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Band 16
emilia galotti
Rüdiger Bernhardt
7. Auflage 2020
ISBN 978-3-8044-1923-0
PDF: 978-3-8044-5923-6, EPUB: 978-3-8044-6923-5
© 2010, 2002 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld
Alle Rechte vorbehalten!
Titelbild: Peter Mosbacher mit Judith Holzmeister in Emilia Galotti, Theater am
Kurfürstendamm, Berlin 1953, © ullstein bild – Ruth Wilhelmi
Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk
2.1 Biografie 11
2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund 17
2.3 Angaben und Erläuterungen
zu wesentlichen Werken 24
4. REZEPTIONSGESCHICHTE 94
5. MATERIALIEN 107
6. PRÜFUNGSAUFGABEN MIT
M USTERLÖSUNGEN 111
4
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LITERATUR 123
STICHWORTVERZEICHNIS 128
5
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1 schnellübersicht 2 G. E. Lessing: 3 Textanalyse und
Leben und Werk -interpretation
S. 11 ff. Gotthold Ephraim Lessing lebte von 1729 bis 1781, zeitweise
als freier Schriftsteller in Sachsen, Berlin, Breslau, Hamburg
und zuletzt als Bibliothekar in Wolfenbüttel.
S. 17 ff. Lessing ist der wichtigste Vertreter der deutschen Aufklärung,
die er dem Einfluss des französischen Klassizismus entzog.
Er lernte die deutsche Kleinstaaterei ausgiebig kennen und
verurteilte sie samt der absolutistischen Herrschaftsform.
S. 20 ff. Mit dem bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti setzte Lessing
neue Maßstäbe für das Drama, überwand die poetischen Prin
zipien Gottscheds und schuf ein politisches Stück mit sozialen
Konturen.
Inhalt:
Das Trauerspiel hat fünf Aufzüge. S. 35 ff.
Der Prinz von Guastalla hat Emilia Galotti gesehen und begehrt
sie leidenschaftlich. Um sie zu gewinnen, muss er seine Mätresse
Gräfin Orsina verabschieden und Emilias Heirat mit dem Grafen
Appiani verhindern. Der Kammerherr Marinelli lässt den Grafen
überfallen, umbringen und Emilia auf das Lustschloss des Prinzen
bringen. Die Orsina erkennt die Hintergründe der Ereignisse und
klärt Emilias Vater Odoardo auf. Emilia spürt, dass sie der Verfüh
rung durch den Prinzen weder entgehen noch widerstehen kann;
sie will sich töten. Das übernimmt ihr Vater, der sich danach der
himmlischen und der irdischen Gerechtigkeit stellt. Der Prinz ver
bannt Marinelli.
Aufbau:
Lessings bürgerliches Trauerspiel folgt der aristotelischen S. 45 ff.
Dramaturgie, bringt Züge der klassizistischen französischen
Tragödie und Merkmale des englischen bürgerlichen Trauer
spiels zusammen.
Es variiert die drei Einheiten (Einheit des Ortes, der Zeit und
der Handlung) nach modernen Erfordernissen; die Einheit der
Handlung wird besonders beachtet.
Personen:
Die Hauptpersonen sind S. 55 ff.
Emilia Galotti:
Titelfigur;
die schöne, junge Frau fühlt ihre Tugend von der Leidenschaft
bedroht;
EMILIA GALOTTI 7
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Leben und Werk -interpretation
Gräfin Orsina:
Mätresse des Prinzen;
schön, intelligent und zu allem entschlossen;
Odoardo Galotti:
autoritärer, soldatischer Pflichtmensch;
arm, ehrlich und bieder;
Tugend- und Moralauffassungen bürgerlicher Prägung;
Marinelli:
verbrecherischer und intriganter Hofmann;
skrupelloser Politiker;
Graf Appiani:
ländlich, sittlich, tolerant;
Repräsentant des „Natürlichen“ und des aufgeklärten Adels
mit Neigung zu bürgerlicher Toleranz;
Claudia Galotti:
lebenserfahrene, aber leichtgläubige, um die Sitten bei Hof
wissende Ehefrau Odoardos;
ohne dessen rigorose Moralität;
auf Emilias gesellschaftliche Stellung bedacht;
Conti:
Maler;
Beispiel für das Mäzenatentum des Prinzen;
kümmert sich um seine Existenz.
Interpretationsansätze:
Die Ablösung der feudalistischen Macht durch das Bürgertum S. 85 ff.
wirkt sich auf die menschlichen Gefühle und Leidenschaften
aus. Obwohl unter Adligen spielend, werden bürgerliche Ziele
behandelt: Natürlichkeit, Freiheit und Selbstverwirklichung.
Der historische Stoff der Virginia bildet die Grundlage eines
Stücks aus naher Vergangenheit, das sich spezifisch deutscher
Probleme annimmt, wie z. B.: der fehlende Aufstand nach dem
Tod Emilias, die Grenzen der Handlungsfähigkeit der Figuren
sowie die Vernichtung bürgerlichen Denkens durch absolutis
tische Macht.
Rezeptionsgeschichte:
Viele Zeitgenossen begrüßten das Stück und versuchten so S. 94 ff.
gar, es fortzusetzen; andere hatten Vorbehalte gegen Emilias
Schicksal und die italienische Einkleidung.
EMILIA GALOTTI 9
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Leben und Werk -interpretation
2.1 Biografie
2.1 Biografie
JAHR ORT EREIGNIS ALTER
EMILIA GALOTTI 11
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2.1 Biografie
2.1 Biografie
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Leben und Werk -interpretation
2.1 Biografie
1 Brief an Johann Gottfried Lessing vom 13. Juni 1764. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 231.
2.1 Biografie
EMILIA GALOTTI 15
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Leben und Werk -interpretation
2.1 Biografie
Zusammen
Emilia Galotti gehört zu den Vorbereitungen auf die Franzö fassung
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Leben und Werk -interpretation
Spannungen, die 1775 zum Krieg und dem Zerfall des Kolonial
reiches führten. In Mecklenburg (1769) und Sachsen (1770) wurde
die Folter abgeschafft.
„Empfindsam- Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Zeichen der Aufklä
keit“ rung, bezeichnet man oft als Zeit der „Empfindsamkeit“2. Lessing
hat den Begriff „empfindsam“ als Übersetzung des englischen
„sentimental“ verwendet; beschrieben wurde eine literarische
Strömung der Art Samuel Richardsons (1689 – 1761). Ursprüng
lich religiös inspiriert, wurde die Empfindsamkeit zu einem bür
gerlichen Wert, in den Gefühl, Natürlichkeit und Leiden an einer
konfliktreichen Wirklichkeit eingingen. In der Enzyklopädie Di
derots wird sie in Zusammenhang mit dem tugendhaften Men
schen gebracht. Es handelt sich um einen politischen Wert. Zur
empfindsamen Dichtung wurden Klopstocks Messias und Goethes
Die Leiden des jungen Werther (1774) gerechnet. Werther hatte
Lessings Emilia Galotti auf dem Pult liegen, als er sich erschoss;
das war kein Zufall, sondern zeitgemäß. Lessing war als bürgerli
cher Dichter auch ein Dichter der Empfindsamkeit, die in Form der
Rührung ins bürgerliche Trauerspiel einging. Das verlangte nach
entsprechenden Helden; neben Spartacus, Virginia, Faust und Sa
muel Henzi (1701 – 1749) gehörte auch Emilia Galotti dazu. Eine
handlungsfähige bürgerliche Gesellschaft nach Stände- oder Klas
sendefinition ist in Emilia Galotti nicht zu finden. Auch der Maler
Conti, von bürgerlicher Herkunft, ist vom Hof abhängig und nicht
von bürgerlichen Auftraggebern.
Mit Samuel Henzi hatte Lessing, ähnlich wie in Emilia Galotti, ei
nen Gegenwartsstoff gewählt. Beides sind bürgerliche Trauerspie
le und einander ähnlich. Henzis Vorhaben, die Herrschaftsform zu
2 1779 erschien Joachim Heinrich Campes Schrift Über Empfindsamkeit und Empfindelei in
Braunschweig.
verändern, setzt voraus, dass das Volk zuvor lernt, was Tugend und
Pflicht bedeuten.
Tugend als Wert war seit Aristoteles’ Ethik bestimmt: Man ver Tugend als Wert
stand darunter die Fähigkeit, sich im Leben stets so zu entschei
den, dass allgemein Gültiges eingehalten wurde und der Mensch
dadurch ein gutes Leben führte, auch unter widrigen Umständen.
Ein tugendhaftes Leben war immer mit einer sinnvollen Erfüllung
verbunden, wobei nicht die Absicht, sondern nur das Resultat,
nicht der Gewinn für den einzelnen Menschen, sondern der für
die Gemeinschaft wichtig war. Die französischen Enzyklopädisten
koppelten Empfindsamkeit und Tugend, sie machten damit die
Spezifik der bürgerlich-aufklärerischen Bestimmung aus: „(…) die
Empfindsamkeit bringt den tugendhaften Menschen hervor. Die
Empfindsamkeit ist die Mutter der Menschlichkeit und der Groß
mut; sie fördert das Verdienst, unterstützt den Geist und hat die
Überzeugung zur Folge.“3
Wenn Lessing in Emilia Galotti eine Veränderung der Herr
schaftsform ausklammert und ausschließlich der Tugend Auf
merksamkeit schenkt, ist das ein Hinweis darauf, dass dieser Lern
vorgang nicht vorangekommen war. Samuel Henzi war L essings
kühnster Entwurf eines bürgerlichen Trauerspiels. Aber das The
ma fand keine hoffnungsvolle Entsprechung in der deutschen
Wirklichkeit.
Schon während des Studiums in Leipzig galt Lessings Haupt
interesse dem Theater. Es war die Zeit der Neuberin (Friederike
Caroline Neuber, geb. Weißenborn; 1697 – 1760), die 1744 nach
Leipzig zurückgekehrt war und ihre letzten Inszenierungen vor
stellte, ehe sie 1750 aus Leipzig vertrieben wurde. Lessings Der
3 Manfred Naumann (Auswahl und Einführung): Artikel aus der von Diderot und d’Alembert heraus-
gegebenen Enzyklopädie. Leipzig: Reclam, 1984, S. 730.
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Leben und Werk -interpretation
4 Erst in der 4. Auflage 1751 ging Gottsched kurz auf das bürgerliche Trauerspiel ein und betrach-
tete es als ein „Mittelding“ zwischen Tragödie und Komödie.
5 Der Alexandriner besteht aus sechs Takten (eigentlich acht Takten, von denen zwei stumm sind)
und beginnt mit einem Auftakt. Er kommt aus den Epen um Alexander (12. Jahrhundert) und
Lessing in Samuel Henzi noch verwendet hatte, trat Prosa. Mit der
entstehenden deutschen klassischen Literatur wurde der Blank
vers in das bürgerliche Trauerspiel oder in vergleichbare Werke
aufgenommen (vgl. Lessings Nathan der Weise).
Der Hof von Guastalla in Emilia Galotti war kein Abbild des
Braunschweiger Hofes; es gab in Deutschland an vielen Höfen
ähnliche Verhältnisse. Insofern entsprach der italienische Hof von
Guastalla der typisierten deutschen Kleinresidenz. Der protestan
tische Lessing, der für ein protestantisches Publikum schrieb, ver
legte die Handlung in ein katholisches Umfeld, in dem der Tugend
begriff zusätzlich eine religiöse Dimension bekam und von Emilia
im Zusammenhang mit ihrem Todeswunsch im Blick auf „Heilige“
(HL S. 70/R S. 85) auch aktiviert wird.
Die Situation deutscher Untertanen war 1772 misslich. Teue Gesellschaftliche
rung, Hungersnot und Krankheiten (Faulfieber) herrschten. Der Lage
wurde in Deutschland aus dem Französischen übernommen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts
war er der am meisten gebrauchte Vers. Der Verzicht auf ihn war eine revolutionäre Tat Les-
sings – und nach ihm der Vertreter des Sturm und Drang.
6 Zitiert nach einem Urteil von 1780 in Waldemar Oehlke: Lessing und seine Zeit. München:
C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1919, 2. Band, S. 145.
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Leben und Werk -interpretation
7 Zu Lessings 250. Geburtstag verwies Walter Jens energisch darauf, dass Lessings Ziele und
die der Revolution noch immer nicht verwirklicht wurden. Vgl. Dvoretzky (Hg.): Lessing heute,
S. 295.
EMILIA GALOTTI 23
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Leben und Werk -interpretation
Zusammen
fassung Mit dem Emilia-Galotti-Stoff, literarischen Gestaltungen und
Übersetzungen des Stoffes beschäftigte sich Lessing von
1749 bis 1772. Bereits vor Emilia Galotti interessierte sich
Lessing für das bürgerliche Trauerspiel als Gattung, griff
dazu auf englische Beispiele sowie auf zeitgenössische Vor
gänge zurück und entwickelte eine dramaturgische Bestim
mung.
8 Fick, S. 179.
9 Alt, S. 158.
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1766 Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie: Literatur
wurde als dynamisch, handelnd, kämpferisch bestimmt.
1767– Hamburgische Dramaturgie: Konkretisierungen des bürgerlichen
1769 Dramas vor allem bei den in ihnen handelnden „gemischten“
Charakteren. Im 14. Stück Hinweis, dass Fürsten und Helden zwar
einem Stücke Pomp geben können, „aber zur Rührung tragen sie
nichts bei“. Deshalb sind Menschen zu wählen, „deren Umstände
den unsrigen am nächsten kommen“.
Emilia Galotti
(1771/1772)
Zusammen
Der Stoff ist als Schicksal der römischen Virginia weltbe fassung
Das Schicksal der Emilia Galotti ähnelt dem der römischen Vir Virginia-Stoff
ginia; der berühmte Stoff der Weltliteratur wird ein einziges Mal
am Ende genannt. Er wurde von den Geschichtsschreibern Cicero
(106 – 43 v. Chr.), Titus Livius (59 v. Chr. – 17 n. Chr.) und Dionysios
von Halikarnass überliefert, der etwa 31 v. Chr. nach Rom kam.
Während Cicero Virginia kurz ins zweite Buch seines Werks De
finibus bonorum et malorum aufnahm, schilderten die beiden an
deren Appius Claudius: Er verliebte sich in Virginia, die Tochter
des Plebejers Lucius Virginius. Um ihren Widerstand zu brechen,
denunzierte Appius sie als Sklavin, die ihrem Herrn, einem Subjekt
des Appius Claudius namens Marcus Claudius, zu folgen hatte. Ihr
Vater Virginius erstach die Tochter, um deren Freiheit, gemeint
war: deren Jungfräulichkeit und Ehre, zu erhalten. Die Tat löste
einen Volksaufstand gegen Appius aus, der zum Sturz der Decem
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Leben und Werk -interpretation
virn und zur Verhaftung des Appius führte, der sich 448 v. Chr. im
Gefängnis getötet haben soll.
Lukretia-Sage Ein zweiter Stoff hat ebenfalls Spuren bei Lessing hinterlassen:
die Sage vom Tod der Lukretia. Auch sie wurde von Livius berich
tet. Wenn Emilia sich mit einer Haarnadel zu töten versucht, ist das
aus dem Lukretia-Stoff entnommen. Die tugendhafte Lukretia wird
durch Drohungen und Betrug gefügig gemacht, enthüllt unmittel
bar darauf das Verbrechen und tötet sich; ein Volksaufstand folgt.
Lessing hatte den Stoff in Das befreite Rom aufgenommen.
Lessing beschäftigte sich fünfzehn Jahre mit einer „bür
gerlichen Virginia“ und löste den römischen Stoff von seinen
staatlichen Beziehungen, klammerte den „Umsturz der ganzen
Staatsverfassung“10, politischer Bestandteil der Überlieferung,
aus. Er konzentrierte sich auf den Tod Virginias, die Verteidigung
ihrer Unschuld und verzichtete auf den Aufstand des Volkes. Die
Hamburgische Dramaturgie, das 14. Stück, erklärt, dass nicht die
herrschaftliche Stellung eines Menschen ihn interessant mache,
sondern allein sein Menschsein. „(…) unsere Sympathie erfodert
[= erfordert] einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu
abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.“11 Ein Umsturz durch
das Volk, wie ihn das römische Vorbild bot, hatte keinen Platz in
Lessings Trauerspiel, da es in der deutschen Wirklichkeit keine
passenden Vorgänge gab. Als Lessing den Stoff 1771 wieder auf
nahm, bezeichnete er das Sujet als
„(…) eins von meinen ältesten, das ich einmal in Hamburg aus
zuarbeiten anfing. Aber weder das alte Süjet noch die Hambur
ger Ausarbeitung habe ich jetzt brauchen können, weil jenes
10 Brief vom 21. Januar 1758 an Friedrich Nicolai. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 157.
9
nur in drei Akte abgeteilt, und diese so angelegt war, dass sie
nur gespielt, aber nie gedruckt werden sollte.“12
Nicolai hatte einen Preis von 50 Talern für das beste deutsche Trau
erspiel ausgesetzt. An Mendelssohn schrieb Lessing am 22. Okto
ber 1757, dass ein junger Mensch ein Trauerspiel schreibe, „wel
ches vielleicht unter allen das beste werden dürfte, wenn er noch
ein paar Monate Zeit darauf wenden könnte“13. Da der Gewinner
vor der Preisvergabe starb, sollte Nicolai den Preis nochmals aus
schreiben, nun verdoppelt. „Unterdes“, schrieb Lessing am 21. Ja
nuar 175814 an Nicolai, „würde mein junger Tragikus“, der er sel
12 Brief vom 10. Februar 1772 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 499.
13 Brief vom 22. Oktober 1757 an Moses Mendelssohn. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 150.
14 Brief vom 21. Januar 1758 an Friedrich Nicolai. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 156.
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Leben und Werk -interpretation
ber war, „fertig, von dem ich mir, nach meiner Eitelkeit, viel Gutes
verspreche; denn er arbeitet ziemlich wie ich.“ Sein Thema sei
eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben
habe. Zu diesem Zeitpunkt sollte das Stück dreiaktig sein. Die Or
sina war noch nicht vorhanden. Das Attribut „bürgerlich“ wies eine
moralische Qualität aus, die sich mit neu entstandenen Lebensge
wohnheiten wie „häuslich“ (heute noch erhalten im Begriff der
„bürgerlichen Küche“) verband. Ästhetisch war es der Gegensatz
zu „heroisch“15 und zu den barocken Haupt- und Staatsaktionen,
die wiederum zur absolutistischen Staatsauffassung gehörten.
Rousseau Der französische Philosoph Rousseau meldete sich in dieser
Zeit mit seinen Forderungen: 1756 lernte Lessing in der Über
setzung Mendelssohns die berühmte Schrift Vom Ursprunge der
Ungleichheit unter den Menschen kennen, wobei er sich vor allem
für die „Moralität“ interessierte, die den Menschen bewahre, „um
nichts Geringers zu werden“16. 1762 erschien der Gesellschaftsver-
trag, der die Menschen in einer freien Vereinigung zusammenfüh
ren wollte, in der keiner so reich sein sollte, sich einen Menschen
zu kaufen, und keiner so arm, sich verkaufen zu müssen. Der Ver
trag wurde unter die Losung gestellt „Retour à la nature“ (Zurück
zur Natur), die ein alternatives Leben bezeichnete, in dem es zwar
Eigentum, aber gleich verteiltes gab. Lessings Emilia wollte jene
Losung leben, in ihrer schlichten Schönheit und „in Locken, wie
die Natur sie schlug“. So fiel sie Appiani auf, und damit bedeutete
sie auch für den Prinzen den faszinierenden Gegensatz zur steril
gewordenen Künstlichkeit am Hofe und dem inszenierten Mätres
senwesen.
„In Deiner ,Emilia Galotti‘ herrscht ein Ton, den ich in keiner
Tragödie, so viel ich deren gelesen, gefunden habe; ein Ton,
der nicht das Trauerspiel erniedrigt, sondern nur so herunter
stimmt, dass es ganz natürlich wird, und desto leichter Eingang
in unsere Empfindungen erhält.“19
17 Brief vom 31. Oktober 1771 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 450.
18 Brief vom 24. Dezember 1771 an Christian Friedrich Voss. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 472.
19 Brief Karl Lessings vom 3. Februar 1772 an Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 497.
20 Brief vom 1. März 1772 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 502.
EMILIA GALOTTI 31
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Leben und Werk -interpretation
21 Brief von Anfang März 1772 an den Herzog Karl von Braunschweig. In: Werke, 1957, 9. Band,
S. 503.
„Lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der
Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine
Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und Dä
nemark geschieht: und Sie werden bald die Erfahrung haben,
welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land
Europas ist“22.
Lessings Stück war Erfolg beschieden. Es gilt bis heute als gesell Gesellschafts-
schaftskritisches bürgerliches Trauerspiel, dem eine revolutionäre kritik
22 Brief an Friedrich Nicolai vom 25. August 1769. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 327.
23 Vgl. Barner, S. 174.
EMILIA GALOTTI 33
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Leben und Werk -interpretation
3.2 Inhaltsangabe
3.2 Inhaltsangabe
Zusammen
Der Prinz von Guastalla, Hettore Gonzaga, hat Emilia Galotti, fassung
die mit ihren Eltern in der Residenz ist, auf einer Abendge
sellschaft gesehen und begehrt sie seither. Um sein Ziel zu
erreichen, muss er seine bisherige Mätresse, Gräfin Orsina,
verabschieden und Emilias Heirat mit dem Grafen Appiani
verhindern. Der verbrecherisch-intrigante Kammerherr
Marinelli lässt den Grafen überfallen, umbringen und Emilia
auf das Lustschloss des Prinzen bringen. Die Orsina erkennt
die Zusammenhänge der Ereignisse und klärt Emilias Vater
Odoardo auf, um ihn zum Mord am Prinzen anzustacheln.
Emilia spürt, dass sie der Verführung durch den Prinzen we
der entgehen kann noch zu widerstehen vermag, und will
sich töten. Das übernimmt ihr Vater, der sich danach der
himmlischen und der irdischen Gerechtigkeit stellt. Der
Prinz verbannt Marinelli.
Erster Aufzug
Hettore Gonzaga, kurz vor der Eheschließung mit der Prinzessin von
Massa, begehrt Emilia Galotti und wird durch ein Bild des Malers
Conti bestärkt. Er fordert den Kammerherrn Marinelli auf, mit allen
Mitteln Emilias anstehende Hochzeit mit dem Grafen Appiani zu ver-
hindern.
1.1: Am frühen Morgen nimmt der in Leidenschaft für Emilia
Galotti entflammte Prinz Hettore Gonzaga seine Amtsgeschäfte auf
und wird durch die Bittschrift einer Emilia an seine Leidenschaft
erinnert. Wegen ihr vernachlässigt er seine Mätresse, Gräfin Or
sina, die sich ihm brieflich in Erinnerung bringt und in die Stadt
EMILIA GALOTTI 35
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Leben und Werk -interpretation
3.2 Inhaltsangabe
3.2 Inhaltsangabe
Zweiter Aufzug
Bei Galottis bereitet man sich auf die Hochzeit vor; Odoardo erfährt Sven Lehmann
von der Begegnung des Prinzen mit Emilia und ist empört. Emilia als Gonzaga und
Nina Hoss als
berichtet der Mutter von einem erneuten Annäherungsversuch des Gräfin O
rsina in
Prinzen. Appiani ist auf dem Wege zum Prinzen, um ihm die Hochzeit einer Inszenie-
mitzuteilen; Marinelli will ihn jedoch sofort als Botschafter zur Prin- rung am Deut-
schen Theater
zessin von Massa entsenden. Appiani lehnt ab. 2001–2002,
2.1–2.2: Odoardo Galotti trifft unerwartet in der Stadtwohnung © ullstein bild –
der Familie ein. Er ist besorgt, dass Emilia allein zur Messe gegan Lieberenz
EMILIA GALOTTI 37
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Leben und Werk -interpretation
3.2 Inhaltsangabe
Hofes und ihre Bildung in der Stadt, unter den Augen der Mutter,
die einzige Möglichkeit, um zu einer standesgemäßen Ehe zu kom
men. Claudia erzählt Odoardo von einer ersten Begegnung Emilias
mit dem Prinzen bei den Grimaldis; Odoardo ist fassungslos, wü
tend und ahnungsvoll. Er und der Prinz sind durch gegensätzliche
Gebietsansprüche auf Sabionetta Gegner, sein Urteil ist deshalb
auch scharf: „Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt“ (HL S. 22/R
S. 26). Wütend reitet er der Hochzeitskutsche Appianis voraus.
2.5 – 2.6: Claudia wartet ungeduldig auf Emilia, die aus der Mes
se zurückkommend der Mutter von ihrer erneuten Begegnung und
ihrem Gespräch mit dem Prinzen erzählt; sie ist verwirrt, will nichts
mehr vom Inhalt des Gesprächs, das ein Liebesgeständnis war,
wissen und erinnert sich nur der körperlichen Berührung durch
den Prinzen („Das war die einzige Überlegung, deren ich fähig
war – oder deren ich nun mich wieder erinnere. Er sprach; und ich
hab ihm geantwortet.“, HL S. 25/R S. 29). Als die Mutter sie fragt,
ob sie „in einem Blicke alle die Verachtung“ gezeigt habe, die der
Prinz verdiene, verneint Emilia das: „Nach dem Blicke, mit dem
ich ihn erkannte, hatt’ ich nicht das Herz, einen zweiten auf ihn zu
richten“ (HL S. 25/R S. 29). Das ist ein erstes Zeichen, dass sie ihm
letztlich nicht widerstehen würde. Ein zweites folgt sofort: Die Ab
sicht, ihrem Verlobten Appiani von der Begegnung zu berichten,
gibt sie schnell auf, als auch die Mutter abrät. Die Erschütterung
vergeht: „(Mit einem tiefen Atemzuge.) Auch wird mir wieder ganz
leicht“ (HL S. 26/R S. 31)
2.7 – 2.8: Emilias Verlobter, Graf Appiani, ist das Gegenteil des
liebes- und sinnestollen Prinzen: Er tritt „tiefsinnig, mit vor sich hin
geschlagenen Augen herein“ (HL S. 26/R S. 31). Mit Claudia und
Emilia führt er ernste Gespräche über Tränen, die in einen Diskurs
über Symbole münden: Emilia verspricht, bald mit der „Rose“ (HL
S. 28/R S. 33) im Haar vor ihm zu erscheinen. Sie ist das Zeichen
3.2 Inhaltsangabe
von unberührter Schönheit und Liebe und wird am Ende das Zei
chen des Todes, „eine Rose gebrochen“ (HL S. 70/R S. 87). Appiani
teilt ihnen mit, dass er den Prinzen über die bevorstehende Heirat
informieren will.
2.9 – 2.11: Marinelli, von Pirro angekündigt, will Appiani zum
Prinzen bringen, um ihn von dort als Gesandten nach Massa zu
senden. Damit würde die gräfliche Hochzeit verschoben. Appiani
lehnt ab, beleidigt Marinelli – Appianis einziger Gefühlsausbruch –
und wird von diesem zum Duell gefordert. Als Appiani sich diesem
sofort stellen will, entzieht sich Marinelli, denn nun muss eine Ent
führung die Hochzeit verhindern. Claudia ist sichtlich beunruhigt.
Dritter Aufzug
Während Marinelli vom Scheitern seines Auftrags berichtet, erfolgt
der Überfall auf Appianis Kutsche. Angelo bringt Marinelli die Nach-
richt vom Tod Appianis. Emilia glaubt, sich vor Räubern auf ein
Schloss zu retten, erfährt, dass es dem Prinzen gehört, und wird von
diesem zu „Entzückungen“ geführt. Nach Emilia kommt ihre Mutter
auf das Schloss, ahnt die Zusammenhänge, nennt Marinelli einen
„Mörder“ und sucht Emilia.
3.1: Marinelli berichtet dem Prinzen, der sich inzwischen auf
sein Lustschloss Dosalo begeben hat, vom Scheitern seiner Missi
on. Er belügt den Prinzen und erklärt, er habe Appiani gefordert,
um die Hochzeit zu verhindern, sei aber „auf die ersten acht Tag
nach der Hochzeit“ (HL S. 33/R S. 41) zum Duell beschieden wor
den. Er weiß, dass dieses Duell nicht mehr zustande kommen wird.
Über sein Gespräch mit Emilia nach der Messe berichtet der Prinz
Marinelli „höhnisch“: „Sie kam meinem Verlangen, mehr als hal
bes Weges, entgegen. Ich hätte sie nur gleich mitnehmen dürfen“
(HL S. 34/R S. 41). Kurz darauf berichtet er das Gegenteil: Er habe
„ihr auch nicht ein Wort auspressen“ (HL S. 37/R S. 45) können.
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3.2 Inhaltsangabe
Über das Gespräch zwischen dem Prinzen und Emilia wird von
den handelnden Personen unterschiedlich berichtet. Im Gespräch
mit Marinelli entsteht eine Ahnung, was in diesem Gespräch ver
handelt worden sein könnte. Es scheint Verständnis zwischen dem
Prinzen und Emilia gegeben zu haben. Man hört aus der Ferne
Schüsse. Marinelli hat ohne Wissen des Prinzen Appianis Tod ge
plant. Den Prinzen überfällt „Bangigkeit“ (HL S. 35/R S. 42).
3.2 – 3.4: Angelo berichtet Marinelli vom Anschlag auf Appiani.
Der Prinz und Marinelli beobachten Emilia, die sich ins Schloss
rettet. Marinelli empfängt Emilia, die erfährt, dass sie im Schloss
des Prinzen ist.
3.5: Als der Prinz Emilia bei sich hat, außerhalb von Kirche und
Messe, und sein Wunsch sich zu erfüllen beginnt, spricht auch
er anders über das Gespräch, erzählt vor Marinelli von Emilias
„sprachlose(r) Bestürzung“ (HL S. 40/R S. 49), mit der sie sein Ge
ständnis anhörte, oder vielmehr nicht anhörte. Damit bleibt offizi
ell Emilias Tugend unberührt, und er kann sie zu „Entzückungen“
führen, „die Sie mehr billigen“ (HL S. 40/R S. 49). Emilia lässt es,
wenn auch „nicht ohne Sträuben“ (HL S. 40/R S. 49), aber wider
spruchslos zu.
3.6 – 3.8: Emilias Mutter ist an der Spitze eines Menschenhau
fens, „der ihr den Weg weiset“ (HL S. 41/R S. 59), auf dem Weg ins
Schloss. Marinelli empfängt sie, sein Diener Battista drängt ihre
Begleiter hinaus. Claudia erzählt, Appiani sei mit einer Verwün
schung Marinellis gestorben. Sie versteht allmählich die Zusam
menhänge, nennt Marinelli einen „feigen, elenden Mörder“ (HL
S. 43/R S. 53), hört Emilias Stimme und stürzt ihr nach.
Vierter Aufzug
Der Prinz muss sich von der ersten Begegnung mit Emilia „erho-
len“. Marinelli erklärt ihm seine Schuld an Appianis Tod. Die Orsina
3.2 Inhaltsangabe
kommt aufs Schloss und wird vom Prinzen kühl abgefertigt. Als sie
von Emilias Anwesenheit erfährt, durchschaut sie die Ereignisse. Sie
kann Odoardo, der ebenfalls auf dem Schloss eintrifft, die Zusam-
menhänge erklären, Emilias Bedeutung für den Prinzen verdeutli-
chen und Odoardo für ihre Rache gewinnen.
4.1: Der Prinz, nachdem er eine Weile mit Emilia allein war, be
tritt die Szene, um sich zu „erholen“ (HL S. 45/R S. 54). Er erfährt
von Appianis Tod und sieht sich in Marinellis Hand, nachdem die
ser ihm erklärt, der Prinz habe durch seine Liebeserklärung nach
der Messe den Verdacht, am Tode Appianis schuldig zu sein, auf
sich gelenkt. Der Prinz durchschaut Marinellis heimtückisches, in
trigantes Spiel nicht und glaubt dessen lügnerischen Erklärungen,
die alle Schuld am Tode Appianis auf ihn lenkt.
4.2 – 4.4: Seine Lage verschärft sich, als Gräfin Orsina ihn zu
sprechen sucht, die ihn brieflich um eine Zusammenkunft in Do
salo gebeten hatte. Der Prinz aber hatte den Brief nicht gelesen.
Er ist nach Dosalo gekommen, um Emilia zu treffen, und fertigt
die Orsina beiläufig ab. Sie aber hat Geräusche einer Verführung
gehört („das Gequicke, das Gekreusche“; HL S. 49/R S. 60).
4.5: Die Orsina ist fassungslos. Als Marinelli ihr offenbart, wer
beim Prinzen und weshalb er beschäftigt ist, erkennt sie die Zu
sammenhänge: Der Prinz habe am Morgen mit Emilia „ein Langes
und Breites gesprochen“ (HL S. 54/R S. 66) und man habe ge
hört, worüber. Sie schlussfolgert: „Der Prinz ist ein Mörder!“ (HL
S. 54/R S. 65). Marinellis Prophezeiung, dass der Prinz für den Tod
Appianis verantwortlich gemacht werde, hat sich schnell erfüllt.
Sie verkündet: „Morgen will ich es auf dem Markte ausrufen“ (HL
S. 54/R S. 66). In diesem Vorsatz ist ein Rest des im Virginia-Stoff
angelegten Aufbegehrens zu finden, denn der „Markt“ assoziiert
„Volk“, an das sich die Orsina wenden will. Aber ihr Vorsatz bleibt
folgenlos.
EMILIA GALOTTI 41
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Leben und Werk -interpretation
3.2 Inhaltsangabe
4.6: Odoardo trifft auf dem Schloss ein; er hat von dem Überfall
gehört. Marinelli will ihn beim Prinzen melden, rät ihm aber von
einem Gespräch mit der Orsina ab.
4.7: Die Orsina enthüllt Odoardo die Hintergründe von Appianis
Tod, dass Emilia nun des Prinzen Geliebte sei und „ein Leben voll
Wonne“ (HL S. 57/R S. 69) führen könne: „Des Morgens, sprach
der Prinz Ihre Tochter in der Messe, des Nachmittags, hat er sie auf
seinem Lust- – Lustschlosse“ (HL S. 57/R S. 70). Die Orsina, deren
Kundschafter das Gespräch zwischen dem Prinzen und Emilia „in
Vertraulichkeit“ und „Inbrunst“ (HL S. 57/R S. 70) beobachteten
und belauschten, macht Odoardo weitreichende Andeutungen,
dass Emilia und der Prinz die Tat gemeinsam abgesprochen hät
ten: „Sie [= der Prinz und Emilia] hatten nichts Kleines abzureden.
Und recht gut, wenn es abgeredet worden; recht gut, wenn Ihre
Tochter freiwillig sich hierher gerettet!“ (HL S. 57/R S. 70). Sie hat
auch Gift und Dolch zur Verfügung; den Dolch zwingt sie Odoardo
auf und bedrängt ihn, Rache zu nehmen. Durch Odoardos blin
de Wut („Blickt wild um sich, und stampft, und schäumet“ , HL
S. 58 / S. 70) wird es möglich, ihm die Rache zu übertragen und sie
nicht selbst durchführen zu müssen. Sie entwirft „eine himmlische
Phantasie“ (HL S. 58/R S. 71), einen Rachefeldzug der zu Furien
gewordenen verlassenen Mätressen gegen den Prinzen.
4.8: Odoardo bekommt von Claudia bestätigt, dass der Prinz am
Morgen Emilia in der Messe gesprochen hat. Er schickt seine Frau
mit der Orsina in die Stadt zurück.
Fünfter Aufzug
Der Prinz und Marinelli beobachten, was Odoardo plant. Während er
Emilia in ein Kloster bringen will, möchte Marinelli sie in Guastalla
halten, bis die Tat aufgeklärt ist. Getrennt von ihrer Familie soll sie
im Haus des Kanzlers, im „Haus der Freude“ (HL S. 70/R S. 85),
3.2 Inhaltsangabe
EMILIA GALOTTI 43
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Leben und Werk -interpretation
3.2 Inhaltsangabe
sind Sinne. Ich stehe für nichts“ (HL S. 70/R S. 85). Odoardo, der
eigentlich schon alle Rache aufgegeben hatte und Emilia an das
eine Leben erinnert, das sie hat, wird durch Emilia auf die „eine
Unschuld“ (HL S. 70/R S. 85) verwiesen und an das Beispiel der
Virginia erinnert. Er ersticht Emilia.
5.8: Odoardo will sich stellen und ins Gefängnis gehen. Er er
wartet dort den Prinzen als Richter, um ihn dann „vor dem Richter
unser aller“ (HL S. 71/R S. 87) wiederzutreffen. Der Prinz verbannt
Marinelli. Er erkennt, dass er als „Fürst“ nicht Mensch sein darf
(vgl. HL S. 71/R S. 87), also Emilia nicht lieben durfte. Wenig Raum
bleibt für die Möglichkeit des „aufgeklärten Fürsten“, der in An
deutungen steckenbleibt.
3.3 Aufbau
3.3 Aufbau
Zusammen
Emilia Galotti ist ein repräsentatives Beispiel für ein bürger fassung
Mit Lessings Emilia Galotti hatte das bürgerliche Trauerspiel ein re
präsentatives Beispiel auf der deutschen Bühne. Lessing bezeich
nete das Stück als „Trauerspiel“ im Gegensatz zur klassizistischen
Tragödie. Der moralische Anspruch dieses Stücks bestimmte seine
politische Wirksamkeit in Deutschland. Heinrich Mann formulierte
ihn in seiner Rede Lessing anlässlich des 150. Todestages 1931:
„Die arme Emilia war doppelt bedroht, von fremder Gewalt und
von ihren eigenen Sinnen. Das machte den Verlauf noch trauri
ger für die bürgerliche Ehre. Ihr Tod von der Hand ihres Vaters
war eine Tat der Verzweiflung, mit tragischer Schuld und tragi
scher Sühne hatte er wenig zu tun. Dafür war er wahr. So sahen
die bürgerlichen Trauerspiele im Leben aus.“24
24 Heinrich Mann: Lessing. In: Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe, hrsg.
von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel, Band 5. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2009, S. 137.
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Leben und Werk -interpretation
3.3 Aufbau
25 In Aristoteles’ Poetik waren die Verknüpfungen der Begebenheiten als das Wichtigste der Tragö-
die beschrieben worden, bestehend aus einem Anfang, aus dem etwas folgt, der Mitte, die Folge
ist und Folge auslöst, und dem Ende, dem nichts anderes mehr folgt. Diese ursprüngliche Drei-
teilung entsprach den antiken drei Akten. Der erste Akt löste sich in Exposition und steigende
Handlung, der dritte Akt in fallende Handlung und Katastrophe auf. Unverändert weiter bestand
der zweite Akt, die Mitte, der Höhepunkt. Später wurden daraus fünf Teile.
3.3 Aufbau
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3.3 Aufbau
3.3 Aufbau
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Leben und Werk -interpretation
3.3 Aufbau
Leidenschaft erfahren hatte, verbirgt sie diese auf Rat ihrer Mutter
vor Appiani. Dadurch wird der Anschlag nicht früh genug als An
schlag auf Emilias Unschuld erkannt. Der Tod Appianis und ihre
Entführung sowie die anschließende Verführung sind die Folgen
ihres Schweigens, das Schweigen ist ihre Schuld. Sie weiß darum,
wenn sie auf des Vaters Frage, ob sie mit „alles verloren“ meine,
„dass der Graf tot ist“ antwortet: „Und warum er tot ist! Warum!“
(HL S. 69/R S. 84). Letztlich sind alle Konflikte, denen sich Emilia
ausgesetzt sieht, zu verallgemeinern auf den Gegensatz zwischen
willkürlicher Triebbefriedigung des absolutistischen Herrschers
und vernünftiger, ehelicher Gemeinsamkeit auf der Grundlage bür
gerlicher Tugenden.
Die Handlung folgt aristotelischen Prinzipien. In seiner Poetik
sprach Aristoteles von den zwei Teilen einer Tragödie, der Schür
zung des Knotens und der Lösung. Beide gruppieren sich um den
Höhepunkt samt der „Wandlung des Geschicks“30. Aber alle wich
tigen Vorgänge im Stück finden hinter der Bühne statt: das Ge
spräch zwischen dem Prinzen und Emilia, Appianis Verwundung
oder Tod, die Verführung Emilias durch den Prinzen, deren Oh
renzeuge die Orsina wird (vgl. HL S. 49/R S. 60). Das deutet auf
das Vorbild des aristotelischen und klassizistischen französischen
Dramas hin; Shakespeare hätte gerade diese Handlungen auf der
Bühne ausgestellt.
Einheit der Zeit Der großzügig ausgelegten Einheit des Ortes entspricht eine
genau eingehaltene Einheit der Zeit: Das Stück beginnt bei Son
nenaufgang; der Prinz ist schon bei der Arbeit. Es führt über die
Messe bei den Dominikanern, also gegen 6 Uhr, ins Haus der Ga
lottis am Vormittag. Nachdem sich Appiani und Marinelli dort ge
gen Mittag trennen, reisen beide nach Dosalo, der eine auf dem
3.3 Aufbau
Weg nach Sabionetta, der andere zum Prinzen. Das Opfer und sein
Mörder treffen nach etwa zwei Stunden, berücksichtigt man die
bekannten Entfernungen und die Verkehrsmittel, ein. Die restli
chen Stunden des Tages, also etwa ab 14 Uhr, stehen den verblei
benden drei Aufzügen zur Verfügung. Am Nachmittag, Claudia
Galotti und die Gräfin Orsina sind unterwegs nach Guastalla, wird
Emilia von ihrem Vater erstochen. Zwischen dem Gespräch in der
Messe und ihrem Tod liegen etwa zwölf Stunden.
Der Ort ist ein kleines italienisches Fürstentum. Die erschließ
baren historischen Fakten verweisen auf die Zeit vor 1750, nicht
auf die Renaissance, wie behauptet wird31. Auf Lessings Zeit wei
sen Begriffe wie die „Empfindsamen“ (HL S. 12/R S. 14), „Tugend
und Gefühl und Witz“ (HL S. 12/R S. 14), Appianis Sehnsucht nach
der Natürlichkeit seiner „Täler“ (HL S. 12/R S. 14) und Odoardos
Bewunderung für Appianis Vorsatz, „sich selbst zu leben“ (HL
S. 21/R S. 25), hin. Die geschilderten Vorgänge sind im 18. Jahr
hundert vorstellbar.
Die Dramaturgie des Stückes ist eine glückliche Mischung. Re Dramaturgie
präsentieren der Prinz und sein Anhang das verspielt Höfische des des Stückes
EMILIA GALOTTI 51
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Leben und Werk -interpretation
3.3 Aufbau
32 Vgl. dazu: Horst Steinmetz (Herausgeber): Lessing – ein unpoetischer Dichter, S. 89 und 246 f.
3.3 Aufbau
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Leben und Werk -interpretation
3.3 Aufbau
Natürlichen ein Aufklärer, aber kein Politiker. Auch von ihm sind
übergreifende Änderungen nicht zu erwarten; sein Tod ändert für
die Perspektive der Lösung nichts, Emilia allerdings ist die Flucht
in seine „väterlichen Täler“ nicht mehr möglich.
Zusammen
Emilia Galotti, eine schöne, tugendhafte und junge Frau, fassung
Emilia Galotti
Sie gibt dem Stück den Titel, ist aber nur selten präsent. Sie stammt
aus dem Landadel; ihr Vater ist Offizier (Oberst) in Sabionetta, der
dem Prinzen Paroli bietet, als er das Fürstentum übernehmen will.
Die Mutter hat Emilia, die auf dem Lande aufgewachsen ist, in
die Stadt gebracht, um ihre Erziehung zu vervollkommnen, sie ins
höfische Leben einzuführen und einen Mann von Rang zu finden.
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Das ist mit dem Grafen Appiani gelungen. Man verkehrt im Hause
des Kanzlers Grimaldi, dem Treffpunkt des Adels, zu dem auch der
Prinz kommt. Die Galottis sind verarmter Adel, „ohne Vermögen
und ohne Rang“ (HL S. 12/R S. 14). Aber vom Vermögen ist die
ständische Stellung bestimmt. Dieser verarmte Adel war Träger
bürgerlichen Gedankenguts; daraus entstand die Gleichsetzung
zwischen der adligen Familie Galotti und einer bürgerlichen Fa
Sven Lehmann milie.
als Gonzaga und Im Stück repräsentiert Emilia den aufklärerischen Menschen,
Regina Zimmer-
mann als Emilia dessen Merkmale Marinelli ihr ironisch zuordnet: „Ein Mädchen
in einer Insze ohne Vermögen und ohne Rang, (…) aber mit vielem Prunke von
nierung am Deut- Tugend und Gefühl und Witz“ (HL S. 12/R S. 14). Es ist die einzi
schen Theater
2001–2002, ge Aussage über Emilias bürgerliche Haltung. Ihr zwiespältiger
© ullstein bild – Reichtum sind ihre Schönheit, ihre Tugend, ihre Unschuld und ihr
Lieberenz Witz (= Geist) – Zentralbegriffe der bürgerlich geprägten, aufkläre
Gräfin Orsina
Lessing war an der Figur, die in den ersten Plänen zu einem drei
aktigen Stück nicht vorhanden war, interessiert. Als sein Bruder
Karl das Manuskript las, war Lessing gespannt, „was Du von dem
Charakter der Orsina sagen wirst. (…) Wenn er einer guten Schau
spielerin in die Hände fällt, so muss er Wirkung tun.“33 Von ihr
wird viel gesprochen, aber nur im 4. Aufzug ist sie fast durchge
hend anwesend. Ihre Anwesenheit in Dosalo ist Zufall und Schick
sal in einem: Sie hatte den Prinzen hinbestellt, er aber hatte ihren
Brief nicht gelesen. Er wollte Emilia in Dosalo treffen; die Orsina
kennt die Zusammenhänge nicht und nimmt des Prinzen Anwe
senheit als Bestätigung für ihr Angebot. Andererseits ahnte sie
von der neuen Leidenschaft des Prinzen, denn ihre Kundschafter
hatten das Gespräch zwischen dem Prinzen und Emilia belauscht.
Wenn schon nicht mit dem Prinzen leben, will sie wenigstens mit
ihm sterben: Deshalb hat sie den Dolch für den Prinzen und das
Gift für sich in ihrer Tasche, als sie nach Dosalo kommt. Eine an
dere Möglichkeit sieht sie darin, die Öffentlichkeit aufzustacheln
33 Brief vom 10. Februar 1772 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 500.
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(„Morgen will ich es auf dem Markte ausrufen“, R S. 66), ein Rest
des Volksaufstands aus der Vorlage der Virginia. Die Orsina hat
ihre Vorläuferin in der Person Marcias aus Samuel Crisps Virginia
(1754), von der Lessing einen Teil übersetzte, und in Lessings Fi
gur Marwood aus Miss Sara Sampson (1755).
Mätresse Gräfin Orsina, stolz, schön und selbstbewusst, ist die Mätres
und Macht se des Prinzen, die verdrängt wird, als sich der Prinz für Emilia
begeistert. Lessings Stück lässt sich nicht als Anklage gegen das
Mätressenwesen lesen. Die Mätressen waren in jener Zeit politisch
und gesellschaftlich hochstehende und anerkannte Personen, die
gerade politische Entwicklungen wesentlich mitbestimmten. Die
Mätresse eines Fürsten zu werden, war im 18. Jahrhundert Gefahr
und Chance für die Frau gleichermaßen:
„Die meisten jungen Damen waren samt ihren Eltern nur ge
ehrt, wenn der kleine Tyrann sie sich aussuchte. Bei Lessing
wird der Zwischenfall ganz ernst genommen, was sonst nicht
üblich gewesen war.“34
Marinelli bringt die Situation auf den Punkt, wenn er Claudia Ga
lotti unterstellt, „so etwas von einer Schwiegermutter eines Prin
zen zu sein, schmeichelt die meisten“ (HL S. 41/R S. 50). Die Mä
tressen verfügten oft über jenen Geist, den die aus degenerierten
Fürstenhäusern stammenden fürstlichen Frauen nicht besaßen.
Während der Entstehungszeit der Emilia Galotti lebte Gräfin Cosel
(1680 –1765), eine der einflussreichsten Frauen dieser Zeit, ver
bannt in Stolpen. Die Marquise de Pompadour (1721–1764) be
34 Heinrich Mann: Lessing. In: Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe,
hrsg. von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel, Band 5. Bielefeld: Aisthesis Verlag,
2009, S. 136.
Hettore Gonzaga
Er ist von bedeutender Veranlagung, aber in Handlungen und
Äußerungen launisch. Nicht zufällig weist das Kunstgespräch mit
Conti aus, dass er ausgeprägte ästhetische Kenntnisse und Vor
stellungen von der Autonomie der Kunst hat. Dieser Prinz ist nicht
tyrannisch, sondern außergewöhnlich: Neben seinen staatspoliti
schen Geschäften, denen er sich schon am frühen Morgen widmet,
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„Der Prinz von Guastalla ist, wie unsere guten Prinzen, klug,
verständig, zurückhaltend, von heftigen Leidenschaften, ver
liebt oder ehrgeizig – diesen Leidenschaften opfern sie alles
auf, so menschlich sie auch sonst sind.“35
35 Brief Karl Lessings vom 3. Februar 1772 an Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 498.
36 Die Einschätzung hat eine Parallele in Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther, als
Werther beschreibt, wie er aus der Adelsgesellschaft ausgewiesen wird (Brief vom 15. Mai);
die Schuld an seinem „Verdruss“ gibt Werther der gesellschaftlichen Hierarchie, vor allem dem
überholten und fast zur Karikatur erstarrten Feudaladel.
den Freiraum aus, der durch die Verhältnisse für ihre kriminelle
Energie entsteht. Die Meinung des Prinzen über die Verhältnisse,
in die er hineingeboren wurde und die er durch seine Macht re
produziert, ist zwiespältig und verweist auf einige Ansätze eines
„aufgeklärten Fürsten“. Als Marinelli ihm die Fehler seines Gegen
spielers Appiani vorstellt, da dieser mit Emilia ein „Missbündnis“
(HL S. 12/R S. 14) schließe und ihm dadurch die ersten Häuser
verschlossen seien, kontert der Prinz scharf und kritisiert das höfi
sche Zeremoniell (vgl. HL S. 12 f./R S. 14 f.).
Odoardo Galotti
Er ist hoher Offizier aus dem wenig wohlhabenden Landadel; arm
und ehrlich. Mit den Worten des Prinzen gesagt: „Ein alter De
gen; stolz und rau; sonst bieder und gut!“ (HL S. 8/R S. 9). Er ist
kein Graf. Sein Beruf fordert von ihm Disziplin und Geradlinigkeit.
Er ist aber auch von argwöhnischer Wachsamkeit, traut er doch
dem Prinzen, dessen territoriale Ansprüche er nicht anerkannte,
nicht über den Weg. Vor allem aber weiß er um die Verführbarkeit
seiner Tochter und sieht deshalb jeden ihrer Schritte ohne Auf
sicht mit Missvergnügen („Einer ist genug zu einem Fehltritt!“, HL
S. 18/R S. 22). Schuld wird er insofern, als er autoritär auf Emilias
Tugend besteht und eigene Entscheidungen von ihr fernhält. Von
aufklärerischen Positionen Rousseaus ist er noch entfernt. Wenn
er die „väterlichen Täler“ Appianis lobt, meint er zuerst, dass „er
dort selbst befehlen kann“ (HL S. 22/R S. 26). Odoardos Tugend
ist eine „strenge Tugend“ (HL S. 21/R S. 25), eine „raue Tugend“
(HL S. 23/R S. 27), die einem vorgegebenen Kanon unterworfen ist
und wenig Raum für die Selbstbestimmung des Menschen lässt.
Insofern kommt er in einen tragischen Konflikt: Um die Ehre seiner Odoardos Konflikt
Tochter zu retten bzw. ihre Vernichtung zu sühnen, müsste er den
Prinzen töten; das aber kann er als der militärisch Untergebene
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des Prinzen nicht. Also löst er sein Problem, indem er die Entehrte
richtet, die ihm aber als Tochter anvertraut ist. Er stellt die militä
rische Disziplin über die familiär-moralische.
Gerade das, was Emilias Vorzüge sind, was die Mutter an ihr
lobt und was den Prinzen begeistert – „ihre Munterkeit und ihr
Witz“ (HL S. 22/R S. 26) als Tugenden der Aufklärung –, stört Odo
ardo. Die Hierarchie, in die er als Offizier eingebunden ist, gibt ihm
keinen Blick für Emilias Wertvorstellungen. Wenn er sie schließlich
seinen Tugendvorstellungen opfert, geschieht das mehr aus rituel
ler Verantwortung für einen überholte Tugendbegriff, weniger, um
Emilias neue Vorstellung von bürgerlicher Tugend zu bewahren.
Aber dieser Tugendbegriff trifft sich mit Emilias Tugendauffas
sung, die den Wert des Menschen an der Beherrschbarkeit seiner
Leidenschaften misst. Er weiß nicht um die aufklärerische Radika
lität, wie sie Lessing, Moses Mendelssohn oder Friedrich Nicolai
vertreten, weil seine Moralvorstellungen ländlich ständisch sind
und zudem noch durch eine an Wahnsinn grenzende Exaltiertheit
verzerrt werden, deren sich die Orsina zu bedienen weiß.
Marinelli
Die für die Handlung entscheidende Person ist der Kammerherr
des Prinzen, „bei dem schon der Name auf machiavellische Ränke
deutet“37. Er ähnelt jenem Mephisto, ohne dessen geistige Überle
genheit und Welterfahrenheit zu besitzen, den Lessing mit seinem
Marinelli, Faust-Stoff kurz zuvor endgültig aufgab. Er steht für das Teuflische
der Teufel schlechthin. Aber mephistophelisch an ihm ist auch, wie er alle
Handlungen in seiner Hand hält: Auch der Prinz ist seine Krea
tur. Wenn Lessings Faust von den sieben Teufeln, die sich ihm
anbieten, jenen erwählt, der so schnell ist „als der Übergang vom
37 Nisbet, S. 641.
Graf Appiani
Appiani ist soziologisch die interessanteste Figur: Er ist als Per Gegenmodell zum
son und mit seinem Lebensprogramm das Gegenmodell zum hö höfischen Leben
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Claudia Galotti
Sie ist die lebenserfahrene, um die Sitten bei Hof wissende Ehefrau
Odoardos, aber ohne dessen rigorose Moralität. Sie ist auf Emilias
gesellschaftliche Stellung bedacht und hat deshalb den Aufenthalt
in der Residenz gesucht, um die Erziehung zu vollenden und in
den höfischen Umkreis münden zu lassen. Dabei verkennt sie die
Gefahren, die durch die höfischen Sitten drohen; deshalb greift sie
nicht rechtzeitig ein, als Emilia in die für sie zerstörerische Situa
tion gerät, Objekt für die Leidenschaften des Prinzen zu werden.
Durch Claudias Erziehung und ihre ländliche Sittlichkeit ist Emilia
den Anforderungen an eine fürstliche Mätresse kaum gewachsen,
obwohl Claudia, wie Marinelli richtig einschätzt, gern „so etwas
von einer Schwiegermutter eines Prinzen“ (HL S. 41/R S. 50) sein
möchte.
Conti
Er ist Maler und ein Beispiel für das Mäzenatentum des Prinzen. Kontrastfigur
Gleichzeitig ist er trotz seines geringen Handlungsraumes eine zum Prinzen
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EMILIA GALOTTI 69
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HL S. 18/ Pirro Der Name des Dieners der Galottis ist identisch mit dem
R S. 21 Vornamen jenes Gonzaga, bei dem Matteo Bandello im
Dienste stand. Es wird erkennbar, wie Lessing gebräuchli-
che und ihm bekannte Materialien im Stück „zitierte“ bzw.
sie in das Stück einbrachte. Bandello schrieb über Lukretia
eine Novelle (1554), die den Verführer in Leidenschaft ver-
strickt, aber als unritterlichen Menschen zeigt, wie er sich
auch in Lessings Prinzen darstellt.
Glück des Es ist der Tag von Emilias Hochzeit, die auf dem Landgut
heutigen der Galottis vorbereitet wird. Von dort kommt Odoardo.
Tages Gleichzeitig wird dramaturgisch Spannung entwickelt: Das
Glück Odoardos wird bis zum Abend in Tod und Entsetzen
umschlagen; Emilias Wunsch, „Gnade von oben zu erfle-
hen“, folgt einer Ahnung davon, spräche sie doch sonst
von „Gnade erbitten“.
HL S. 19/ Pisa Hauptstadt der italienischen Provinz Pisa in der Toskana
R S. 23
Ring In Lessings Nathan der Weise wird in der Ring-Parabel ein
„Ring von unschätzbarem Wert“ beschrieben, der den ed-
len Menschen auszeichnen soll. Hier ist ein vergleichbarer
Ring nur schwer zu verkaufen, „er war zu kostbar“ und
machte die Verbrecher verdächtig.
Pistolen Ehemalige spanische, von Philipp II. eingeführte Gold-
münze, zuerst unförmig, seit 1730 rund. Die deutsche
Pistole war fünf Taler Gold wert. Der Verkauf eines Rings
brachte den Räubern ebenso viel Geld ein wie Lessing im
gesamten Jahr als Bibliothekar in Wolfenbüttel erhielt (600
Reichstaler Silber).
EMILIA GALOTTI 73
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HL S. 21/ in seinen Es ist der von Rousseau beeinflusste Plan eines natürli-
R S. 25 väterlichen chen Lebens, in dem die Freiheit und Gleichheit des Men-
Tälern sich schen wiedererlangt wird. Dieser aufklärerische Stand-
selbst zu punkt steht im Gegensatz zur höfisch-feudalen Welt und
leben ihren Zerstreuungen. In Diderots Enzyklopädie finden sich
mehrere Artikel, die mit Appianis Prinzip korrespondieren,
so der unter dem Stichwort „Natürliche Freiheit“: „(…)
natürlicherweise werden alle Menschen frei geboren; das
heißt, sie sind nicht der Gewalt eines Herrn unterworfen,
und niemand hat auf sie ein Eigentumsrecht. Aufgrund
dieses Zustandes haben alle Menschen von Natur aus
das Vermögen, zu tun, was ihnen gut erscheint, und nach
ihrem Willen über ihre Handlungen und ihre Güter zu
verfügen (…).“
HL S. 22/ Grimaldi Der Kanzler des Prinzen stammt aus einem namhaften
R S. 26 Adelsgeschlecht Genuas, zu dem auch die heutige Fürs-
tenfamilie von Monaco gehört; allerdings ist die männliche
Linie derer von Monaco 1731 erloschen. Grimaldis waren
Seeoffiziere, Admirale, päpstliche Würdenträger und Po-
litiker in genuesischen oder päpstlichen Diensten, aber
auch Abenteurer und Seeräuber.
HL S. 23/ sündigen Emilia gesteht, dass sie die Sünde als Möglichkeit gespürt
R S. 28 hat. Der Antrag des Prinzen, der zwar lasterhaft ist, hat sie
nicht unberührt gelassen. „Strafbares“ sieht sie deshalb
an sich nicht. Das Gespräch, das beide geführt haben, ist
geheimnisvoll und scheint in vollkommener Verwirrung
geführt worden zu sein. Es wird zum ständigen, erregen-
den Moment des Trauerspiels; ein jeder weiß anderes von
ihm zu berichten.
HL S. 24/ das heilige die heilige Messe
R S. 28 Amt
HL S. 25/ Die Furcht hat Diesen Satz hatte Lessing ursprünglich der Emilia zuge-
R S. 30 ihren beson dacht, die damit sagen sollte, „dass sie nun wohl sehe, die
deren Sinn Furcht habe sie getäuscht“39.
39 Brief an Karl Lessing vom 10. Februar 1772. In: Werke, 9. Band, S. 497 als Antwort auf einen
Brief Karl Lessings (vgl. ebd., S. 498).
HL S. 27/ das Muster Natürlichkeit und moralisches Tun, Einhaltung der Nor-
R S. 32 f. aller männ men und Verantwortungsbewusstsein sind darunter zu
lichen Tugend verstehen; weibliche Tugend hat ihr Zentrum in jungfräu
licher Unberührtheit, bezieht aber mehr ein.
Perlen Das Wort ist sehr viel älteren Ursprungs und gehört zum
bedeuten mythischen Aberglauben. Karl Lessing merkte an, dass
Tränen sich dieser Satz Emilias nicht mit ihrer Strenggläubigkeit
als Katholikin vertrage.40 Lessing verteidigte sich ge-
schickt und meinte, Emilia glaube wie ihre Mutter nicht
an den Traum, habe aber größeren Geschmack an Perlen
denn an Steinen. So macht sie ihren Verlobten darauf auf-
merksam, in Zukunft keine Geschmeide mit Steinen, son-
dern mit Perlen zu schenken. Eine Variation des Verhält-
nisses von Freuden und Tränen findet sich auch im Psalm
126: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“
Der Satz wird heute als Sprichwort, meist nach Lessings
Stück, in Sammlungen geflügelter Worte zitiert.
HL S. 28/ Locken, wie Das Haar wird natürlich getragen und nicht durch eine
R S. 33 f. sie die Natur Perücke verdeckt. Der Begriff „Natur“ meint die gesamte
schlug Lebensauffassung. Appiani ist der Vertreter dieser „Na-
tur“.
Perlen Appiani nimmt den Satz erneut auf; er wird dadurch zum
bedeuten Leitmotiv des Stücks.
Tränen
die Zeit nur Der Mensch in der Zeit wird zu einem Problem der Auf
außer uns klärungsphilosophie, weil seine Endlichkeit beschreibbar
wäre wird und die Unendlichkeit an Bedeutung verliert.
HL S. 29/ Herzog von vermutlich der Herzog Hercules III.
R S. 35 Massa
40 Vgl. Brief Karl Lessings vom 3. Februar 1772 an Lessing. In: Werke, 9. Band, S. 498: „Sie ist
Katholikin. – Mag sie doch! Sie redet aber von den Bedeutungen der Perlen im Traum.“
EMILIA GALOTTI 75
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Leben und Werk -interpretation
HL S. 31/ Vasall eines Appiani hat seinen Besitz im Fürstentum Piemont und ist
R S. 37 f. größern Herrn so Vasall des dortigen Herrschers, der in der Regel der
Kaiser, nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation 1806 der italienische Kronprinz war.
Gleichzeitig ist aber „größern Herrn“ eine Metapher, die
für Gott oder Göttliches verwendet wird. Sie findet sich
auch in Dantes La Vita Nuova („Ecce deus fortior me, qui
veniens dominabitur mihi.“)41 und meint den Gott der
Liebe. Appiani ist Vasall des Kaisers und im Angesicht der
Hochzeit Vasall des Gottes der Liebe; beide verhindern,
dass Appiani den Prinzen als Herrn anerkennen kann.
ich fodere Nachdem Appiani Marinelli mehrfach als Affen bezeichnet
Genugtuung/ hat, fordert ihn dieser zum Duell. Appiani bietet ihm trotz
Spaziergange der Hochzeit den „Spaziergang“ sofort an; er ist sich sei-
nes Sieges sicher.
HL S. 33/ beschied er Marinelli lügt erneut. Appiani wollte sich sofort duellieren;
R S. 41 mich Marinelli aber erzählt, es wäre acht Tage nach der Hoch-
zeit festgelegt worden. So will er dem Duell entgehen, da
er um den bevorstehenden Tod Appianis weiß.
HL S. 34/ Sie kam Der Prinz schildert erstmals das Gespräch mit Emilia und
R S. 41 meinem übertreibt in Ermangelung aussagefähiger Inhalte maßlos.
Verlangen (…)
selbst Mit fünfzig Leuten, selbst dabei der Fünfzigste, auch: mit
funfziger einer Überzahl von Leuten. Erhalten geblieben in Wendun-
gen wie „Fuffziger“ (mundartlich) oder „falscher Fuffzi-
ger“ für einen unaufrichtigen Menschen.
HL S. 36/ nicht so ganz Der Überfall geschah heimtückisch. Hätte Appiani einem
R S. 43 unbereitet einzelnen Gegner gegenübergestanden, wäre er Sieger
geblieben. Das Duell bekommt nun eine dramaturgische
Funktion. Der Mörder Angelo muss anerkennen, dass
Appiani gut gekämpft hat. Aber nachdem er den angrei-
fenden Nicolo besiegt hatte, wurde er von Angelo heim
tückisch erschossen.
41 Dante Alighieri: Das neue Leben. Italienisch und Deutsch. Leipzig: Insel Verlag 1965, S. 7.
HL S. 37/ nicht ein Wort Der Prinz gibt hier seine zweite und wahrhaftigere Schil-
R S. 45 auspressen derung des Gesprächs mit Emilia. Es wird mehrfach
beschrieben (II,6; III,1; IV,5; IV,7), aber stets anders. Nach
dieser Schilderung hat Emilia nicht geantwortet; nach
einer früheren Beschreibung haben beide miteinander
gesprochen, können sich aber nicht erinnern, was sie sag-
ten. Die Spione der Orsina haben dagegen den Wortlaut
des Gesprächs gehört. Dem Gesprächsinhalt am nächsten
dürfte des Prinzen Darstellung gegenüber Emilia kommen
(vgl. S. 49).
HL S. 38/ ein glückli- Eine Zusammenstellung sich scheinbar widersprechender
R S. 46 ches Unglück Begriffe, Oxymoron oder auch Contradictio in adjecto (Wi-
derspruch in sich selbst) genannt; stilistische und rhetori-
sche Figur nach dem Modell „beredtes Schweigen“.
HL S. 40/ sprachlose Der Prinz bietet eine dritte Version des Gesprächs mit
R S. 49 Bestürzung Emilia am Morgen, die der Wirklichkeit am nächsten kom-
men dürfte. Es wird deutlich, dass er ihr eine Liebeserklä-
rung gemacht hat.
Entzückungen Der Prinz verspricht Eindeutiges, Liebeslust und Unter
haltung. Obwohl Emilia ahnt, dass ihr Bräutigam gerade
getötet worden ist, lässt sie sich zu diesen „Entzückungen“
führen, „nicht ohne Sträuben“. Das ist das Verhalten eines
noch jungfräulichen Mädchens, das damit seinen Wert er
höhen, gleichzeitig aber Takt und Sitte kundtun möchte; es
ist nicht der Kampf der verwitweten Braut um ihre Tugend,
der konsequenter sein müsste.
verhindern, Marinelli wird dafür sorgen, dass sie nicht gestört werden.
dass sie nicht Noch im 18. Jahrhundert folgte einem Verb mit negativer
gestöret Bedeutung eine eigentlich überflüssige, pleonastische
werden Negationspartikel, in diesem Falle „nicht“.
HL S. 41/ etwas von Ist die Tochter die Mätresse des Prinzen, darf sich ihre
R S. 50 einer Schwie- Mutter „etwas“ als Schwiegermutter fühlen; tatsächlich
germutter zu und juristisch wird sie es nie, denn der Prinz wird Emilia
sein nicht heiraten: Sie ist als Mätresse vorgesehen und wäre
außerdem nicht standesgemäß, verglichen etwa mit der
Prinzessin von Massa. Nicht einmal für Appiani wäre sie
standesgemäß gewesen; deshalb wollte sich Appiani aus
dem Fürstentum zurückziehen.
EMILIA GALOTTI 77
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Leben und Werk -interpretation
HL S. 43/ Es ist klar Emilias Mutter durchschaut Schritt für Schritt den An-
R S. 53 schlag und die Verantwortlichen, von denen Marinelli zu
ihrem Hauptfeind wird.
HL S. 46/ Vorsatz und Marinelli wendet zeitgenössische philosophische
R S. 55 Zufall: alles ist Positionen, die materialistischer Herkunft sind (Voltaire,
eins Diderot), pragmatisch und populistisch auf sein Verbre-
chen an. Das Gespräch um Zufall oder Schicksal („Nichts
unter der Sonne ist Zufall“, R S. 62) wird im dritten und
vierten Auftritt des vierten Aufzugs von Marinelli und
Orsina weitergeführt.
HL S. 47/ Grund meines Dass das Verbrechen schnell bekannt sein wird, liegt am
R S. 57 Gebäudes un- Prinzen. Marinellis Vorbereitungen gingen davon aus, dass
tergrub weder Emilia noch ihre Mutter von der Liebe des Prinzen
wussten. Da der Prinz aber nach Marinellis Festlegung das
Gespräch mit Emilia in der Kirche suchte, ist von der Öf-
fentlichkeit zu schlussfolgern, dass des Prinzen Verlangen
der Grund des Verbrechens war. Erneut wird das Gespräch
zum dramaturgischen Ereignis.
HL S. 49/ das Gequieke, Die Geräusche, die die Orsina hört, stammen vom Prinzen
R S. 60 das Gekreu- und Emilia. Die Orsina, die Erfahrung in der Liebe und mit
sche dem Prinzen hat, beschreibt die Geräusche einer Liebes-
und Verführungsszene.
HL S. 50/ nur gegen ein Das sprachliche Spiel mit dem Wort „Ding“ wächst sich
R S. 61 Ding zur philosophischen Sentenz aus, die auch begründet,
warum man, auch Marinelli (vgl. R S. 61), die Orsina „eine
Philosophin“ nennt. Vorbild ist dabei Kant gewesen, auf
dessen philosophische Ansichten, die die Kritik der reinen
Vernunft vorbereiteten, Lessing 1764 in den Literaturbrie-
fen eingegangen war. Auch der Ton ist von jener ironi-
schen Heiterkeit, deren sich Kant zu dieser Zeit bediente.
HL S. 51/ Über den Das Zusammentreffen zwischen der Orsina und dem
R S. 61 Zufall Prinzen auf Dosalo geht auf ein doppeltes Missverständnis
zurück. Im Gespräch mit Marinelli reflektiert die Orsina
über den Zufall und erklärt schließlich, das „Wort Zufall
ist Gotteslästerung“ (R S. 62). Es ist die Weiterführung des
Gedankens von Marinelli, der seine Verbrechen ähnlich zu
rechtfertigen versuchte. Diese Ansicht vom Zufall gehört
zu den Grundansichten der europäischen Aufklärung: Die
Welt ist ein Gefüge, das zwingend und logisch funktioniert
und so die beste aller möglichen Welten darstellt. Haupt-
vertreter dieser Ansicht war Leibniz mit seiner Theodizee
(1710); lustig gemacht hat sich über diese beste aller Wel-
ten Voltaire in seiner Erzählung Candide.
HL S. 54/ ein Langes Erneut wird über das morgendliche Gespräch zwischen
R S. 66 und Breites dem Prinzen und Emilia in der Kirche berichtet. Diesmal
gesprochen haben beide „ein Langes und Breites gesprochen“. Die
Kundschafter der Orsina sahen und hörten das Gespräch.
Ist Ihnen auch Nochmals wird das Gespräch über den Zufall weiterge-
das Zufall? führt; Orsina triumphiert über Marinelli. Nachdem sie nun
alle Details kennt, kann sie lückenlos Mord, Entführung
und Verführung dokumentieren. Was scheinbar zufällig
aussieht, erweist sich als Plan: „Ich reime (…) doch noch
ziemlich zusammen, was zusammengehört“ (R S. 66).
HL S. 57/ Sie hatten Erneut geht es um das Gespräch am Morgen. Die Orsina
R S. 70 nichts Kleines stellt eine direkte Beziehung zwischen der Begegnung am
abzureden Morgen und dem Aufenthalt auf dem Lustschloss des Prin-
zen her. Der Prinz und Emilia hätten mit „Vertraulichkeit“
und „Inbrunst“ miteinander gesprochen. Sie redet Odo-
ardo ein, der Prinz und Emilia hätten den Plan von Mord
und Entführung gemeinsam abgesprochen. Odoardo weist
das zurück, wenn auch, wie aus anderen Aussagen des
Prinzen erkennbar ist, der Prinz sich durchaus Hoffnungen
machen durfte.
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Leben und Werk -interpretation
42 Brief vom 1. März 1772 an Karl Lessing. In: Werke, 9. Band, S. 503.
Zusammen
Das bürgerliche Trauerspiel nutzt statt des Verses die Prosa. fassung
Das bürgerliche Trauerspiel hat sich vom Vers der klassizistischen Prosaform
Tragödie, dem Alexandriner, gelöst und der Prosa zugewandt. Die
ist bereits von der Gefühlsintensität des Sturm und Drang beein
flusst. Brüche in Grammatik und Stil, Wiederholungen und Ellip
sen, nichtsprachliche Zeichen und Affektausbrüche prägen sie und
verhindern eine normgerechte Diktion. Einige auffallende Kenn
zeichen der Sprache sind:
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Leben und Werk -interpretation
vice versa – bedeuten kann“ 43 Das wird in der Emilia Galotti beson
ders in Marinellis Bemerkungen erkennbar (vgl. HL S. 12/R S. 14
und öfter).
Das „Scharnier“
Bis zur Perfektion geführt und am häufigsten angewandt wird Wiederholung
die Wiederholung. Dabei verzichtet Lessing auf Nebensätze, vor als Prinzip
43 Claus Träger: „Heute ein Dichter: morgen ein Königsmörder“. Lessing und Goeze. In: Fausto
Cercignani (Hg.): Studia theodisca. Gotthold Ephraim Lessing. Milano: Edizioni dell‘ Arco, 1994,
S. 148. Träger gibt zahlreiche Hinweise zur entsprechenden Sekundärliteratur.
44 Vgl. dazu: Peter Heller: Dialektik und Dialog in Lessings Nathan der Weise. In: Klaus Bohnen
(Hg.): Lessings Nathan der Weise. Darmstadt 1984, S. 223.
45 Nach Bodmer (1924), dargestellt bei Heller, a.a.O., S. 223.
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Leben und Werk -interpretation
nicht glauben wollte. Diese fragt sich selbst „Hab’ ich? hab’ ich
wirklich?“ und Marinelli antwortet „Wirklich“; danach wiederholt
die Gräfin eine Passage aus der vorigen Szene, die sie dann noch
mals als Fragefolge anschließt. Dadurch wird ein Satz des Prinzen
(„Ich bin beschäftiget“, HL S. 52/R S. 63) dreimal wiederholt. Es
ergibt sich eine Intensivierung des Vorgangs, denn Entrüstung
und Enttäuschung der Orsina schlagen in Wut und Rache um. Ihre
Entscheidungen werden psychologisch motiviert.
3.7 Interpretationsansätze
3.7 Interpretationsansätze
Zusammen
Geringe Bildung und mangelndes Geschichtsbewusstsein fassung
Liest man die Meinungen vieler Schüler im Internet, ist man ent
setzt. Sie machen ihr geringes Wissen zum Maßstab der Beurtei
lung: Dass sie das Stück langweilig finden, ist noch das mildeste
Urteil, obwohl es doch mehrere kriminalistisch anmutende Vorgän
ge (Tod Appianis, Verführung Emilias, Tötung Emilias) gibt. Dass
sie ihm kein historisches Verständnis entgegenbringen, zeigt ein
geringes Traditions- und Geschichtsbewusstsein. Die Entwicklung
moralischer Werte ist ihnen fremd. Dabei ist das Grundproblem,
durch Macht sich Menschen gefügig zu machen und sie zu entwür
digen, keineswegs aus der Welt verschwunden: Nur sind an die
Stelle des Prinzen und Emilias andere Konstellationen getreten.
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Leben und Werk -interpretation
3.7 Interpretationsansätze
Deutungsansätze
3.7 Interpretationsansätze
46 Einige Interpreten nehmen die Renaissance als Handlungszeit an. Sabionetta wurde jedoch 1703
verfügbar, und der Prinz erhob daraufhin Ansprüche, denen sich Galotti widersetzte (vgl. R S. 8).
Einige Jahre später spielt das Stück. Es ist also zu Lessings Zeit ein Gegenwartsstück.
47 Drews, S. 103.
48 Ursula Wertheim: Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ und das „Henzi“-Fragment. In: Werner
(Hg.). Lessing 1979, 1980, 1. Band, S. 208.
EMILIA GALOTTI 87
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Leben und Werk -interpretation
3.7 Interpretationsansätze
49 Brief vom 7. Mai 1775 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 640.
50 Brief vom 7. Mai 1775 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S 640.
51 Vgl. Rüdiger Bernhardt: Interpretation zu J. M. R. Lenz: Der Hofmeister, Hollfeld, 3. Auflage 2010,
S. 20 ff., 77 ff.
3.7 Interpretationsansätze
52 Brief an Eva König vom 31. Januar 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 492.
53 Ebd.
EMILIA GALOTTI 89
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Leben und Werk -interpretation
3.7 Interpretationsansätze
54 Johann Jakob Bodmer: Odoardo Galotti. Vater der Emilie. Augsburg 1778, S. 17, zit. in Jan-Dirk
Müller, S. 42.
3.7 Interpretationsansätze
EMILIA GALOTTI 91
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Leben und Werk -interpretation
3.7 Interpretationsansätze
55 Manfred Naumann (Auswahl und Einführung): Artikel aus der von Diderot und d’Alembert
herausgegebenen Enzyklopädie. Leipzig: Reclam, 1984, (Universal-Bibliothek, Bd. 90), S. 532.
3.7 Interpretationsansätze
EMILIA GALOTTI 93
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Leben und Werk -interpretation
4. REZEPTIONSGESCHICHTE
Zusammen
fassung Erste Wirkungen waren Zustimmungen der Freunde und
Fortsetzungsversuche. Widerspruch kam von den Berliner
Aufklärern. Nach 1789 wurden die deutschen Reaktionen,
besonders bei Herder, zwiespältiger, weil der Widerspruch
zwischen Anspruch und Ergebnissen deutlicher wurde. Be
wunderung setzte noch einmal in der 2. Hälfte des 19. Jahr
hunderts ein und blieb bis heute erhalten.
56 Brief an Christian Friedrich Voß vom 25. 1. 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 489.
57 Brief vom 2. März 1772 an Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 509.
58 Hans Henning: Emilia Galotti in der zeitgenössischen Kritik. In: Werner (Hg.). Lessing 1979, 1980,
1. Band, S. 228.
59 Heinz Härtl: Wirkungen Lessings und Innovationen des deutschen Dramas zwischen 1789 und
1830. In: Werner; Bausteine 1984, S. 189.
60 Johann Jakob Bodmer: Odoardo Galotti. Vater der Emilia. Augsburg 1778, S. 12. (in: Jan-Dirk
Müller, S. 42 f.)
61 Jan-Dirk Müller: ebd., S. 41 f.
EMILIA GALOTTI 95
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Leben und Werk -interpretation
mir der Kopf davon noch warm ist, und es mir erst wieder fremd
werden muss, wenn mir das Sehen nützen soll.“62 Zuerst litt er
an Zahnschmerzen; danach zögerte er, sein Stück aufgeführt zu
sehen. Vermutungen der Sekundärliteratur 63, er hätte Sorge we
gen der kritischen Haltung des Stückes gehabt, und es sei ihm
„doch nicht ganz geheuer zumut“64, die „Zahnschmerzen eher ein
Vorwand“65 gewesen, lassen sich nicht belegen. Man trug ihm den
Erfolg zu. An Eva König schrieb er nach der Uraufführung:
62 Brief vom 16. März 1772 an Johann Arnold Ebert. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 508.
63 Vgl. Aufklärung. Erläuterungen zur deutschen Literatur. Berlin: Volk und Wissen 1963, S. 405;
Paul Rilla und andere.
64 Paul Rilla: Lessing und sein Zeitalter. Berlin und Weimar: Aufbau, 1981, S. 234.
65 Witte, S. 18.
66 Brief vom 10. April 1772 an Eva König. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 514.
67 Vgl. Hans Henning: „Emilia Galotti“ in der zeitgenössischen Kritik. In: Werner (Hg.). Lessing 1979,
1980, 1. Band, S. 229 f.
ob keine andere Lösung für sie möglich gewesen wäre, „(…) die
Szenen, die Personen, die wir am liebsten sehen möchten, handeln
meistens hinter dem Vorhange und die Auflösung revoltiert jeder
mann“, meinte Christian Felix Weiße, der im Wettstreit mit Lessing
als Dramatiker begonnen hatte.68 Einige wollten Emilia gern im
Kloster sehen, andere sprachen Odoardo die Urteilsfähigkeit ab.
Die Katastrophe der Emilia bekam teils nur verhaltenen Beifall69.
Die Zurückhaltung des Publikums hat auch daran gelegen, dass
man sich einem bekannten römischen Stoff gegenübersah, in dem
sich Menschen der eigenen Gegenwart bewegten. Das war neu für
den Zuschauer des 18. Jahrhunderts.
In der ersten Zeit nach der Uraufführung finden sich nur Andeu Nach der
tungen, dass Lessings Kritik an absolutistischer Willkür und un Uraufführung
68 Zit. nach: Edward Dvoretzky (Hg.). Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1755 –1968.
Göppingen: Alfred Kümmerle 1971. Band 1, S. 24.
69 Vgl. diese und andere Meinungen, Urteile und Vorschläge in: Heidi Ritter: Publikumsreaktionen
in den ersten Aufführungen der Emilia Galotti. In: Werner (Hg.). Lessing 1979, 1980, 1. Band,
S. 234 ff.
70 Ebd., S. 230.
EMILIA GALOTTI 97
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Leben und Werk -interpretation
gesetzt, von nun an galt die antifeudale Haltung und Kritik als ein
Wesensmerkmal dieses Trauerspiels.
Die Aufführungen in Berlin (6. und 7. April 1772) hatten das
Publikum begeistert, obwohl die dortigen Schauspieler der Kochi
schen Gesellschaft nicht den Erwartungen der Zeitgenossen ent
sprachen. Zwar habe die Darstellerin der Emilia (Karoline Elisabeth
Steinbrecher) besser als erwartet gespielt, vor allem das Naive
habe sie gut verstanden, aber ein wenig mehr Feuer habe man
von ihr erhofft. Lessing hatte seine Emilia ungern bei der „Stein
brecherin“ gesehen; sie war ihm zu alt: „Man vergibt dem jungen
Mädchen immer mehr, als der alten Aktrice“71. Das entspricht dem
Bild der Emilia, das im Stück angelegt ist: Emilia weiß um den
Wert der Tugend, empfindet aber durchaus auch die Verlockung
der Verführung.
Emilia Galotti hatte Erfolg, wenn auch der Erfolg manchmal
merkwürdiger Art war. Anfang Juli 1772 wurde das Trauerspiel
dreimal hintereinander in Wien aufgeführt, „und zwar mit außer
ordentlichem und allgemeinem Beifall“72. Zweimal war Kaiser
Joseph II. Zuschauer und amüsierte sich, er habe in seinem Leben
in keiner Tragödie so gelacht wie in dieser, sagte er. Eva König, die
in den Vorstellungen war, bestätigte, dass sie in ihrem Leben „in
keiner Tragödie so viel habe lachen hören; zuweilen bei Stellen,
wo, meiner Meinung nach, eher hätte sollen geweinet, als gelacht
werden.“73 Worauf sich diese Heiterkeitserfolge bezogen, teilte sie
nicht mit.
Lessings Freund Johann Arnold Ebert (1723 –1795), Übersetzer
aus dem Englischen, einst Lehrer des Erbprinzen und Professor
71 Brief an Karl Lessing vom 1. März 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 503.
72 Brief Eva Königs vom 15. Juli 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 540.
73 Ebd.
„Nur so viel kann ich Ihnen sagen, dass ich durch und durch,
mit Klopstock zu reden, laut gezittert habe. Selbst die komi
schen Szenen und Züge haben eine ähnliche Empfindung mit
der bei mir hervorgebracht, die ich einmal bei Durchlesung der
ersten Szene Ihrer ‚Minna‘ hatte. O Shakespeare-Lessing! – Zu
andern, als Ihnen, würde ich vielleicht noch mehr sagen. – Gott
segne Sie dafür mit seinem besten Segen! – Ich habe davor
fast nicht einschlafen können, und hernach einen sehr unruhi
gen Schlaf gehabt. Und itzt, da ich aufgestanden bin, kann ich
nichts anders denken und vornehmen. Die Geister Ihrer Perso
nen spüken noch immer um mich her, und schweben mit auf
jedem Blatte, das ich lesen will, vor Augen.“74
74 Brief Johann Arnold Eberts vom 14. März 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 507.
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Leben und Werk -interpretation
Herder Zeugnis für die sich verändernde und veränderte Sicht wurden
Herders Briefe zur Beförderung der Humanität (1794), in deren
Dritter Sammlung er sich ausführlich mit Emilia Galotti beschäf
tigte. Herder hatte schon nach Lessings Tod würdigende Worte
geschrieben und kritisiert, dass nun, nachdem die Unmittelbarkeit
der Auseinandersetzung nicht mehr vorhanden sei, man sich zum
Lobe Lessings vereinige. 1794 berichtete er, das Stück habe ihn
„wieder einmal“ ins Theater gelockt und er habe sich Gedanken
75 Hans-Georg Werner: Über die Schwierigkeiten, mit der „dramatischen Algebra“ von Emilia
Galotti zurechtzukommen. In: Werner (Hg.): Bausteine, 1984., S. 110.
76 Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, 3. Sammlung (1794). In: Herders
Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1881,
Bd. 17, S. 185 f.
77 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Poetische Werke (Berliner Ausgabe). Berlin: Aufbau
1962, Band 10, S. 369. (5. Buch, 16. Kapitel)
Wirkung des Stückes wurden vermieden, dafür wurde alles auf die
individuellen Erfahrungen der Schauspieler, die „Entblößung ihres
innersten Herzens“78, zurückgeführt.
Wirkungen in Es gab unmittelbare Wirkungen in der Literatur. Heinrich Leo
der Literatur pold Wagners Kindermörderin (1776), Goethes Clavigo (1774) und
Schillers Kabale und Liebe (1784) seien stellvertretend für viele
genannt. Obwohl Schiller die Emilia Galotti „zuwider“ war79, wie
Goethe mitteilte, ist Schillers Lady Milford in Kabale und Liebe
ohne die Gräfin Orsina nicht zu denken. Bereits in Schillers Die
Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) gab es aus Emilia Galotti
abgeleitete Figurenanlagen, darunter den Grafen Lavagna nach
Odoardo und den Maler Romano, der die Geschichte der römi
schen Virginia malt, nach Lessings Maler Conti. Schiller verwen
dete die dramaturgische Anlage mehrfach.
Nicht begeistert nahmen die Romantiker das Stück auf, konn
ten ihm aber die Anerkennung nicht verweigern. Ihnen war es zu
nüchtern und logisch angelegt. Zwar erkannten August Wilhelm
und Friedrich Schlegel die Besonderheit der Stücke Lessings, doch
die Rationalität in der Emilia Galotti war ihnen „ein gutes Exempel
der dramatischen Algebra“, die sie ablehnten80, „man mag es frie
rend bewundern, und bewundernd frieren; denn ins Gemüt dringt
nichts und kanns nicht dringen, weil es nicht aus dem Gemüt ge
kommen ist“81.
Der berühmte Philosoph Arthur Schopenhauer (1788 –1860)
fand das Ende der Emilia Galotti – ein Vater ersticht seine Tochter
78 Ebd., S. 370.
79 Vgl. dazu und zur Wirkung auf die Klassiker: Hans Georg Werner: Über die Schwierigkeiten, mit
der „dramatischen Algebra“ von Emilia Galotti zurechtzukommen. In: Werner (Hg.), Bausteine,
1984, S. 118
80 Friedrich Schlegel: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München: Carl Hanser, 1964
(2. Auflage), S. 363 f.
81 Ebd.
82 Vgl. dazu: Ralph Wiener: Der lachende Schopenhauer. Leipzig: Militzke, 1996, S. 98.
83 Kuno Fischer: G. E. Lessing als Reformator der deutschen Literatur. Erster Teil. Stuttgart:
J. G. Cottasche Buchhandlung, 1881, S. 186.
84 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 11. Auflage
1939, S. 76 f.
85 Franz Mehring: Lessings Emilia Galotti. In: Gesammelte Schriften., Band 9, S. 408 f.
86 Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Berlin 1903, Abt. 2, Band 1, S. 329.
87 Vgl. dazu: Marlen Ginolas: Hebbels Beschäftigung mit Lessings bürgerlichem Trauerspiel.
In: Günter Hartung (Hg.): Beiträge zur Lessing-Konferenz 1979. Halle 1979, S. 61 ff.
war und was Lessing damit gemeint haben könnte. In seinem Atta
Troll dichtete er:
88 Heinrich Heine: Atta Troll. In: Werke. Hg. von Ernst Elster, Leipzig o. J., 2. Band. S. 412.
89 Hettner, Band I, S. 718.
90 Vgl. Peter Weber: „Emilia Galotti“ – Zur Poetologie eines „unpoetischen Dichters“. In: Werner
(Hg.). Lessing 1979, 1980, 1. Band, S. 155 ff.
91 Zitiert nach: Theater heute, 1979, H. 2, S. 16.
92 Peter Weber, a. a. O., S. 171.
93 Gerhard Jörder: Blut und Honig. In: Die Zeit, Nr. 41, 4. Oktober 2001, S. 56.
5. MATERIALIEN
Unter den zeitgenössischen Urteilen fallen jene auf, die die Viel
schichtigkeit des Textes spürten, nicht einseitig schwarz-weiß
malten und auch den Beitrag zur ästhetischen Auseinanderset
zung erkannten. Karl Lessing hatte mit Moses Mendelssohn ein
Gespräch über das Stück und teilte dem Bruder die scharfsinnige
Erklärung mit:
„Ich fragte ihn, wie ihm Deine Tragödie gefallen habe. ‚Im Ganzen
vortrefflich‘, sagte er; ‚wir haben noch nichts so Vortreffliches: und
vielleicht können Franzosen und Engländer nichts aufweisen, wo
jedes Wort so bedächtlich, so ökonomisch angebracht ist, selbst
die Ausführung der Charakter findet man selten so. Welch ein al-
lerliebstes Mädchen ist nicht die Emilia!‘ – ‚Die Emilia?‘, unter-
brach ich ihn, und Du kannst Dir leicht vorstellen, mit was für Au-
gen. – Er fuhr fort: ‚Bei den Worten: Perlen bedeuten Tränen, habe
ich vor Tränen selbst nicht fortlesen können. Das ganze Stück hat
mich so ergriffen, dass ich die Nacht nicht werde davor schlafen
können.‘ (…) Der Prinz; der scheint ihm im Anfange tätiger und
tugendhaft, und am Ende ein untätiger Wollüstling. Und hiermit
bin ich nicht zufrieden. Nicht darum, weil er mich widerlegt hatte,
sondern weil ich Gründe habe, dass der Prinz so sein muss. Er
nimmt sich der Regierung an, er ist ein Liebhaber von Wissen-
schaften und Künsten, und wo seine Leidenschaften nicht ins Spiel
kommen, da ist er auch gerecht und billig; er ist überdies fein, und
hat allen Schein eines würdigen Fürsten: aber das sind noch nicht
die rechten Beweise, dass er es wirklich ist. Folglich hast Du uns
an seiner moralischen Güte noch immer zweifelhaft gelassen, und
„Zu seiner Zeit stieg dieses Stück, wie die Insel Delos, aus der
Gottsched-Gellert-Weissischen pp. Wasserflut, um eine kreißende
Göttin barmherzig aufzunehmen. Wir jungen Leute ermutigten uns
daran und wurden deshalb Lessing viel schuldig.
Auf dem jetzigen Grade der Kultur kann es nicht mehr wirksam
sein. Untersuchen wir’s genau, so haben wir davor den Respekt
wie vor einer Mumie, die uns von alter hoher Würde des Aufbe-
wahrten ein Zeugnis gibt.“96
94 Brief Karl Lessings vom 12. März 1772 an Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 519.
95 Goethe an Karl Friedrich Zelter, 27. März 1830.
96 Ebd.
97 Vgl. Rezension von Ivan Nagel. In: Theater heute, 1970, H. 6, S. 35.
98 Ebd., S. 33.
99 Gerhard Ebert: Entschiedenes Bekenntnis zur Kraft der menschlichen Vernunft. In: Neues
Deutschland, Berlin, 12. Oktober 1987.
6. PRÜFUNGSAUFGABEN
MIT MUSTERLÖSUNGEN
Aufgabe 1 ***
die Entwicklung des deutschen Dramas bemüht und sie der Öffent-
lichkeit in seinen Kritiken, vor allem in der Hamburgischen Drama-
turgie, vorgestellt. Neben Veränderungen, die das Lustspiel betra-
fen, galt sein Interesse den Veränderungen der Tragödie, die sich
zum bürgerlichen Trauerspiel entwickelte. Erste Ergebnisse sah
Lessing in England.
Die Besonderheit des bürgerlichen Trauerspiels war, dass die PERSONEN
ben in den „Tälern von Piemont“ (HL S. 12/R S. 13) abseits der
höfischen Welt des Prinzen führen. Das bedeutet auch ein entspre-
chendes Verhältnis zu Appianis Untergebenen. Appiani ist mit sei-
nem Lebensprogramm, das an die heimatlichen Täler fern des
technischen Fortschritts geknüpft ist, der antiaristokratische Typ,
zumal er sich auch den absolutistischen Machtritualen vollständig
entzieht. Durch sein Vorbild orientiert sich Emilia in Richtung auf
ein bürgerliches Leben im Sinne Rousseaus. Es tritt an die Stelle
der aristokratischen Attribute, denn sie ist zwar von Adel, aber „ein
Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang“ (HL S. 12/R S. 13). Sie
hat Appiani für sich gewinnen können, wie Marinelli missbilligend
hämisch kommentiert, „mit ein wenig Larve, aber mit vielem Prun-
ke von Tugend und Gefühl und Witz“ (HL S. 12/R S. 13).
Marinelli hat damit die Werte genannt, die das aufkommende BÜRGERTUM
Aufgabe 2 *
la. Das heißt aber auch, dass sie sich in den Machtkonstellationen
des Hofes auskennen muss und sie mitbestimmt, da sie bisher den
direkten Zugang zum Prinzen hatte. Es ist die einschneidende Ver-
änderung, die ihre Lage bestimmt, dass sie diesen Zugang verlo-
ren hat und lediglich ein Zufall ihr auf Dosalo die Begegnung mit
dem Prinzen verschafft, die dazu noch eine vollständige Enttäu-
schung wird. Selbst in der Öffentlichkeit des kleinen Herzogtums
wirkt sie an zentraler Stelle, denn sonst könnte sie nicht mit der
Veröffentlichung ihres Wissens auf dem Markt und vor dem Volk
drohen.
ROLLE IM STÜCK Ihre dominierende Rolle wird auch in der dramaturgischen Ein-
führung erkennbar. Bereits in der ersten Szene tritt sie, ohne an-
wesend zu sein, als Kontrahentin Emilias auf. Ein Brief von ihr ir-
ritiert den Prinzen, der Maler Conti stellt die Bilder beider Frauen
vor und lässt sich über die unterschiedliche Schönheit der beiden
Frauen aus. Während Emilia eine natürliche und vollkommene
Schönheit ist, ist auf dem Bild der Orsina eine gedachte Schönheit
zu sehen. Nachdem diese Spannung aufgebaut ist, dauert es bis
zum vierten Aufzug, ehe die Orsina persönlich erscheint. Drama-
turgisch bekommt sie eine retardierende Funktion, die dadurch
verstärkt wird, dass sie den Machtbetrieb am deutlichsten durch-
schaut, hat sie ihn doch am eigenen Leibe erlebt bzw. mitgestaltet.
So wie sie jetzt die Geräusche der Verführung Emilias hört, so wur-
de sie vom Prinzen zuvor zur Mätresse gemacht. Sie kann es sich
erlauben, den engsten Vertrauten des Prinzen, Marinelli, als „Hof-
geschmeiß“ (HL S. 49/R S. 60) zu bezeichnen, denn sie ist ihm in
vielerlei Hinsicht überlegen. Ihre Abrechnung zielt denn auch
nicht auf ihn, sondern auf den Prinzen selbst.
MARK T Schönheit, Geist und Rigorosität hat die Orsina an die Seite des
Prinzen geführt. Ihre Position hätte sich unabhängig von Emilias
Wirkung auf den Prinzen verändert, denn durch die bevorstehende
Heirat des Prinzen mit der Prinzessin von Massa würde auch die
Rolle der Mätresse neu bestimmt. In dieser besonderen Situation
kann sie aus dem Einzelereignis – dem Mord an Appiani – die Ver-
allgemeinerung entwickeln. Aus „Der Prinz ist ein Mörder!“ (HL
S. 54/R S. 65 f.) entsteht der Vorsatz, es auf dem Markt auszurufen,
was nichts anderes als ein Angriff auf die Macht wäre, denn sie
weiß nun, dass die Macht, an der auch sie beteiligt war und ist, der
eigentliche Mörder ist. Deshalb ist es geradezu zwingend, dass
auch sie ihre Macht nutzt: So wie der Prinz in Marinelli sein will-
fähriges Werkzeug hatte, so schafft sie es sich mit Odoardo, nicht
ahnend, dass dessen bürgerliche Tugend ihm den Weg zum ei-
gentlichen Objekt der Rache versperrt. So scheitert die Orsina wie
beim Prinzen auch hier.
Aufgabe 3 ***
Aufgabe 4 *
das Werk mehrere Veränderungen, von denen wir heute nur indi-
rekt durch Zeitgenossen wissen. Insbesondere Gräfin Orsina hat
während der Entstehung deutliche Aufwertungen erfahren.
Der Stoff stammt aus der römischen Geschichte und handelt STOFF
VER ZICHT AUF Der Verzicht auf einen Umsturz, wie er im römischen Beispiel
UMSTUR Z
dem Tod Virginias folgte, bedeutete aber keineswegs eine Entpo-
litisierung. Vielmehr war das tragische Schicksal Emilias und ihres
Vaters, nicht zu vergessen der Tod Appianis, der Hinweis darauf,
wie die entstehenden bzw. bereits entstandenen bürgerlich-mora-
lischen Werte einer Belastungsprobe standhielten. Die individuelle
Tragik war das Symptom einer gesellschaftspolitischen Phase des
Ausbruchs, die noch keine revolutionären Positionen ausgebildet
hatte.
VER ZICHT AUF Aus diesem Grunde fehlt auch das Volk vollständig; selbst ein
VOLK
kämpferischer Aufruf der Gräfin Orsina, auf dem Markt die Verbre-
chen der absolutistischen Macht zu enthüllen, dürfte in Anbetracht
der fehlenden Ansprechpartner verhallen. Andererseits waren be-
reits die programmatischen, bürgerlichen Forderungen erkennbar:
In Appiani ist die angestrebte Natürlichkeit eines Lebens außer-
halb der absolutistischen Ordnung erkennbar, die Aufgabe politi-
scher Abhängigkeiten, wie sie den alten Galotti noch prägen, steht
an, ein neues Tugendverständnis wird ausgebildet, selbst der auf-
geklärte Fürst als Erziehungsideal wird in Ansätzen erkennbar,
ohne erfüllt zu werden oder Bestand zu haben.
FA ZIT Der Prinz ist ein sinnfälliges Beispiel dafür, wie humane Veran-
lagungen, ein fantasievoller Umgang mit natürlichen Gefühlen und
ein sensibles Kunstverständnis vernichtet werden, wenn sie abso-
lutistischer Macht begegnen. An ihre Stelle tritt Gewissenlosigkeit,
tyrannische Vernichtungsbereitschaft und skrupellose Menschen-
verachtung. Lessing hat in diesen Veränderungen, die er vornahm,
die historisch gewordene Konfliktkonstellation der römischen Ver-
gangenheit ausgespart und durch gesellschaftliche Spannungen
seiner Gegenwart ersetzt.
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geschichte aufgaben
LITERATUR
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Aufzügen. Heftbearbeitung: Uwe Lehmann. Husum/Nordsee:
Hamburger Lesehefte Verlag 2010 (Hamburger Leseheft Nr.
149). Zitatverweise sind mit HL gekennzeichnet.
Lessing, Gotthold Ephraim. Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in
fünf Aufzügen. Anmerkungen von Jan-Dirk Müller. Stuttgart:
Reclam, durchgesehene Ausgabe 2009 (Reclams Universal-
Bibliothek Nr. 45). Zitatverweise sind mit R gekennzeichnet.
Weitere Werkausgaben:
Lessing, Gotthold Ephraim, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf
Aufzügen. In: Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen. Hrsg.
von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen. Zweiter
Teil. Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart: Bong, 1925 –1935 (Nach-
druck Hildesheim/New York: Olms, 1970)
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Emilia Galotti.
1913. Regie: Friedrich Fehér
Emilia Galotti.
Kinofilm, DDR 1957. Regie: Martin Hellberg.
Emilia Galotti.
Fernsehfilm, BRD 1960. Regie: Ernst Ginsberg.
Emilia Galotti.
Fernsehfilm, BRD 1970. Regie: Ludwig Cremer.
Emilia Galotti.
Fernsehfilm, DDR 1981. Regie: Klaus Dieter Kirst.
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Emilia Galotti.
Fernsehfilm, DDR 1984. Regie: Thomas Langhoff.
Emilia.
Deutschland/Schweiz 2004. Regie: Henrik Pfeifer
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stichwortverzeichnis
STICHWORTVERZEICHNIS
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eigene notizen
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