren (Cox 1987: 103). Es wird dargestellt, dass das reziproke
Verhältnis zwischen Produktion und Macht entscheidend ist. Um
dieses Verhältnis zu untersuchen wird ein Ansatz entwickelt, der
sich darauf konzentriert, wie konkrete soziale Produktionsbezie-
hungen gewisse soziale Kräfte hervorbringen, wie diese sozialen
Kräfte die Machtbasis in Staatsformen etablieren und wie dies
dann die Weltordnung beeinflusst. Dieser Ansatz baut auf der so-
zialen Ontologie historischer Strukturen auf (Cox 1987: 4). Er be-
zieht sich auf die „persistent social practices, made by collective
human activity and transformed through collective human activ-
ity“ (Cox 1987: 4). Es wird daher der Versuch gemacht, „the reci-
procal relationship of structures and actors“ zu erfassen (Cox
1995a: 33; Cox 2000: 55-59; Bieler und Morton 2001b).
Im Gegensatz zu den etablierten Ansätzen wie Neorealismus und
Regimetheorie, die den Staat als einheitlichen und einzig wichtigen
Akteur begreifen, identifizieren neo-gramscianische Ansätze soziale
Klassen (meist ist von „sozialen Kräften“ – social forces – die Rede)
als wichtigste Akteure. Hegemonie wird dabei als eine Form von
Klassenherrschaft begriffen. Cox versteht Klasse nicht als eine sta-
tisch analytische Kategorie, sondern als historische Kategorie, die er
auf heuristische Art und Weise benutzt (Cox 1987: 355-357, 1996
[1985]: 57). Klassenidentität resultiert für ihn – im Gegensatz zu
„orthodoxen“ marxistischen Ansätzen – nicht automatisch aus dem
Platz der jeweiligen sozialen Kräfte in den Produktionsbeziehungen,
Neo-Gramscianishe Perspektiven 379
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sondern ist immer das Ergebnis spezifischer historischer Konfliktsi-


tuationen (vgl. Thompson 1978). „Bring back exploitation as the
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hallmark of class, and at once class struggle is in the forefront, as it


should be“ (Ste. Croix 1981: 57). Die Konzentration auf Ausbeutung
und den Widerstand dagegen garantiert, dass soziale Kräfte nicht
einfach auf materielle Aspekte reduziert werden, sondern auch ande-
re Identitätsformen umfassen, die in Kämpfe verwickelt sind, wie
ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Religion oder Geschlecht. Zu-
sammengefasst kann man sagen, dass „,non-class‘ issues – peace,
ecology, and feminism – are not be set aside but given a firm and
conscious basis in the social realities shaped through the production
process“ (Cox 1987: 353). Kees van der Pijl hat dieses Verständnis
von Klassenkampf präzisiert. Der neo-liberale Kapitalismus, so ar-
gumentiert er, habe die Ausbeutung mittlerweile auf die Prozesse der
sozialen Reproduktion – siehe z.B. die Anwendung von kapitalisti-
schen Profitkriterien im Bereich des Gesundheitswesens – wie auch
die Umwelt ausgedehnt. Widerstand dagegen, sei es von progressi-
ven sozialen Bewegungen, Grünen Parteien oder aber auch von na-
tionalistischen, populistischen Bewegungen könnte genauso als
Klassenkampf verstanden werden wie der Konflikt zwischen Ar-
beitgebern und Arbeitnehmern am Arbeitsplatz (van der Pijl 1998:
36-49).

2.2 Staatsformen und das Konzept des Historischen


Blocks

Der bisher dargelegte konzeptuelle Rahmen analysiert, wie For-


men der sozialen Produktionsbeziehungen innerhalb bestimmter
Staatsformen (z.B. merkantilistisch, wohlfahrtsstaatlich, staatska-
pitalistisch, neoliberal usw.) etabliert werden. Veränderungen in
den Produktionsbeziehungen führen zu neuen Konfigurationen
von sozialen Kräften. Staatsmacht wiederum baut auf diesen Kon-
figurationen auf. Anstatt den Staat als eine gegebene oder bereits
konstituierte institutionelle Kategorie zu behandeln, werden Über-
legungen hinsichtlich der historischen Konstruktionen verschiede-
ner Staatsformen und der sozialen Kontexte politischer Kämpfe
angestellt. Dies wird erreicht, indem man auf das Konzept des His-
torischen Blocks Bezug nimmt und damit die Staatstheorie erwei-
380 Andreas Bieler und Adam David Morton
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tert, die nun auch die Beziehungen innerhalb der Zivilgesellschaft


mit einbezieht.
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Ein Historischer Block bezieht sich auf die Art und Weise, wie
führende soziale Kräfte eine Herrschaft über untergeordnete so-
ziale Kräfte innerhalb eines spezifischen nationalen Kontextes etab-
lieren. Dies ist mehr als eine einfache politische Allianz von Klas-
sen oder Klassenfraktionen. Der Terminus „Historischer Block“ be-
zieht sich auf die Integration verschiedener Klasseninteressen, die
überall in der Gesellschaft propagiert werden, „bringing about not
only a unison of economic and political aims, but also intellectual
and moral unity (…) on a ‚universal‘ plane“ (Gramsci 1971: 181-
182). Die Natur eines Historischen Blocks an sich beinhaltet not-
wendigerweise die Existenz von Hegemonie. Eine Hegemonie wer-
de etabliert, „if the relationship between intellectuals and people-
nation, between the leaders and the led, the rulers and the ruled, is
provided by an organic cohesion“ (Gramsci 1971: 418).
Diese Anliegen sind in der Betonung der verschiedenen Staats-
formen beinhaltet, die – wie Cox sagt – sich prinzipiell durch die
Merkmale ihres Historischen Blockes unterscheiden, d.h. durch
die Konfiguration sozialer Kräfte, auf der Staatsmacht letztlich be-
ruht. „A particular configuration of social forces defines in prac-
tice the limits or parameters of state purposes, and the modus op-
erandi of state action, defines, in other words, the raison d’état for
a particular state“ (Cox 1987: 105). Zusammenfassend: Durch das
Analysieren unterschiedlicher Staatsformen wird es möglich, die so-
ziale Basis eines Staates zu untersuchen oder den historischen ‚In-
halt‘ verschiedener Staaten zu erfassen. Ferner hilft dieses Konzept,
alternative Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen, indem es die
Widersprüche innerhalb eines Historischen Blocks, auf dem eine
Staatsform etabliert wurde, aufzeigt und herausarbeitet, welches Po-
tenzial eventuell für die Formierung eines rivalisierenden Histori-
schen Blocks und einer anderen Staatsform vorhanden ist (Cox
1987: 409).
Im Gegensatz zu konventionellen, staatsbezogenen Ansätzen
der IB ist eine breitere Staatstheorie Teil dieses neo-gramsciani-
schen Ansatzes, der eine Untersuchung des Komplexes von Staat
und Zivilgesellschaft miteinschließt. Anstatt Staatsmacht unter zu
bewerten und für nicht vorhanden zu erklären, ist die Aufmerk-
samkeit auf soziale Kräfte und Prozesse gerichtet und darauf, wie
Neo-Gramscianishe Perspektiven 381
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sich diese in Bezug auf die Entwicklung von Staaten verhalten


(Cox 1981: 128).
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Gramsci verstand den Staat nicht einfach als eine Institution,


die sich auf die „Regierung der Funktionäre“ oder die „höchsten
politischen Führer und Persönlichkeiten mit direkter Regierungs-
verantwortung“ begrenzt, sondern „the state is the entire complex
of practical and theoretical activities with which the ruling class
not only justifies and maintains its dominance, but manages to win
the active consent of those over whom it rules“ (Gramsci 1971:
244). Der Staat wird so nicht nur als der Regierungsapparat ver-
standen, der innerhalb des „öffentlichen“ Bereiches agiert (Regie-
rung, Parteien, Militär). Er wird auch als ein Teil des „privaten“
Bereiches der Zivilgesellschaft (Kirche, Medien, Bildung) begrif-
fen, durch welche Hegemonie funktioniert (Gramsci 1971: 261).
Der Staat wird daher nicht unkritisch als eine Art institutionelle
Kategorie oder als ‚Ding an sich‘ definiert, sondern als Ausdruck
einer Form sozialer Beziehungen dargestellt, durch die sich Kapi-
talismus und Hegemonie ausdrücken. Es ist diese Kombination der
politischen und sozialen Gesellschaft, die als „integraler Staat“ be-
zeichnet wird, durch den die herrschenden Klassen intellektuelle
und moralische Funktionen als Teil des politischen und kulturellen
Kampfes um Hegemonie organisieren (Gramsci 1971: 258 und
271).
Unterschiedliche soziale Produktionsbeziehungen bringen ver-
schiedene Fraktionen sozialer Kräfte hervor. Transnationales, aus-
ländisches Kapital ist nicht einfach eine autonome Kraft außerhalb
des Staatseinflusses, sondern repräsentiert stattdessen bestimmte
Klassen oder Klassenfraktionen innerhalb des Staatsapparats. Die-
se widersprüchlichen und heterogenen Beziehungen innerhalb des
Staates sind das Ergebnis eines Antagonismus zwischen nationa-
len und transnationalen Fraktionen des Kapitals und der Arbeiter.
Der Staat ist also eine Kondensierung einer hegemonialen Bezie-
hung zwischen dominanter Klasse und anderen Klassenfraktionen.
Diese Kondensierung einer hegemonialen Beziehung geschieht,
wenn eine führende Klasse ein „hegemoniales Projekt“ entwickelt,
das über die eigenen ökonomischen Interessen hinausgeht und in
der Lage ist, unterschiedliche Aspirationen und allgemeine In-
teressen verschiedener sozialer Klassen und Klassenfraktionen zu
einem Ganzen zu verbinden. Dies ist ein Prozess „der reinsten po-
382 Andreas Bieler und Adam David Morton
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litischen Phase“ des Klassenkampfes, der sich auf einer „universa-


len Ebene“ ereignet und in der Formierung eines Historischen
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Blockes resultiert (Gramsci 1971: 263).

2.3 Hegemonie und Weltordnung(en)

Obwohl ursprünglich ein nationales Phänomen, kann sich die He-


gemonie einer sozialen Klasse grundsätzlich ausdehnen, indem ei-
ne bestimmte Form der sozialen Produktionsbeziehungen auf an-
dere Länder übertragen wird und letztlich dazu führt, dass die na-
tionale Organisation der Produktion in eine Hierarchie weltweit
miteinander verflochtener Produktionsstrukturen eingebunden ist
(Cox 1983: 171; 1987: 149-150). Ein solcher Prozess der Expan-
sion macht eine Verbindung sozialer Kräfte unterschiedlicher
Länder möglich: „A world hegemony is thus in its beginnings an
outward expansion of the internal (national) hegemony established
by a (…) social class“ (Cox 1983: 171). Dies verweist auf die Fä-
higkeit hegemonialer Kräfte, ihre Interessen über allgemein akzep-
tierte Ideen, Normen, Regeln und Institutionen zu universalisieren.
Die nach außen gerichtete Ausdehnung einer bestimmten Form
der sozialen Produktionsbeziehungen und der Interessen einer füh-
renden Klasse kann dabei auch durch internationale Institutionen
unterstützt werden. Dies bezeichnete Gramsci (1971: 243) als die
„internen und international organisatorischen Beziehungen des
Staates“: Dazu gehören Assoziationen und Organisationen wie der
Rotary Club oder die römisch-katholische Kirche, die zwar einen
transnationalen Charakter haben, jedoch fest innerhalb eines je-
weiligen Staates verwurzelt sind.
Hegemonie ‚operiert‘ also auf zwei Ebenen: erstens durch die
Konstruktion eines Historischen Blocks und die Herstellung einer
sozialen Kohäsion innerhalb einer Staatsform und zweitens durch
die internationale ‚Projektion‘ von Hegemonie auf die Ebene der
Weltordnung. Ein Beispiel ist die zu Gramscis Zeiten erfolgte Ex-
pansion der fordistischen Montagefabriken über die USA hinaus,
durch die die Macht des „Amerikanismus und Fordismus“ seit den
1920er und 1930er Jahren begründet wurde und die schließlich in
eine Welthegemonie mündete (Gramsci 1971: 277-318; siehe auch
van der Pijl 1984).
Neo-Gramscianishe Perspektiven 383
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2.4 Pax Americana und Globalisierung


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Es ist eines der Hauptziele neo-gramscianischer Perspektiven,


Prozesse strukturellen Wandels zu erklären. Der in der Einleitung
bereits in groben Zügen umrissene Übergang von der Nachkriegs-
ordnung des embedded liberalism zur Globalisierung ist ein zen-
traler empirischer Gegenstandsbereich der Arbeiten von Cox. Sei-
ne Sichtweise dieser Prozesse des Wandels soll im Folgenden ein-
gehend erörtert werden, gerade auch um seinen in den bisherigen
Abschnitten dargestellten theoretischen Ansatz durch die Illustra-
tion an einem empirischen Beispiel verständlicher zu machen.
Cox argumentiert, dass bis Anfang der 1970er Jahre eine durch
die USA geführte hegemoniale Weltordnung – auch Pax America-
na genannt – vorherrschte. Sie beruhte auf dem eingangs erwähn-
ten Prinzip des eingebetteten Liberalismus. Ihr entsprach auf der
Ebene der Staatsform der so genannte Keynesianische Wohlfahrts-
staat – ein durch Staatseingriffe in die Wirtschaft (z.B. eine Politik
der Vollbeschäftigung durch Haushaltsdefizite und ein expansives
Wohlfahrtssystem) gekennzeichnetes Modell (Gill und Law 1988:
79-80).8 Die dieser Staatsform zu Grunde liegenden sozialen Pro-
duktionsbeziehungen waren um das auf Massenproduktion und
Massenkonsum sowie einen dreiseitigen Korporatismus (eine Koa-
lition zwischen Regierung, Industrie und Arbeitnehmern) beru-
hende Fordistische Akkumulationsregime herum organisiert (Cox
1987: 219-230). Die weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen in
den 1970er Jahren brachten diese Ordnung sowie die sie stützen-
den sozialen Machtverhältnisse innerhalb der westlichen Wohl-
fahrtsstaaten ins Wanken. Zwei Tendenzen werden als Hauptursa-
che dieses strukturellen Wandels genannt: die Internationalisie-
rung der Produktion und die Internationalisierung des Staates.
Seit der Erosion der Weltordnungsprinzipien der Pax America-
na in den 1970er Jahren intensivierte sich die Internationalisie-
rung der Produktionsstrukturen, die an der Spitze einer entstehen-
den globalen Klassenstruktur von einer „transnationalen Manager-

8 Es ist hier wichtig zu erwähnen, dass Cox den Keynesianischen Wohlfahrtsstaat


als den „neoliberalen Staat“ bezeichnet. Um Konfusionen mit dem konventio-
nellen Verständnis von Neoliberalismus zu vermeiden, das sich auf Prozesse in
den späten 1970er und 1980er Jahren bezieht und welche Cox „Hyperliberalis-
mus“ nennt, wird hier nicht Cox’ Terminologie gefolgt.
384 Andreas Bieler und Adam David Morton
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klasse“ voran getrieben wurde (Cox 1981: 147). Indem sie die Un-
terschiede im Bereich des Lohnniveaus und der sozialen Siche-
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rungssysteme zwischen einzelnen Staaten nutzten, förderten trans-


nationale Konzerne die Integration von Produktionsstrukturen auf
transnationaler Ebene: Sie organisierten die Produktion verschie-
dener Elemente eines einzigen Produktionsprozesses an unterschied-
lichen geographischen Standorten. Neben der „transnationalen Ma-
nagerklasse“, die sich bei diesem Prozess herausbildete, wurde die
Internationalisierung der Produktionsstrukturen durch weitere
Akteure des Produktionskapitals – insbesondere aus der verarbei-
tenden Industrie – unterstützt. Dazu zählen kleine und mittlere Be-
triebe, die als Vertragspartner und Zulieferer fungieren, Import-
Export-Unternehmen, sowie Teile des Finanzkapitals, die im Ban-
ken-, Versicherungs- und Finanzgewerbe agieren.
Diese Prozesse wurden maßgeblich durch staatliche, in interna-
tionalen Organisationen tätige Eliten gefördert und durch die dabei
entstandenen konvergierenden Sichtweisen von Industrie, Staats-
beamten und Repräsentanten internationaler Organisationen im
Sinne einer eindeutigen Favorisierung der „Logik kapitalistischer
Marktbeziehungen“ abgesichert. Im Ergebnis führten diese Pro-
zesse maßgeblich zu einer Steigerung der strukturellen Macht des
transnationalen Kapitals (Gill und Law 1989: 484). Sie waren ge-
prägt von den Widersprüchen zwischen transnationalen Kräften
des Kapitals und nationalen Kapitalfraktionen. Letztere – verwur-
zelt in den auf nationaler Ebene organisierten Produktionsstruktu-
ren – widersetzten sich aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von
nationalen oder regionalen Schutzvorkehrungen (Protektionismus)
dem globalem Wettbewerb. Auch die Arbeiterklasse sieht Cox in
zwei Tendenzen gespalten: Zum einen existieren Konfliktlinien
zwischen den Arbeitnehmern transnationaler Konzerne und denen
nationaler Unternehmen. Zum anderen verlaufen Konfliktlinien
zwischen den meist mit sicheren Arbeitsplätzen ausgestatteten Ar-
beitnehmern aus der Kernarbeiterschaft transnationaler Konzerne
und Arbeitnehmern in nur befristeten oder Teilzeitarbeitsverhält-
nissen an der „Peripherie“ des Arbeitsmarktes (Cox 1981: 235).
Dies bedeutet, dass Globalisierung in Form der Internationalisie-
rung der Produktionsstrukturen gleichermaßen zu einer Fraktionie-
rung von Kapital und Arbeit in transnationale Kräfte einerseits und
nationale Kräfte andererseits geführt hat.
Neo-Gramscianishe Perspektiven 385
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In Cox’ Verständnis ist internationale Hegemonie nach der Pax


Americana nicht mehr so sehr an die Rolle eines führenden Natio-
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nalstaates gebunden, sondern Ausdruck der Hegemonie sozialer


Kräfte – hier vor allem des transnationalen Kapitals und dessen
Unterstützung durch den transnationalen Teil der Arbeiterklasse.
Die Internationalisierung der Produktion ist in einem neo-
gramscianischen Verständnis gleichbedeutend mit einem grundle-
genden Wandel der sozialen Basis des Staates. Dieser Wandel wird
häufig auch als „Rückzug des Staates“ bezeichnet (Strange 1996).
Robert Cox argumentiert hingegen, dass die Internationalisierung
der Produktionsstrukturen die Rolle des Staates zwar nicht unter-
gräbt (im Sinne eines „Rückzuges“), jedoch fundamental verän-
dert. Mit der Terminologie der „Internationalisierung des Staates“
versucht er diese Dynamik zu erfassen. Er zeigt, wie die Interna-
tionalisierung der Produktionsstrukturen – zusammen mit den sie
begleitenden transnationalen Prozessen der Konsensbildung und
unterstützt durch internationale Institutionen wie die Weltbank
oder den Internationalen Währungsfonds – über den Staat ‚vermit-
telt‘ wird. Im Ergebnis führen diese Prozesse zu einer Vorrangstel-
lung derjenigen staatlichen Organe und Institutionen innerhalb ei-
nes Staatsapparates, die einen besonderen Bezug zur globalen
Ökonomie haben. Dies sind z.B. die Büros von Präsidenten und
Premierministern oder die Finanzministerien und Zentralbanken.
Ihre Vorrangstellung geht zu Lasten von Institutionen mit einem
eher nationalen Bezug, wie z.B. Arbeits- und Industrieministerien
(Cox 1992: 31). Unabhängig davon, ob es sich um Staatsformen
der westlichen Industrieländer oder Staaten der Peripherie handelt,
wird der Staat als „Transmissionsriemen“ verstanden, über den die
nationalen und regionalen Ebenen an die neo-liberale Logik des
kapitalistischen Wettbewerbs angepasst werden (Cox 1992: 31).

3. Von der Internationalisierung des Staates


zur Globalisierung: Differenzierungen
neo-gramscianischer Perspektiven
Abgesehen von Cox stammen die wohl wichtigsten Studien aus
neo-gramscianischer Perspektive der 1980er und 1990er Jahre aus
386 Andreas Bieler und Adam David Morton
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der Feder eines weiteren Wissenschaftlers der York-Universität in


Toronto – Stephen Gill – sowie von Wissenschaftlern der Univer-
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sität Amsterdam (v.a. Otto Holman 1996; Henk Overbeek 1990;


Kees van der Pijl 1984, 1998).9 Zudem sind in den 1990er Jahren
einige Sammelbände erschienen, die ein breites Spektrum von
theoretischen und empirischen Analysen der gegenwärtigen Glo-
balisierungsprozesse in sich vereinen (Gill 1993a; Gill/Mittelmann
1997; Hettne 1995; Overbeek 1993).10 Für eine Darstellung der
Differenzierungen und Weiterentwicklungen musste aus der Viel-
zahl der mittlerweile vorliegenden Studien eine Auswahl getroffen
werden. Nur die wichtigsten von Cox abweichenden theoretischen
Akzentsetzungen können daher im Folgenden berücksichtigt wer-
den. Die Auswahl erfolgt insbesondere mit dem Ziel zu zeigen, für
welch breites Spektrum von Problemen der Globalisierung neo-
gramscianische Ansätze empirisch fruchtbare Untersuchungen an-
leiten können.
Stephen Gill hat der These von der Internationalisierung des
Staates eine theoretisch besser fundierte Basis gegeben. Im Ver-
gleich zu Cox setzt er hier einige andere Akzente. Wie Cox veror-
tet auch Gill die globale Restrukturierung der Produktion im Kon-
text des strukturellen Wandels in den 1970er Jahren. Gill zu Folge
vollzog sich in dieser Zeit der Übergang von einem in der Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten „Internationalen Histori-
schen Block“ sozialer Kräfte zu einem „Transnationalen Histori-
schen Block“. Durch diesen wurden Interessen und Identitäten so-
zialer Kräfte über nationale Grenzen und Klassen hinweg mitein-
ander verbunden und integriert. Darüber hinaus schuf er jedoch

9 Letztere werden auch häufig als „Amsterdamer Schule“ bezeichnet. Siehe dies-
bezüglich wie auch für einen Überblick der Arbeiten dieser Gruppe insbesonde-
re van Apeldoorn (2004). Die Etablierung solcher Schulen sollte jedoch vermie-
den werden, da dies die Gefahr einer Vereinfachung innerer Widersprüche be-
inhaltet und dadurch häufig zur Formierung orthodoxer Ansätze führt. Dies un-
tergräbt dann wiederum die theoretische Vielfalt und kritischen Intentionen die-
ser Wissenschaftler. Aus dem gleichen Grund sollte deshalb auch von neo-gram-
scianischen Perspektiven, also im Plural, und nicht vom Neo-Gramscianismus
gesprochen werden (Morton 2001).
10 Verwiesen sei ferner auf das von Stephen Gill und David Law verfasste Lehrbuch
zur Internationalen Politischen Ökonomie, das die theoretischen Grundlagen, die
Methodik und die empirische Anwendung neo-gramscianischer Perspektiven de-
nen des Mainstreams gegenüberstellt (Gill/Law 1988).
Neo-Gramscianishe Perspektiven 387
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ganz konkrete Bedingungen, unter denen sich eine Hegemonie des


transnationalen Kapitals herausbilden konnte. Hier wird deutlich,
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dass für Gill ökonomische und politische Eliten wie die „transnatio-
nale Managerklasse“ eine weitaus größere Bedeutung besitzen als
für Cox (vgl. auch Gills empirische Untersuchung der Trilateralen
Kommission: Gill 1990). Gill legt seinen Schwerpunkt auf transna-
tionale Produktionsnetzwerke und geht der Frage nach, wie nationale
Regierungen im Prozess der Transnationalisierung Politikautonomie
verlieren, gleichzeitig jedoch selbst integrierter Teil und z.T. Träger
dieses Prozesses geworden sind.
Gill sieht eine vom transnationalen Kapital vorangetriebene
Umstrukturierung der Produktions- und Finanzbeziehungen und
damit das Entstehen eines neuen transnationalen Akkumulations-
regimes. Diese Entwicklung wird durch zwei Schlüsselprozesse
organisiert: den so genannten „neuen Konstitutionalismus“ (new
constitutionalism) des „disziplinären Neoliberalismus“ und die da-
mit einhergehende Verbreitung der Marktgesellschaft.
Kern des „neuen Konstitutionalismus“ ist die Verbreitung der
„Marktdisziplin“ – also makroökonomischer Prinzipien wie Markt-
effizienz, Disziplin und Wettbewerbsfähigkeit – sowie deren poli-
tisch-institutionelle Absicherung. Dahinter verbirgt sich „the move
towards the construction of legal or constitutional devices to re-
move or insulate substantially the new economic institutions from
popular scrutiny or democratic accountability“ (Gill 1992: 165).
Abgestützt wird dieser Prozess durch eine ebenfalls veränderte –
nunmehr neoliberal ausgerichtete – Politik der internationalen In-
stitutionen, v.a. des IWF, des GATT/WTO, der G7 sowie auch über
die regionalen Integrationsprozesse z.B. der EU und des Nordatlan-
tischen Freihandelsabkommens (NAFTA) (Gill 2001). Durch die
auf der Ideologie kapitalistischen Fortschritts basierende Verbrei-
tung des Konzepts der Marktgesellschaft und die sie begleitende
Etablierung ausgrenzender und hierarchischer politischer Struktu-
ren ziele der „neue Konstitutionalismus“ darauf ab, den Neolibera-
lismus als einzig mögliches und „gutes“ Entwicklungsmodell zu
präsentieren (Gill 1995: 399).
Gill weist – von Cox abweichend – darauf hin, dass die Konso-
lidierung des Neoliberalismus auf Supremacy (Vorherrschaft) und
nicht auf Hegemonie basiere. Supremacy beinhaltet die Dominanz
eines Historischen Blocks über eine fragmentierte Opposition (Gill
388 Andreas Bieler und Adam David Morton
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1995: 400, 402, 412). Dieser Gedanke entspricht einem Auffassungs-


unterschied Gills im Vergleich zu Cox: Ein historischer Block
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„may at times have the potential to become hegemonic“ (Gill


1993b: 40). Gill geht damit implizit davon aus, dass ein Histori-
scher Block auch ohne Hegemonie – also konsensuale Absiche-
rung – existieren kann.11
Andere Autoren haben das Konzept der Supremacy dazu be-
nutzt, die Außenpolitik der USA gegenüber der Dritten Welt im
Kontext der Forderungen nach einer „Neuen Internationalen Wirt-
schaftsordnung“ in den 1970er Jahren zu analysieren (Augelli/
Murphy 1988). Für Augelli und Murphy trug die Verbreitung der
Ideologie des auf Individualismus und Freihandel basierenden
amerikanischen Liberalismus grundlegend dazu bei, die US-Supre-
macy in den 1970er und 1980er Jahren abzusichern. Für die Auto-
ren basiert diese Supremacy jedoch nicht einfach auf amerikani-
scher Dominanz. Sie führen eine Unterscheidung zwischen Su-
premacy, Dominanz und Hegemonie ein, in der Supremacy erst
durch Dominanz oder Hegemonie entsteht (Augelli/Murphy 1988:
132). Gramsci (1971: 57) selbst sagte, dass „the supremacy of a
social group manifests itself in two ways, as ‚domination‘ and as
‚intellectual and moral leadership‘ “. Während die erste Variante
der Supremacy Unterwerfung durch Gewalt beinhaltet, bezieht
sich die zweite auf ein hegemonial geführtes Bündnis. Durch diese
Unterscheidung verweisen Augelli und Murphy auf den Zwangs-
charakter der US-amerikanischen Hegemonie in ihrer Dritte-Welt-
Politik – im Unterschied zu ihrer gegenüber Verbündeten hege-
monialen Führungsrolle.
Rupert (1995) untersucht die Herausbildung des auf Massenpro-
duktion beruhenden fordistischen Akkumulationsregimes in den
USA und zeigt, wie dieser neue Produktionsmodus die US-Hege-
monie der Nachkriegszeit begründete. In einer früheren Arbeit (Ru-
pert 1990) ging er der Frage nach, welche Rolle die gewerkschaft-
lichen Auseinandersetzungen in den Massenproduktions-Industrien
in den USA bei der Durchsetzung des neuen Produktionsmodus
spielten. Aufbauend auf diesen Arbeiten hat Rupert die Auseinan-
dersetzungen sozialer Kräfte um den nordamerikanischen Freihan-
delsvertrag in den USA untersucht (Rupert 2000).

11 Für einen Sammelband mit Aufsätzen von Stephen Gill, siehe Gill (2008).
Neo-Gramscianishe Perspektiven 389
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Darüber hinaus bilden Prozesse der transnationalen Klassenbil-


dung in Europa sowie Probleme der Europäischen Integration im
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Kontext der Globalisierung, insbesondere Konflikte um das zu-


künftige Kapitalismusmodell Europas, klassische theoretische und
empirische Untersuchungsschwerpunkte neo-gramscianischer Ana-
lysen (van Apeldoorn 2002; van Apeldoorn/Drahokoupil/Horn
2009; Bieler 2000 und 2006; Bieler/Morton 2001a; Cafruny/Ryner
2003; Holman 1992 und 1996; Overbeek 2003). Zu nennen sind
ferner Analysen zur Osterweiterung der EU und Fragen einer da-
mit einhergehenden neo-liberalen Restrukturierung der neuen Mit-
gliedsländer (Bohle 2002 und 2006; Holman 2004; Shields 2003).
Robinson (2004) hat sich ausführlich mit der Internationalisie-
rung von Produktionsstrukturen und der damit einhergehenden
Herausbildung transnationaler Staatsstrukturen befasst. Dies führte
zu einer Diskussion innerhalb der neo-gramscianischen Perspekti-
ven, wobei vor allem Morton (2007a) die nach wie vor große Be-
deutung von Staatsformen für den Kapitalismus analysierte.12
Zunehmend an Bedeutung gewann in Bezug auf Fragen der
Ausbreitung des Kapitalismus in Prozessen von ‚uneven and com-
bined development‘ (siehe hierzu mehrere Beiträge in Anievas
2010) auch das Konzept der ‚passive revolution‘, das sich mit
Umstrukturierungen beschäftigt, die „von oben“ veranlasst werden
und nicht auf einer breiten Unterstützung innerhalb der Gesell-
schaft beruhen (Morton 2007a: 150-70; Morton 2007b and 2010).
Erwähnenswert ist auch die Formulierung einer Kritik an der ‚va-
rieties of capitalism‘ Literatur, die versucht, strukturellen Wandel
vor allem in Bezug auf nationale Institutionen zu erklären (Bruff
2008, Macartney 2009a). Schließlich beschäftigen sich einzelne
Arbeiten mit den Interventionen der USA in Ländern der Periphe-
rie (u.a. Robinson 1996) oder konzentrieren sich auf die Heraus-
bildung von Hegemonie in Mexiko (Morton 2002, 2003a und
2005).
Es existiert mittlerweile also eine Vielzahl neo-gramscianischer
Ansätze, die mittels einer kritischen Theorie der Hegemonie, der
Weltordnung und des historischen Wandels Fragen und Probleme
der globalen politischen Ökonomie zu beantworten suchen.

12 “The manner in which the rule of capital is maintained is thus advanced best
through a nodal appreciation of state formation processes” (Morton 2007a: 150).
390 Andreas Bieler und Adam David Morton
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4. Willkommene Diskussionen: Kontroversen um die


neo-gramscianischen Ansätze
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Die Kritik an den neo-gramscianischen Ansätzen setzte in den


1990er Jahren ein. Allerdings hat der Mainstream der IB auf die
neo-gramscianischen Perspektiven im Grunde genommen nicht
reagiert (Scherrer 1998: 161). Kritik wurde in erster Linie von Auto-
ren geäußert, die mit ihren eigenen Ansätzen den neo-gramsciani-
schen Perspektiven eher nahe stehen. Diese Kritik kann daher
nicht vorbehaltlos als ‚extern‘ bezeichnet werden.
Für „orthodox“ marxistisch argumentierende Kritiker mangelt
es den neo-gramscianischen Ansätzen an historisch-materialis-
tischer ‚Rigorosität‘. Für Peter Burnham (1991) stellt die neo-gram-
scianische Definition von Hegemonie beispielsweise einen „plura-
listischen Empirizismus“ dar, der den zentralen Stellenwert der
Produktionsbeziehungen übersehe. Indem neo-gramscianische An-
sätze Ideen und materiellen Bedingungen eine gleich große Bedeu-
tung beimessen, werden für Burnham die Widersprüche der sozia-
len Produktionsbeziehungen als die grundlegenden kapitalistischen
Strukturzwänge übersehen, was einem Abgleiten in rein idea-
listische Erklärungen ökonomischer Politik gleichkomme (Burn-
ham 1991: 81). Neo-gramscianische Perspektiven überschätzten
grundlegend die Möglichkeiten politischer Strategien und damit
bewussten Handelns. Für Burnham sind es vor allem ökonomische
Gesetze, insbesondere das Wertgesetz, die für die Reproduktion
von Herrschaft in einer Gesellschaft und auch in den internationa-
len Beziehungen relevant seien (vgl. auch Burnham 1994).13 Auch
Scherrer (1998: 165-166) kritisiert, dass neo-gramscianische Per-
spektiven zwar auf die grundlegende Bedeutung der Produktions-
beziehungen für die Herausbildung von Hegemonie verwiesen, je-
doch nicht danach fragten, inwieweit ökonomische Funktionszu-
sammenhänge (er nennt beispielsweise Zahlungsbilanzen) auf das
Handeln politischer Akteure einwirke. Dieser Vorwurf betrifft ins-
besondere Gill (Scherrer nennt auch Gegenbeispiele aus der Viel-
zahl neo-gramscianischer Ansätze), der bei den Eliten offenbar

13 Für eine eingehende Diskussion dieser und weiterer Kritikpunkte, siehe Bie-
ler/Bonefeld/Burnham/Morton 2006.
Neo-Gramscianishe Perspektiven 391
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von einer hohen Handlungsfreiheit ausgehe (zum Vorwurf der


Elitenfixierung vgl. ausführlich Scherrer 1998: 169).
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Kritisiert wurde auch die neo-gramscianische These der Inter-


nationalisierung des Staates. Besonders Leo Panitch argumentiert,
dass neo-gramscianische Ansätze eine Erklärung der Rolle des
Staates entfalten, die in ihrem Verständnis der Entstehung von
Machtverhältnissen zu sehr „top down“ sei: Globalisierung werde
als ein Prozess verstanden, der sich vom Globalen zum Nationalen
bzw. von „außen“ nach „innen“ entfalte. Durch die Metapher eines
„Transmissionsriemens“ vom Globalen zum Nationalen als Kern
der These der Internationalisierung des Staates werde übersehen,
dass Globalisierung durch die Staaten selbst aktiv herbeigeführt
worden sei (Panitch 1994). Panitch bestreitet damit den von Cox
behaupteten nationalstaatlichen Funktionswandel hin zu einem
bloßen Transmissionsriemen zwischen der globalen Ökonomie
und den nationalen Gesellschaften und sieht darin eine Gering-
schätzung der Rolle des Nationalstaates in den derzeitigen Globa-
lisierungsprozessen. Der Staat werde als eine Art ‚Opfer‘ der struk-
turellen und organisatorischen Macht des Kapitals gesehen (Pa-
nitch 1996: 89-96).
Auch andere Autoren reiben sich an der These der Internationa-
lisierung des Staates (u.a. Baker 1999) und wenden ein, dass z.B.
die wechselseitige Interaktion zwischen globaler und lokaler Ebe-
ne stärker berücksichtigt werden müsse (Ling 1996). Neo-gram-
scianische Ansätze ignorierten vor allem auch Klassenkonflikte
innerhalb der nationalen sozialen Formationen (Moran 1998). Die
Rolle des Staates, so auch Panitch (1994: 74), werde immer noch
von Kämpfen zwischen sozialen Kräften innerhalb spezifischer
nationaler sozialer Formationen bestimmt, womit nicht verneint
werde, dass den sozialen Kräften in transnationalen Strukturen ei-
ne große Bedeutung zukomme.
Cox selbst hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Internatio-
nalisierung des Staates und die Rolle transnationaler Eliten beim
Schmieden eines Konsenses noch vollständig entschlüsselt werden
müsse und daher weiterer Erforschung bedarf (1992: 30-1; von
ihm auch als eine „Nébuleuse“ bezeichnet). Die These von der In-
ternationalisierung des Staates basiere lediglich auf einer Reihe
miteinander verbundener Hypothesen, die Vorschläge für empiri-
sche Forschung beinhalteten (Cox 1996 [1993]: 276).
392 Andreas Bieler und Adam David Morton
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Aus einer weiteren Perspektive wird kritisiert, dass die Hege-


monie des transnationalen Kapitals überschätzt werde und dessen
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Möglichkeiten, eine Transformation der Weltordnung herbeizu-


führen, tatsächlich wesentlich geringer seien. Es entstehe der Ein-
druck einer weitgehend widerspruchslosen, reibungslosen neolibe-
ralen Restrukturierung der globalen Ökonomie. Eine Analyse, so
André Drainville (1994: 125), „must give way to more active sor-
ties against transnational neo-liberalism, and the analysis of con-
cepts of control must beget original concepts of resistance“. Wie
auch für Paul Cammack (1999) sei es daher wichtig, nicht nur die
Kohärenz des Neoliberalismus im Blick zu haben, sondern die
Möglichkeiten für gegenhegemoniale Bewegungen herauszuar-
beiten. Viel zu oft – so Cammack – werde gerade die Frage gegen-
hegemonialer Bewegungen und damit die Frage nach den Mög-
lichkeiten einer Transformation der bestehenden Ordnung unter
Verweis auf die zukünftige Forschung außen vor gelassen. Die
Mobilisierungen gegen die Welthandelsorganisation (Seattle, No-
vember 1999), der Aufruhr beim G8-Treffen in Genua (Juli 2001)
wie auch die laufenden Prozesse des Widerstandes innerhalb des
Weltsozialforums machen die Notwendigkeit deutlich, Globalisie-
rung als eine Arena höchst umkämpfter sozialer Beziehungen zu
verstehen. Mittlerweile ist auf diese Kritik von neo-gramsciani-
scher Seite aus geantwortet worden. So wurde sowohl die mögli-
che Rolle von Gewerkschaften als Teil des Widerstandes analy-
siert (Bieler 2006; Bieler/Lindberg 2010) als auch die Situation
ungeschützter ArbeiterInnen in der globalen Ökonomie näher be-
trachtet (Bieler/Lindberg/Pillay 2008; Davies/Ryner 2006). Auch
der Widerstand gegen eine neoliberale Umstrukturierung in Mexi-
co wurde untersucht (Morton 2002 und 2007: 171-200). Macart-
ney (2009b) hat sich zudem mit der gegenwärtigen Finanzkrise
aus neo-gramschianischer Perspektive beschäftigt.
Ein letzter wichtiger Kritikpunkt an neo-gramscianischen Per-
spektiven verweist auf die Notwendigkeit einer intensiveren Be-
schäftigung mit dem Werk Gramscis, vor allem eines korrekten
Erfassens der komplexen methodologischen, ontologischen und
epistemologischen Anliegen des italienischen Denkers (Germain/
Kenny 1998). Es bestehe die Gefahr, dass die z.T. aus ihrem histo-
risch-politischen Kontext herausgelösten Konzepte Gramscis ihre
einstige theoretische Bedeutung verlieren könnten. Diese Forde-
Neo-Gramscianishe Perspektiven 393
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rung nach einer Rückbesinnung auf Gramscis eigene historische


Situation sollte jedoch nicht verhindern, Ideen sowohl innerhalb
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als auch über ihren spezifischen historischen Kontext hinaus zu


verstehen (Morton 2003b und 2007a: 15-38). Worauf es ankom-
me, „is the way (…) in which Gramsci’s legacy gets interpreted,
transmitted and used so that it [can] remain an effective tool not
only for the critical analysis of hegemony but also for the devel-
opment of an alternative politics and culture“ (Buttigieg 1986: 15).

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Internationale Politische Ökonomie


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Hans-Jürgen Bieling

1. Einleitung
Angesichts der wenigen, vereinzelten Arbeiten war in den 1950er
und 1960er Jahren die Disziplin der Internationalen Politischen
Ökonomie (IPÖ) praktisch nicht existent. Ihr fehlte nicht nur ein
klar abgegrenzter Untersuchungsbereich, auch standen innerhalb
der Disziplin der Internationalen Beziehungen sicherheitspoliti-
sche Fragestellungen eindeutig im Vordergrund. Erst gegen Ende
der 1960er Jahre kam es im Kontext einer veränderten weltwirt-
schaftlichen Konstellation – der nachholenden ökonomischen Ent-
wicklung in Westeuropa und Japan, der Vertiefung der europäi-
schen Integration und zunehmenden internationalen Interdepen-
denz, der wachsenden Bedeutung Transnationaler Konzerne
(TNKs), dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods
und der weltweiten Rezession 1974/75 – zu einer Art Neubegrün-
dung der IPÖ (vgl. Strange 1995a; Murphy/Nelson 2001; Bieling
2007: 10ff). In dieser Zeit wandten sich eine ganze Reihe von
Wissenschaftlern – unter anderem Robert Gilpin, Edward Morse,
David Baldwin, Robert Keohane und Joseph Nye – politökonomi-
schen Fragestellungen zu. Mit jeweils spezifischen analytischen
Konzeptionen untersuchten sie dabei das veränderte Verhältnis
und die Interaktion von Staaten, Märkten, internationalen Institu-
tionen und gesellschaftlichen Sozialbeziehungen (vgl. auch die
Beiträge von Manuela Spindler und Bernhard Zangl in diesem
Band).
Susan Strange (1923-1998) hat in dieser Diskussion vor allem
dadurch besondere Akzente gesetzt, dass sie die Aufmerksamkeit
auf die historisch-kritische Analyse der inter- und transnationalen
Machtstrukturen lenkte und danach fragte, wie und warum sich
das staatliche Handeln und die Operationsweise von Märkten ver-
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Internationale Politische Ökonomie


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Hans-Jürgen Bieling

1. Einleitung
Angesichts der wenigen, vereinzelten Arbeiten war in den 1950er
und 1960er Jahren die Disziplin der Internationalen Politischen
Ökonomie (IPÖ) praktisch nicht existent. Ihr fehlte nicht nur ein
klar abgegrenzter Untersuchungsbereich, auch standen innerhalb
der Disziplin der Internationalen Beziehungen sicherheitspoliti-
sche Fragestellungen eindeutig im Vordergrund. Erst gegen Ende
der 1960er Jahre kam es im Kontext einer veränderten weltwirt-
schaftlichen Konstellation – der nachholenden ökonomischen Ent-
wicklung in Westeuropa und Japan, der Vertiefung der europäi-
schen Integration und zunehmenden internationalen Interdepen-
denz, der wachsenden Bedeutung Transnationaler Konzerne
(TNKs), dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods
und der weltweiten Rezession 1974/75 – zu einer Art Neubegrün-
dung der IPÖ (vgl. Strange 1995a; Murphy/Nelson 2001; Bieling
2007: 10ff). In dieser Zeit wandten sich eine ganze Reihe von
Wissenschaftlern – unter anderem Robert Gilpin, Edward Morse,
David Baldwin, Robert Keohane und Joseph Nye – politökonomi-
schen Fragestellungen zu. Mit jeweils spezifischen analytischen
Konzeptionen untersuchten sie dabei das veränderte Verhältnis
und die Interaktion von Staaten, Märkten, internationalen Institu-
tionen und gesellschaftlichen Sozialbeziehungen (vgl. auch die
Beiträge von Manuela Spindler und Bernhard Zangl in diesem
Band).
Susan Strange (1923-1998) hat in dieser Diskussion vor allem
dadurch besondere Akzente gesetzt, dass sie die Aufmerksamkeit
auf die historisch-kritische Analyse der inter- und transnationalen
Machtstrukturen lenkte und danach fragte, wie und warum sich
das staatliche Handeln und die Operationsweise von Märkten ver-
400 Hans-Jürgen Bieling
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ändern. Der von ihr entwickelte Untersuchungsansatz lässt sich


dabei nur schwerlich einem derjenigen Paradigmen zuordnen, in
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die man die Internationalen Beziehungen und die IPÖ gemeinhin


untergliedert (vgl. Gill/Law 1988; Biersteker 1993; Ravenhill 2008).
Die meisten Berührungspunkte – z.B. die Kritik am neorealisti-
schen Mainstream, die historische Betrachtungsweise und das Ge-
wicht, das sie nicht-staatlichen Akteuren beimisst – gibt es noch
mit den Vertretern neo-gramscianischer Perspektiven (vgl. Bieling
2007: 44ff und den Beitrag von Andreas Bieler und Adam David
Morton in diesem Band). Allerdings gilt ihr Interesse nicht so sehr
der kapitalistischen Akkumulation, also den Produktionsbeziehun-
gen, sondern vielmehr den Veränderungen in den internationalen
Geld- und Kreditbeziehungen.
Einer umfassenden theoretischen Kanonisierung ihrer Konzepte
hat sich Susan Strange stets widersetzt. Ihr ging es eher darum, die
Barrieren, die zwischen den Disziplinen wie auch zwischen den un-
terschiedlichen Schulen bestehen, einzureißen (vgl. Strange 1970).
Die strikte Trennung von Ökonomie und Politik wurde von ihr
ebenso überwunden wie die zwischen der nationalen und interna-
tionalen politischen Ökonomie. Gegen eine analytische Blickver-
engung, die sich allein auf die Entscheidungen staatlicher Akteure
konzentriert, betonte sie immer wieder den Einfluss (trans-)natio-
naler gesellschaftlicher Akteure; und entgegen einer deterministi-
schen Sichtweise analysierte sie die Transformation der internatio-
nalen Wirtschaftsbeziehungen – der Produktions- wie auch der
Geld- und Finanzbeziehungen – stets als einen Prozess, der auf der
Grundlage der gegebenen Machtkonfigurationen durch politische
Entscheidungen, aber auch Nicht-Entscheidungen gestaltet und
vorangetrieben wird. Gegen institutionalistische bzw. regimetheo-
retische Arbeiten, die sich zu stark auf die formellen internationa-
len Arrangements konzentrieren, verwies sie auf die strukturierende
Kraft (sozio-)ökonomischer Machtungleichgewichte (vgl. Strange
1982). Provokant war schließlich auch der von ihr erhobene An-
spruch, die Internationale Politische Ökonomie nicht den Interna-
tionalen Beziehungen unterzuordnen, sondern umgekehrt, die In-
ternationalen Beziehungen als zentrale Dimensionen einer gesell-
schafts- und nicht staatszentrierten und damit umfassender ange-
legten, integralen IPÖ zu betrachten (vgl. Strange 1989a: 435;
1994b: 218).
Internationale Politische Ökonomie 401
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Der konfliktfreudige, eigenwillige und unorthodoxe, aber stets


kreative analytische Zugriff auf Fragen der IPÖ ist zum Teil si-
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cherlich das Resultat ihres eher ungewöhnlichen biographischen


Werdegangs (vgl. Strange 1989a). Nach dem wirtschafts- und so-
zialwissenschaftlichen Studium an der London School of Econo-
mics (LSE) entschied sie sich für eine Karriere als Journalistin:
zunächst als Wirtschaftskorrespondentin beim Economist, dann als
in Washington (Weißes Haus) und in New York (Vereinte Natio-
nen) akkreditierte Berichterstatterin für den Observer. Auch als sie
1949 nach Großbritannien zurückkehrte, setzte sie ihre journalisti-
sche Arbeit fort. Sie hatte sechs Kinder und lehrte darüber hinaus
noch Internationale Beziehungen am University College in Lon-
don. Zwischen 1965 und 1978 war sie dann wissenschaftliche Re-
ferentin am Chatham House des Royal Institute of International
Affairs. Neben ihren ersten Monographien Sterling and British
Policy (Strange 1971) und International Monetary Relations
(Strange 1976a) erschienen in dieser Zeit einige Aufsätze, in de-
nen sie bereits die Umrisse ihres heterodoxen Forschungspro-
gramms skizzierte (vgl. hierzu auch Cohen 2008: 44ff). 1974 grün-
dete sie, zusammen mit Alisdair Buchan, die British International
Studies Association (BISA). Erst 1978 übernahm sie einen Lehr-
stuhl für Internationale Beziehungen an der LSE. In der Folge be-
treute sie nicht nur unzählige Doktoranden, sondern schrieb auch
jene Bücher – Casino Capitalism (Strange 1997a [1986]) und
States and Markets (Strange 1994a [1988]) –, die ihren Namen
weltweit bekannt machten. Voller Tatendrang blieb sie auch nach
der Pensionierung weiter engagiert. 1989 ging sie für fünf Jahre an
das European University Institute nach Florenz, etablierte dort den
Lehrstuhl für Internationale Politische Ökonomie und veröffent-
lichte zusammen mit John Stopford Rival States, Rival Firms (vgl.
Stopford/Strange 1991). Es folgten schließlich noch weitere Lehr-
und Forschungsaufenthalte in Mailand, Tokio und Warwick sowie
zwei weitere Bücher: The Retreat of the State (1996) und kurz vor
ihrem Tod Mad Money (1998a).
402 Hans-Jürgen Bieling
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2. Theoriedarstellung: Strukturale Macht in der


internationalen politischen Ökonomie
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Die von Strange entwickelte macht- und strukturtheoretisch ange-


legte Analyseperspektive steht in deutlichem Kontrast zur US-
amerikanischen, d.h. weitestgehend positivistisch, quantitativ und
marktliberal ausgerichteten Mainstream-Diskussion innerhalb der
IPÖ (vgl. Cohen 2007; Maliniak/Tierney 2009). Diese befasst sich
zwar auch mit der Interaktion von Staaten und Märkten, insbeson-
dere mit dem Management des Welthandels, der Wechselkurse,
Auslandsschulden und Direktinvestitionen, ohne jedoch eingehen-
der danach zu fragen, ob und wie die Interessen und Strategien der
beteiligten Akteure durch die spezifischen strukturellen Kontext-
bedingungen – gesellschaftlich wie international – geprägt sind. In
der Konsequenz verengt sich die IPÖ hierdurch auf einen Ansatz,
der primär oder sogar ausschließlich das ökonomische Handeln
staatlicher Akteure – allen voran Regierungen – in den Blick
nimmt und den Strange (1995a: 164; ähnlich bereits Strange 1975)
als PIER-Ansatz („Politics of International Economic Relations“)
kritisiert hat (vgl. auch Palan 2003). Sie wendet sich dabei nicht
nur gegen neorealistische Ansätze, sondern auch gegen pluralisti-
sche Interdependenztheorien. Diese schenken zwar transnationalen
Akteuren und Strategien eine größere Beachtung, haben somit
auch ein Gespür dafür, dass innerhalb der politischen Strukturen –
z.B. in der Aushandlung internationaler Regime – ökonomische
Aspekte und Interessen artikuliert werden. Zugleich fehlt ihnen je-
doch ein Verständnis für die politischen Prozesse, die sich unter-
halb der Ebene der internationalen Regime, d.h. innerhalb der trans-
nationalen ökonomischen und sozialen Macht- und Autoritäts-
strukturen vollziehen (vgl. Strange 1982: 495f; Tooze/May 2002;
vgl. auch den Beitrag von Manuela Spindler in diesem Band).

2.1 Analyseperspektive und Erkenntnisinteresse

Dies hat freilich Konsequenzen für das – oft nicht explizit dargelegte
– Erkenntnisinteresse: In der Mainstream-Diskussion geht es zu-
meist nur darum, den Ort der politischen Macht und Autorität zu er-
fassen und vielleicht noch in der Beantwortung der Lasswell’schen
Internationale Politische Ökonomie 403
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Frage „Who gets what?“ sehr grob die Verteilungskonsequenzen zu


bestimmen, die internationale Institutionen oder Konflikte für Staa-
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ten oder nationale Ökonomien mit sich bringen (vgl. Strange 1995a:
165). Für Strange ist eine solche Betrachtung jedoch viel zu eng an-
gelegt und dem Status Quo verhaftet. Wenn von ihr die Frage nach
dem „Cui bono?“ (Wem nützt es?) gestellt wird, so geschieht dies in
einer weiter ausgreifenden Perspektive. Den Ausgangspunkt ihrer
Analyse bilden dementsprechend nicht einfach unmittelbar die inter-
nationalen Akteure und Regime, sondern die tiefgreifenden sozio-
ökonomischen Veränderungen, über die sich der historische Wandel
der – gesellschaftlich verankerten – inter- und transnationalen
Machtverhältnisse erschließt (vgl. Strange 1976b; 1984: 272ff). Ne-
ben den primären Machtstrukturen wie Sicherheit, Produktion, Geld
und Finanzen sowie Wissen nimmt sie dabei auch die sekundären
Strukturen der Transport-, Handels-, Energie- und Wohlfahrtsorga-
nisation in den Blick (vgl. Strange 1994). Erst auf der Grundlage
dieser verschiedenen Macht- und Strukturkomponenten ist für sie zu
verstehen, warum und in welche Richtung sich der Nexus von Auto-
rität und Markt bzw. von Markt und Autorität stabilisiert oder aber
verändert.
Das Forschungsprogramm, das Susan Strange in diesem Sinne
entwickelt, setzt sich von den gängigen Analyserastern der US-
amerikanisch dominierten IPÖ in mehrfacher Hinsicht ab: Erstens
problematisiert Strange die Forschungspraxis einer unreflektierten
Komparatistik, die im Vergleich spezifischer nationaler Entwick-
lungspfade und Institutionensysteme die übergreifenden Kontext-
bedingungen – die Funktionsweise der internationalen politischen
Ökonomie – aus dem Blick verliert. Dies heißt nicht, dass für sie
vergleichende Untersuchungen überflüssig und sinnlos sind. Deren
Erkenntnisgewinn kommt jedoch nur dann zum Tragen, wenn sie
sich nicht ausschließlich auf den Nationalstaat oder die National-
ökonomie beziehen und in eine Konzeption der Transformation
inter- bzw. transnationaler Machtstrukturen eingebettet sind (vgl.
Strange 1997b). Zweitens richten sich ihre Einwände immer wie-
der gegen das von der neorealistischen Schule unterbreitete Inter-
pretationsraster und dessen Annahme einer autonomen, national-
staatlich basierten Machtpolitik (vgl. z.B. Strange 1996: 66ff). Ei-
ne solche Sichtweise ist für sie zum einen analytisch höchst frag-
würdig, liegt ihr doch eine künstliche Trennung von Ökonomie
404 Hans-Jürgen Bieling
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und Politik sowie eine sehr eng definierte staatszentrierte Analyse-


perspektive zugrunde, die weder die mehrdimensionalen transna-
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tionalen Machtstrukturen noch die vielfältigen Formen nicht-


nationalstaatlicher Autorität – z.B. durch TNKs, internationale Or-
ganisationen, (kriminelle) Netzwerke etc. – in den Blick zu neh-
men vermag. Zum anderen ist sie aber auch politisch problema-
tisch, da sie an tradierten macht- und ordnungspolitischen Konzep-
ten – dem westfälischen Staatensystem und einer binnenzentrierten
US-Politik – festhält, unter deren Anleitung die USA auf die glo-
balen Transformationsprozesse nicht kooperativ, sondern mit einem
unilateral definierten Dominanzanspruch reagieren. Drittens schließ-
lich wendet sich Strange methodisch auch gegen jene Ansätze in der
IPÖ, die inspiriert durch die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion
spieltheoretische Modelle entwerfen, um die hiermit verbundenen
Hypothesen dann anschließend rigoros zu überprüfen (vgl. Strange
1995a: 167f). Ein solches Vorgehen ist für sie vor allem deswegen
unangebracht, weil es sich in erster Linie auf „messbare Phänome-
ne“ konzentriert, eine „statische Welt“ voraussetzt und von einem
wissenschaftlichen Beobachter ausgeht, der in einem vermeintlich
losgelösten Verhältnis zur „objektiven Realität“ zu stehen glaubt.
Ungeachtet ihrer Ausführungen zu den Veränderungen in der
transnationalen Wissensstruktur haben Strange (1994a: 136) sol-
che meta-theoretischen Fragen letztlich aber nur wenig interes-
siert. Ihr Wissenschaftsverständnis ist sehr viel pragmatischer aus-
gerichtet (vgl. Palan 2003). Obgleich sie großen Wert darauf legt,
dass Wissenschaft nicht nur beschreiben, sondern immer auch er-
klären soll (vgl. Strange 1994a: 10f), begreift sie diese doch we-
sentlich als ein Medium zur Korrektur bzw. Erweiterung des
„common sense“ (vgl. auch May 1996: 168ff) oder spezifischer:
als eine Brücke zwischen dem Verständnis der „realen Welt“ und
den Möglichkeiten ihrer Veränderung (vgl. Morgan et al. 1993: 9).
In diesem Sinne konzentriert sie sich darauf, mit Hilfe einer his-
torisch offenen Konzeptualisierung von Machtstrukturen eine
„neue realistische Ontologie“ (vgl. Strange 1997d; Cox 1996:
183ff) bzw. eine neue „radikale Ontologie“ (vgl. Tooze 2000a,
2000b) zu entwerfen. Diese zeichnet sich vor allem dadurch aus,
dass sie im Unterschied zur staatszentrierten realistischen Ontolo-
gie die internationalen Autoritätsstrukturen als ein sehr dynami-
sches und äußerst komplexes – durch ökonomische, staatliche und
Internationale Politische Ökonomie 405
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auch gesellschaftliche Faktoren geprägtes – Geflecht sozialer


Machtbeziehungen begreift.
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2.2 Strukturen und Formen der Machtausübung

Das von Strange zu Grunde gelegte Machtverständnis ist sehr um-


fassend. Direkter Zwang und unmittelbare Gewalt sind ebenso
miteingeschlossen wie die diversen Formen von Autorität oder
Einflussnahme: „Power is simply the ability of a person or group
of persons to affect outcomes that their preferences take prece-
dence over the preferences of others“ (Strange 1996: 17) Wie dies
genau geschieht, ist von vielen Faktoren abhängig: von gesell-
schaftlichen und internationalen Strukturveränderungen wie auch
von historisch spezifischen Aushandlungsprozessen innerhalb ei-
nes Netzwerkes (trans-)nationaler und intergouvernementaler In-
teraktionsbeziehungen (vgl. Strange 1994a: 39ff).
Macht kann, muss aber nicht, unmittelbar an die Verfolgung
spezifischer Interessen gekoppelt sein. Sie kommt auch dann zur
Wirkung, wenn keine Pressure-Group identifizierbar ist. Macht
stellt demzufolge nicht einfach ein Ding, eine Eigenschaft dar, die
einzelnen Akteuren anhaftet. Sie ist vielmehr ein konstitutives Mo-
ment sozialer Verhältnisse, das relationale oder aber strukturale
Effekte hervorrufen kann. Relationale Macht lässt sich, wie bei
Max Weber oder in der realistischen Schule, als die Fähigkeit ei-
nes Akteurs (Land A) begreifen, den eigenen Willen auch gegen
den eines anderen Akteurs (Land B) durchzusetzen bzw. dessen
Verhalten im eigenen Interesse zu beeinflussen. Diese Art der
Machtausübung ist für Strange zwar nicht belanglos, im Vergleich
zum Gestaltungspotenzial strukturaler Macht jedoch eher zu ver-
nachlässigen. Unter strukturaler Macht versteht sie „the power to
shape and determine the structures of the global political economy
within which other states, their political institutions, their eco-
nomic enterprises and (not least) their scientists and other profes-
sional people have to operate“ (Strange 1994a: 24f). Strukturale
Macht beschränkt sich in diesem Kontext nicht allein auf die ex-
plizit politische Dimension internationaler Beziehungen wie z.B.
auf das Agenda-Setting oder die Gestaltung internationaler Regi-
me. Sie erstreckt sich ebenso auf die relative Kontrolle der inter-
406 Hans-Jürgen Bieling
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nationalen Produktionsstrukturen und Finanzbeziehungen, ein-


schließlich der hierdurch abgesicherten asymmetrischen ökonomi-
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schen Reproduktionsmuster, wie auch auf die Organisation, Be-


schaffenheit und Verteilung von Wissen, Informationen und Über-
zeugungen.
Diese strukturanalytische Perspektive hat vor allem drei ge-
wichtige Implikationen: Erstens ist es schwierig, zwischen politi-
scher und ökonomischer oder zwischen politischer und ideologi-
scher Macht trennscharf zu unterscheiden. Die von Strange (1994a:
25f; 1975) vorgenommene Differenzierung ist eher analytischer
Art, da sich die verschiedenen Machtdimensionen oft wech-
selseitig stützen, zuweilen sogar bedingen:
“It is impossible to have political power without the power to pur-
chase, to command production, to mobilize capital. And it is impossi-
ble to have economic power without the sanction of political authority,
without the legal and physical security that can only be supplied by
political authority” (Strange 1994a: 25).
Zweitens ist Macht primär funktional und nicht-territorial be-
stimmt. Entscheidend ist nicht die Kontrolle über Land und Men-
schen, sondern – gesellschaftlich wie inter- und transnational – der
Einfluss auf die strukturellen Rahmenbedingungen, Spielregeln
und damit auch auf die Resultate der internationalen politischen
Ökonomie. Drittens weist Strange nachdrücklich darauf hin, dass
keine der strukturalen Machtdimensionen, die sich auf jeweils
spezifische gesellschaftliche Grundbedürfnisse beziehen, vorgela-
gert und notwendig bestimmend ist. Die Machtverhältnisse inner-
halb der Sicherheits-, Finanz- und Wissensstrukturen lassen sich
nicht – wie vermittelt auch immer – aus den Machtverhältnissen in
der Produktionsstruktur ableiten. In den Worten von Strange
(1994a: 26): „(...) structural power is to be found not in a single
structure but in four separate distinguishable but related struc-
tures.“
(1) Die Sicherheitsstruktur bildet für Strange den Machtrahmen,
innerhalb dessen zur Abwehr von Naturkatastrophen, Umweltrisi-
ken oder gewaltsamen Konflikten bestimmte Schutz- und Abwehr-
mechanismen bereitgestellt werden. Die Kontrolle über die An-
wendung bzw. Vermeidung von Gewalt liegt nicht bei allen gesell-
schaftlichen Gruppen gleichermaßen, sondern bei spezifischen, in
Internationale Politische Ökonomie 407
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erster Linie staatlichen Eliten. Konflikte in der Sicherheitsstruktur


resultieren vor allem daraus, dass unterschiedliche Autoritäten
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nicht einfach friedlich koexistieren, sondern über die Grenzen der


von ihnen übernommenen Schutzaufgaben in Streit geraten. Sie
können sich zwischen zwei oder mehreren Staaten entzünden, aber
auch innerhalb eines Staates zwischen Zentral- und Provinzregie-
rungen sowie zwischen der Regierung und gesellschaftlichen Ak-
teuren wie Gewerkschaften, Sekten oder kriminellen Vereinigun-
gen. Oft wird zwischen den Sicherheitsgefahren, die innerhalb von
Nationalstaaten entstehen (Kriminalität, Terrorismus oder Bürger-
krieg) und denen, die das internationale Staatensystem betreffen
(Krieg oder Handelsembargos), eine scharfe Trennung vorgenom-
men. Für Strange (1994a: 48) ist eine solche Perspektive insofern
problematisch, als Gefährdungen der Sicherheit oft nicht auf eine
der beiden Dimensionen – also gesellschaftlich oder international
– reduziert werden können.
Die Konzeption der internationalen Sicherheitsstruktur weist so-
mit zwar durchaus einige Parallelen zum Interpretationsraster der
neorealistischen Schule auf, das vor allem die zwischenstaatliche
Machtbalance in den Blick nimmt (vgl. May 1996: 179; Strange
1994a: 50ff). Nicht minder bedeutsam sind jedoch die Differenzen:
Erstens ist die internationale Sicherheitsstruktur für Strange nicht
ausschließlich durch die Nationalstaaten, sondern auch durch un-
zählige nicht-staatliche Akteure geprägt. Zweitens ist ihr Sicher-
heitsbegriff im Vergleich zu realistischen Positionen umfassender
angelegt. Sicherheit bezieht sich für sie nicht nur auf die unmittelba-
ren politischen Gefahren, sondern umschließt auch die Kontrolle an-
derer Risiken, wie z.B. von Umweltproblemen, Währungs- und Fi-
nanzmarktkrisen, Arbeitslosigkeit, Hungersnöten oder (waffen-)tech-
nologischen Entwicklungen (vgl. Strange 1996: 33f). Drittens the-
matisiert Strange die gesellschaftlichen Machtasymmetrien, die den
sicherheitspolitischen Arrangements – im Verhältnis von Beschüt-
zern und Geschützten – eingeschrieben sind. Und viertens schließ-
lich ist für sie die Sicherheitsstruktur im Verhältnis zu den anderen
Machtstrukturen nicht automatisch vorrangig. Ihre Bedeutung hängt
in hohem Maße davon ab, ob die – auch von den geschützten Grup-
pen – wahrgenommenen inneren oder äußeren Gefahren derart im-
mens sind, dass auch die übrigen Werte und Ziele wie Wohlstand,
Freiheit und Gerechtigkeit beeinträchtigt werden.
408 Hans-Jürgen Bieling
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(2) Die Produktionsstruktur bildet die Summe all jener Arran-


gements, über die festgelegt wird, welche Güter „durch wen für
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wen“ hergestellt werden, welche Methoden und Techniken dabei


angewendet werden und wie dieser Prozess „von wem“ organisiert
wird. Als Grundlage des gesellschaftlichen Reichtums werden in
der Produktionsstruktur all jene Schlüsselentscheidungen getrof-
fen, die die Erzeugung und Verteilung ökonomischer Ressourcen
betreffen (Strange 1994a: 64). Die Konsequenzen, die sich aus der
Art der Produktion für die Distribution gesellschaftlicher und in-
ternationaler Macht ergeben, sind zweifelsohne gewichtig. Verän-
derungen in der Produktionsstruktur schlagen sich oft recht unmit-
telbar in den gesellschaftlichen Macht- bzw. Klassenverhältnissen
nieder. Die Auswirkungen auf die inter- und transnationalen Be-
ziehungen sind eher indirekt, jedoch keineswegs minder bedeut-
sam, wandeln sich mit der Produktion doch auch die Bedingungen,
Formen und der Charakter staatlichen Handelns. Dies betrifft z.B.
die Interaktionsmuster zwischen Regierungen und TNKs (vgl. Stop-
ford/Strange 1991: 214ff), die Formen der staatlichen Besteuerung
wie auch insgesamt die politischen Möglichkeiten, auf internatio-
nale ökonomische Risiken und Instabilitäten zu reagieren (vgl.
Strange 1994a: 84ff).
Die Internationalisierung der Ökonomie ist für Strange Aus-
druck einer grundlegenden Transformation der Produktionsstruk-
tur. Die Transnationalisierung von Macht- und Kontrollstrukturen,
die hiermit einhergeht, wird für Strange (1984: 273) durch die of-
fiziellen volkswirtschaftlichen Kennziffern wie Außenhandel und
Auslandsinvestitionen nur unzureichend zum Ausdruck gebracht.
Schließlich sind in diesen Prozess auch viele andere Entwicklun-
gen eingelagert – die wachsende Bedeutung von High-Tech-Pro-
dukten und neuen Dienstleistungen oder die Privatisierung ehe-
mals staatlicher Unternehmen –, infolge derer die Gestaltungs-
macht der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft erodiert
(vgl. Strange 1996: 52) und sich zwischen den nationalen Regie-
rungen, zwischen den Regierungen und den TNKs sowie zwischen
den TNKs eine „triangular diplomacy“ („Dreiecks-Diplomatie“)
herausbildet (vgl. Stopford/Strange 1991: 19ff). In dem Maße, wie
dabei der Kampf um Weltmarktanteile zur leitenden Handlungs-
maxime wird, verändert sich auch die strategische Orientierung
von Staaten und Regierungen: Für sie geht es nicht mehr – wie
Internationale Politische Ökonomie 409
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noch im kolonialen und imperialistischen Zeitalter – darum, Macht


zur Akquisition ökonomischer Ressourcen und damit von Reich-
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tum und Wohlstand zu mobilisieren, sondern ökonomische Res-


sourcen zur Erweiterung der eigenen Macht-, Kontroll- und Ge-
staltungspotenziale einzusetzen (vgl. Strange 1991).
Das von Strange unterbreitete Verständnis einer von Klassen-
und Machtverhältnissen durchzogenen Produktionsstruktur weist
einige Parallelen zu (neo-)marxistischen Analysen auf. Es gibt je-
doch ebenso einige Akzentuierungen, mit denen sich Strange von
diesen unterscheidet: Erstens betont sie, dass die Produktions-
struktur nur eine von mehreren Dimensionen strukturaler Macht
darstellt und nicht etwa die primäre Grundlage, von der aus sich
die übrigen Machtformen und Machtressourcen entschlüsseln las-
sen (vgl. Strange 1994a: 26). Zweitens betrachtet sie die Klassen-
beziehungen zwar als eine wichtige Determinante, die auf die Fort-
entwicklung der Produktionsstruktur einwirkt, diese ist zugleich
aber auch noch anderen ökonomischen und nichtökonomischen
Einflüssen ausgesetzt, z.B. dem technologischen Wandel, Markt-
dynamiken wie auch sicherheitspolitischen Erwägungen oder kul-
turellen und ideologischen Faktoren. Drittens begreift sie – entge-
gen einigen traditionellen marxistischen Analysen – die Finanzbe-
ziehungen, vor allem die Bereitstellung von Krediten, als eine in-
nerhalb der kapitalistischen Ökonomie eigenständige, nicht nur von
der Akkumulation abgeleitete Größe. Die Kreditvergabe und
Geldschöpfung ist danach prinzipiell unbegrenzt, also nicht da-
von abhängig, was vorher an Profiten akkumuliert wurde. Nur so
ist für sie erklärbar, warum die kapitalistische Entwicklung außer-
ordentlich dynamisch voranschreitet (vgl. Strange 1994a: 30; 1997c:
244).
(3) Mit der Finanzstruktur hat sich Susan Strange (1971, 1976a,
1997a, 1998a) besonders eingehend befasst. Im Unterschied zu
vielen herkömmlichen Betrachtungen arbeitet sie heraus, dass
diejenigen, die in der Lage sind, Kredite bereitzustellen, zugleich
über eine erhebliche Kontrollmacht über die Funktionsweise und
Entwicklung der Ökonomie verfügen. Wie zuvor bereits in der Si-
cherheits- und Produktionsstruktur, so sind auch in der Finanz-
struktur nationale und internationale Aspekte eng miteinander ver-
woben. Auf den ersten Blick sind die innere Geldwertstabilität (In-
flation) sowie die Kriterien und Kosten der Kreditvergabe (Zins-
410 Hans-Jürgen Bieling
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rate) vor allem das Ergebnis der nationalen Wirtschafts-, Finanz-


und Geldpolitik, d.h. des Zusammenspiels von Regierung und
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Zentralbank. In der Regel ist die nationale Gestaltungs- und Ent-


scheidungsmacht für die meisten Länder faktisch allerdings stark
eingeschränkt, da auch inter- bzw. transnationale Einflüsse – ande-
re Regierungen, Zentralbanken und die Finanzmärkte – über die
Veränderung der äußeren Geldwertstabilität (Wechselkurse) auf
die Geld- und Finanzbeziehungen einwirken. Susan Strange
(1994a: 90) definiert die Finanzstruktur in diesem Sinne als die
Summe all jener Arrangements, über die die Bereitstellung von
Krediten und die Währungsbeziehungen geregelt werden.
Historisch hat sich erst mit den Banken ein geregeltes Kreditsys-
tem herausgebildet. Für private Akteure und den Staat eröffnete
dies die Option sich zu verschulden, um Investitionen zu tätigen
oder öffentliche Güter bereitzustellen. Durch die Diversifizierung
und Ausweitung von Finanztransaktionen – und den Bedeutungs-
zuwachs anderer Finanzmarktakteure, vor allem von institutionel-
len Anlegern wie Versicherungen oder Investment- und Pensions-
fonds (vgl. Huffschmid 2002) – hat sich die Finanzstruktur ausdif-
ferenziert. Dem Wirtschaftswachstum, den Investitionen und In-
novationen ist diese Entwicklung im Großen und Ganzen zuträg-
lich gewesen. Zugleich sind jedoch auch negative Begleiterschei-
nungen beobachtbar (vgl. Strange 1994a: 96ff): Die sozialen Un-
gleichheiten und Machtungleichgewichte haben sich verschärft
und aufgrund der schwindenden Kontrollmacht staatlicher Autori-
täten ist die Instabilität im Finanzsystem deutlich angewachsen.
Susan Strange (1997a, 1998a) hat diese Entwicklung wiederholt
scharf kritisiert. Für sie hat sich die globalisierte Finanzstruktur
verselbständigt, d.h. von den Funktionserfordernissen der Real-
ökonomie entkoppelt. Die Probleme, die hiermit verbunden sind,
betrafen und betreffen zum Teil noch immer insbesondere die
hoch verschuldeten Entwicklungsländer, die sich den Kriterien ei-
ner weitgehend US-amerikanisch dominierten Finanzstruktur un-
terwerfen müssen.
Für Strange kommt in diesen Tendenzen zum Ausdruck, dass
sich im Autorität-Markt- bzw. Markt-Autorität-Nexus die Macht-
balance zugunsten der Finanzmärkte verschoben hat. Sie interpre-
tiert dies allerdings nicht einfach als einen systemischen oder gar
deterministischen und unausweichlichen Prozess, sondern als eine
Internationale Politische Ökonomie 411
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durch politische Verhandlungen und (Nicht-)Entscheidungen zum


Teil bewusst herbeigeführte Entwicklung (vgl. Strange 1997a:
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25ff; Helleiner 1994: 81ff; Scherrer 1999: 185ff). Neben der Ent-
stehung des Eurodollar-Marktes in den 1960er Jahren und der wohl-
überlegten Entscheidung der Nixon-Administration, das Fix-Kurs-
System von Bretton-Woods aufzugeben, erwähnt sie auch die nach-
folgende Deregulierungspolitik im Sinne der privaten Finanz-
marktakteure. Im Kern führt sie dies nicht – wie vor einiger Zeit in
der wissenschaftlichen Diskussion noch gemeinhin behauptet –
auf einen hegemonialen Abstieg der USA zurück, sondern auf ei-
nen Formwandel US-amerikanischer Hegemonialpolitik:
“(...) it was not the decline of American hegemonic power in the 1970s
and 1980s so much as its misuse, exploiting the system rather than
managing it, giving too much freedom and responsibility for credit
creation to banks, that was at the root of subsequent troubles. It was
the pursuit of short-term instead of long-term national interest that
sowed the seeds of monetary disorder and financial instability.”
(Strange 1994a: 104; ähnlich 1997a: 22f)
Die sich seit dem Jahr 2007 entfaltende globale Wirtschafts- und
Finanzkrise lässt sich als Ausdruck dieser von Strange bereits
recht früh untersuchten Instabilitätspotenziale begreifen (vgl. Bie-
ling 2009). Die von ihr entwickelte Analyseperspektive ist dabei
vor allem durch (finanz-)keynesianische Überlegungen geprägt
(vgl. Strange 1998b: 10ff). Danach ist ein entwickeltes Finanzsys-
tem für die dynamische Entwicklung einer kapitalistischen Ökono-
mie zwar höchst vorteilhaft, läuft ohne hinreichende – nationale
und internationale – politische Kontrolle jedoch Gefahr, sozial zer-
störerische Effekte und Instabilitäten zu produzieren.
(4) Die Wissensstruktur mag auf den ersten Blick als ein ‚Fremd-
körper‘ in der von Strange unterbreiteten „neuen realistischen On-
tologie“ erscheinen (vgl. Guzzini 2000), führt sie doch einige Ele-
mente in die Betrachtung ein, die den Ansatz auch für sozialkon-
struktivistische Überlegungen interessant machen (vgl. Tooze
2000a). Für Strange sind Wissen und Informationen Machtquellen,
die in der IPÖ nur allzu häufig übersehen und unterschätzt werden
(vgl. Strange 1994a: 119). Zugleich ist die Wissensstruktur und
die durch sie konstituierte Macht allerdings sehr schwer zu fassen.
Sie ist im Vergleich zu den anderen Strukturen nicht nur sehr weit
gefächert, sondern machttheoretisch auch eher negativ, d.h. vor
412 Hans-Jürgen Bieling
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allem durch den Ausschluss von Informationen und Wissensbe-


ständen definiert. Die Wissensstruktur umschließt Überzeugungen
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im Sinne von moralischen Leit- und Glaubenssätzen, allgemein


gültiges, praktisches Wissen, aber auch die Kommunikationska-
näle – Universitäten, Elitennetzwerke und (Massen-)Medien –,
durch die Wissen, Überzeugungen und Ideen ‚transportiert‘ wer-
den. Die Kontrolle über all diese Dimensionen verleiht eine nicht
zu unterschätzende Macht, da die Wissensstruktur festlegt, welche
Art von Wissen erschlossen, gespeichert und gesellschaftlich kom-
muniziert wird (vgl. Strange 1994a: 121).
Strange geht nicht davon aus, dass technologische Entwicklun-
gen – z.B. die neuen Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien – für die Machtbalance im Autorität-Markt- bzw. Markt-Auto-
rität-Nexus automatisch und unmittelbar relevant sind. Sofern sie
jedoch im Kampf um Marktanteile, für monetäre Transaktionen
oder militärstrategisch nutzbar gemacht werden können, haben sie
erhebliche gesellschaftliche wie internationale Auswirkungen auf
die Produktions-, Finanz- und Sicherheitsstruktur (vgl. Strange
1994a: 133ff). Für Strange scheint die Wissensstruktur, zumal sie
sich sehr rapide wandelt und alle anderen Bereiche durchdringt,
insgesamt an Bedeutung zu gewinnen. Dies zeigt sich unter ande-
rem darin, dass die Staaten – besonders erfolgreich die USA – ver-
stärkt darum konkurrieren, in der Wissensstruktur technologisch,
informationspolitisch und kulturell führend zu werden. Zudem ge-
winnen auch innerhalb der nationalen Gesellschaften wissensba-
sierte Machtressourcen an Bedeutung. So ist z.B. der Einfluss von
Individuen und sozialen Gruppen zunehmend durch die Verfü-
gung über Wissen und Informationen, nicht unbedingt durch Ka-
pitalbesitz bestimmt.
(5) In Ergänzung zu den aufgeführten primären Machtstruktu-
ren betrachtet Strange (1994a: 139ff) noch eine Reihe sekundärer
Machtstrukturen oder „issue areas“. Hierzu zählen die transnatio-
nalen Transportsysteme, der internationale Handel, die Energie-
versorgung und die Wohlfahrts- und Entwicklungssysteme. All
diese Bereiche, die zumeist im Mittelpunkt von Interdependenz-
theorien stehen, sind für Strange (1994a: 139) vor allem deswegen
sekundär, weil sie durch die primären Strukturen maßgeblich ge-
prägt und gestaltet werden. Die sekundären Strukturen tragen mit
dazu bei, die Funktionsweise der primären Strukturen zu operatio-
Internationale Politische Ökonomie 413
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nalisieren, sind selbst aber kaum durch das Ordnungsgefüge von


Wertpräferenzen bestimmt (vgl. May 1996: 183). Gleichwohl ist
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ihre Ordnungsstruktur und Operationsweise – dies gilt auch für


das internationale Recht oder das globale Ernährungssystem – für
die Optionen und Machtpotenziale, die sich den Unternehmen, Staa-
ten, sozialen Gruppen und Individuen eröffnen, keineswegs be-
langlos.

2.3 Auf dem Weg zu einer anderen Welt(un)ordnung?

Die Konzeption strukturaler Macht ist mehr als eine abstrakte, rein
formale Theoriefolie. Sie stellt ein historisch-heuristisches Inter-
pretationsraster dar, mit Hilfe dessen Strange zentrale Entwicklun-
gen und Umbruchprozesse in der internationalen politischen Öko-
nomie systematisch zu entschlüsseln versucht. In ihren Büchern
und Aufsätzen diskutiert sie konkret sehr viele Aspekte und Fa-
cetten. Für die neue Qualität der transnationalen Entwicklungsdy-
namik sind jedoch vor allem drei Tendenzen charakteristisch:
(1) Ganz allgemein beobachtet Strange (1984: 273ff; 1995b:
64ff; 1996) bereits seit längerem eine Transnationalisierung aller
vier Machtstrukturen. Am deutlichsten ist diese Entwicklung si-
cherlich in der Finanzstruktur, innerhalb derer sich in der Folge
unzähliger Deregulierungs- und Liberalisierungsschritte die Geld-
und Kreditbeziehungen dem nationalen Kontrollbereich mehr und
mehr entzogen haben, und transnational operierende private Fi-
nanzmarktakteure – Großbanken, Versicherungen, Pensions- und
Investmentfonds sowie Rating-Agenturen (vgl. Strange 1996:
122ff) – an politischer Definitions- und Gestaltungsmacht gewin-
nen. Die Produktionsstruktur hat sich ebenfalls stark transnationa-
lisiert. Im Zeichen eines verschärften internationalen Wettbewerbs
setzen die TNKs – über den Handel und Investitionen sowie über
ein investitionsbezogenes Bargaining – die nationale Wirtschafts-,
Steuer-, Finanz-, Infrastruktur- und Sozialpolitik zunehmend unter
Druck (vgl. Stopford/Strange 1991). Auch die Wissensstruktur hat
angesichts der neuen Informations- und Kommunikationstechno-
logien, global orientierter Medien- und Marketingunternehmen
und der grenzüberschreitenden Vernetzung von wissenschaftli-
chem Know How inzwischen eine sehr starke transnationale Di-
414 Hans-Jürgen Bieling
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mension. In der Sicherheitsstruktur ist die Transnationalisierung


noch am schwächsten ausgeprägt. Doch auch hier scheinen in An-
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betracht der internationalen Netzwerke organisierter Kriminalität –


unter Einschluss von (Drogen-)Mafias, Geldwäsche und interna-
tionalem Terrorismus – die nationalstaatlichen Kontrollpotentiale
zu schwinden (vgl. Strange 1996: 110ff; 1995c: 305ff).
All dies interpretiert Strange dahingehend, dass sich innerhalb
des Autorität-Markt- bzw. Markt-Autorität-Nexus die Machtbalance
zu Lasten der (zentral-)staatlichen Akteure verschiebt. Sie beob-
achtet eine Diffusion der Macht, da sich private (Markt-)Akteure –
zusammen mit den staatlichen Akteuren oder parallel zu ihnen –
wachsende Handlungs- und Kontrollpotentiale erschließen (vgl.
Strange 1996: 73ff; 1995b: 68ff). Die Macht von Staaten und Re-
gierungen wird damit zwar keineswegs hinfällig, sie verändert in
der Kooperation und Konkurrenz mit nicht-staatlichen Akteuren
jedoch ihren Charakter. Zum einen lockert sich die territoriale
Verankerung und Bindung staatlicher Macht; und zum anderen
orientiert sie sich mehr und mehr an Markt- und Wettbewerbskri-
terien.
(2) Auch wenn die Staaten in diesem Prozess grundsätzlich
verwundbarer werden, hat die Diffusion der Macht – „upward“
wie „downward“ (vgl. Strange 1995b: 67f) – nicht zur Folge, dass
sich die Machtasymmetrien in der internationalen politischen Öko-
nomie abschwächen. Für Strange (1988 und 1995c: 300f) ist viel-
mehr das Gegenteil der Fall: Aus ihrer Sicht konzentriert sich die
Macht vor allem bei denjenigen Akteuren und sozialen Gruppen,
die – auch mit Blick auf den internationalen Wettbewerb – Inves-
titionsentscheidungen treffen (TNKs), Kredite vergeben (Groß-
banken und andere Finanzunternehmen) und über marktrelevante
Wissensbestände verfügen (Forschungszentren, Universitäten).
Die Regierungen und Staaten sind in diesen Prozess insofern in-
volviert, als sie maßgeblich die Konditionen und Rahmenbedin-
gungen für diese Art der marktbasierten Machtausübung festlegen.
Sie verfügen dabei über sehr unterschiedliche, in wachsendem
Maße ungleiche Optionen und Gestaltungsspielräume. Strange
(1995b: 65) arbeitet wiederholt heraus, dass die entstehende „in-
ternational business civilisation“ in hohem Maße US-amerikanisch
dominiert ist. Sie spricht in diesem Sinne von einem US-amerika-
nischen „nonterritorial empire“ (vgl. Strange 1989b), das im Zu-
Internationale Politische Ökonomie 415
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sammenspiel von Markt- und Regierungsakteuren – d.h. zwischen


den amerikanischen Finanzmetropolen, den Headquarters der
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TNKs und dem politischen Entscheidungszentrum in Washington


– die Veränderung und Reproduktion der internationalen Macht-
strukturen wesentlich beeinflusst und lenkt, zumindest strukturell
kontrolliert.
(3) Wie oben bereits angedeutet, laufen diese Beobachtungen
auf die These eines Formwandels der US-Hegemonie hinaus.
Strange verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf drei zen-
trale Dimensionen bzw. Entwicklungen: Erstens ist für sie, gleich-
sam als Konsequenz der Diffusion von Machtpotenzialen, das
Staats- und Regierungshandeln nicht mehr primär territorial, son-
dern funktional, d.h. durch die Konkurrenz um Weltmarktanteile
und Produktivitätsressourcen, bestimmt (vgl. Strange 1996: 73ff).
Zweitens verfügen, wie bereits erwähnt, die USA in dieser neuen
Logik über weltweit unvergleichliche Macht- und Gestaltungspo-
tenziale: nicht nur in der Sicherheits- und Produktionsstruktur,
sondern insbesondere auch in der Finanz- und Wissensstruktur
(vgl. Strange 1987; 1988). Drittens schließlich setzen sie ihre
Machtressourcen kaum mehr dazu ein, die internationalen Struktu-
ren kooperativ und im Einklang mit den Interessen ihrer politi-
schen Verbündeten und Wirtschaftspartner zu koordinieren und zu
stabilisieren. Für Strange (1988: 13; vgl. auch Helleiner 1994:
101ff) ist die inter- und transnationale Wirtschafts- und Finanzpo-
litik der USA seit Ende der 1960er Jahre in erster Linie durch
kurzfristige nationale Interessen bestimmt, weshalb sie auch Ro-
bert Gilpin (1987: 90ff) darin beipflichtet, dass sich die USA von
einem „wohlwollenden“ zu einem „räuberischen“ Hegemon ge-
wandelt haben. Die zu Ende der 1980er Jahre sehr geläufige The-
se, dass dies auf den (relativen) Abstieg der USA zurückzuführen
ist, teilt Strange allerdings nicht. Ganz im Gegenteil, sie kritisiert
die Decline-Debatte – oft sehr scharf – als Versuch, die US-ameri-
kanische Weigerung, sich auf eine engere internationale wirt-
schafts- und finanzpolitische Kooperation einzulassen, durch den
Verweis auf die vermeintliche Schwäche der US-Ökonomie poli-
tisch und wissenschaftlich zu rechtfertigen (vgl. Strange 1987,
1988, 1994a: 237ff, 1996: 194ff).
Die Transformationsdynamik der internationalen politischen
Ökonomie umschließt nun freilich noch eine ganze Reihe weiterer
416 Hans-Jürgen Bieling
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Aspekte – den beschleunigten Wandel von Technologien und


Marktstrukturen, die wachsende Bedeutung moderner Dienstleis-
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tungsunternehmen, das größere Gewicht der Wissensstruktur oder


auch die Aushöhlung demokratischer Entscheidungsmechanismen
(vgl. Story 2000) –, die allesamt die Kernaussagen von Susan
Strange weiter bestätigen. Auch der Zusammenbruch des Realso-
zialismus und das Ende des Systemgegensatzes fügen sich in das
von ihr entwickelte Analyseraster. Sie verdeutlichen in besonde-
rem Maße, dass sich die zentralen politischen und wissenschaftli-
chen Probleme und Fragestellungen verändert haben (vgl. Strange
1997c): Seit Ende des 19. Jahrhunderts ging es lange Zeit vor-
nehmlich um die Fragen von „Sozialismus oder Kapitalismus?“
und „Frieden oder Krieg?“. Für Strange hat sich seit 1989 die erste
Frage mehr oder minder erledigt. Dies gilt auch für moderate Va-
rianten des „Dritten Wegs“, zumal selbst die Konzepte einer kol-
lektivvertraglich und wohlfahrtsstaatlich regulierten kapitalisti-
schen Ökonomie starkem Gegenwind ausgesetzt sind. Die Frage
von „Frieden oder Krieg?“ ist für sie ebenfalls kaum mehr rele-
vant, zumindest nicht in der hergebrachten Form eines Kampfes
zur Erweiterung des territorialen Besitzes. Dies heißt nicht, dass
gewaltsame Auseinandersetzungen – Bürgerkriege, ethnische Kon-
flikte etc. – einfach überholt sind, sie haben heute jedoch eine
gänzlich andere Motivationsstruktur und Verlaufsform.
Die zentralen Probleme und Fragestellungen, die das 21. Jahr-
hundert prägen werden, resultieren für Strange (1997c: 237) vor
allem aus der Internationalisierung der Produktion und aus der po-
litischen Unzulänglichkeit des Staatensystems (vgl. auch Strange
1999). Auf der einen Seite treibt die Internationalisierung der Pro-
duktion, die durch den technologischen Wandel und die Verselb-
ständigung der Geld- und Kreditverhältnisse immens beschleunigt
wird, ihres Erachtens einen Keil zwischen die sozialen und ökolo-
gischen Reproduktionserfordernisse der nationalen Gesellschaften
und die Interessen der transnationalen Wirtschaft (vgl. Strange
1997c: 242). Auf der anderen Seite fehlen innerhalb des interna-
tionalen Staatensystems zugleich die politischen Mittel, hierauf
angemessen reagieren zu können. So mag das Staatensystem auf
der Grundlage der wechselseitigen Anerkennung formeller Souve-
ränitätsrechte zwar demokratische Entscheidungsstrukturen garan-
tieren, es gibt jedoch keine hinreichend stabilen regulativen Ar-
Internationale Politische Ökonomie 417
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rangements, um die rasante ökonomische Transnationalisierung im


Interesse der gesellschaftlichen Reproduktionserfordernisse po-
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litisch unter Kontrolle zu bringen.

3. Weiterentwicklung und Kritik des Theoriedesigns


Trotz der zentralen (Vorreiter-)Rolle, die Susan Strange im Pro-
zess der Wiederbegründung und Weiterentwicklung der IPÖ nicht
nur in Großbritannien, sondern weltweit gespielt hat, und der brei-
ten Rezeption ihrer Schriften, hat sich keine „Strange-Schule“ im
engeren Sinne des Wortes herausgebildet. Strange (1989a) hat
Schulbildungen selbst immer sehr skeptisch betrachtet. Ihr kam es
vor allem darauf an, die Studierenden und Doktoranden zur eige-
nen Urteilsbildung und zur Entwicklung eigener Ideen zu ermuti-
gen. Zudem eignet sich das von ihr entwickelte, historisch und
konzeptionell sehr offen angelegte theoretische Analyseraster al-
lenfalls bedingt für eine Schulbildung. Kanonisierte Lehrsätze und
Hypothesen, die dann anhand spezifischer Gegenstandsbereiche
konkret überprüft werden, lassen sich aus ihren konzeptionellen
Grundüberlegungen kaum ableiten (vgl. Palan 2003). Gleichwohl
liefert die von Strange entfaltete heuristische Interpretationsfolie
und die historische Rekonstruktion zentraler Transformationspro-
zesse unzählige Anregungen, die innerhalb der sog. „Britischen
Schule“ der IPÖ (vgl. Cohen 2007; 2008) oder weniger geogra-
phisch konnotiert: in der heterodoxen IPÖ-Diskussion von vielen
Wissenschaftlern produktiv aufgenommen und weitergedacht wur-
den (vgl. Morgan u.a. 1993; Lawton u.a. 2000).
Einige haben z.B. die Bedeutung der Wissensstruktur für die
Transformationsprozesse innerhalb der anderen Machtstrukturen
in den Blick genommen und untersucht, wie und in welcher Form
transnationale „epistemic communities“ – z.B. die Bank für Inter-
nationalen Zahlungsausgleich oder das Delors-Komitee zur kon-
zeptionellen Vorbereitung der europäischen Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion – auf wichtige Schlüsselentscheidungen im Bereich
der Finanzstruktur (vgl. Helleiner 1994; Verdun 2000) oder in der
Produktionsstruktur (vgl. Mytelka 2000) eingewirkt haben. Ande-
re ließen sich in ihrer Analyse globaler Produktionsstrukturen von
Strange inspirieren (vgl. Lawton/Michaels 2000). Wieder Andere
418 Hans-Jürgen Bieling
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versuchten in die ausgehandelte Konkurrenz zwischen Staaten und


Firmen („triangular diplomacy“) auch den Wettbewerb zwischen
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den Beschäftigten mit einzubeziehen (vgl. z.B. Allen 1993). Und


nicht Wenige haben sich an ihren – damals – provokativen Aussa-
gen zur Kritik des US-Declines oder aktuell an der These vom
„retreat of the state“ gerieben und abgearbeitet (vgl. Gilpin 2000).
Zeitdiagnostisch interessant sind auch jene Analysen, die die
jüngere Entwicklung der globalen Finanzstruktur thematisieren.
Strange (1997a: 175ff) selbst war lange davon ausgegangen, dass
in diesem Bereich die außergewöhnliche strukturale Macht der
USA ungebrochen ist. Diese Sichtweise ist später in anderen Un-
tersuchungen bestätigt worden, die einerseits in einer neo-weberia-
nischen Perspektive die Einbettung des US-amerikanischen Staa-
tes in ein gesellschaftliches Handlungsgeflecht von Akteuren (vgl.
Seabrooke 2001) und andererseits die globale Attraktionskraft der
US-Ökonomie (vgl. Panitch/Konings 2008) herausgearbeitet ha-
ben. Angesichts der bestehenden Machtkonstellation schien für
Strange eine Re-Regulierung der Geld- und Kreditbeziehungen
nur durch eine langfristig orientierte, aufgeklärte US-Politik mög-
lich. Erst zuletzt hatte sie die Option in Erwägung gezogen, dass
Westeuropa und Südostasien eigenständig, allerdings in Koopera-
tion mit den USA, auf neue transnationale Kontrollstrukturen
drängen könnten (vgl. Strange 1995c: 71; 1998a: 55). Eric Hellei-
ner (2000) hat diese Überlegungen aufgegriffen. Seines Erachtens
haben sich im Laufe der 1990er Jahre die westeuropäischen und
südostasiatischen Ökonomien der US-amerikanischen Dominanz
mehr und mehr zu entziehen versucht: In diese Richtung weisen in
der Europäischen Union die Wirtschafts- und Währungsunion wie
auch die Finanzmarktintegration (vgl. Bieling 2006) und in Süd-
ostasien die Initiativen für ein stärker regional definiertes Krisen-
und Währungsmanagement.
Welchen Weg die Rezeption und Weiterentwicklung der von
Strange entwickelten Interpretationsfolie nehmen wird, lässt sich
natürlich nur schwer prognostizieren. In der Folge der globalen
Währungs- und Finanzkrise könnten nicht nur der Begriff des
„Kasino-Kapitalismus“, sondern auch ihre währungs- und finanz-
markttheoretischen Überlegungen erneut aufgegriffen und debat-
tiert werden. Möglicherweise konzentrieren sich die – empirischen
und konzeptionellen – Anstrengungen aber auch weniger auf die
Internationale Politische Ökonomie 419
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von Strange entfaltete „neue realistische Ontologie“ als auf die


epistemologischen Aspekte ihrer Analyseperspektive. Anknüpfungs-
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punkte bietet dabei insbesondere das Konzept der Wissensstruktur,


das Strange selbst nicht weiter ausdifferenziert. Indem sie Wissen
weitgehend mit Information gleichsetzt, gelangt sie zu einem in-
strumentellen, auf Machtausübung zugeschnittenen Wissensbe-
griff. Kulturelle Gewohnheiten, Werte und Überzeugungen, durch
die Optionen, Entscheidungen und Verhandlungen ebenfalls be-
einflusst werden, kommen bei ihr eher zu kurz. Deren stärkere Ge-
wichtung würde es nun aber erlauben, die Art und Weise, wie die
Wissensstruktur mit den anderen Machtstrukturen interagiert, um-
fassender und systematischer in den Blick zu nehmen: zum einen
durch die Ausarbeitung einer Konzeption gesellschaftlicher Ob-
jektivitäts- und Wahrheitspolitik (vgl. May 1996: 184f) und zum
anderen – in Bezug auf die Funktionsweise akademischer Kom-
munikationsstrukturen – durch eine reflexive Selbstverortung wis-
senschaftlicher Theorien, Methoden und empirischer Analysen
(vgl. Tooze 2000a; Guzzini 2000). Letzteres impliziert zugleich
eine präzisere erkenntnistheoretische Positionsbestimmung als
Voraussetzung von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik.

4. IPÖ: Machttheoretische Heuristik oder Theorie


des globalen Kapitalismus?
Obgleich die Arbeiten von Susan Strange für die Wiederbegrün-
dung einer kritischen und heterodoxen IPÖ zentral und wegwei-
send gewesen sind, ist ihr Versuch, die tradierten disziplinären
Grenzlinien zwischen Politik, Ökonomie, Geschichte und Geogra-
phie einzureißen, nicht von allen begeistert aufgenommen worden
(vgl. hierzu Earnest u.a. 2000: 412). Im „Niemandsland“ einer fach-
disziplinär streng untergliederten Wissenschaftslandschaft stieß sie
oft auf Ignoranz, Unverständnis oder pauschale Abwehrhaltungen.
Wenn ihre Überlegungen zuweilen dennoch zur Kenntnis genom-
men wurden, so stimulierte dies zumeist recht stereotype Reakti-
onsmuster. Einige warfen ihr vor, zu pauschal zu urteilen, insbe-
sondere wenn es um die Kritik der US-amerikanischen Außenwirt-
schaftspolitik ging. Andere wandten sich sehr grundsätzlich gegen
die wissenschaftlich nicht hinreichend differenzierte holistische
420 Hans-Jürgen Bieling
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Analyseperspektive, die klar ausgearbeiteten und überprüfbaren


Aussagen und Hypothesen eher im Wege stehe. Gelegentlich wur-
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de auch auf methodische Probleme hingewiesen, etwa auf die un-


ausgereifte eklektische Zusammenführung von Theoriefragmenten
(vgl. Buzan 1989) oder aber auf Schwächen in der empirischen
Beweisführung, die den Erklärungsgehalt der angeführten Daten
betrafen. Abgesehen vom letzten Punkt sind all diese Einwände an
Strange mehr oder minder abgeprallt. Szientistische Konzepte, die
unrealistische Modelle entwerfen und daraus abgeleitete Hypothe-
sen nach Maßgabe naturwissenschaftlich-mathematischer Kriteri-
en zu überprüfen versuchen, hat sie aufgrund deren ahistorischer
Perspektive immer wieder scharf kritisiert. Für Susan Strange
musste sich Theorie – unter Berücksichtigung der strukturellen Rah-
menbedingungen – stets auf die konkrete gesellschaftliche Realität,
auf die konkrete Geschichte oder auf konkrete gesellschaftliche und
internationale Verhältnisse beziehen (vgl. Palan 1999: 123).
Das Verhältnis, das zwischen Susan Strange und der staats- und
institutionenzentrierten oder modell- bzw. spieltheoretisch argu-
mentierenden Mainstream-IPÖ (z.B. Neorealismus, Interdepen-
denzanalyse und Regimetheorie) bestand, lässt sich demzufolge
als eine Beziehung der Nichtbeachtung und des wechselseitigen
Nichtverstehens beschreiben. Die theoretischen Grundannahmen
und die Analyseperspektiven waren offenbar zu verschieden, als
dass sich ein produktiver Disput hätte entfalten können (vgl. Co-
hen 2007). Anders verhält es sich hingegen mit den grundsätzli-
chen Einwänden, die von Wissenschaftlern vorgebracht wurden,
die der heterodoxen IPÖ zuzurechnen sind und die ebenfalls histo-
risch sowie macht- und kapitalismustheoretisch argumentieren. Sie
verdichten sich, zugespitzt formuliert, in dem Vorwurf, dass Stran-
ge zwar eine interessante machttheoretische Heuristik zur histo-
risch-empirischen Rekonstruktion der internationalen politischen
Ökonomie entwickelt habe, aber keine systematische Theorie des
globalen Kapitalismus (vgl. Palan 2003). Dies verdeutlichen unter
anderem drei theoretische Schwächen bzw. Problembereiche:
(1) Ein erster Kritikpunkt thematisiert eine unzureichende theo-
retische Konzeptionalisierung des Staates. In ihren historisch-des-
kriptiven Analysen begreift Strange den Staat eher formal, d.h. als
eine regelsetzende Institution mit einer eigenen Autoritätsgewalt.
Dies ist zwar nicht gänzlich falsch, führt jedoch häufig dazu, Staat
Internationale Politische Ökonomie 421
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und Ökonomie als – entgegengesetzte – funktional differenzierte


Sphären zu betrachten. Der Vorwurf lautet nun, dass diese implizite
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Dichotomie den von ihr selbst erhobenen Anspruch unterminiert, ein


integrales Verständnis der internationalen politischen und ökonomi-
schen Prozesse zu unterbreiten (vgl. Cutler 2000). Um dem zu ent-
gehen, müsste sie selbst von einem integralen Analysekonzept aus-
gehen: entweder von einer Governance-Struktur, die als „state-
market-condominium“ die Interaktionsmuster beider Arenen umfasst
(vgl. Underhill 2000) oder von einem Verständnis des Staates, das
diesen sehr viel weiter fasst, d.h. als institutionalisiertes Ensemble
zur Verfolgung von öffentlichen und privaten Interessenlagen und
damit als ein in sich widersprüchliches soziales Verhältnis. Dies
wäre vor allem in zweierlei Hinsicht folgenreich: Zum einen wäre
die spezifische Trennung von Staat und Ökonomie selbst noch als
das Resultat politischer Prozesse zu verstehen, und zum anderen
müsste der von Strange beobachtete „retreat of the state“ nicht pri-
mär als eine Schwächung des Staates, sondern als ein Prozess der
staatlichen Transformation analysiert werden.
(2) Ein zweiter Kritikpunkt betrifft – hiermit verbunden – die
fehlende theoretische Konzeptionalisierung von Umbrüchen und
Transformationsprozessen in der internationalen politischen Öko-
nomie. Der beschleunigte Wandel steht zweifelsohne im Zentrum
all ihrer Analysen. Um dessen Dynamik zu erklären, führt sie aller-
dings ‚nur‘ sehr allgemeine Determinanten an wie die technologi-
sche Entwicklung, den Wettbewerb und den Wandel der Marktver-
hältnisse oder einzelne historische Aspekte wie z.B. zentrale staatli-
che Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen (vgl. May 1996:
185). Was diese Faktoren und Determinanten grundsätzlich antreibt
und zur Geltung bringt, bleibt eher im Dunkeln. So wird z.B. nicht
erklärt, warum die USA ab Ende der 1960er, Anfang der 1970er
Jahre ihre strukturale Macht gegen ihre eigenen langfristigen Inter-
essen stärker binnenzentriert einsetzten und in diesem Sinne viele
„Fehlentscheidungen“ – z.B. die Auflösung des Bretton Woods Sys-
tems – getroffen haben (vgl. Deppe 1991: 115f). Offenbar sperrt sich
Strange dagegen, ein Konzept zu unterbreiten, das gesellschafts-
theoretisch fundiert ist und – in der Verknüpfung von nationalen und
inter- bzw. transnationalen Prozessen – genauer bestimmt, welche
Interaktionsmuster und Vermittlungsformen zwischen den primären
Machtstrukturen bestehen (vgl. hierzu z.B. Cox 1996: 180f).
422 Hans-Jürgen Bieling
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(3) Drittens schließlich verdichten sich die ersten beiden Kri-


tikpunkte in der Feststellung, dass Susan Strange nur über einen
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unter- bzw. einseitig entwickelten Begriff des „Sozialen“ verfügt.


Hiermit soll nicht gesagt sein, dass sie soziale Prozesse und Ent-
wicklungen gering schätzt. Im Gegenteil, immer wieder kommt sie
auf ungleiche Machtstrukturen und Verteilungsverhältnisse zu
sprechen. Letztlich thematisiert sie all diese Dimensionen jedoch
primär als Konsequenz von Umbrüchen und (Nicht-)Entscheidun-
gen innerhalb der von ihr betrachteten Machtstrukturen und nur
sehr vage als Voraussetzung und Grundlage für die Transformati-
on der internationalen politischen Ökonomie. Diese Leerstelle lie-
ße sich unter anderem durch zwei konzeptionelle Erweiterungen
füllen: zum einen durch eine systematische Einbeziehung der Wis-
sensstruktur, genauer: durch eine Konzeption, die nicht nur de-
skriptiv erörtert, sondern auch theoretisch bestimmt, wie, von wem
und in welchem Maße die (trans-)nationalen Strukturen diskursiv,
d.h. durch die Vermittlung von Wissen, Informationen und Über-
zeugungen sozial konstruiert werden, und zum anderen durch eine
Konzeption, die mit Blick auf die Prozesse der fortlaufenden so-
zialen Konstruktion auch die gesellschaftlichen Kämpfe und
Transformationsperspektiven, die den ökonomischen Reproduk-
tionsmustern und sozialen Strukturen eingelagert sind, klassen-
und politiktheoretisch genauer zu entschlüsseln vermag.
Strange hat solche Ambitionen, zumindest dann, wenn sie zu
weit getrieben wurden, immer sehr skeptisch betrachtet. Von Ver-
suchen, eine alles erklärende Großtheorie zu entwickeln, erwartete
sie nicht sehr viel (vgl. Palan 1999, 2003; Tooze 2000b). Die Welt
erschien ihr als zu komplex und die konkreten historischen Ent-
wicklungen als zu kontingent, als dass man die unzähligen Fakto-
ren hätte theoretisch hinreichend differenziert systematisieren kön-
nen. Um monokausale oder deterministische Erklärungsmodelle zu
vermeiden, übte sie sich daher in Selbstbescheidung. Der histo-
risch angelegte, offene Charakter ihrer Konzeptionen wie auch der
stets erfrischende und vielfältig inspirierende Argumentationsgang
scheinen ihr dabei Recht zu geben.
Internationale Politische Ökonomie 423
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Literaturverzeichnis
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426 Hans-Jürgen Bieling
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Sozialkonstruktivismus
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Cornelia Ulbert

1. Einleitung
Konstruktivistische Ansätze haben sich im Spektrum der Theorien
Internationaler Beziehungen mittlerweile fest etabliert.1 Unter die-
ser Bezeichnung werden allerdings eine Reihe der unterschiedlichs-
ten theoretischen Perspektiven zusammengefasst. Deren gemeinsa-
mer kleinster Nenner besteht in der Ausgangsannahme, dass sich
uns ‚Realität‘ nicht unmittelbar erschließt. ‚Soziale Welt‘, wie sie
uns zugänglich ist, wird vielmehr durch die Art und Weise kon-
struiert, wie wir mit anderen handeln, welche gemeinsam geteilten
Vorstellungen über ‚Welt‘ wir haben und wie wir unsere Umwelt
erfahren. Darüber hinaus wird es schon schwieriger zu definieren,
was ‚Konstruktivismus‘ in den Internationalen Beziehungen eigent-
lich bedeutet (vgl. Fierke/Jørgensen 2001: 4). Dies ist darauf zu-
rückzuführen, dass der sozialwissenschaftliche Konstruktivismus2
nicht nur als Theorie im engeren Sinne zu betrachten ist. Nach
Jørgensen gibt es vier unterschiedliche Verwendungsweisen des
Begriffs ‚Konstruktivismus‘, je nachdem auf welcher Ebene man
sich damit beschäftigt: den philosophischen Konstruktivismus,
Konstruktivismus als Meta-Theorie, konstruktivistische Theorie-
bildung und konstruktivistische empirische Forschung (Jørgensen
2001).

1 Für hilfreiche Anmerkungen zur Erstfassung dieses Beitrags danke ich Siegfried
Schieder und Manuela Spindler sehr herzlich.
2 Grundlegende Standardwerke zum Konstruktivismus in den Sozialwissenschaf-
ten, die auch in deutscher Sprache vorliegen, sind aus wissenssoziologischer
Perspektive Berger/Luckmann 1966 und aus sprachphilosophischer Perspektive
Searle 1995. Diese Werke verdeutlichen einerseits die soziologischen und ande-
rerseits die philosophisch-sprachanalytischen Wurzeln des Konstruktivismus.
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Sozialkonstruktivismus
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Cornelia Ulbert

1. Einleitung
Konstruktivistische Ansätze haben sich im Spektrum der Theorien
Internationaler Beziehungen mittlerweile fest etabliert.1 Unter die-
ser Bezeichnung werden allerdings eine Reihe der unterschiedlichs-
ten theoretischen Perspektiven zusammengefasst. Deren gemeinsa-
mer kleinster Nenner besteht in der Ausgangsannahme, dass sich
uns ‚Realität‘ nicht unmittelbar erschließt. ‚Soziale Welt‘, wie sie
uns zugänglich ist, wird vielmehr durch die Art und Weise kon-
struiert, wie wir mit anderen handeln, welche gemeinsam geteilten
Vorstellungen über ‚Welt‘ wir haben und wie wir unsere Umwelt
erfahren. Darüber hinaus wird es schon schwieriger zu definieren,
was ‚Konstruktivismus‘ in den Internationalen Beziehungen eigent-
lich bedeutet (vgl. Fierke/Jørgensen 2001: 4). Dies ist darauf zu-
rückzuführen, dass der sozialwissenschaftliche Konstruktivismus2
nicht nur als Theorie im engeren Sinne zu betrachten ist. Nach
Jørgensen gibt es vier unterschiedliche Verwendungsweisen des
Begriffs ‚Konstruktivismus‘, je nachdem auf welcher Ebene man
sich damit beschäftigt: den philosophischen Konstruktivismus,
Konstruktivismus als Meta-Theorie, konstruktivistische Theorie-
bildung und konstruktivistische empirische Forschung (Jørgensen
2001).

1 Für hilfreiche Anmerkungen zur Erstfassung dieses Beitrags danke ich Siegfried
Schieder und Manuela Spindler sehr herzlich.
2 Grundlegende Standardwerke zum Konstruktivismus in den Sozialwissenschaf-
ten, die auch in deutscher Sprache vorliegen, sind aus wissenssoziologischer
Perspektive Berger/Luckmann 1966 und aus sprachphilosophischer Perspektive
Searle 1995. Diese Werke verdeutlichen einerseits die soziologischen und ande-
rerseits die philosophisch-sprachanalytischen Wurzeln des Konstruktivismus.
428 Cornelia Ulbert
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Auf der ersten Ebene der Philosophie stehen wissenschaftstheo-


retische Auseinandersetzungen darüber im Vordergrund, ob es ei-
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ne Realität außerhalb unserer Wahrnehmung gibt und wie sich


überhaupt Aussagen über ‚Welt‘ treffen lassen. Auf dieser Ebene
wären postmoderne, sozialkonstruktivistische oder auch manche
kritischen Ansätze als ‚konstruktivistische‘ Ansätze zu bezeich-
nen. Unter einer Meta-Theorie versteht man eine Theorie über Theo-
rien, die sich auf alternative Erklärungsansätze und mögliche sys-
tematische Forschungsprogramme bezieht. Mit Hilfe einer Meta-
Theorie lassen sich Erkenntnisziele spezifizieren und Anleitungen
gewinnen, wie Theorien formuliert, angewandt und überprüft wer-
den können. Konstruktivismus als Meta-Theorie macht zunächst
keine Aussagen über konkrete Phänomene der internationalen Po-
litik und wie sie erklärt werden können. Basierend auf einigen
zentralen Prämissen eröffnet die konstruktivistische Perspektive
vielmehr unterschiedliche Möglichkeiten, den Untersuchungsge-
genstand zu fassen und zu Aussagen über seine Beschaffenheit zu
gelangen. Aus diesem Grunde kommt es im Gegenzug auch zu un-
terschiedlichen Einschätzungen, was Konstruktivismus überhaupt
ist.
Zunächst kann man festhalten, dass konstruktivistischen Ansät-
zen in den Internationalen Beziehungen Vorstellungen über die
Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstandes zugrunde liegen
(Ontologie), die von der Konstruktion sozialer Welt ausgehen.
Damit einher gehen erkenntnistheoretische Orientierungen (Epis-
temologie), die auf der Einsicht beruhen, dass Wissen sozial kon-
struiert wird. Ziel sämtlicher konstruktivistischer Bemühungen ist
es letztendlich, mit Hilfe unterschiedlicher Methoden zu beschrei-
ben und zu erklären, wie diese Konstruktionen erzeugt werden.
Konstruktivistische Ansätze bewegen sich damit in einem Dreieck
zwischen Ontologie, Epistemologie und Methodologie (vgl. Ab-
bildung 1).
Sozialkonstruktivismus 429
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Abbildung 1: Das konstruktivistische Dreieck


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Ontologie Epistemologie

Welt Wissen
von

Konstruktion

Wie
zugäng-
lich?

Methodologie

Konsens besteht darin, dass Konstruktivismus – ebenso wie Ratio-


nalismus – zunächst einmal keine substanzielle, also inhaltlich an-
gereicherte Theorie der Internationalen Beziehungen ist. Substan-
zielle Theorien, die Aussagen über Phänomene der internationalen
Politik machen, wären etwa die Abschreckungstheorie oder auch
die Theorien vom „demokratischen Frieden“.
Für die schnelle Akzeptanz konstruktivistischer Ansätze in den
Internationalen Beziehungen gibt es sowohl realhistorische als
auch wissenschaftshistorische bzw. disziplinspezifische Gründe.
Bereits in den 1980er Jahren zeichnete sich eine theoretische De-
batte in den Internationalen Beziehungen ab, die von Yosef Lapid
als die „Dritte große Debatte“ nach den Auseinandersetzungen
zwischen Realismus und Idealismus sowie Traditionalismus und
Behaviourismus bezeichnet wurde (Lapid 1989). Kennzeichen die-
ser Debatte zwischen positivistischen und ‚post-positivistischen‘
Ansätzen war eine intensive Auseinandersetzung mit den wissen-
430 Cornelia Ulbert
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schaftstheoretischen Grundlagen der Disziplin, durch die zahlrei-


che Annahmen über die Beschaffenheit des Untersuchungsgegen-
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standes wie Anarchie oder Souveränität in Frage gestellt wurden


(vgl. etwa Ashley 1998). In den 1980er Jahren hielt auch der Neo-
institutionalismus Einzug in die theoretischen Debatten der Diszip-
lin (vgl. hierzu auch die Beiträge zu Interdependenz und zur Re-
gimetheorie von Manuela Spindler und Bernhard Zangl in diesem
Band). In diesem Zusammenhang führte Robert Keohane in einem
viel beachteten Aufsatz die Unterscheidung zwischen rationalisti-
schen und reflexiven institutionalistischen Ansätzen ein (Keohane
1988), die grundlegend für die weitere Diskussion über alle von
einem nicht-positivistischen Wissenschaftsverständnis oder von in-
terpretativ-verstehenden Methoden geprägten Ansätzen war.3 Erst
in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre setzte sich der von Nicholas
Onuf (1989) verwandte Begriff ‚Konstruktivismus‘ zur Kenn-
zeichnung derjenigen Ansätze durch, die die intersubjektive Quali-
tät der sozialen Welt und die gegenseitige Konstituierung von
Akteur und Struktur betonten und dabei die Rolle von Ideen, kon-
stitutiven Regeln und Normen sowie die endogene Herausbildung
von Interessen und Identitäten in den Vordergrund ihrer Analysen
stellen.4 Die Ereignisse nach 1989 beschleunigten diese Suche
nach neuen theoretischen Erklärungsmustern, nachdem sich die
Disziplin eingestehen musste, mit dem bisherigen Analyse-Instru-
mentarium das Ende des Ost-West-Konflikts nicht vorhergesehen
zu haben (Lebow/Risse-Kappen 1995). Hinzu kamen sozio-ökono-
mische und politische Veränderungen wie Globalisierung, Umwelt-
veränderungen, das Bewusstsein um die Herausbildung von Wis-
sensgesellschaften und die veränderte Rolle des Staates, die auch

3 Diese Diskussion konzentrierte sich anfänglich stark auf die Unterscheidung


zwischen ‚Erklären‘ und ‚Verstehen‘ (grundlegend hierzu: Hollis/Smith 1990).
Als Übersicht zu den Anfängen der Debatte und deren unterschiedliche Facetten
siehe Schaber/Ulbert 1994.
4 Zu neueren Charakterisierungen des Konstruktivismus siehe Barnett 2008; Hurd
2008; Krell 2009: Kap. 11; Reus-Smit 2009. Einen Überblick über konstruktivis-
tische Forschungen in den Internationalen Beziehungen bieten Ulbert/Weller
2005 und in der Analyse der Europäischen Integration Risse 2009.
Sozialkonstruktivismus 431
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die Disziplin der Internationalen Beziehungen vor neue theoreti-


sche Herausforderungen stellten.5
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Alexander Wendt, der in den nachfolgenden Ausführungen als


Referenztheoretiker im Mittelpunkt stehen soll, hat der theoreti-
schen Debatte um konstruktivistische Ansätze seit Erscheinen sei-
nes ersten Aufsatzes zum „Agent-Structure Problem in Internatio-
nal Relations Theory“ im Jahre 1987 in der Zeitschrift Internatio-
nal Organization immer wieder entscheidende Impulse verliehen.
Sein Verständnis von Konstruktivismus wurde von Anfang an von
der Abgrenzung zum Rationalismus geprägt. In der gängigen Be-
schreibung nimmt der Konstruktivismus die Mittlerstellung zwi-
schen rationalistischen und postmodernen Ansätzen ein (z.B. Che-
ckel 1998; Christiansen/Jørgensen/Wiener 1999; Reus-Smit 2009;
ausführlich dazu Adler 1997). Alternativ hierzu werden postmo-
derne Ansätze auch als eine Variante des Konstruktivismus ange-
sehen (Katzenstein/Keohane/Krasner 1998; Adler 2002), wenn man
diesen im weiteren Sinne als wissenschaftstheoretische Position
versteht.6

2. Konstruktivismus als via media: Alexander Wendt


Alexander Wendt ist einer der prominentesten Vertreter des Kon-
struktivismus in den Internationalen Beziehungen. Mittlerweile
gilt er als einer der wichtigsten Theoretiker der Disziplin, der
zwanzig Jahre nach Waltz’ Theory of International Politics (Waltz
1979) eine wissenschaftstheoretisch fundierte Modellvorstellung
von internationaler Politik entwickelte (vgl. Jackson 2001). Kriti-

5 Ausführlicher zu den sozialwissenschaftlichen Anknüpfungspunkten und wis-


senschaftshistorischen Verortungen und Vorläufern siehe Adler 2002 und Rug-
gie 1998.
6 Auch in der deutschen Disziplin der Internationalen Beziehungen war der Aus-
gangspunkt für die Beschäftigung mit konstruktivistischen Ansätzen die Ab-
grenzung zum rationalistischen Paradigma. Die so genannte „ZIB-Debatte“, an-
gestoßen durch einen Beitrag von Harald Müller (Müller 1994) in der Zeitschrift
für Internationale Beziehungen, setzte hier mit der Frage nach dem Stellenwert
von Kommunikation und verständigungsorientiertem Handeln in Anlehnung an
Jürgen Habermas eigene Akzente (siehe hierzu auch Risse 2000; Müller 2004;
Herborth 2007).
432 Cornelia Ulbert
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kerInnen hingegen warnten jedoch davor, Wendts Arbeiten stell-


vertretend für die gesamte Bandbreite konstruktivistischer Ansätze
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heranzuziehen und damit eine neue „Orthodoxie“ zu etablieren


(Kratochwil 2000). Trotz aller Kritik an seiner Version konstrukti-
vistischer Theorie7 kann nicht geleugnet werden, dass Wendt im-
mer wieder zentrale Fragen in viel beachteten Aufsätzen themati-
siert hat, die zu intensiven Diskussionen und zur Etablierung kon-
struktivistischer Ansätze im theoretischen Spektrum der Interna-
tionalen Beziehungen geführt haben.
Ein zentraler Ausgangspunkt der Arbeiten von Wendt liegt in
der Auseinandersetzung mit dem Neorealismus, so wie er von
Kenneth Waltz formuliert wurde (vgl. hierzu den Beitrag von Nik-
las Schörnig in diesem Band). Auch Wendt unternimmt in seinen
Arbeiten den Versuch, Phänomene der internationalen Politik aus
der Struktur des internationalen Systems heraus zu erklären. Von
der Analyseebene her gesehen bewegt sich Wendt, wie Waltz, da-
mit auf der systemischen Ebene. Die Struktur des internationalen
Systems, die Wendt als Grundlage für das Handeln von Akteuren
ansieht, ist der Ausgangspunkt für seine Erklärungen, weshalb er
einen strukturalistischen Ansatz verfolgt. Der entscheidende Un-
terschied zu Waltz liegt jedoch darin, dass für Wendt nicht allein
materielle, sondern auch immaterielle Faktoren bei der Erklärung
von internationaler Politik entscheidend sind. Seine Überlegungen,
die er in über einem Jahrzehnt in zahlreichen Aufsätzen formuliert
hatte, fasste er schließlich 1999 in einem Werk zusammen, das er
in Anlehnung an und Abgrenzung zu Waltz’ Titel Social Theory of
International Politics nannte (im folgenden auch kurz STIP). Nach
dem Erscheinen der STIP wandte sich Wendt immer stärker wis-
senschaftstheoretischen und bewusstseinsphilosophischen Fragen
zu und arbeitet gegenwärtig an der theoretischen Begründung ei-
ner „Quanten-Sozialwissenschaft“. Hierzu liegt allerdings nur eine
erste konzeptuelle Skizze vor (Wendt 2006). Nach eigenen Aussa-
gen hat er damit bewusst den Rahmen des Konstruktivismus ver-
lassen (Schouten 2008: 2). Daher steht im Mittelpunkt der nach-
folgenden Ausführungen auch das theoretische Werk Alexander
Wendts, das sich um die Fragen dreht, die letztendlich in der STIP
zusammengeführt wurden.

7 Siehe dazu die Abschnitte 3 und 4.


Sozialkonstruktivismus 433
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Aufeinander aufbauend lassen sich im Grunde genommen drei


zentrale Fragestellungen in diesen Arbeiten herauslesen, die seinen
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strukturalistischen Ansatz prägen: Erstens die Frage, wie ‚Struk-


tur‘ konzeptualisiert sein muss, um Vorgänge der internationalen
Politik hinreichend erklären zu können, was ihn zur Diskussion
des Akteur-Struktur-Problems führte (Wendt 1987). Ausgehend
von der neorealistischen Annahme, Anarchie sei das entscheiden-
de strukturelle Ordnungsprinzip, das für Staaten im internationalen
System handlungsleitend wirke, schloss sich für Wendt zweitens
die weiterführende Frage nach dem Stellenwert von Anarchie zur
Erklärung staatlichen Handelns an. Diese Auseinandersetzung gip-
felte für ihn in der mittlerweile viel zitierten Erkenntnis: „Anarchy
is what states make of it“ (Wendt 1992a). Wenn nun aber Anar-
chie nicht der entscheidende Erklärungsfaktor für staatliches Han-
deln in der internationalen Politik ist, so stellte sich für Wendt
zwangsläufig in einem dritten Schritt die Frage, worauf das Han-
deln von Staaten dann basiere. Diese Überlegungen und die For-
mulierung von Modellen internationaler Politik, die sich aus unter-
schiedlichen Kulturen sozialer Interaktion ableiten lassen, sind der
Kern seiner STIP.

2.1 Das Akteur-Struktur-Problem

Vielfach wird die Debatte um das Verhältnis zwischen Akteuren


und Strukturen, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in den In-
ternationalen Beziehungen begann, als einer der theoretischen Aus-
gangspunkte für die konstruktivistische Wende in den Internatio-
nalen Beziehungen und eine der zentralen substanziellen Debatten
betrachtet. Zunächst thematisierte Wendt „The Agent-Structure
Problem in International Relations Theory“ (Wendt 1987). Auf der
Grundlage dieses Aufsatzes und eines weiteren Aufsatzes von Da-
vid Dessler (1989) entspann sich eine lebhafte Debatte.8
Kern des Akteur-Struktur-Problems bildet der Umstand, dass
aus sozialwissenschaftlicher Perspektive das Handeln von Akteu-

8 Vgl. hierzu insbesondere Hollis/Smith 1990; Hollis/Smith 1991; Wendt 1991


und 1992b. Einen zusammenfassenden Überblick über die erste Phase der De-
batte gibt Gould 1998. Zu späteren Beiträgen vgl. Doty 1997; Jabri/Chan 1996;
Suganami 1999; Wight 1999; Herborth 2004; grundlegend Wight 2006.
434 Cornelia Ulbert
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ren immer in bestimmte Strukturen eingebettet ist. Daher gibt es


zwei prinzipielle Herangehensweisen, soziale Phänomene zu er-
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klären. Entweder unter Bezugnahme auf die jeweiligen Akteure


und deren Merkmale (individualistische Erklärung) oder unter Be-
zugnahme auf die Strukturen, in die Handlungen eingebettet sind
(strukturalistische Erklärung). Wendts Interesse richtet sich von
Anfang an auf die strukturalistischen Erklärungen, die er deshalb
für so zentral hält, weil man nur durch sie erschließen könne, wor-
auf soziales Handeln letztendlich beruhe (Wendt 1987: 363). Es
gibt jedoch unterschiedliche Varianten von Erklärungsansätzen in
den Theorien der Internationalen Beziehungen, die zwar von der
Erklärungskraft von Strukturen ausgehen, sich aber darin unter-
scheiden, wie sie den Stellenwert und die Beschaffenheit von Struk-
tur sehen (den so genannten ontologischen Status) und wie weit-
gehend deren Wirkungen sein können. Obwohl im Neorealismus
Anarchie und die internationale Machtverteilung wichtige Struktur-
elemente des internationalen Systems sind, weist Wendt völlig zu
Recht darauf hin, dass neorealistische Erklärungen im Grunde ge-
nommen auf einer individualistischen Ontologie beruhen und Ver-
halten aus Merkmalen auf der Akteursebene erklärt wird. Denn die
Struktur des internationalen Systems definiert sich, etwa was die
Machtverteilung betrifft, nach bestimmten Merkmalen der Mit-
gliedsstaaten („distribution of capabilities“). Diese bestimmen, wie
die Struktur aussieht, also ob wir beispielsweise ein bi-, multi-
oder gar unipolares System haben. Folglich gehen diese Merkmale
der Struktur ontologisch voraus und wirken sich über diese Struk-
tur auf das Verhalten der darin befindlichen Akteure aus. Demge-
genüber nehmen etwa Weltsystemansätze einen holistischen
Standpunkt ein.9 In ihrem Verständnis basiert die Struktur des in-
ternationalen Systems auf den Organisationsprinzipien der kapita-
listischen Weltwirtschaft, insbesondere der Form der internatio-
nalen Arbeitsteilung (vgl. hierzu auch den Beitrag von Andreas
Nölke in diesem Band). Daher beruht diese Struktur nicht auf Ak-
teursmerkmalen, sondern ist vielmehr erst dafür verantwortlich,

9 Der Holismus ist eine philosophische Denkrichtung, in der die Ganzheitlichkeit


im Verhältnis zwischen Teilen und dem Ganzen betont wird. Demnach ist das
Ganze mehr als die Summe seiner Teile, und Teile können nur aus dem Ganzen
heraus verstanden werden.
Sozialkonstruktivismus 435
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welche Eigenschaften sich bei Akteuren herausbilden. Aus einer


holistischen (oder besser gesagt strukturalistischen) Perspektive
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haben Strukturen daher konstitutive, also wesensbestimmende und


nicht allein kausale Wirkungen auf Akteure und deren Verhalten
(Wendt 1999: 165-178).10
Beiden Perspektiven wirft Wendt allerdings vor, die Komple-
xität internationaler Politik unzulässig zu verkürzen (Reduktionis-
mus). Entweder werden Akteure zu den Grundeinheiten gemacht
und als gegeben betrachtet, gehen also somit den Strukturen onto-
logisch voraus (ontologischer Individualismus), oder es sind wie
im Falle der Weltsystemtheorie Strukturen die Grundeinheiten, die
ihrerseits Akteuren ontologisch vorausgehen (ontologischer Struk-
turalismus). Die Merkmale und kausalen Wirkungen der jeweili-
gen Grundeinheiten können aber nicht hinreichend erklärt werden.
Beide Positionen gehen davon aus, dass ihre jeweiligen Grundein-
heiten vorgegeben und unproblematisch sind. Im Grunde genom-
men fehlt dem Neorealismus eine Theorie über den Staat, also eine
geeignete Handlungstheorie, den Weltsystemansätzen hingegen
eine entsprechende Systemtheorie.
Wendts Vorschlag zur Überwindung dieses Dilemmas fußt auf
Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie (z.B. Giddens 1984), die
von der Grundannahme ausgeht, dass Akteure und Strukturen ein-
ander gegenseitig bedingen, also kodeterminiert sind. Dies bedeu-
tet, dass einerseits Strukturen konstitutiv für Akteure und deren
Interessen sind, andererseits Akteure diese Strukturen durch ihr
Handeln immer wieder reproduzieren und aufrechterhalten, aber
auch verändern können. Strukturen wirken dadurch nicht nur ver-
haltensbeschränkend, in ihnen sind vielmehr die jeweiligen ‚Spiel-
regeln‘ festgelegt, die Akteuren ein bestimmtes Repertoire an
Handlungsmöglichkeiten vorgeben und damit die Grundlage für
soziale Interaktion bilden. Beide Perspektiven liefern unterschied-
liche Arten von Erklärungen, da sie auf unterschiedliche Fragestel-
lungen Antworten geben. Sind Strukturen der Ausgangspunkt, so
steht die Frage im Mittelpunkt, wie bestimmte Handlungen oder
auch bestimmte Handlungsmuster überhaupt möglich sind. Nimmt
man die Akteursperspektive ein, so steht die Frage im Vorder-

10 Zu grundlegenden Ausführungen über kausale und konstitutive Erklärungen


siehe Wendt 1998 und Wendt 1999: 77-88, vgl. hierzu auch Ulbert 2005: 19-22.
436 Cornelia Ulbert
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grund, warum eine bestimmte Handlung X eher stattfand als die


Handlung Y. Wendt nennt diese akteursbezogene Form der Erklä-
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rung im Gegensatz zur strukturalistischen Variante „historisch“.


An der Tatsache, dass Wendt die beiden Perspektiven mit diesen
Fragestellungen verknüpft, wird allerdings auch deutlich, dass er
im Endeffekt Strukturen doch den Vorzug gibt. Strukturen ermög-
lichen erst Handeln, determinieren es jedoch nicht. Die Wahl einer
bestimmten Handlungsmöglichkeit wird aus der akteursbezoge-
nen, historischen Perspektive erklärbar, wonach bestimmte – exo-
gen vorgegebene – Identitäten und Interessen von Akteuren Ein-
fluss darauf nehmen, welche der strukturell möglichen Handlungs-
varianten tatsächlich gewählt wird. Geht man von dieser gegensei-
tigen Konstituierung von Akteur und Struktur aus, so ergeben sich
auch Konsequenzen dafür, wie beispielsweise Anarchie als Struk-
turmerkmal des internationalen Systems verstanden werden kann
und welche Folgerungen sich daraus für das Handeln von Staaten
ableiten lassen.

2.2 Kulturen von Anarchie im internationalen System

Ist Wendts Denken anfänglich noch von den Einsichten der Struk-
turierungstheorie geprägt, die vom Zusammenspiel zwischen Ak-
teur und Struktur ausgeht, so lässt sein Aufsatz „Anarchy is what
states make of it“ eine deutliche Weiterentwicklung hin auf Pro-
zesse sozialer Interaktion und die endogene Herausbildung von
Interessen und Ideen erkennen. In diesem Aufsatz bezeichnet er
seinen theoretischen Ansatz erstmalig in Anlehnung an die Be-
griffsprägung, die Nicholas Onuf vorgenommen hatte (Onuf 1989),
als „konstruktivistisch“ (Wendt 1992a: 393). Ausgangspunkt die-
ser theoretischen Weiterentwicklung ist die Auseinandersetzung
mit neorealistischen und neoliberalen Ansätzen, die ab der zweiten
Hälfte der 1980er Jahre die Theoriedebatte in den Internationalen
Beziehungen prägten. Wendt bemängelt, dass beide Richtungen in
dieser Debatte nicht in der Lage seien, die Herausbildung von In-
teressen und Identitäten zu erklären, was aber letztendlich Grund-
lage für das Verständnis von Wandel in der internationalen Politik
sei. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte sich die Disziplin
eingestehen müssen, die Prozesse, die zu diesem fundamentalen
Sozialkonstruktivismus 437
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Wandel in der Struktur des internationalen Systems geführt hatten,


nicht mit dem vorherrschenden Analyse-Instrumentarium erkannt
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zu haben. Wendt macht die rationalistische Orientierung sowohl


des Neorealismus, als auch einiger neoliberaler Ansätze dafür ver-
antwortlich, dass Prozesse komplexen Lernens, die eine Redefini-
tion von Akteursinteressen und -identitäten bewirkt hätten, nicht
zur Kenntnis genommen worden seien. Demgegenüber seien die
vorherrschenden Ansätze von der Annahme ausgegangen, Interes-
sen und Identitäten seien exogen vorgegeben, und hätten sich statt
dessen auf die verhaltensbestimmenden Notwendigkeiten konzen-
triert, die sich aus der Struktur des internationalen Systems als
scheinbar anarchischem Selbsthilfesystem ergeben hätten. Diese
Diagnose macht die Attraktivität ‚reflexiver‘ oder ‚konstruktivisti-
scher‘ Ansätze plausibel, nachdem diese in der Lage waren, genau
die festgestellte Lücke zu füllen und den Wandel von Interessen
und Identitäten zu erklären. Mit der Hinwendung zum Konstrukti-
vismus verbindet Wendt jedoch von Anfang an das klare Anlie-
gen, sowohl zwischen den jeweiligen ‚Rändern‘ im rationalisti-
schen und konstruktivistischen Lager, als auch zwischen „moder-
nen“ und „postmodernen“ Varianten des Konstruktivismus Brük-
ken bauen zu wollen (Wendt 1992a: 394). Diese Motivation, eine
vermittelnde Position, eine via media (Wendt 1999: 47) zwischen
unterschiedlichen, teilweise unvereinbar scheinenden theoreti-
schen und wissenschaftstheoretischen Positionen zu finden, ist es,
die Wendts konstruktivistischem Ansatz eine sehr spezifische Prä-
gung gibt und ihn gleichzeitig aus allen Richtungen angreifbar
macht.
Wendt legt seiner Analyse über die Bedeutung von Anarchie im
internationalen System einige zentrale konstruktivistische Annah-
men zugrunde. Er verbindet dies mit dem Ziel, die liberal-insti-
tutionalistische These zu beweisen, dass internationale Institutio-
nen tatsächlich in der Lage sind, staatliche Identitäten und Interes-
sen zu verändern. Daher nimmt Wendt an, dass Akteure gegenüber
Objekten oder anderen Akteuren auf der Basis von Bedeutungsge-
halten handeln, die diese Objekte oder Akteure für sie haben. Kol-
lektiv geteilte Bedeutungsgehalte sind für all die Strukturen kon-
stitutiv, die unserem Handeln zugrunde liegen. Indem Bedeutungs-
gehalte kollektiv geteilt werden, erfahren Akteure ein gewisses
Maß an Identitätsstiftung, d.h. sie erlangen ein relativ stabiles, rol-
438 Cornelia Ulbert
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lenspezifisches Verständnis von sich selbst und den Erwartungs-


haltungen, die an sie gestellt werden. Identitätsbildung ist damit
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ein Prozess sozialer Definition der Akteure, der auf den kollekti-
ven Akteursvorstellungen der Handelnden über sich und die Welt
basiert. Die Beschäftigung mit Identität ist deshalb so zentral, weil
Identitäten der Herausbildung von Interessen zugrunde liegen. Ak-
teure definieren ihre Interessen, anders als rationalistische Ansätze
annehmen, gleichzeitig in dem Prozess, in dem sie auch die zu-
grunde liegende Situation definieren. Institutionen kann man als re-
lativ stabile Gesamtheit oder ‚Struktur‘ dieser Interessen und Iden-
titäten fassen. Institutionen sind quasi geronnenes kollektives Wis-
sen über sich selbst und die Welt und existieren nie unabhängig von
den zugrunde liegenden Identitäten. Mit anderen Worten: Institutio-
nen und Identitäten bedingen sich gegenseitig.
Ausgehend von diesen Annahmen kritisiert Wendt die neorealis-
tische Lesart von Anarchie, wonach aus dem Fehlen einer überge-
ordneten Regelungsinstanz zwingend logisch folge, dass das inter-
nationale System ein Selbsthilfesystem sei, in dem Staaten Macht-
politik praktizieren müssten um überleben zu können. Für Wendt
ist Selbsthilfe nur eine mögliche Institution, die sich unter den Be-
dingungen von Anarchie herausbilden kann – aber nicht muss. Folg-
lich bezweifelt Wendt, dass es nur eine einzige zwingende ‚Logik
von Anarchie‘ auf der Makroebene des internationalen Systems
gibt. Nachdem klar sei, dass das außenpolitische Verhalten von
Staaten variiere, stelle sich die Frage, ob sich auf der Mikroebene
der zwischenstaatlichen Interaktion wirklich immer nur diese eine
Form des internationalen Systems als anarchischem Selbsthilfesys-
tem herausbilde (Wendt 1999: 247). Dieser Frage geht Wendt vor
allem im letzten Drittel der STIP nach. Für Wendt ist die Antwort
klar. Nach seinem strukturalistischen Verständnis konstruieren
zwar die anarchischen Strukturen die Einheiten, aber diese Struk-
turen können sehr wohl auf der Makroebene unterschiedliche Aus-
prägungen haben, weshalb das internationale System unterschied-
lich gestaltet sein kann.
Diese Sichtweise auf Anarchie eröffnet sich dann, wenn man
die Struktur des internationalen Systems nicht als materielle, son-
dern als soziale Struktur versteht. Dementsprechend geht Wendt
davon aus, dass sich mindestens drei verschiedene Strukturen im
internationalen System unterscheiden lassen, je nachdem von wel-
Sozialkonstruktivismus 439
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chem gemeinsam geteilten Rollenverständnis Akteure geleitet wer-


den. In der internationalen Politik ist dieses Rollenverständnis da-
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von geprägt, wie bestimmend Gewalt im Verhältnis zwischen Ak-


teuren und ihrer Umwelt ist, was dazu führen kann, dass Staaten
sich gegenseitig als Feinde, Rivalen oder Freunde wahrnehmen
(vgl. Abbildung. 2).

Abbildung 2: Rollenverständnisse internationaler Akteure

Feind Rivale Freund

hoch niedrig

Gewaltbereitschaft

Die entsprechenden Strukturen, die sich dann im internationalen


System herausbilden könnten, nennt Wendt in Anlehnung an Kon-
zepte der Englischen Schule die Hobbes’sche, Locke’sche oder
Kantianische Struktur (vgl. hierzu Wight 1991). Diese Strukturen
mit den darin enthaltenen Normen verkörpern unterschiedliche
Kulturen von Anarchie. Welche Art von Struktur realisiert wird,
hängt von zwei Faktoren ab: Erstens wie weitgehend diese Nor-
men von den jeweiligen Akteuren internalisiert werden. Das Maß
an Internalisierung lässt sich daran ablesen, ob Akteure Normen
deshalb befolgen, weil sie dazu gezwungen werden (neorealisti-
sche Sichtweise auf Normbefolgung), weil es in ihrem Interesse
liegt (neoliberale Sichtweise) oder weil sie die Normen als legitim
(soziologisches bzw. konstruktivistisches Verständnis von Norm-
befolgung) ansehen (Wendt 1999: 250). Der zweite entscheidende
Faktor ist für Wendt, wie hoch das Maß an Kooperation ist. Dies
schlägt sich darin nieder, dass es einen zunehmenden Anteil an
gemeinsam geteilten Ideen gibt, die wiederum dazu führen, dass
sich so etwas wie eine internationale Gesellschaft oder gar Ge-
meinschaft herausbilden kann (vgl. Abbildung 3).
440 Cornelia Ulbert
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Abbildung 3: Die Herausbildung unterschiedlicher internationaler


Kulturen
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Glaube an
Legitimität
Maß der
kulturellen In-
ternalisierung Eigennutz
von Normen
basierend auf
Zwang

Hobbes’sche Locke’sche Kantianische


Kultur Kultur Kultur (Rollen-
(Rollenverständ- (Rollenverständ- verständnis
nis Feind) nis Rivale) Freund)

Maß an Kooperation
(ablesbar an Zunahme geteilter Ideen)

Quelle: Wendt 1999: 254, adaptierte und ergänzte Fassung.

Nach dieser Unterscheidung würde allein die Hobbes’sche Struk-


tur zu einem anarchischen Selbsthilfesystem führen, was daran
liegt, dass Staaten sich gegenseitig als Feinde wahrnehmen. Je
mehr Staaten dies tun, desto mehr formt diese Wahrnehmung die
dominierende Kultur im internationalen System. Folglich wäre al-
so der berühmte „Krieg aller gegen alle“ auf Ideen zurückzufüh-
ren, nicht auf den Tatbestand der Anarchie, also des Fehlens einer
übergeordneten Regelungsinstanz oder auf die menschliche Natur
selbst (Wendt 1999: 260).
In den unterschiedlichen Kulturen ist ein Entwicklungsprozess
angelegt, den Wendt auch historisch so zu erkennen glaubt. Die
Hobbes’sche Kultur charakterisiert für ihn die Zeit vor der Unter-
zeichnung des Westfälischen Friedens (1648). Mit der Herausbil-
dung des modernen Systems souveräner Staaten vollzog sich ein
qualitativer struktureller Wandel hin zum rechtlich abgesicherten
System der gegenseitigen Anerkennung von Existenz- und Eigen-
tumsrechten. Dieses System ist nicht frei von Gewalt, aber deren
Einsatz erfolgt in einem völkerrechtlichen Rahmen, der das Ver-
halten von Staaten in gewissen Grenzen berechenbar macht (Wendt
1999: 279-281). Die historische Entwicklung seit Ende des Zwei-
Sozialkonstruktivismus 441
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ten Weltkrieges signalisiert für Wendt einen erneuten Wandel in


der Qualität des internationalen Systems. Zumindest innerhalb der
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so genannten OECD-Welt scheinen sich Interaktionsmuster her-


ausgebildet zu haben, die über eine rechtlich abgesicherte Zusam-
menarbeit hinausgehen. Charakteristisch für diese neue Kultur ist,
dass Staaten auftretende Konflikte gewaltfrei bearbeiten und Si-
cherheit nicht mehr Sache des einzelnen Staates ist, sondern als ein
gemeinsam herzustellendes Gut betrachtet wird. Ein derartiges Sys-
tem hatte bereits Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Ein
philosophischer Entwurf beschrieben (Kant 1983 [1795]), weshalb
diese Form des internationalen Systems auch als kantianisch be-
zeichnet wird (Wendt 1999: 297).
Wendts unterschiedliche Kulturen von Anarchie machen deut-
lich, dass das Handeln von Staaten im internationalen System
nicht nur in materielle, sondern auch in ideelle Strukturen einge-
bettet ist. Erst diese Ideen sorgen dafür, dass die Interessen von
Staaten inhaltlich bestimmt werden, dass abstrakte Konzepte wie
„Macht“ eine Bedeutung erhalten und dass sich Staaten darüber im
Klaren werden, mit welchen Strategien sie ihre Interessen verfol-
gen. Welche dieser Kulturen dominiert und wie weitgehend die
jeweilige Kultur verinnerlicht ist, kann nur empirisch geklärt wer-
den. Dennoch bleibt die Frage, wie diese kulturellen Strukturen
erzeugt, aufrechterhalten und im Handeln der Akteure reproduziert
werden können. Mit anderen Worten: Wie kann struktureller
Wandel im internationalen System erklärt werden?

2.3 Identitätsbildung und struktureller Wandel im


internationalen System

Die Herausbildung und der Wandel kollektiver Identitäten sind


zentrale Themen in der konstruktivistischen Forschung. Wie be-
reits oben kurz ausgeführt wurde, bestimmen Identitäten aus kon-
struktivistischer Perspektive die Interessen von Akteuren. Wan-
deln sich diese Identitäten, dann verändert sich unter Umständen
auch die Sichtweise auf bestimmte Situationen, was wiederum ei-
ne Redefinition von Interessen zur Folge haben kann. Mittels die-
ser Prozesse lässt sich dann auch struktureller Wandel im interna-
tionalen System erklären. Wendt geht davon aus, dass sich Identi-
442 Cornelia Ulbert
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tätsbildungsprozesse in der Interaktion mit anderen Akteuren voll-


ziehen. Für Staaten heißt dies, dass sie im Grunde genommen ei-
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gentlich erst in der Auseinandersetzung mit anderen Akteuren so-


zial konstruiert werden, und dies nicht nur auf der staatlichen Ebe-
ne, sondern – und dies ist für Wendt der Ausgangspunkt aller weite-
ren Überlegungen – durch zwischenstaatliche Interaktion auf der in-
ternationalen Ebene (Wendt 1994, Wendt 1996). Zu diesem Zweck
unterscheidet Wendt unter anderem zwischen der so genannten
korporativen und der kollektiven Identität. Staaten besitzen be-
stimmte gemeinsame Merkmale, die Grundlage ihrer korporativen
(bzw. individuellen) Identität sind und wodurch sie sich als Staa-
ten auszeichnen. Diese gemeinsamen Merkmale sind auf bestimm-
te materielle Kennzeichen (politisches System, Gewaltmonopol,
Souveränität, Staatsvolk, Territorium) und Handlungsmotivationen
(Existenzsicherung, Autonomie, Wohlfahrt, kollektives Selbst-
wertgefühl) zurückzuführen, die für alle Staaten gleich sind und
die dazu führen, dass der Staat als einheitlicher Akteur verstanden
werden kann (Wendt 1999: 193-245). Eine Position, die Wendt auch
später vehement gegen seine KritikerInnen verteidigt (Wendt 2004).
Folglich interessiert Wendt gar nicht mehr, wie die individuelle
staatliche Identität zustande kommt, nachdem er bestimmte We-
sensmerkmale des „Staates an sich“ festgestellt zu haben glaubt.
Er wendet sich nunmehr der Ebene des internationalen Systems zu
und untersucht Prozesse der kulturellen Selektion, die seiner An-
sicht nach zur Herausbildung von kollektiven oder sozialen Identi-
täten führen. Zwei Mechanismen der kulturellen Selektion – Imi-
tation und soziales Lernen – spielen dabei eine wesentliche Rolle
(Wendt 1999: 313-321). Am fiktiven Beispiel des ersten Aufein-
andertreffens zweier Akteure, die vorher nie miteinander Kontakt
hatten, zeigt Wendt auf, wie sich seiner Ansicht nach soziale Iden-
titäten herausbilden (Wendt 1999: 328-331, Wendt 1992a: 404f).
Dabei wird deutlich, dass Akteure in der sozialen Interaktion nicht
nur neue Informationen übereinander bekommen. Durch die gegen-
seitigen Rollenzuschreibungen, die sie vornehmen und in ihrer Re-
aktion aufeinander unter Umständen auch akzeptieren, konstruie-
ren sie gleichzeitig wechselseitig ihre gegenseitigen Wesensmerk-
male. Es kommt zur Herausbildung der jeweiligen Akteursidenti-
täten. Auf die internationale Politik bezogen bedeutet dies, dass
sich etwa die Hobbes’sche Kultur nur deshalb durchsetzen konnte,
Sozialkonstruktivismus 443
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weil Staaten in ihrem ersten Aufeinandertreffen eine einander


feindlich gesonnene Haltung eingenommen haben. Will man die
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Logik dieser Hobbes’schen Anarchie des Selbsthilfesystems durch-


brechen, so ist eine Redefinition von Identitäten notwendig. Histo-
risch unterstellt Wendt einen Wandel von der Hobbes’schen zur
Locke’schen Kultur und sieht Anzeichen für eine zumindest in
Teilen des internationalen Systems existente Kantianische Kultur.
Doch wie kann sich der dafür notwendige Identitätswandel voll-
ziehen?
Auf der Suche nach kausalen Mechanismen, die konkret den
von Wendt thematisierten, sich in Teilen abzeichnenden Wandel
im internationalen System von der Locke’schen Kultur zu einer
Kantianischen Kultur erklären können, bietet er vier Erklärungs-
faktoren an: Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit), ge-
meinsames Schicksal, Ähnlichkeiten in den institutionellen Merk-
malen und Selbstbeschränkung (Wendt 1999: 343-363). Die ersten
drei Faktoren sind notwendig, aber für sich oder in Kombination
noch nicht hinreichend für einen Identitätswandel der kollektiven
Akteure. Erst wenn einer oder alle drei der Faktoren mit Selbstbe-
schränkung gepaart werden, wird sich ein Identitätswandel ein-
stellen. Denn nur wenn Staaten sich selbst Verhaltensregeln auf-
erlegen, signalisiert dies, dass sie sich nicht von einem ‚Anderen‘
bedroht fühlen und daher auch nicht zwangsläufig an ihrer gegen-
wärtigen Identität festhalten müssen.
In späteren Arbeiten geht Wendt sogar so weit zu prognostizie-
ren, in etwa 100 bis 200 Jahren sei ein Weltstaat „unvermeidlich“
(Wendt 2003, Wendt 2005). Auch hier sieht er eine „Logik der
Anarchie“ am Werke, jedoch eine, die sich von den Szenarien, die
er in der STIP gezeichnet hat, unterscheidet. Auf der Mikro-Ebene
menschlichen Handelns verläuft dieser Prozess weder linear, noch
erscheint er deterministisch. Wendt betont jedoch wieder die struk-
turellen Faktoren auf der Makro-Ebene, die seiner Ansicht nach
dazu führen, dass sich der Endzustand eines Weltstaats, der über
das globale Gewaltmonopol verfügt, schließlich unvermeidlich ein-
stellen wird. Eine treibende Kraft sieht Wendt vor allem in der Wei-
terentwicklung von militärischen Technologien, die Kriege immer
zerstörerischer werden lassen. Dieser materielle Faktor allein wür-
de jedoch noch nicht ausreichen, dass Staaten auch bereit wären,
das Gewaltmonopol an einen Weltstaat zu übertragen. Nur wenn
444 Cornelia Ulbert
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dazu noch ein Identitätswandel von Staaten stattfände, durch den


sich Loyalitäten von den eigenen Bürgern auf alle Völker übertrü-
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gen, würde es auch tatsächlich zur Herausbildung eines Weltstaats


kommen. Den Mechanismus, der zu diesem Identitätswandel bei-
trägt, sieht Wendt in dem Streben von Individuen nach Anerken-
nung begründet. Sobald diesem Streben durch gegenseitige Aner-
kennung Genüge geleistet werde, bilde sich gleichzeitig eine kol-
lektive Identität heraus (Wendt 2003: 507-516).
Die Art und Weise, wie Wendt Prozesse des Wandels von Iden-
tität konzeptualisiert, ist charakteristisch für seinen konstruktivisti-
schen Ansatz. In seinen epistemologischen Annahmen, die vom
wissenschaftlichen Realismus geprägt sind, nimmt Wendt einen po-
sitivistischen Standpunkt ein, da er davon ausgeht, dass es eine
Realität außerhalb des Beobachtbaren gibt und Wissenschaft in be-
sonderer Weise geeignet ist, Wissen über diese Realität zu produ-
zieren. Ontologisch rechnet er sich eher dem konstruktivistischen
Lager zu, da er davon ausgeht, dass Ideen in der sozialen Welt ei-
ne hervorgehobene Rolle spielen. Sein Ziel ist es jedoch, zu sozi-
alwissenschaftlichen Erklärungen der Wirkungen auch nicht beob-
achtbarer ideeller Faktoren zu gelangen (Wendt 1999: 47-91, Wendt
1998). Dieses Anliegen, an einem bestimmten Wissenschaftsver-
ständnis festzuhalten, das von einer Mehrheit seiner FachkollegIn-
nen geteilt wird, legt allerdings auch den Grundstein für ein gewis-
ses Spannungsverhältnis in Wendts Ansatz, das zu Kritik sowohl
von Seiten anderer konstruktivistischer Ansätze, als auch von Sei-
ten nicht-konstruktivistischer Ansätze einlädt. Der wesentliche
Unterschied zwischen den beiden Lagern besteht darin, dass aus
konstruktivistischer Perspektive (in einem weiteren Verständnis)
zentrale wissenschaftstheoretische und insbesondere erkenntnis-
theoretische Positionen Wendts hinterfragt werden, wohingegen
diese Positionen Wendts gerade von seinen nicht-konstruktivisti-
schen KritikerInnen als anschlussfähig an die Debatte des Main-
streams begrüßt werden.
Sozialkonstruktivismus 445
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3. Konstruktivismus jenseits der via media


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Augenfällig an Wendts Verständnis von Konstruktivismus ist die


Verengung auf die rein ontologische Perspektive. Damit verliert er
im Grunde genommen den Kern konstruktivistischer Bemühungen
in der Philosophie und den Sozialwissenschaften allgemein aus
den Augen, nämlich die Frage, wie man letztendlich zu Erkenntnis
gelangt. Im Gegensatz zu traditionellen erkenntnistheoretischen
Positionen, deren Schwerpunkt darauf liegt, Wege zu finden zu ei-
ner möglichst großen Annäherung zwischen dem Erkenntnisge-
genstand und der ‚Wirklichkeit‘ zu gelangen, rücken konstruktivi-
stische Ansätze auf der wissenschaftstheoretischen Ebene die
Rolle des Erkennenden im Erkenntnisprozess in den Vordergrund.
Aus konstruktivistischer Perspektive werden damit alle Prozesse
des Erkennens und Wahrnehmens relevant, wodurch kognitive
Prozesse und insbesondere Sprache als Mittel des Denkens und
Erkennens eine hervorgehobene Rolle spielen (vgl. auch Zehfuß
1998; Onuf 2001). Die Rolle von Sprache lässt sich aber nicht al-
lein darauf reduzieren, ‚Realität‘ intersubjektiv zu vermitteln. Ein
zentraler Ausgangspunkt konstruktivistischer Ansätze ist die An-
nahme, dass sämtliche Erkenntnis „theoriegeladen“ ist, d.h. in ei-
nem bestimmten sprachlichen Bezugsrahmen steht, der auch durch
bestimmte soziale Praktiken charakterisiert ist. Damit wird es frag-
würdig, ob Realität unabhängig von unserem Beobachtungsstand-
punkt erfasst werden kann. Sprache wird folglich zu einem zen-
tralen Medium, durch das ‚Realität‘ zugänglich und gleichzeitig
im Sprechakt konstruiert wird. Auf der Ebene eines philosophi-
schen Verständnisses von Konstruktivismus, bei dem es um wis-
senschaftstheoretische Fragen des Erkennens geht, wären auch
postmoderne Ansätze als ‚konstruktivistisch‘ zu bezeichnen (vgl.
hierzu auch den Beitrag von Thomas Diez in diesem Band). Sämt-
liche konstruktivistische Ansätze in einem derart weit gefassten
Sinn, die von diesen erkenntnistheoretischen Prämissen ausgehen,
haben eine etwas andere Perspektive auf das Akteur-Struktur-
Verhältnis, die Frage von Anarchie im internationalen System und
darauf, wie sich Identitäten herausbilden und wandeln, als Wendt
mit seinem ‚moderaten‘ Sozialkonstruktivismus.
446 Cornelia Ulbert
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3.1 Die Ko-Determination von Akteuren und Strukturen


als Praxis: Regeln und Normen in
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der internationalen Politik

Die wechselseitige Bestimmtheit von Akteuren und Strukturen ist


eine der zentralen konstruktivistischen Ausgangsannahmen. Obwohl
Wendt diese in den Internationalen Beziehungen popularisiert hat,
privilegiert er in seiner Theoriebildung letztlich die Strukturen.
Dahinter steckt die grundsätzliche Problematik, dass in der Ak-
teur-Struktur-Beziehung, so wie die Giddens’sche Strukturierungs-
theorie sie beschreibt, nicht klar wird, welcher Mechanismus es
ist, über den vermittelnd diese wechselseitige Einflussbeziehung
hergestellt wird. Die Antwort, die man aus den Arbeiten von
Nicholas Onuf und Fritz Kratochwil herauslesen kann,11 lautet:
Regeln und Normen sind das entscheidende Bindeglied in der Be-
ziehung zwischen Akteuren und Strukturen. Diesen Stellenwert er-
halten sie allerdings erst dann, wenn man sie nicht als Teil der
Struktur betrachtet, sondern ihnen einen eigenständigen ontologi-
schen Status zuweist. Aus konstruktivistischer Perspektive sind
Akteure immer regelgeleitete Akteure. Normen und Regeln geben
Akteuren vor, was sie tun sollen. Dieses ‚Sollen‘ ist aber nicht al-
lein als handlungsbeschränkend zu interpretieren. Im Gegenteil,
indem Regeln Akteuren Handlungs- bzw. Wahlmöglichkeiten er-
öffnen, verleihen sie diesen Akteuren erst Akteursqualität. Folglich
haben Regeln nicht nur regulativen Charakter, sie sind vielmehr
auch konstitutiv für Akteure. Gleichzeitig bilden Regeln und die
mit ihnen verbundenen Praktiken häufig erkennbare Handlungs-
muster aus, die den institutionellen Kontext, d.h. die Struktur bil-
den, in welche die Handlung von Akteuren eingebettet ist.
Souveränität ist eine der zentralen Praktiken im internationalen
System. Sie ist charakterisiert durch bestimmte Regeln wie das
Gebot der Nichteinmischung und die Zuweisung bestimmter Rech-
te und Pflichten, wodurch bestimmte Handlungsoptionen fest-

11 Zentral für die Ansätze von Onuf und Kratochwil sind die jeweiligen Haupt-
werke World of Our Making (Onuf 1989) und Rules, Norms, and Decisions
(Kratochwil 1989). Mit ihren Schwerpunkten auf philosophischen und wissen-
schaftstheoretischen Ausführungen sind beide Werke jedoch nicht als Einfüh-
rungslektüre zu empfehlen.
Sozialkonstruktivismus 447
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gelegt werden. Zugleich aber legt Souveränität wichtige Merkmale


von Staaten fest und konstituiert diese als wesentliche Akteure im
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internationalen System. Damit verbunden ist allerdings auch eine


Zweiteilung des politischen Raumes in ‚Außen‘ und ‚Innen‘. An
diesem Beispiel kann man sehen, dass Regeln und Normen den
Prozess der wechselseitigen Determination von Akteuren und Struk-
turen erst verständlich machen. Sprache und Kommunikation sind
in diesem Prozess als zentrale soziale Handlungen zu verstehen,
mittels derer gemeinsam geteilte Bedeutungsgehalte erschaffen
werden. „Indeed, saying is doing: talking is undoubtedly the most
important way that we go about making the world what it is“
(Onuf 1998: 59).

3.2 Anarchie und Herrschaft im internationalen System

Wie wir bei der Erörterung von Wendts konstruktivistischem An-


satz gesehen haben, gilt Anarchie als das zentrale Ordnungsprinzip
im internationalen System, aus dem der Neorealismus die zwin-
gende Handlungslogik der Selbsthilfe ableitet. Wendt akzeptiert
die Annahme von Anarchie als dem Fehlen einer zentralen Ord-
nungsinstanz und argumentiert lediglich, dass die Struktur des in-
ternationalen Systems, die sich unter diesen Bedingungen heraus-
bildet, davon abhängt, von welchen Rollenverständnissen Staaten
geleitet werden. Onuf und Kratochwil hingegen, deren zentraler
Ausgangspunkt Regeln sind, oder Richard Ashley aus postmoder-
ner Perspektive, kommen zu einer fundamental anderen Einschät-
zung von Anarchie (Ashley 1998; Kratochwil 1989; Onuf 1989;
Onuf/Klink 1989). Wie die rationalistische Regimeforschung ge-
zeigt hat, gibt es zahlreiche internationale Institutionen, die Inter-
aktionen zwischen Staaten regeln. Auch wenn es keine zentrale
Regelungsinstanz im internationalen System geben mag, so ist die-
ses dennoch nicht frei von Ordnung. Die Gegenüberstellung von
Anarchie als Ordnungsprinzip im internationalen System und Hier-
archie als Ordnungsprinzip, das Staaten im Innern kennzeichnet,
verschleiert, was sichtbar wird, wenn man davon ausgeht, dass
unterschiedliche Regeln zu unterschiedlichen Formen von Herr-
schaft führen können. Politische Gemeinschaften zeichnen sich
nämlich durch Herrschaft aus, wobei aber Hierarchie nur eine
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Form von Herrschaft ist, die aufgrund der Machtdifferenzen zwi-


schen Staaten auch im internationalen System zu finden ist. Steht
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die Regelhaftigkeit internationaler Politik im Vordergrund, wird es


folglich gar nicht notwendig zu begründen, dass Anarchie das ist,
was Staaten daraus machen. ‚Ordnung‘ im internationalen System
basiert lediglich auf einer Reihe unterschiedlicher Herrschaftsfor-
men, die über Hierarchie hinausgehen. Die Tatsache, dass Wendt
weiterhin Anarchie zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen
macht, wird für konstruktivistische TheoretikerInnen zum zentra-
len Kritikpunkt in Bezug auf Wendts Verständnis von Identität.

3.3 Identitätsbildung und -wandel als


Kommunikationsprozess: „Ideas all the way down“

Wendts Verständnis davon, wie sich kollektive staatliche Identi-


täten herausbilden, basiert auf der Vorstellung, dass dies in einem
Interaktionsprozess zwischen Staaten auf der Ebene des interna-
tionalen Systems geschehe. Entscheidend für den weiteren Verlauf
dieses Prozesses und für die „Kultur“ des internationalen Systems
sei dann, wie sich Staaten in einem ersten Aufeinandertreffen be-
gegneten. Konstruktivistische KritikerInnen Wendts verweisen da-
rauf, dass in diesen Interaktionsprozessen Kommunikation als be-
deutungsstiftendes Element keine Rolle spielt, weshalb das erste
Aufeinandertreffen von Akteuren wie einzelne Züge in spieltheo-
retischen Modellierungen wirkt (vgl. auch Zehfuss 2001, Zehfuss
2002: Kap. 2). Wendt blendet hierbei aus, dass keine soziale
Handlung in einem ‚vor-sozialen‘ Raum stattfindet, weshalb Ak-
teure auch beim ersten Aufeinandertreffen nicht ‚voraussetzungs-
los‘ interagieren. Wendt muss jedoch von diesem anarchischen
Naturzustand ausgehen, wenn er soziale Handlungen kausal erklä-
ren will.
Gerade in Wendts Konzeptualisierung von Identität macht sich
dieses Spannungsverhältnis zwischen einem traditionell positivis-
tisch orientierten Wissenschaftsverständnis, das nach kausalen Er-
klärungen und Prognosen sucht, und einer konstruktivistischen
Ontologie, die von der sozialen Konstruktion von Welt ausgeht,
besonders bemerkbar. Wendt kann nicht durchgängig den Konstruk-
tionsprozess sozialer Identitäten theoretisch durchdringen („ideas
Sozialkonstruktivismus 449
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all the way down“), was auch an seiner dichotomischen Gegen-


überstellung von Ideen und materiellen Faktoren liegt, wobei er
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die menschliche Natur auf die Befriedigung einiger zentraler mate-


rieller Grundbedürfnisse wie etwa physisches Überleben zurück-
führt (Wendt 1999: 130-132). Folglich muss er von bestimmten
feststehenden Annahmen über seine Akteure ausgehen. Dies führt
dazu, dass er Staaten eine bestimmte Form der korporativen Iden-
tität zuschreibt um damit seine Vorstellung vom Staat als einheit-
lich handelndem Akteur zu rechtfertigen. Diese Entscheidung hat
Wendt bislang die schärfste Kritik eingetragen, die sich darauf zu-
spitzen lässt, er „reifiziere“, also vergegenständliche den Staat ei-
nerseits, indem er ihm bestimmte Wesensmerkmale zuweise, und
anthropomorphisiere, also vermenschliche ihn andererseits, indem
er ihm bestimmte Aufgaben und Intentionen zuschreibe (Neumann
2004; Jackson 2004). Wendts konstruktivistische KritikerInnen
weisen darauf hin, dass es zwar möglich sei, davon zu sprechen,
dass ein Staat handele. Faktisch sei jedoch damit gemeint, dass In-
dividuen in einem bestimmten strukturellen Kontext (hier: der Staat)
handelten, weil für jede soziale Erklärung eine Struktur (Kontext)
und Akteure notwendig seien (Wight 2004). Durch Wendts spezi-
fische handlungstheoretische Annahmen wird natürlich auch das
Konzept von sozialer Konstruktion stark eingeschränkt, worauf vor
allem Wendts postmoderne KritikerInnen hinweisen (z.B. Campbell
2001, vgl. auch den Beitrag von Thomas Diez in diesem Band).
Bereits an Wendts ‚Anarchy‘-Aufsatz von 1992 wurde die Kri-
tik geübt, Wendt, gelinge es nicht, die Konstruktion staatlicher In-
teressen und Identitäten hinreichend zu erklären, solange er den
Staat in realistischer Manier als einheitlichen Akteur konzeptuali-
siere und sämtliche innenpolitischen Prozesse in dieser „black
box“ verschwänden (Weldes 1996: 280). Denn Wendt betrachtet
das Problem der Identitätsstiftung lediglich vom System aus, nicht
aus der Perspektive eines einzelnen Staates oder Repräsentanten
eines Staates, wie andere konstruktivistische AutorInnen dies
tun.12 Folglich entwickelt er auch keine Handlungstheorie aus der

12 Vgl. etwa die Beiträge in Katzenstein 1996 oder die sehr unterschiedlichen Her-
angehensweisen von Campbell 1992 und Checkel 1999.
450 Cornelia Ulbert
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man Kausalmechanismen ableiten könnte, die für die Wahl einer


bestimmten Identität oder Rolle verantwortlich sind.13
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In den letzten Jahren hat sich Wendt der Entwicklung einer


„Quanten-Sozialwissenschaft“ zugewandt (Wendt 2006), was auch
dadurch motiviert wurde, die Konzeptualisierung des „Staates als
Person“ (Wendt 2004) theoretisch untermauern zu können. Ziel
dieses Unterfangens ist es, die Erkenntnisse der Quantenphysik
über die Beschaffenheit und das Verhalten kleinster Teilchen, den
so genannten ‚Welle-Teilchen-Dualismus‘, auf das ‚Körper-Geist-
Problem‘ zu übertragen, das sich mit dem Verhältnis von geistigen
zu physischen Zuständen beschäftigt. Letztendlich geht es Wendt
darum, schlüssig zu argumentieren, dass es so etwas wie ein „kol-
lektives Bewusstsein“ gibt, welches Staaten zu eigenständigen Ak-
teuren macht (Wendt 2006: 203f). Aus radikalkonstruktivistischer
Perspektive wird auch an diesen weitergehenden (wissenschafts-)
theoretischen Bemühungen Wendts, bei denen dennoch die Tren-
nung von Fakten und Ideen aufrechterhalten wird, Kritik geübt:
Das Problem bleibe dadurch bestehen, dass auch Körper und Geist
erst durch Sprache konstituiert würden und erst durch Sprache die
Grenzziehung zwischen physischer und geistiger Welt möglich
werde (vgl. Kessler 2007: 260-265).
In diesem Zusammenhang wird auch Wendts eigene Verortung
in der Tradition des wissenschaftlichen Realismus kritisch gese-
hen. Dies führe dazu, dass er die Rolle von Sprache und argumen-
tativen Prozessen bei der wissenschaftlichen Feststellung von
‚Wahrheit‘ vernachlässige. Warum, so warf Fritz Kratochwil in
seiner Kritik an Wendts Wissenschaftsverständnis die Frage auf,
habe Wendt nicht die Entwicklung einer Sozialtheorie der interna-
tionalen Politik angestrebt, sondern der „Social Theory“ (Kratoch-
wil 2000: 89-90)? Eine Antwort darauf findet sich, wenn man auf
die andere Seite der via media in das Lager der traditionellen
Theorie der internationalen Beziehungen blickt.

13 Vgl. hierzu beispielsweise die Kritik von Shannon an Wendts Prognose von der
Unvermeidlichkeit der Herausbildung eines Weltstaats (Shannon 2005).
Sozialkonstruktivismus 451
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4. Die via media als Brückenschlag zum Mainstream


der Theorien der Internationalen Beziehungen
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Nachdem Wendt über Jahre hinweg die Diskussion um Konstruk-


tivismus in den Internationalen Beziehungen entscheidend geprägt
hatte, wurde seiner STIP viel Aufmerksamkeit zuteil. Nicht nur auf
Fachtagungen wurde sein Buch diskutiert, auch die Zeitschrift Re-
view of International Studies widmete der Auseinandersetzung mit
Wendts Buch eine Forumsdebatte.14 Von Seiten der traditionellen
Theorien der Internationalen Beziehungen wurde Wendts kon-
struktivistischer Ansatz im Großen und Ganzen eher positiv aufge-
nommen. Auch wenn beklagt wurde, Wendt lege in seinen Arbei-
ten zu sehr den Schwerpunkt darauf, die ontologische Frage zu
klären, wie das internationale System denn nun beschaffen sei, an-
statt internationale Politik zu analysieren, wurde Wendt dennoch
für ‚anschlussfähig‘ an die Debatten der Disziplin befunden. Sein
Ansatz wurde als positive „strategy of engagement“ (Jackson
2001: 109) verstanden, im Sinne einer systematischen Beschäfti-
gung mit theoretischen Annahmen, die vom Mainstream der For-
scherInnen in den Internationalen Beziehungen geteilt werden.
Dass „ideas matter“, war der Disziplin spätestens mit dem Er-
scheinen des von Judith Goldstein und Robert Keohane herausge-
gebenen Buches über Ideas and Foreign Policy (Goldstein/Keo-
hane 1993) ins Stammbuch geschrieben worden. Aus der Perspek-
tive derjenigen, die sich selbst jenseits der via media verorten,
könnte man überspitzt formulieren: Reduziert man den Konstruk-
tivismus auf die Beschäftigung mit der Rolle von Ideen, spricht
man materiellen und immateriellen Faktoren jeweils einen eigen-
ständigen Status zu und macht die Suche nach kausalen Erklärun-
gen zu einem wesentlichen Bestandteil seines Wissenschaftsver-
ständnisses, dann verliert der Konstruktivismus seinen Schrecken,
den man sich mit erkenntnistheoretischen Annahmen einkauft, die
etwa postmoderne oder radikalkonstruktivistische Ansätze nicht
aufzugeben bereit sind. Ein derart ‚moderater‘, ,weicher‘ oder
‚konventioneller‘ Konstruktivismus auf der Ebene der Theoriebil-
dung wie Wendts Sozialkonstruktivismus wird nicht als Widerle-

14 Vgl. hierzu die Beiträge von Alker, Doty, Keohane, Krasner und Smith sowie
die Entgegnung von Wendt in der Review of International Studies 26: 1, 2000.
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gung oder Gefährdung bestehender theoretischer Annahmen ange-


sehen, sondern eher als ergänzende Alternative oder Weiterent-
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wicklung bestehender Ansätze. Dadurch eröffnen sich einerseits


neue Sichtweisen auf altvertraute Gegenstände wie Anarchie, das
Sicherheitsdilemma oder Fragen von Kooperation unter den Be-
dingungen von Anarchie. Andererseits lassen sich aber auch neue
Forschungsprobleme wie das der Herausbildung und der Wirkung
von kollektiven Identitäten bearbeiten (Copeland 2000; Hopf
1998, 2002). Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Kritik
an Wendts theoretischem Ansatz nicht so fundamental ausfällt wie
von Seiten seiner konstruktivistischen KritikerInnen. Zwar wird
auch vom Mainstream vereinzelt darauf hingewiesen, dass die di-
chotomische Gegenüberstellung von Idealismus und Materialismus
in der von Wendt gewählten Form nicht haltbar sei. Daraus wird al-
lerdings keine weitergehende Problematisierung seines Ansatzes ab-
geleitet, sondern nur betont, dass der klassische Realismus oder der
neoliberale Institutionalismus nicht als rein materialistische Theorien
angesehen werden können (Keohane 2000: 126-129).
Obwohl in den gängigen Beschreibungen der Theorienland-
schaft in den Internationalen Beziehungen mittlerweile die ‚Lager-
bildung‘ in konstruktivistische und rationalistische Theorien do-
miniert (Katzenstein/Keohane/Krasner 1998), bestand der Tenor
der Diskussion hauptsächlich darin, dass konstruktivistische An-
sätze ihren ‚Mehrwert‘ gegenüber den etablierten rationalistischen
Ansätzen unter Beweis zu stellen versuchten (vgl. etwa Adler
1997; Checkel 1998; Ruggie 1998). Auch wenn vielfach von einer
konstruktivistischen Herausforderung rationalistischer Ansätze ge-
sprochen wurde, sehen sich rationalistische Ansätze nicht prinzipi-
ell in ihren Annahmen hinterfragt. Die Reaktion besteht entweder
in der Ausweitung der eigenen Rationalitätsannahmen15 oder dar-
in, eine Arbeitsteilung zwischen den beiden Richtungen zu propa-
gieren. Symptomatisch dafür ist ein Beitrag von James Fearon und
Alexander Wendt im „Handbook of International Relations“ über
die Grundannahmen rationalistischer und konstruktivistischer An-
sätze, in dem Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sowie Stärken

15 Dies wurde etwa in der deutschen Debatte um kommunikatives Handeln, die in


der Zeitschrift für Internationale Beziehungen geführt wurde, in den Antworten
von Otto Keck (Keck 1995 und 1997) auf Harald Müller (Müller 1994) deutlich.
Sozialkonstruktivismus 453
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und Schwächen der beiden Perspektiven ausgelotet werden (Fea-


ron/Wendt 2002).
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Alexander Wendts Brückenschlag zur traditionellen politikwis-


senschaftlichen Forschung in den Internationalen Beziehungen ist
sicherlich insofern erfolgreich, als sich die Disziplin nun wieder
auf ihre ‚idealistischen Wurzeln‘ besinnt und soziale Prozesse stär-
ker in den Blickwinkel geraten. Dass damit teilweise alte Fragen in
neuem Gewand wiederbelebt werden, sieht man an der Renais-
sance der Englischen Schule (vgl. hierzu auch den Beitrag von
Christopher Daase in diesem Band). In der Tat wurde mit Wendts
moderatem Konstruktivismus jedoch zumindest in den US-ameri-
kanischen Internationalen Beziehungen eine gewisse Orthodoxie
etabliert, vor der Kratochwil gewarnt hatte (Kratochwil 2000).
Wendts Bemühungen, eine Synthese zwischen positivistischer
Epistemologie und konstruktivistischer (ideeller) Ontologie herzu-
stellen (siehe hierzu auch Guzzini/Leander 2006a), haben ihn zu
immer neuen wissenschaftstheoretischen Ausführungen bis hin zum
neuen Projekt einer auf den Erkenntnissen der Quantenphysik ba-
sierenden Sozialtheorie inspiriert (Wendt 2003, Wendt 2006). Das,
was etwa von Adler als „middle ground“ bezeichnet wurde (Adler
1997), hat auch zu einer starken Ausgrenzung anderer konstruktivi-
stischer Ansätze geführt, die nicht Wendts Wissenschaftsverständ-
nis, seine ontologischen und/oder epistemologischen Grundannah-
men teilen. Wenn man sich daher die Bandbreite der als solcher
wahrgenommenen konstruktivistischen Forschungen (also nach
Jørgensen die vierte Ebene) ansieht, so muss man selbst aus einer
europäischen Perspektive den Eindruck gewinnen, dass „empirisch
nichts so heiß gegessen wird, wie es theoretisch gekocht wurde“
(Risse 2003). Selbstkritisch muss dabei aber angemerkt werden,
dass dies auch darauf zurückzuführen ist, dass die Disziplin nicht
in der Lage ist, wissenschaftstheoretische Debatten adäquat zu re-
zipieren und in fachwissenschaftliche empirische Arbeit zu über-
setzen. Auch wenn Wendts neue metaphysische Erkundungen der
Welt der Quanten bereits jetzt verhalten positiv aufgenommen wer-
den (Keeley 2007), so werden diese absehbar noch weniger Einfluss
auf die empirische Forschung haben als Wendts STIP. Daher lautet
das Fazit in den Worten von Colin Wight zwangsläufig: „Unable
to shake the positivist orthodoxy because it never really understood
it, the discipline simply poured the newly emerging patterns of
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thought into the old framework“ (Wight 2002: 40). Insofern kann
aus der Wahrnehmung der traditionellen Theorie der internationalen
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Beziehungen nicht die Rede davon sein, bei Wendts Konstruktivis-


mus handle es sich um „a case of ‚big fish eats small fish‘ “ (Guzzi-
ni/Leander 2001: 317).

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Sozialkonstruktivismus 459
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460 Cornelia Ulbert
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Kritische Theorie
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Christoph Humrich

1. Einleitung
Max Horkheimer schreibt im Nachwort zum namensgebenden Auf-
satz der Kritischen Theorie, dieser gehe es „um die Menschen mit
allen ihren Möglichkeiten“ (Horkheimer 1970: 58; Hervorh. C.H.).
Kritische Theorie sieht ihre Aufgabe in der Identifizierung, Kritik
und Überwindung von Mechanismen und Strukturen, die Men-
schen von der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten ausschließen.
Sie identifiziert und kritisiert mit anderen Worten Exklusionssys-
teme und möchte zu deren Überwindung, d.h. zur Emanzipation,
beitragen. Dazu engagiert sich kritische Theorie auf zwei Ebenen.
Auf der Ebene der gesellschaftlichen Exklusionspraxis lassen
sich vom Fehlen der Möglichkeit menschenwürdiger Existenz über
die Einschränkung von Rechten bis hin zu verminderten Chancen
für berufliche Karrieren aufgrund von Geschlecht, Rasse oder
Staatsangehörigkeit eines Menschen vielfältige Arten der Exklu-
sion ausmachen. Auf der Ebene der Theorie grenzt sich die kriti-
sche Theorie aktiv von in ihren Augen nicht-kritischer Theorie ab.
Diese nicht-kritischen Theorien werden als traditionelle, „problem-
lösende“ („problem-solving“) oder positivistische Theorien be-
zeichnet. Der Vorwurf lautet, dass diese Theorien mit ihrem Ver-
such, allgemeine Zusammenhänge in der Welt zu entdecken, die
Welt mit diesen Zusammenhängen zu erklären und auf ihrer Grund-
lage Lösungen für akute Probleme anzubieten, nur zur Reproduk-
tion bestehender Exklusionssysteme beitragen. Sie tun dies, weil
Zusammenhänge oder Bestandteile der sozialen Welt im Rahmen
von Erklärungen oder Problemlösungen als quasi-natürliche und
daher unveränderbare Regelmäßigkeiten bzw. Parameter behandelt
werden. Solche falschen Naturalisierungen will die kritische
Theorie sowohl durch theoretische Reflexion als auch durch empi-
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Kritische Theorie
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Christoph Humrich

1. Einleitung
Max Horkheimer schreibt im Nachwort zum namensgebenden Auf-
satz der Kritischen Theorie, dieser gehe es „um die Menschen mit
allen ihren Möglichkeiten“ (Horkheimer 1970: 58; Hervorh. C.H.).
Kritische Theorie sieht ihre Aufgabe in der Identifizierung, Kritik
und Überwindung von Mechanismen und Strukturen, die Men-
schen von der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten ausschließen.
Sie identifiziert und kritisiert mit anderen Worten Exklusionssys-
teme und möchte zu deren Überwindung, d.h. zur Emanzipation,
beitragen. Dazu engagiert sich kritische Theorie auf zwei Ebenen.
Auf der Ebene der gesellschaftlichen Exklusionspraxis lassen
sich vom Fehlen der Möglichkeit menschenwürdiger Existenz über
die Einschränkung von Rechten bis hin zu verminderten Chancen
für berufliche Karrieren aufgrund von Geschlecht, Rasse oder
Staatsangehörigkeit eines Menschen vielfältige Arten der Exklu-
sion ausmachen. Auf der Ebene der Theorie grenzt sich die kriti-
sche Theorie aktiv von in ihren Augen nicht-kritischer Theorie ab.
Diese nicht-kritischen Theorien werden als traditionelle, „problem-
lösende“ („problem-solving“) oder positivistische Theorien be-
zeichnet. Der Vorwurf lautet, dass diese Theorien mit ihrem Ver-
such, allgemeine Zusammenhänge in der Welt zu entdecken, die
Welt mit diesen Zusammenhängen zu erklären und auf ihrer Grund-
lage Lösungen für akute Probleme anzubieten, nur zur Reproduk-
tion bestehender Exklusionssysteme beitragen. Sie tun dies, weil
Zusammenhänge oder Bestandteile der sozialen Welt im Rahmen
von Erklärungen oder Problemlösungen als quasi-natürliche und
daher unveränderbare Regelmäßigkeiten bzw. Parameter behandelt
werden. Solche falschen Naturalisierungen will die kritische
Theorie sowohl durch theoretische Reflexion als auch durch empi-
462 Christoph Humrich
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rische Studien entlarven. Sie versucht dann, die historische Be-


dingtheit und prinzipielle Veränderbarkeit der als natürlich ange-
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sehenen sozialen Verhältnisse aufzuzeigen und zu erklären. Dabei


sollen auch Alternativen sichtbar werden, die zur Emanzipation
aus Exklusionssystemen, d.h. zu inklusiveren Ordnungen beitragen
können.
Es gibt sehr verschiedene Ansätze kritischer Theorie.1 Sie kön-
nen grundsätzlich danach unterschieden werden, welche Art von Ex-
klusionssystemen thematisiert werden und wohin sich Ausge-
schlossene emanzipieren sollen bzw. wie die Alternativen zur be-
stehenden Ordnung aussehen können. Unterschiede bestehen auch
bei der Einschätzung, wie die Chancen für Emanzipation generell
stehen, und wo in der gegenwärtigen Ordnung emanzipatorisches
Potenzial zu finden ist. Als kritische Theorie grenzt sich z.B. der
Feminismus durch den Fokus auf geschlechtsspezifische Exklusion
ab (vgl. hierzu den Beitrag von Barbara Finke in diesem Band).
Postmodernistische unterscheiden sich von anderen Ansätzen kri-
tischer Theorie durch ihre Skepsis gegenüber vorgeblicher Eman-
zipation: Weil sich jede gesellschaftliche Ordnung durch den Aus-
schluss alternativer Möglichkeiten konstituiere, stelle jede Ord-
nung notwendigerweise ein Exklusionssystem dar (vgl. hierzu den
Beitrag von Thomas Diez in diesem Band). Modernistische Ansät-
ze kritischer Theorie orientieren sich demgegenüber am Ziel der
Emanzipation in einer zumindest grob bestimmbaren, inklusiveren
gesellschaftlichen Ordnung. Hier lassen sich das kommunikative und
das produktionistische Paradigma kritischer Theorie unterscheiden.
Das produktionistische Paradigma geht direkt auf Marx’ Kritik der
Politischen Ökonomie zurück. Hier ergeben sich Emanzipationspo-
tenziale aus der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte.
Das kommunikative Paradigma wurde von Jürgen Habermas ent-
wickelt. Für ihn liegt die Möglichkeit für Emanzipation in unhinter-

1 Aufgrund des Entstehungszusammenhangs bezeichnet der Begriff „kritische


Theorie“ in der angelsächsischen Diskussion der Internationalen Beziehungen
oft die Gesamtheit post-realistischer und post-positivistischer Ansätze. Im Deut-
schen wird der Begriff nur mit der von Horkheimer und Adorno begründeten
„Frankfurter Schule“ in Verbindung gebracht. Es hat sich eingebürgert, die Ge-
samtheit kritischer Ansätze als „critical theory“ mit kleinen Anfangsbuchstaben,
die „kritische Theorie“ der Frankfurter Schule groß geschrieben als „Critical
Theory“ zu bezeichnen.
Kritische Theorie 463
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gehbaren Voraussetzungen des Sprachgebrauchs, die Kommunika-


tion für Kritik und moralisches Lernen offen halten.
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In der Lehre von den internationalen Beziehungen (IB) hat sich


Andrew Linklater um einen systematischen Import des kommuni-
kativen Paradigmas der Kritischen Theorie von Habermas in die
Internationalen Beziehungen bemüht. Um seine kritische Theorie
wird es in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels gehen.2 Al-
lerdings wurde der Begriff „kritische Theorie“ zunächst vor allem
durch die Arbeiten von Robert Cox bekannt, die dem produktioni-
stischen Paradigma zuzurechnen sind. Er führte in einem vielzi-
tierten Aufsatz 1981 die bereits erwähnte Unterscheidung zwi-
schen kritischer und problemlösender Theorie in die amerikanische
IB ein (Cox 1981; vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Bieler und
Adam David Morton in diesem Band).
Mit ihren kritischen Theorien waren Cox und Linklater Teil ei-
ner breiteren Bewegung in der IB, die Anfang der 1980er Jahre
sowohl als Reaktion auf Veränderungen in der Praxis internatio-
naler Politik, als auch als Antwort auf Entwicklungen in der IB-
Theorie entstand.3 In der politischen Praxis machten die beiden
Supermächte Ende der 1970er Jahre die Erfolge der Entspannungs-
politik zwischen Ost und West wieder zunichte. Der Kalte Krieg
spitzte sich zu und das nukleare Wettrüsten nahm wieder an Fahrt
auf. In dieser Zeit veröffentlichte Kenneth Waltz seine neo-rea-
listische Theorie internationaler Politik. Sie sprach angesichts der
anarchischen Struktur der internationalen Beziehungen von einem
unveränderlichen „Selbsthilfesystem“ und hob die relative Stabili-
tät der bipolaren Machtverteilung des Ost-West-Gegensatzes posi-
tiv hervor (vgl. hierzu auch den Beitrag von Niklas Schörnig in
diesem Band).

2 Daher wird in diesem Kapitel oft auf Konzepte von Habermas Bezug genom-
men, die aus Platzgründen allerdings nicht im Einzelnen erklärt werden können.
Stattdessen wird auf die Einführung von Müller-Doohm (2008) und das Haber-
mas-Handbuch von Brunkhorst/Kreide/Lafont (2009) verwiesen.
3 In der Bundesrepublik Deutschland kam die kritische Theorie schon Ende der
1960er Jahre als Kritische Friedensforschung auf. Dieses Kapitel beschränkt
sich auf die anglophone Diskussion, weil deutsche kritische Theoretiker der In-
ternationalen Beziehungen und kritische Theorie in den deutschen Internatio-
nalen Beziehungen heute keine Rolle mehr spielen (vgl. Humrich 2006).
464 Christoph Humrich
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Durch die Naturalisierung von Anarchie und Selbsthilfe for-


derten die neorealistischen Thesen dazu auf, sich mit den Verhält-
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nissen abzuzfinden. Die Wahrnehmung der sich verstärkenden Ge-


fahr eines Atomkrieges, spornte jedoch viele Wissenschaftler an,
theoretische Alternativen zu entwickeln und empirisch und prak-
tisch auszuarbeiten (Kubálková/Cruickshank 1986: 165). Wie an-
dere kritische Theoretiker der internationalen Beziehungen setzt
sich Linklater daher vor allem vom Neorealismus ab, der als Ver-
körperung einer positivistischen, „problemlösenden“ Theorie an-
gesehen wird (vgl. Hoffman 1987: 236; Linklater 1998b: 15). Link-
laters Arbeiten haben in der englischsprachigen Disziplin weite
Beachtung und Eingang in zahlreiche Einführungen gefunden und
können insofern als exemplarisch für die kritische Theorie der in-
ternationalen Beziehungen im Allgemeinen und für deren kommu-
nikatives Paradigma im Besonderen angesehen werden.

2. Die Kritische Theorie der Internationalen


Beziehungen: Andrew Linklater

2.1 Linklaters kommunikatives Paradigma kritischer


Theorie

Das Theorieprogramm, das Linklater später im Rahmen des


kommunikativen Paradigmas als kritische Theorie der internatio-
nalen Beziehungen ausarbeitet, wird in dem aus seiner Disserta-
tion entstandenen Buch „Men and Citizen in the Theory of Inter-
national Relations“ vorgestellt – allerdings noch ohne expliziten
Bezug zum kommunikativen Paradigma der kritischen Theorie
(Linklater 1982). Hier beschäftigt sich Linklater mit der Diffe-
renz zwischen moralischen Pflichten gegenüber Mitbürgern und
solchen gegenüber allen anderen Mitmenschen. Seine Ausführun-
gen laufen darauf hinaus, den moralischen Universalismus als
einzig mögliche normative Perspektive für eine internationale
politische Theorie zu begründen und die Rechtfertigung einer
vorrangigen Pflicht gegenüber Mitbürgern zu verwerfen. Damit
kritisiert er zugleich den Staat als Exklusionssystem, da dieser die
Unterscheidung zwischen Mitbürgern und Mitmenschen bedingt
Kritische Theorie 465
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und damit Mitmenschen von bestimmten Möglichkeiten aus-


schließt.
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In den achtziger Jahren folgt eine Auseinandersetzung sowohl


mit dem Realismus als auch mit dem produktionistischen Para-
digma der kritischen Theorie. Ergebnis ist „Beyond Realism and
Marxism. Critical Theory and International Relations“, in dem ei-
ne kritische Theorie der internationalen Beziehungen im Rahmen
des kommunikativen Paradigmas erstmals angedacht wird. Sowohl
Marxismus als auch Realismus vernachlässigten, so Linklater, „the
significance of moral development and […] the main advances in
the evolution of universal moral norms“ (Linklater 1990a: 7). Die-
se seien daher in eine soziologische Entwicklungstheorie aufzu-
nehmen. Das tut Linklater, indem er unter anderem aus Habermas’
„Rekonstruktion des historischen Materialismus“ die zentrale Be-
deutung von Lernprozessen übernimmt. Diese Lernprozesse wer-
den über sprachliche Interaktion vermittelt. Lernen wird möglich
durch das so genannte kommunikative Handeln, das auf Verstän-
digung und den „zwanglosen Zwang“ des besseren Argumentes
angelegt ist (Habermas 1995a).
Weil sie sich nicht nur Produktionsprozesse, sondern auch
sprachliche Interaktion anschaut, kann Linklaters kritische Theorie
nun Exklusion in den Sphären der Moral und des Rechts untersu-
chen, z.B. im Umgang politischer Gemeinschaften („political
communities“) miteinander. Denn es sind Recht und Moral, die
zwischen „Insidern“ und „Outsidern“ unterscheiden und damit
politische Gemeinschaften auf der Ebene des Staates, der interna-
tionalen Gesellschaft und ganzer Kulturen („civilisations“) kon-
stituieren und gleichzeitig zu Exklusionssystemen machen (Linkla-
ter 1998b: 123ff). Wie in „Men and Citizen“ interessiert ihn hier
„the significance of (...) differences between insiders and outsiders
for the conduct of external relations“ (Linklater 1990c: 146).
„Outsider“ sind die Menschen, deren Chance zur Verwirklichung
ihrer Möglichkeiten durch das Denken und Handeln der „Insider“
als nicht oder als weniger relevant ausgeschlossen wird. Emanzi-
pation bedeutet demgegenüber, dass Exklusionssysteme, die parti-
kulare Interessen von „Insidern“ (z.B. von Mitbürgern, Männern,
Deutschen oder Weißen) gegenüber den Möglichkeiten der „Out-
sider“ (also des jeweiligen Rests der Menschheit) bevorzugen,
durch inklusivere, universellere Rechtsformen und Normen abge-
466 Christoph Humrich
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löst werden, die den Kreis der „Insider“ erweitern oder Exklusions-
formen wenigstens abmildern.
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Gegenwärtig machen die rechtlichen Exklusionssysteme von


Staatsbürgerschaft und staatlicher Souveränität den Staat zu ei-
nem doppelten Exklusionssystem (Linklater 1996b: 88). Staatsbür-
gerschaft und Souveränität unterscheiden sowohl im Inneren als
auch nach außen zwischen „Insidern“ und „Outsidern“. Staatsbür-
gerschaften legen die Inklusion in, aber eben auch die Exklusion
von staatlichen Entscheidungs- und Verteilungssystemen fest. Sie
geben den Rechten von Mitbürgern gegenüber den Rechten der
übrigen Menschheit Vorrang. Innerhalb des Staates können z.B.
nationale oder ethnische Minoritäten, aber auch Frauen „Outsider“
sein, sofern sie entweder keine volle Staatsbürgerschaft besitzen
oder der Staatsbürgerschaft die institutionellen Mittel fehlen, um
die Verwirklichung ihrer Möglichkeiten zu garantieren. Mit dem
Staat können also auch moralische Exklusionssysteme wie Patriar-
chat, Nationalismus, Rassismus oder kultureller Chauvinismus ver-
bunden sein. Die Institution staatlicher Souveränität sichert diese
Exklusionssysteme auf der internationalen Ebene nach außen ab.
Durch ihre Souveränität sind Staaten vor Eingriffen in innere An-
gelegenheiten geschützt. Sie können weder gezwungen werden,
bei nationalen Entscheidungen den Rest der Menschheit zu be-
rücksichtigen, noch davon abgehalten werden, durch ihre Außen-
und internationale Politik ausschließlich ihre Bürger auf Kosten
anderer zu privilegieren.
Das kommunikative Paradigma kritischer Theorie hebt hervor,
dass Exklusionssysteme durch moralisch-praktisches Lernen ver-
ändert werden können. Linklater unterscheidet im Anschluss an
Habermas noch drei weitere Lernbegriffe: das technisch-instru-
mentelle Lernen der Kontrolle von Natur, das strategische Lernen
der Manipulation anderer Akteure, das diplomatische Lernen der
Regeln von Koexistenz in der internationalen Gesellschaft. Der
Zweck einer Analyse aller unterschiedlichen Lernformen bestehe
darin „[…] to understand how the relationships among the differ-
ent forms of social learning […] shape the moral boundaries spe-
cific to individual communities; it is to comprehend the latter’s
potential for organizing their external relations in accordance with
universalistic principles as opposed to norms that are particularis-
tic and exclusionary“ (Linklater 1990c: 277). Die geforderte Ana-
Kritische Theorie 467
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lyse der Lernformen und ihrer Interaktion ist Teil von Linklaters
opus magnum „The Transformation of Political Community. Ethi-
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cal Foundations of the PostWestphalian Era“ (Linklater 1998b).


Linklater arbeitet hier seine kritische Theorie der internationalen
Beziehungen in drei Dimensionen aus.
In der normativen Dimension wird versucht, die Gültigkeit be-
stimmter „nonarbitrary principles that can be used to criticize exis-
ting social practices and to imagine improved forms of life“
(Linklater 2001a: 25) als Basis einer Kritik an Exklusionssystemen
zu etablieren. Hier wird begründet, warum die Kritik an bestimm-
ten Exklusionssystemen legitim ist. Die Kritik führt Linklater zu
drei normativen Forderungen nach einer universelleren Inklusion,
größerer Differenz-Sensitivität und einer gerechteren Verteilung
materieller Güter.
Die soziologische Dimension beschäftigt sich mit sozialen Struk-
turen und Mechanismen der Exklusion und ihrer Entwicklung. Sie
fragt in Linklaters Terminologie, wie Formen der Inklusion und
Exklusion in sozialen Prozessen er- oder verlernt werden und wie
sich dadurch politische Gemeinschaften konstituieren oder trans-
formieren. Linklater will zeigen, dass es in den westlichen Gesell-
schaften durch moralisch-praktische Lernprozesse schon im Sinne
seiner normativen Forderungen zu einer dreifachen Transformati-
on politischer Gemeinschaften gekommen ist und dass sich auch
die internationale Gesellschaft dementsprechend verändern kann.
Weil diese Transformation das heutige internationale System der
souveränen Nationalstaaten, das auf den Westfälischen Frieden
(1648) zurückgeführt wird, in Frage stellt, spricht Linklater von
seiner explizit normativen Theorie als „Ethik für die post-westfä-
lische Ära“.
In der praxeologischen Dimension soll dann in der bestehenden
Ordnung das emanzipatorische Potenzial identifiziert werden, das
in der Praxis für die dreifache Transformation des „Westfälischen
Systems“ benutzt werden kann. Linklater nennt dieses Potenzial
„moralisches Kapital“. Es steht sozusagen für die Investition in
die Verwirklichung einer inklusiveren Ordnung zur Verfügung.
468 Christoph Humrich
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2.2 Die Dimensionen kritischer Theorie


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Die normative Dimension

Dass der Staat ein doppeltes Exklusionssystem ist, lässt sich schwer-
lich leugnen. Aber dies moralisch gerechtfertigt zu kritisieren, ist
eine nicht unbeträchtliche Herausforderung, wenn man bedenkt,
dass die meisten politischen Theorien sich bemüht haben, legitime
Formen des Staates normativ abzusichern. Linklater muss sich bei
dieser Aufgabe auf die normative Basis des moralischen Univer-
salismus stützen: „Universalism (…) desires what no morally ex-
clusive community can supply, namely a politics of impartiality
which takes the welfare of all humans into account“ (Linklater
1990b: 49; Hervorh. C.H.). Er muss also diese Basis moralisch
rechtfertigen können, wenn seine Kritik Bestand haben soll. Die
Hauptlast dieser Rechtfertigung wird von einer negativen Argu-
mentationsstrategie getragen. Linklater argumentiert für den mo-
ralischen Universalismus, indem er Kritik an ihm zurückweist. Er
behandelt darum drei eng miteinander verknüpfte Argumente ge-
gen den Universalismus, die er bei den Historisten des 19. Jahr-
hunderts (Meinecke, Treitschke), bei postmodernen (u.a. Foucault,
Lyotard, Rorty) und feministischen Autoren (u.a. Gilligan, Fraser)
findet.
Die Historisten versuchten nachzuweisen, dass die universali-
stischen Ethiken, wie Linklater Friedrich Meinecke zitiert, „always
bring with them a clump of native soil from the national sphere, a
sphere that no individual can completely leave behind“ (Linklater
1998b: 65). Das bedeutet, dass universalistische Ethik im Zwei-
felsfall doch nur partikularistisch ist und dazu missbraucht werden
kann, das eigene partikulare Interesse im Namen der Menschheit
zu rechtfertigen. Dieses Argument teilen auch postmoderne Kriti-
ker, die aufgrund epistemologischer Vorbehalte behaupten, eine
nicht exklusive, für alle Menschen gültige Ethik sei prinzipiell
nicht möglich.
Insbesondere die feministische Kritik hat dem Universalismus
Differenz-Blindheit vorgeworfen. Indem er unparteilich die Wohl-
fahrt aller im Auge habe, betrachte der Universalismus nur „gene-
ralisierte Andere“, d.h. abstrakte Personen, denen ganz unabhän-
gig von den Differenzen in ihren tatsächlichen Bedürfnissen
Kritische Theorie 469
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Rechte zustehen (vgl. Linklater 1992: 32f). Universalistische Ethik


schließe eine so genannte Ethik der Fürsorge aus, die auf die Be-
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dürfnisse des „konkreten Anderen“ eingeht und vor allem mit dem
moralischen Handeln von Frauen in Verbindung gebracht wird
(Linklater 1996a: 291). Die bisher genannten Kritiken argumentie-
ren also, dass universalistische Ethik selbst zum Exklusionsmecha-
nismus werden kann. Gerade weil universalistische Ethik von kon-
kreten Verhältnissen abstrahieren muss, wird ihr außerdem vorge-
worfen, sie sei zu abstrakt, um Menschen zum Handeln zu bewe-
gen. Dadurch könne sie nicht politisch wirksam werden.
Linklaters moraltheoretisches Hilfsmittel bei der Zurückwei-
sung der Kritik am moralischen Universalismus ist die von Karl-
Otto Apel und Habermas entwickelte Diskursethik.4 Die Diskur-
sethik postuliert, dass eine Norm legitime Gültigkeit nur beanspru-
chen kann, wenn sie die Zustimmung aller von ihr Betroffenen in
einem herrschaftsfreien Diskurs erhält. Dass Menschen von Ent-
scheidungen ausgeschlossen werden, die sie betreffen, widerspricht
also der diskursethischen Auffassung legitimer Normen. Die Einen-
gung der Entscheidenden auf eine begrenzte Gemeinschaft (z.B. der
Staatsbürger) ist diskursethisch nicht zu rechtfertigen, wenn die
Folgen der Entscheidung auch Menschen außerhalb dieser Ge-
meinschaft betreffen (Linklater 1996a: 193).
Der Kritik der Historisten kann Linklater nun entgegenhalten,
dass die Diskursethik die Möglichkeit einer durch universalisti-
sche Begriffe verkleideten partikularen Moral verhindert, denn de-
ren Argumente würden in einem herrschaftsfreien Diskurs nicht
konsensfähig sein. Durch die Forderung nach der zwanglosen Zu-
stimmung aller Betroffenen will die Diskursethik stattdessen wirk-
liche Universalität garantieren. Der postmodernen Kritik nimmt
Linklater Wind aus den Segeln, indem er zeigt, dass sich in ihren
praktischen Vorschlägen diskursethische Grundsätze widerspie-
geln. Zumindest implizit teilen viele postmoderne Theoretiker die
diskursethische Überzeugung, dass „the legitimacy of systems of
exclusion ought to be decided in open dialogue“ (Linklater 2001a:
28f). Gegen den Vorwurf der Differenz-Blindheit lässt sich mit
zwei Hauptargumenten Position beziehen. Erstens hat die Forde-

4 Zur Diskursethik vgl. Apel (1997), Habermas (1992) und Linklater (1998b: 85-
108).
470 Christoph Humrich
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rung, Differenzen in moralische Erwägungen einzubeziehen, ihrer-


seits einen universalistischen Anspruch. Es wird vorausgesetzt,
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dass es für alle moralisch geboten ist, Differenzen unparteilich zu


berücksichtigen (Linklater 1990c: 140). Zweitens argumentiert
Linklater, dass das empathische Verstehen und Einbeziehen der In-
teressen des „konkreten Anderen“, also Differenz-Sensitivität, in
einem Diskurs eine der notwendigen Voraussetzungen für jede
Verständigung ist. Linklater sieht deshalb einen Großteil der post-
modernen und feministischen Einsprüche weniger als Kritik denn
als eine vollständigere Beschreibung an, wie Diskursethik in der
Praxis funktionieren muss (Linklater 1996a: 291).
Die Kritik allzu großer Abstraktheit universeller Normen trifft
die Diskursethik, weil sie nur eine Art Test für die Gültigkeit von
Normen ist, die aus ihr selber nicht gewonnen werden können.
Aber gerade weil sie die Legitimität von Normen von der zwang-
losen Zustimmung aller Betroffenen abhängig macht, beinhaltet
sie die Vision einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, die Mög-
lichkeit der Teilnahme an einem herrschaftsfreien Diskurs aller
Betroffenen. Mit anderen Worten: Diskursethik fordert die „Reali-
sierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft repressions-
freier Beratung in der realen Kommunikationsgemeinschaft“ (Apel
1997: 38; Linklater 2001a: 30). Sie impliziert die dafür notwendi-
gen Maßnahmen, insbesondere die Gewährleistung der materiellen
Grundlagen für die Möglichkeit der Teilnahme an Diskursen (u.a.
Linklater 1998b: 106).
Mit der Zurückweisung der Kritik an der Diskursethik vertei-
digt Linklater nicht nur den Universalismus als legitime Basis sei-
ner Kritischen Theorie. Wenn man politische Gemeinschaften
grundsätzlich als Kommunikationsgemeinschaften auffasst, ver-
langt die Diskursethik mit der idealen Kommunikationsgemein-
schaft zugleich die größere Universalität und Differenz-Sensitivi-
tät sowie die gerechte Verteilung materieller Güter in politischen
Gemeinschaften. Weil das auf die erwähnte dreifache Transfor-
mation des „Westfälischen Systems“ hinausläuft, hat Linklater
diese diskursethisch als politisches Programm gerechtfertigt.
Kritische Theorie 471
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Die soziologische Dimension


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Die universalistische Kritik am doppelten Exklusionssystem Staat


wäre zwecklos, bestünde nicht die Möglichkeit einer Veränderung
dieses Systems. Kritische Theorie muss also aufzeigen, dass dieses
Exklusionssystem historisch bedingt und damit prinzipiell wan-
delbar ist. Linklater reflektiert in diesem Sinne die Grundlage der
traditionellen Theorie der Internationalen Beziehungen kritisch: Die-
se hat nur die Beziehungen zwischen Staaten untersucht und sowohl
die Existenz von Staaten als auch meistens eine bestimmte Form ih-
rer Koexistenz im internationalen System schon vorausgesetzt und
damit naturalisiert.
Das Aufkommen des Staates als Exklusionssystem versteht
Linklater als strategisches Er-Lernen von Kontrolle in Form staat-
licher Monopole und moralisch-praktisches Ver-Lernen von Loya-
litäten jenseits des Staates. Zentral sind die drei Monopole der le-
gitimen Gewaltanwendung, der Steuererhebung und des Loyali-
tätsanspruchs. Sie deuten auf die Kräfte hin, die bei der Staatsbil-
dung wirksam waren und deren Kontrolle der Staat lernen musste,
um sein Überleben bzw. seine Souveränität zu sichern: Krieg,
Wirtschaft und Kultur (Linklater 1995: 183f). Vor allem die ersten
beiden Monopole brachten die Entstehung von Staatsbürgerschaft
mit sich. Untertanen, von denen ihr Herrscher verlangte, Kriegs-
dienst zu leisten und Steuern zu zahlen, forderten auch entsprechen-
de Rechte. Wichtig für Linklater ist aber insbesondere das Loyali-
tätsmonopol (vgl. Waller/Linklater 2003). Die Herausbildung ei-
nes staatlichen Loyalitätsmonopols bedeutete, dass vorrangige Lo-
yalitäten gegenüber subnationalen (z.B. regionalen oder berufs-
ständischen) und auch transnationalen Gemeinschaften (wie der
katholischen Kirche im Mittelalter) nicht mehr aufrechterhalten
werden können. Dies führte sowohl zur Unterdrückung, Vertrei-
bung oder Assimilation von Gemeinschaften, die alternative Loya-
litäten fordern könnten, z.B. ethnische Minoritäten, als auch zur
Bildung neuer Gemeinschaften, insbesondere die der Staatsbürger
im Sinne von „nation building“.
Der Raum für die dreifache Transformation öffnet sich für Link-
later innerhalb der westlichen Welt, weil die staatlichen Monopole
durch die Veränderung der Kräfte, durch deren Kontrolle der Staat
entstand, erodieren. Im Westen vermindert sich durch die Pazifi-
472 Christoph Humrich
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zierung zwischenstaatlicher Beziehungen, die Entstaatlichung der


Ökonomie und die lebensweltliche Pluralisierung staatlicher Ge-
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sellschaften die Bedeutung der staatlichen Monopole. Damit – so


Linklaters These – verliert auch der Staat seine Bedeutung als die
relevante Gemeinschaft, welche die moralische Differenz zwi-
schen „Insidern“ und „Outsidern“ bestimmt (Linklater 1995:
184ff, 1996b: 83ff).
Auch auf der internationalen Ebene kommt das doppelte Exklu-
sionssystem „Staat“ unter Druck. Linklater identifiziert hier vier
idealtypische Stufen der Inklusion bzw. Exklusion, zwischen denen
Übergänge durch Lernprozesse stattfinden. Aus einer Hobbes’schen
Anarchie, in der Souveränität nicht institutionalisiert ist, treten
Staaten in eine pluralistische internationale Gesellschaft ein, wenn
sie durch diplomatisches Lernen die Entwicklung und Anerken-
nung von Regeln der Koexistenz erreichen. Diese Regeln, unter
ihnen die der staatlichen Souveränität, verhindern immerhin, dass
kleinere, militärisch unterlegene Staaten an der Verwirklichung ihrer
Möglichkeiten innerhalb ihrer Grenzen gehindert werden. Gleich-
zeitig schreibt Souveränität aber Machtungleichgewichte und ma-
terielle Ungleichverteilungen fest. Von ihnen profitiert vor allem
der Westen. In der von Hedley Bull so genannten „Revolte gegen
den Westen“ wird die etablierte internationale Ordnung der Koexis-
tenz von nicht-westlichen Staaten angegriffen – auch weil sie als
Ausdruck der kulturellen Hegemonie des Westens gesehen wird
(Linklater 1992: 30). Hinzu kommt, dass bei zunehmender Inter-
dependenz der Staaten Konflikte über die angemessene Ausübung
und die Grenzen des Rechts der Souveränität entstehen (Linklater
1990c: 194). Durch ökonomische Globalisierung und ökologische
Interdependenz haben nationale Entscheidungen häufig Konse-
quenzen für die Möglichkeiten anderer Staaten.
Die beiden genannten Herausforderungen von Souveränität füh-
ren zu den von Linklater so genannten „Cosmopolitan Harm Con-
ventions“ (Linklater 2001b). Dazu gehören jene multilateralen
Konventionen, die Staaten dazu verpflichten, Schaden und Leid
von Menschen zu vermeiden, sei dies im Umweltbereich, beim
Schutz von Menschenrechten oder durch Regeln, die versuchen,
Krieg und seine Konsequenzen einzudämmen. Indem Staaten sol-
che Konventionen aushandeln und beschließen, befinden sie sich
in einem Prozess des moralisch-praktischen Lernens von univer-
Kritische Theorie 473
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sellen Normen. Dies markiert den Übergang zu einer solidaristi-


schen internationalen Gesellschaft, die durch einen gemeinsamen
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universellen Bestand moralischer Ziele unter Staaten inklusiver


wird. Eine post-westfälische Welt würde sich schließlich entwi-
ckeln, wo zugleich mit staatlicher Souveränität auch die Exklusions-
mechanismen der Staatsbürgerschaft durch universelle Loyalitäten
überwunden werden (Linklater 1998a: Fn 27, 1998b:167ff).

Die praxeologische Dimension

Die Betrachtungen der soziologischen Dimension haben ergeben,


dass durch die Erodierung der staatlichen Monopole bzw. von Sou-
veränität auf der internationalen Ebene alternative Ordnungen denk-
bar werden. Mit Rückgriff auf die normative Dimension stellt sich
die Frage, wie diese Veränderungen zu nutzen sind, um sich der
Verwirklichung von idealen Kommunikationsgemeinschaften aller
Betroffenen in realen Kommunikationsgemeinschaften anzunähern.
Welches „moralische Kapital“ in der bestehenden Ordnung kann al-
so investiert werden, um politische Gemeinschaften universeller, dif-
ferenz-sensitiver und egalitärer zu gestalten? Linklaters These ist,
dass das moralische Kapital in der Institution von Staatsbürgerschaft
und in den Cosmopolitan Harm Conventions schon vorhanden ist.
In der Institution von Staatsbürgerschaft sind auch Freiheits-
rechte gespeichert, die den „Insidern“ einerseits einen Bereich der
individuellen Verwirklichung von Möglichkeiten garantieren, an-
dererseits aber durch Partizipationsrechte die Möglichkeit der Teil-
habe an der Kontrolle der gesellschaftlichen Beschränkungen die-
ser Verwirklichung verleihen. Die Gewährleistung der Freiheits-
rechte ist eng an die Monopole des Nationalstaates geknüpft. Da-
her sind sie auch von deren Erodierung betroffen. Politische
Rechte kommen durch die Kompetenzübertragung an internatio-
nale Organisationen, soziale Rechte durch ökonomische Globali-
sierung unter Druck. Während diese beiden Prozesse auf der inter-
nationalen Ebene durch das moralische Kapital der Cosmopolitan
Harm Conventions zu einer inklusiveren internationalen Gesell-
schaft führen können, gefährden sie auf der nationalen Ebene die
Verwirklichung individueller Möglichkeiten, weil sie wichtige
Entscheidungen der Kontrolle der Bürger, also der Betroffenen,
entziehen. Bürgerrechte können nun aber benutzt werden, um ihrer
474 Christoph Humrich
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eigenen Gefährdung entgegen zu wirken oder gar dazu, ihre eige-


ne Reichweite auszubauen. Linklaters Einschätzung ist, dass de-
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mokratische Staaten „by virtue of their commitments to constitu-


tional democracy (…) are increasingly drawn into discussions how
the achievements of national citizenship can be retained and con-
solidated as the logics of globalisation and regionalisation transform
modern political life“ (Linklater 1998b: 198).
Eine Möglichkeit der Gefährdung von Bürgerrechten entgegen-
zutreten ist die Transnationalisierung von Bürgerrechten, die in
der Europäischen Union (EU) heute schon stattfindet. Das „mora-
lische Kapital“ der Staatsbürgerschaft wirkt hier insofern, als die
Bedrohung der effektiven Wahrnehmung der Freiheitsrechte durch
die Übertragung von Entscheidungen auf die europäische Ebene
von der zunehmenden Forderung nach einer Demokratisierung der
Europäischen Union begleitet wurde, die dann zur Gewährung von
transnationalen Bürgerrechten führte. Zugleich bedeutet diese
Transnationalisierung natürlich auch eine inklusivere Ordnung,
weil die politische Gemeinschaft der „Insider“ vergrößert wird. Die
liberale Freiheit vom Staat wird durch weitergehende Berufungs-
rechte vor internationalen Gerichtshöfen gestärkt. Mit dem kom-
munalen Wahlrecht für EU-Bürger in allen Mitgliedsländern so-
wie dem zunehmenden Einfluss des gewählten EU-Parlaments er-
halten auch politische Rechte auf EU-Ebene Substanz. Die Um-
verteilung von Mitteln in strukturschwache Regionen lässt sich
zudem als Ansatz einer Praxis transnationaler sozialer Rechte in-
terpretieren (vgl. Linklater 1996b, 1998b: 184ff, 2001b).
Indigene Völker und Minoritäten, aber auch Frauen, klagen zu-
dem in westlichen Gesellschaften nicht mehr nur die gleichberech-
tigte Gewährung ihrer Menschenrechte ein, sondern fordern die
Anerkennung ihres besonderen Konzepts des guten Lebens durch
die dominante koloniale, nationale oder patriarchalische Kultur.
Sie fordern dafür gruppenspezifische Freiheitsrechte, die die Chance
garantieren, diese Verschiedenheit auch in der dominanten Kultur
zu leben bzw. ihre Möglichkeiten verwirklichen zu können (Link-
later 1998b: 186ff, 2001a: 30). Staatsbürgerschaft soll somit durch
größere Differenz-Sensitivität inklusiver werden. Das moralische
Kapital der Freiheitsrechte wird also investiert, wenn sie über ge-
richtliche Verfahren oder politische Aktionen zur Durchsetzung
größerer Differenz-Sensivität genutzt werden.
Kritische Theorie 475
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2.3 Die Entwicklung von Linklaters kritischer Theorie


nach der „Transformation of Political Community“
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Nach der Veröffentlichung von „Transformation of Political Com-


munity“ kreisen Linklaters Gedanken zunehmend um die Cosmo-
politan Harm Conventions (Linklater 2001b). Das hat Auswirkun-
gen in allen drei Dimensionen seiner kritischen Theorie. Das äu-
ßert sich vor allem darin, dass Habermas’ kommunikatives Para-
digma für die theoretische Fundierung von Linklaters Denken an
Einfluss verliert – auch wenn es im Hintergrund noch präsent bleibt.
Die Cosmopolitan Harm Conventions rücken zunächst in das
Zentrum von Linklaters soziologischer Dimension (vgl. Linklater
2007a: Kapitel 9). Sie sind Konstruktionen, die das Verhältnis von
„Insidern“ und „Ousidern“ regeln und dabei Exklusion abmildern.
Bei der Suche nach theoretischen Instrumenten für eine Soziologie
der Cosmopolitan Harm Conventions entdeckt Linklater den deut-
schen Soziologen Norbert Elias (2007a: Kapitel 10). In dessen
Konzept des Zivilisationsprozesses findet Linklater die für ihn in-
teressanten Thesen einer Reduktion von Gewalt und unnötigem
Leiden im Prozess der Zivilisation, sowie der damit verbundenen
steigenden emotionalen Identifikation von Gesellschaftsmitglie-
dern. Elias postuliert, dass ein solcher Prozess in allen Gesell-
schaften stattfindet, denn alle Gesellschaften müssen das Problem
lösen, wie die Gesellschaftsmitglieder ihre je eigenen Bedürfnisse
befriedigen können, ohne dabei anderen Mitgliedern zu schaden.
Die Betonung auf den Prozess der Zivilisation vermeidet die Un-
terscheidung zwischen zivilisiert und unzivilisiert, da es keinen
Schwellenwert gibt.
Ein Problem bei der Verwendung von Elias’ Gedanken ist je-
doch, dass dieser gerade in der internationalen Gesellschaft keinen
Zivilisationsprozess am Werk sah. Linklater verbindet darum den
Rückgriff auf Elias mit einer vertieften Rezeption der Englischen
Schule, in der er zwar eine Soziologie der Zivilisierung internatio-
naler Beziehungen angelegt, aber konzeptuell nicht gut ausformu-
liert sieht. Das Ergebnis ist eine mit Elias’ Hilfe entwickelte Typo-
logie der Leid- bzw. Schadensformen, die beim Vergleich interna-
tionaler Gesellschaften verwendet werden soll (Linklater 2007a:
174f; Linklater/Suganami 2006; vergleiche hierzu den Beitrag von
Christopher Daase in diesem Band).
476 Christoph Humrich
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Aus der verstärkten soziologischen Beschäftigung mit den Cos-


mopolitan Harm Conventions ergeben sich auch Änderungen in
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der normativen Dimension. Sie schwächen die stark universalisti-


schen und vernunftzentrierten Annahmen der Diskursethik ab.
Die Erkenntnis eigenständiger Zivilisationsprozesse führt Link-
later zum einen zur Unterscheidung zwischen einer „dünnen“ und
einer „dicken“ Lesart der Diskursethik (Linklater 2005): Während
die „dicke“ Lesart fordert, dass in allen Gesellschaften Normen
nur durch nach diskursethischen Gesichtspunkten institutionali-
sierte Verfahren validiert werden sollen, beschränkt sich die „dün-
ne“ Lesart darauf, bei Entscheidungen, die über Gesellschaftsgren-
zen hinaus Folgen haben können, die möglicherweise Betroffenen
einzubeziehen. Die „dicke“ Lesart weist Linklater dann auf Grund
der möglicherweise resultierenden schwerwiegenden Eingriffe in
gesellschaftliche Traditionen zurück. Die favorisierte „dünne“ Les-
art schließt aber ausdrücklich ein, dass auch Außenstehende Kritik
an inneren Traditionen üben dürfen – als Teil eines echten univer-
sellen Dialoges.
Linklater macht die Vermeidung von Leid aber nicht nur zum
Fokus seiner Soziologie, sondern bringt sie auch als Kernbestand-
teil einer globalen Ethik ins Spiel (u.a. 2006). In der „Transforma-
tion of Political Community“ hatte Linklater noch das ziemlich an-
spruchsvolle Programm der dreifachen Transformation, hin zu ei-
ner inklusiveren, differenz-sensitiveren und gerechteren Weltord-
nung als Annäherung an ideale Kommunikationsgemeinschaften
normativ gerechtfertigt. Nun wird das Verfahren der Diskursethik
durch ein inhaltlich bestimmtes Prinzip abgelöst (vgl. Eckersley
2008): das „no-harm principle“. Dieses ist wesentlich anspruchslo-
ser – auch wenn Linklater dem Begriff des Schadens eine sehr
weite Lesart gibt. Aber die Vermeidung von unnötigem Leiden
bleibt ein universelles Prinzip und es ist unschwer zuzugeben, dass
seine Beachtung in der Weltpolitik schon einiges bewirken würde
und ein realistischeres Programm darstellt: „Perhaps the principle
,above all, do no harm‘ should be regarded as the most funda-
mental and least demanding way in which the citizens of one state
can respect duties to humanity in the face of clashing conceptions
of the good“ (Linklater 2007a: 130).
Zusätzlich gerechtfertigt werden kann das Prinzip, wenn man
davon ausgeht, dass Moral etwas mit moralischem Gefühl oder
Kritische Theorie 477
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Mitgefühl zu tun hat. Weil Mitgefühl sich am ehesten an der Er-


fahrung von Leiden und nicht etwa in rationalen Diskursen bildet,
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sollte eine Ethik, die Akteure motivieren will, auch darauf fokus-
sieren. Zwar kann in rationalen Diskursen entschieden werden,
was moralisch geboten ist, aber die Motivation, das auch umzuset-
zen, wird möglicherweise dadurch nicht hinreichend erzeugt.
Auch bei diesem Gedanken steht eher die Soziologie von Elias
und die frühe kritische Theorie von Horkheimer und Adorno als
die vernunftzentrierte Diskursethik von Habermas Pate (Linklater
2007b).
Auf den „indispensible Elias“ kommt Linklater schließlich noch
einmal in der praxeologischen Dimension zurück (2009: 3). Hier
reflektiert er über die Rolle von Theorie und von „großen Erzäh-
lungen“. Elias glaube, so Linklater, an die Möglichkeit einer gro-
ßen Erzählung der Menschheitsgeschichte. Eine solche Erzählung
könne die meist vorherrschende kurzfristige Perspektive der Poli-
tik zugunsten langfristigen Denkens beeinflussen. Der Lehre von
den internationalen Beziehungen schreibt Linklater bei der Kon-
struktion einer solchen Erzählung eine entscheidende Rolle zu.

3. Habermas’ kommunikatives Paradigma in den


Internationalen Beziehungen

Obwohl Linklaters Arbeiten breit rezipiert wurden und bei jeder


Erwähnung kritischer Theorie internationaler Beziehungen an pro-
minenter Stelle stehen, kann man nicht sagen, dass seine Arbeiten
– anders als beispielsweise die neo-realistische Theorie internatio-
naler Politik von Kenneth Waltz – schulbildend geworden wären.
Das ist aus zwei Gründen bedauerlich. Zum einen stellt Linklaters
Werk einen theoretischen Rahmen dar, der den Vergleich mit den
IB-Klassikern nicht zu scheuen bräuchte, wenn er durch eine brei-
te Forschung auf gemeinsamer Grundlage angewendet und wei-
terentwickelt würde. Zum anderen gäbe es zahlreiche Möglich-
keiten, mit bestehender Forschung auf der Grundlage des kommu-
nikativen Paradigmas kritischer Theorie einen umfassenderen und
kohärenteren Schulzusammenhang herzustellen, aus dem Synergi-
en gemeinsamer Forschung hervorgehen könnten. In den letzten
Jahren hat nämlich innerhalb der Lehre von den Internationalen
478 Christoph Humrich
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Beziehungen das Interesse an Habermas’ kommunikativem Para-


digma stark zugenommen. Eine mittlerweile umfangreiche For-
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schung, die sich in der einen oder anderen Weise zentrale Gedan-
ken von Habermas zu Nutze gemacht hat, liefert wertvolle Bau-
steine für eine auf dem kommunikativen Paradigma aufbauende
kritische Theorie der Internationalen Beziehungen.5
Die Arbeiten, die innerhalb der Internationalen Beziehungen
auf Habermas Bezug nehmen, lassen sich vier theoretischen Berei-
chen zuordnen. Diese vier Bereiche sind (1) die Handlungstheorie,
(2) die Diskursethik, (3) die Theorie politischer Institutionen und
(4) die Gesellschaftstheorie. Für jeden theoretischen Bereich kann
man zeigen, dass sich die in ihm entstandene Forschung mit Link-
laters Theorieprogramm sinnvoll ergänzt.
(1) Die auf dem Begriff der kommunikativen Rationalität auf-
bauende Handlungstheorie ist die Grundlage des kommunikativen
Paradigmas (Habermas 1995a). Habermas behauptet, dass die ra-
tionale Verwendung von Sprache durch kompetente Sprecher die
Orientierung an einer Verständigung über den zwanglosen Zwang
des besseren Arguments einschließt. Kommunikativ handeln Ak-
teure, wenn sie ihre Interessen allein über den „zwanglosen Zwang“
des besseren Arguments koordinieren (Habermas 1995a: 28). Ak-
teure kommunizieren dann so, als ob sie sich in einer von der Dis-
kursethik geforderten idealen Kommunikationsgemeinschaft be-
finden würden. Doch findet kommunikatives Handeln in realen
politischen Prozessen überhaupt statt? Durch die zentrale Stellung
von Dialog und Lernprozessen in seiner Theorie benötigt Linklater
dafür einen konkreten Nachweis. Diesen liefern inzwischen zahl-
reiche Arbeiten, die typischerweise untersuchen, welche Rolle kom-
munikatives Handeln in internationalen Interaktionen gespielt hat.6
Innerhalb des größeren Kontextes dieser Debatte sind einerseits

5 Obwohl auch in den deutschen Internationalen Beziehungen reges Interesse an


den Arbeiten von Habermas besteht, ist Linklater hier bisher kaum wahrgenom-
men worden.
6 Mit der darüber hinaus gehenden These, dass auf der internationalen Ebene eine
Einigung auf kooperative Arrangements und stabile Kooperation ohne kommu-
nikatives Handeln gar nicht möglich ist, hat Harald Müller in der deutschspra-
chigen Disziplin eine interessante Debatte um kommunikatives Handeln in der
internationalen Politik ausgelöst (1994, für eine Zusammenfassung der Debatte
vgl. Humrich 2006: 79-85).
Kritische Theorie 479
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die spezifischen Funktionen kommunikativen Handelns in interna-


tionalen Verhandlungen aufgezeigt worden (z.B. Gehring 1995); an-
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dererseits wurde gezeigt, dass konkrete Verhandlungsergebnisse


ohne den Rückgriff auf kommunikatives Handeln nicht erklärbar
sind. Die Forschungsgruppe Menschenrechte um Thomas Risse
hat in diesem Zusammenhang z.B. herausgefunden, dass sich Staa-
ten, wenn sie sich erst einmal auf einen Menschenrechtsdialog
eingelassen haben, unter bestimmten Bedingungen in einem Pro-
zess „argumentativer Selbstverstrickung“ verfangen, der durch kom-
munikatives Handeln schrittweise zur Anerkennung von Menschen-
rechten führen kann (Risse/Ropp/Sikkink 1999). Ob in den zahlrei-
chen Ausschüssen der Europäischen Union (u.a. Joerges/Neyer
1998), im Dialog der Kulturen in internationalen Öffentlichkeiten
(Lynch 2000, 2005), in den Verhandlungen zum Kyoto-Protokoll
(Eckersley 2004), der ILO-Kinderarbeitskonvention (Ulbert/Risse
2005) oder dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (Dei-
telhoff 2006, 2009): Argumentation, Dialog und Verständigung
findet auch in der internationalen Politik statt.7
(2) Der zweite theoretische Bereich in Habermas’ Werk zum
kommunikativen Paradigma ist die Diskursethik. Als Maßstab für
die Gültigkeit von Normen kann sie dazu dienen, tatsächlich statt-
findende Kommunikation kritisch zu bewerten. In entsprechenden
Arbeiten werden aus der Diskursethik Indikatoren abgeleitet, die
bei der empirischen Evaluation politischer Prozesse Legitimitäts-
grade anzeigen können (u.a. Bjola 2005; Finke 2005; Gehring
2005; Jones 1999; Nanz/Steffek 2004; Steffek 2004). Für Linkla-
ter hatte die Diskursethik in erster Linie die Funktion der morali-
schen Rechtfertigung der generellen Kritik am Staat als Exklusions-
system. Kritische Analysen konkreter Normsetzungsprozesse hat
er aber nicht durchgeführt und damit auf Anwendungen seiner
Theorie verzichtet. Die genannten Arbeiten zeigen, wie solche An-
wendungen aussehen könnten. Auch wenn diese Literatur in ein-
zelnen Fällen Anzeichen für diskursive Legitimität identifizieren
kann (z.B. durch transparente Entscheidungsfindung, Beteiligung
Betroffener an der Entscheidungsfindung, öffentliche Deliberation
und Verständigungsorientierung), bestehen in der internationalen

7 Für kritische Zusammenfassungen der Ergebnisse dieser Forschung siehe Dei-


telhoff/Müller (2005), Herborth (2007), Müller (2007), Saretzki (2007).
480 Christoph Humrich
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Politik weiterhin große Legitimitätsdefizite. Deren Verminderung


kann durch die Institutionalisierung kommunikativer Rechte und
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durch Regeln und Prozeduren versucht werden, die kommunikati-


ves Handeln begünstigen und Machtasymmetrien wenigstens tem-
porär ausschalten.
(3) Habermas’ dritter theoretischer Bereich zielt innerhalb des
Nationalstaats auf die gleiche Wirkung. Für die Theorie politi-
scher Institutionen ist die Frage zentral, wie im diskursethischen
Sinne legitime Verfahren unter den Bedingungen des Entschei-
dungsdrucks der politischen Systeme und der motivationalen, kog-
nitiven und organisatorischen Beschränkungen der politischen Ak-
teure eingerichtet werden können (Habermas 1998b). Eine Demo-
kratie, deren institutionelle Struktur und politische Praxis auf die
diskursethischen Legitimationsanforderungen ausgerichtet ist, nennt
Habermas „deliberative Demokratie“. Grundgedanke dieses Mo-
dells ist, dass Entscheidungen in Exekutive, Legislative und Judi-
kative durch Deliberation (das gemeinschaftliche Abwägen von
Gründen für oder gegen bestimmte Handlungsoptionen) in der Öf-
fentlichkeit und den jeweiligen Institutionen unterstützt werden
muss. Dazu müssen entsprechende kommunikative Rechte, Regeln
und Prozeduren institutionalisiert werden. Habermas kann zeigen,
dass funktionierende moderne demokratische Rechts- und Wohl-
fahrtsstaaten solche Verfahren voraussetzen und manchmal mehr,
manchmal weniger erfolgreich institutionalisiert haben.
Habermas’ Institutionenlehre hat innerhalb der Internationalen
Beziehungen zwei mögliche Anwendungen: zum einen die Theo-
rie transnationaler und/oder kosmopolitischer Demokratie, zum
anderen die Theorie des institutionellen Designs zwischenstaatli-
cher Institutionen.
Überlegungen zur Theorie kosmopolitischer Demokratie schlie-
ßen nahtlos an Linklaters Arbeiten an. Die Transnationalisierung
von Bürgerrechten stellte für Linklater eine Möglichkeit univer-
seller Inklusion dar. Wie aber hat man sich die politischen Struktu-
ren vorzustellen, in denen diese Rechte ausgeübt werden können?
Linklater verweist in diesem Zusammenhang auf David Helds
Theorie kosmopolitischer Demokratie, die ein konkretes Modell
solcher Strukturen entwirft (Held 1995). Helds Modell ist aller-
dings das einer typisch liberalen parlamentarischen Demokratie.
Besser zu Linklaters diskursethischer Basis passen Arbeiten, die
Kritische Theorie 481
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sich im transnationalen Kontext am deliberativen Demokratiemo-


dell orientieren (Bohman 2007, Dryzek 2006; Schmalz-Bruns
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1999, Smith/Brassett 2008). Vor allem in Bezug auf das Demo-


kratiedefizit der EU sind entsprechende Vorschläge gemacht wor-
den (u.a. Eriksen/Fossum 2003). Neyer (2006) spricht hier gar
schon von einem „deliberative turn“.
Die zweite Anwendung von Habermas’ Theorie politischer In-
stitutionen bezieht sich auf die zwischenstaatliche Rechtsordnung:
das Völkerrecht und die Gestaltung völkerrechtlicher Institutionen.
Linklater wendet seine diskursethischen Maßstäbe explizit ja auch
auf der Ebene zwischenstaatlicher Interaktion, also der internatio-
nalen Gesellschaft, an. Er konzentriert sich aber vor allem auf die
Inhalte der in Cosmopolitan Harm Conventions institutionalisier-
ten Normen – nicht jedoch auf die völkerrechtlich institutionali-
sierten zwischenstaatlichen Prozesse ihrer Setzung, Anwendung
und Durchsetzung. Diese Prozesse in internationalen Regimen und
zwischenstaatlichen Organisationen können natürlich auch mehr
oder weniger diskursethischen Idealen entsprechen (vgl. Ellis
2002, Mitzen 2006, Samhat/Payne 2003). Die diskursethische Funk-
tion institutionalisierter Regeln besteht wiederum darin, den Effekt
von Machtasymmetrien in zwischenstaatlichen Interaktionen zu
minimieren. Sie können den Spielraum für den Einsatz von Macht-
ressourcen in Verhandlungen prozedural verkleinern (z.B. durch
Sequenzierung, Mehrheitsentscheide oder gerichtsähnliche Ver-
fahren) oder die Staaten in ein engmaschiges Netz aus Rechtsferti-
gungspflichten (z.B. durch Transparenzregeln, Berichtswesen oder
Monitoring) einbinden (Payne/Samhat 2004; Risse 2004; Steffek
2003). Vor allem im Zuge des vermehrten Interesses an Fragen der
Verrechtlichung in den Internationalen Beziehungen sind Arbeiten
mit diesem Fokus entstanden (vgl. Humrich 2007, Neyer 2004).
Insgesamt ist Harald Müller Recht zu geben, wenn er feststellt,
dass ein Äquivalent für Habermas’ Theorie politischer Institutio-
nen auf der internationalen Ebene noch geschrieben werden muss
(Müller 2007: 223).
(4) In seiner Gesellschaftstheorie hat Habermas die historische
Entwicklung des demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaates
beschrieben (1995a, 1995b). Eine zentrale Idee ist hier, dass sich
das politische und das ökonomische System aus der Sphäre der
Lebenswelt ausdifferenziert haben. In der Lebenswelt findet die
482 Christoph Humrich
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Handlungskoordinierung über kommunikatives Handeln und Ver-


ständigung statt, im System dagegen über die Austauschmedien
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Macht und Geld. Die Systeme sind auf Legitimierung durch Ver-
ständigung angewiesen. Gleichzeitig dringen sie aber immer mehr
in den Bereich der Lebenswelt vor. Durch diese „Kolonialisierung
der Lebenswelt“ bedrohen sie die eigene Legitimationsgrundlage.
Die zweite zentrale Idee ist, dass in der Lebenswelt sich erfolgreich
modernisierender Gesellschaften moralisch-praktische Lernprozesse
stattfinden, die es ermöglichen, durch Demokratisierung des Rechts,
die lebensweltliche Verständigung wieder mit dem System zu ver-
koppeln.
Linklater lässt die erste Idee außer Acht. Dabei ließen sich
vielleicht gerade mit der System-Lebenswelt-Unterscheidung pro-
blematische Entwicklungen untersuchen: zum Beispiel Konflikte
zwischen dem globalisierten ökonomischen System und lokalen
Lebenswelten. Ein weiteres Beispiel wären die Legitimationsdefi-
zite in politischen Systemen, die rationalisierte Lebensweltstruktu-
ren voraussetzen, aber in noch weitgehend traditionalen Gesell-
schaften institutionalisiert werden (Anievas 2005; Jones 2001; Jung
2001).8
Aber auch von der zweiten Idee macht Linklater nur zurück-
haltend Gebrauch. Statt Verrechtlichung nachzuvollziehen, geht es
ihm eher um das Aufzeigen einer groben makro-soziologischen
Wandlungstendenz in der internationalen Gesellschaft. Er bietet
keine direkten Analysen der Entwicklung des Völkerrechts oder
des moralisch-praktischen Lernens an. Neta Crawford hat demge-
genüber detailliert innerhalb eines im weiten Sinne Haber-
mas’schen Rahmens Entkolonialisierung als Lernprozess unter-
sucht (2002). Eine Analyse der Evolution des Völkerrechts entlang
der Linien von Habermas’ Gesellschaftstheorie ist bereits als De-
sideratum identifiziert worden, aber bisher noch nicht in Angriff
genommen worden (Albert 2002; vgl. Humrich 2007).
Zu guter Letzt sollte erwähnt werden, dass auch Habermas sich
in den letzten Jahren ausführlicher zu Themen der internationalen
Politik geäußert hat. Diese Äußerungen bewegen sich im Rahmen

8 Martin Weber (2005) hat daher Recht, wenn er resümiert, dass Habermas’ Ge-
sellschaftstheorie als theoretische Ressource bisher nur eine untergeordnete Rol-
le in den Internationalen Beziehungen gespielt hat.
Kritische Theorie 483
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der politischen Institutionentheorie und der Gesellschaftstheorie.


In den Arbeiten zur „postnationalen Konstellation“ geht es um die
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theoretische Verarbeitung der Auflösung nationaler Vergesellschaf-


tungsformen (Habermas 1998a, 1999), während die Arbeiten zur
Konstitutionalisierung des Völkerrechts in die Weltordnungsde-
batte eingreifen (Habermas 2004, 2005, 2009). Interessant ist da-
bei, dass Habermas anders als die oben benannten Anwender sei-
ner Theorie in den Internationalen Beziehungen dem kom-
munikativen Handeln oder Deliberation in entsprechenden Institu-
tionen jenseits des Staates kaum Bedeutung beimisst (vgl. die Kri-
tik von Humrich 2007, Johnson 2008, Scheuermann 2008). Sein
Weltordnungsvorschlag baut auf einem material (nicht prozedural-
diskursiv bzw. deliberativ) gerechtfertigten Gewaltmonopol der
UNO und auf zwischen global handlungsfähigen Akteuren ausge-
handelten Kompromissen auf. Diesem Ordnungsvorschlag und
seiner empirischen Grundlage haben Linklater und die „Haberma-
sianer“ in den Internationalen Beziehungen aber schon Konzepte
und empirische Evidenz entgegengestellt, die Habermas’ Zurück-
haltung gegenüber einer Anwendung seiner Theorie in der inter-
nationalen Politik ungerechtfertigt erscheinen lässt.

4. Kritik an der Kritischen Theorie: Wolf im


Schafspelz und Schaf im Wolfspelz9
Linklater musste sich in allen drei Dimensionen seiner Theorie
Kritik stellen. Hier soll es um zwei verbundene Vorwürfe in Be-
zug auf die normative Dimension gehen, die darauf hinaus laufen,
dass Linklaters diskursethische Rechtfertigung des Universalismus
keine solide Basis für eine kritische Theorie bereitstellen kann.
Die Frage, die sich im Anschluss daran stellt, ist, ob es Linklater
gelingt, durch die Abschwächung der diskursethischen Basis die-
sen Kritiken zu begegnen.
Zum einen verurteilt Beate Jahn die Diskursethik trotz ihrer
Differenz-Sensitivität als „imperialistic project“ (Jahn 1998: 641).
Mit Linklaters Aufstellung einer idealtypischen Abfolge immer in-

9 Das Wortspiel ist Jahns Kritik (1998: 637) entnommen.


484 Christoph Humrich
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klusiverer Stufen gesellschaftlicher Entwicklung gehe notwendi-


gerweise eine Abwertung der niedrigeren Stufen einher, da diese
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noch weiter vom normativen Ziel entfernt sind. Die Forderung ei-
nes gleichberechtigten Diskurses wird aber zur Farce, wenn einem
Dialogpartner von vornherein unterstellt wird, auf der Entwick-
lungsleiter zurückgeblieben zu sein (Jahn 1998: 633ff). Wenn
Linklater durch das implizite Postulat der moralischen Überlegen-
heit die Hegemonie des Westens und Interventionen argumentativ
untermauert, trägt er genauso wie traditionelle Theorien zum Be-
stand der entsprechenden exklusiven Mechanismen bei. Verkleidet
als kritischer Theoretiker käme Linklater also als Wolf im Schafs-
pelz daher.
Gegen das kommunikative Paradigma Kritischer Theorie richtet
sich zum anderen der Vorwurf, auf die konkrete empirische Ana-
lyse von internationaler Politik bisher verzichtet zu haben (z.B.
Elshtain 1999, Eckersley 2008). Gerade weil die Diskursethik
nicht auf konkrete Inhalte, sondern auf die Form von Kommuni-
kation gerichtet ist, fehle ein theoretisches und begriffliches In-
strumentarium, um wirkliche Diskurse angemessen zu analysieren.
Damit vernachlässige sie die Ebene der Exklusionspraxis und
bleibe praxeologisch irrelevant. Was den möglichen Beitrag einer
kritischen Theorie der Internationalen Beziehungen zur dreifachen
Transformation des „Westfälischen Systems“ angeht, muss diese
sich daher als Schaf im Wolfspelz bezeichnen lassen.
Auf der einen Seite kommt Linklater beiden Vorwürfen durch
seine Neuausrichtung an den Cosmopolitan Harm Conventions
entgegen. Die Typologie von Schadensformen, die er mit Hilfe
von Elias entwickelt, bieten einen direkten Ansatzpunkt für die Ana-
lyse der Inhalte von entsprechenden politischen Diskursen. Der
Rückzug auf die moralisch schwächere Forderung der Vermei-
dung von Leid und die Betonung von gesellschaftlich je individu-
ellen Prozessen der Zivilisation nimmt sicher den scharfen Angrif-
fen von Jahn einigen Wind aus den Segeln.
Auf der anderen Seite ist aber fraglich, wie weit Linklaters Be-
teuerungen in Bezug auf die Enthaltsamkeit bei Urteilen über die
moralische Entwicklungsfähigkeit gehen. Am Beispiel seiner
Stellungnahme zur Kosovo-Intervention der NATO lässt sich das
Problem verdeutlichen. Hier fragt er „whether Europeans can rea-
sonably lay claim to what might be called regional exceptional-
Kritische Theorie 485
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ism“ (Linklater 2007: 86). Mit ‚Exceptionalism‘ meint Linklater


hier das Recht, in andere Gesellschaften zu intervenieren. Das
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wiederum wird durch die Doktrin des „progressivism“ gerechtfer-


tigt, während „statism“ Souveränität normativ höher als Men-
schenrechte bewertet. Weil Europa auf dem Weg zu einer Institu-
tionalisierung von kosmopolitischen Gemeinschaften am weitesten
vorangeschritten sei, sei die Frage, „whether a Europe that espou-
ses a doctrine of regional exceptionalism is being true to itself“
(Linklater 2007: 86). Die Antwort, die Linklater anbietet, ist, dass
Europa „cannot adopt statism without contradicting [its] universa-
listic commitments“ (Linklater 2007: 88). Dieses Kriterium der
Authentizität und nicht etwa das der moralischen Richtigkeit
scheint damit hier als Rechtfertigung für eine Intervention herzu-
halten. Wie um die darin liegende Gefahr eines Imperialismus mit
moralischer Mission zu betonen, konstatiert er: „Significantly,
many who supported NATO’s actions […] did so […] also be-
cause they thought that Kosovo might be the catalyst for a new era
of ‚cosmopolitan law enforcement‘ “ (Linklater 2007: 89).
Das Problem, so würde wahrscheinlich ein eingefleischter Ver-
treter des kommunikativen Paradigmas der kritischen Theorie ant-
worten, lässt sich nur lösen, wenn Prozeduren institutionalisiert
werden, die politische Entscheidungen auch jenseits des National-
staates diskursethischen Kriterien annähern. Wenn man sich auf
die Entwicklung solcher Prozeduren konzentrieren würde, könnte
man zudem an den großen vorhandenen Bestand empirischer For-
schung zu Institutionen politischer Meinungs- und Willensbildung
angeknüpfend einen inhaltlichen Beitrag zur Transformation poli-
tischer Gemeinschaften leisten: Eine verbesserte prozedurale In-
stitutionalisierung politischer Meinungs- und Willensbildung, so
die Hoffnung kommunikativer Vernunft, macht Lernen und damit
bessere kosmopolitische Normen als Ergebnis wahrscheinlicher.
486 Christoph Humrich
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Postmoderne Ansätze
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Thomas Diez

1. Einleitung
In einem in der deutschsprachigen Politikwissenschaft weithin be-
kannten Artikel hat Max Kaase die Analyse politischer Kultur ein-
mal mit dem Versuch verglichen, „einen Pudding an die Wand zu
nageln“ (Kaase 1983). Kaases polemische Metapher trifft, wenn
auch mit einer ironischen Wendung, ebenso auf einen einführen-
den Überblick über postmoderne Ansätze in den Internationalen
Beziehungen zu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist
das, was Kaase „Kultur“ nennen würde, ein zentraler Untersu-
chungsgegenstand für postmoderne Analysen. Zum anderen ver-
wahren sich die meisten postmodernen Theoretiker gegen eine so
einfache Kategorisierung (Campbell 1998a: 4). Sie sind sich be-
wusst, dass das Label „postmodern“, wie alle Labels, der Komple-
xität eines Arguments nicht gerecht werden kann und oftmals be-
nutzt wird, um Argumente leichtfertig als irrelevant oder gar ge-
fährlich weil relativistisch abzutun (siehe zu letzterem Punkt die
Diskussion in Abschnitt 4).1
Diese Problematisierung auch der eigenen Identität wird von
postmodernen Theoretikern aber nicht als Nachteil, sondern als
Befreiung vom wissenschaftlichen Schablonendenken aufgefasst.
Kategorisierungen sind ihnen suspekt. Zudem sehen sie eine Tu-
gend im ständigen Hinterfragen der eigenen Annahmen, weil sie,
wie wir noch sehen werden, eine objektive Erfassung der Wirk-
lichkeit für nicht möglich halten. Deswegen ist gerade in der eng-
lischsprachigen Literatur häufig von „reflexiven“ Ansätzen die
Rede (Smith 2001, der jedoch auch andere Ansätze darin ein-

1 Für ihre wertvollen Kommentare danke ich Stefano Guzzini und Jürgen Haacke.
Die Herausgeber dieses Bandes sowie Julia Grauvogel waren besonders behilf-
lich bei der Überarbeitung des Textes für die 3. Auflage.
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Postmoderne Ansätze
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Thomas Diez

1. Einleitung
In einem in der deutschsprachigen Politikwissenschaft weithin be-
kannten Artikel hat Max Kaase die Analyse politischer Kultur ein-
mal mit dem Versuch verglichen, „einen Pudding an die Wand zu
nageln“ (Kaase 1983). Kaases polemische Metapher trifft, wenn
auch mit einer ironischen Wendung, ebenso auf einen einführen-
den Überblick über postmoderne Ansätze in den Internationalen
Beziehungen zu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist
das, was Kaase „Kultur“ nennen würde, ein zentraler Untersu-
chungsgegenstand für postmoderne Analysen. Zum anderen ver-
wahren sich die meisten postmodernen Theoretiker gegen eine so
einfache Kategorisierung (Campbell 1998a: 4). Sie sind sich be-
wusst, dass das Label „postmodern“, wie alle Labels, der Komple-
xität eines Arguments nicht gerecht werden kann und oftmals be-
nutzt wird, um Argumente leichtfertig als irrelevant oder gar ge-
fährlich weil relativistisch abzutun (siehe zu letzterem Punkt die
Diskussion in Abschnitt 4).1
Diese Problematisierung auch der eigenen Identität wird von
postmodernen Theoretikern aber nicht als Nachteil, sondern als
Befreiung vom wissenschaftlichen Schablonendenken aufgefasst.
Kategorisierungen sind ihnen suspekt. Zudem sehen sie eine Tu-
gend im ständigen Hinterfragen der eigenen Annahmen, weil sie,
wie wir noch sehen werden, eine objektive Erfassung der Wirk-
lichkeit für nicht möglich halten. Deswegen ist gerade in der eng-
lischsprachigen Literatur häufig von „reflexiven“ Ansätzen die
Rede (Smith 2001, der jedoch auch andere Ansätze darin ein-

1 Für ihre wertvollen Kommentare danke ich Stefano Guzzini und Jürgen Haacke.
Die Herausgeber dieses Bandes sowie Julia Grauvogel waren besonders behilf-
lich bei der Überarbeitung des Textes für die 3. Auflage.
492 Thomas Diez
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schließt; Wæver 1998). Während Kaase den Pudding also gerne an


die Wand nageln würde aber nicht kann, finden postmoderne Theo-
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retiker Kaases Projekt als solches schon unsinnig und einengend.

1.1 Zwei Verständnisse von „postmodern“

Um eine erste Kostprobe des Puddings anzubieten, ist es hilfreich,


zwei aufeinander bezogene, aber doch sehr verschiedene Verständ-
nisse dessen, was „postmodern“ bedeutet, zu unterscheiden: ein
epochales und ein analytisches. Dabei ist uns ersteres, nämlich der
Begriff der Postmoderne als einer Epoche, aus den Medien ver-
mutlich sehr viel geläufiger, im Hinblick auf die Entwicklung ei-
ner Theorie der internationalen Beziehungen jedoch weniger rele-
vant.
Die Postmoderne als Epoche ist für viele gekennzeichnet durch
eine Unübersichtlichkeit, in der Prozesse der Globalisierung ein-
hergehen mit dem Auseinanderfallen bekannter Bezugsgrößen, die
das Leben zuvor organisierten, etwa – für die internationalen Be-
ziehungen besonders bedeutsam – der modernen Territorialstaaten
(vgl. Cooper 1998). In diesem Zusammenhang ist besonders der
Begriff des „postmodernen Krieges“ von Bedeutung, für den die
Veränderungen der Waffentechnologien hin zu so genannten High-
Tech Waffen sowie die zunehmende Akteursvielfalt in kriegeri-
schen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle spielen (vgl. Gray
1997 und Kellner 2002). Positiver lässt sich aber auch das politi-
sche System der Europäischen Union aufgrund sich überlappender
Entscheidungskompetenzen, mangelnder Zentralisierung und Hier-
archisierung und seiner beständigen Fortentwicklung als eine „post-
moderne Polity“ bezeichnen (Ruggie 1993). Folgt man John
Gerard Ruggie, so lässt sich das so entstehende neuartige interna-
tionale System besser verstehen, wenn man es einbettet in die
Analyse weitreichender paralleler Veränderungen in unterschiedli-
chen Lebensbereichen, und diese mit jenen Veränderungen ver-
gleicht, die die Entwicklung des modernen Territorialstaates be-
gleitet und ermöglicht haben. Zu denken wäre dann etwa an die
Entwicklung des Internets und die dadurch ermöglichten komple-
xen Kommunikationsformen, an die Veränderungen in den Fi-
nanzmärkten und die Entstehung eines rein virtuellen und von ma-
Postmoderne Ansätze 493
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teriellen und territorialen Bezügen in vielerlei Hinsicht abgekop-


pelten Marktes (dessen Auswirkungen uns die Finanzkrise in den
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Jahren 2008/9 dramatisch vor Augen geführt hat), an die mehrdi-


mensionalen Erzählmuster in Filmen wie „Pulp Fiction“ oder an
die zunehmende Verspieltheit der Architektur wie beispielsweise
die „Verkleidung“ eines Elektrizitätswerkes bei Saarbrücken als in
sich zusammenfallender griechischer Tempel.
Eines von Ruggies Kernargumenten ist, dass die Analyse sol-
cher Veränderungen uns hilft, die politischen Transformationen zu
verstehen, ohne dass dies einer spezifisch „postmodernen“ Metho-
de bedürfte (Ruggie 1993: 170). Hier zielt der Sozialkonstruktivist
Ruggie auf den Streit zwischen – in diesem Sinne nun analytisch –
postmodernen und positivistischen Ansätzen. Dieser Streit dreht
sich im Kern um erkenntnistheoretische Fragen, vor allem ob und
gegebenenfalls wie es möglich ist, Realität als außenstehender Be-
obachter zu analysieren. Ruggie selbst kritisiert die unhinterfragte
Akzeptanz einer Reihe von Grundannahmen über internationale
Politik in zahlreichen Theorien der Internationalen Beziehungen,
wie etwa Souveränität, Anarchie oder Territorialstaatlichkeit. Da-
her mahnt er die weitergehende Analyse jener Strukturen an, wel-
che etwa die Existenz des modernen Territorialstaates erst ermög-
lichen. Andererseits gibt es für ihn, wie etwa auch für Alexander
Wendt (1999; vgl. Fearon/Wendt 2002), letzten Endes eine be-
schreibbare Realität, die es zumindest zu verstehen, wenn nicht zu
erklären gilt. Postmoderne Theoretiker verneinen nicht die Exis-
tenz dieser Realität, argumentieren aber, dass sie letztlich immer
nur in einem bestimmten diskursiven Kontext zugänglich ist (vgl.
etwa Foucault 1984a; Laclau/Mouffe 1985: 105-114).

1.2 Diskurs und Realität

Damit werden zwei zentrale Charakteristika postmoderner Ansätze


erklärbar: zum einen die Konzentration auf die Analyse von Tex-
ten und anderen Repräsentationen von Ereignissen (etwa Bildern
oder Symbolen) anstatt auf die Ereignisse selbst – eines der ersten
Standardwerke postmoderner Internationaler Beziehungen trug
daher den Titel International/Intertextual Relations (Der Deri-
an/Shapiro 1989). Zum anderen zeichnet solche Ansätze die be-
494 Thomas Diez
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reits erwähnte Skepsis gegenüber „objektiven“ Wahrheiten und


damit auch Kategorisierungen aus, denn wenn das, was wir von
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Ereignissen wissen, diskursiv vermittelt ist, dann gibt es immer


mehr als eine Version dieser Ereignisse.
Welche Version sich durchsetzt, ist eine Frage von Macht. In
anderen Theorieansätzen ist diese Macht zumeist an Akteure ge-
bunden: Wer aufgrund von Ressourcen oder seiner Position in der
(internationalen) Gesellschaft besser gestellt ist, dominiert zumin-
dest die offizielle Sichtweise. Aus einer postmodernen Perspektive
sind diskursive Repräsentationen jedoch nicht nur Ausdruck von
Macht. Macht steckt vielmehr im Diskurs selbst, indem er uns er-
laubt, Ereignisse in Worte zu fassen – uns dabei aber auch ein-
schränkt in dem, was wir als Realität beschreiben können. Anders
ausgedrückt: Macht liegt nicht im individuellen Akteur begründet,
sondern in dem diskursiven Kontext, in dem die (Sprech-)Hand-
lung stattfindet und von dem wir uns nie vollständig befreien kön-
nen (vgl. Guzzini 1993: 472). Wir können den Diskurs zwar durch
unsere (Sprech-) Handlungen verändern, aber die Entscheidung
zum Handeln treffen wir nicht auf der Grundlage einer einzig gül-
tigen Objektivität. Auch können wir Wandel nicht kontrollieren,
denn jemand anderes „liest“ unseren „Text“ wieder in seinem oder
ihrem spezifischen Kontext. Dies aber steht im krassen Gegensatz
zum positivistischen Ziel, die Internationalen Beziehungen zu einer
modernen Wissenschaft zu machen, deren zentrales Anliegen die er-
klärende Theoriebildung und das Testen kausaler Hypothesen ist.
Diese erkenntnistheoretische Haltung ist insoweit mit dem epo-
chalen Postmoderne-Verständnis verknüpft, als beide auf die Viel-
falt (von postmoderner Realität bzw. postmodernen Realitätsdar-
stellungen) verweisen. Darüber hinaus wird manchmal aus der Ver-
vielfältigung der politischen Räume in einer epochal postmoder-
nen Welt der problematische Schluss gezogen, die Analyse dieser
Welt bedürfe eines spezifisch postmodernen Ansatzes, der der
neuen Vielfalt gerecht wird. Aus den bisherigen Überlegungen
sollte klar geworden sein, dass diese beiden Dinge nicht zwingend
miteinander verknüpft sind, auch wenn man annehmen kann, dass
neue Technologien wie das Internet in der Tat das „Ende der gro-
ßen Erzählungen“ beschleunigen, das der französische Philosoph
Jean-François Lyotard (1994), der den Begriff „Postmoderne“ für
die Sozialwissenschaften prägte, vorhergesehen hat.
Postmoderne Ansätze 495
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1.3 Postmoderne Ansätze als Kritik insbesondere des


Neorealismus
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Wenn wir nun zu den Internationalen Beziehungen zurückkehren,


so lässt sich der Neorealismus aus postmoderner Sicht als eine sol-
che „große Erzählung“ in den 1970er und 1980er Jahren beschrei-
ben, und es ist vor allem in Reaktion auf den Neorealismus, dass
in den Internationalen Beziehungen erstmals auf postmodernes
Gedankengut zurückgegriffen wurde. Dabei spielte Richard K.
Ashley eine zentrale Rolle. In seinem Aufsatz über die „Armut des
Neorealismus“ (Ashley 1986) kritisierte er Kenneth N. Waltz’
„Theorie der internationalen Politik“ wegen ihrer Staatszentriert-
heit, ihres Utilitarismus, ihres Positivismus und ihres Strukturalis-
mus. Statt dessen zog er den klassischen Realismus vor, weil die-
ser zur Transformation internationaler Politik größeren Spielraum
lasse , indem er die Staats-„Männer“ nicht den universalen Geset-
zen einer systemischen Struktur unterwirft (vgl. auch den Beitrag
von Niklas Schörnig in diesem Band). Die „Armut des Neorealis-
mus“ lag daher in seinem Determinismus, der politischen Alterna-
tiven keine Chance ließ. Dieser Determinismus war, wie Ashley
unter Rückgriff auf Foucault ausführte, nicht zuletzt das Resultat
eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses.
Die Festschreibung des internationalen Systems als Staatensys-
tem, in dem Staaten auf der Basis von Kosten-Nutzen-Kalkülen
agieren und dessen anarchische Struktur dem sicheren Staatsinne-
ren gegenüber gestellt wird, wurde in der Folge Ashleys zum Haupt-
ziel postmoderner Kritik. Ashley selbst, aber vor allem auch R. B.
J. Walker (1988, 1993), Michael Shapiro (1991, 1997) und – wie
unten noch eingehender ausgeführt – David Campbell „dekon-
struieren“ zentrale Texte der Disziplin der Internationalen Bezie-
hungen wie Waltz’ „Theorie“ anhand von Dokumenten internatio-
naler Politik wie Reden, Vertragstexten oder außenpolitischen Be-
schlüssen. Das heißt, sie versuchen zu zeigen, wie diese Texte be-
stimmte Annahmen als unproblematisch voraussetzen. Sobald man
diese hinterfragt, bricht dann jedoch oftmals das Gedankengebäu-
de der Theorie zusammen und eröffnet damit neue politische Per-
spektiven. Das Problematisieren von solchen Annahmen zerstört
(franz.: détruit) somit nicht nur, sondern ermöglicht auch Kon-
struktion – mit anderen Worten, es „dekonstruiert“, indem es
496 Thomas Diez
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Texte zunächst auf ihre inneren Widersprüche und unbegründeten


Annahmen untersucht, diese offenlegt und in Beziehung setzt zu
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anderen Texten, um so neue Perspektiven zu öffnen.


Dabei greifen diese Autoren nicht nur auf das Werk Foucaults,
sondern auch anderer sogenannter „Poststrukturalisten“ zurück,
vor allem Jacques Derrida. Von ihm übernahmen sie vor allem den
Gedankengang, dass jegliche Identität einer Differenz bedarf. Mit
anderen Worten, ich kann nicht von „A“ sprechen, ohne zugleich
„A“ von „B“ zu unterscheiden, denn wenn „A“ von nichts unter-
schieden wäre, ließe sich überhaupt kein „A“ benennen. Die Exis-
tenz von „A“ setzt also „B“ voraus und umgekehrt – beide erhal-
ten ihre Bedeutung nur durch den Diskurs, in dem sie unterschie-
den werden. Dies ist als solches eigentlich kein neues Argument
und wurde bereits von Strukturalisten wie Ferdinand de Saussure
vorgetragen. Was die Poststrukturalisten davon aber unterscheidet,
ist, dass sie die Differenzen nicht als fest in einer sprachlichen
Struktur verankert sehen, sondern als diskursiv reproduziert und
daher, zumindest potentiell, in ständiger Bewegung. Damit erklärt
sich, warum oben auf die Unmöglichkeit verwiesen wurde, Be-
deutung auf Dauer festzuschreiben. Bedeutung ist stattdessen stän-
diger (aber nie beliebiger) Verschiebung ausgesetzt (vgl. Frank
1983: 94-5). Politische Auseinandersetzungen bestehen nicht zu-
letzt auch in den Versuchen, Bedeutungsgehalte und -unterschiede
zu artikulieren und sie als allgemeingültig im Diskurs festzu-
schreiben (Laclau/Mouffe 1985; Connolly 1993). Ein Kernanlie-
gen postmoderner Ansätze ist es, solche politischen Auseinander-
setzungen nachzuzeichnen und Bedeutungshegemonien, also vor-
übergehend gelungenen Bedeutungsfixierungen, zu hinterfragen,
die verloren gegangenen weil „besiegten“ Bedeutungsalternativen
zu rekonstruieren sowie die Praktiken offenzulegen, die solche
Alternativen marginalisiert haben.
Wenn man diesen Gedankengang zunächst einmal akzeptiert
hat, ist es nicht schwer zu verstehen, wie dieser auf die internatio-
nalen Beziehungen angewandt wird. In den meisten konventio-
nellen Theorien der internationalen Beziehungen wird die Existenz
der Staatenwelt vorausgesetzt und eine klare Trennlinie gezogen
zwischen dem anarchischen Charakter internationaler Politik und
der hierarchischen und als verregelt oder zumindest potenziell ver-
regelbar angesehenen Innenpolitik. Staatliche Souveränität steht
Postmoderne Ansätze 497
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gegen internationale Anarchie, die Ordnung des „Innen“ gegen die


Gefahren des „Außen“. Wieder unter Rückgriff auf Derrida zeigen
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postmoderne Arbeiten, dass diese Begriffspaare nicht nur einander


bedingen und dass der souveräne Staat daher nicht zuletzt in der
Abgrenzung zur anarchischen internationalen Sphäre in Erschei-
nung tritt, sondern dass sie auch klar wertgeladen sind: Souveräni-
tät ist gut, Anarchie ein Problem (vgl. Ashley 1988). Gefahr kommt
daher immer von außen und rechtfertigt Maßnahmen gegen das
Außen. Aus der Sicht postmoderner Theoretiker lässt sich der
Staat aber nicht voraussetzen, sondern gewinnt seine Identität nur
durch die Grenzziehung, die „Innen“ von „Außen“ scheidet, und
eine staatliche (oder auch nationale) Identität gegen dieses Außen
ermöglicht. Dabei fokussieren sich viele postmoderne Arbeiten auf
die Analyse von Texten, in denen eine solche Grenzziehung zwi-
schen „Innen“ und „Außen“ immer eine von außen kommende Ge-
fahr impliziert (vgl. etwa die weiter unten noch vorzustellenden
Werke David Campbells). Dagegen haben in jüngerer Zeit ver-
schiedene Autoren betont, dass Identitäten nicht unbedingt gegen
gefährliche Andere konstruiert werden müssen, sondern dass Dif-
ferenz auch als gleichwertige Existenz oder gar in einem zeitlichen
Verständnis auf die eigene Vergangenheit gefasst werden kann
(vgl. Diez 2004; Hansen 2006: 38-54; Rumelili 2003). So haben in
der Konstruktion deutscher Identität nach dem Zweiten Weltkrieg
die Abgrenzung vom übersteigerten Nationalismus, in der Kon-
struktion europäischer Identität die Abgrenzung von den ständigen
kriegerischen Auseinandersetzungen vor 1945 eine zentrale Rolle
gespielt.
Indem internationale Politik wie Internationale Beziehungen
(als Disziplin) den Staat zu ihrem unproblematischen Ausgangs-
punkt machen, sind sie in den selben Diskurs eingebunden, der
Freiheit über Grenzen hinweg zumindest einengt, Sicherheitsdi-
lemmata fortschreibt und Alternativen politischer Organisation mar-
ginalisiert und schwer vorstellbar macht. In ihrem Drang, die be-
stehenden politischen Verhältnisse erklären zu wollen, geht eine
so verstandene positivistische Wissenschaft der Internationalen
Beziehungen aus postmoderner Sicht daher Komplizenschaft mit
den „Staatsmännern“ der internationalen Politik ein. Postmoderne
Arbeiten sind, wie bereits ausgeführt, hingegen vielmehr daran
interessiert, die bestehenden politischen Verhältnisse zu hinterfra-
498 Thomas Diez
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gen und damit Alternativen zumindest in den Blickwinkel zu rü-


cken. In diesem Sinne sind postmoderne Ansätze als eine Form
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kritischer Theorie der internationalen Beziehungen zu begreifen


(vgl. auch den Beitrag von Christoph Humrich in diesem Band),
obgleich der kritische Anspruch, wie weiter unten noch gezeigt
wird, umstritten ist (vgl. Abschnitt 4.2).

1.4 Weitere Entstehungskontexte postmoderner Ansätze

Bevor wir uns David Campbell als einem exemplarischen Vertre-


ter postmoderner Ansätze zuwenden, muss noch auf mindestens
zwei andere Entstehungskontexte postmoderner Arbeiten hinge-
wiesen werden. Wie Ashleys Arbeiten stehen auch sie im Zusam-
menhang der Auseinandersetzung mit dem Neorealismus, finden
aber ganz bestimmte Anknüpfungspunkte in früheren Theorieent-
wicklungen. So wurde Michael Shapiro ursprünglich bekannt
durch Arbeiten mit einer Forschergruppe um Robert Axelrod, der
in den 1970er Jahren versuchte, die Gedankenwelt von außenpoli-
tischen Entscheidungsträgern in so genannten „kognitiven Land-
karten“ („cognitive maps“) abzubilden, um so die Entstehung be-
stimmter, nicht unbedingt „rational“ erscheinender Entscheidun-
gen nachvollziehen zu können (vgl. Axelrod 1976). In einer le-
senswerten Reflexion in der Zeitschrift Cooperation and Conflict
kommt Shapiro zusammen mit einigen seiner Kollegen zu dem
Schluss, dass diese „Landkarten“ allein auf Textbasis erstellt wur-
den und daher weniger den Anspruch erheben können, ins Innere
eines Politikers zu blicken, als dass sie den jeweiligen außenpoliti-
schen Diskurs abbilden (Bonham et al. 1987). In späteren Arbeiten
widmete sich Shapiro dementsprechend der Dekonstruktion von
Repräsentationen internationaler Politik, oftmals durch die Paa-
rung von außenpolitischen Dokumenten mit Texten, Bildern oder
Symbolen, die häufig keinen Eingang in konventionelle Arbeiten
der Internationalen Beziehungen finden würden. Es entbehrt nicht
einer gewissen Ironie, dass er 1997 zum Thema der Landkarten
zurückkehrte, dieses Mal aber um zu zeigen, wie in kartographi-
schen Repräsentationen unterschiedliche menschliche Lebensfor-
men gewaltsam in ein bestimmtes Schema gepresst werden (Shapi-
ro 1997).
Postmoderne Ansätze 499
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Die Kreativität bei der Auswahl des Analysematerials ist kenn-


zeichnend für viele postmoderne Arbeiten und entspringt einer
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Skepsis gegenüber der Auffassung, dass bestimmte, eng abge-


grenzte, „politische“ Dokumente relevanter für das Verständnis
politischer Prozesse sind als etwa Texte und Gegenstände der All-
tagswelt, Fernsehshows und Popmusik eingeschlossen. Wieder
haben wir es also mit dem Problem der Grenzziehung zu tun. Am
augenfälligsten ist in dieser Hinsicht neben Shapiro James Der De-
rian, der bekannt wurde durch seine Arbeiten über den Wandel des
Verständnisses von „Diplomatie“ und die „Genealogie“ des Diplo-
matiebegriffes, den er bis in die Antike zurückverfolgte (Der Deri-
an 1987). Der Derians Werke zu gegenwärtiger „Gegendiploma-
tie“ (Antidiplomacy) schließen etwa ein Tagebuch ein, das er Mitte
der 1980er Jahre, also vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion,
auf einer Friedenskreuzfahrt entlang der baltischen Staaten führte,
sowie eine Analyse der CNN-Berichterstattung im Golfkrieg von
1990/91 (Der Derian 1992). In jüngerer Zeit widmete sich Der De-
rian den Verflechtungen von Krieg, Medien und Unterhaltungsin-
dustrie (2009). Sein Interesse an den Transformationen von Diplo-
matie weist unterdessen darauf hin, dass Der Derian als Student
Hedley Bulls auch in der Tradition der Englischen Schule steht.
Deren Interesse an Theoriebildung jenseits des US-amerikanischen
Positivismus (vgl. den Beitrag von Christopher Daase in diesem
Band) bildete einen weiteren Kontext, in den postmoderne Ideen
fruchtbar eingebracht werden konnten, auch wenn der Einfluss
dieser Arbeiten (zu nennen wären etwa auch die Werke von Iver
Neumann 1996, 1999) auf die Englische Schule selbst bislang eher
marginal geblieben ist (siehe aber Der Derian 1995).

2. Außenpolitik, Identität und die Möglichkeit einer


internationalen Ethik: Das Werk David Campbells
Von den postmodernen Arbeiten in den Internationalen Beziehun-
gen sind die Werke David Campbells unter den bekanntesten. Dies
hat vermutlich mehrere Gründe: Campbells Stil ist für postmoder-
ne Texte vergleichsweise einfach und klar. Vor allem aber hat er
in seinen bisherigen Monographien drei zentrale Probleme gegen-
500 Thomas Diez
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wärtiger internationaler Politik behandelt: die Außenpolitik der


USA (Writing Security, 1992, Neuauflage 1998), den Golfkrieg
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von 1990/91 (Politics without Principle, 1993) und den Konflikt


sowie die westliche Intervention in Bosnien Anfang bis Mitte der
1990er Jahre (National Deconstruction, 1998a). Dabei greift
Campbell überwiegend auf ‚traditionelles‘ Analysematerial zurück
(offizielle Dokumente, Medienberichte, Interviews) und verbindet
theoretische Reflexion mit der Kritik an konkreten Politiken. Im
Folgenden soll sein bisheriges Werk entlang dreier großer The-
menkomplexe vorgestellt werden: der Rolle von Außenpolitik in
der staatlichen Identitätskonstruktion, der ethischen Konsequenzen
„radikaler Interdependenz“ und der Dekonstruktion als Grundlage
des Politischen.

2.1 Außenpolitik und Identität

Writing Security greift in beispielhafter Weise die meisten der


oben ausgeführten Charakteristika postmoderner Ansätze auf, ins-
besondere die Konzentration auf diskursive Repräsentation und
darin vor allem die Konstruktion von Identität durch Differenz.
Letzteres führt Campbell zu einer Neubeschreibung von Außen-
politik. Bemerkenswert bei der Entstehungsgeschichte des Buches
ist, dass es zum Teil während Campbells Assistenzprofessur an der
Johns Hopkins University in Baltimore geschrieben wurde, wo
Derrida damals Kurse zu geben pflegte, und wo Campbell in en-
gem Kontakt mit dem politischen Theoretiker William Connolly
stand, der zu jenem Zeitpunkt eines der Hauptwerke zum Verhält-
nis von Identität und Differenz veröffentlichte (Connolly 1991).
Bereits der Titel des Buches signalisiert den postmodernen An-
satz deutlich: Writing Security, „Sicherheit schreiben“. Aus tradi-
tioneller Sicht mag dies keinen Sinn ergeben. Nach den bisherigen
Ausführungen ist aber klar, was damit gemeint ist: „Sicherheit“ ist
kein objektiver Zustand, kann also nicht einfach gleichgesetzt
werden mit der Abschirmung vor militärischer Bedrohung wie in
konventionellen Arbeiten der Internationalen Beziehungen. Viel-
mehr wird durch diese Arbeiten „Sicherheit“ erst definiert, wenn
dies auch nie explizit gemacht wird. Wie oben am Beispiel des
modernen Territorialstaates ausgeführt, ist „Sicherheit“ ein Kon-
Postmoderne Ansätze 501
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zept, das von Analytikern wie Praktikern üblicherweise schlicht


vorausgesetzt wird, aber nicht vorausgesetzt werden kann. Statt-
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dessen wird es in sicherheitspolitischen Texten in bestimmter


Weise ins Spiel gebracht, also „geschrieben“. Campbells Buch
zeichnet diesen Prozess des „Schreibens“ von „Sicherheit“ nach,
und lässt sich damit in eine Reihe anderer erfolgreicher Versuche
insbesondere seit den 1990er Jahre einfügen, den Begriff der „Si-
cherheit“ in den Internationalen Beziehungen für Dimensionen
jenseits der militärischen Bedrohung zu öffnen (vgl. Krause/Wil-
liams 1997; Terriff et al. 1999; Booth 2005; Peoples/Vaughan-Wil-
liams 2010). Campbell interessiert, wie andere postmoderne Ana-
lytiker auch, welchen Effekt solche diskursiven Repräsentationen
haben, insbesondere welche politischen Entscheidungen sie er-
möglichen und welche sie ausschließen (Campbell 1998a: 5, 117).
Für Campbell wird Sicherheit durch Außenpolitik geschrieben.
Eine zentrale Funktion von Außenpolitik ist damit die Konstruk-
tion staatlicher Identitäten. Grundlage dieses Arguments ist der
oben ausgeführte Zusammenhang zwischen Identität und Diffe-
renz. So setzt Sicherheit etwas voraus, das es zu sichern gilt: in
Campbells Fallbeispiel die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn
deren Sicherung aber sinnvoll sein soll, muss an sie eine spezifi-
sche Identität geknüpft sein. Aus postmoderner Sicht lässt sich
diese aber nicht voraussetzen, sondern wird im Moment ihrer Ar-
tikulation (re)konstruiert.
Um die damit verknüpfte Neubeschreibung von Außenpolitik
richtig nachvollziehen zu können, muss man vom englischen Be-
griff der foreign policy ausgehen. Dem traditionellen Verständnis
nach ist foreign policy „das Schild der Republik“ gegen von außen
kommende Gefahren, wie das Walter Lippmann (1943) einmal
ausdrückte. Aus Campbells Sicht ist foreign policy hingegen ein-
gebunden in eine diskursive Praxis, die Innen von Außen unter-
scheidet und daher bestimmt, was „foreign“ ist – die, mit anderen
Worten, „foreign“ macht. Staatliche Außenpolitik ist dann nur eine
spezifische Form von foreign policy, und so unterscheidet Camp-
bell (1992: 76)2 zwischen foreign policy, die „alle Praktiken der
Differenzierung oder Operationen des Ausschlusses“ umfasst, „die

2 Zitate sind der Erstauflage entnommen, die Zweitauflage (1998) unterscheidet


sich von dieser vor allem durch einen hinzugefügten Epilog.
502 Thomas Diez
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ihre Objekte als ‚foreign‘ konstituieren, während sie mit ihnen um-
gehen“, und Foreign Policy als der spezifisch staatlichen Form
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solcher Praktiken. So verstanden, ist eine zentrale Funktion von


Außenpolitik „die Reproduktion einer [notwendigerweise immer]
instabilen Identität auf der Ebene des Staates, und der Beschrän-
kung von Herausforderungen dieser Identität“ (Campbell 1992:
78).3
In Writing Security zeigt Campbell nun, wie die Identität der
USA in diesem Sinne über die Jahrhunderte durch eine Kette von
Außenpolitiken reproduziert wurde, von der Begegnung mit den
Ureinwohnern über den „Frontier“-Mythos bis zum Kalten Krieg
und der Beschwörung neuer Gefahren nach dem Ende des Ost-
West-Konflikts, der aus dieser Sicht nur eine spezifische histori-
sche Ausprägung des tiefergreifenden Identitäts-/Differenzdiskur-
ses war. Dieser Diskurs setzt sich auch nach 1990 fort, und
„schreibt“ Sicherheit neu, etwa im Kampf gegen Drogen, der durch
Außenpolitik als einer Form von foreign policy in den Dschungel
Lateinamerikas verlegt wird, anstatt in die Widersprüchlichkeit der
(post)modernen US-amerikanischen Gesellschaft (Campbell 1992:
198-215).
An diesem Beispiel zeigt sich der kritische Anspruch von
Campbells Arbeit: Entscheidend für ihn (wie für viele andere
postmoderne Autoren) ist letztlich nicht, dass Identität durch Dif-
ferenz gebildet wird, sondern welche Konsequenzen spezifische
Ausprägungen von foreign policy haben. Dazu zählt insbesondere
die Frage, inwieweit Außenpolitik als foreign policy alternative
Lebensformen unterdrückt, Gefahren heraufbeschwört, Bewegungs-
freiheit beschränkt und gesellschaftlichen Ausschluss legitimiert –
von der Vertreibung der nordamerikanischen Ureinwohner über
die „Kommunisten“-Verfolgung der McCarthy-Ära zur Ausgren-
zung Drogenabhängiger in den Slums der Großstädte. In einem
noch vorzustellenden späteren Werk hat Campbell seine Neube-
schreibung von Außenpolitik folgendermaßen zusammengefasst:
„Außenpolitik kann also verstanden werden als eine normative
Kraft des Ausschlusses, dessen Zweck die Konstitution eines han-
delnden Akteurs in der Form des Staates und die Zuweisung von

3 Alle Übersetzungen aus dem Englischen sind vom Verfasser.


Postmoderne Ansätze 503
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Verantwortung durch das Einschreiben einer Geographie des Bö-


sen ist“ (Campbell 1993: 27).
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Typisch für Campbell ist aber auch, dass er aus der Kritik her-
aus auch die Möglichkeit zur Veränderung sieht. Ziel muss ihm zu
Folge eine außenpolitische Orientierung sein, die eine „in sich
vielfältige Welt“ respektiert und nicht aufbaut „auf dem Verlangen
zu begrenzen, beherrschen und drohende Möglichkeiten mit Ge-
walt einzudämmen“ (Campbell 1992: 252). Dies, so Campbell,
setzt voraus, dass wir erkennen, dass wir unsere Identität jenem
„Anderen“ verdanken, das wir durch das Schreiben von Sicherheit
in der Außenpolitik bekämpfen. In diesem Grundgedanken mani-
festieren sich bereits die späteren Arbeiten Campbells, die sich
verstärkt der Frage einer internationalen Ethik widmen.

2.2 Radikale Interdependenz und die Möglichkeit


internationaler Ethik

In Writing Security wird bereits eines der Kernprobleme deutlich,


das Campbell in der internationalen Politik sieht, und das er in sei-
nen späteren Werken noch deutlicher herausarbeitet: das „Zusam-
menbringen von Territorialität und verschiedenen Identitätsdimen-
sionen, so dass sich von einem spezifischen Staat mit einer defi-
nierbaren Grenze sprechen lässt“ (Campbell 1993: 24). Besonde-
res Augenmerk gilt dem Drang, Territorium, nationale Identität
und moralischen Anspruch in Einklang zu bringen. Der daraus re-
sultierende „Diskurs der moralischen Sicherheit [certitude]“ (Camp-
bell 1993: 67) ist in den USA häufig am deutlichsten erkennbar,
und so widmet sich Campbell in Politics without Principle erneut
US-amerikanischer Außenpolitik, dieses Mal der Reaktion auf die
Besetzung Kuwaits durch den Irak im August 1990 und dem sich
anschließenden Golfkrieg.
Campbells Kernargument, das sich ohne weiteres auch auf die
US-geführten Interventionen in Afghanistan und dem Irak über-
tragen lässt, richtet sich hier gegen den „Diskurs der moralischen
Sicherheit“. Sein Anliegen ist es, dass Außenpolitik nicht auf der
Grundlage unumstößlicher und letztlich auch mit Gewalt umzuset-
zender Prinzipien geführt wird, sondern auf der Grundlage der Er-
kenntnis, dass unsere eigene Identität sich nicht loslösen lässt von
504 Thomas Diez
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der Verstrickung in ein Netzwerk von Beziehungen zwischen uns


und anderen, zwischen Identität und Differenz. Hier verknüpft
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Campbell das epochale und das analytische Postmoderne-Ver-


ständnis, wenn er schreibt, dass heutzutage „das Ausmaß und die
Natur des riesigen Beziehungsnetzwerks, in dem Staaten als Sub-
jekte eingebunden sind, jegliche eindimensionale Repräsentation
von Handlungsfähigkeit, Macht, Verantwortung oder Souveränität
infrage stellt“ (Campbell 1993: 84). Sein Hauptargument ruht je-
doch auf einem theoretischen Gedankengang, den er der Lektüre
des Philosophen Emanuel Levinas entnimmt.
Für Levinas ergibt sich das Recht auf Dasein immer nur in Be-
zug auf den Anderen (vgl. Campbell 1998a: 173-4). Das moderne
Denken in Kategorien von Subjekt und Objekt wird somit unter-
höhlt und jeder in eine absolute Verantwortung für den Anderen
gestellt. Levinas konzentriert sich dabei auf unmittelbare persönli-
che Beziehungen von Angesicht zu Angesicht. Campbell hingegen
entwickelt aus diesem Gedankengang das Konzept „radikaler In-
terdependenz“ – Interdependenz nicht im Sinne neoliberaler Theo-
rie, die diesen Begriff vor allem im Sinne ökonomischer Vernet-
zung und Verwundbarkeit zwischen Staaten verwendet (vgl. den
Beitrag von Manuela Spindler in diesem Band), sondern in einer
radikalisierten Fassung, die die Frage der Verantwortung (nicht
nur) in der internationalen Politik neu stellt: „Wir haben es hier
mit einem vorgängigen und fundamentaleren Sinn von Interde-
pendenz zu tun: nämlich dass der Ursprung jedes Akteurs oder
Subjekts – ob dieser Akteur oder dieses Subjekt ein Individuum
oder ein Staat ist – in der Beziehung zwischen Selbst und Ande-
rem zu finden ist, und nicht im Aufdecken eines unabhängigen,
souveränen Grundes, der sich dieser Beziehung entzieht“ (Camp-
bell 1993: 95).
Dies hat klare Konsequenzen für die Möglichkeit der Formulie-
rung einer internationalen Ethik. Versuche einer solchen Formulie-
rung berufen sich zumeist auf universale Prinzipien. Campbell und
andere postmoderne Theoretiker sehen einen solchen Universalis-
mus als problematisch an, da sie ja grundsätzlich immer von der
Pluralität der Sichtweisen ausgehen. Um Rob Walker zu paraphra-
sieren: in der „einen Welt“ gibt es immer „viele Welten“ (Walker
1988). Die Berufung auf universale Prinzipien ist daher der Ver-
such, der Welt gewaltsam eine Ordnung überzustülpen, und allzu
Postmoderne Ansätze 505
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oft ist „gewaltsam“ wörtlich zu nehmen. Campbell plädiert daher,


nicht zuletzt in Widerspruch zur These vom „gerechten Krieg“, für
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eine „Politik ohne Prinzipien“ – dies jedoch nicht als „Prinzipien-


losigkeit“, sondern Ermahnung, grundsätzlich vor der eigenen Tür
zu kehren und in der Außenpolitik umzudenken (wie in Writing
Security bereits angedeutet). Insbesondere bedeutet dies die Er-
kenntnis, dass „wir“ immer bereits in einem ethischen Zusammen-
hang stehen. Über Handeln zu urteilen hängt daher nicht so sehr
davon ab, welche Regeln Handeln reglementieren, sondern in wel-
cher Weise die gegenseitigen Abhängigkeiten in unseren Bezie-
hungen mit anderen ernst genommen werden“ (Campbell 1993:
93, 1998a: 176).
Campbells Darstellung des Golfkriegs macht exemplarisch deut-
lich, welche praktischen Konsequenzen aus einer solchen „prin-
zipiellen Prinzipienlosigkeit“ zu ziehen wären. Sein Hauptaugen-
merk gilt der Verstrickung US-amerikanischer und anderer westli-
cher Regierungen, Geheimdienste und Industrieunternehmen in
die irakische Diktatur, etwa durch die militärische Unterstützung
Saddam Husseins gegen den Iran in den 1980er Jahren, irakische
Investitionen in Europa, die Inkaufnahme militärischer Exporte in
den Irak unter Hintergehung von bestehendem Recht oder dem
Irak gewährte Kredite. Während diese Verstrickung nahe legen
würde, dass es „unmöglich“ ist, „eine klare Grenze zu ziehen, die
deutlich machte, wo Handlungsmacht und Verantwortung liegen“
(Campbell 1993: 43), konzentrierte sich die US-amerikanische Di-
plomatie Campbell zufolge auf das Schmieden einer internationa-
len Koalition gegen Saddam Hussein als Inkarnation des „Bösen“
(Campbell 1993: 57). Gegen dieses Andere wurde die Identität der
USA von der Verstrickung in Saddams Diktatur reingewaschen
und versicherte sich ihrer moralischen Überlegenheit.
Wie Campbell klarmacht, bedeutet das Konzept radikaler Inter-
dependenz auf diesen Fall bezogen nicht, dass die Invasion Ku-
waits kein Rechtsbruch gewesen wäre. Aber anstatt die Kriegsma-
schinerie in Gang zu setzen, fordert eine postmoderne internatio-
nale Ethik zum langfristigen Umdenken außenpolitischer Ziele
auf, das die eigene Verstrickung akzeptiert und damit Verantwor-
tung nicht nur beim Anderen, sondern auch im eigenen Handeln
sucht. Ganz konkret bedeutet dies etwa, die Unterstützung gewalt-
samer Diktaturen oder von Guerilla-Bewegungen, die von den US-
506 Thomas Diez
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amerikanischen Regierungen lange Zeit als probates Mittel gegen


den Kommunismus oder den radikalen Islam angesehen wurden,
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zu beenden und solche lokalen politischen Organisationen zu un-


terstützen, die sich ihrerseits ihrer hybriden Identität bewusst sind,
auch wenn dies nicht unbedingt den vermeintlichen eigenen Inter-
essen förderlich ist. Die Terror-Ereignisse vom 11. September
2001 und die darauf folgende Charakterisierung des Konfliktes
durch US-Präsident Bush als einen Kampf zwischen „Gut“ und
„Böse“, in dem die Welt klar Stellung „für“ oder „gegen“ die USA
beziehen müsse, lassen sich aus dieser Sicht gewissermaßen als
eine intensivierte Wiederholung der Ereignisse zehn Jahre zuvor
verstehen.

2.3 Dekonstruktion als Grundlage des Politischen

Die Verknüpfung von Territorium und Identität steht auch im 1998


erschienenen Buch National Deconstruction im Vordergrund, in
dem sich Campbell mit dem Krieg in Bosnien nach dem Zusam-
menbruch Jugoslawiens beschäftigt. Seine Kritik konzentriert sich
dabei auf die Übernahme einer territorialen Repräsentation des
Konfliktes in weiten Teilen der internationalen Politik. Diese
führte zur Akzeptanz des Arguments, dass unterschiedliche ethni-
sche Gruppen nicht auf einem Gebiet zusammenleben könnten.
Das Resultat ließ Bosnien zwar auf dem Papier als einen Staat er-
scheinen, folgte de facto aber den eigentlich abgelehnten Teilungs-
plänen, die von kroatischen und serbischen Politikern, aber auch von
westlichen Intellektuellen unverblümt vorgetragen wurden. Für
Campbell war dies eine „ethnische Strategie, die die Dimensionen
des Konfliktes übersah, (...) die ontopologische Darstellungen pro-
blematisierten“ (Campbell 1998a: 114), das heißt solche Darstellun-
gen, in denen Territorialität (topos – Ort) nicht zur Wesenseigen-
schaft (ontos – Sein) von Identität gemacht wurde. Diese Strategie
habe jenen Bosniern einen schlechten Dienst erwiesen, „die sowohl
in ihrem täglichen Leben als auch in ihren Wünschen für die Zu-
kunft nicht-nationale Optionen verfolgten“ (Campbell 1998a: 114).
Ein zentrales Argument des Buches ist nun, dass Dekonstrukti-
on eine Praxis ist, welche die Artikulation solcher nicht-nationaler
Optionen ermöglicht. Dekonstruktion trägt somit zu einer Demo-
Postmoderne Ansätze 507
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kratie bei, die nicht nur auf Institutionen aufbaut, sondern ein spe-
zifisch demokratisches Ethos beinhaltet. Für Bosnien wäre die
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Dekonstruktion unhinterfragter Identitäten und ihrer Verknüpfung


mit Territorialität die Voraussetzung für Veränderung hin zu ei-
nem wahrhaft multikulturellen Staat gewesen, der – wie Campbell
ausführt – nie ernsthaft versucht wurde. Durch solche Dekonstruk-
tion wäre Raum geschaffen für alternative Identitätskonstruktio-
nen, wie sie etwa von unabhängigen Radiostationen wie dem Bel-
grader B-92 artikuliert wurden, wie sie der offiziellen Haltung der
bosnischen Regierung über weite Strecken hin entsprachen, wie
sie aus der Komplexität von Identitätszuschreibungen im ehemali-
gen Jugoslawien hervorgingen, und denen Campbell während sei-
ner Reisen in Bosnien in Gesprächen immer wieder begegnete.
Entscheidend ist aber, dass solche alternativen Identitätskonstruk-
tionen selbst keinen Absolutheitsanspruch erheben, der das anvi-
sierte demokratische Ethos wieder unterwandern würde.
Dem Vorwurf, dass ein dekonstruktives Ethos letztlich in ab-
solute Relativität verfalle und wegen des Infragestellens aller Re-
präsentation nicht Grundlage von politischen Entscheidungen sein
könne, setzt Campbell entgegen, dass es gerade Dekonstruktion
ist, die Politik und verantwortliches Handeln ermöglicht, denn
„gäbe es tatsächlich sichere Fundamente, privilegierte erkenntnis-
theoretische Grundlagen und eine nicht hinterfragbare ontologi-
sche Basis (...), dann wäre gesellschaftliches Handeln nicht mehr
als die automatische Umsetzung von Wissen, und Ethik und Politik
wären nicht mehr als Technologie“ (Campbell 1998a: 183-4). In die-
sem Sinne ist Dekonstruktion also die Voraussetzung für Politik.
Statt der vom Westen praktizierten „ethnischen Strategie“ plä-
diert Campbell für die Artikulation von „Konzeptionen von Ge-
meinschaft, die die gewaltsamen Ausschlussmechanismen und Ein-
grenzungen von Identitätspolitik zurückweisen“ (Campbell 1993:
208). Entsprechende Strategien könnten beispielsweise in der
Stärkung von bereits existierenden nichtstaatlichen Perspektiven,
in der genaueren Analyse und dem Hinterfragen des Zustande-
kommens von Identitäten und bestimmten Geschichtsbildern, in
der Unterstützung von Friedensinitiativen lokaler Nichtregierungs-
organisationen, in der Entwicklung einer multinationalen Zivilge-
sellschaft und in der Konstruktion neuer Kriterien für internatio-
nale Verantwortlichkeit liegen (Campbell 1998a: 232-40).
508 Thomas Diez
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3. Die Vielfalt postmoderner Ansätze


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Zwar lassen sich postmoderne Ansätze nicht auf die von Campbell
vorgetragenen Ideen reduzieren, nichtsdestotrotz können letztere
aber als typisch für eine wesentliche Strömung gelten, in der Fra-
gen nach der Konstitution nationaler Identitäten und des nationa-
len Interesses vor allem in Abgrenzung zu einem „Anderen“ im
Mittelpunkt stehen. Dazu lässt sich etwa auch R. B. J. Walkers
viel zitiertes bisheriges Hauptwerk Inside/Outside: International
Relations as Political Theory zählen, in dem Walker die Grenze
zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Staates problemati-
siert, internationale Beziehungen als wesentlichen Bestandteil der
Genese des modernen Staates ansieht und somit gewissermaßen
eine gründliche politiktheoretische Unterfütterung für Campbells
Werk liefert (Walker 1993). Neben dieser Thematik lassen sich
aber noch mindestens zwei andere wichtige Entwicklungstenden-
zen hervorheben.
Zum einen sind Arbeiten zu nennen, die zwar einerseits im
analytischen Postmoderne-Verständnis verankert sind, andererseits
aber ihr hauptsächliches Augenmerk auf Veränderungen der Ge-
genwart richten, die oftmals als Kennzeichen einer epochal ver-
standenen Postmoderne angesehen werden. Dazu zählen etwa die
Entwicklung des Internets und anderer neuer Kommunikations-
formen oder der Waffentechnologie. Die Frage, die sich hierbei
stellt, ist, inwieweit solche Entwicklungen unser Bild internatio-
naler Politik verändern. Spielt Geschwindigkeit etwa eine zuneh-
mende Rolle in der Bestimmung internationaler Ereignisse? Haben
neue Medientechnologien unsere Konzeption von „Krieg“ nach-
haltig verändert und mit welchen politischen und ethischen Kon-
sequenzen? Welche neuen politischen Räume entstehen durch die
zunehmende Beweglichkeit von Menschen, Kapital, Gütern und
Dienstleistungen? Wie verändert sich gewaltsamer Konfliktaustrag
im Zeitalter von Computersimulationen, intelligenten Bomben und
der Vervielfältigung von Akteuren, die solche Technologien besit-
zen?
Der oben bereits erwähnte James Der Derian (1992, 2009), aber
auch Autoren wie Mathias Albert (1996) als einer der wenigen
deutschen Autoren, die mit postmodernen Ansätzen in den Inter-
nationalen Beziehungen gearbeitet haben, sind diesen und anderen
Postmoderne Ansätze 509
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Fragen oftmals auf kreative Weise nachgegangen.4 In ihren Ar-


beiten zeigt sich eine zunehmende Übereinstimmung dahingehend,
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dass Diskurs nicht nur als geschriebener Text verstanden werden


darf, denn ansonsten würde die problematische Dichotomie zwi-
schen Ideen (oder hier: Text) und gegenständlicher Realität repro-
duziert. Stattdessen ist Diskurs weit zu fassen als der Kontext und
Prozess der Repräsentation von Wirklichkeit, sei es im Hinblick
auf Identität oder etwa Souveränität (Weber 1995). Dies beinhaltet
in erster Linie Texte, aber auch eine Vielzahl anderer Praktiken,
die Realität konstruieren (Campbell 2010; Williams 2003).
Eine zweite Entwicklungstendenz ist die zunehmende Anzahl
diskursanalytischer Arbeiten zur Außenpolitikanalyse, in denen
nicht so sehr die Identität/Differenz-Problematik im Vordergrund
steht, als vielmehr die Frage, wie die Konzeptualisierung bestimm-
ter, für die Formulierung von Außenpolitik zentraler Begriffe in
verschiedenen diskursiven Kontexten außenpolitische Entschei-
dungen erst ermöglicht oder aus dem Rahmen des als möglich An-
gesehenen fallen lässt. Ein besonders beliebtes Untersuchungsob-
jekt ist dabei die Europapolitik der EU-Mitgliedstaaten. So haben
etwa Ole Wæver und seine Mitarbeiter in Kopenhagen eine Reihe
von Studien vorgelegt, in denen sie versuchen zu zeigen, wie die
grundlegenden Konzeptionen von „Staat“ und „Nation“ (und de-
ren Verhältnis zueinander) in den nationalstaatlichen Kontexten
von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und einigen skandi-
navischen Ländern die Europapolitik entscheidend beeinflussen,
indem sie vorgeben, in welcher Weise das zukünftige Europa in-
nerhalb der jeweiligen nationalen Diskurse vorstellbar ist (Hansen/
Wæver 2001; Larsen 1997; Wæver 1998; vgl. den Überblick in
Wæver 2009).
Mit den Arbeiten von Campbell hat ein solcher Ansatz im
Grunde nur noch gemein, dass er der diskursiven Konstruktion
von Wirklichkeit zentrale Bedeutung beimisst. Ansonsten bewegt
er sich jedoch stark auf eine erklärende (und weniger kritische)
Absicht zu und hinterfragt auch kaum noch den Staat als analyti-
sche Referenzgröße, was sich freilich mit der fortdauernden dis-
kursiven Zentralität des Staates begründen lässt. Zu fragen wäre

4 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Der Derians „Information Tech-


nology, War and Peace Project“, www.watsoninstitute.org/infopeace.
510 Thomas Diez
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allerdings, ob die entscheidenden Diskurse etwa hinsichtlich der


Europapolitik tatsächlich die von „Staat“ und „Nation“ sind und
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ob diese dann entlang nationalstaatlicher Linien abzugrenzen sind.


Statt dessen sind zumindest für einige Europakonzeptionen einer-
seits auch andere Diskurse, wie etwa der Wirtschaftsdiskurs, von
Bedeutung, die ihrer Natur nach klar transnational sind. Anderer-
seits gibt es auch innerhalb nationalstaatlicher Debatten immer ei-
ne Vielzahl solcher Konzeptionen (vgl. Diez 1999) und es ist si-
cherlich im Sinne des postmodernen Plädoyers für Pluralität, auf
diese Vielzahl hinzuweisen, anstatt sich allein auf die dominanten
Diskurse zu konzentrieren.
Insgesamt fällt aber auf, dass formale Diskursanalysen, die zum
Teil auch quantitative Methoden zur Erschließung eines Textes
anwenden, in den Internationalen Beziehungen bislang kaum an-
gewandt worden sind. Dies hat möglicherweise damit zu tun, dass
solche Arbeiten zumindest stark Gefahr liefen, in die Falle der
Text/Realität-Opposition zu tappen und den einseitig determinie-
renden Charakter von Texten zu überschätzen (vgl. Campbell
1998b: 219). Trotzdem haben manche Autoren aber darauf ge-
drängt, die bei Diskursanalysen angewandten Methoden genauer
zu bestimmen (vgl. Milliken 1999). Hansen (2006), aber auch
schon Diez (1999), sehen poststrukturalistische Ansätze keines-
wegs von der Verpflichtung entbunden, ihre Methode klar zu for-
mulieren und zu reflektieren und räumen in ihren Arbeiten der
Entwicklung ihres methodologischen Ansatzes entsprechenden Platz
ein. Dies ist freilich nicht unumstritten, da es die Kreativität man-
cher der oben angeführten Autoren einschränken und postmoderne
Ansätze ‚domestizieren‘, das heißt unter Abschwächung in den
Mainstream mit einbeziehen könnte.
Dies führt uns bereits zur breiteren Diskussion postmoderner
Ansätze. Zuvor sollen aber zumindest noch zwei weitere Entwick-
lungstendenzen angedeutet werden. Entscheidende Bedeutung
kommt in den Theoriedebatten feministischen Ansätzen zu, die auf
postmoderne Ansätze zurückgreifen. Dies betrifft etwa die Frage,
inwieweit die Repräsentation des modernen Staatensystems be-
stimmte „männliche“ Charakteristika beinhaltet (vgl. hierzu den
Beitrag von Barbara Finke in diesem Band). Zu guter Letzt sollen
noch einige Arbeiten erwähnt werden, die wie Der Derian die Gren-
zen zwischen „Kultur“, „Politik“ und „Wissenschaft“ ins Fließen ge-
Postmoderne Ansätze 511
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raten lassen, indem sie Gedichte, Filme und Bilder an zentraler Stel-
le in ihre Analysen internationaler Politik einbeziehen (vgl. Blei-
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ker 2000; Shapiro/Alker 1996; Danchev/Walker 2006). Hansen


(2006) zum Beispiel zeigt, wie außenpolitische Entscheidungen
zum Teil von Reiseberichten und Memoiren, oder was sie „literary
non-fiction“ nennt (2006: 68-70 et passim), beeinflusst sind.

4. Kritische Theorie oder Scharlatanerie?


Unter den verschiedenen kritischen und konstruktivistischen An-
sätzen, die in den Internationalen Beziehungen in Reaktion auf den
Neorealismus und die anschließende Dominanz rationalistischer
Ansätze seit den 1980er Jahren aufgekommen sind, gelten post-
moderne Arbeiten weiterhin als die radikalsten, die daher auch am
meisten Widerspruch hervorrufen. Zusammenarbeit zwischen „Tra-
ditionalisten“ und „Postmodernisten“ ist die Ausnahme (siehe aber
Sterling-Folker/Shinko 2005) – am bekanntesten hierbei ist die so
genannte „Kopenhagener Schule“ der Sicherheitsstudien, die maß-
geblich von Ole Wæver und Barry Buzan geprägt wurde. Dort
wird Sicherheit als eine (Sprech-) Handlung begriffen, die ein
Problem als eine essenzielle Gefahr für ein „Selbst“ darstellt und
dadurch die Anwendung außergewöhnlicher Mittel – im Extrem-
fall also Krieg – oder zumindest deren Vorbereitung legitimiert
(vgl. Buzan et al. 1998).
Die Kritik an postmodernen Ansätzen lässt sich im Wesentli-
chen auf drei Punkte reduzieren: den Vorwurf der nichtssagenden
Sprachspielerei, den Vorwurf der Nichteinhaltung wissenschaftli-
cher Standards und den Vorwurf des Relativismus. Diese Reaktio-
nen kommen sowohl vonseiten derer, die sich positivistischen
Wissenschaftsidealen verschreiben (also jenen, die rationalistische
Ansätze vertreten, aber auch in mancherlei Hinsicht Sozialkon-
struktivisten), als auch von Exponenten der Kritischen Theorie
(vgl. zu Letzteren auch den Beitrag von Christoph Humrich in die-
sem Band). Die drei Kritiklinien haben einen gemeinsamen Aus-
gangspunkt, der in der postmodernen Ablehnung einer einzigen,
letztlich wahrhaften Erfassung von Realität liegt.
512 Thomas Diez
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4.1 Sozial-Wissenschaft?
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Eine entscheidende Konsequenz ist, dass das Projekt einer Wis-


senschaft, die bestehende Verhältnisse zu erklären sucht, wegen
der Unmöglichkeit eines objektiven Zugangs zur Realität proble-
matisch wird. Mehr noch, ein postmoderner Ansatz scheint uns
keine Hilfe an die Hand zu geben, mit der es uns ermöglicht wür-
de, „Wissen von Unsinn zu unterscheiden“ (Wight 1999: 313; vgl.
Biersteker 1989: 265). Und wenn dem so ist, warum sollten wir
letztlich einem postmodernen Ansatz glauben, wenn dieser doch
nur eine unter vielen möglichen Wahrheiten verkündet? Hier wen-
det sich, so John Vasquez (1995: 225), die im Grunde willkomme-
ne Positivismuskritik postmoderner Ansätze in negativen Selbst-
widerspruch. Sozialkonstruktivisten distanzieren sich daher von
postmodernen Ansätzen und bestehen zumeist auf dem Festhalten
an einem die Welt erklärenden Ansatz oder doch zumindest an ei-
ner prinzipiell erfassbaren materiellen Realität, was sie in eine
Mittelposition zwischen rationalistischen und postmodernen An-
sätzen bringt (vgl. Adler 1997 sowie den Beitrag von Cornelia Ul-
bert in diesem Band). Vasquez selbst sieht postmoderne Ansätze
eher als Mahnung, den Anspruch an und die Formulierung von
wissenschaftlichen Theorien in den Internationalen Beziehungen
zu überdenken. Postmoderne Ansätze hätten dann, wie es Mathias
Albert (1994: 59) einmal formuliert hat, eher eine „korrektive
Funktion“, als dass sie eine neue dominante Stellung in der Diszi-
plin einnehmen könnten oder wollten.
Mit Hansen (2006: 17-36) kann man in postmodernen Arbeiten
aber auch ein alternatives Wissenschaftsverständnis sehen, das
nicht kausalanalytisch vorgeht, sondern nachweist, wie etwa Iden-
titätsdiskurse und politisches Handeln sich gegenseitig konstituie-
ren. Für Hansen führt die Zurückweisung eines kausalanalytischen
Wissenschaftsverständnisses nicht zu einer Ablehnung jeglicher
Form von Wissenschaft, sondern erfordert vielmehr das Überden-
ken wissenschaftstheoretischer Kategorien hin zu einer „diskursi-
ven Epistemologie“ mit einem spezifischen Fokus auf dem Zu-
sammenspiel der Konstruktion von Identität und Politik.
Postmoderne Ansätze 513
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4.2 Relativistisch?
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Kritik war, etwa in der Form der Kritischen Theorie in Fortschrei-


bung aufklärerischer Ideale, immer auch mit dem Anspruch der
Emanzipation verbunden, der die Vorstellung einer alternativen
Weltordnung zugrunde lag (vgl. den Beitrag von Christoph Hum-
rich in diesem Band). Wie lässt sich aus postmoderner Sicht aber
entscheiden, welche Weltordnung besser als eine andere ist? Wie-
der in Colin Wights Worten: „Was unklar bleibt, ist, wie und auf
welcher Grundlage Entscheidungen getroffen werden“ (Wight
1999: 315). Die Machtkonzeption postmoderner Ansätze bringt es
außerdem mit sich, dass Verantwortung im Grunde auch im Dis-
kurs liegt und daher im konkreten politischen Kontext schwer zu
lokalisieren ist (Rosenau 1990: 96). Und schließlich werden etwa
von Ruggie (1993: 145-146) die persönlichen Verwicklungen ei-
niger postmoderner Philosophen (insbesondere Paul de Man und
Martin Heidegger als „Wegbereiter“ postmoderner Ideen) während
der Nazi-Zeit als Argument gegen die postmoderne normative
Entwurzelung angeführt.
Zwei Antworten auf diese Vorwürfe scheinen jedoch besonders
schlagkräftig. Erstens sah sich Foucault (1984b) selbst eher in der
Tradition der Aufklärung denn als ihr Widersacher. Im Grunde
läuft dieser Streit auf die Interpretation von Emanzipation und
Aufklärung hinaus. An dieser Stelle genügt es zu unterstreichen,
dass für viele postmoderne Autoren wie etwa auch Campbell
(1998a: 213-214) ein wesentlicher Aspekt von Aufklärung in dem
beständigen Hinterfragen von unhinterfragten „Wirklichkeiten“
besteht. Gleichermaßen ist für sie im Hinblick auf die Ermögli-
chung von Emanzipation entscheidend, Raum zu schaffen für die
Artikulation von politischen Alternativen, nicht aber durch das
Vorschreiben spezifischer Alternativen (George 1995: 222). Letz-
teres bedeutet mithin auch, dass Ethik sich immer nur in spezifi-
schen, lokalen Kontexten begründen lässt (Cochran 1999: 136).
Zweitens lässt sich wie oben argumentieren, dass in der Prinzi-
pienlosigkeit tatsächlich auch ein Prinzip besteht, das zur Bekämp-
fung jeglicher Form von Totalitarismus aufruft – dass also im
Grunde genommen eine postmoderne Ethik doch zu einem, aller-
dings problematisierten und abgeschwächten, Universalismus
führt (vgl. Cochran 1999: 136). Die allgemeine Tendenz in der
514 Thomas Diez
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Literatur geht dahin, dass sich die Wogen nach den anfänglichen
Auseinandersetzungen um den künftigen Weg einer kritischen
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Theorie (vgl. zusammenfassend Rengger/Hoffman 1992; Brown


1994) geglättet haben und kein unumgänglicher Widerspruch
mehr gesehen wird zwischen Kritischer Theorie auf der einen und
postmodernen Ansätzen auf der anderen Seite (vgl. George 1994:
163-166). In diesem Sinne fasst Peter Lawler (2008: 388) zusam-
men, dass es vielen postmodernen Autoren nicht um die Zurück-
weisung der Aufklärung, sondern um die Weiterführung des Ethos
der Aufklärung geht, einem Ethos das vor allem auf die beständige
Kritik und Hinterfragung der bestehenden Verhältnisse gerichtet
ist.

4.3 Unverständlich?

Der dritte Vorwurf der nichtssagenden Sprachspielerei zielt vor


allem auf die häufig schwer verständlichen Begriffe ab, die post-
moderne Arbeiten durchziehen. In einer berühmt-berüchtigten Text-
stelle beklagte sich etwa Robert Gilpin (1986: 303) darüber, dass
er Ashleys Neorealismus-Kritik von der Zeitschrift International
Organization, die die Replik auf Gilpin ursprünglich in Auftrag
gegeben hatte, nicht in der „Englischen Übersetzung“ zugeschickt
bekommen hatte. Was aber für die einen „viele Worte und nichts
dahinter“ ist, entspringt für die anderen der Notwendigkeit, eine
andere Realität darzustellen. Würden sie hergebrachtes Vokabular
verwenden, wäre diese zentrale Absicht – gerade wenn man an die
Zentralität des Textes glaubt – schwer zu verfolgen. Dies heißt
nicht, dass nicht mancher manches oftmals einfacher und klarer
ausdrücken könnte, aber dieser Beitrag dürfte die Schwierigkeiten
damit bereits zur Genüge illustriert haben.
Postmoderne Ansätze gehören heute zum Standardrepertoire
der Internationalen Beziehungen. Ein Zeichen dafür ist, dass zu-
nehmend Bücher und Artikel, ja sogar Einführungen (z.B. Edkins/
Zehfuss 2009) erscheinen, die Probleme internationaler Politik aus
postmodernem Blickwinkel analysieren, ohne diesen jedoch expli-
zit über viele Seiten hinweg zu rechtfertigen. Dies ist eine gute
Entwicklung. Es war notwendig, den Internationalen Beziehungen
einen Spiegel vorzuhalten und die erkenntnistheoretischen Grund-
Postmoderne Ansätze 515
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lagen der Disziplin infrage zu stellen. Gleichfalls kann dieses Pro-


blematisieren nicht endlos im Vordergrund stehen. Letztendlich ist
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wohl David Campbell (1999: 318) Recht zu geben, wenn er


schreibt, dass die postmoderne Kritik im Grunde weniger eine Fra-
ge der Erkenntnistheorie als des ethisch-politischen Engagements
ist. Dieses Engagement fordert aber die Auseinandersetzung mit
den Problemen der Gewalt oder des Hungers und unserer Ver-
strickung darin, selbst wenn wir es nie mit einer einzigen Reprä-
sentation dieser Probleme zu tun haben.

Literaturverzeichnis

Empfohlene Literatur

Primärliteratur

Ashley, Richard K. 1988: Untying the Sovereign State. A Double Reading of


the Anarchy Problematique, in: Millennium: Journal of International Stud-
ies 17: 2, 227-262.
Campbell, David 1992: Writing Security. United States Foreign Policy and the
Politics of Identity. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press
[Zweite, überarbeitete Auflage 1998].
Der Derian, James/Shapiro, Michael J. (Hrsg.) 1989: International/Intertextual
Relations: Postmodern Readings of World Politics. New York: Lexington
Books.
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Feministische Ansätze
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Barbara Finke

1. Einleitung
Eindeutiger als andere Strömungen der politischen Theorie sind
feministische Ansätze mit einer politisch-gesellschaftlichen Bewe-
gung, der Frauenbewegung, verknüpft. Entsprechend haben femi-
nistische Theorie und politische Praxis der Frauenbewegung ein-
ander immer wieder befruchtet. Die Frauenbewegung gehört, wie
auch die Arbeiterbewegung, zu den „alten“ sozialen Bewegungen,
die im Zuge der Modernisierung im 19. Jahrhundert in Europa und
Nordamerika entstanden sind. Der Zweite Weltkrieg und die damit
verbundenen Veränderungen markieren die Bruchstelle zwischen
alten und neuen sozialen Bewegungen, wobei letztere üblicherwei-
se mit dem politisch-gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er und
1970er Jahre assoziiert werden. Die europäischen und amerikani-
schen Bürgerrechts- und Studentenbewegungen der 1960er Jahre
wurden zum Ausgangspunkt für eine Erneuerung der Frauenbe-
wegung,1 die in den 1970er Jahren eine besondere Dynamik ent-
wickelte. Im Mittelpunkt stand das Motto „auch das Private ist po-
litisch“, das bis heute als Bezugspunkt für die Thematisierung von
Gleichberechtigung und Geschlechterproblematik dient.
Während die öffentliche Aufmerksamkeit für die Frauenbewe-
gung seit Ende der 1970er Jahre nachgelassen hat, ist die feminis-
tische politische Theorie seitdem entscheidend weiterentwickelt
worden und hat – wenn auch relativ spät – in die Internationalen

1 Während im deutschen Kontext zwischen alter und neuer Frauenbewegung un-


terschieden wird, ist im anglo-amerikanischen Sprachraum meistens von einer
ersten und zweiten Welle der Frauenbewegung die Rede, so dass Kontinuitäten
gegenüber Brüchen stärker betont werden. Vgl. dazu ausführlich Gerhard 1999:
12-38.
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Feministische Ansätze
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Barbara Finke

1. Einleitung
Eindeutiger als andere Strömungen der politischen Theorie sind
feministische Ansätze mit einer politisch-gesellschaftlichen Bewe-
gung, der Frauenbewegung, verknüpft. Entsprechend haben femi-
nistische Theorie und politische Praxis der Frauenbewegung ein-
ander immer wieder befruchtet. Die Frauenbewegung gehört, wie
auch die Arbeiterbewegung, zu den „alten“ sozialen Bewegungen,
die im Zuge der Modernisierung im 19. Jahrhundert in Europa und
Nordamerika entstanden sind. Der Zweite Weltkrieg und die damit
verbundenen Veränderungen markieren die Bruchstelle zwischen
alten und neuen sozialen Bewegungen, wobei letztere üblicherwei-
se mit dem politisch-gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er und
1970er Jahre assoziiert werden. Die europäischen und amerikani-
schen Bürgerrechts- und Studentenbewegungen der 1960er Jahre
wurden zum Ausgangspunkt für eine Erneuerung der Frauenbe-
wegung,1 die in den 1970er Jahren eine besondere Dynamik ent-
wickelte. Im Mittelpunkt stand das Motto „auch das Private ist po-
litisch“, das bis heute als Bezugspunkt für die Thematisierung von
Gleichberechtigung und Geschlechterproblematik dient.
Während die öffentliche Aufmerksamkeit für die Frauenbewe-
gung seit Ende der 1970er Jahre nachgelassen hat, ist die feminis-
tische politische Theorie seitdem entscheidend weiterentwickelt
worden und hat – wenn auch relativ spät – in die Internationalen

1 Während im deutschen Kontext zwischen alter und neuer Frauenbewegung un-


terschieden wird, ist im anglo-amerikanischen Sprachraum meistens von einer
ersten und zweiten Welle der Frauenbewegung die Rede, so dass Kontinuitäten
gegenüber Brüchen stärker betont werden. Vgl. dazu ausführlich Gerhard 1999:
12-38.
522 Barbara Finke
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Beziehungen Einzug gehalten.2 Das in der neuen Frauenbewegung


geprägte Schlagwort vom politischen Charakter des Privaten hat
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überkommene Formen, Inhalte und Grenzziehungen des Politi-


schen herausgefordert und mündete in ein verstärktes feministi-
sches Interesse an den Grundlagen politischen Denkens (vgl. Elsh-
tain 1981; Pateman 1988; so auch MacKinnon 1989). Erwartungs-
gemäß ist die Kritik an der Trennung zwischen privater und öf-
fentlicher Sphäre ein wichtiges Element feministischer politischer
Analyse geworden. Moderne Staatlichkeit stützt sich auf getrennte
Bereiche von „rationaler“ politischer Öffentlichkeit auf der einen
und „emotionaler“ häuslicher Privatheit auf der anderen Seite (vgl.
Pateman 1988). Zugleich handelt es sich bei der Trennung zwischen
Privatem und Öffentlichem um ein Konzept moderner politischer
Theorie, das für die internationalen Beziehungen relevant ist. Die
Zuordnung von Frauen und von „weiblichen“ Eigenschaften zur
vermeintlich unpolitischen häuslichen Privatsphäre hatte zur Folge,
dass „Frauen als Akteurinnen internationaler Politik weitgehend un-
sichtbar blieben“ (Ruppert 1998: 28).
Cynthia Enloe hat das Schlagwort vom politischen Charakter
des Privaten auf die Internationalen Beziehungen übertragen und
gezeigt, wo die „unsichtbaren“ Frauen in der internationalen Poli-
tik zu finden sind (Enloe 1989, 2000). Ihr 1989 erschienenes Buch
Bananas, Beaches & Bases. Making Feminist Sense of Internatio-
nal Politics gilt als ‚Klassiker‘ feministischer Literatur in den In-
ternationalen Beziehungen. Für Enloe ist das Private nicht nur po-
litisch, sondern auch international. Damit entwickelt sie einen un-
gewöhnlichen Blickwinkel auf die internationale Politik und stellt
unsere traditionellen Vorstellungen von der Reichweite des Politi-
schen in Frage (Locher-Dodge 1998: 435). Sie untersucht die Be-
deutung weiblicher Arbeit, wie sie sich in den Alltagserfahrungen

2 Als Ausgangspunkt der englischsprachigen feministischen Debatte in den Inter-


nationalen Beziehungen gilt das 1988 erschienene Sonderheft der Zeitschrift
Millennium „Women and International Relations“, zum Teil veröffentlicht in
Grant/Newland 1991. Der erste deutsche IB-Sammelband über Feminismus ist
Ende der 1990er Jahre erscheinen (Ruprecht 1998). Eine sehr gute Zusammen-
fassung der unterschiedlichen Schwerpunkte in der „Dritten Debatte“ im deut-
schen Sprachraum einerseits und in den USA andererseits liefert Locher 1996:
391-393; Locher-Dodge 1998: 427, FN 6; siehe auch Feministische Ansätze in
den Internationalen Beziehungen 2000; Harders/Roß 2002. Aktuelle Analysen
finden sich u.a. bei Tickner 2005 und Whitworth 2008.
Feministische Ansätze 523
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von Millionen Frauen in allen Teilen der Welt manifestiert bzw.


welche Rolle sie für die „Männerwelt der großen Politik“ spielt
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(Krell 1996: 153). So erläutert Enloe, wie Prostitution in der Nähe


britischer und amerikanischer Militärbasen – vor allem in Ländern
der Dritten Welt – von den Militärbehörden organisiert und kon-
trolliert wird, sie verweist auf die Bedeutung von Heimarbeit und
billigen weiblichen Arbeitskräften für multinationale Konzerne
oder sie analysiert die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im di-
plomatischen Dienst der USA. Enloe zeigt, welche Bedeutung
Frauen, vor allem die (Zu-) Arbeit von Frauen, für das Funktionie-
ren internationaler Politik haben. Zugleich verdeutlichen die von
ihr angeführten Beispiele, wie das bestehende internationale Sys-
tem durch die Konstruktion und Reproduktion tradierter Vorstel-
lungen von Weiblichkeit und Männlichkeit aufrechterhalten wird.
Die von Enloe angeführten Beispiele zeigen, dass die Trennung
zwischen Privatem und Öffentlichem eng verbunden ist mit dem
Gegensatz von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“. Damit wird
gleichzeitig definiert, was als „politisch“ wahrgenommen wird
und was nicht. Diese Kette von dualistischen Gegensätzen re-
flektiert wiederkehrende Denkstrukturen sowohl in der politi-
schen Theorie des Staates als auch in der Theorie der internatio-
nalen Beziehungen um deren Aufdeckung sich feministische
Analysen bemühen, da ein tiefergehendes Verständnis von
Macht und Machtmechanismen ihrer Meinung nach nur durch
eine feministisch informierte Perspektive möglich ist (Enloe
2007a). Neuere feministische Ansätze untersuchen die auf dem
Dualismus von weiblich/männlich beruhende geschlechtsspezifi-
sche Konstruktion des Politischen, stellen aber zugleich die As-
soziation bestimmter Eigenschaften oder Handlungsmaximen mit
der weiblichen bzw. männlichen Natur in Frage. Grundlage die-
ser als Geschlechterforschung bezeichneten Forschungsrichtung ist
das Gender-Konzept. Gender – im Deutschen am besten als Ge-
schlechterverhältnis wiederzugeben – bezeichnet das soziale im
Gegensatz zum biologischen Geschlecht. Mit „Gender“ beziehen
sich der Feminismus (aber auch die kritische Männerforschung,
die ebenfalls mit dieser Kategorie arbeitet) auf die soziale Kon-
struktion in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern (vgl.
Krell 1996: 150, FN 5; Krell 2000: 215, im Überblick Whit-
worth 2008). Gender im Sinne einer sozial vermittelten Vorstel-
524 Barbara Finke
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lung von typisch weiblichen bzw. typisch männlichen Eigen-


schaften und Handlungsmaximen ist zentral für die feministische
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Analyse, weil es „als strukturelles Konzept in alle Bereiche ge-


sellschaftlichen, politischen und damit auch internationalen
Handelns hinein wirkt“ (Locher-Dodge 1998: 425, siehe dazu
auch Abschnitt 3).
Die feministische Geschlechterforschung und die damit ver-
bundene Vorstellung von sozial vermittelten Denkstrukturen re-
flektierte einen epistemologischen3 Umbruch in der politischen
Theorie, der sich gegen Ende der 1980er Jahre auch in der Theorie
der Internationalen Beziehungen auszuwirken begann und die so
genannte „dritte Debatte“ auslöste (vgl. Abschnitt 2.3). Begleitet
wurde die Debatte, in deren Mittelpunkt epistemologische Fragen
standen, vom Ende des Kalten Krieges, das neue Konflikt- und
Kooperationsmuster in den Blickwinkel der Internationalen Bezie-
hungen rückte und zu Zweifeln an der Erklärungskraft bis dahin
vorherrschender Theorieansätze führte. Ausgehend vom anglo-ame-
rikanischen Sprachraum haben post-positivistische Theorieansätze
Einzug in die Internationalen Beziehungen gehalten, zu denen
auch neuere, der Geschlechterforschung verpflichtete feminis-
tische Ansätze gehören. Als gemeinsame Grundannahme post-posi-
tivistischer Ansätze kann die Prämisse von der sozialen Konstruk-
tion der Wirklichkeit gelten, die von der Postmoderne besonders
vehement vertreten wurde (vgl. Ruppert 1998: 28; Locher-Dodge
1998: 433). Stärker als im deutschen Sprachraum sind die Interna-
tionalen Beziehungen in den USA von einem modernen positivis-
tischen Wissenschaftsverständnis dominiert, das zum Ausgangs-
punkt der post-positivistischen Kritik wurde. Vor allem die neo-
realistische Schule hat beachtlichen Einfluss auf Theorie und Pra-
xis der Internationalen Beziehungen in den USA ausgeübt.
Entsprechend haben sich die vom anglo-amerikanischen Sprach-
raum ausbreitenden post-positivistischen Ansätze zunächst vor al-
lem mit dem neorealistischen Paradigma auseinandergesetzt. So
haben feministische Ansätze hervorgehoben, dass das neorealisti-
sche Theoriegebäude, in dessen Zentrum die Annahmen einer an-
archischen Struktur des internationalen Systems sowie rational

3 Epistemologie befasst sich mit der Natur, dem Ursprung und den Grenzen unse-
res Wissens.
Feministische Ansätze 525
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handelnder staatlicher Akteure stehen, sich als geschlechtsneutral


präsentiere, implizit aber auf einem männlich definierten Weltbild
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aufbaue. Damit verweisen sie auf den Androzentrismus in einem


vermeintlich objektiven und geschlechtsneutralen Theorieansatz.
Implizit orientieren sich androzentrische Ansätze, so die feministi-
sche Kritik, an männlichen Interessen und Maßstäben. So stellt
Locher-Dodge fest, dass im Neorealismus „Charakteristika, die
mit Männlichkeit assoziiert sind, wie Stärke, Aggressivität und in-
strumentelle Rationalität (...) auf das Verhalten von Staaten proji-
ziert [werden], deren Erfolg als Akteure vom Besitz und der Nut-
zung jener männlichen Eigenschaften abhängt“ (Locher-Dodge
1998: 431; vgl. auch Grant 1991; Peterson 1992; Ruppert 1997;
Tickner 1992; Whitworth 1994). Postmoderne Ansätze haben
sich auf die Charakteristika modernen westlichen Denkens im
neorealistischen Paradigma konzentriert. So sei der Neorealis-
mus eingebunden in die Sprach- und Gedankenraster einer mo-
dernen westlichen Philosophie, in der die Wirklichkeit vor allem
durch die Gegenüberstellung hierarchischer Dualismen konstru-
iert werde. Diese Dualismen werden durch Begriffspaare ge-
kennzeichnet, in denen der vorangestellte Begriff sich implizit
als der Überlegene präsentiert. Zu den gegensätzlichen Begriffs-
paaren, die für die Konstruktion der (internationalen) Politik re-
levant sind, gehören die Gegensätze von innen/außen, Identität/
Differenz, öffentlich/privat oder eben – wie postmoderne femi-
nistische Ansätze hervorheben – männlich/weiblich.
Die Verbindung von Feminismus und Postmoderne ist seit der
„dritten Debatte“ in den Internationalen Beziehungen häufig an-
zutreffen. So macht Christine Sylvester, deren Ansatz im Folgen-
den exemplarisch vorgestellt werden soll, schon im Titel ihres
Hauptwerks deutlich, dass sie sich dem postmodernen Paradigma
verpflichtet hat. Damit kann sie als typische Vertreterin derjenigen
feministischen Theorieansätze gelten, die überwiegend vom post-
modernen Denken beeinflusst sind (vgl. Zalewski 1994: 415).
526 Barbara Finke
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2. Feminismus und Internationale Beziehungen in der


Postmoderne: Christine Sylvester
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Christine Sylvester wendet sich mit Feminist Theory and Interna-


tional Relations in a Postmodern Era ausdrücklich an ein theorie-
interessiertes Fachpublikum und stellt epistemologische Fragen in
den Mittelpunkt ihrer Analyse (Sylvester 1994). Sie entfaltet ihren
Ansatz in mehreren Schritten. Zunächst stellt sie eine Klassifika-
tion feministischer Theorieansätze vor, in deren Kontext sie ihren
postmodernen Feminismus einordnet. Dabei hebt sie vor allem auf
die epistemologischen Unterschiede zwischen feministischen An-
sätzen ab, die – wie etwa Cynthia Enloe – Frauen in den Mittel-
punkt ihrer Analyse der internationalen Politik stellen, und post-
modernen Ansätzen, die die Kategorie „Frau“ als Grundlage femi-
nistischer Analyse in Frage stellen. Diese Klassifikation ist in der
Literatur mehrfach aufgegriffen und diskutiert worden (vgl. Keo-
hane 1989; Weber 1994; Krell 2000). Es folgt eine Untersuchung
der drei Theoriedebatten der Internationalen Beziehungen aus fe-
ministischer Perspektive. Dies geschieht durch die genealogische
Kritik zentraler Quellentexte der politischen Theorie sowie durch
die Analyse etablierter Diskurse der Internationalen Beziehungen,
die aus diesen Quellen schöpfen. Schließlich unternimmt Sylvester
den Versuch, eine eigene feministische Methode der einfühlenden
Kooperation („empathetic cooperation“) zu entwickeln und mit
Beispielen aus der politischen Praxis zu untermauern.

2.1 Feministische Theorieansätze in den Internationalen


Beziehungen

Unter den Begriff des Feminismus lässt sich eine Vielzahl von
Ansätzen fassen, deren gemeinsames normatives Ziel die Aufdek-
kung geschlechtsspezifischer Ungleichheit und die Gleichberech-
tigung von Frauen ist (vgl. Locher-Dodge 1998: 425, FN 3). Die
Unterschiede bestehen vor allem auf epistemologischer Ebene. So
hat Christine Sylvester die „entscheidende theoretische Wende“
(Locher 1996: 381, FN 2) von der Frauenforschung, die sich auf
die Rolle und den Blickwinkel von Frauen in der internationalen
Politik konzentriert, zur Geschlechterforschung vollzogen, in de-
Feministische Ansätze 527
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ren Mittelpunkt die Bedeutung von Geschlechtszuschreibungen


für die soziale Konstruktion der Wirklichkeit steht. Anders als
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Enloe, die uns einen neuen Blickwinkel auf die Internationalen


Beziehungen eröffnet, indem sie Frauen in der internationalen Po-
litik sichtbar macht, problematisiert Sylvester eben diese Kategorie
„Frau“, auf die sich Enloe in ihrer Analyse stützt.
Sylvester will den Blick für die kulturelle Herstellung unserer
Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit schärfen und ist
damit den postmodernen feministischen Ansätzen im weiteren
Sinne zuzurechnen. Sie bezieht sich auf die amerikanische Philo-
sophin Judith Butler (v.a. Butler 1991), die die „Klassifizierung in
zwei Geschlechter als das Ergebnis eines kulturellen Herstellungs-
aktes [betrachtet]. Geschlecht ist dann nicht Teil eines natürlichen
Prozesses, sondern ein diskursives Konstrukt“ (Sylvester/Bleiker
1998: 413). Die Kategorien „Mann“ und „Frau“ sind aus dieser
Perspektive „Teil einer Verknüpfung von Sprache, Wissen und
Macht, durch die verhältnismäßig kleine biologische Differenzen
zu einem Hauptkriterium sozialer Beziehungen werden“ (Sylvester/
Bleiker: 1998: 416; vgl. Sylvester 1998: 189). Butler (2009a)
spricht in diesem Zusammenhang von der „Performativität“ des
Geschlechts, nämlich der Einsicht, dass unser Geschlecht nicht nur
durch biologische Parameter bestimmt ist, sondern dass wir es erst
durch unser Sprechen und Handeln erzeugen. Sylvester macht die-
sen epistemologischen Standpunkt in ihren Veröffentlichungen
deutlich, indem sie den Begriff „woman“ grundsätzlich mit Anfüh-
rungsstrichen versieht.
Die erste Ebene für eine Klassifizierung feministischer Ansätze
sieht Sylvester im Umgang mit der Kategorie „Frau“ und in der
Haltung zur Women/„Women“ Question in International Rela-
tions (vgl. Zalewski 1994). Sylvester unterscheidet zwischen (1)
Ansätzen, die die Differenz zwischen Männern und Frauen, zwi-
schen männlichen und weiblichen Eigenschaften zur Grundlage
ihrer Analyse machen und (2) solchen Ansätzen, die diese Ge-
schlechterdifferenz – wie Sylvester selbst – problematisieren:
“[The first approach deals with] activities of average people, as inter-
preted by feminist analysts. This form outlines women, power and in-
ternational politics where this gender triangle was not presumed to ex-
ist. (...) A second, radically sceptical approach, inlines identity in in-
ternational politics with respect to shapes that surround men and
528 Barbara Finke
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women in theories and in practices, leaving behind in the middle, so to


speak, shadows of gender and boundaries of gender transgressed”
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(Sylvester 1996: 262-263; Hervorhebung im Original).


Auf einer zweiten Ebene bezieht sich Sylvester für ihre Klassifika-
tion feministischer Ansätze auf Sandra Harding (Harding 1986), die
zwischen feminist empiricism, feminist standpoint und feminist
postmodernism unterscheidet.4 Sylvester fügt die Kategorie des
postmodern feminism hinzu, der sie ihren eigenen Ansatz zuordnet.
Während feminist empiricism und standpoint feminism die moderne
Unterscheidung zwischen weiblichen und männlichen Eigenschaften
übernehmen, betrachten die beiden postmodernen Varianten des Fe-
minismus die Kategorien „Mann“ und „Frau“ als sozial konstruiert
und politisch erzeugt. Entsprechend betont Sylvester:
“When speaking of ‘men’ and ‘women’, it is important to establish (...)
that I do not pose these gender categories as permanent, immutable,
determinant and essential. Rather, I see ‘men’ and ‘women’ as socially
constructed subject statuses that emerge from the politicization of dif-
ferent anatomies in ways that support given divisions of labor, traits,
places, and power” (Sylvester 1994a: 4).
Auf ganz anderen Annahmen baut der feminist empiricism auf, der
die Existenz einer objektiv identifizierbaren Kategorie „Frau“ an-
nimmt und, so Sylvester, besonders stark im modernen positivisti-
schen Wissenschaftsverständnis verwurzelt ist. Dieser Ansatz geht
davon aus, dass es genügt, den Androzentrismus in Mainstream-
Theorieansätzen aufzudecken und Frauen in das gängige For-
schungsdesign einzufügen („to add women“) um auf diese Weise
ein vollständiges und unverzerrtes Bild der Wirklichkeit zu erzeu-
gen (vgl. Sylvester 1994a: 31-36 und 1989: 236). Die politisch-
praktische Ausprägung dieses Wissenschaftsverständnisses ist Syl-
vesters Ansicht nach der liberale Feminismus, der den liberalen

4 In der Literatur finden sich verschiedene Versuche der Einleitung feministischer


Theorien. Tickner (2008) unterscheidet zwischen liberaler, kritischer, sozial-
konstruktivistischer, postmoderner und postkolonialer feministischer Theorie,
während Whitworth (2008: 392-395) die in Bezug auf Harding genannten An-
sätze um radical feminists, feminist critical theory und postcolonial feminist
theory erweitert. Häufig ist auch eine Konzentration auf lediglich drei Haupt-
strömungen: liberaler, radikaler und postmoderner Feminismus (u.a. Ruppert
1998).
Feministische Ansätze 529
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Staat als geeigneten Rahmen für das angestrebte Ziel einer Gleich-
berechtigung der Frau betrachtet, wenn nur die vorhandenen ge-
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setzlichen Möglichkeiten konsequent im Sinne der Gleichberech-


tigung ausgelegt und ausgeschöpft werden. Sylvester bringt die
Parallelen auf den Punkt, indem sie feststellt: „In short, just as fe-
minist empiricists accept certain premises of science, even as they
critique other premises, liberal feminism basically accepts libera-
lism in a state activist form and critiques its application to women“
(Sylvester 1994a: 39).5
Der standpoint feminism geht in seiner Kritik an den etablierten
Ansätzen politischer Theorie sehr viel weiter als der liberale Femi-
nismus. Feministische Ansätze dieser Ausprägung vertreten die An-
sicht, dass die Erfahrungen von Frauen zum Ausgangspunkt femini-
stischer Forschung gemacht werden müssen. Dabei geht es nicht nur
darum, den Androzentrismus vorhandener Theorieansätze auszu-
gleichen, sondern es wird erwartet, dass der weibliche Blickwinkel
auf die internationale Politik zu anderen, potenziell überlegenen Ein-
sichten in den Charakter der internationalen Beziehungen führt. Da-
hinter steht das Konzept einer „weiblichen Moral“ (vgl. Nunner-
Winkler 1991), das allerdings die Gefahr einer Verabsolutierung
„typisch“ weiblicher Eigenschaften birgt und damit den hierarchi-
schen Geschlechtergegensatz etablierter Theorieansätze unter umge-
kehrten Vorzeichen festzuschreiben droht. Dabei wird die Überle-
genheit der weiblichen Moral soziologisch, gelegentlich auch biolo-
gisch begründet und im Wesentlichen auf einen Zusammenhang
zwischen Mutterschaft und Friedensfähigkeit bezogen. Besonders
greifbar ist diese essenzialistische6 Argumentation, die von postmo-
dernen Feministinnen kritisiert wird, im radikalen Feminismus, den
Sylvester als politisch-praktische Variante des standpoint feminism
betrachtet (Sylvester 1994a: 49-52; vgl. auch Krell 1996: 155).

5 Eine Weiterentwicklung dieses feministischen Ansatzes kann im transnational


feminism gesehen werden, siehe z.B. die Beiträge in Ferree/Tripp 2006.
6 Eine Verabsolutierung und Naturalisierung unveränderlich weiblicher und
männlicher Eigenschaften wird im Englischen mit dem Begriff des „essentia-
lism“ erfasst, den auch Sylvester in diesem Kontext benutzt. Marysia Zalewski
bemerkt dazu: „Any feminist theory which is taken to imply ‚essential woman‘,
meaning that women have something inherent, unchanging and shared that de-
fines them as women, is held in particular disregard by contemporary postmod-
ern feminist theory“ (Zalewski 1994: 409).
530 Barbara Finke
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Den feminist postmodernism kennzeichnet ein radikaler Skepti-


zismus hinsichtlich der Kategorien und Denkstrukturen moderner
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Theorieansätze, unter die auch Ansätze wie der feminist empiri-


cism und der standpoint feminism subsumiert werden. Zu den Ka-
tegorien, die aus der Perspektive des feministischen Postmoder-
nismus in Frage gestellt werden, gehören das einheitlich und un-
abhängig handelnde Subjekt und die eindeutig definierte Ge-
schlechtsidentität sowie die damit verbundenen binären, auf hier-
archischen Gegensätzen beruhenden Denkstrukturen. Durch De-
konstruktion wird die soziale Konstruiertheit dieser modernen
Kategorien und Denkstrukturen offengelegt. Wie weiter oben be-
reits ausgeführt, wird die Existenz einer einheitlichen Kategorie
„Frau“ negiert. Im Vordergrund stehen die Unterschiede zwischen
Frauen und die Vielfalt ihrer Erfahrungen. Sylvester verweist in
diesem Zusammenhang auf die Argumentation einer wichtigen
Vertreterin des feministischen Postmodernismus:
“Sandra Harding, a leading light of postmodernism, suggests that we
should expect differences in cognitive styles and world views from
people engaged in different kinds of social activities (...) Are we more
alike than different? Do we have a standpoint? Harding thinks not. (...)
It is, theoretically, preferable [for Harding] to accept the notion of
permanent partiality and to explore intersecting, contradictory and si-
multaneous realities within a pro-women framework” (Sylvester 1990:
246).
Einem feministischen Postmodernismus dieser Ausrichtung wird
häufig der Vorwurf einer normativen Beliebigkeit gemacht. Mit
dem einheitlich handelnden Subjekt und mit der Ablehnung der
Kategorie „Frau“ gehe dem Feminismus auch das Subjekt für die
Einlösung des Emanzipationsanspruchs verloren (vgl. Abschnitt
3). Auf der Grundlage solcher Einwände distanziert sich Sylvester
partiell von einem radikalen Postmodernismus und kennzeichnet
ihren eigenen Theorieansatz als postmodern feminism, der zwi-
schen standpoint feminism und feminist postmodernism anzusie-
deln sei. Allerdings betont Sylvester, dass die dargestellten feminis-
tischen Theorieansätze einander nicht ausschließen und jeder An-
satz seinen Beitrag zur Interpretation der internationalen Politik
leiste (vgl. Sylvester 1994a: 66-67).
Feministische Ansätze 531
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2.2 Der postmoderne Feminismus Christine Sylvesters


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Entwicklungsmöglichkeiten für die feministische Theorie der Inter-


nationalen Beziehungen und einen Ausweg aus dem Dilemma von
„Frauen“ (als sozial konstruierte Kategorie) und Frauen (als politisch
handelndes Subjekt) sieht Sylvester in der Verbindung eines aufge-
klärten standpoint feminism mit dem feminist postmodernism, die sie
mit dem postmodernen Feminismus herzustellen beabsichtigt. Ver-
bunden mit einer postmodernen Analyse ist das Dilemma des verlo-
renen Subjekts bzw. das Problem der „verschwindenden Frau“ (Za-
lewski 1994: 415). Auch Sylvesters Analyse beruht auf der Annah-
me, dass „Frauen“ als Kategorie eine soziale Konstruktion sind und
von einem natürlichen Gegensatz zwischen männlichen und weibli-
chen Eigenschaften nicht die Rede sein kann. Entsprechend stellt
sich für die feministische Theorie die Frage „how can we simultane-
ously put women at the center and decenter everything including
women“ (Sylvester 1994a: 11).
Sylvester ist der Ansicht, dass die Grenzen zwischen einem
aufgeklärten standpoint feminism, der auf essenzialistische Argu-
mente und auf die Vorstellung von dem weiblichen Standpunkt
verzichtet, und postmodernem Denken aufgehoben werden kön-
nen. Neuere, dem standpoint feminism verpflichtete Ansätze beto-
nen die Vielfalt weiblicher Erfahrungen und Standpunkte. Sie
drücken damit ihre Skepsis gegenüber der Bildung von universal
vereinnahmenden Kategorien für die politikwissenschaftliche
Analyse aus, die auch postmoderne Theorieansätze kennzeichnet.
Im Gegensatz zu radikal postmodernen Ansätzen betont Sylvester,
dass eine feministische Theorie der Internationalen Beziehungen
die Tatsache akzeptieren muss, dass Frauen sich mit ihrem Ge-
schlecht identifizieren und diese Identität, neben anderen, zur
Grundlage ihres gesellschaftlichen Handelns machen: „If gender is
a home for some ‚women‘, then it makes no sense to refuse them
that identity because, technically, it is not real“ (Sylvester 1994a:
53). Den postmodernen Feminismus zeichnet jedoch die Annahme
aus, dass es eine große Vielfalt weiblicher Erfahrungen und Stand-
punkte gibt und der subjektive Standpunkt durch eine Vielzahl
unterschiedlicher Identitäten, darunter auch die Geschlechtsiden-
tität, definiert wird: „Hence the emphasis [of postmodern femi-
nism] on multiple standpoints, on being (...) several things at once
532 Barbara Finke
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in a prismatic postmodern world – rural-black-mother-acgricul-


turalist-socialist-cooperator – and, therefore, being homeless as a
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single-identity Self“ (Sylvester 1994a: 59).


Ein weiteres Element in Sylvesters Ansatz ist die Auseinander-
setzung mit etablierten Diskursen der Internationalen Beziehun-
gen. Sylvester spürt zentrale Diskurse modernen westlichen Den-
kens auf und analysiert die Wirkung dieser theoretischen Quel-
lentexte auf klassische Theorieansätze in den Internationalen Be-
ziehungen.

2.3 Diskursanalyse und genealogische Kritik

Die Diskursanalyse ist eine Methode, die von feministischen An-


sätzen unterschiedlicher Prägung ebenso wie von postmodernen
Theorieansätzen eingesetzt wird. Ziel ist die Aufdeckung diskursiv
begründeter Herrschaftsmechanismen, denn, so Sylvester, „Spra-
che ist nie neutral. Sie reflektiert spezifische soziale Werte, Ideen,
ganze Lebensformen. Sprache ist immer Politik, auch wenn das
auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag“ (Sylvester/Bleiker
1998: 412). Sylvester betont in diesem Zusammenhang, dass auch
die Aufdeckung sprachlich begründeter Herrschaftsmechanismen
eine emanzipatorische Funktion hat (1994a: 318): „Postmodern
feminism can usefully raise ‚strange‘ questions about stories we
have accepted about ‚his‘ world that deny ‚us‘ agency in IR“ (Syl-
vester 1994a: 62; vgl. auch 1994b: 318). Etablierte Diskurse in
den Internationalen Beziehungen schaffen, so Sylvester, „Gedan-
kenraster, welche männliche Werte als soziale Norm und weibli-
che als Abweichungen davon erscheinen lassen“ (Sylvester/Blei-
ker 1998: 413). Diskurse aller drei Theoriedebatten haben dazu
beigetragen, Frauen aus der internationalen Politik auszugrenzen.
Entsprechend stellt Sylvester fest: „Obwohl die von männlichen
Werten durchtränkte internationale Politik als geschlechtsneutral
dargestellt wird, können Frauen diese Sphäre nur kurz, als Besu-
cherinnen, betreten. (...) Frauen, so lehren uns vorherrschende in-
ternationale Diskurse, sind anderswo zu Hause“ (Sylvester/Blei-
ker: 1998: 412; vgl. Sylvester 2002). Um die Ursprünge dieser
Ausgrenzung aufzudecken und herauszufinden, wo Frauen „zu
Hause“ sind, wirft Sylvester einen Blick in die Quellentexte, aus
Feministische Ansätze 533
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denen moderne Theorien der Internationalen Beziehungen schöp-


fen.7
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Der systematische Ausschluss von Frauen aus der (internatio-


nalen) Politik und ihre Verbannung ins Private beginnt mit den
Klassikern der politischen Theorie. So verweist Sylvester auf
Jean-Jacques Rousseau, der uns in Emile erläutert, dass Frauen
Gefangene ihrer sexuellen Leidenschaften seien und ihnen die
Vernunft fehle, die für die Teilnahme am öffentlichen politischen
Leben notwendig sei. Entsprechend sei die häusliche Privatheit der
weiblichen Natur angemessen, das öffentliche Leben bleibt den
Männern vorbehalten. Niccolò Machiavelli, ein Klassiker der po-
litischen Theorie, auf den sich der Realismus mit seinem Konzept
des nationalen Interesses beruft, beschäftigt sich in einem ganzen
Kapitel der Discorsi damit, wie Frauen (Staats-)Männer dazu ver-
führen, öffentliche Angelegenheiten mit Privatem zu vermischen
und den Staat damit ins Verderben stürzen. (Staats-) Männer seien,
so Machiavelli, nur nach ihrem Handeln im öffentlichen Interesse
des Staates, Frauen nach ihrem Handeln im Privaten zu beurteilen.
Thomas Hobbes, ein weiterer Klassiker der realistischen Schule,
zieht den menschlichen Naturzustand („state of nature“) als Ana-
logie für die Staatenwelt heran. Er sieht die (natürliche) Mutter-
rolle und die damit verbundenen Aufgaben des Sorgens und Pfle-
gens als Grund für die weibliche Beschränkung auf die häusliche
Sphäre. Dieser Nachteil im Kampf aller gegen alle, den Hobbes als
menschlichen Naturzustand voraussetzt, hat dazu geführt, dass
Frauen häufiger als Männer versklavt und erobert wurden. Ver-
tragspartner im „social contract“, mit dem der Naturzustand bei
Hobbes gebändigt wird, sind jedoch nur vollwertige und freie
Bürger, zu denen die eroberten Frauen nicht gehören (vgl. Sylves-
ter 1994a: 5, 80-81).
Mit einer Analyse der drei großen Theoriedebatten der Interna-
tionalen Beziehungen aus feministischer Perspektive macht Sylves-
ter deutlich, dass die geschlechtsspezifische Konstruktion des Poli-
tischen in den Klassikern der politischen Theorie eine wichtige
Quelle ist, aus der die dominierenden Theorien der Internationalen

7 Sylvester stützt sich in ihren Ausführungen auf feministische Analysen des


Staates und der klassischen politischen Theorie, wie die von Carole Pateman
1988 und Jean Bethke Elshtain 1981.
534 Barbara Finke
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Beziehungen direkt oder indirekt schöpfen. Die erste Debatte in


den internationalen Beziehungen zwischen klassischem Realismus
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und Idealismus beschäftigte sich mit der Frage, ob – wie der Rea-
lismus betont – unabhängige, interessengeleitete Staaten in einer
anarchischen Umwelt Gegenstand der internationalen Beziehun-
gen seien oder ob es um die Beziehungen zwischen staatlichen und
nichtstaatlichen Akteuren und um die Möglichkeiten von Koope-
ration und Frieden gehen müsse, wovon die idealistische Schule
ausging. Bei aller Gegensätzlichkeit griffen beide Theorieansätze
auf die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und den
damit verbundenen impliziten Ausschluss von Frauen aus der in-
ternationalen Politik zurück. Im Mittelpunkt der klassischen realis-
tischen Schule stand das Konzept des (männlichen) öffentlichen
Interesses in der Tradition Machiavellis, das nicht mit (weiblichen)
privaten Angelegenheiten zu vermischen sei (Sylvester 1994a: 80).
So ist ein implizit männlich definiertes Konzept extern vorgegebe-
ner Interessen entstanden, auf dem die Rationalitätsannahme staat-
licher Akteure im Realismus und Neorealismus aufbaut. Der klas-
sische Idealismus auf der anderen Seite fragte nach den Möglich-
keiten und Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben der
Staaten. Dabei stützte er sich auf politische Vertragstheorien, die,
wie Sylvester für den „social contract“ bei Hobbes erläutert hatte,
Frauen als Vertragspartner ausschließen und auf einen männlich
definierten Vernunftbegriff in der Tradition von Rousseau rekur-
rieren. Aus einer an Rousseau oder Machiavelli orientierten Per-
spektive gilt es, die weibliche Emotionalität aus einer öffentlichen
politischen Angelegenheit, wie sie die vertraglich geregelte friedli-
che Kooperation der Staatenwelt darstellt, herauszuhalten (Sylvester
1994a: 82).8
In der zweiten Debatte ging es um die Frage nach der Ange-
messenheit eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses für

8 Sylvester führt als Beispiel für diese Haltung die Wahlkampagne des amerikani-
schen Präsidenten Woodrow Wilson an – den wichtigsten Protagonisten des po-
litischen Idealismus während und nach dem Ersten Weltkrieg: „Woodrow
Wilson (...) campaigned for the US presidency on a platform advocating peace
and disfavoring women’s suffrage, ostensibly because the people – the voice of
idealist reason – opposed this extension of the franchise. ‚The people‘ opposing
‚women’s‘ vote while favoring peace, however, had voice only through the so-
cially contracted citizen ‚men‘ of the country“ (Sylvester 1994a: 82).
Feministische Ansätze 535
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die Internationalen Beziehungen. Vor allem dem Neorealismus


liegt das Ziel zugrunde, ein möglichst einfaches Modell der inter-
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nationalen Politik mit eindeutig überprüfbaren Hypothesen bereit-


zustellen. Ein solches Modell basiert auf der Annahme, dass na-
turwissenschaftliche Methoden auf die Internationalen Beziehun-
gen anwendbar sind. Der Neorealismus rückt die Modellannahme
einer anarchischen Struktur des internationalen Systems in den
Mittelpunkt seiner theoretischen Überlegungen. Damit wird zwar der
Handlungsspielraum des staatlichen Akteurs begrenzt, aber Syl-
vester betont: „However, states were at least given rationality and
capabilities by the neorealists (and realists before them) whereas
‚women‘ inside states were outside the public sphere of rationali-
ty“ (Sylvester 1994a: 114). Den Neorealismus interessiert nur das
outside des internationalen Systems, das inside des Staates wird
ausdrücklich ausgeblendet. Wie das Private in der politischen
Theorie des Staates so wurde das Innere des Staates in der neorea-
listischen Theorie der Internationalen Beziehungen als irrelevant
bzw. unpolitisch betrachtet. Für die Sichtbarkeit von Frauen im
Neorealismus hatte das eine zusätzliche Konsequenz: „Placed out-
side politics in the private civil sphere of the nation, ‚women’s‘
actions would surely be incapable of affecting the capabilities of
socially isolated neorealist states“ (Sylvester 1994a: 115). Frauen
werden also vom Neorealismus gleich auf zweifache Weise aus
der internationalen Politik verbannt: aus dem internationalen Sys-
tem in die (für die internationale Politik irrelevante) Innenpolitik
und von dort ins (unpolitische) Private.
In der dritten Debatte der Internationalen Beziehungen fordern
post-positivistische Theorieansätze die bis dahin vorherrschenden
Theorien der Internationalen Beziehungen heraus. Besondere Auf-
merksamkeit hat die postmoderne Kritik am Neorealismus und an
anderen Ansätzen in der Tradition moderner westlicher Philoso-
phie hervorgerufen. Die Prämissen und Methoden postmoderner
Ansätze bieten theoretisch viel Raum für feministische Fragestel-
lungen und überschneiden sich in der Art der Argumentation nicht
nur mit postmodernen feministischen Ansätzen. Gemeinsam ist der
feministischen und postmodernen Theorie das Interesse an einer
Aufdeckung von sprachlich normalisierten Herrschaftsmechanis-
men. Doch obwohl die Offenheit für feministische Fragestellungen
im postmodernen Paradigma sozusagen a priori angelegt ist, wur-
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den diese Fragen nur selten aktiv thematisiert. Postmoderne An-


sätze verweisen auf die problematische Universalisierung moder-
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ner westlicher Denktraditionen und argumentieren, Wissen müsse


als historisch, kulturell und sozial determiniert und damit als va-
riabel betrachtet werden. Entsprechend fordern sie eine Aufwei-
chung der starren Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Dis-
ziplinen und die Infragestellung vorgegebener Identitäten. Die ge-
schlechtsspezifische Konstruktion des Politischen, die bedingt,
dass sich moderne Theorien der Internationalen Beziehungen als
geschlechtsneutral präsentieren, wird dabei jedoch oft übersehen.
Feministische Fragestellungen werden von postmodernen Auto-
rinnen und Autoren nur selten thematisiert. Feministische Auto-
rinnen tauchen in den Literaturlisten post-positivistischer Ansätze
fast ebenso selten auf wie bei Vertretern etablierter Theorierichtun-
gen. Sylvester bemerkt dazu: „Yet the third debate can sound like its
predecessors in one key respect: despite thirty years of feminist theo-
rizing, ‚women‘ do not appear in the citation list and gender is not
among the categories of contestation (...)“ (Sylvester 1994a: 8).

2.4 Einfühlende Kooperation als feministische Methode

Die Infragestellung moderner Gedankenraster durch genealogische


Kritik und Diskursanalyse ist ein wichtiges Instrument postmoder-
ner Theorieansätze. Zwar trägt diese Methode zur Aufdeckung
sprachlich begründeter Herrschaftsstrukturen bei, sie könne aber –
so der oftmals geäußerte Vorwurf – keinen konstruktiven Beitrag
zur Theorie der Internationalen Beziehungen und zum Feminismus
leisten. Entsprechend versucht Sylvester, über die Kritik etablier-
ter Theorieansätze hinauszugehen und den emanzipatorischen An-
spruch des Feminismus durch die Konstruktion einer feministi-
schen Methode der einfühlenden Kooperation („empathetic coope-
ration“) einzulösen. Diese Methode soll dazu dienen, die binären
und ausschließlichen Denkstrukturen der Moderne praktisch zu
überwinden und das feministische Projekt einer Gleichberechti-
gung der Geschlechter in Theorie und Praxis voranzutreiben. Ge-
gensätzliche Begriffspaare wie Wir/Andere, West/Ost, Nord/Süd,
Innen/Außen bestimmen unsere Vorstellungen vom Charakter der
internationalen Politik. Die Methode der einfühlenden Kooperati-
Feministische Ansätze 537
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on soll uns zeigen, dass „Wir“ mehr mit „den Anderen“ gemein-
sam haben, als es auf den ersten Blick scheint. Identitäten sind
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nicht so eindeutig, wie die Gegensätzlichkeiten, auf deren Grund-


lage wir unsere Vorstellungen ordnen, vermuten lassen.
Die Methode der einfühlenden Kooperation wendet sich an
Theoretiker der Internationalen Beziehungen und fordert sie dazu
auf, die eigene Identität und den damit verbundenen Standpunkt
aktiv zu hinterfragen und auf andere Stimmen zu hören, um die
tradierten binären Denkstrukturen zu überwinden. Die scheinbar
so eindeutigen Grenzen zwischen den Denk- und Analysekatego-
rien der Internationalen Beziehungen sollen auf diese Weise auf-
geweicht werden. Den Begriff der Kooperation definiert Sylvester
als „negotiating respectfully with contentious others“ (Sylvester
1994a: 96). Sie wendet sich mit dieser Forderung an alle, die sich
mit der Theorie der Internationalen Beziehungen beschäftigen und
sie weiterentwickeln (vgl. Sylvester 1994b und 1994a: 96-99).
Außerdem könne diese Methode, so Sylvester, Politikwissenschaft-
lern den Blick auf Beispiele für „einfühlende Kooperation“ in der
politischen Praxis eröffnen. Auch auf diese Weise könne die Me-
thode dazu beitragen, einen anderen Blickwinkel auf die interna-
tionale Politik zu eröffnen und den Blick für Ereignisse zu schär-
fen, die außerhalb bislang wahrgenommener Bereiche des Politi-
schen liegen (vgl. Sylvester 1994b: 328).
Ein Beispiel für die Politik der einfühlenden Kooperation sieht
Sylvester in der Herstellung einer Verbindung zwischen männlich
definierter Sicherheitspolitik und weiblichem Alltag in der politi-
schen Praxis. Als Illustration dient Sylvester eine Gruppe von bri-
tischen Frauen, die Anfang der 1980er Jahre einen Protestmarsch
unter dem Motto „Women for Life on Earth“ zur amerikanischen
Luftwaffenbasis Greenham Common initiierten, auf der die Statio-
nierung von Mittelstreckenraketen geplant war. Sie konnten die
Stationierung nicht verhindern, demonstrierten ihren Protest und
die Auswirkungen der Raketenstationierung auf ihr persönliches
Leben aber auf anschauliche Weise, indem sie mehrere Tage auf
dem Gelände campierten und dort ihren Alltag zelebrierten. Mit
dem Versuch, den Zaun um das Gelände einzureißen, sollten die
Grenzen zwischen den kriegerischen Elementen im Innern des
Geländes und den friedlichen Elementen außerhalb des Geländes
symbolisch überwunden werden (Sylvester 1994a: 184-197 und
538 Barbara Finke
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1994b: 330-331; siehe auch Sylvester 2005). In diesem Fall waren


es die Akteurinnen selbst, die den Dualismus von Sicherheitspoli-
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tik und Privatem in Frage zu stellen und eine Verbindung zwi-


schen Sicherheitspolitik und dem persönlichen Alltag von Frauen
herzustellen versuchten.

3. Zwischen Postmoderne und


Emanzipationsanspruch: Theorieinterne Kritik
und Ausdifferenzierung
Sylvesters Versuch einer Gratwanderung zwischen Postmoderne
und feministischem Emanzipationsanspruch ist als Reaktion auf
die Debatte zu sehen, die der wachsende Einfluss postmodernen
Denkens in der feministischen Theorie seit den späten 1980er Jah-
ren ausgelöst hat. Vor allem Judith Butler als wichtige Vertreterin
der Postmoderne, auf die sich Sylvester im Zusammenhang mit ih-
rer Ablehnung einer natürlichen Geschlechtsidentität beruft, hat
den Widerspruch von feministischen Theoretikerinnen wie Nancy
Fraser und Seyla Benhabib herausgefordert.9 Die postmoderne
Dekonstruktion des Subjekts ist aus ihrer Perspektive kein Ersatz
für die Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.
So meint Nancy Fraser, dass „Feministinnen (...) normative Urteile
fällen und normative Alternativen anbieten [müssen]“ (Fraser
1995: 75). Und Seyla Benhabib bemerkt, der Verlust des Subjekts
berge die Gefahr eines „anything goes“ und zerstöre die Grundla-
gen des Feminismus als einer politischen Theorie. „So gedeutet,
untergräbt das postmoderne Denken die Verpflichtung des Femi-
nismus gegenüber der Handlungsfähigkeit und dem Selbstgefühl
der Frauen (...)“ (Benhabib 1995: 26). Sylvester nimmt diese Kri-
tik auf und versucht, trotz der Dekonstruktion einer natürlichen
weiblichen Geschlechtsidentität und der damit verbundenen Ab-
lehnung einer eindeutigen Kategorie „Frau“, eine feministische

9 Eine gute Übersicht dieser Debatte gibt der Sammelband von Benhabib et al.
1995. Vgl. auch Weinbach 1999: 300-302. Obwohl Fraser und Benhabib hier
als Feministinnen argumentieren, sind sie eher der kritischen Theorie als der
feministischen politischen Theorie zuzuordnen.
Feministische Ansätze 539
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Methode zu entwickeln und die feministische Handlungsfähigkeit


zu retten.
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Dieser Anspruch, Postmoderne und weibliche Subjektivität zu


vereinbaren, musste zu Widersprüchen führen, die Kritikerinnen
auch herausgearbeitet haben. Die feministische Methode der ein-
fühlenden Kooperation und die angeführten Beispiele für ihre
Umsetzung haben nach Ansicht von postmodernen Kritikerinnen
das Dilemma von Sylvesters Ansatz offen gelegt. So bemerkt
Nancy Massotto in ihrer Kritik, dass das Beispiel der Frauen von
Greenham Common durch die Gegenüberstellung von männli-
chem Sicherheitsdenken und weiblichem Einsatz für den Frieden
den modernen Dualismus zwischen männlichen und weiblichen
Eigenschaften eher festschreibe, als ihn in Frage zu stellen (Mas-
sotto 1999: 240-241).
Mit ähnlichen Argumenten weist Marysia Zalewski (1994) dar-
auf hin, dass die Methode der einfühlenden Kooperation und die
Auswahl von empirischen Beispielen, in denen vor allem Frauen
die Politik der einfühlenden Kooperation praktizieren, von einem
spezifischen Frauenbild und einer damit verbundenen Vorstellung
von typisch weiblichen Eigenschaften ausgehe. Damit stehe Syl-
vester dem standpoint feminism sehr viel näher als ihre Annahme
von der sozialen Konstruiertheit der Kategorie „Frau“ vermuten
lasse (1994a: 420-421). Die von Sylvester angeführten Beispiele
für die Praxis der einfühlenden Kooperation zielen auf die Über-
windung der Trennung zwischen high politics und weiblicher
Alltagswelt ab. Damit greift Sylvester das feministische Schlag-
wort vom politischen Charakter des Privaten auf, das auch Cynthia
Enloes Analyse der Wechselwirkungen zwischen internationaler
Politik und weiblichem Alltag leitet. Die Kritik von Zalewski oder
Massotto, die Sylvesters Arbeit aus einer postmodernen Perspekti-
ve analysieren, macht deutlich, dass eine Balance zwischen Post-
moderne und standpoint feminism nur schwer durchzuhalten ist,
und dass Sylvester durch die Auswahl ihrer Fallbeispiele implizit
einem konventionellen standpoint feminism zuneigt, wie er von
Cynthia Enloe vertreten wird.
Zu innovativen Fragestellungen und ganz anderen Forschungs-
ergebnissen kann die Geschlechterforschung in den Internationa-
len Beziehungen führen, wenn die Prämisse einer sozialen Kon-
struiertheit weiblicher und männlicher Geschlechtsidentitäten kon-
540 Barbara Finke
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sequent weitergedacht wird. Die Vielfalt der methodischen Heran-


gehensweisen, von ethnographischen Methoden über normative
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Ethik bis zur Analyse darstellender Kunst in Bezug auf die inter-
nationalen Beziehungen, zeigen Ackerly et al. 2006.
Ein Beispiel für den Aufbruch zu neuen Ufern ist die kritische
Männerforschung, die nicht Frauen in den Mittelpunkt ihrer Ana-
lysen stellt, sondern die Rolle von Männern problematisiert und
die politische Funktion der Konstruktion von Männlichkeit unter-
sucht (vgl. auch Janshen 2000). Der Sammelband von Zalewski
und Parpart (1998) versammelt eine Reihe von Aufsätzen, die
ganz bewusst die „Männerfrage“ stellen und die Bedeutung tra-
dierter Vorstellungen von Männlichkeit in den Internationalen Be-
ziehungen analysieren.
Zalewski diskutiert die Frage, ob diese Art der Analyse eine neue
Phase der feministischen Theoriebildung markieren könnte, nach-
dem die Debatte zwischen postmodernen und standpoint Feminis-
tinnen um das Dilemma der „verschwundenen Frau“ und die Einlö-
sung des feministischen Emanzipationsanspruches die feministische
Debatte der 1980er und 1990er Jahre dominiert hatte. Die zuneh-
mende Auseinandersetzung von Autorinnen und Autoren mit der
„Männerfrage“ könnte als Hinweis auf die Akzeptanz einer postmo-
dernen Geschlechterforschung in der politikwissenschaftlichen Ana-
lyse gewertet werden und wäre damit auch aus feministischer Per-
spektive als Fortschritt zu betrachten. Zalewski bemerkt dazu:
“Is moving to the ‘man’ question the fourth stage in this typology?
Some feminist postmodern approaches would (...) imply that the move
is evidence of progression. But feminist approaches that remain loyal
to an emancipatory feminism based on the subject of woman would
stress the importance of keeping men out of the center of feminist
analysis and insist on the insertion of women as subjects and objects
(...)” (Zalewski 1998: 12).10
Die empirische Untersuchung männlichen Handelns und die wei-
tere Dekonstruktion der Kategorie „Mann“ können als Ausgangs-
punkte für neue Analysen der Internationalen Beziehungen dienen,

10 Dabei bezieht Zalewski sich im Wesentlichen auf die von Sylvester verwendete
Typologie feministischer Ansätze (feminist empiricism, feminist standpoint, fe-
minist postmodernism). Sie sieht die drei Typen zugleich als zeitlich aufeinan-
der folgende Tendenzen in der feministischen Theoriebildung.
Feministische Ansätze 541
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nachdem feministische Autorinnen unterschiedlicher Ausrichtung


herausgearbeitet haben, dass die internationalen Beziehungen auf
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männlichem Handeln, männlicher Subjektivität und bestimmten


Konstruktionen von Männlichkeit aufbauen (z.B. Hooper 2001;
Dean 2001, aktuell etwa Parpat/Zalewski 2008 u.a. zum „white
male privilege“ in den Internationalen Beziehungen). Die Männer-
forschung muss nicht als Fortschritt feministischer Theoriebildung
betrachtet werden, kann aber theoretische und empirische Arbeiten
ergänzen, die Frauen in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellen (vgl.
Zalewski 1998: 12).
Die Erkenntnisse der Geschlechterforschung haben sich in den
letzten Jahren in der öffentlichen Debatte niedergeschlagen und
haben als „gender mainstreaming“ Eingang in die Strategien inter-
nationaler Bürokratien gefunden (Shepherd 2010, Whitworth
2008: 399-402; siehe auch Locher/Prügel 2009, True 2010). Gender
Mainstreaming als Strategie zielt darauf ab, die unterschiedlichen
Lebenswirklichkeiten von Männern und Frauen im Prozess der
Politikformulierung „mitzudenken“ und auf diese Weise Gleich-
stellung auf der Ebene der Betroffenen sicher zu stellen. Allerdings
wird kritisiert, dass das Gender Mainstreaming in globalen Institu-
tionen vor allem der besseren Problemlösung und keiner grundle-
genden Veränderung der Geschlechterverhältnisse diene und dass
Frauen- oder Männerbilder in (militär-) politischen Diskursen
strategisch-instrumentell genutzt werden (Whitworth 2004: 120,
Hunt 2002). Die mit dem problemorientierten „gender mainstrea-
ming“ verbundene Entpolitisierung des Geschlechterkonzepts wird
von Feministinnen mit Misstrauen betrachtet (Sjoberb 2007).
Entsprechend nutzen feministische Ansätze das Geschlechterkon-
zept auch weiterhin für die Analyse von internationalen Konflikten
und von konkreten Gewaltsituationen, um Machtstrukturen aufzu-
decken und um die politische Wirkung von Weiblichkeits- und
Männlichkeitskonstruktionen aufzuzeigen (Eichler 2006, Hunt/Ry-
giel 2006, Whitworth 2004). Dabei haben insbesondere der Folter-
skandal in Abu-Ghraib und die Vorkommnisse auf Guantanamo Bay
im Gefolge des Irakkrieges 2003 viel Aufmerksamkeit erregt (Enloe
2007b, Richter-Montpetit 2007, Philipose 2007, Butler 2009b).11

11 So wurden die Ereignisse in den Gefängnissen von Abu Ghraib und Guantana-
mo als Zeichen von „gender confusions“ interpretiert, die der Verschleierung
542 Barbara Finke
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4. Kritik, Vereinnahmung, Anschlussmöglichkeiten:


Die externe Rezeption feministischer Ansätze in
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den Internationalen Beziehungen


Eine Unterscheidung zwischen theorie-immanenter und externer
Rezeption feministischer Ansätze in den Internationalen Bezie-
hungen ist nicht ganz einfach, denn auch die feministische Kritik
kann als extern betrachtet werden, wenn sie von Vertreterinnen ei-
nes anderen theoretischen Blickwinkels geäußert wird. Das haben
die Ausführungen zur Debatte zwischen modernen und postmo-
dernen Feministinnen deutlich gemacht (vgl. Benhabib et al.
1995). Die kritische Rezeption feministischer Analysen der Inter-
nationalen Beziehungen aus einer nicht feministischen Perspektive
ist eher selten – ein Umstand, der selbst Gegenstand der feministi-
schen Kritik gewesen ist (vgl. Abschnitt 2.3).
Als prominente Beispiele für die nicht feministische Rezeption
sind vor allem zwar ältere Aufsätze zu nennen, die sich im Kon-
text der sich in dieser Phase entfaltenden „dritten Debatte“ mit fe-
ministischen Ansätzen in der IB befassen: der deutschsprachige
Aufsatz von Gert Krell in der Zeitschrift für Internationale Bezie-
hungen (Krell 1996; vgl. Krell 2009), vor allem aber der Beitrag
von Robert Keohane in der Zeitschrift Millennium (Keohane
1989). Beide Autoren geben zunächst eine Übersicht feministi-
scher Ansätze der Internationalen Beziehungen und greifen dabei
– auch wenn Krell seine Typen anders bezeichnet – auf die Klassi-
fizierung zurück, die Sylvester in Anlehnung an Sandra Harding
verwendet: feminist empiricism, feminist standpoint, feminist
postmodernism. Der Artikel von Krell ist ein Überblicksartikel mit
kritischen Untertönen. Seine Kritik richtet der Autor vor allem an
den radikalen Feminismus – eine Variante des standpoint femi-
nism, die auf das essenzialistische Argument einer überlegenen
weiblichen Moral zurückgreift. Krell weist dieses Argument mit
dem Hinweis auf die „Mittäterschaft oder Komplizenschaft von
Frauen in Kolonialismus, Militarismus oder Imperialismus“ zu-
rück (Krell 1996: 156). Er räumt aber ein, dass diese Kritik auf

imperialistischer Maskulinität dienten. Dabei wird betont, dass das Militär seit
langem mit der Manipulation von Geschlechterbildern vertraut sei (Whitworth
2008: 403).
Feministische Ansätze 543
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neuere feministische Ansätze, die das essenzialistische Argument


einer überlegenen weiblichen Moral zum größten Teil ablehnen,
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kaum zutrifft. Allerdings gelinge es auch postmodernen Autorin-


nen nicht immer, sich in ihrer Argumentation vollständig von es-
senzialistischen Denkfiguren zu lösen, wie Sylvester und die von
ihr eingeführte Methode der einfühlenden Kooperation belegen
(vgl. Krell 1996: 155). Diese Kritik macht deutlich, dass Krells
Argumente keine grundsätzlich andere Qualität haben als die fe-
ministischer Autorinnen wie Zalewski oder Massotto.
Als externe Kritik interessant ist Robert O. Keohanes Ausein-
andersetzung mit feministischen Ansätzen der Internationalen Be-
ziehungen, weil er nach Anschlussmöglichkeiten des Feminismus
an Mainstream-Ansätze der Internationalen Beziehungen sucht.
Dabei gibt es Stimmen, die dieses Vorgehen aus einer feministi-
schen Perspektive als Vereinnahmung ablehnen. Tatsächlich geht
Keohanes Empfehlung, den von ihm selbst vertretenen neolibera-
len Institutionalismus (vgl. Bernhard Zangl und Manuela Spindler
in diesem Band) mit dem standpoint feminism zu verknüpfen, mit
einer sehr pauschalen Kritik an feministischen Ansätzen postmo-
derner Prägung einher (vgl. Weber 1994). Mit seinem Interesse an
den Bedingungen und Möglichkeiten für die Kooperation von
Staaten in internationalen Regimen gehört Keohane zwar, wie
auch die Vertreter postmoderner und feministischer Ansätze, zu
den Kritikern des Neorealismus. Das postmoderne Projekt einer
Dekonstruktion moderner Subjektivität, das auch Sylvester ver-
folgt, lehnt er jedoch rundweg ab:
“It seems to me that this postmodernist project is a dead-end in the
study of international relations – and that it would be disastrous for
feminist international relations to pursue this path. I (...) object to the
notion that we should happily accept the existence of multiple incom-
mensurable epistemologies, each equally valid. Such a view seems to
me to lead away from our knowledge of the external world, and ulti-
mately to a sort of nihilism” (Keohane 1989: 249).
Anknüpfungsmöglichkeiten sieht Keohane dagegen zwischen stand-
point feminism und institutionentheoretischer Perspektive. Er greift
die feministische Kritik an den „gendered concepts“ des Neorealis-
mus auf und stellt Gemeinsamkeiten mit der Regimetheorie fest.
Im Mittelpunkt steht der Machtbegriff von Realismus und Neo-
realismus, der Macht als Kontrolle definiert. Neuere, vor allem in-
544 Barbara Finke
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stitutionentheoretische Ansätze der Internationalen Beziehungen


betonen dagegen den relationalen Charakter von Macht (Keohane
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1989: 246). Die Regimetheorie ist an den Bedingungen und Mög-


lichkeiten zwischenstaatlicher Kooperation in internationalen Re-
gimen interessiert. Entsprechend arbeitet sie mit einem Konzept, in
dem Macht als „ability to act in concert“ definiert wird. Dieses,
wie Keohane meint, „weibliche“ Machtkonzept stelle eine wichti-
ge Verbindung zwischen Institutionentheorie und standpoint femi-
nism her und lenke das Erkenntnisinteresse der Internationalen
Beziehungen auf Politikfelder jenseits der (männlich dominierten)
Sicherheitspolitik, in denen Kooperation notwendig und möglich
ist: „Emphasising power as the ability to act in concert would call
attention to areas of world politics in which human beings seek to
collaborate to cope with collective problems, such as those arising
from ecological and economic interdependence“ (Keohane 1989:
246).
Ähnlich argumentiert Keohane im Hinblick auf die im Neorea-
lismus ebenfalls männlich konnotierten Konzepte staatlicher Sou-
veränität und Reziprozität. Reziprozität ist ein wichtiger Bestand-
teil des modernen Souveränitätsbegriffs und beruht im Neorealis-
mus auf einem rationalistischen Handlungsmodell, das nach dem
Prinzip „wie du mir so ich dir“ („tit-for-tat“) funktioniert. Obwohl
die Regimetheorie das rationalistische Handlungsmodell nicht ab-
lehnt, untersucht sie neben rationalen Nutzenabwägungen auch die
Wirkung von Normen und diffusen Sozialisationsprozessen in den
Internationalen Beziehungen. Für die Erklärung dieser Prozesse,
meint Keohane, könne eine weibliche Neuformulierung staatlicher
Reziprozität hilfreich sein, die die Bedeutung von Empathie und ge-
genseitiger Verpflichtung im Verhältnis der Staaten untereinander
betont.
Wie der standpoint feminism nimmt also auch Keohane an, dass
das rationalistische Modell vom Staat als egoistischem Nutzenma-
ximierer männlich konnotiert ist, während Kooperation auf der
Grundlage von Empathie als weibliches Handlungsmodell be-
trachtet wird (Keohane 1989: 247). Keohane argumentiert mit der
natürlichen Gegensätzlichkeit männlicher und weiblicher Hand-
lungsorientierungen, der viele neuere feministische Ansätze in
Anlehnung an den Postmodernismus abwehrend gegenüber stehen.
Aber auch Sylvester als Vertreterin eines postmodernen Feminis-
Feministische Ansätze 545
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mus verfällt dem inhärenten Reiz dieser Argumentation und baut


mit ihrer Methode der einfühlenden Kooperation auf der Annahme
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auf, dass Kooperation und Empathie typisch weibliche Hand-


lungsmaximen sind. Für Keohane selbst ist das Nebeneinander ei-
nes männlichen und eines weiblichen Handlungsmodells kein
theoretisches Problem. Es ist – im Gegenteil – Teil seiner Vor-
stellung von der Wirklichkeit internationaler Politik: Die Relevanz
des standpoint feminism für die Internationalen Beziehungen er-
gibt sich, so Keohane, weil beide Handlungsmodelle für die Ana-
lyse der Bewegungsmechanismen internationaler Politik von Be-
deutung sind (vgl. Keohane 1989: 250). Die implizite Vorstellung
von „typisch“ weiblichen bzw. männlichen Handlungsorientierun-
gen scheint sowohl in feministischen als auch in Mainstream-
Theorieansätzen der Internationalen Beziehungen weit verbreitet
zu sein, so dass sie zu einem wichtigen Bezugspunkt sowohl femi-
nistischer Theoriebildung als auch der internen und externen Kri-
tik feministischer Ansätze in den Internationalen Beziehungen ge-
worden ist. Zwar lehnen postmoderne feministische Theorieansät-
ze diese Denkstrukturen ab, doch gelingt es auch ihnen nicht im-
mer, sich von den „modernen“ Kategorien binären Denkens zu lö-
sen.
Die Ausführungen in diesem Beitrag haben gezeigt, dass es die
feministische Theorie der Internationalen Beziehungen ebenso
wenig gibt, wie der Feminismus als einheitliches politisch-gesell-
schaftliches Phänomen existiert (Krell 2009: 322). So wird auch
von feministischer Seite immer wieder betont, dass eigentlich von
„Feminismen“ im Plural gesprochen werden müsse (Whitworth
2008: 392). Eine Entwicklung, die der postmoderne Feminismus
von Christine Sylvester zeigt, ist die Verknüpfung einer feministi-
schen Perspektive mit anderen Theorieansätzen der Internationalen
Beziehungen seit den 1990er Jahren. Als Belege für einen solchen
Trend können auch die Veröffentlichungen von Sandra Whitworth
(1994, 2004, 2008) oder von Tordis Batscheider (1993) gewertet
werden. Whitworth verbindet einen neo-gramscianischen Ansatz,
wie ihn Robert Cox in den Internationalen Beziehungen vertritt
(vgl. den Beitrag von Andreas Bieler in diesem Band), mit einer
feministischen Perspektive. Batscheider untersucht die Bedeutung
des Geschlechterverhältnisses für eine kritische Friedensfor-
schung, die sich auf die Kritische Theorie in der Tradition der
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Frankfurter Schule stützt. Trotz der Vielfalt feministischer Ansätze


sind gemeinsame Fragestellungen und ein gemeinsames Anliegen
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erkennbar: Ausgrenzung, Benachteiligung und Unterdrückung von


Frauen in der internationalen Politik zu überwinden. Dabei handelt
es sich zunächst um das normative Interesse feministischer Ansät-
ze an der Aufdeckung und Aufhebung geschlechtsspezifischer
Ungleichheit. Hierzu gehört vor allem die Frage nach der Bedeu-
tung des Geschlechterverhältnisses für die (internationale) Politik,
die sich wiederum auf die Frage nach der Existenz und nach dem
Ursprung „typisch“ weiblicher bzw. männlicher Handlungsorien-
tierungen zurückführen lässt. Diese Frage wird, je nach Ausrich-
tung des feministischen Blickwinkels, unterschiedlich beantwortet.
Trotzdem spielt Gender als Konzept inzwischen für die meisten
feministischen Theorieansätze (nicht nur der Internationalen Be-
ziehungen) eine wichtige Rolle. Die Vereinnahmung des Geschlech-
terkonzepts durch das „gender mainstreaming“ internationaler Bü-
rokratien illustriert, dass die Geschlechterforschung auch jenseits
der feministischen Theorie und Empirie in den internationalen Be-
ziehungen wirksam ist.

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Kritische Geopolitik
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Mathias Albert, Paul Reuber und


Günter Wolkersdorfer

1. Einleitung
Die Verwendung geopolitischer Analysekategorien, ja die Ver-
wendung des Wortes „Geopolitik“ an sich, erschien in der noch
relativ jungen Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen,
insbesondere im deutschen Sprachraum, lange Zeit eine Art Tabu-
thema darzustellen. Die ausdrückliche Nichtbeachtung der „Geo-
politik“ als eine im späten 19. und in den ersten Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts durchaus etablierte Denkrichtung liegt dabei we-
niger im „objektiven“ Status begründet, den die Autoren der „klas-
sischen“ Geopolitik – in Deutschland vornehmlich Friedrich Rat-
zel und Karl Haushofer – geographischen Gegebenheiten für die
Funktionsweise internationaler Politik zusprechen, sondern allem
voran in der – durch diese Theorieanlage freilich begünstigten –
Adaption geopolitischen Denkens in der Raumideologie der Na-
tionalsozialisten. Erst seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lässt
sich beobachten, dass in der Politischen Geographie sowie in den
Internationalen Beziehungen Fragen der Geopolitik wieder eine
zunehmende Aufmerksamkeit erlangen. Dies gilt sowohl für den
Bereich der so genannten „kritischen Geopolitik“, in welchem die
objektivierenden Raumvorstellungen der klassischen Politik in
Frage gestellt und Prozesse sozialer Raumkonstruktion in den
Vordergrund gerückt werden, als auch für eine eher restaurative
Wiederaufnahme klassischer geopolitischer Denkkategorien zur
Analyse von Strukturbildungen im internationalen System.
Bislang berücksichtigt die Mehrzahl der Theorien Internationa-
ler Beziehungen Raum als staatliches Territorium. Erst in Folge
der Herausbildung „kritischer“ Theorieansätze seit den späten
1980er und frühen 1990er Jahren sowie im Zuge der Diskussionen
um den Globalisierungsprozess rückte die Kontingenz von Territo-
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Kritische Geopolitik
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Mathias Albert, Paul Reuber und


Günter Wolkersdorfer

1. Einleitung
Die Verwendung geopolitischer Analysekategorien, ja die Ver-
wendung des Wortes „Geopolitik“ an sich, erschien in der noch
relativ jungen Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen,
insbesondere im deutschen Sprachraum, lange Zeit eine Art Tabu-
thema darzustellen. Die ausdrückliche Nichtbeachtung der „Geo-
politik“ als eine im späten 19. und in den ersten Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts durchaus etablierte Denkrichtung liegt dabei we-
niger im „objektiven“ Status begründet, den die Autoren der „klas-
sischen“ Geopolitik – in Deutschland vornehmlich Friedrich Rat-
zel und Karl Haushofer – geographischen Gegebenheiten für die
Funktionsweise internationaler Politik zusprechen, sondern allem
voran in der – durch diese Theorieanlage freilich begünstigten –
Adaption geopolitischen Denkens in der Raumideologie der Na-
tionalsozialisten. Erst seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lässt
sich beobachten, dass in der Politischen Geographie sowie in den
Internationalen Beziehungen Fragen der Geopolitik wieder eine
zunehmende Aufmerksamkeit erlangen. Dies gilt sowohl für den
Bereich der so genannten „kritischen Geopolitik“, in welchem die
objektivierenden Raumvorstellungen der klassischen Politik in
Frage gestellt und Prozesse sozialer Raumkonstruktion in den
Vordergrund gerückt werden, als auch für eine eher restaurative
Wiederaufnahme klassischer geopolitischer Denkkategorien zur
Analyse von Strukturbildungen im internationalen System.
Bislang berücksichtigt die Mehrzahl der Theorien Internationa-
ler Beziehungen Raum als staatliches Territorium. Erst in Folge
der Herausbildung „kritischer“ Theorieansätze seit den späten
1980er und frühen 1990er Jahren sowie im Zuge der Diskussionen
um den Globalisierungsprozess rückte die Kontingenz von Territo-
552 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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rialität als eine von vielen möglichen Konstruktions- und Gestal-


tungsformen sozialen und politischen Raumes ins Blickfeld der
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Aufmerksamkeit verschiedener Ansätze.


Relativ nahtlos an eine „klassische“ geopolitische Sichtweise an-
knüpfend, versteht der politische Realismus die Kontrolle über das
Territorium sowie dessen mit seinen physisch-geographischen Attri-
buten verbundene (geo-)strategische Lage als eine wichtige Macht-
ressource eines Staates. Im Spiel des Gleichgewichts der Mächte
stellt die über die Bildung von Allianzen bzw. durch Eroberung er-
reichte Kontrolle über Territorien einen zentralen Faktor dar. Erst
mit John H. Herz’ (1957) berühmter These vom „Ende des Territori-
alstaats“ in Folge der Herausbildung eines globalen Systems nuklea-
rer Abschreckung verliert die staatliche Kontrolle über das Territori-
um auch im realistischen Denken wenigstens teilweise an Bedeu-
tung, bleibt aber ein wichtiger Faktor in der Wahrnehmung globaler
Konfliktstrukturen unterhalb des nuklearen „Gleichgewichts des
Schreckens“ (Stichwort: „Dominotheorie“; vgl. hierzu auch den
Beitrag von Andreas Jacobs in diesem Band).
Mit der Weiterentwicklung des politischen Realismus zum
strukturellen oder Neorealismus bleibt ein solcher Raumbezug
zwar erhalten, durch die Betonung des internationalen Systems als
vorrangige Analyseebene tritt er jedoch wenigstens theoretisch
weiter in den Hintergrund (vgl. den Beitrag von Niklas Schörnig
in diesem Band). Die Kontrolle über ein Territorium bleibt in Be-
zug auf die Verteilung von Machtressourcen zwischen den Ein-
heiten des internationalen Systems relevant, wirkt sich aber nicht
auf Systemstruktur und Systemdifferenzierung aus.
Scheinbar zunehmend ohne einen Raumbezug kommt das breite
Spektrum der institutionalistischen Ansätze aus. Die interdepen-
denz- und regimetheoretischen Analysen der Internationalen Be-
ziehungen stellen vorrangig auf die Bedingungen des Entstehens
funktionsspezifischer Kooperation im internationalen System unter
Abwesenheit der Stabilitätsgarantie eines Hegemons ab (vgl. auch
die Beiträge von Manuela Spindler und Bernhard Zangl in diesem
Band). Durch die Fokussierung auf die zumindest partielle Zäh-
mung – wenn auch nicht Überwindung – der Anarchie im interna-
tionalen System wird die Bedeutung klassischer Machtressourcen
relativiert, die Bedeutung von Territorialität wird kaum noch the-
matisiert. Sie schwingt nur insofern im Hintergrund weiter mit, als
Kritische Geopolitik 553
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institutionalistische Ansätze das realistische Grundmuster unan-


getastet lassen, welches das internationale System als ein auf sou-
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veräne Territorialstaaten gegründetes versteht. Erst in Folge des


Endes des Ost-West-Konflikts sowie der empirischen wie theoreti-
schen Auseinandersetzung mit Prozessen von Denationalisierung
und Globalisierung, die zu einem qualitativen Wandel des interna-
tionalen Systems selbst führten (etwa durch die zunehmende Be-
deutung nichtstaatlicher Akteure), erlangte die Dimension der Ter-
ritorialität wieder neue Aufmerksamkeit (vgl. Brock/Albert 1995).
Die „Staatenwelt“ verliert gegenüber der „Gesellschaftswelt“ an
Bedeutung (Czempiel 1991). Es vollziehen sich „Entgrenzungs-
prozesse“, wobei „Entgrenzung“ insbesondere meint, dass Territo-
rialität für politische Prozesse an strukturierender Wirkung ver-
liert. Insofern sich Strukturen einer (teils von privaten Akteuren
getragenen) „global governance“ herausbilden, in denen die Staa-
ten weiterhin eine wichtige Rolle spielen, scheint es bei der Her-
ausbildung eines „post-westfälischen“ Systems jedoch mitnichten
um einen vollkommenen Bedeutungsverlust, sondern um einen Be-
deutungswandel von Territorialität für die (internationale) Politik
zu gehen. Mit dieser Einsicht ist gleichzeitig die endgültige Ab-
kehr von einer objektivistischen Raumvorstellung verknüpft, die
die territoriale Form von Staatlichkeit als gleichsam naturgegebe-
nes Faktum annimmt. Wegweisend hat in diesem Sinne John G.
Ruggie (1993) in seinem vielbeachteten Aufsatz „Territoriality and
beyond“ auf den Status von Territorialität als epistemisches und
soziales Konstrukt hingewiesen. In gewisser Hinsicht hatte damit
auch der Mainstream des Faches an die bis dato eher in erkennt-
niskritischer Absicht vorgetragenen post-positivistischen und post-
modernen Kritiken angeschlossen. Diese hatten, zum Teil anknüp-
fend an Beiträge aus Geographie und Stadtsoziologie, bereits auf
die spezifisch modernen Formen der Repräsentation von Raum
hingewiesen, die insbesondere den realistisch begründeten Vor-
stellungen eines konstitutiv territorial differenzierten internationa-
len Systems zugrunde liegen.
Etwas zugespitzt und dabei grob vereinfachend könnte man sa-
gen, dass sich in Folge der internen Theorieentwicklung auf der
einen sowie der beobachteten Umwälzungen im globalen System
auf der anderen Seite (Ende des Ost-West-Konflikts, Globalisie-
rungsprozesse) die „Raumvergessenheit“ im Fach Internationale
554 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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Beziehungen seit den frühen 1990er Jahren zunehmend verflüch-


tigt hat. Die Einsicht in die Konstruiertheit von Territorialität als
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räumlichem Wahrnehmungs- und Strukturierungsmuster der inter-


nationalen Beziehungen hat im Fach den Diskurs über den Raum
jedoch lediglich angeschoben. Die Art und Weise, in welcher die
Raumdimension in gegenwärtigen Analysen des internationalen
Systems thematisiert und nutzbar gemacht wird, variiert erheblich
und reicht von Deterritorialisierungsthesen verschiedener Proveni-
enz (vgl. Newman 1999) bis hin zum Gebrauch klassischer geo-
politischer Denkkategorien (vgl. Gray/Sloan 1999). Zwischen die-
sen beiden Polen eröffnet sich jedoch ebenfalls ein breites Spek-
trum analytischer Möglichkeiten, von denen am ehesten zu erwar-
ten ist, dass sie einen substanziellen Beitrag zur Neuvermessung
des internationalen Systems als einem auch räumlich konstituier-
ten zu leisten imstande sind. Es geht hierbei, vereinfachend ge-
sprochen, um die vielfältigen Versuche, die Form neu entstehen-
der, strukturell wie epistemologisch wirkungsmächtiger Reprä-
sentationen und Konstruktionen von Raum im globalen Kontext zu
bestimmen. Die entsprechenden Bemühungen reichen dabei von
Versuchen einer theoretischen Neubestimmung des Konzeptes des
„politischen Raumes“ auf globaler Ebene (vgl. Walker 1993) bis
hin zu konzeptionellen wie empirischen Bestimmungen einer neu-
en „Regionalität“ in einem globalen Raum (vgl. Joenniemi 1997).
Diese Bemühungen greifen dabei zunehmend Überlegungen aus
der politischen Geographie und insbesondere der „kritischen Geo-
politik“ auf. Die Entstehungsgeschichte dieser kritischen Geopoli-
tik in Auseinandersetzung mit der „klassischen“ Geopolitik des
späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist darüber hinaus insofern
besonders instruktiv, als sie den oben geschilderten Wandel des
Raumbezuges in den Theorien der internationalen Beziehungen
systematisch reflektiert und nachvollzieht. Insofern lassen sich aus
dem Verständnis von Entstehung und Inhalten einer „kritischen
Geopolitik“ eine Reihe von Anhaltspunkten für eine konzeptionell
wie empirisch gehaltvolle Bestimmung der räumlichen Dimension
des globalen Systems der Gegenwart gewinnen.
Für die Untersuchung des Strukturwandels in den internationa-
len Beziehungen, der heute vor allem auch als Umbruch im „west-
fälischen System“ souveräner Territorialstaaten diskutiert wird, er-
scheint es daher als unabdingbar, sich näher mit der Bedeutung
Kritische Geopolitik 555
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von „Raum“ als Strukturierungs-, Wahrnehmungs- und Konstruk-


tionsmuster des internationalen Systems auseinanderzusetzen. Nun
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lässt sich, wie bereits eingangs konstatiert, für die Internationalen


Beziehungen zwar feststellen, dass diese ihre lang anhaltende
„Raumblindheit“ zunehmend ablegen und sich dieser Prozess ana-
log zu und in Verknüpfung mit der Forschung in der politischen
Geographie in Form einer Differenzierung zwischen „klassischen“
und „kritischen“ Ansätzen vollzieht. Aber wenngleich im Fach zu-
nehmend Einigkeit darüber besteht, dass der Raumdimension in
der Analyse internationaler Beziehungen eine wichtige Rolle zu-
kommen sollte, so bestehen hinsichtlich der Art und des Umfanges
dieser Rolle doch weiterhin erhebliche, theoretisch begründete
Meinungsunterschiede. Das vorliegende Kapitel möchte hier eine
Hilfestellung zur Meinungsbildung an die Hand geben, indem es
die Möglichkeiten der Berücksichtigung des Raumes in der Kon-
zeptualisierung des internationalen Systems und in der Untersu-
chung globalen Strukturwandels systematisch auf die unterschied-
lichen Konzepte (kritischer) Geopolitik bezieht, welche in der po-
litischen Geographie diskutiert werden. Da es aufgrund dieses
Umstandes nicht gerechtfertigt erscheint, die „Geopolitik“ und ih-
ren Einfluss auf die bzw. ihre Verwendbarkeit im Rahmen der In-
ternationalen Beziehungen exemplarisch anhand der Arbeit eines
Referenztheoretikers zu illustrieren, wählt der vorliegende Beitrag
eine eher systematische denn personenbezogene Darstellungswei-
se. Falls ein Referenztheoretiker genannt werden kann, so ist dies
Gearóid Ó Tuathail für den mittlerweile jedoch ebenfalls stark
ausdifferenzierten Ansatz der Critical Geopolitics. Im nächsten
Abschnitt erfolgt ein Überblick über die Kernthesen der „klassi-
schen“ sowie der „kritischen“ Geopolitik. Anschließend werden
die verschiedenen geopolitischen Denkmuster auf die Internatio-
nalen Beziehungen rückbezogen und hinsichtlich ihres Ertrages
für die Untersuchung des internationalen Systems befragt. Das Ka-
pitel schließt mit einigen kritischen Anmerkungen zur kritischen
Geopolitik.
556 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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2. Klassische und Kritische Geopolitik


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2.1 Zur Geschichte der Geopolitik


Die klassische Geopolitik entwickelte sich am Ende des 19. Jahr-
hunderts zu ihrer vollen Blüte. Als wissenschaftliche Unterstüt-
zung für Imperialismus und Flottenpolitik fielen ihr konkrete ho-
heitliche Aufgaben zu. In der Folge wurde der Erdraum aufgeteilt,
erobert und vermessen. Die Quantifizierung der Welt entlang ex-
akter Raumeinheiten (z.B. Breiten- und Längengrade) war nur
möglich durch die Sicht der Welt „(...) as a differentiated, integra-
ted, hierarchically ordered whole“ (Gregory 1994: 36). Die geo-
politische Konstituierung erfolgte durch die Dichotomisierung die-
ses Raumes. Jedes Ende dieses dichotomen Modells konstruierte
sich darüber, was es im Gegensatz zum anderen nicht war: West
gegen Ost, Nord gegen Süd, Morgenland gegen Abendland und
Seereich gegen Kontinentalreich bezeichnen nur einen kleinen
Ausschnitt dieser geopolitischen Dichotomisierung.
Der Antagonismus zwischen Meer und Land, zwischen See-
macht und Kontinentalreich führte zum ersten einflussreichen Ar-
gumentationsstrang der Geopolitik, zur Heartland-These Mackin-
ders. Die vom britischen Geographen und Geopolitiker Halford J.
Mackinder (1904) vor der Royal Geographical Society vorgestellte
Machtdichotomie teilte die Nationen der Welt in Staaten des See-
besitzes und Staaten des Landbesitzes. Dieser Ansatz lieferte die
Grundlage für viele bis heute gültige geopolitische Modelle, in de-
ren Konstruktion der Dualismus zwischen Land und Ozean die
zentrale Diskursfigur bildet. Machtpolitisch virulent werden die
von ihm vorgenommenen Konkretisierungen in der damaligen La-
gekonstellation der Nationalstaaten. Russland stellt hier das klassi-
sche Machtzentrum des Kontinentalreiches, das so genannte Herz-
land (Pivot Area) ohne direkten Zugang zur See dar. Darum dra-
piert findet sich ein Saum von Gebieten, die Zugänge zu den
Weltmeeren haben. Sie zeichnen sich durch eine konflikthafte
Zwitterstellung des gleichermaßen ozeanischen und kontinentalen
Einflusses aus. Um diesen Saum herum ist die restliche Welt an-
geordnet. Die äußeren Gebiete Japan, Großbritannien und die Ver-
einigten Staaten sind – so Mackinder – rein ozeanisch geprägt.
Das Machtgleichgewicht (Balance of Power) bzw. die Machtver-
Kritische Geopolitik 557
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schiebungen innerhalb dieser dualen Weltstruktur sind für ihn


Triebfeder jeglicher Entwicklung, wobei die Austragung der Kon-
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flikte in der Übergangs- bzw. Saumzone stattfindet.


Anders gelagert als Mackinders Thesen ist die Argumentation
der Deutschen Geopolitik, die sich einbettet in die Sonderstellung
des Deutschen Reiches.1 In dem nationalistisch orientierten geisti-
gen Klima entwickelten die deutschen Protagonisten der Geopoli-
tik, Friedrich Ratzel und Karl Haushofer, ihre Ideen. Folglich war
der Weg von ihren geopolitischen Entwürfen zu Hitlers Lebens-
raumpolitik nicht sehr weit.

Ratzels Modell des Staates als Organismus

Das grundsätzlich Neue an Ratzels Politischer Geographie gegen-


über der eher statischen Konzeption Mackinders bestand in der
Dynamisierung des Modells der natürlichen Abhängigkeit der
Staaten im Rückgriff auf die seinerzeit weit verbreiteten Thesen
der biologistischen Auslese Darwins. Ratzel, der von der Zoologie
zur Geographie gekommen war, baute seine Politische Geographie
auf einem durchgängig naturwissenschaftlichen Weltbild auf. Des-
halb ist seine Konstruktion des Raum-/Politikverhältnisses durch
die physischen Grundlagen des Staates bestimmt, während Gesell-
schaften, Kultur und Wirtschaft in ihren Auswirkungen auf den
Staatsraum kaum behandelt werden. Ein weiterer, ebenfalls der
darwinistischen Lehre entlehnter Fixpunkt seiner Arbeit findet
sich in der biologistischen Analogie des Staates als „bodenständi-
gem Organismus”. Der Staat ist dabei mit den Eigenschaften eines
Lebewesens, eines Organismus ausgestattet, der nur dann Gesund-
heit und Stärke ausstrahlt, wenn er zu beständigem Wachstum, das
heißt zur ständigen Territorialexpansion fähig ist. Entsprechend
sieht Ratzel in der historischen Bewegung und Gegenbewegung
der Völker und Staaten den Kern politisch-geographischer Be-

1 Die historische Besonderheit ist als „Deutscher Sonderweg“ breit besprochen:


„Deutsches Denken und deutsches Empfinden äußert sich zunächst einmal in
der einmütigen Ablehnung all dessen, was auch nur von ferne englischem oder
insgesamt westeuropäischem Denken und Empfinden nahe kommt“ (Sombart,
zit. nach Sprengel 1996: 162). Die darin implizierte Negativbeschreibung galt
dem Liberalismus, Positivismus und Subjektivismus, dem die Idee der Gemein-
schaft, Ganzheit und des Organismus entgegengestellt wurde.
558 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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trachtung: Diese Politische Geographie legitimiert entsprechend


der darwinistischen Grundthese jeden Imperialismus und Expan-
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sionismus, solange er nur geographisch bedingt ist. Gründe für


Wachstums- und Schrumpfungsprozesse der einzelnen Staaten sieht
Ratzel dann in der Kulturstufe des jeweiligen Volkes sowie im
natürlichen Potenzial des von ihm beherrschten Raumes. Dem nie
ruhenden Raumbedürfnis des Lebens steht bei ihm der begrenzte
Raum der Erdoberfläche entgegen. Aus diesem „Widerspruch“ er-
gibt sich für ihn „auf der ganzen Erde“ ein Kampf von „Leben mit
Leben um Raum“ (Ratzel 1901: 153). Wiederholt stellt Ratzel da-
mit einen engen Zusammenhang zwischen „wachsendem Volk“
und „wachsendem Raum“ her und konkretisiert diesen Anspruch
dann bezogen auf das Deutsche Reich im Vorfeld des Ersten Welt-
krieges:
„Wohin wir sehen, wird also Raum gewonnen und Raum verloren.
Rückgang und Fortschritt an allen Enden; es wird immer herrschende
und dienende Völker geben. Auch die Völker müssen Amboss und
Hammer sein. Keinesfalls darf Deutschland sich auf Europa beschrän-
ken; unter Weltmächten kann es nur als Weltmacht hoffen, seinem
Volk den Boden zu sichern, den es zum Wachstum nötig hat“ (Ratzel
1906: 377).
Ratzel liefert so mit wissenschaftlich reputierten Argumenten die
politisch-geographische Basis für die Kolonien- und Flottenpolitik
des Deutschen Kaiserreiches. Die hier vollzogene Verbindung von
Politik und Wissenschaft führte auch nach dem Ersten Weltkrieg
zu einem schnellen Ausbau der Politischen Geographie an den
Hochschulen. Letztlich gab Ratzel mit der Dynamisierung seiner
Politischen Geographie durch das „Gesetz der wachsenden Räu-
me“ auch den entscheidenden Impuls zur Entstehung der Lebens-
raumideologie. „Ratzels Theorie war somit nicht nur anschlussfä-
hig an das klassische Konzept der Geographie, sondern auch an
die Lebensraumideologie des Dritten Reiches. Die Umorientierung
auf die Rasse als die entscheidende Macht der Geschichte ist bei
ihm selbst schon angelegt“ (Schultz 1998: 217).
Der eigentliche Begriff „Geopolitik“ für solche Argumentations-
muster wurde erstmals im Jahre 1905 von dem schwedischen Poli-
tikwissenschaftler Rudolf Kjellén verwendet. Seine Konzepte fußen
aber bereits auf Überlegungen Ratzels und etablieren auf dieser Ba-
sis den bis heute gültigen Kernbegriff des geopolitischen Diskurses.
Kritische Geopolitik 559
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Karl Haushofer und die Geopolitik


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Den entscheidenden Schritt der Instrumentalisierung der Geopoli-


tik für die nationalsozialistische Ideologie vollzog dann Karl
Haushofer, Professor für Geographie in München (vgl. Haushofer
u.a. 1928). Dass seine Gedanken einen so entscheidenden Einfluss
auf Hitlers Konzepte haben konnten, wird von Historikern in ers-
ter Linie seinen biographischen Verknüpfungen zugeschrieben.
Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung von Hitlers Le-
bensraumkonzept dürfte die Vermittlung von Haushofers Schüler
Rudolf Hess gewesen sein. Haushofer hatte Hess nach dem ge-
scheiterten Putsch 1923 in München für einige Monate bei sich
versteckt, und über den intensiven Austausch zwischen Hess und
seinem Mentor Haushofer floss dessen geopolitisches Weltbild in
die Ideologie des Nationalsozialismus ein. In der Festungshaft in
Landsberg, in die Hitler und Hess verbannt worden waren, ent-
stand daraufhin die Grundlage des Nationalsozialismus: der Füh-
rermythos und die Lebensraumforderung, zu Papier gebracht in
Mein Kampf. Dass Haushofer im nationalsozialistischen Machtap-
parat nicht augenfälliger in Erscheinung trat, liegt nach Hippler
(1996) auch in dessen Selbstsicht. Seine eigene Rolle sah Hausho-
fer als idealer „Hintergrundspieler“, als „Graue Eminenz“ (Hippler
1996: 79ff., 177).
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Haushofers
Rolle und Einfluss in der deutschen und angloamerikanischen Re-
zeption und Rekonstruktion sehr unterschiedlich wahrgenommen.
Während im deutschsprachigen Raum die historische Verstrickung
der Geographie fast allein über die Person Haushofers ‚abgewi-
ckelt‘ wurde, entstand aus dem Mythos des Geopolitischen Insti-
tuts und seines Direktors Haushofer ein Teil der amerikanischen
Geopolitik der Nachkriegszeit. Hier galt Haushofer als „scientific
brain behind Hitler“. Seine diskursive Überhöhung führte bis nach
Hollywood, wo Haushofer und sein Geopolitisches Institut in ei-
nem amerikanischen Propagandafilm als Schaltzentrale des Natio-
nalsozialismus betrachtet werden. Wie Ó Tuathail in seinen Criti-
cal Geopolitics darlegt, geht die Überzeugung, dass „(...) geopoli-
tics was something America has to know“ (Ó Tuathail 1996: 113)
auf Haushofer und sein imaginäres Geopolitisches Institut in Mün-
chen zurück. Dagegen führte die Politische Geographie in Deutsch-
560 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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land aufgrund der historisch belastenden Verfälschungen der Geo-


politik bis zum Beginn der 1990er Jahre ein Schattendasein.
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Bis heute ist als Erbe der klassischen Geopolitik auch in vielen
neueren Ansätzen das Schaffen von Differenz über territoriale
Metaphern ein wesentlicher Bestandteil geblieben (vgl. Tabelle 1).
Dabei werden immer wieder über eine dichotomisierende geopoli-
tische Rhetorik zukünftige territoriale Ordnungsvorstellungen im
Diskurs produziert. Dies führte in der Geographie zu Beginn der
1990er Jahre zu einer konzeptionell tiefer greifenden Kritik und zu
einer neuen und radikalisierten Rekonzeptualisierung von traditio-
nellen Konzepten, Denkfiguren und Gedankenmustern, welche die
Analyse von Geopolitik für fast ein Jahrhundert geprägt haben: zur
Schule der Critical Geopolitics.

Tabelle 1: Klassische Geopolitik


Geopolitische Ordnung: Geopolitischer Diskurs:
Geopolitische Hegemonialordnung Geopolitik als harmonisch-statisches Volk-
durch das Vereinigte Königreich, 1815- Raum Gefüge
1875 (Herder)
Zwischenstaatliche Auseinandersetzungen Geopolitik als dynamisierter ‚natürlicher‘
in der Phase des Imperialismus, 1875- Kampf um Lebensraum
1945 (Ratzel, Haushofer)
Geopolitische Ordnung des Kalten Krie- Geopolitik als Ideologie, Realpolitik
ges, 1945-1990 (Kissinger, Waltz)
Transnationaler Liberalismus, Ökologi- Diversifizierte geopolitische Diskurse
scher Kollaps, Kampf der Kulturen (Fukuyama, Kaplan, Huntington, Brzezin-
1990-? ski)
Quelle: nach Agnew 1998, Ó Tuathail 1996, Schultz 1998, Wolkersdorfer 2001.

2.2 Die Konzeption der Critical Geopolitics

Die klassische Geopolitik untersuchte mit ihrem staatsorganizisti-


schen Ansatz im Rückgriff auf vermeintlich „objektive“ räumliche
Kriterien die „natürlichen“ Stärken und Schwächen von National-
staaten. Aus den Zwängen solcher deterministischer Lageargu-
mentationen leitete sie politische Handlungsempfehlungen ab. Die
Schule der Critical Geopolitics distanziert sich von solchen tradi-
tionellen Konzepten, die „nah am Realgeschehen“ argumentieren
(Fiedler 2000: 7). Stattdessen vollzieht sie eine radikale Wende
Kritische Geopolitik 561
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und macht diese selbst zu ihrem Forschungsgegenstand: „Geopo-


litics, for us, engages the geographical representations and prac-
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tices that produce the spaces of the world“ (Ó Tuathail/Dalby


1998: 2). Die Critical Geopolitics setzen sich mit den Entstehungs-
zusammenhängen geopolitischer Argumentationen und Weltbilder
auseinander.
Ihre zentrale Fragestellung lautet entsprechend, wie im Diskurs
der Akteure geopolitische Weltbilder sprachlich konstruiert wer-
den, wie in Form geographischer Regionalisierungen und Abgren-
zungen neue politische Räume entworfen werden und wie diese
diskursiven Konzepte dann in der politischen Arena ihre Wirk-
samkeit entfalten. Die Critical Geopolitics zeigen dabei, wie poli-
tische Akteure ihre territorialpolitischen Interessen mit Mitteln der
geopolitischen Argumentation, mit einer geographischen Zusam-
menhangs- und Trennungs-Rhetorik absichern, um deren vermeint-
liche Schlüssigkeit und Richtigkeit zu „beweisen“.
Indem die Critical Geopolitics ihr Forschungsinteresse auf die
sprachliche (und kartographische) Produktion von Raum richten,
folgen sie grundsätzlich einer Leitlinie, die von Saids „Orienta-
lism“ (1978) angestoßen und von Gregory mit seinen „Geogra-
phical Imaginations“ (1994) für die Kulturgeographie geopolitisch
reformuliert und präzisiert worden ist: Geopolitische Konstruktio-
nen einschließlich ihrer kartographischen Repräsentationen sind
keine objektiven Entitäten, sondern immer aus einseitigem Blick-
winkel heraus konstruierte und zu politischen Zwecken verbreitete
Regionalisierungen. Sie sind aktive Formen von Geopolitik (siehe
auch Albert/Reuber 2007).
Für eine solche Forschungsperspektive ist ein veränderter kon-
zeptioneller Blickwinkel notwendig. Wer einen Blick auf die Dif-
ferenzen und das Wirken der unterschiedlichen geopolitischen Dis-
kurse werfen will, braucht eine Meta-Perspektive, die erkenntnis-
theoretisch nicht nur einen größeren Freiraum der Betrachtung
aufspannt, sondern einen anderen Blickwinkel einnimmt. Dazu
war in der politischen Geographie eine paradigmatische Wende
notwendig, basierend auf der Überlegung, dass Geopolitik nicht
von einem politisch und moralisch neutralen Standpunkt aus be-
trieben werden kann:
562 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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“The sign ‘geopolitics’ does not have any essential meaning over and
above the historical web of con-textualities within it is evoked and
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knowingly used. We should not be mesmerized by the deployment and


use of the sign geopolitics but look the more important problematic it
marks. That problematic is the problematic of geo-politics, the politics
of the production of global political space by dominant intellectuals,
institutions, and practitioners of statecraft in practices that constitute
‘global politics’” (Ó Tuathail 1996: 185).
Mit dieser Abkehr von essenzialistischen Konzepten stellt die po-
litische Geographie die geopolitischen Diskurse und die Kon-
struktion von geopolitischen Repräsentationen der politisch Han-
delnden in den Vordergrund. Es gilt, sie im Foucault’schen Sinne
als sprachliche Formationen von Macht und Raum zu interpretie-
ren und entsprechend zu zeigen, in welcher Weise „political elites
have depicted and represented places in their exercise of power“
(Dodds/Sidaway 1994: 515ff). Das Mittel eines solchen Vorge-
hens ist die Dekonstruktion. Diese geht – im Sinne einer konstruk-
tivistischen Ontologie – davon aus, dass Geographie und insbe-
sondere Politische Geographie nicht eine objektive Beschreibung
der Welt sein kann, sondern dass mit geographischen Beschrei-
bungen bestimmte Ordnungsvorstellungen und Machtverhältnisse
(re-)produziert werden. Unvermeidlich und zentral thematisiert der
Forschungsansatz der Critical Geopolitics damit das Verhältnis
von Geographie, Politik und Macht.
Die Critical Geopolitics begreifen im Sinne einer post-struktu-
ralistischen Politischen Geographie geopolitische Leitbilder als
sprachliche Konstruktionen mit geographisch-territorialen Seman-
tiken und Repräsentationsweisen (vgl. Ó Tuathail 1996; Ó Tuathail/
Dalby 1996; Dalby 2003; Dodds/Sidaway 1994; Gregory 1994,
1998 u.a.). Dem linguistic turn2 in den Sozialwissenschaften fol-
gend bilden aus dieser Sicht die divergierenden geopolitischen
Vorstellungen politischer Akteure die Argumentationsmuster, aus
denen neue politische Geographien sprachlich konstruiert werden.
Eine poststrukturalistisch-diskursive Politische Geographie de-
konstruiert die geopolitischen Diskurse und begreift sie als Ele-

2 Hinwendung zu einer sprachphilosophischen Grundkonzeption, die aussagt dass


die Beziehung von Worten und Dingen von den Sprachgemeinschaften festge-
legt werden. Kurz: Sprache ordnet und erschafft die Wirklichkeit. Vgl. u.a.
Rorty 1991.
Kritische Geopolitik 563
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mente des strategischen Handelns von Akteuren. Es geht hier also


nicht darum, zu vorhandenen geopolitischen Leitbildern eine sach-
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lich begründete, vermeintlich „objektivere“ oder gar „bessere“ Ge-


genargumentation aufzubauen (vgl. z.B. die vielen Reaktionen auf
Huntingtons Kulturkampf-Thesen). Die Critical Geopolitics zei-
gen vielmehr von einer Meta-Perspektive aus, wie geographische
Zusammenhangs- und Trennungsargumentationen ebenso wie geo-
politische Leitbilder als sprachliche Konstruktionen aufgebaut und
als diskursive Handlungsstrategien in der politischen Auseinander-
setzung verwendet werden. Innerhalb der Geographie existiert
hierzu ein gutes Beispiel. Das Entwerfen von streng abgegrenzten
Kulturräumen zur Vermittlung in der Schulerdkunde gehörte lange
Zeit zur Grundlage der Disziplin. In den 1960er Jahren entwarf der
Geograph Kolb (1962) eine Theorie der Kulturräume, die nahezu
identisch mit Huntingtons Vorstellungen ist. Kolbs früher Versuch
der Abgrenzung war seinerzeit dezidiert als Friedensgeographie
entworfen worden. Der Ansatz von Huntington setzt dagegen zen-
tral auf das Moment der Abgrenzung und somit ist ihm eine
Kriegsrhetorik immanent. Dass schon vor dreißig Jahren ein fast
deckungsgleiches Modell existierte ist hier nicht das Spannende.
Der entscheidende Punkt ist vielmehr die Tatsache, dass auf der
Basis des gleichen Modells einmal Friedensgeographie und einmal
Kriegsrhetorik betrieben werden kann.
Eine solche Perspektive schärft den Blick für den unvermeid-
lich normativen Charakter geopolitischer Leitbilder. Je mehr dabei
die Relativität und die strategische Rolle politisch-geographischer
Sprachspiele, kartographischer Repräsentationen und von Regio-
nalisierungen deutlich wird, desto weniger können diese – sowohl
im politischen Diskurs selbst als auch bei einer Polarisierung und
Instrumentalisierung der Öffentlichkeit – ihre zuweilen manipula-
tive Rolle in der geopolitischen Auseinandersetzung um Macht
und Raum erfüllen. Jede Form von aktiver Geopolitik erscheint
aus dieser Perspektive als eine Konstruktion, die in einem spezi-
ellen historischen und politischen Kontext entstanden und in die-
sen eingebunden ist. Entsprechend wendet sich die Dekonstruktion
geostrategischer Leitbilder in der derzeitigen wissenschaftlichen
Arena auch gegen die Renaissance stärker traditioneller, manch-
mal nahezu naturdeterministisch argumentierender Vorstellungen,
für die „Geopolitik (...) die Lehre vom Einfluss des geographi-
564 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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schen Raumes auf die Politik eines Staates“ ist (Brill 1994: 21).
Diese positivistische, historisch belastete Form der Geopolitik er-
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hielt in der ersten Hälfte der 1990er Jahre einen gewissen Auf-
wind, nachdem sich „die eiserne Haube des stalinistischen Kom-
munismus gelüftet hat[te]“ (Lacoste 1990: 19). In Abgrenzung da-
zu macht die post-strukturalistische Wende der Politischen Geo-
graphie deutlich, wie schnell ein derartiges Verständnis von Geo-
politik in eine ideologische Sackgasse führen kann, und wie sehr
solche Konzepte selbst nichts anderes sind als ein aktives, norma-
tives „Geopolitik-Machen“ (vgl. ausführlich Lossau 2000; Wol-
kersdorfer 2001). Im „Widerstreit der Diskurse“ (Lyotard 1987)
gibt es konzeptionell gesehen keine „richtigen“ und „falschen“
Sprachspiele. Der Rückgriff auf geographisch-geopolitische Ar-
gumentationen aus dem Bereich „Lage, Territorien und Grenzen“
muss stattdessen aus wissenschaftlicher Perspektive richtiger als
diskursive Strategie der politisch handelnden Akteure verstanden
werden, die der Legitimation und Durchsetzung politischer Ziele
dient.
Auch wenn die Critical Geopolitics mit einer solchen Intention
den Bezug zu einer handlungstheoretisch informierten Sichtweise
nicht verleugnen können, bleibt doch die konstruktivistische, rela-
tionale Ontologie der wesentliche Kern des Konzepts. Darin liegt
auch ein entscheidender Unterschied zu vielen Ansätzen der Poli-
tischen Geographie in der Nachkriegsphase, die im Rückgriff auf
analytisch-szientistische Verfahren nach „objektiven“ Grenzen
suchte, um so die vermeintliche Neutralität der Disziplin und „die
Scheide zwischen wissenschaftlicher Forschung und propagandis-
tischer Anwendung, Tendenz und Prognose“ zu betonen (Boesler
1983). Erst aus dieser Sicht wird der Perspektivenwechsel der
Critical Geopolitics vollends sichtbar, in der es gerade nicht um
die Suche nach „objektiven“ Grenzen geht, sondern darum, „jene
Geographien [zu untersuchen], die (...) von den handelnden Sub-
jekten von unterschiedlichen Machtpositionen aus gemacht und
reproduziert werden“ (Werlen 1995: 6). Eine solche Dekonstruk-
tion geopolitischer Leitbilder enttarnt deren Zweck als gezielte
geostrategische Diskurse über territorial gebundene Freund-Feind-
Bilder. Sie zeigt, wie politische Akteure durch die geschickte
sprachliche oder auch kartographische symbolische Verkopplung
von Religion, Kultur und/oder Ethnizität mit territorialer Identität
Kritische Geopolitik 565
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Geopolitik machen, wie sie sprachlich Gebiete entstehen lassen, in


denen bestimmte Eigenschaften erwünscht sind und andere nicht,
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in denen manche Menschen leben dürfen und andere vertrieben


werden.
Die Critical Geopolitics zeigen an Beispielen, dass man eine
geopolitisch-territoriale Semantik nicht nur für kollektive Stim-
mungszustände und Solidarisierungen nutzen kann, sondern auch
zur rhetorischen Legitimierung von Ab- und Ausgrenzung. Darin
liegt der Ausgangspunkt für die gefährliche politische Instrumen-
talisierung, für den strategischen Missbrauch geopolitischer Welt-
bilder. Sie reduzieren die Komplexität des Sozialen auf räumlich
eingängige Chiffren und mit dieser Verkopplung und Simplifizie-
rung kann man Geopolitik machen, ethnische Verfolgung, Vertrei-
bung und Säuberung anstacheln und blutige Kriege um anderer
Zwecke willen führen.
Wie sehr Vieles von dem, was als regionale Identitäten und ge-
genseitige Differenzen in geopolitischen Weltbildern propagiert
wird, eine gezielte strategische Konstruktion darstellt, wird immer
besonders deutlich in Zeiten kriegerischer Konflikte. Alle Kriegs-
parteien verwenden einseitige geopolitische Szenarien zur Recht-
fertigung ihres Handelns und zur Herstellung von Loyalität in der
Bevölkerung (z.B. die CNN-Berichterstattung im Golfkrieg oder
im Kosovo-Konflikt). Oft nutzen die politischen Akteure bereits
relativ geringe Unterschiede, um damit geopolitische Images auf-
zubauen, mit denen sie Politik im Sinne ihrer Interessen machen
können.
Indem die Critical Geopolitics solche Bezüge offen legen,
nehmen sie hinsichtlich ihrer Praxisrelevanz eine deutlich andere
Perspektive ein als die klassische Geopolitik. Ihre Dekonstruktio-
nen schärfen in einer Politik- und Medienlandschaft, die zuneh-
mend und gerade in aktuellen Konfliktfällen auf schnelle, polari-
sierende, pauschalisierende und polemisierende Konstruktionen
geopolitischer Zusammenhänge setzt, den Blick für die Relativität
und den unvermeidlich intentionalen, strategischen Charakter sol-
cher oft sprach- und bildgewaltiger Inszenierungen.
566 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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3. Weiterführende Perspektiven: Was bringt die


Geopolitik den Internationalen Beziehungen?
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Es liegt immer eine gewisse Gefahr darin, einen abstrakten Theo-


riediskurs unmittelbar auf aktuelle Problemlagen der internationa-
len Politik beziehen zu wollen. Nichtsdestotrotz will es gerade in
Folge der Ereignisse des 11. September 2001 so erscheinen, als ob
sich hier mit allem Nachdruck die Frage stellt, inwiefern sich eher
Perspektiven eines klassischen oder solche eines kritischen geo-
politischen Denkens zur Beschreibung weltpolitischer Strukturen und
Konfliktlagen eignen. Gerade das in diesem Zusammenhang im-
mer wieder beschworene Leitbild eines „Kampfes der Kulturen“
(Samuel P. Huntington) evoziert ein geopolitisches Leitbild, nach
dem sich die Weltpolitik mehr als ein Jahrzehnt nach dem Verlust
der mit dem Ost-West-Konflikt einhergehenden Sicherheit geopo-
litischer Ordnungsvorstellungen wieder entlang geographisch ein-
deutig verortbarer Konfliktlinien ausrichtet. Unbestreitbar ist auch,
dass insbesondere in den energiepolitischen Diskussionen der
letzten Jahre zunehmen offen geopolitische Argumentationsmuster
in den politischen Debatten zum Einsatz kommen. Gerade die Er-
eignisse im Nachgang zu den Terroranschlägen vom 11. Septem-
ber 2001 könnten jedoch durchaus auch so gelesen werden, dass
sich in ihnen in der weltpolitischen Praxis eine wesentlich weiter
gehende Delegitimierung klassischer geopolitischer Vorstellungen
anzeigt, als alle Theoriekritik der Critical Geopolitics sie je her-
vorzubringen in der Lage gewesen wäre. Gerade die erhöhte Sicht-
barkeit vielfältig und in schneller Abfolge wechselnder militäri-
scher und politischer Koalitionen sowie ethnischer und religiöser
Differenzierungen und daran anschließender Konflikte, die nicht
zwischen den Nationalstaaten oder gar den Weltregionen, sondern
weltweit quer durch die einzelnen Staaten verlaufen, tragen poten-
ziell dazu bei, einfache geopolitische Leitbilder als unbrauchbar
erscheinen zu lassen.
Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber einer allzu unmittelbaren
Verknüpfung unterschiedlicher Beobachtungsebenen kann dies für
die Theoriearbeit im Fach Internationale Beziehungen eigentlich nur
heißen, den bereits in Teilen der Theoriediskussionen eingeschlage-
nen Weg einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wirkweise
Kritische Geopolitik 567
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räumlich-territorialer Ordnungsprinzipien und den politischen Me-


chanismen der Konstruktion räumlich-geopolitischer Leitbilder wei-
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terzugehen. Prozesse wirtschaftlicher Globalisierung, globale Mi-


grationsströme, die Entstehung neuer Formen transnationalen Rechts
usw. deuten dabei jedoch nachhaltig darauf hin, dass sich nicht nur
die Bedeutung territorialstaatlicher Grenzen und damit auch die
Brauchbarkeit darauf letztendlich aufsitzender Analysekategorien
(„state-as-actor“) wandelt. Vielmehr verweisen diese Prozesse auch
darauf, dass es nicht allein um die Gewinnung neuer – wenngleich
kritisch reflektierter – räumlicher Begriffe geht, sondern vielmehr
territoriale Grenzziehungen, Prozesse der Ordnungsstiftung und des
Ordnungswandels sowie die Konstruktion kollektiver Identitäten
untrennbar miteinander verwoben sind (vgl. Albert/Jacobson/Lapid
2001) und als solche Gegenstand kritischer Dekonstruktion sein
müssen (vgl. Reuber/Wolkersdorfer 2004). Dabei ergibt es sich aus
der Einsicht in die Komplexität dieser Zusammenhänge gleichsam
schon von selbst, dass diese Komplexität heute einzeldisziplinär
kaum noch zufriedenstellend aufzulösen ist, sondern vielmehr einen
zunehmenden Dialog zwischen der Politikwissenschaft und den
Nachbardisziplinen einfordert.
Nun ließe sich gewiss trotz der Einsicht in die Bedeutsamkeit
des Raumes für das Verständnis internationaler Beziehungen die
kritische Anfrage stellen, „wie viel Raum für die Prozesse interna-
tionaler Politik und für deren Analyse nötig ist“ (von Bredow
2000: 435). Gerade einer der einflussreichsten Ansätze des Faches
Internationale Beziehungen, der neoliberale Institutionalismus bzw.
die Regimetheorie, legt ja nahe, dass sich der Strukturwandel in-
ternationaler Beziehungen in den Prozessen internationaler Orga-
nisation und Institutionalisierung (Regime) wesentlich an den Er-
fordernissen funktionaler Problembearbeitung ausrichtet und terri-
torial abbildbare Machtinteressenkonflikte tendenziell schwächt, die
„Anarchie“ des internationalen Systems also gleichsam mildert
(vgl. die Beiträge von Manuela Spindler und Bernhard Zangl in
diesem Band). Und in der Tat erscheint in dieser Perspektive die
internationale Politik durch die Ausbildung von Mechanismen ei-
nes „Regierens jenseits des Nationalstaates“ (Zürn 1998) ange-
messene Strukturen der Problembearbeitung angesichts zunehmen-
der Denationalisierungs- bzw. Globalisierungsprozesse hervorzu-
bringen. Verliert also nicht – insofern sich nicht nur globale Pro-
568 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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bleme, sondern auch deren Bearbeitung zunehmend weniger an


territorialen Grenzen, sondern vielmehr an funktionsspezifischen
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Schemata und Erfordernissen ausrichten – die Kategorie des „Rau-


mes“ an Bedeutung – und zwar gleich, ob man ein eher naturalisti-
sches oder ein eher sozial konstruiertes Raumverständnis zugrunde
legt?
Führt man die in den vorangegangenen Abschnitten skizzierten
Ansätze einer kritischen Politischen Geographie mit Versuchen
zusammen, sich in der Beschreibung eines globalen Systems von
den Einengungen eines „methodologischen Nationalismus“ bzw.
der „territorialen Falle“ (Agnew 1994) zu lösen, dann erscheint
gerade das Gegenteil der Fall zu sein. Gerade Versuche, den Ge-
genstand der Internationalen Beziehungen – in ausdrücklicher
Grenzüberschreitung zu Nachbardisziplinen – nicht als ein Staa-
tensystem, sondern als globales oder Weltsystem, oder aber als in-
ternationale oder Weltgesellschaft zu begreifen, erfordern es, sich
in Versuchen solcher theoretischer Neubestimmungen mit dem
Verhältnis funktionaler und regionaler/räumlicher Differenzierun-
gen auseinanderzusetzen. Dies beinhaltet nachgerade keine Forde-
rung nach einem „Primat des Raumes“ in der Untersuchung glo-
baler Strukturen und Prozesse. Vielmehr geht es darum, die auch
und gerade durch den Beitrag der Politischen Geographie ermög-
lichte Feingliedrigkeit in der Bestimmung der Konstruktion von
Raum und räumlichen Ordnungsvorstellungen zu nutzen, um die
Wirkmächtigkeit dieser Konstruktionen im Vergleich zu funktio-
nalen Ordnungsprinzipien näher bestimmen zu können. Hier könn-
ten die in diesem Beitrag angesprochenen Ansätze aus Politikwis-
senschaft und Politischer Geographie dazu dienen, auf die neu ent-
stehende Formenvielfalt regionaler Differenzierungen und Ord-
nungen unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung in
der Weltgesellschaft hinzuweisen.
Insbesondere in Rückgriff auf die soziologische Systemtheorie
hat sich dabei in den letzten Jahren eine lebhafte Diskussion dar-
über entwickelt, inwieweit in weltgesellschaftstheoretischer Per-
spektive von einem Primat von bzw. einem Widerstreit zwischen
Prozessen funktionaler und segmentärer Differenzierung zu spre-
chen wäre und inwieweit diese Prozesse geographisch zu verste-
hen sind (vgl. etwa Japp 2007). Von wenigen Ausnahmen abgese-
hen (etwa Stetter 2008) leiden diese Diskussionen jedoch weiter-
Kritische Geopolitik 569
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hin an einem Empiriedefizit. Hier böte sich eine verstärkte Bezug-


nahme zur Literatur um den „neuen Regionalismus“ in der Welt-
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politik an (etwa Hettne/Inotai 1994).


Es geht bei all dem aber nicht allein um eine Betrachtung der
neuen territorialen Differenzierungen einer Weltgesellschaft in ei-
nem realpolitischen oder realontologischen Gewand. Vielmehr
geht es bei der „continued relevance of critical geopolitics“ (Dalby
2008) tieferliegend um die Wirksamkeit territorialer Semantiken,
Repräsentationen und Diskurse in Gesellschaft, Politik und Medi-
en. In ihrem Zentrum steht – mit Rekurs auf Michel Foucault – die
Dekonstruktion der symbolischen Archäologie der Macht, die in
ihnen kodiert ist und für die gesellschaftliche Strukturierung gera-
de im politischen Segment unverzichtbar erscheint.
Die Rolle und der Ertrag der Berücksichtigung von Raum und
eines – vor allem „kritischen“ – geopolitischen Denkens und die
damit notwendigerweise verbundenen disziplinären Grenzüber-
schreitungen zwischen Politikwissenschaft und Politischer Geo-
graphie (insofern solche außerhalb institutioneller Anbindungen in
diesem Falle überhaupt noch festzustellen sind) lassen sich auf
zwei Ebenen der Theoriebildung verorten.
Erstens, im Theoriendiskurs der Internationalen Beziehungen
im engeren Sinne bilden sie zum einen ein Korrektiv für Theorie-
entwürfe, die – sei es durch einen Aufbau auf Weltbilder der klas-
sischen Geopolitik im realistischen Denken, sei es durch eine
Konzentration auf funktionale Problembearbeitung im neolibera-
len Institutionalismus – wahlweise zu einer „Raumversessenheit“
oder einer „Raumblindheit“ neigen. Für diesen Theoriediskurs
bilden sie – zweitens – ein Korrektiv, insofern sie ihn im oben an-
geführten Sinne bei der Umstellung der Beobachtungsschemata
von einer „westfälisch-territorialstaatlichen“ auf eine „postwestfä-
lisch-globale“ Welt nicht nur zu einer Bestimmung des Verhältnis-
ses unterschiedlicher (z.B. regionaler versus funktionaler) Diffe-
renzierungs- und Strukturierungsprinzipien drängen, sondern auf
einer Meta-Ebene die Dekonstruktion klassischer territorialer Se-
mantiken einfordern.
570 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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4. Zur Kritik der „kritischen Geopolitik“


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Der Ansatz der Critical Geopolitics ist, wie jedes Konzept, nicht
frei von Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten. Die Probleme
sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln und reichen von
grundsätzlichen, ontologischen Einwänden bis zu konkreten As-
pekten der methodischen Umsetzung in der empirischen For-
schung. Aus der mittlerweile breiteren Auseinandersetzung mit
den Grundlagen der Critical Geopolitics sollen im Folgenden –
der Argumentation von Müller und Reuber (2008) folgend – eini-
ge wesentliche Punkte kurz diskutiert werden.

4.1 Das Problem mit dem Diskursbegriff

Der Rückbezug der Critical Geopolitics auf einen diskursorientier-


ten Ansatz birgt ein grundsätzliches Missverständnis, das generell
bei der Nutzung des Modewortes „Diskurs“ auftaucht: Der Begriff
wird von unterschiedlichen philosophischen Schulen mit nahezu
gegensätzlichen theoretischen Grundlegungen genutzt. Die im
Umfeld der Critical Geopolitics verwendete Diskurstheorie schließt
an Foucault an und steht im Kontext eines postmodernen Dekon-
struktivismus (vgl. auch den Beitrag von Thomas Diez in diesem
Band). Dem steht ein von Jürgen Habermas geprägter, verständi-
gungsorientierter Diskursbegriff gegenüber, der hingegen im Um-
feld eines modernisierungstheoretischen Weltbildes verortet ist
(vgl. auch den Beitrag von Christoph Humrich in diesem Band).
Der Habermassche Diskursbegriff ist mit dem Ansatz der Critical
Geopolitics nicht kompatibel, er steht ihm sogar entgegen. Wer
diese grundlegende Unterscheidung ignoriert, riskiert nicht nur
semantische Unklarheiten, sondern tiefgreifende Missverständnis-
se über die erkenntnistheoretischen Grundannahmen der Critical
Geopolitics.
Kritische Geopolitik 571
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4.2 Das Problem der konzeptionellen Unschärfe und


Heterogenität
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Eines der Kernprobleme der Critical Geopolitics, das besonders


auch im deutschsprachigen Kontext sehr stark diskutiert worden ist,
besteht in der konzeptionellen Heterogenität des Ansatzes. Diese
führt zu Inkonsistenzen in theoretischer Hinsicht (vgl. Redepenning
2006: 76ff; Lossau 2002). Dabei wird grundsätzlich hervorgehoben,
dass der Ansatz Elemente aus unterschiedlichen Großtheorien in
sich vereint und dass diese Elemente aufgrund der unterschiedlichen
Grundannahmen der dazugehörigen Makrotheorien nur teilweise
kompatibel sind. Dieser konzeptionell angelegte Kritikpunkt ist für
die Verwendung in den Internationalen Beziehungen und in der Po-
litischen Geographie besonders wichtig, weil er sich auch auf Frage-
stellungen und Reichweite empirischer Studien auswirkt. Deshalb
soll er im folgenden etwas ausführlicher beleuchtet werden, wobei
drei Aspekte im Mittelpunkt der Ausführungen stehen:
(a) Der Spagat zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen
Makrotheorien: Die konzeptionellen Probleme der Critical Geopoli-
tics resultieren aus der Kombination handlungsorientierter und
poststrukturalistischer Theorieansätze. Dieser „Spagat“ ist bereits
in Teilen der programmatischen Veröffentlichungen Mitte der
1990er Jahre angelegt, und er leitet sich aus den zwei Betrach-
tungsebenen ab, die den Kern des Forschungsprogramms der Cri-
tical Geopolitics bilden: Ihnen geht es zum einen um das Verste-
hen des geopolitischen Handelns von Akteuren, zum anderen um
die Frage, welche Rolle dabei geographische und/oder geopoliti-
sche Repräsentationen spielen. Im ersten Teil liegen implizit Theo-
rieansätze zu Grunde, die Aussagen über das Handeln von indivi-
duellen und kollektiven Akteuren machen. Im zweiten Teil geht es
explizit um eine Art von Dekonstruktion geopolitischer Reprä-
sentationen, Vorstellungen und Leitbilder, die ihre Anleihen in den
stärker sprachorientierten poststrukturalistischen Ansätzen Fou-
caults sucht. Welche Probleme aus dieser Kombination entstehen,
zeigt sich besonders deutlich an den unterschiedlichen Akteurs-
konzepten, die daraus resultieren.
(b) Das Problem unterschiedlicher Akteurskonzepte unter dem
Dach der Critical Geopolitics: Das Konzept des Akteurs, sei es in
Form von politischen Eliten oder „intellectuals of statecraft“, bil-
572 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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det ein wesentliches Element der Critical Geopolitics. Trotzdem


wird es theoretisch nur sehr oberflächlich reflektiert. Wenn Auto-
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ren hier von Akteuren ausgehen, die im Zuge ihrer Machtpolitiken


auf dem Feld der Geopolitik und unter Einsatz geopolitischer Re-
präsentationen strategisch handeln, dann liegt einigen Veröffentli-
chungen ein Akteurskonzept im Sinne des methodologischen Indi-
vidualismus zu Grunde, wie ihn moderne Handlungstheorien pro-
pagieren. Andere wiederum arbeiten mit stärker poststrukturali-
stisch informierten Konzepten von Akteuren. Dieser Unterschied
soll nachfolgend kurz diskutiert werden.
Eine handlungstheoretische Konzeption geht auch im Bereich
der Critical Geopolitics immer vom Handeln einzelner Akteure
aus, d.h. soziale Phänomene werden als Aggregation individueller
Handlungen erklärt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sich die
Analysen einzelnen – historischen oder aktuell relevanten – Schlüs-
selakteuren aus dem Bereich der Geopolitik zuwenden und deren
geopolitische Konzeptionen und Leitbilder analysieren. Auch wenn
solche Rekonstruktionen bei ihren Akteurskonzepten implizit einer
konstruktivistischen Gesamtperspektive in deutlich stärkerem Ma-
ße Rechnung tragen, so ist beiden doch gemeinsam, dass sie die
handelnden Subjekte als Grundbausteine auf theoretischer Ebene
nicht weiter in Frage stellen.
Eine solche theoretische Rahmung des Akteurs ist zweifellos
für einen Teil der Erfolgsgeschichte der Critical Geopolititcs ver-
antwortlich, bietet sie doch eine Betrachtungsperspektive für Aus-
einandersetzungen um Raum und Macht an, die der Narration
spätmoderner demokratischer Gesellschaften vom selbstbestimmt
handelnden Individuum relativ nahe steht. Es ist gerade diese Nä-
he der Critical Geopolitics zu Alltagsnarrativen, die es ermöglicht,
konkrete geopolitische Konflikte ebenso wie die Auseinanderset-
zungen um geopolitische Repräsentationen und Leitbilder in einer
Betrachtungsform und Begrifflichkeit abzubilden, die auch von
der Öffentlichkeit gut nachvollzogen werden kann. Gleichzeitig
hat die Kompatibilität mit der gesellschaftlichen Selbstrepräsenta-
tion aber einen entscheidenden Nachteil. Dieser besteht darin, dass
in einer solchen Form der wissenschaftlichen Rekonstruktion den
Akteuren a priori zugeschrieben wird, nach den Prinzipien der
„bounded rationality“ zu handeln. Die Annahme der Eigennut-
zenorientierung bildet dabei eine zwar oft plausible Konvention,
Kritische Geopolitik 573
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die aber dennoch normativ gesetzt und erkenntnistheoretisch nicht


näher überprüfbar wird.
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Diesen „Kurzschluss“ versuchen poststrukturalistische, diskurs-


theoretisch informierte Akteurskonzepte zu vermeiden, und des-
halb kollidieren sie mit handlungstheoretisch informierten Entwür-
fen. Die Unterschiede leiten sich unter anderem aus Foucaults An-
sätzen ab, wo sich eine völlig andere, sehr viel stärker sprach-
bzw. diskursorientierte Sichtweise des Akteurs findet. Aus seiner
Perspektive verschwindet vor allem die Vorstellung von einem a
priori gegebenen klassischen Subjekt, so „dass der Mensch ver-
schwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault
1966). Diese ontologisch wie epistemologisch grundlegende Dif-
ferenzierung wird im Konzept der Critical Geopolitics verwischt.
Wenn etwa Dodds und Sidaway (1994: 515ff) beispielweise an-
merken, es gehe um „deconstructing the ways in which political
elites have depicted and represented places in their exercise of
power“), dann wird deutlich, dass die akteursorientierte Perspekti-
ve das konzeptionelle Fundament bildet, dem die Dekonstruktion
geopolitischer Repräsentationen in gewisser Weise „aufgepfropft“
wird. In ähnlicher Weise argumentiert eine Reihe weiterer Auto-
ren, die Diskurse als sprachliche Ressourcen ansehen, und die von
den Akteure im Sinne bestimmter eigener Zielvorstellungen stra-
tegisch eingesetzt werden können (z.B. Browning/Joenniemi 2004:
708). Ackleson (2005; vgl. auch Adams 2004) verwendet ein der
Sprechakttheorie nahe stehendes Diskursverständnis, um zu zei-
gen, wie politische Eliten Diskurse als „scripts“ einsetzen, um Si-
cherheitsprobleme sprachlich zu rahmen und sie damit in der öf-
fentlichen Diskussion zu positionieren. Vor diesem Hintergrund
scheint für eine Reihe von Arbeiten die Sorge berechtigt, dass
„empirischer Anschlussfähigkeit (…) der Vorrang vor begriffs-
technischer Tiefenschärfe eingeräumt [wird]“ (Redepenning 2006:
95).
(c) Die inhaltliche Verengung der untersuchten Akteursgrup-
pen: Zu den konzeptionellen Schwierigkeiten mit den Akteuren
kommt eine gewisse Verengung der inhaltlichen Betrachtungsebe-
ne. Ein Großteil der Literatur konzentriert sich relativ stark auf
geopolitisch relevante Akteure, die strukturell im Rahmen der ad-
ministrativen und politischen Institutionen verortet sind. Redepen-
ning (2006: 98) weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf den
574 Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer
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Widerspruch hin, „Geo-Politik und Geo-Macht als breites gesell-


schaftliches Phänomen thematisieren zu wollen, aber faktisch eine
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Begrenzung auf die gouvernementale Seite zu vollziehen“. Zwar


gibt es vereinzelt Ansätze, die die Rolle von transnationalen Un-
ternehmensnetzwerken, NGOs, bürgerschaftlichen Akteuren, Me-
dien sowie deren geopolitische Repräsentationen stärker in die
Analyse mit einbeziehen. Diese finden sich jedoch vielfach weni-
ger unter dem Label der Critical Geopolitics, sondern stärker in
den konzeptionell anders ausgerichteten Segmenten des Postkolo-
nialismus oder der Politischen Ökologie.

4.3. Ansätze zur Weiterentwicklung im Sinne


poststrukturalistischer Konzeptionen

Einige der oben angesprochenen Kritikpunkte führen auch im


deutschsprachigen Kontext zur Diskussion um Perspektiven für
eine Weiterentwicklung des konzeptionellen wie auch methodi-
schen Rahmens einer poststrukturalistisch informierten Politischen
Geographie über den Rahmen der Critical Geopolitics hinaus. Die
dabei in Betracht gezogenen Möglichkeiten lassen sich – je nach
theoretischer Perspektive – von ihrer konzeptionellen Grundle-
gung her unterschiedlichen Richtungen zuordnen: den stärker
kommunikationsorientierten soziologischen Systemtheorien (Re-
depenning 2006) sowie den eher sprachorientierten poststruktura-
listischen Ansätzen (z.B. Reuber/Wolkersdorfer 2007; Mattissek
2008; Glasze/Meyer 2008; Müller 2008; Glasze/Mattissek 2009).

Literaturverzeichnis

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Kritische Geopolitik 575
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Sach- und Personenregister


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Abschreckungsfriede 234-235 —, rationalistische 452


Adorno, Theodor W. 462, 477 —, reflexive 491, 437
Agent-structure-problem 91, 433ff. Arbeiterbewegung, internationale 321
Akkumulation 409 Aron, Raymond 43
Akkumulationsregime, fordistisches Ashley, Richard K. 495, 498, 514
372, 383, 388 Augelli, Enrico 388
Akteure Ausbeutung 245f.
—, soziale 193 Außenhandel 408
—, nicht-staatliche 115, 295, 400 Außenpolitik 499-502, 505
—, transnationale 117, 402 Außenpolitik der USA 500
Akteur-Struktur-Problem 433-436, 446 Außenpolitikanalyse 509
Albert, Mathias 508, 512 Außenpolitiktheorie 66
Allianz 76 Autokratien 230
Allison, Graham T. 191 Autonomie 110, 337
Amin, Samir 331, 362 Axelrod, Robert 89, 498
Amsterdamer Schule 386
Analyseebene 69, 117, 432
Anarchie 19, 48, 73-78, 351, 437, 438, balance of power 52, 55, 79
439, 447, 497 balance of interest 80
Anarchie, Hobbes’sche 259, 443, 472 balance of threat 80
Anderson, Perry 326 balancing 75, 77
Androzentrismus 525 bandwagoning 80
Angell, Norman 98 Bauer, Otto 321
Ansatz Befreiungsbewegungen, nationale 326
—, problemstruktureller 144, 146 Behaviorismus 265
—, situationsstruktureller 144-145 Benhabib, Seyla 538
—, strukturalistischer 325, 432 Bewegungen
Ansätze —, soziale 521
—, feministische 372, 510 —, interdemokratische 238
—, kritische 29, 399, 479 —, transnationale 102
—, liberale 21, 188, 225-233 Binnenmarkt, europäischer 175, 207
—, neo-gramscianische 380, 386, 390 Bipolarität 74-46
—, postmoderne 25, 372, 525 black box 71
—, poststrukturalistische 25, 562-564 bottom-up Perspektive 84, 191
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Sach- und Personenregister


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Abschreckungsfriede 234-235 —, rationalistische 452


Adorno, Theodor W. 462, 477 —, reflexive 491, 437
Agent-structure-problem 91, 433ff. Arbeiterbewegung, internationale 321
Akkumulation 409 Aron, Raymond 43
Akkumulationsregime, fordistisches Ashley, Richard K. 495, 498, 514
372, 383, 388 Augelli, Enrico 388
Akteure Ausbeutung 245f.
—, soziale 193 Außenhandel 408
—, nicht-staatliche 115, 295, 400 Außenpolitik 499-502, 505
—, transnationale 117, 402 Außenpolitik der USA 500
Akteur-Struktur-Problem 433-436, 446 Außenpolitikanalyse 509
Albert, Mathias 508, 512 Außenpolitiktheorie 66
Allianz 76 Autokratien 230
Allison, Graham T. 191 Autonomie 110, 337
Amin, Samir 331, 362 Axelrod, Robert 89, 498
Amsterdamer Schule 386
Analyseebene 69, 117, 432
Anarchie 19, 48, 73-78, 351, 437, 438, balance of power 52, 55, 79
439, 447, 497 balance of interest 80
Anarchie, Hobbes’sche 259, 443, 472 balance of threat 80
Anderson, Perry 326 balancing 75, 77
Androzentrismus 525 bandwagoning 80
Angell, Norman 98 Bauer, Otto 321
Ansatz Befreiungsbewegungen, nationale 326
—, problemstruktureller 144, 146 Behaviorismus 265
—, situationsstruktureller 144-145 Benhabib, Seyla 538
—, strukturalistischer 325, 432 Bewegungen
Ansätze —, soziale 521
—, feministische 372, 510 —, interdemokratische 238
—, kritische 29, 399, 479 —, transnationale 102
—, liberale 21, 188, 225-233 Binnenmarkt, europäischer 175, 207
—, neo-gramscianische 380, 386, 390 Bipolarität 74-46
—, postmoderne 25, 372, 525 black box 71
—, poststrukturalistische 25, 562-564 bottom-up Perspektive 84, 191
580 Sach- und Personenregister
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Boulding, Kenneth E. 265 Dekonstruktion 32, 495f., 498-500,


bounded rationality 192, 572 506, 530, 538-543, 562, 569-571
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Braudel, Fernand 346 Delaisi, Francis 98


Bretton-Woods System 99, 345, 352, Delors, Jacques 175
371, 399, 411 deMan, Paul 513
British Committee 256, 264 Demokratie 237, 507
Bull, Hedley 256, 257, 258, 472, 499 —, deliberative 479-481
Bündnisfriede 245 —, kosmopolitische 259, 480
Bündnisse, militärische 246 Demokratiedefizit 207
Bürgerkrieg 407 Demokratischer Doppelbefund 224
Burley, Anne-Marie 176 Demokratischer Frieden 117, 208, 223,
Burnham, Peter 390 230ff.
Bürokratiemodell 191, 212 Demokratisierung 224
Burton, John 283 Demokratisierungsprozesse 245-247
Bush, George W. 506 Denationalisierung 288
Butler, Judith 527 Dependenztheorie 327, 345
Butterfield, Herbert 256, 257 Deregulierung 411
Buzan, Barry 257, 271, 286, 511 Der Derian, James 499, 508, 510
Derrida, Jacques 496
Deutsch, Karl W. 265
Cammack, Paul 392 Differenz-Sensibilität 467, 470-476,
Campbell, David 495, 503-507, 515 496, 500
capabilities 72 Diplomatie 54, 499
Cardoso, Henrique F. 345 Direktinvestitionen 402
Carr, Edward H. 12, 43, 65, 256, 266 Diskurs 25, 493f., 502, 509f., 513, 532,
Chase-Dunne, Christopher 362 570
Chinesisch-Japanischer-Krieg 233 Diskursanalyse 509f., 532-536
Claude, Inis J. 55 Diskusethik 469f., 476-481, 484f.
Clinton, William J. 224 distribution of capabilities 74
cognitive maps 498 Doyle, Michael F. 188, 224
Cole, Georg D.H. 160 Drainville, André 392
Comprador-Klasse 353 Dunne, Tim 256, 257, 267, 273
Comte, Auguste 22
Connolly, William E. 500
Cooper, Richard 102 Easton, David 202
Cox, Robert 373f., 380, 384-387, 391, Einheitliche Europäische Akte (EEA)
463 174, 179
Czempiel, Ernst-Otto 19, 188, 225f. Ekholm-Friedman, Kasja 362
Elsenhans, Hartmut 366
Emanzipation 461-463, 513, 530, 538
de Gaulle, Charles 171 embedded liberalism 371, 383
Debatten in den internationalen Engels, Friedrich 321, 322
Beziehungen 11-14, 79, 430, 532 Englische Schule 255, 286, 499
Debatte, erste 12, 534 Enloe, Cynthia 522
Debatte, zweite 12, 266, 535 Entkolonialisierung 311
Debatte, dritte 13f., 524 Epistemologie 22, 428, 524
Dekolonisierung 325 Erkenntnistheorie 445, 515
Sach- und Personenregister
581
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Erklären 12, 25, 430 Foucault, Michel 496, 513


Erklärungen Frank, Andre G. 345, 361
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—, individualistische 192, 434 Frankfurter Schule 462, 545


—, idealistische 390 Fraser, Nancy 538
—, kausale 201, 435 Frauenbewegung 521
—, konstitutive 435 Frauenforschung 526
—, ökonomisch-strukturelle 316ff., Frieden durch Handel 311
333 Frieden
—, strukturalistische 434 —, dyadischer 225, 232
Erster Weltkrieg 232, 311, 321 —, monadischer 225
Ertragsgesetz von Turgot 85 —, langer Frieden 235
Ethik 41, 467, 503f., 513 Friedensforschung 546
Ethos, demokratisches 507 Friedman, Jonathan 362
Eurodollar-Markt 411 Frontier-Mythos 502
Europäische Gemeinschaft für Kohle Funktionalismus 158, 160
und Stahl (EGKS) 158 Funktionale Differenzierung 73
Europäische Gemeinschaften 162
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG) 170 G 7 387
Europäische Kommission 175 G 20 19
Europäische Union 242, 474, 492, 387 Gaddis, John L. 235
Europäischer Gerichtshof 176 Galtung, John 328
Europarat 242 GATT/WTO 371, 387
European Round Table of Industrialists Gefangenendilemma 135
(ERT) 175 Gemeinschaft 271
—, politische 164-166
—, supranationale 158, 165
Faletto, Enzo 345 —, epistemische 144, 147
Faschismus 325 Gender 523
Finanzkapital 320, 322 gender mainstreaming 541, 546
Finanzmärkte 407, 410 Genealogie 499
Finanzmarktkrise 100, 407 Geographie, politische 551
Finanzstruktur 409 Geokultur 354
Finnemore, Martha 276 geopolitics, critical 555, 560
foreign policy 501 Geopolitik 551, 558
form follows function 158, 162 —, klassische 554
Forschungsgruppe Weltgesellschaft —, kritische 551, 556
284 Gerechtigkeit, internationale 407
Forschungsparadigma 201 Geschlechterforschung 523, 526
Forschungsprogramm 249 Geschlechterproblematik 521-523
Forschungsprogramm Gesellschaft 193, 271
—, institutionalistisches 115 Gesellschaft, internationale 256-258,
—, realistisches 57 261-263, 270, 286-288, 465
—, liberales 191, 201-203 Gesellschaftswelt 19, 282, 553
—, kumulatives wissenschaftliches Gewinne
189, 201 —, relative 90, 149
fotuitous balance of power 262 —, absolute 89f., 149
582 Sach- und Personenregister
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Giddens, Anthony 435, 446 Idealismus 12, 157, 188, 259, 319, 429,
Gill, Stephen 386f., 390 452, 534
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Gills, Barry 361 Ideen 412, 440, 444, 509


Gilpin, Robert G. 84, 514 Identität 437f., 441, 448, 491, 496,
Globalisierung 121, 247f., 281, 288, 499, 500f., 503, 506-509, 532, 564-
313, 330, 343, 383-386, 391f. 567
Golfkrieg 500, 503, 505 Identität
Gramsci, Antonio 373, 381f., 388, 392f. —, kollektive 297, 442
Grieco, Joseph M. 89 —, korporative 442
Großtheorien 28 Identitäts-/Differenz 502
Grotius, Hugo 259, 260 Identitätsbildung 441
Ideologie 46
Ideologie, nationalsozialistische 559
Haas, Ernst B. 159, 177, 191 Imperativ der doppelten Konsonanz 227
Habermas, Jürgen 374, 431, 462-469, Imperialismus 311, 314, 316, 322
475, 570 Imperialismus, klassischer 311
Hall, Thomas D. 362 Imperialismustheorie 344
Handelsliberalismus 190 Imperialismustheorien, politisch-
Handlungsmodell ökonomische 312
—, rationalistisches 89, 544, Individualismus, methodologischer 192
—, kommunikatives 150, 452, 464, Institutionalismus 28, 543
475, 477-483 —, neoliberaler 103, 373, 452
Harding, Sandra 528 —, reflexiver 430
Hardt, Michael 331 —, soziologischer 439, 471ff.
Hasenclever, Andreas 117 Institutionen 438
Haushofer, Karl 551, 557, 559 —, europäische 207
Hegemonialpolitik 411 —, internationale 242
Hegemonie 74, 112, 374-376, 380-382, Integration als Prozess 165
385, 387f., 390, 472 Integration als Zustand 165
Hegemonie, US-amerikanische 100, 415 Integration
Hegemoniezyklen 85, 349 —, politische 165
Heidegger, Martin 513 —, wirtschaftliche 163
Helleiner, Eric 418 Integrationsprozess, westeuropäischer
Hermeneutik 25, 266, 273 173
Herrschaft 49, 447 Integrationstheorien 102, 172f.
Herz, John H. 55, 43, 262, 552 Interdependenz 97, 110, 142, 500, 503-
Hierarchie 73 505
high politics 68 —, asymmetrische 111
Hilferding, Rudolf 319 —, komplexe 107, 283
Historischer Block 379, 380, 382 —, militärisch-strategische 99
Hobbes, Thomas 40, 259, 533 Interdependenzanalyse 372
Hobson, John A. 313 Interdependenz-Empfindlichkeit 106
Hoffmann, Stanley H. 43, 59, 269 Interdependenz-Verwundbarkeit 106
homo oeconomicus 192 Interesse 49, 192, 405, 436-438, 441
Horkheimer, Max 461f., 477 Intergouvernementalismus 159, 179, 203
Howerd, Michael 257 Intergouvernementalismus, liberaler
Hussein, Saddam 505 178, 191, 203-207
Sach- und Personenregister
583
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Internationale Beziehungen 9, 10, 20 Konstruktivismus, erkenntnistheore-


Internationale Politische Ökonomie tischer 25f.
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134, 334 Konzerne


Internationalisierung 408 —, multinationale 117
Internet 492, 508 —, transnationale 72, 399
inter-paradigm-debate 13 Kooperation 65, 77
Intervention, humanitäre 60, 267, 273 Kooperation
Iranisch-Irakischer Krieg 233 —, funktionale 162
Islam 506 —, internationale 131, 209
issue areas 108 Kopenhagener Schule 511
issue linkage 114 Koreakrieg 233
Internationaler Währungsfonds 282, Korporatismus 383
371, 387 Krasner, Stephen D. 134, 277
Kratochwil, Friedrich 446
Krell, Gert 542
James, Allen 257 Krieg 407, 471, 508
Jahn, Beate 215, 487 —, gerechter 505
Jervis, Robert 55 —, kalter 325
Jones, Charles 271 —, postmoderner 492
Kriegsursachenforschung 244
Kritik
Kaase, Max 491 —, genealogische 526, 532-536
Kalter Krieg 76, 463, 502 —, feministische 468, 525, 542f.
Kampf der Kulturen 566 —, postmoderne 449,468, 508-511,
Kant, Immanuel 189, 228, 259, 319 515, 535
Kapitalismus 320, 343, 420 Kugler, Jacek 85ff.
Kaplan, Morton A. 264, 265 Kultur 465
Kautsky, Karl 321 —, Hobbes’sche 440
Kennan, Georg F. 43 —, Kantianische 440
Keohane, Robert O. 60, 89, 102, 134, —, Locke‘sche 440
173, 191, 430, 542 Kultur, politische 227, 229, 491
Keynes, John M. 26, 314 Kulturräume 563
Keynesianismus 367, 372, 383,
411
Kindermann, Gottfried-Karl 55, 87 Lakatos, Imre 189, 201
Kissinger, Henry 43, 65, 269 Landes, David S. 334
Kjellén, Rudolf 558 Lapid, Yosef 429
Klassenverhältnisse 344, 408 Lebensraumideologie 558
Koexistenz 466, 471f. Lebensraumpolitik 557
Kollektivgüter 113 Legro, Jeffrey W. 92
Kommodifizierung 356 Lenin, Wladimir I. 321
Kommunismus 506 Leninsche Imperialismustheorie 312
Konflikte, asymmetrische 234 Lernen 168, 442, 466, 472
Konkurrenzkapitalismus 335 level of analysis 69, 118
Konstitutionalismus, neuer 387 Levinas, Emanuel 504
Konstruktivismus 12, 213, 275, 428- Liberalismus 28, 131, 157, 209, 354
431, 511 —, ideeller 198
584 Sach- und Personenregister
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—, kommerzieller 198 Mesquita de, Bueno 229, 234


—, pluralistischer 190 Meta-Theorie 22, 428
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—, politischer 98 Methodologie 428


—, regulatorischer 190 Meyers, John 299
—, republikanischer 189, 1999 Mill, John S. 98, 189
—, soziologischer 190 Milner, Helen 210
linguistic turn 25, 562 Mitrany, David 159, 160
Link, Werner 88 Modelski,George 362
Linklater, Andrew 272ff. Monopolkapitalismus 322, 335
Lippmann, Walter 43, 501 Moral 51, 53
Little, Richard 257, 270 Moravcsik, Andrew 92, 175, 188
Long, David 214 Morgenthau, Hans J. 39, 43f., 65, 79,
low politics 68 262
Luhmann, Niklas 301 Morse, Edward 102
Luxemburg, Rosa 319 Muir, Ramsay 98
Luxemburger Kompromiss 171 Multilateralismus 112, 115
Lyotard, Jean-François 494, 564 multipolar 74
Mummery, Albert F. 314
Münchner Schule 87
Machiavelli, Niccolò 40, 533 Murphy, Craig 388
Macht 20, 40, 49, 110, 332, 494, 513
—, relationale 405
—, strukturale 405 NAFTA 387
Machtgleichgewicht 75, 262, 407 nation building 471
Machtmittel 72, 403 Nationalismus 466
Machtpolitik 403 Nationalismus, methodologischer 568
Machtstrukturen 399 Nationalökonomie 403
Machtverteilung im internationalen NATO 235, 242
System 245 Naturzustand 231
Mandel, Ernest 326 Negri, Antonio 331
Männerforschung 540 Neofunktionalismus 163, 191
Manning, Charles 257 Neo-Gramscianismus 372-375, 383,
Marx, Karl 462 390
Marxismus 321, 343 Neoimperialismus 325
Marxismus, westlicher 326 Neoinstitutionalismus 89, 211, 131,
Marxismus-Leninismus 313, 324 209
Marxsche Werttheorie 327 Neoliberalismus 387
Marxsches Kapital 320, 324 Neo-Neo Debatte 88
Materialismus, historischer 373, 377, Neorealismus 21, 65ff., 131, 270, 352,
465 372-378, 432, 437, 495, 511, 525
Mattli, Walter 176 Neorealismus
Mayall, James 257 —, defensiver 82
Mazzini, Giuseppe 189 —, offensiver 82
McCarthy-Ära 502 Netzwerkanalyse 359
Mearsheimer, John J. 65, 82 Netzwerke 414, 574
Meier-Walser, Reinhard 79 Neumann, Iver 499
Menschenbild 43, 46 NGOs 72, 293-295
Sach- und Personenregister
585
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Niebuhr, Reinhold 43, 44, 47 postcolonial studies 331


Nietzsche, Friedrich 40 Postimperialismus 330
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Nitze, Paul H. 43 Postmoderne 462, 493


Noel-Baker, Philip 259, 268 Postmoderne als Epoche 492
Normen 439ff., 446 Postmoderne, analytische 504
—, regulative 446 Post-Positivismus 24, 462
—, konstitutive 446 Post-Strukturalismus 496
Nye, Joseph S. 102, 134, 191 power transition theory 83, 84ff.
Präferenzen 192
Prebisch, Raúl 345
OECD-Frieden 117 pre-theories 172
OECD-Welt 441, 242 Prinzipal-Agenten-Modell 203
Ökonomie, internationale politische Produktionsstruktur 408
101ff. Putnam, Robert D. 188, 208
Ökonomie, politische 462, 334
Ölkrise 100
Ontologie 22f., 404, 428 Rational Choice-Theorie 89, 135ff.
Onuf, Nicholas G. 430, 446 Rationalismus 259, 431
OPEC 100 Ratzel, Friedrich 551, 557
ordering principle 73 Raumvorstellung 553
Organisationen und Regime 112, 242 Realismus 12, 28, 65, 107, 188, 259,
Organisationen 495
—, internationale 42, 72, 109, 133 Realpolitik 58
—, supranationale 164 Realsozialismus 416
Organski, Abramo F. K. 85ff. Reduktionismus 435
Osgood, Robert E. 55 Regime, internationale 114, 402
Ost-West Konflikt 66, 99, 325, 330, Regimetheorie 103, 131, 270, 372-378,
502 544
Ost-West-Beziehungen 187 Regionalismus, neuer 569
Relativismus 511
rent-seeking 199, 200
Panitch, Leo 391 Repräsentation 195, 501
parsimony 70, 189 —, diskursive 500
Pax Americana 371, 383, 385 —, von Wirklichkeit 509
Peripherie 329, 344 Repräsentationen von Raum 554
permissive consensus 166 Reus-Smit, Christian 214
Pijl, van der Kees 379 Revolution 259, 323
pluralism 188 Revolution, behaviorialistische 269
policy interdependence 106, 196 Reziprozität 544
Politik 19 Ricardo, David 98, 314
—, imperialistische 318 Risse, Thomas 188, 239
—, internationale 18 Rosenau, James N. 191
—, transnationale 283 Rousseau, Jean-Jacques 533
Politik des leeren Stuhls 170 Ruggie, John G. 134, 492f., 513, 553,
Porter, Pittman 160 Rupert, Mark 388
Positivismus 22, 24, 273, 494 Russett, Bruce 188, 225, 226, 243
Positivismuskritik 512
586 Sach- und Personenregister
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Sandholtz, Wayne 174, 176 —, Hobbes’sche 439


Saussure, de Saussure 496 —, Kantianische 439
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Say, Jean-Baptiste 313 Strukturalismu 435


Saysche Gesetz 313 Strukturierungstheorie 435, 446
Schelling, Thomas 265 Suganami, Hidemi 276
Scherrer, Christoph 390 Sweet, Stone 176
Schmitter, Philippe C. 172 Sweezy, Paul 327
Schuman-Plan 158 Sylvester, Christine 525
Schumpeter, Joseph 333 System
Schwarzenberger, Georg 43 —, autokratisches 228
Schweller, Randall L. 80 —, bipolares 76
second image approach 188 —, demokratisches 227
Selbsthilfesystem 74, 77, 120, 437, 463 —, internationales 66, 260, 261, 270
Semiperipherie 349 —, multipolares 76
September 11, 2001 506, 566 —, politisches 227
Shapiro, Michael 495, 498 —, zwischenstaatliches 351
Sicherheit 500, 501 Systemtheorie 202
Sicherheit, kollektive 52 —, moderne 299-303
Sicherheitsdilemma 56, 231 —, soziologische 568, 574
Sicherheitsgemeinschaften 224, 235, Szientismus 12, 23,67, 266, 354, 355
240
Singer, David A. 88
Smith, Adam 98, 189 Territorialität 503-506, 553f.
society of states 260 Territorialstaat, moderner 493
Solidarismus 273 Terrorismus 332, 407, 414
Souveränität 277, 446, 466, 497, 504, —, internationaler 11, 187
509, 544 —, transnationale 290
Sozialkonstruktivismus 21, 26, 209, Téson, Fernando R. 274
427ff., 511 Theorie 18, 23
Spieltheorie 89, 145 —, der Interdependenz 121
spill-over 166 —, des Imperialismus 327, 328
—, funktionaler 167 —, hegemonialer Stabilität 131, 144
—, erzeugter 168, 175 —, kritische 273f., 461, 498, 511, 513
—, politischer 168 —, normative 26, 51, 256, 266ff., 464,
Sprout, Harold 55 468ff.
Sprout, Margaret 55 —, positivistische 22, 191ff., 462, 535
Spykman, Nicholas J. 43 —, post-positivistische 22, 524, 535
Staatensystem, westfälisches 277, 404, —, regionaler Integration 160, 177
467 Theorienpluralismus 9
Staatenwelt 18, 282 Thompson, Kenneth W. 43
Staatsbürgerschaft 466 Thukydides 40
Staatsräson 210 top-down Perspektive 84
Staatssozialismus 324 Totalitarismus 513
Stalinismus 325 Traditionalismus 12, 67, 266
state-society relations 188 Transaktionskosten 139
Strange, Susan 399 Transformation 78, 408, 495
Struktur 71, 434 Transnationalisierung 408, 413, 474
Sach- und Personenregister
587
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Transnationalismus 191 —, struktureller 441


Tuathail, Gearóid Ó. 555 —, technologischer 409
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two-level game 144-146, 208 —, zyklischer 85


Watson, Adam 256, 257
Weber, Max 40
Überzeugungen 406, 412 Weltbilder, geopolitische 561
Unilateralismus 112 Weltgesellschaft 270, 281-284
Unipolarität 74 Weltkultur 300
units 71 Weltordnungspolitik 124
Universalismus 468 Weltreiche 347
Unterentwicklung 328 Weltsystemtheorie 66, 343, 373
Unterkonsumtionstheorie 314 Weltwirtschaftsgipfel 101
USA 501, 503, 505 Wendt, Alexander 89, 91, 431
Werte 407
Wertgesetz 335
Vasquez, John A. 512 Westfälischer Frieden 467
Vergemeinschaftung 294 Wettbewerbsstaat 123
Vergesellschaftung 295 Wheeler, Nicholas J. 257, 267, 273
Vergesellschaftung der Produktion 324 Wight, Colin 513
Verstehen 12, 24-26, 258, 430 Wight, Martin 256, 257
Veto-Spieler 208 Wilson, Woodrow T. 189
Vietnamkrieg 325 Wissen 406
Vincent, R. John 257, 274 Wissenschaftstheorie 22ff.
Völkerbund 12, 41, 157 Wissensstruktur 404, 411
Völkerrecht 52-55, 161, 286, 481-483 Wohlfahrtsstaat 123
Völkerrecht, humanitäres 289 Wolfers, Arnold 43

Wæver, Ole 275, 509, 511


Währungskrise 407 Zalewski, Marysia 539
Walker, R.B.J. 495, 504, 508 Zivilgesellschaft 507
Wallerstein, Immanuel 345, 346 Zivilisierung 117
Walt, Stephen M. 80 Zweck-Mittel-Rationalität 72
Waltz, Kenneth N. 43, 59, 65, 120, Zwei-Ebenen-Ansatz 144-146, 207-
262, 432, 495 209
Walzer, Michael 274 Zweiter Weltkrieg 233
Wandel Zysman, John 174, 175
—, historischer 403
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Autorinnen- und Autorenverzeichnis


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Mathias Albert
Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für So-
ziologie, Universität Bielefeld und Honorary Professor and der Uni-
versität Aarhus
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010a: New Systems Theories of World Politics. London:
Palgrave (zus. mit Lars-Erik Cederman und Alexander Wendt ).
2010b: Jugend 2010. 16. Shell Jugendstudie. Frankfuert a.M.: Fi-
scher Taschenbuch Verlag (Konzeption und Koordination zus. mit
Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel und TNS Infratest Sozialfor-
schung).

Andreas Bieler
Prof. Dr., Professor of Political Economy an der School of Politics
and International Relations, University of Nottingham (UK)
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010: Global Restructuring, Labour and the Challenges for
Transnational Solidarity. London: Routledge.
2006: The Struggle for a Social Europe: Trade unions and EMU in
times of global restructuring. Manchester: Manchester University
Press.

Hans-Jürgen Bieling
Prof. Dr., Professor für Politikmanagement an der Hochschule Bre-
men
Publikationen u.a.:
2007: Internationale Politische Ökonomie. Ein Studienbuch. Wies-
baden: VS-Verlag.
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Autorinnen- und Autorenverzeichnis


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Mathias Albert
Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für So-
ziologie, Universität Bielefeld und Honorary Professor and der Uni-
versität Aarhus
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010a: New Systems Theories of World Politics. London:
Palgrave (zus. mit Lars-Erik Cederman und Alexander Wendt ).
2010b: Jugend 2010. 16. Shell Jugendstudie. Frankfuert a.M.: Fi-
scher Taschenbuch Verlag (Konzeption und Koordination zus. mit
Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel und TNS Infratest Sozialfor-
schung).

Andreas Bieler
Prof. Dr., Professor of Political Economy an der School of Politics
and International Relations, University of Nottingham (UK)
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010: Global Restructuring, Labour and the Challenges for
Transnational Solidarity. London: Routledge.
2006: The Struggle for a Social Europe: Trade unions and EMU in
times of global restructuring. Manchester: Manchester University
Press.

Hans-Jürgen Bieling
Prof. Dr., Professor für Politikmanagement an der Hochschule Bre-
men
Publikationen u.a.:
2007: Internationale Politische Ökonomie. Ein Studienbuch. Wies-
baden: VS-Verlag.
590 Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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2010: Die Globalisierungs-und Weltordnungspolitik der Europäi-


schen Union. Wiesbaden: VS-Verlag.
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Thomas Conzelmann
Dr., Associate Professor of International Relations an der Universität
Maastrich, Fakultät für Sozialwissenschaften
Publikationen u.a.:
(2004): Europäische Integration, europäisches Regieren. Wiesbaden:
VS Verlag (zus. mit Beate Kohler-Koch und Michèle Knodt).
(Hrsg.) 2008: Multi-level Governance in the European Union: Tak-
ing Stock and Looking Ahead. Baden-Baden: Nomos (zus. mit Ran-
dall Smith).

Christopher Daase
Prof. Dr., Professor für Internationale Organisationen an der Goethe-
Universität Frankfurt/Main und Leiter des Programmbereichs „In-
ternationale Organisationen und Völkerrecht“ an der Hessischen
Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung
Publikationen u.a.:
2003: Das Ende vom Anfang des nuklearen Tabus. Zur Legitimi-
tätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale
Beziehungen 10: 1, 7-41.
2003: Endogenizing Corporate Identity. The Next Step of Construc-
tivism in International Relations, in: European Journal of Interna-
tional Relations 9: 1, 5-35 (zus. mit Lars-Erik Cederman).

Thomas Diez
Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft und Internationale Be-
ziehungen, Universität Tübingen
Publikationen u.a.:
2011: Key Concepts in International Relations, London: Sage (zus.
mit Ingvild Bode und Aleksandra Fernandes da Costa).
(Hrsg.) 2008: The European Union and Border Conflicts, Cam-
bridge: Cambridge University Press (zus. mit Mathias Albert und
Stephan Stetter).
Autorinnen- und Autorenverzeichnis 591
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Barbara Finke
Dr., Head des Master of Public Policy Programme, Hertie School of
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Governance, Berlin
Publikationen u.a.:
2005: Legitimation globaler Politik durch NGOs. Frauenrechte, De-
liberation und Öffentlichkeit in der UNO. Wiesbaden: VS Verlag.
(Hrsg.) 2005: Europäische Zivilgesellschaft: Konzepte, Akteure,
Strategien. Wiesbaden: VS Verlag (zus. mit Michèle Knodt).

Andreas Hasenclever
Prof. Dr., Professor für Friedensforschung und internationale Politik
an der Tübinger Eberhard Karls Universität
Publikationen u. a.:
(Hrsg.) 2010: Die internationale Organisation des Demokratischen
Friedens: Studien zur Leistungsfähigkeit regionaler Sicherheitsinsti-
tutionen, Baden-Baden: Nomos (gem. Herausgeberschaft mit Mat-
thias Dembinski).
(Hrsg.) 2009: Identität, Institutionen und Ökonomie: Ursachen in-
nenpolitischer Gewalt, PVS-Sonderband 43, Wiesbaden: VS-Ver-
lag (gem. Herausgeberschaft mit Margit Bussmann und Gerald
Schneider).

Michael Heinrich
Dr., Mathematiker und Politikwissenschaftler, z.Zt. Vertretung einer
Professur für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik
und Wirtschaft, Berlin
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2010: Kapital und Kritik. Nach der neuen Marx Lektüre,
VSA Hamburg (zus. mit Werner Bonefeld).
2004: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Stuttgart:
Schmetterling.

Christoph Humrich
Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung Frie-
dens- und Konfliktforschung
592 Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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Publikationen u.a.:
2006: Germany, in: Jørgensen, Knud E./Knudsen, Tonny B. (Hrsg.):
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International Relations in Europe. Traditions, Perspectives and Des-


tinations. London: Routledge, 72-99.
2007: Faktizität ohne Geltung? Oder: Hat die Konstitutionalisierung
des Völkerrechts eine diskursethische Chance? in: Niesen, Peter/
Herborth, Benjamin (Hrsg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit.
Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik. Frank-
furt a.M.: Suhrkamp, 383-405.

Andreas Jacobs
Dr., Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ägypten,
Kairo
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2005: Un-politische Partnerschaft. Eine Bilanz politischer
Reformen in Nordafrika/Nahost nach zehn Jahren Barcelonaprozess,
Sankt Augustin 2005 (zus. mit Hanspeter Mattes).
2003: Problematische Partner. Europäisch-arabische Zusammenar-
beit 1970-1998. Köln: SH-Verlag.

Adam David Morton


Dr., Associate Professor of Political Economy an der School of
Politics and International Relations, University of Nottingham (UK)
Publikationen u.a.:
2011: Revolution and State in Modern Mexico: The Political Econ-
omy of Uneven Development. Boulder: Rowman & Littlefield Pub-
lishers.
2007: Unravelling Gramsci: Hegemony and Passive Revolution in
the Global Political Economy. London: Pluto Press.

Andreas Nölke
Prof. Dr., Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt
Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie,
Goethe-Universität Frankfurt/Main
Publikationen u.a.:
2009: Enlarging the Varieties of Capitalism. The Emergence of De-
pendent Market Economies in East Central Europe, in: World Poli-
tics 61 (2009) 4, 670-702. (zus. Arjan Vliegenthart).
Autorinnen- und Autorenverzeichnis 593
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(Hrsg.) 2007: Transnational Private Governance and its Limits. Lon-


don und New York: Routledge (Routledge/ECPR Studies in Euro-
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pean Political Science, zus. mit Jean-Christophe Graz).

Paul Reuber
Prof. Dr., Lehrstuhlinhaber für Sozialgeographie/Politische Geogra-
phie am Institut für Geographie, Universität Münster
Publikationen u.a.:
2009: Geopolitics, in: Kitchin Rob/Thrift, Nigel (Hrsg.): Internatio-
nal Encyclopedia of Human Geography, Volume 4. Oxford: Else-
vier, 441-452.
2008: Empirical Verve, Conceptual Doubts: Looking from the Out-
side in at Critical Geopolitics, in: Geopolitics 13:3, 458-472 (zus.
mit Martin Müller).

Siegfried Schieder
Dr., Jean Monnet Postdoctoral Fellow am Robert Schuman Centre
for Advanced Studies, European University Institute, Florenz; ab
Oktober 2010 Vertretung des Lehrstuhls für Internationale Bezie-
hungen und Außenpolitik, Universität Trier
Publikationen u.a.
2010: The Social Construction of European Solidarity: Germany
and France in the EU policy towards the states of Africa, the Car-
ibbean, and the Pacific (ACP) and Central and Eastern European
Countries (CEEC), in: Journal of International Relations and De-
velopment 13: 4 (i.E.).
(Hrsg.) 2009: Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung.
Beiträge zur Soziologie der internationalen Beziehungen. Frank-
furt a.M./New York: Campus (zus. mit Hanns W. Maull und Sebas-
tian Harnisch).

Niklas Schörnig
Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung Frie-
dens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt a.M.
Publikationen u.a.:
2010: Liberale Demokratien und Krieg: Warum manche kämpfen
und andere nicht. Ergebnisse einer vergleichenden Inhaltsanalyse
594 Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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von Parlamentsdebatten. In: Zeitschrift für Internationale Beziehun-


gen 17: 2. i.E. (mit Anna Geis und Harald Müller).
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(Hrsg.) 2008: Democracy and Security. Preferences, norms and


policy-making. New York: Routledge (mit Matthew Evangelista und
Harald Müller).

Manuela Spindler
Prof. Dr., Juniorprofessorin für Internationale Politik an der Staats-
wissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt
Publikationen u.a.:
2005: Regionalismus im Wandel. Die neue Logik der Region in ei-
ner globalen Ökonomie. Wiesbaden: VS Verlag.
(Hrsg.) ab 2007: Reihe Studienbücher Theorie in den Internatio-
nalen Beziehungen. Wiesbaden: VS Verlag (zus. mit Siegfried Schie-
der).

Ingo Take
Dr., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft,
Universität Greifswald
Publikationen u.a.:
In Vorbereitung: Globales Regieren auf dem Prüfstand. Nicht de-
mokratisch aber legitim?, Baden-Baden: Nomos.
(Hrsg.) 2009: Legitimes Regieren jenseits des Nationalstaats. Unter-
schiedliche Formen von Global Governance im Vergleich, Schriften
zur Governance-Forschung, Band 18. Baden-Baden: Nomos.

Cornelia Ulbert
Dr., Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Instituts für Entwick-
lung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen
Publikationen u.a.:
(Hrsg.) 2009: Globale Trends 2010. Frieden, Entwicklung, Umwelt.
Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag (zus. mit Tobias Debiel,
Dirk Messner, Franz Nuscheler und Michèle Roth).
2008: Transnationale öffentlich-private Partnerschaften – Bestim-
mungsfaktoren für die Effektivität ihrer Governance-Leistungen,
in: Schuppert, Gunnar Folke/Zürn, Michael (Hrsg.): Governance
in einer sich wandelnden Welt (PVS-Sonderheft 41), Wiesbaden:
Autorinnen- und Autorenverzeichnis 595
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VS Verlag, 452-474 (zus. mit Marianne Beisheim und Andrea


Liese).
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Günter Wolkersdorfer
Dr., Akademischer Rat am Institut für Geographie an der Universität
Münster
Günter Wolkersdorfer verstarb im Juli 2008 nach schwerer Krank-
heit
Publikationen u.a.:
2008: Geopolitische Leitbilder als Deutungsschablone für die Be-
stimmung des „Eignen“ und des „Fremden“, in: Lentz, Sebasti-
an/Ormeling, Ferjan (Hrsg.): Die Verräumlichung des Welt-Bildes.
Stuttgart: Steiner-Verlag, 181-192.
2007: Raum und Macht: Geopolitik des 21. Jahrhunderts, in: Geb-
hardt, Hans et al. (Hrsg.): Geographie. Physische und Humangeo-
graphie. Heidelberg: Spektrum, 895-904. (zus. mit Paul Reuber)

Bernhard Zangl
Prof. Dr., Professor für Global Governance and Public Policy am
Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, LMU München
Publikationen u.a.:
2008: Judicialization Matters! A Comparison of Dispute Settlement
under GATT and the WTO. In: International Studies Quarterly 52:4.
2008. 825-854.
(Hrsg.) 2006: International Organization. Polity, Policy, and Politics,
Houndsmills: Palgrave (zus. mit Volker Rittberger).

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