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königs erläuterungen

Band 16

Textanalyse und Interpretation zu

Gotthold Ephraim Lessing

emilia galotti

Rüdiger Bernhardt

Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat


plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen

Lizenziert für Hei Man Kwan, HongKong. © C. Bange


Zitierte Ausgaben:
Lessing, Gotthold Ephraim, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen.
Heftbearbeitung: Uwe Lehmann. Husum/Nordsee: Hamburger Lesehefte Verlag
2010 (Hamburger Leseheft Nr. 149). Zitatverweise sind mit HL gekennzeichnet.
Lessing, Gotthold Ephraim, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen.
­Anmerkungen von Jan-Dirk Müller, Stuttgart: Philipp Reclam jun., durchgese-
hene Ausgabe 2001 (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 45). Zitatverweise sind
mit R gekennzeichnet.

Über den Autor dieser Erläuterung:


Prof. Dr. sc. phil. Rüdiger Bernhardt lehrte neuere und neueste deutsche
sowie skandinavische Literatur an Universitäten des In- und Auslandes. Er
veröffentlichte u. a. Studien zur Literaturgeschichte und zur Antikerezeption,
Monografien zu Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, August Strindberg und
Peter Hille, gab die Werke Ibsens, Peter Hilles, Hermann Conradis und anderer
sowie zahlreiche Schulbücher heraus. Von 1994 bis 2008 war er Vorsitzender
der Gerhart-Hauptmann-Stiftung Kloster auf Hiddensee. 1999 wurde er in die
Leibniz-Sozietät gewählt.

7. Auflage 2020
ISBN 978-3-8044-1923-0
PDF: 978-3-8044-5923-6, EPUB: 978-3-8044-6923-5
© 2010, 2002 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld
Alle Rechte vorbehalten!
Titelbild: Peter Mosbacher mit Judith Holzmeister in Emilia Galotti, ­Theater am
Kurfürstendamm, Berlin 1953, © ullstein bild – Ruth Wilhelmi
Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk

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inhalt

1. DAS WICHTIGSTE AUF EINEN BLICK – 6


SCHNELLÜBERSICHT

2. GOTTHOLD EPHRAIM LESSING: 11


LEBEN UND WERK

2.1 Biografie    11
2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund    17
2.3 Angaben und Erläuterungen
zu wesentlichen Werken    24

3. TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION 27

3.1 Entstehung und Quellen    27


3.2 Inhaltsangabe    35
3.3 Aufbau    45
3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken    55
Emilia Galotti    55
Gräfin Orsina    57
Hettore Gonzaga    59
Odoardo Galotti    61
Marinelli    62
Graf Appiani    63
Claudia Galotti    65
Conti    65

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen 67

3.6 Stil und Sprache 81

Genauigkeit der Sprache    82


Das „Scharnier“    83
Motive und Symbole    84
3.7 Interpretationsansätze 85
Historischer Stoff und Gegenwartsstück    86
Das Mäzenatentum und der
absolutistische Herrscher    87
Bürgerliche Moral und Tugend    91

4. REZEPTIONSGESCHICHTE 94

Reaktionen der Zeitgenossen    94


Veränderte Wirkung nach der
Französischen Revolution von 1789    100

5. MATERIALIEN 107

6. PRÜFUNGSAUFGABEN MIT
­M USTERLÖSUNGEN 111

4
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LITERATUR 123

STICHWORTVERZEICHNIS 128

5
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1 schnellübersicht 2 G. E. Lessing: 3 Textanalyse und
Leben und Werk -interpretation

1. DAS WICHTIGSTE AUF EINEN BLICK –


SCHNELLÜBERSICHT

Damit sich jeder Leser in diesem Band sofort zurechtfindet und


das für ihn Interessante gleich entdeckt, folgt hier eine Übersicht.

Im 2. Kapitel wird Lessings Leben beschrieben und auf den zeit­


geschichtlichen Hintergrund verwiesen:

  S. 11 ff. Gotthold Ephraim Lessing lebte von 1729 bis 1781, zeitweise
als freier Schriftsteller in Sachsen, Berlin, Breslau, Hamburg
und zuletzt als Bibliothekar in Wolfenbüttel.
  S. 17 ff. Lessing ist der wichtigste Vertreter der deutschen Aufklärung,
die er dem Einfluss des französischen Klassizismus entzog.
Er lernte die deutsche Kleinstaaterei ausgiebig kennen und
verurteilte sie samt der absolutistischen Herrschaftsform.
  S. 20 ff. Mit dem bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti setzte Lessing
neue Maßstäbe für das Drama, überwand die poetischen Prin­
zipien Gottscheds und schuf ein politisches Stück mit sozialen
Konturen.

Im 3. Kapitel geht es um die Textanalyse und -interpretation.

Emilia Galotti – Entstehung und Quellen: 


  S. 27 ff. Das historische Vorbild war Virginia aus der literarischen Vorlage
des Titus Livius (59 v. Chr. bis 17 n. Chr.).

6 Gotthold Ephraim Lessing

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4 Rezeptions­ 5 materialien 6 prüfungs­
geschichte aufgaben

Inhalt: 
Das Trauerspiel hat fünf Aufzüge.   S. 35 ff.
Der Prinz von Guastalla hat Emilia Galotti gesehen und begehrt
sie leidenschaftlich. Um sie zu gewinnen, muss er seine Mätresse
Gräfin Orsina verabschieden und Emilias Heirat mit dem Grafen
Appiani verhindern. Der Kammerherr Marinelli lässt den Grafen
überfallen, umbringen und Emilia auf das Lustschloss des Prinzen
bringen. Die Orsina erkennt die Hintergründe der Ereignisse und
klärt Emilias Vater Odoardo auf. Emilia spürt, dass sie der Verfüh­
rung durch den Prinzen weder entgehen noch widerstehen kann;
sie will sich töten. Das übernimmt ihr Vater, der sich danach der
himmlischen und der irdischen Gerechtigkeit stellt. Der Prinz ver­
bannt Marinelli.

Aufbau: 
Lessings bürgerliches Trauerspiel folgt der aristotelischen   S. 45 ff.
Dramaturgie, bringt Züge der klassizistischen französischen
Tragödie und Merkmale des englischen bürgerlichen Trauer­
spiels zusammen.
Es variiert die drei Einheiten (Einheit des Ortes, der Zeit und
der Handlung) nach modernen Erfordernissen; die Einheit der
Handlung wird besonders beachtet.

Personen: 
Die Hauptpersonen sind   S. 55 ff.

Emilia Galotti:
Titelfigur;
die schöne, junge Frau fühlt ihre Tugend von der Leidenschaft
bedroht;

EMILIA GALOTTI 7
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Leben und Werk -interpretation

Gräfin Orsina:
Mätresse des Prinzen;
schön, intelligent und zu allem entschlossen;

Prinz von Guastalla:


absolutistischer Herrscher und Mäzen;
verantwortungsbewusst und verantwortungslos, liebenswert
und rücksichtslos gleichermaßen;
getrieben von seiner Begierde;

Odoardo Galotti:
autoritärer, soldatischer Pflichtmensch;
arm, ehrlich und bieder;
Tugend- und Moralauffassungen bürgerlicher Prägung;

Marinelli:
verbrecherischer und intriganter Hofmann;
skrupelloser Politiker;

Graf Appiani:
ländlich, sittlich, tolerant;
Repräsentant des „Natürlichen“ und des aufgeklärten Adels
mit Neigung zu bürgerlicher Toleranz;

Claudia Galotti:
lebenserfahrene, aber leichtgläubige, um die Sitten bei Hof
wissende Ehefrau Odoardos;
ohne dessen rigorose Moralität;
auf Emilias gesellschaftliche Stellung bedacht;

8 Gotthold Ephraim Lessing

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Conti:
Maler;
Beispiel für das Mäzenatentum des Prinzen;
kümmert sich um seine Existenz.

Stil und Sprache in Emilia Galotti: 


Die klare und präzise Sprache ist auf die vollkommene Wir­   S. 81 ff.
kung des einzelnen Wortes bedacht.
Es wird mit nichtsprachlichen Bestandteilen gearbeitet, auch
mit Satzzeichen, die zur akustischen Strukturierung des Textes
beitragen.
Eine besondere Rolle spielt das „Scharnier“, durch das Wörter
und Sätze miteinander verzahnt werden.

Interpretationsansätze: 
Die Ablösung der feudalistischen Macht durch das Bürgertum   S. 85 ff.
wirkt sich auf die menschlichen Gefühle und Leidenschaften
aus. Obwohl unter Adligen spielend, werden bürgerliche Ziele
behandelt: Natürlichkeit, Freiheit und Selbstverwirklichung.
Der historische Stoff der Virginia bildet die Grundlage eines
Stücks aus naher Vergangenheit, das sich spezifisch deutscher
Probleme annimmt, wie z. B.: der fehlende Aufstand nach dem
Tod Emilias, die Grenzen der Handlungsfähigkeit der Figuren
sowie die Vernichtung bürgerlichen Denkens durch absolutis­
tische Macht.

Rezeptionsgeschichte: 
Viele Zeitgenossen begrüßten das Stück und versuchten so­   S. 94 ff.
gar, es fortzusetzen; andere hatten Vorbehalte gegen Emilias
Schicksal und die italienische Einkleidung.

EMILIA GALOTTI 9
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Leben und Werk -interpretation

Nach der Französischen Revolution von 1789 veränderte sich


die Wirkung, denn man sah die deutschen Zustände nun unter
dem Aspekt der Absicht Lessings und verglich sie mit den ge­
sellschaftlichen Ergebnissen in Deutschland.
Das Stück wirkt bis heute, steht aber im Schatten anderer
­Stücke Lessings.

10 Gotthold Ephraim Lessing

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2.1 Biografie

2. GOTTHOLD EPHRAIM LESSING:


LEBEN UND WERK

2.1 Biografie
JAHR ORT EREIGNIS ALTER

1729 Kamenz 22. Januar: Geburt Gotthold Ephraim


(Sachsen, Lessings als Sohn des Pastors prima­
Oberlausitz) rius an der Kamenzer St. Marienkirche
­Johann Gottfried Lessing und der
­Pfarrerstochter Justina Salome, geb. Gotthold
­Feller; elf Geschwister. ­Ephraim Lessing
1737 Erster Unterricht bei Vater und Ver- 8 (1729 –1781),
wandten sowie Besuch der Lateinschule © ullstein bild –
ab 1737. Der Vater ist schriftstellerisch Granger
tätig. ­Collection

1741 Meißen 22. Juni: Freistelle in der Fürstenschule 12


St. Afra nach hervorragenden Leis­
tungen im Aufnahmegespräch; erste
Dichtungen (Lieder, lehrhafte Verse).
1742 Kamenz Lessings Geburtshaus brennt ab. 13
1746 Meißen Wegen außerordentlicher Leistungen 17
und auf Ersuchen des Vaters, da sonst
ein Universitätsstipendium verfallen
wäre, vorzeitiger Schulabschluss mit
der Disputation Über die Mathematik der
Barbaren (De mathematica barbarorum).

EMILIA GALOTTI 11
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Leben und Werk -interpretation

2.1 Biografie

JAHR ORT EREIGNIS ALTER

1746 – Leipzig Immatrikulation an der theologischen 17–19


1748 Fakultät der sächsischen Landes­
universität.
Bald Interessen für die Philosophie, das
literarische Leben und die Schauspiel-
truppe der Neuberin, bestärkt durch
Christlob Mylius, einen entfernten Ver-
wandten Lessings, und Christian Felix
Weiße.
Erste Veröffentlichungen; zeitweise
­Medizinstudium. Lessing flieht nach
einer finanziellen Bürgschaft für Schau-
spieler der Neuberin, die seinen Jungen
Gelehrten 1748 erfolgreich uraufführte.
1748 Wittenberg Lessing setzt das Medizinstudium fort. 19
Im November kommt er in Berlin an und
beginnt das Leben eines freien Schrift-
stellers.
1748 – Berlin Für die „Berlinische Privilegierte 19 –22
1751 ­Zeitung“ (später „Vossische Zeitung“)
schreibt er Kritiken; außerdem Überset-
zungen und eigene Schriften.
1752 Wittenberg Lessing schließt seine Studien ab; er 23
wird am 29. April mit der Übersetzung
einer Arbeit des spanischen Arztes Juan
Huarte aus dem 16. Jahrhundert zum
Magister der freien Künste promoviert.
1752– Berlin Rückkehr nach Berlin; Freundschaft 23 – 26
1755 mit Christoph Friedrich Nicolai, Moses
­Mendelssohn, Ewald von Kleist u. a.

1753 – Berlin Schriften in sechs Bänden erscheinen. 24–26


1755
1755 Potsdam Miss Sara Sampson entsteht; das Stück 26
wird am 10. Juli von der Ackermann-
schen Gesellschaft in Frankfurt /Oder
uraufgeführt.

12 Gotthold Ephraim Lessing

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2.1 Biografie

JAHR ORT EREIGNIS ALTER

1755 – Leipzig Ab Oktober ist Leipzig Hauptaufenthalts- 26–29


1758 ort. Besuche in Dresden zur Vorberei-
tung auf die Bildungsreise.
1756: Begleiter des Kaufmannssohns
Winkler, Besuch bei Gleim in Halber-
stadt, Besichtigung der herzoglichen
Bibliothek in Wolfenbüttel, Besuch bei
Klopstock in Hamburg; großer Eindruck
durch den Schauspieler Ekhof.
1756 Besuch norddeutscher und holländi- 27
scher Städte und Museen.
Amsterdam Die Bildungsreise wird zu Beginn des
Siebenjährigen Kriegs abgebrochen.
September: Ankunft im von Preußen
­besetzten Leipzig. Im Mai 1758 Rück-
kehr nach Berlin.
1758 – Berlin Lessing findet keine feste Anstellung. 29–31
1760 Beginn der Auseinandersetzung mit
dem poetischen Regelwerk Gottscheds
(Briefe, die neueste Literatur betreffend);
Beschäftigung mit Diderot; Überset-
zungen. Beginn mit den Vorarbeiten für
ein deutsches Wörterbuch und Arbeit
an Faust.
1760 Berlin 23. Oktober: Wahl zum auswärtigen 31
Mitglied der Königlichen Akademie der
Wissenschaften.
1760 – Breslau Ab November Gouvernementssekretär 31–36
1765 des preußischen Generals von Tauent-
zien (1710 –1791), dem Kommandanten
von Breslau, späteren Gouverneur von
Schlesien. Als Schriftsteller schweigt er,
lässt auch nichts drucken.

EMILIA GALOTTI 13
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Leben und Werk -interpretation

2.1 Biografie

JAHR ORT EREIGNIS ALTER

1764 Lessing beschließt, erneut als freier 35


Schriftsteller zu leben und sich nicht
„zum Sklaven zu machen“1. Er treibt
Studien, arbeitet über Sophokles und am
Laokoon-Thema.
1765 – Berlin, Bad Er veröffentlicht zur Ostermesse 1766 36 –38
1767 Pyrmont Laokoon; 1767 Minna von Barnhelm.
Juni/Juli 1766: Privatlehrer und Reise­
begleiter Leopold von Brenkendorfs
nach Bad Pyrmont, Bekanntschaft
mit Justus Möser. Allein weiter nach
­Göttingen, Kassel und Halberstadt.
1767– Hamburg 22. April 1767: Eröffnung des National- 38 – 41
1770 theaters. Anstellung als Dramaturg und
Kritiker: Hamburgische Dramaturgie.
Erneute Begegnung mit Klopstock, der
aus Kopenhagen kam.
1768 Der Versuch, durch Bibliotheksverkauf,
Beteiligung an einer Druckerei und
als Verleger unabhängig vom schei-
ternden Nationaltheater zu werden,
misslingt. Verkehrt in den Familien
Reimarus und König. Plan, nach Italien
zu gehen. Herbst 1769: Angebot aus
­Braunschweig; 15. Dezember:
Ernennung zum Bibliothekar.
1770 – Wolfenbüttel Tätig als Bibliothekar des Herzogs 41– 52
1781 von Braunschweig; erfolgreichste Zeit
seines Lebens bei kargem Lohn (600
Taler) und hohen Schulden. 1776 zum
Hofrat ernannt. Versuche, Wolfenbüttel
zu verlassen, misslingen. Der Plan, das
Mannheimer Theater zu übernehmen,
scheitert.

1 Brief an Johann Gottfried Lessing vom 13. Juni 1764. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 231.

14 Gotthold Ephraim Lessing

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2.1 Biografie

JAHR ORT EREIGNIS ALTER

1770 Hamburg Februar, April: zwei Besuche Herders, 41


der Lessing bewundert.
1771 Hamburg Verlobung mit Eva König (geb. 1736), 42
Witwe eines Freundes; Aufnahme in
Freimaurerloge „Zu den drei goldenen
Rosen“.
1772 Braunschweig Im Winter 1771/72 entsteht auf der 43
Grundlage früherer Studien Emilia
Galotti.
13. März: Uraufführung durch die
­Döbbelinsche Truppe anlässlich des
72. Geburtstags der Herzogin Charlotte
Philippine von Braunschweig, Frau
des regierenden Herzogs Karl I. und
Schwester Friedrichs II. von Preußen.
1774 Seelische Krise, Depressionen wegen 45
Gefühlsbindung an Ernestine Reiske.
1775– Reise, Wien Leipzig, Berlin, Dresden, Prag, Wien; 46–47
1776 in Wien Audienz beim Kaiser; er trifft
Eva König. Weiterreise als Begleiter des
Braunschweiger Prinzen Leopold nach
Italien (u. a. Venedig, Florenz, Rom,
Neapel).
1776 Jork im Alten 8. Oktober: Heirat mit Eva König im 47
Lande Landhaus einer mit Eva befreundeten
Familie.
1778 Wolfenbüttel 10. Januar: Eva Lessing stirbt am Kind- 49
bettfieber, nachdem Sohn Traugott
bereits einen Tag nach seiner Geburt
verstorben war.
Anti-Goeze: Im Juli entzieht der Herzog
Lessing die Zensurfreiheit im Religions-
streit mit den orthodoxen Lutheranern.

EMILIA GALOTTI 15
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Leben und Werk -interpretation

2.1 Biografie

JAHR ORT EREIGNIS ALTER

1779 Nathan der Weise, uraufgeführt erst 50


1783, im Ergebnis einer seit 1774
­dauernden, religionskritischen Debatte,
die ihren Höhepunkt 1778 in zahlreichen
Streitschriften gegen den Hamburger
Hauptpastor Goeze fand.
1780 Anonym erscheint Lessings bedeutende 51
Schrift Die Erziehung des Menschen-
geschlechts; er lernt im Sommer durch
Friedrich Heinrich Jacobi Goethes
Prometheus kennen und löst mit sei-
nem Bekenntnis zum Pantheismus
die ­„Spinozadebatte“ aus. Er trifft in
­Hamburg Elise Reimarus; reist zu Gleim
nach Halberstadt.
1781 Braunschweig 15. Februar: Tod Lessings nach einem 52
zweiwöchigen Krankenlager; am Mor-
gen seines Todestages empfing er noch
den Dichter Johann Anton Leisewitz, der
auch am Begräbnis teilnahm. Lessing
wurde auf dem Magnifriedhof in Braun-
schweig begraben.

16 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

Zusammen­
Emilia Galotti gehört zu den Vorbereitungen auf die Franzö­ fassung

sische Revolution von 1789. Empfindsamkeit wird zu einem


Merkmal der Aufklärung sowie des bürgerlichen Denkens
und bestimmt das bürgerliche Trauerspiel, das sich als Pen­
dant zur klassizistischen Tragödie entwickelte. Inhalte einer
neuen Tugend, vertreten durch die Bürger, werden gesehen,
aber durch die spezifischen Verhältnisse in Deutschland –
seine Zersplitterung und ökonomische Rückständigkeit –
nicht sozial breit gefächert umgesetzt. Eine politische Revo­
lution wie in Frankreich ist in Deutschland nicht in Sicht.

Emilia Galotti gehört zeitlich, inhaltlich und geistesgeschichtlich in Französische


das Vorfeld der Französischen Revolution von 1789. Die absolutis­ ­Revolution

tischen Staaten waren um 1770 auf dem Höhepunkt ihrer Macht


und verteidigten sie: In Preußen hatte Friedrich II. (1712 – 1786)
durch den Siebenjährigen Krieg (1756 – 1763) Schlesien gewon­
nen. 1772 teilten Preußen, Österreich und Russland Polen auf.
Preußen wurde zur europäischen Großmacht. Russland gewann
unter Katharina II. (1729 – 1796) außenpolitisch an Bedeutung,
hatte aber im Inneren mit Aufständen und Widerstand zu kämpfen.
Frankreich unter Ludwig XV. (1710 – 1774) war innerlich zerrüttet;
1770 hatte der Zorn auf die höfischen Zustände – Mätressenwesen
und Finanzkrise – einen Höhepunkt erreicht, aber es war neben
Großbritannien, das in dieser Zeit zur führenden Handels- und Ko­
lonialmacht und zur Beherrscherin der Meere aufgestiegen war,
die entscheidende Macht Europas. Als man die amerikanischen
Kolonien mit zusätzlichen Steuern belasten wollte, kam es zu

EMILIA GALOTTI 17
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Leben und Werk -interpretation

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

Spannungen, die 1775 zum Krieg und dem Zerfall des Kolonial­
reiches führten. In Mecklenburg (1769) und Sachsen (1770) wurde
die Folter abgeschafft.
„Empfindsam- Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Zeichen der Aufklä­
keit“ rung, bezeichnet man oft als Zeit der „Empfindsamkeit“2. Lessing
hat den Begriff „empfindsam“ als Übersetzung des englischen
„sentimental“ verwendet; beschrieben wurde eine literarische
Strömung der Art Samuel Richardsons (1689 – 1761). Ursprüng­
lich religiös inspiriert, wurde die Empfindsamkeit zu einem bür­
gerlichen Wert, in den Gefühl, Natürlichkeit und Leiden an einer
konfliktreichen Wirklichkeit eingingen. In der Enzyklopädie Di­
derots wird sie in Zusammenhang mit dem tugendhaften Men­
schen gebracht. Es handelt sich um einen politischen Wert. Zur
empfindsamen Dichtung wurden Klopstocks Messias und Goethes
Die Leiden des jungen Werther (1774) gerechnet. Werther hatte
Lessings E­milia Galotti auf dem Pult liegen, als er sich erschoss;
das war kein Zufall, sondern zeitgemäß. Lessing war als bürgerli­
cher Dichter auch ein Dichter der Empfindsamkeit, die in Form der
Rührung ins bürgerliche Trauerspiel einging. Das verlangte nach
entsprechenden Helden; neben Spartacus, Virginia, Faust und Sa­
muel Henzi (1701 – 1749) gehörte auch Emilia Galotti dazu. Eine
handlungsfähige bürgerliche Gesellschaft nach Stände- oder Klas­
sendefinition ist in Emilia Galotti nicht zu finden. Auch der Maler
Conti, von bürgerlicher Herkunft, ist vom Hof abhängig und nicht
von bürgerlichen Auftraggebern.
Mit Samuel Henzi hatte Lessing, ähnlich wie in Emilia Galotti, ei­
nen Gegenwartsstoff gewählt. Beides sind bürgerliche Trauerspie­
le und einander ähnlich. Henzis Vorhaben, die Herrschaftsform zu

2 1779 erschien Joachim Heinrich Campes Schrift Über Empfindsamkeit und Empfindelei in
Braunschweig.

18 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

verändern, setzt voraus, dass das Volk zuvor lernt, was Tugend und
Pflicht bedeuten.
Tugend als Wert war seit Aristoteles’ Ethik bestimmt: Man ver­ Tugend als Wert
stand darunter die Fähigkeit, sich im Leben stets so zu entschei­
den, dass allgemein Gültiges eingehalten wurde und der Mensch
dadurch ein gutes Leben führte, auch unter widrigen Umständen.
Ein tugendhaftes Leben war immer mit einer sinnvollen Erfüllung
verbunden, wobei nicht die Absicht, sondern nur das Resultat,
nicht der Gewinn für den einzelnen Menschen, sondern der für
die Gemeinschaft wichtig war. Die französischen Enzyklopädisten
koppelten Empfindsamkeit und Tugend, sie machten damit die
Spezifik der bürgerlich-aufklärerischen Bestimmung aus: „(…) die
Empfindsamkeit bringt den tugendhaften Menschen hervor. Die
Empfindsamkeit ist die Mutter der Menschlichkeit und der Groß­
mut; sie fördert das Verdienst, unterstützt den Geist und hat die
Überzeugung zur Folge.“3
Wenn Lessing in Emilia Galotti eine Veränderung der Herr­
schaftsform ausklammert und ausschließlich der Tugend Auf­
merksamkeit schenkt, ist das ein Hinweis darauf, dass dieser Lern­
vorgang nicht vorangekommen war. Samuel Henzi war L ­ essings
kühnster Entwurf eines bürgerlichen Trauerspiels. Aber das The­
ma fand keine hoffnungsvolle Entsprechung in der deutschen
Wirklichkeit.
Schon während des Studiums in Leipzig galt Lessings Haupt­
interesse dem Theater. Es war die Zeit der Neuberin (Friederike
Caroline Neuber, geb. Weißenborn; 1697 – 1760), die 1744 nach
Leipzig zurückgekehrt war und ihre letzten Inszenierungen vor­
stellte, ehe sie 1750 aus Leipzig vertrieben wurde. Lessings Der

3 Manfred Naumann (Auswahl und Einführung): Artikel aus der von Diderot und d’Alembert heraus-
gegebenen Enzyklopädie. Leipzig: Reclam, 1984, S. 730.

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Leben und Werk -interpretation

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

junge Gelehrte führten die „Privilegierten Dresdner Hofkomödian-


ten“ der Neuberin im Januar 1748 auf. Davon beflügelt schrieb
Lessing ähnliche Stücke, darunter Der Misogyn.
Durch seine Arbeit an der Hamburgischen Dramaturgie und sei­
ne Tätigkeit als Rezensent bekam Lessing 1767 einen umfassenden
Einblick in die dramatische Produktion seiner Zeit, das europäische
Ausland inbegriffen. Für das Verständnis des bürgerlichen Trauer­
spiels Emilia Galotti ist deshalb nicht nur der Verweis auf Lessings
Miss Sara Sampson wichtig, sondern auch der Verweis auf Patzke,
Lillo und andere. Lessing hatte in seiner Hambur­gischen Drama-
turgie darauf hingewiesen, dass der Schriftsteller sich auch in der
Weltliteratur umzusehen habe.
Das bürgerliche Mit der Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels, von dem
Trauerspiel in Gottscheds Regelwerk von einer Critischen Dichtkunst (1730)4
noch keine Rede war, trug Lessing maßgeblich zur aufklärerischen
Entwicklung bei. Das bürgerliche Trauerspiel war in der Tradition
der klassischen Tragödie neu. In ihm sollten bürgerliche Helden
agieren, nicht höfisch-historisches Geschehen oder weit zurücklie­
gende oder mythische Ereignisse die Handlung bestimmen. „Bür­
gerlich“ bedeutete (noch) keine soziale Kategorisierung, sondern
„privat“ und „häuslich“, nicht in die Stände eingebunden und auf­
klärerisch „allgemeinmenschlich“. Indem jedoch die bürgerlichen
Werte Gegenstand des Geschehens wurden – zum Beispiel Emilias
Tugend – und als Alternative zu adligem Verhalten gesehen wur­
den (Appiani strebt Odoardo als „Muster aller männlichen Tugend“
nach), kamen soziale Unterschiede ins Spiel. Auch formal fand
eine Veränderung statt: An die Stelle des Alexandrinerverses5, den

4 Erst in der 4. Auflage 1751 ging Gottsched kurz auf das bürgerliche Trauerspiel ein und betrach-
tete es als ein „Mittelding“ zwischen Tragödie und Komödie.
5 Der Alexandriner besteht aus sechs Takten (eigentlich acht Takten, von denen zwei stumm sind)
und beginnt mit einem Auftakt. Er kommt aus den Epen um Alexander (12. Jahrhundert) und

20 Gotthold Ephraim Lessing

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4 Rezeptions­ 5 materialien 6 prüfungs­
geschichte aufgaben

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

Lessing in Samuel Henzi noch verwendet hatte, trat Prosa. Mit der
entstehenden deutschen klassischen Literatur wurde der Blank­
vers in das bürgerliche Trauerspiel oder in vergleichbare Werke
aufgenommen (vgl. Lessings Nathan der Weise).
Der Hof von Guastalla in Emilia Galotti war kein Abbild des
Braunschweiger Hofes; es gab in Deutschland an vielen Höfen
ähnliche Verhältnisse. Insofern entsprach der italienische Hof von
Guastalla der typisierten deutschen Kleinresidenz. Der protestan­
tische Lessing, der für ein protestantisches Publikum schrieb, ver­
legte die Handlung in ein katholisches Umfeld, in dem der Tugend­
begriff zusätzlich eine religiöse Dimension bekam und von Emilia
im Zusammenhang mit ihrem Todeswunsch im Blick auf „Heilige“
(HL S. 70/R S. 85) auch aktiviert wird.
Die Situation deutscher Untertanen war 1772 misslich. Teue­ Gesellschaftliche
rung, Hungersnot und Krankheiten (Faulfieber) herrschten. Der Lage

Prinz beginnt sein Regierungsgeschäft mit Ausrufen über „Kla­


gen“ und „Bittschriften“ (HL S. 5/R S. 5). Zeitgenossen empfanden
Deutschland als einen Park, „worin alles, was Jagduniform trägt,
sich ziemlich Pläsir machen kann; was aber einen Pelz oder Feder
hat, muss sich verkriechen, wofern es nicht zertreten sein will“6.
Von Zerlumpten und Ärmsten, Leibeigenen und Gesellen war in
diesem zeitgenössischen Bericht nicht einmal die Rede. Diese vor­
revolutionäre Zeit führte in Frankreich 1789 zur großen Verände­
rung. In Deutschland blieb die Revolution aus bzw. fand als litera­
rische Revolution im Sturm und Drang statt. Die Forderungen der
Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –

wurde in Deutschland aus dem Französischen übernommen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts
war er der am meisten gebrauchte Vers. Der Verzicht auf ihn war eine revolutionäre Tat Les-
sings – und nach ihm der Vertreter des Sturm und Drang.
6 Zitiert nach einem Urteil von 1780 in Waldemar Oehlke: Lessing und seine Zeit. München:
C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1919, 2. Band, S. 145.

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2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

wurden in Deutschland nicht eingelöst7. Es gab nur die literari­


sche, später durch Kants Kritik der reinen Vernunft die philosophi­
sche Revolution. Andererseits erstarrte das bürgerliche Denken in
seinen Moralvorstellungen und hemmte so den erwünschten Fort­
schritt. Der Prinz weiß nichts von politischer und gesellschaftlicher
Entwicklung und Revolutionen; mit Odoardo Galotti sind sie nicht
zu denken. Solche Gestalten gab es nicht nur am Braunschweiger
Hof, obwohl der natürlich bei dem Stück einfällt.
In gut dreißig Jahren vollzog sich Weltpolitik und folgenreiche
Kunstpolitik gleichermaßen im Umfeld der bürgerlichen Franzö­
sischen Revolution von 1789. Bezieht man das Nebeneinander
von rücksichtslosem Umgang mit Menschen, brutaler Verwertung
der „Ware Mensch“, ausgeprägter Mätressenwirtschaft einerseits
und hohen künstlerischen Ansprüchen, Stilisierungsversuchen zu
Musenhöfen und weitreichenden Kulturinteressen andererseits
in die Betrachtung der Emilia Galotti ein – gespannt zwischen die
Kunstinteressen des Prinzen und seine schnelle Bereitschaft, To­
desurteile zu unterschreiben –, erkennt man ihren differenzierten,
antihöfischen Charakter und die ihr innewohnende Erfüllung hö­
fischer Ansprüche. Es ist Lessings Meisterschaft, diese einander
widersprechenden, zeitgenössischen Vorgänge unlösbar mitein­
ander verbunden zu haben.
Zeit des Emilia Galotti wurde 1772 in einer Zeit des Umbruchs urauf­
­Umbruchs geführt. Die französischen Enzyklopädisten, von denen Lessing
besonders Voltaire kannte und seine Werke übersetzte, schufen
eine philosophische Orientierung für die Französische Revolution
von 1789. Die ökonomischen Grundlagen hatten sich verändert: Es

7 Zu Lessings 250. Geburtstag verwies Walter Jens energisch darauf, dass Lessings Ziele und
die der Revolution noch immer nicht verwirklicht wurden. Vgl. Dvoretzky (Hg.): Lessing heute,
S. 295.

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geschichte aufgaben

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

setzte sich die kapitalistische Produktionsweise als modernste und


fortgeschrittenste durch.
Mit Minna von Barnhelm (1767) war die Reform des Lustspiels
gelungen, mit Miss Sara Sampson (1755) und der Hamburgischen
Dramaturgie (besonders dem 14. Stück 1767) war die Reform des
Trauerspiels betrieben worden. Begleitet und abgeschlossen wur­
de sie mit Emilia Galotti.

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Leben und Werk -interpretation

2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken

2.3 Angaben und Erläuterungen


zu wesentlichen Werken

Zusammen­
fassung Mit dem Emilia-Galotti-Stoff, literarischen Gestaltungen und
Übersetzungen des Stoffes beschäftigte sich Lessing von
1749 bis 1772. Bereits vor Emilia Galotti interessierte sich
Lessing für das bürgerliche Trauerspiel als Gattung, griff
dazu auf englische Beispiele sowie auf zeitgenössische Vor­
gänge zurück und entwickelte eine dramaturgische Bestim­
mung.

Folgende Werke führen einzelne Elemente aus, die in Emilia ­Galotti


­wiederkehren:

1749 Samuel Henzi (Fragment): Der demokratische Freiheitsgedanke im


Gegenwartsstück ist neu wie die Volksgestalten, die hochgestellte
Personen und mythische Figuren der klassizistischen Tragödie
ablösen. Ziel der Volksbewegung ist die Vereinigung von Freiheit,
Pflicht und Tugend, die gelernt werden müssen. Das Fragment ist
noch in Alexandrinern geschrieben.
1755 Miss Sara Sampson, „ein bürgerliches Trauerspiel“: die bürgerliche
Tugend- und Moralvorstellung am Beispiel einer bürgerlichen
Handlung, geschrieben in Prosa. Das Stück übernimmt inhaltlich
und formal Elemente aus George Lillos Der Kaufmann von London
oder die Geschichte von George Barnwell (1731), aber auch aus
Richardsons Roman Clarissa, Werke mit empfindsamen Hand-
lungselementen.
1756 Das befreite Rom: Lessing entwarf den Plan für eine Tragödie, die
sich des ähnlich gearteten Stoffes der Lukretia annahm: Lukretias
Vergewaltigung und Selbstmord lösten den Umsturz der römi-
schen Macht aus.

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2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken

1759 Faust (Fragment): Marinelli ist die Wiederkehr der teuflischen


Versuchung aus dem Faust-Fragment. Der Prinz klagt am Ende
über Marinelli (Emilia Galotti): „Ist es, zum Unglücke so mancher,
nicht genug, dass Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch
Teufel in ihren Freund verstellen?“ (HL S. 71/R S. 87). Die ineinan-
dergreifenden Zufälle in Emilia Galotti erscheinen „so, als hätte der
Teufel die Hand im Spiel“8.
1767 Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück: die Abhängigkeit des
Menschen und seiner Tugend von der sozialen Stellung.

Parallel dazu entwickelte Lessing in ästhetischen und kritischen


Schriften die Theorie vom bürgerlichen Trauerspiel, deren Anteil
an der Vorbereitung von Emilia Galotti beträchtlich ist. Das Stück
wurde die Bestätigung der Theorie.

1754 – Theatralische Bibliothek: Lessing übersetzte eine Inhaltsangabe von


1759 Montianos Virginia (1754) und entwickelte Kriterien des bürgerli-
chen Trauerspiels in der Auseinandersetzung mit der heroischen
Tragödie, wie sie von den Franzosen verwendet wurde und Gott-
sched sie aufnahm. Er stellte das bürgerliche Trauerspiel den he-
roischen Tragödien, die ständisch geprägt waren, gleichberechtigt
an die Seite. Parallel bestimmte Lessing auch die Komödie neu,
die nicht mehr lächerlich machen und „abgeschmackte Laster“
ausstellen, sondern Rührung auslösen sollte. Komödie und bür-
gerliches Trauerspiel sollten ihre Gestalten nicht mehr von Göttern
und Heroen nehmen, sondern aus dem privaten und familiären
Bereich: „Mit der traditionellen Komödie teilt das bürgerliche
Trauerspiel den prosaischen Stil, die Darstellung mittelständischer
Charaktere und die Orientierung an erfundenen, nicht-historischen
Stoffen.“9
1759 – Briefe, die neueste Literatur betreffend: Begründung eines bürgerli-
1765 chen Dramas nach dem Beispiel der Engländer im Gegensatz zum
höfischen Theater.

8 Fick, S. 179.
9 Alt, S. 158.

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Leben und Werk -interpretation

2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken

1766 Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie: Literatur
wurde als dynamisch, handelnd, kämpferisch bestimmt.
1767– Hamburgische Dramaturgie: Konkretisierungen des bürgerlichen
1769 Dramas vor allem bei den in ihnen handelnden „gemischten“
Charakteren. Im 14. Stück Hinweis, dass Fürsten und Helden zwar
einem Stücke Pomp geben können, „aber zur Rührung tragen sie
nichts bei“. Deshalb sind Menschen zu wählen, „deren Umstände
den unsrigen am nächsten kommen“.

Herkunft von Stoff und Gestaltungsmitteln der Emilia Galot ti ( Auswahl )

Lessings Werke: dramaturgische Vorgaben


Samuel Henzi Briefe, die neueste Literatur
Miss Sara Sampson ­betreffend (1759 ff.)

Minna von Barnhelm Laokoon (1766)

Faust Hamburgische Dramaturgie


(1767–1769), 14. Stück
Theatralische Bibliothek
(1754 –1759)

  Emilia Galotti 
(1771/1772)

literarische Virginia- historische Virginia-


­Gestaltungen ­Darstellungen
de Montiano y Luyando (1750) römischer Historiker Titus Livius
Johann Samuel Patzke (1755) griech. Schriftsteller Dionysios
Henry Samuel Crisp (1754) von Halikarnass

Lukretia-Gestaltungen röm. Schriftsteller Cicero:


De ­finibus bonorum et
malorum (Vom höchsten Gut
und vom größten Übel), Liber
­Secundus, 66

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3.1 Entstehung und Quellen

3. TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION

3.1 Entstehung und Quellen

Zusammen­
Der Stoff ist als Schicksal der römischen Virginia weltbe­ fassung

rühmt und oft behandelt. Ihm verwandt ist der Lukretia-


Stoff. Vordergründig Politisches nahm Lessing zurück; die
moralischen Elemente der Tugend und Ehre, die im römi­
schen Beispiel anklangen, verstärkte er als bürgerliche Tu­
genden und schuf so vermittelt den zeitgenössischen politi­
schen und sozialen Hintergrund. Im Winter 1771/72
geschrieben, wurde es ein großer Erfolg; die dem Stück in­
newohnende Gesellschaftskritik wurde erst allmählich er­
kannt.

Das Schicksal der Emilia Galotti ähnelt dem der römischen Vir­ Virginia-Stoff
ginia; der berühmte Stoff der Weltliteratur wird ein einziges Mal
am Ende genannt. Er wurde von den Geschichtsschreibern Cicero
(106 – 43 v. Chr.), Titus Livius (59 v. Chr. – 17 n. Chr.) und Dionysios
von Halikarnass überliefert, der etwa 31 v. Chr. nach Rom kam.
Während Cicero Virginia kurz ins zweite Buch seines Werks De
finibus bonorum et malorum aufnahm, schilderten die beiden an­
deren Appius Claudius: Er verliebte sich in Virginia, die Tochter
des Plebejers Lucius Virginius. Um ihren Widerstand zu brechen,
denunzierte Appius sie als Sklavin, die ihrem Herrn, einem Subjekt
des Appius Claudius namens Marcus Claudius, zu folgen hatte. Ihr
Vater Virginius erstach die Tochter, um deren Freiheit, gemeint
war: deren Jungfräulichkeit und Ehre, zu erhalten. Die Tat löste
einen Volksaufstand gegen Appius aus, der zum Sturz der Decem­

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Leben und Werk -interpretation

3.1 Entstehung und Quellen

virn und zur Verhaftung des Appius führte, der sich 448 v. Chr. im
Gefängnis getötet haben soll.
Lukretia-Sage Ein zweiter Stoff hat ebenfalls Spuren bei Lessing hinterlassen:
die Sage vom Tod der Lukretia. Auch sie wurde von Livius berich­
tet. Wenn Emilia sich mit einer Haarnadel zu töten versucht, ist das
aus dem Lukretia-Stoff entnommen. Die tugendhafte Lukretia wird
durch Drohungen und Betrug gefügig gemacht, enthüllt unmittel­
bar darauf das Verbrechen und tötet sich; ein Volksaufstand folgt.
Lessing hatte den Stoff in Das befreite Rom aufgenommen.
Lessing beschäftigte sich fünfzehn Jahre mit einer „bür­
gerlichen Virginia“ und löste den römischen Stoff von seinen
staatlichen Beziehungen, klammerte den „Umsturz der ganzen
Staatsverfassung“10, politischer Bestandteil der Überlieferung,
aus. Er konzentrierte sich auf den Tod Virginias, die Verteidigung
ihrer Unschuld und verzichtete auf den Aufstand des Volkes. Die
Hamburgische Dramaturgie, das 14. Stück, erklärt, dass nicht die
herrschaftliche Stellung eines Menschen ihn interessant mache,
sondern allein sein Menschsein. „(…) unsere Sympathie erfodert
[= erfordert] einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu
abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.“11 Ein Umsturz durch
das Volk, wie ihn das römische Vorbild bot, hatte keinen Platz in
Lessings Trauerspiel, da es in der deutschen Wirklichkeit keine
passenden Vorgänge gab. Als Lessing den Stoff 1771 wieder auf­
nahm, bezeichnete er das Sujet als

„(…) eins von meinen ältesten, das ich einmal in Hamburg aus­
zuarbeiten anfing. Aber weder das alte Süjet noch die Hambur­
ger Ausarbeitung habe ich jetzt brauchen können, weil jenes

10 Brief vom 21. Januar 1758 an Friedrich Nicolai. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 157.
9

11 Lessing : Hamburgische Dramaturgie, 14. Stück. In: Werke (BDK), 4. Band, S. 72.

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3.1 Entstehung und Quellen

nur in drei Akte abgeteilt, und diese so angelegt war, dass sie
nur gespielt, aber nie gedruckt werden sollte.“12

Im Zusammenhang mit seinen journalistischen Arbeiten in ­Berlin Virginia-


waren Lessing mehrere Virginia-Gestaltungen begegnet: ­Gestaltungen

Die des Spaniers Don Augustino de Montiano y Luyando


(1697 – 1764) bot er als Auszug und Übersetzung einer aus­
führlichen Inhaltsangabe 1754 in der Theatralischen Bibliothek;
die Virginia von Johann Samuel Patzke (1727 – 1787), in der die
Spannung des bürgerlichen Trauerspiels bereits vorhanden
war, rezensierte er in der „Berlinischen Privilegierten Z
­ eitung“
vom 23. August 1755.
Das dem gleichen Stoff gewidmete Stück des Engländers
­Henry Samuel Crisp wurde 1754 in London aufgeführt.
­Lessing übersetzte den ersten Auftritt in Prosa. Crisps ­Virginia
hatte bereits einen wollüstigen Appius (Prinz) und einen mora­
lischen Vater Virginius (Odoardo), auf den sich Virginia (Emi­
lia) in ihrem Tod beruft.

Nicolai hatte einen Preis von 50 Talern für das beste deutsche Trau­
erspiel ausgesetzt. An Mendelssohn schrieb Lessing am 22. Okto­
ber 1757, dass ein junger Mensch ein Trauerspiel schreibe, „wel­
ches vielleicht unter allen das beste werden dürfte, wenn er noch
ein paar Monate Zeit darauf wenden könnte“13. Da der Gewinner
vor der Preisvergabe starb, sollte Nicolai den Preis nochmals aus­
schreiben, nun verdoppelt. „Unterdes“, schrieb Lessing am 21. Ja­
nuar 175814 an Nicolai, „würde mein junger Tragikus“, der er sel­

12 Brief vom 10. Februar 1772 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 499.
13 Brief vom 22. Oktober 1757 an Moses Mendelssohn. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 150.
14 Brief vom 21. Januar 1758 an Friedrich Nicolai. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 156.

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Leben und Werk -interpretation

3.1 Entstehung und Quellen

ber war, „fertig, von dem ich mir, nach meiner Eitelkeit, viel Gutes
verspreche; denn er arbeitet ziemlich wie ich.“ Sein Thema sei
eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben
habe. Zu diesem Zeitpunkt sollte das Stück dreiaktig sein. Die Or­
sina war noch nicht vorhanden. Das Attribut „bürgerlich“ wies eine
moralische Qualität aus, die sich mit neu entstandenen Lebensge­
wohnheiten wie „häuslich“ (heute noch erhalten im Begriff der
„bürgerlichen Küche“) verband. Ästhetisch war es der Gegensatz
zu „heroisch“15 und zu den barocken Haupt- und Staatsaktionen,
die wiederum zur absolutistischen Staatsauffassung gehörten.
Rousseau Der französische Philosoph Rousseau meldete sich in dieser
Zeit mit seinen Forderungen: 1756 lernte Lessing in der Über­
setzung Mendelssohns die berühmte Schrift Vom Ursprunge der
Ungleichheit unter den Menschen kennen, wobei er sich vor allem
für die „Moralität“ interessierte, die den Menschen bewahre, „um
nichts Geringers zu werden“16. 1762 erschien der Gesellschaftsver-
trag, der die Menschen in einer freien Vereinigung zusammenfüh­
ren wollte, in der keiner so reich sein sollte, sich einen Menschen
zu kaufen, und keiner so arm, sich verkaufen zu müssen. Der Ver­
trag wurde unter die Losung gestellt „Retour à la nature“ (Zurück
zur Natur), die ein alternatives Leben bezeichnete, in dem es zwar
Eigentum, aber gleich verteiltes gab. Lessings Emilia wollte jene
Losung leben, in ihrer schlichten Schönheit und „in Locken, wie
die Natur sie schlug“. So fiel sie Appiani auf, und damit bedeutete
sie auch für den Prinzen den faszinierenden Gegensatz zur steril
gewordenen Künstlichkeit am Hofe und dem inszenierten Mätres­
senwesen.

15 Vgl. Barner, S. 174.


16 Brief an Moses Mendelssohn vom 21. Januar 1756. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 63.

30 Gotthold Ephraim Lessing

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3.1 Entstehung und Quellen

Das Stück wurde zum größten Teil im Herbst und Winter


1771 / 72 geschrieben; Lessing hatte sich auf einen „recht ruhigen
und fleißigen Winter“17 vorbereitet. Am 24. Dezember 1771 teilte
er Christian Friedrich Voss mit, das neue Trauerspiel sei „so gut als
fertig (…); fertiger, als ich noch mit keinem Stücke gewesen, wenn
ich es habe anfangen lassen zu drucken.“18
Sein Bruder Karl war des Lobes voll und erkannte die Leistung Neuer Typ
Lessings, einen neuen Typ der Tragödie gefunden zu haben, und der Tragödie

die Besonderheit des bürgerlichen Trauerspiels, dem bürgerlichen


Zuschauer oder Leser ein Identifikationsangebot zu machen:

„In Deiner ,Emilia Galotti‘ herrscht ein Ton, den ich in keiner
Tragödie, so viel ich deren gelesen, gefunden habe; ein Ton,
der nicht das Trauerspiel erniedrigt, sondern nur so herunter­
stimmt, dass es ganz natürlich wird, und desto leichter Eingang
in unsere Empfindungen erhält.“19

Lessing schrieb an den Bruder am 1.3.1772 den gleichen Hin­


weis, der zuerst im Brief an Friedrich Nicolai vom 21. Januar 1758
auftaucht sowie im Brief an den Herzog von Anfang März 1772
erscheint: „Du siehst wohl, dass es weiter nichts, als eine moder­
nisierte, von allem Staatsinteresse befreite Virginia sein soll.“20
Könnte man annehmen, dass die Bemerkung im Brief an den Her­
zog eine Schutzbehauptung war, so wird die Vermutung durch die
anderen Belege hinfällig. Im Kontext der Hamburgischen Drama-
turgie (14. Stück) fällt es indessen nicht schwer, den Verzicht auf

17 Brief vom 31. Oktober 1771 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 450.
18 Brief vom 24. Dezember 1771 an Christian Friedrich Voss. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 472.
19 Brief Karl Lessings vom 3. Februar 1772 an Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 497.
20 Brief vom 1. März 1772 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 502.

EMILIA GALOTTI 31
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Leben und Werk -interpretation

3.1 Entstehung und Quellen

„Staatsinteresse“ mit den spezifisch unrevolutionären deutschen


Verhältnissen zu erklären.
Uraufführung Am 13. März 1772 wurde das Trauerspiel anlässlich des Ge­
burtstages der Herzogin in Braunschweig durch den Direktor Karl
Theophil Döbbelin (1727 – 1793) und seine Schauspieltruppe urauf­
geführt, im gleichen Jahr, in dem Johann Wolfgang Goethes Götz
von Berlichingen erschien. Der Erfolg war groß; das Stück wurde an
neun Tagen wiederholt. Nach der Premiere erschien Emilia ­Galotti
1772 im selben Jahr als Buch.
In Gotha wurde allerdings eine Aufführung verboten, wie man
aus einer Tagebucheintragung Leisewitz’ weiß, weil die Fürsten in
der Emilia übel behandelt würden. In Braunschweig fand das Stück
Anerkennung, obwohl Vermutungen entstanden, mit dem Prinzen
sei der Erbprinz Karl Wilhelm Ferdinand (1735 –1806) und mit
der Orsina seine schöne, auch von Goethe 1779 bewunderte Mä­
tresse Maria Antonia di Branconi, geb. von Elsener (1751–1793),
gemeint, die sich der Erbprinz 1766 von seiner Italienreise mit­
gebracht hatte. Lessing entkräftete solche gefährlichen Gerüchte
und schickte „eine neue Tragödie von mir, die ich aber bereits vor
einigen Jahren ausgearbeitet (…) welches weiter nichts als die alte
römische Geschichte der Virginia in einer modernen Einkleidung
sein soll“21, an den Herzog Karl von Braunschweig.
Gegenüber den römischen Vorbildern verzichtete Lessing auf
das Volk, von dem er eine diffuse Vorstellung hatte. In seinen Brie­
fen gibt es das Volk im Allgemeinen nicht, wohl aber scharfe Gesell­
schaftskritik. Als sein Freund Gleim Wien wegen seiner Beschrän­
kungen kritisierte, zog Lessing vom Leder und führte die Freiheit

21 Brief von Anfang März 1772 an den Herzog Karl von Braunschweig. In: Werke, 1957, 9. Band,
S. 503.

32 Gotthold Ephraim Lessing

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3.1 Entstehung und Quellen

Berlins geradezu ad absurdum, weil sie zwar die Beschimpfung


der Religion garantiere, sonst aber keine Kritik ­zulasse:

„Lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der
Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine
Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und Dä­
nemark geschieht: und Sie werden bald die Erfahrung haben,
welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land
Europas ist“22.

Lessings Stück war Erfolg beschieden. Es gilt bis heute als gesell­ Gesellschafts-
schaftskritisches bürgerliches Trauerspiel, dem eine revolutionäre kritik

Potenz eigen ist, während andere Bearbeitungen des Stoffes in


Vergessenheit geraten sind. Eine politische Handlung findet in dem
Stück nicht statt, sondern nur eine familienpolitische. Aber politi­
sches Denken ist zu finden. Das empfanden die Zeitgenossen Les­
sings schon so, mit Ausnahme des Schweizers Bodmer.23 Lessings
Gesellschaftskritik und die Gattungsbezeichnung des bürgerlichen
Trauerspiels werden in zwei Vorgängen des Stückes deutlich: Zum
einen wird das Volk aus der Handlung ausgeschieden und selbst
von Orsina, die das Volk mobilisieren will, nicht weiter verfolgt,
weil es im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, vor allem
Spanien, England und Frankreich, nicht zum politischen Handeln
neigte und in seiner Zersplitterung auch nicht dazu fähig war. Zum
anderen werden gesellschaftlich begründete Verhaltensweisen –
fürstliche Willkür, bürokratisch-kriminelle Energie usw. – in fami­
lienpolitischen Folgen gezeigt, eine Kritik Lessings am nur gering
ausgeprägten politischen Gemeinsinn und einer unentwickelten

22 Brief an Friedrich Nicolai vom 25. August 1769. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 327.
23 Vgl. Barner, S. 174.

EMILIA GALOTTI 33
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3.1 Entstehung und Quellen

Handlungsbereitschaft der Deutschen. Insofern war die politische


Handlung augenfällig und bekam auch soziale Konturen: Fürstli­
che Willkür nahm weder auf moralische noch familiäre Grenzen
Rücksicht; zwischen dem Prinzen als absolutistischem Herrscher
und den Galottis als Untertanen, die nicht gegen die herrschende
Macht aufbegehren – siehe das Beispiel Odoardo –, besteht ein
sozialer Unterschied wie zwischen Emilia an der Seite Appianis
Peter Mosbacher und dem Hofadel. Politische Macht wird auch in Marinelli deutlich,
als Prinz mit der staatliche Unterdrückung bis hin zur physischen Vernichtung
­Judith Holz­
meister in einer praktiziert. Spezifisch politisch für die Zeit ist schließlich der Hin­
Inszenierung am weis am Ende, dass der Prinz durch die Verbannung Marinellis
Berliner Theater eine Wandlung andeutet und so auf den „aufgeklärten Fürsten“
am Kurfürsten-
damm 1953, zu verweisen scheint. Ihm ist indessen dafür die Basis verloren
© ullstein bild – gegangen: Emilia und Appiani sind tot.
Ruth Wilhelmi

34 Gotthold Ephraim Lessing

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3.2 Inhaltsangabe

3.2 Inhaltsangabe

Zusammen­
Der Prinz von Guastalla, Hettore Gonzaga, hat Emilia ­Galotti, fassung

die mit ihren Eltern in der Residenz ist, auf einer Abendge­
sellschaft gesehen und begehrt sie seither. Um sein Ziel zu
erreichen, muss er seine bisherige Mätresse, Gräfin Orsina,
verabschieden und Emilias Heirat mit dem Grafen Appiani
verhindern. Der verbrecherisch-intrigante Kammerherr
­Marinelli lässt den Grafen überfallen, umbringen und Emilia
auf das Lustschloss des Prinzen bringen. Die Orsina erkennt
die Zusammenhänge der Ereignisse und klärt Emilias Vater
Odoardo auf, um ihn zum Mord am Prinzen anzustacheln.
Emilia spürt, dass sie der Verführung durch den Prinzen we­
der entgehen kann noch zu widerstehen vermag, und will
sich töten. Das übernimmt ihr Vater, der sich danach der
himmlischen und der irdischen Gerechtigkeit stellt. Der
Prinz verbannt Marinelli.

Erster Aufzug
Hettore Gonzaga, kurz vor der Eheschließung mit der Prinzessin von
Massa, begehrt Emilia Galotti und wird durch ein Bild des Malers
Conti bestärkt. Er fordert den Kammerherrn Marinelli auf, mit allen
Mitteln Emilias anstehende Hochzeit mit dem Grafen Appiani zu ver-
hindern.
1.1: Am frühen Morgen nimmt der in Leidenschaft für Emilia
Galotti entflammte Prinz Hettore Gonzaga seine Amtsgeschäfte auf
und wird durch die Bittschrift einer Emilia an seine Leidenschaft
erinnert. Wegen ihr vernachlässigt er seine Mätresse, Gräfin Or­
sina, die sich ihm brieflich in Erinnerung bringt und in die Stadt

EMILIA GALOTTI 35
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Leben und Werk -interpretation

3.2 Inhaltsangabe

gekommen ist. Er liest den Brief nicht. Mit der ungewöhnlichen


Tageszeit (Prinz: „Ich habe zu früh Tag gemacht.“, HL S. 5/R S. 5)
kann Lessing die Einheit der Zeit (Handlung geschieht an einem
Tag) einhalten. Andererseits wertet er den Prinzen, der sich zeitig
am Morgen mit Bittschriften seines Landes beschäftigt, auf. Aus
der Klage des Prinzen „Bittschriften, nichts als Bittschriften!“ (HL
S. 5/R S. 5) ist nicht zu schließen, es stünde in diesem Lande nicht
zum besten: Ein Staatsoberhaupt erreichen in der Regel Klagen.
Das Bedauern des Prinzen, nicht allen helfen zu können („ dann
wären wir zu beneiden“, HL S. 5/R S. 5), weist auf ein Gefühl sozi­
aler Verantwortung hin.
1.2–1.5: Trotz der Tageszeit macht ihm der Maler Conti seine
Aufwartung und bringt, neben dem bestellten Bild der Orsina,
ein Bild Emilias. In einem Gespräch geht es um die Funktion von
Kunst und ihre Möglichkeiten, um das Verhältnis von Wirklichkeit
und Abbild. Der komplizierteste Teil des Gesprächs dreht sich um
die Widerspiegelung, den Weg des Abbildes durch das Auge in die
Hand und in den Pinsel sowie um das, „was hier verloren gegan­
gen“ (HL S. 9/R S. 10) ist.
1.6: Vom Kammerherrn Marinelli erfährt der Prinz, dass ­Emilia
am gleichen Tage den Grafen Appiani heiraten und mit ihm in die
Natürlichkeit seiner Täler zurückkehren wird, zumal durch das
„Missbündnis“ (HL S. 12/R S. 14) ihm die Häuser des Hofadels
verschlossen werden. Mit Marinelli, dem er seine Liebe zu Emilia
gesteht, berät der Prinz, wie man das verhindern kann, und beauf­
tragt ihn dazu.
1.7–1.8: Seine Liebesverwirrung ist durch das Bild, die beab­
sichtigte Heirat Emilias und Marinellis Plan so groß geworden,
dass er seine Staatsgeschäfte vernachlässigt. Vielmehr will er
­Emilia während der Messe in der Kirche aufsuchen. Als er ein
Todesurteil unterschreiben soll, reagiert er abwesend und macht

36 Gotthold Ephraim Lessing

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3.2 Inhaltsangabe

deutlich, wie schnell seine Stimmung ins Unmenschliche umschla­


gen kann: „Recht gern. – Nur her! geschwind.“ (HL 16/R S. 19) Als
sein Rat Camillo Rota daraufhin behauptet, das Todesurteil nicht
bei sich zu haben, nimmt der Prinz auch das kaum wahr, weil er
Emilia begegnen will.

Zweiter Aufzug
Bei Galottis bereitet man sich auf die Hochzeit vor; Odoardo erfährt Sven Lehmann
von der Begegnung des Prinzen mit Emilia und ist empört. Emilia als Gonzaga und
Nina Hoss als
berichtet der Mutter von einem erneuten Annäherungsversuch des Gräfin O
­ rsina in
Prinzen. Appiani ist auf dem Wege zum Prinzen, um ihm die Hochzeit einer Inszenie-
mitzuteilen; Marinelli will ihn jedoch sofort als Botschafter zur Prin- rung am Deut-
schen ­Theater
zessin von Massa entsenden. Appiani lehnt ab. 2001–2002,
2.1–2.2: Odoardo Galotti trifft unerwartet in der Stadtwohnung © ullstein bild –
der Familie ein. Er ist besorgt, dass Emilia allein zur Messe gegan­ ­Lieberenz

gen ist und einen „Fehltritt“ (HL S. 18/R S. 22)


machen könnte.
2.3: Pirro, Bedienter bei den Galottis, und
Angelo, der unter dem alten Galotti diente, sind
Gauner und Mörder. Nun überlegen sie die Ent­
führung Emilias vor der Hochzeit; Angelo setzt
Pirro unter Druck.
2.4: Odoardo verbindet die Tugend ländli­
cher Sittlichkeit mit militärischer Strenge, die
Mutter Claudia die der städtischen Erziehung
mit offenherziger Milde. Für Odoardo ist Appi­
ani das Vorbild an Vollkommenheit, vor allem
dessen von Rousseau abgeleitetes Lebensprin­
zip, „in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu
leben“ (HL 21/R S. 25). Für ein armes Mädchen
wie Emilia war die Erziehung in der Nähe des

EMILIA GALOTTI 37
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Leben und Werk -interpretation

3.2 Inhaltsangabe

Hofes und ihre Bildung in der Stadt, unter den Augen der Mutter,
die einzige Möglichkeit, um zu einer standesgemäßen Ehe zu kom­
men. Claudia erzählt Odoardo von einer ersten Begegnung Emilias
mit dem Prinzen bei den Grimaldis; Odoardo ist fassungslos, wü­
tend und ahnungsvoll. Er und der Prinz sind durch gegensätzliche
Gebietsansprüche auf Sabionetta Gegner, sein Urteil ist deshalb
auch scharf: „Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt“ (HL S. 22/R
S. 26). Wütend reitet er der Hochzeitskutsche Appianis voraus.
2.5 – 2.6: Claudia wartet ungeduldig auf Emilia, die aus der Mes­
se zurückkommend der Mutter von ihrer erneuten Begegnung und
ihrem Gespräch mit dem Prinzen erzählt; sie ist verwirrt, will nichts
mehr vom Inhalt des Gesprächs, das ein Liebesgeständnis war,
wissen und erinnert sich nur der körperlichen Berührung durch
den Prinzen („Das war die einzige Überlegung, deren ich fähig
war – oder deren ich nun mich wieder erinnere. Er sprach; und ich
hab ihm geantwortet.“, HL S. 25/R S. 29). Als die Mutter sie fragt,
ob sie „in einem Blicke alle die Verachtung“ gezeigt habe, die der
Prinz verdiene, verneint Emilia das: „Nach dem Blicke, mit dem
ich ihn erkannte, hatt’ ich nicht das Herz, einen zweiten auf ihn zu
richten“ (HL S. 25/R S. 29). Das ist ein erstes Zeichen, dass sie ihm
letztlich nicht widerstehen würde. Ein zweites folgt sofort: Die Ab­
sicht, ihrem Verlobten Appiani von der Begegnung zu berichten,
gibt sie schnell auf, als auch die Mutter abrät. Die Erschütterung
vergeht: „(Mit einem tiefen Atemzuge.) Auch wird mir wieder ganz
leicht“ (HL S. 26/R S. 31)
2.7 – 2.8: Emilias Verlobter, Graf Appiani, ist das Gegenteil des
liebes- und sinnestollen Prinzen: Er tritt „tiefsinnig, mit vor sich hin
geschlagenen Augen herein“ (HL S. 26/R S. 31). Mit Claudia und
Emilia führt er ernste Gespräche über Tränen, die in einen Diskurs
über Symbole münden: Emilia verspricht, bald mit der „Rose“ (HL
S. 28/R S. 33) im Haar vor ihm zu erscheinen. Sie ist das Zeichen

38 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

3.2 Inhaltsangabe

von unberührter Schönheit und Liebe und wird am Ende das Zei­
chen des Todes, „eine Rose gebrochen“ (HL S. 70/R S. 87). ­Appiani
teilt ihnen mit, dass er den Prinzen über die bevorstehende Heirat
informieren will.
2.9 – 2.11: Marinelli, von Pirro angekündigt, will Appiani zum
Prinzen bringen, um ihn von dort als Gesandten nach Massa zu
senden. Damit würde die gräfliche Hochzeit verschoben. Appiani
lehnt ab, beleidigt Marinelli – Appianis einziger Gefühlsausbruch –
und wird von diesem zum Duell gefordert. Als Appiani sich diesem
sofort stellen will, entzieht sich Marinelli, denn nun muss eine Ent­
führung die Hochzeit verhindern. Claudia ist sichtlich beunruhigt.

Dritter Aufzug
Während Marinelli vom Scheitern seines Auftrags berichtet, erfolgt
der Überfall auf Appianis Kutsche. Angelo bringt Marinelli die Nach-
richt vom Tod Appianis. Emilia glaubt, sich vor Räubern auf ein
Schloss zu retten, erfährt, dass es dem Prinzen gehört, und wird von
diesem zu „Entzückungen“ geführt. Nach Emilia kommt ihre Mutter
auf das Schloss, ahnt die Zusammenhänge, nennt Marinelli einen
„Mörder“ und sucht Emilia.
3.1: Marinelli berichtet dem Prinzen, der sich inzwischen auf
sein Lustschloss Dosalo begeben hat, vom Scheitern seiner Missi­
on. Er belügt den Prinzen und erklärt, er habe Appiani gefordert,
um die Hochzeit zu verhindern, sei aber „auf die ersten acht Tag
nach der Hochzeit“ (HL S. 33/R S. 41) zum Duell beschieden wor­
den. Er weiß, dass dieses Duell nicht mehr zustande kommen wird.
Über sein Gespräch mit Emilia nach der Messe berichtet der Prinz
Marinelli „höhnisch“: „Sie kam meinem Verlangen, mehr als hal­
bes Weges, entgegen. Ich hätte sie nur gleich mitnehmen dürfen“
(HL S. 34/R S. 41). Kurz darauf berichtet er das Gegenteil: Er habe
„ihr auch nicht ein Wort auspressen“ (HL S. 37/R S. 45) können.

EMILIA GALOTTI 39
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Leben und Werk -interpretation

3.2 Inhaltsangabe

Über das Gespräch zwischen dem Prinzen und Emilia wird von
den handelnden Personen unterschiedlich berichtet. Im Gespräch
mit Marinelli entsteht eine Ahnung, was in diesem Gespräch ver­
handelt worden sein könnte. Es scheint Verständnis zwischen dem
Prinzen und Emilia gegeben zu haben. Man hört aus der Ferne
Schüsse. Marinelli hat ohne Wissen des Prinzen Appianis Tod ge­
plant. Den Prinzen überfällt „Bangigkeit“ (HL S. 35/R S. 42).
3.2 – 3.4: Angelo berichtet Marinelli vom Anschlag auf Appiani.
Der Prinz und Marinelli beobachten Emilia, die sich ins Schloss
rettet. Marinelli empfängt Emilia, die erfährt, dass sie im Schloss
des Prinzen ist.
3.5: Als der Prinz Emilia bei sich hat, außerhalb von Kirche und
Messe, und sein Wunsch sich zu erfüllen beginnt, spricht auch
er anders über das Gespräch, erzählt vor Marinelli von Emilias
„sprachlose(r) Bestürzung“ (HL S. 40/R S. 49), mit der sie sein Ge­
ständnis anhörte, oder vielmehr nicht anhörte. Damit bleibt offizi­
ell Emilias Tugend unberührt, und er kann sie zu „Entzückungen“
führen, „die Sie mehr billigen“ (HL S. 40/R S. 49). Emilia lässt es,
wenn auch „nicht ohne Sträuben“ (HL S. 40/R S. 49), aber wider­
spruchslos zu.
3.6 – 3.8: Emilias Mutter ist an der Spitze eines Menschenhau­
fens, „der ihr den Weg weiset“ (HL S. 41/R S. 59), auf dem Weg ins
Schloss. Marinelli empfängt sie, sein Diener Battista drängt ihre
Begleiter hinaus. Claudia erzählt, Appiani sei mit einer Verwün­
schung Marinellis gestorben. Sie versteht allmählich die Zusam­
menhänge, nennt Marinelli einen „feigen, elenden Mörder“ (HL
S. 43/R S. 53), hört Emilias Stimme und stürzt ihr nach.

Vierter Aufzug
Der Prinz muss sich von der ersten Begegnung mit Emilia „erho-
len“. Marinelli erklärt ihm seine Schuld an Appianis Tod. Die Orsina

40 Gotthold Ephraim Lessing

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3.2 Inhaltsangabe

kommt aufs Schloss und wird vom Prinzen kühl abgefertigt. Als sie
von Emilias Anwesenheit erfährt, durchschaut sie die Ereignisse. Sie
kann Odoardo, der ebenfalls auf dem Schloss eintrifft, die Zusam-
menhänge erklären, Emilias Bedeutung für den Prinzen verdeutli-
chen und Odoardo für ihre Rache gewinnen.
4.1: Der Prinz, nachdem er eine Weile mit Emilia allein war, be­
tritt die Szene, um sich zu „erholen“ (HL S. 45/R S. 54). Er erfährt
von Appianis Tod und sieht sich in Marinellis Hand, nachdem die­
ser ihm erklärt, der Prinz habe durch seine Liebeserklärung nach
der Messe den Verdacht, am Tode Appianis schuldig zu sein, auf
sich gelenkt. Der Prinz durchschaut Marinellis heimtückisches, in­
trigantes Spiel nicht und glaubt dessen lügnerischen Erklärungen,
die alle Schuld am Tode Appianis auf ihn lenkt.
4.2 – 4.4: Seine Lage verschärft sich, als Gräfin Orsina ihn zu
sprechen sucht, die ihn brieflich um eine Zusammenkunft in Do­
salo gebeten hatte. Der Prinz aber hatte den Brief nicht gelesen.
Er ist nach Dosalo gekommen, um Emilia zu treffen, und fertigt
die Orsina beiläufig ab. Sie aber hat Geräusche einer Verführung
gehört („das Gequicke, das Gekreusche“; HL S. 49/R S. 60).
4.5: Die Orsina ist fassungslos. Als Marinelli ihr offenbart, wer
beim Prinzen und weshalb er beschäftigt ist, erkennt sie die Zu­
sammenhänge: Der Prinz habe am Morgen mit Emilia „ein Langes
und Breites gesprochen“ (HL S. 54/R S. 66) und man habe ge­
hört, worüber. Sie schlussfolgert: „Der Prinz ist ein Mörder!“ (HL
S. 54/R S. 65). Marinellis Prophezeiung, dass der Prinz für den Tod
Appianis verantwortlich gemacht werde, hat sich schnell erfüllt.
Sie verkündet: „Morgen will ich es auf dem Markte ausrufen“ (HL
S. 54/R S. 66). In diesem Vorsatz ist ein Rest des im Virginia-Stoff
angelegten Aufbegehrens zu finden, denn der „Markt“ assoziiert
„Volk“, an das sich die Orsina wenden will. Aber ihr Vorsatz bleibt
folgenlos.

EMILIA GALOTTI 41
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Leben und Werk -interpretation

3.2 Inhaltsangabe

4.6: Odoardo trifft auf dem Schloss ein; er hat von dem Überfall
gehört. Marinelli will ihn beim Prinzen melden, rät ihm aber von
einem Gespräch mit der Orsina ab.
4.7: Die Orsina enthüllt Odoardo die Hintergründe von Appianis
Tod, dass Emilia nun des Prinzen Geliebte sei und „ein Leben voll
Wonne“ (HL S. 57/R S. 69) führen könne: „Des Morgens, sprach
der Prinz Ihre Tochter in der Messe, des Nachmittags, hat er sie auf
seinem Lust- – Lustschlosse“ (HL S. 57/R S. 70). Die Orsina, deren
Kundschafter das Gespräch zwischen dem Prinzen und Emilia „in
Vertraulichkeit“ und „Inbrunst“ (HL S. 57/R S. 70) beobachteten
und belauschten, macht Odoardo weitreichende Andeu­tungen,
dass Emilia und der Prinz die Tat gemeinsam abgesprochen hät­
ten: „Sie [= der Prinz und Emilia] hatten nichts Kleines abzureden.
Und recht gut, wenn es abgeredet worden; recht gut, wenn Ihre
Tochter freiwillig sich hierher gerettet!“ (HL S. 57/R S. 70). Sie hat
auch Gift und Dolch zur Verfügung; den Dolch zwingt sie Odoardo
auf und bedrängt ihn, Rache zu nehmen. Durch Odoardos blin­
de Wut („Blickt wild um sich, und stampft, und schäumet“ , HL
S. 58 / S. 70) wird es möglich, ihm die Rache zu übertragen und sie
nicht selbst durchführen zu müssen. Sie entwirft „eine himmlische
Phantasie“ (HL S. 58/R S. 71), einen Rachefeldzug der zu Furien
gewordenen verlassenen Mätressen gegen den Prinzen.
4.8: Odoardo bekommt von Claudia bestätigt, dass der Prinz am
Morgen Emilia in der Messe gesprochen hat. Er schickt seine Frau
mit der Orsina in die Stadt zurück.

Fünfter Aufzug
Der Prinz und Marinelli beobachten, was Odoardo plant. Während er
Emilia in ein Kloster bringen will, möchte Marinelli sie in Guastalla
halten, bis die Tat aufgeklärt ist. Getrennt von ihrer Familie soll sie
im Haus des Kanzlers, im „Haus der Freude“ (HL S. 70/R S. 85),

42 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

3.2 Inhaltsangabe

unterkommen. Um Emilias Tugend zu retten, wird sie von Odoardo


erstochen. Der stellt sich der Gerechtigkeit; Marinelli wird des Hofes
verwiesen.
5.1: Marinelli und der Prinz beobachten Odoardo und versu­
chen, dessen Pläne zu erraten. Während Marinelli meint, Odoardo
würde sich dem Prinzen unterwerfen, ahnt der Prinz, dass er Emi­
lia „außer meinem Gebiete“ (HL S. 61/R S. 74) unterbringen will.
5.2: Odoardo beschließt, sich nicht von Orsina, „einer für Eifer­
sucht Wahnwitzigen“ (HL S. 62/R S. 75) fortreißen zu lassen und
nicht der „Rache des Lasters“ (HL S. 62/R S. 75) zu dienen, dafür
aber die Tugend zu retten. Das bedeutet aber den Tod Emilias,
denn nur dann kann Odoardo seinen Vorsatz erfüllen: „Genug für
mich, wenn dein [= Appianis] Mörder die Frucht seines Verbre­
chens nicht genießt“(HL S. 62/R S. 75).
5.3 – 5.4: Vorläufig, so wünscht Marinelli, soll Emilia in Guastal­
la bleiben und nicht mit ihrem Vater fahren dürfen. Odoardo aber
will sich widersetzen.
5.5 – 5.6: Während sich der Prinz zu Emilias Beschützer auf­
schwingt, hält Odoardo nur den Aufenthalt in einem Kloster für
angemessen. Marinelli greift ein, lügt sich eine Freundschaft mit
Appiani zurecht und fordert, bis zur Klärung der Tatumstände
Emilia von der Familie zu trennen und in sicheren Gewahrsam zu
bringen. Der Prinz empfiehlt die Wohnung des Kanzlers Grimaldi;
damit wäre Emilia auf dem besten Wege, die Mätresse des Prinzen
zu werden. Erneut zweifelt Odoardo, ob Emilia nicht im Bunde mit
dem Prinzen ist und will gehen. Es ist zu spät; Emilia kommt, und
Odoardo sieht sich als rächende Hand Gottes.
5.7: Emilia verzweifelt, als ihr Vater ihr von den Festlegungen
erzählt, denn das Haus der Grimaldis ist „das Haus der Freude“
(HL S. 70/R S. 85). Dort ist sie verloren, denn: „Ich habe Blut, mein
Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne,

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Leben und Werk -interpretation

3.2 Inhaltsangabe

sind Sinne. Ich stehe für nichts“ (HL S. 70/R S. 85). Odoardo, der
eigentlich schon alle Rache aufgegeben hatte und Emilia an das
eine Leben erinnert, das sie hat, wird durch Emilia auf die „eine
Unschuld“ (HL S. 70/R S. 85) verwiesen und an das Beispiel der
Virginia erinnert. Er ersticht Emilia.
5.8: Odoardo will sich stellen und ins Gefängnis gehen. Er er­
wartet dort den Prinzen als Richter, um ihn dann „vor dem Richter
unser aller“ (HL S. 71/R S. 87) wiederzutreffen. Der Prinz verbannt
Marinelli. Er erkennt, dass er als „Fürst“ nicht Mensch sein darf
(vgl. HL S. 71/R S. 87), also Emilia nicht lieben durfte. Wenig Raum
bleibt für die Möglichkeit des „aufgeklärten Fürsten“, der in An­
deutungen steckenbleibt.

44 Gotthold Ephraim Lessing

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4 Rezeptions­ 5 materialien 6 prüfungs­
geschichte aufgaben

3.3 Aufbau

3.3 Aufbau

Zusammen­
Emilia Galotti ist ein repräsentatives Beispiel für ein bürger­ fassung

liches Trauerspiel. Formal entsprach es aristotelischen For­


derungen, die auch die heroische Tragödie erfüllte; inhalt­
lich ist die unauffällige, landadlige Familie Galotti mit ihrem
bürgerlichen Denken neu wie auch ihre Wertvorstellungen
des natürlichen Lebens und der Tugend. Die drei Einheiten
werden teilweise erfüllt, aber nach modernen und aktuellen
Erfordernissen abgewandelt; es findet eine Konfrontation
zwischen aristokratisch-höfischer und bürgerlich-privater
Sphäre statt.

Mit Lessings Emilia Galotti hatte das bürgerliche Trauerspiel ein re­
präsentatives Beispiel auf der deutschen Bühne. Lessing bezeich­
nete das Stück als „Trauerspiel“ im Gegensatz zur klassizistischen
Tragödie. Der moralische Anspruch dieses Stücks bestimmte seine
politische Wirksamkeit in Deutschland. Heinrich Mann formulierte
ihn in seiner Rede Lessing anlässlich des 150. Todestages 1931:

„Die arme Emilia war doppelt bedroht, von fremder Gewalt und
von ihren eigenen Sinnen. Das machte den Verlauf noch trauri­
ger für die bürgerliche Ehre. Ihr Tod von der Hand ihres Vaters
war eine Tat der Verzweiflung, mit tragischer Schuld und tragi­
scher Sühne hatte er wenig zu tun. Dafür war er wahr. So sahen
die bürgerlichen Trauerspiele im Leben aus.“24

24 Heinrich Mann: Lessing. In: Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe, hrsg.
von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel, Band 5. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2009, S. 137.

EMILIA GALOTTI 45
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Leben und Werk -interpretation

3.3 Aufbau

George Lillo Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels liegen in England;


George Lillos Der Kaufmann von London (1731) galt als erstes
Beispiel des bürgerlichen Trauerspiels. Alltägliche Berufsbezeich­
nungen und vorwiegend familiär-private Vorgänge prägten den
bürgerlichen Charakter, der jedoch auch niedere Adlige, Landad­
lige und verarmte Adlige einbezog. Im Zentrum stehen allgemein­
menschliche Probleme, noch keine sozialen Widersprüche, wie sie
der Sturm und Drang in die Stücke aufnahm, denkt man an Schil­
lers Kabale und Liebe (1784). Lessings Emilia Galotti bot indessen
bereits ein Beispiel der sozialen Konfrontation von absolutistischer
Herrschaft und bürgerlichem Leben und Denken.
Einheiten des Lessing wandte in seinem Trauerspiel weitgehend die drei Ein­
Dramas heiten – die der Handlung, des Ortes und der Zeit – und die aristo­
telische Form des Dramas an.25 Gottsched machte sie in Deutsch­
land publik und gab den Dramen eine strenge Form, die durch die
wild wuchernden Stücke der Wanderbühnen nicht gewährleistet
wurde. Auf dieser literarischen Ordnung konnte Lessing die Ein­
heiten, die er historisch begründete, in aktueller Anwendung vari­
ieren, ohne sie aufzugeben. Die Einheit der Handlung fand er den
anderen Einheiten überlegen. Sie galt ihm als erstes dramatisches
Gesetz der Alten (vgl. 46. Stück der Hamburgischen Dramaturgie),
dem er, unter Einbeziehung Shakespeares, folgen wollte. Als vierte
Einheit fügte Lessing die zwingende innere Logik als Einheit des
Charakters hinzu. Dass neben Aristoteles vor allem „alle Freihei­
ten der englischen Bühne“ genutzt werden sollten, hatte er am
21. Januar 1758 an Nicolai zum verloren gegangenen Leipziger

25 In Aristoteles’ Poetik waren die Verknüpfungen der Begebenheiten als das Wichtigste der Tragö-
die beschrieben worden, bestehend aus einem Anfang, aus dem etwas folgt, der Mitte, die Folge
ist und Folge auslöst, und dem Ende, dem nichts anderes mehr folgt. Diese ursprüngliche Drei-
teilung entsprach den antiken drei Akten. Der erste Akt löste sich in Exposition und steigende
Handlung, der dritte Akt in fallende Handlung und Katastrophe auf. Unverändert weiter bestand
der zweite Akt, die Mitte, der Höhepunkt. Später wurden daraus fünf Teile.

46 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

3.3 Aufbau

Entwurf geschrieben. „Emilia Galotti war die Tat zu den Gedan­


ken der Dramaturgie“26. Hettner rühmte die Exposition, weil sie
„sogleich in Handlung übertrete, alles vorbereite, alles anmelde
und doch nichts verrate, das gilt von der ganzen Komposition ohne
Unterschied“27. Die straffe Handlungsführung des Stückes fällt
auf, in der jedes Wort und jeder Satz im Dienste der dramatischen
Entwicklung steht. Die moralischen Entscheidungen, gegründet
auf Tugend oder Laster, vollziehen sich in einer strengen Determi­
nation des Raums und der Figurenbeziehungen und schaffen die
Einheit der Handlung. Weder kommt etwas von draußen dazu noch
tritt etwas aus diesem Raum ab. Selbst die Ankunft der Orsina, ein
Bote aus der Fremde, wird bereits am Anfang mitgeteilt. Zufälle
und Missverständnisse, ganz wie in der französischen Tragödie,
führen sie an den richtigen Platz zur rechten Zeit.
In der Reihenfolge der Orte und Räume, an und in denen das Privater Raum
Stück spielt, wird der Gegensatz deutlich: Der Vorgang wird aus
dem öffentlichen Raum ins Private zurückgenommen. Das Stück
beginnt im Stadtschloss des Prinzen, im „Kabinett“, dem Zentrum
der Macht (heute noch erkennbar in Begriffen wie „Kabinettskrise“
und „Kabinettsorder“); es spielt danach in der Stadtwohnung der
Galottis. Stadtschloss und Stadtwohnung liegen in unmittel­barer
Nähe des Dominikanerklosters, das als Machtfaktor mitgedacht
werden muss. In Schloss und Wohnung spielen die Exposition und
erregenden Momente der Handlung, die im Lustschloss außerhalb
der Stadt ihre entscheidende Zuspitzung und Katastrophe erfährt.
Dabei bekommt der dritte Aufzug, auch als „merkwürdig leer und
ohne Spannung“28 gesehen, eine besondere Funktion: Die in ihm

26 Franz Mehring. Die Lessing-Legende, S. 307.


27 Hettner 1961, 1. Band, S. 716.
28 Witte, S. 20.

EMILIA GALOTTI 47
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Leben und Werk -interpretation

3.3 Aufbau

sich ereignenden erschütternden Dinge – Überfall, Mord, Verfüh­


rung oder Vergewaltigung – sind nichts für die Öffentlichkeit und
werden deshalb als Botenbericht oder in Andeutungen mitgeteilt,
aber nicht dargestellt. Der Zuschauer muss seine Fantasie einset­
zen, um den Zusammenhang zu erkennen.
Konflikte Manche Interpreten wollen in dem Stück keinen Konflikt wahr­
haben: „Genau besehen fehlt dieser Tragödie der Konflikt, der das
Geschehen in eine Richtung lenkte, die keine andere als eine tra­
gische Lösung zuließe.“29 Das Trauerspiel weist indessen mehrere
Konflikte aus. Einige entstehen daraus, dass mit Ausnahme Appi­
anis – der eine natürliche Freiheit in seinen heimatlichen Tälern
hat – nur der Prinz als absolutistischer Herrscher unabhängig ist.
Andere Konflikte entstehen aus der Spannung zwischen der unbe­
herrschten Leidenschaft des Prinzen und dem vernünftigen Leben
der bürgerlich lebenden Landadligen Galotti, die Leidenschaften
beherrschen können. Solange die bevorstehende Ehe Emilia Si­
cherheit verspricht, kann sie ihre Leidenschaften kanalisieren. Mit
dem Tod Appianis scheidet diese Möglichkeit aus, zudem hat Emi­
lia nun schuldlos den Makel einer verlassenen Frau zu tragen – zu
jener Zeit wichtig und meist mit dem Eintritt in ein Kloster zu be­
heben –, und ihr steht als naheliegende Möglichkeit das Leben als
Mätresse des Prinzen bevor. So sieht sie sich hilflos zwischen eine
bürgerliche Tugend, die nicht mehr benötigt wird und kaum eine
Zukunft hat, und eine triebhafte Leidenschaft, die auf Tugend ver­
zichten muss, gestellt. Wie sie sich entscheidet, ihr Leben und ihre
bürgerliche Erziehung sind dabei, sinnlos zu werden. Ein weiterer
Konflikt wird zusätzlich durch Emilia ausgelöst und verschärft: Sie
ist unbewusst am Tod Appianis schuldig. Nachdem sie bei der Be­
gegnung mit dem Prinzen am Rande der Morgenmesse dessen

29 Horst Steinmetz: Emilia Galotti., S. 90.

48 Gotthold Ephraim Lessing

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3.3 Aufbau

Entwicklung der Handlung

1. Kabinett des Prinzen, flammende Liebe des Exposition


Prinzen zu Emilia

Messe: Gespräch zwischen Prinzen und Emilia wichtigstes ­erregendes


­Moment

2. Haus der Galottis: Furcht ­Odoardos, Steigerung


­Geständnis Emilias

Eintritt Appianis in die Handlung weiteres erregendes


­Moment
Appiani lehnt Auftrag des Prinzen ab; Steigerung
­Duellforderung
verstreut Angstmotive: Tränen, Bangigkeit Vorwegnahmen
u. a.

3. Umschlag Liebe in Tod: Mord Peripetie


an Appiani
Lustschloss des Prinzen, Höhepunkt
­Erwartung
Prinz führt Emilia zu Höhepunkt
­„Entzückungen“

4. Lustschloss des Prinzen: ­Orsinas fallende Handlung


­Rache
Odoardo als Werkzeug der Orsina retardierendes ­Moment
Begegnung des Prinzen mit Emilia retardierendes ­Moment

5. Odoardos Verzicht auf Rache Moment der letzten Spannung


Emilias Tod, Marinellis Verbannung, Katastrophe
­Enttäuschung des Prinzen

EMILIA GALOTTI 49
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Leben und Werk -interpretation

3.3 Aufbau

Leidenschaft erfahren hatte, verbirgt sie diese auf Rat ihrer Mutter
vor Appiani. Dadurch wird der Anschlag nicht früh genug als An­
schlag auf Emilias Unschuld erkannt. Der Tod Appianis und ihre
Entführung sowie die anschließende Verführung sind die Folgen
ihres Schweigens, das Schweigen ist ihre Schuld. Sie weiß darum,
wenn sie auf des Vaters Frage, ob sie mit „alles verloren“ meine,
„dass der Graf tot ist“ antwortet: „Und warum er tot ist! Warum!“
(HL S. 69/R S. 84). Letztlich sind alle Konflikte, denen sich Emilia
ausgesetzt sieht, zu verallgemeinern auf den Gegensatz zwischen
willkürlicher Triebbefriedigung des absolutistischen Herrschers
und vernünftiger, ehelicher Gemeinsamkeit auf der Grundlage bür­
gerlicher Tugenden.
Die Handlung folgt aristotelischen Prinzipien. In seiner Poetik
sprach Aristoteles von den zwei Teilen einer Tragödie, der Schür­
zung des Knotens und der Lösung. Beide gruppieren sich um den
Höhepunkt samt der „Wandlung des Geschicks“30. Aber alle wich­
tigen Vorgänge im Stück finden hinter der Bühne statt: das Ge­
spräch zwischen dem Prinzen und Emilia, Appianis Verwundung
oder Tod, die Verführung Emilias durch den Prinzen, deren Oh­
renzeuge die Orsina wird (vgl. HL S. 49/R S. 60). Das deutet auf
das Vorbild des aristotelischen und klassizistischen französischen
Dramas hin; Shakespeare hätte gerade diese Handlungen auf der
Bühne ausgestellt.
Einheit der Zeit Der großzügig ausgelegten Einheit des Ortes entspricht eine
genau eingehaltene Einheit der Zeit: Das Stück beginnt bei Son­
nenaufgang; der Prinz ist schon bei der Arbeit. Es führt über die
Messe bei den Dominikanern, also gegen 6 Uhr, ins Haus der Ga­
lottis am Vormittag. Nachdem sich Appiani und Marinelli dort ge­
gen Mittag trennen, reisen beide nach Dosalo, der eine auf dem

30 Aristoteles: Poetik, 18. Kapitel.

50 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

3.3 Aufbau

Weg nach Sabionetta, der andere zum Prinzen. Das Opfer und sein
Mörder treffen nach etwa zwei Stunden, berücksichtigt man die
bekannten Entfernungen und die Verkehrsmittel, ein. Die restli­
chen Stunden des Tages, also etwa ab 14 Uhr, stehen den verblei­
benden drei Aufzügen zur Verfügung. Am Nachmittag, Claudia
Galotti und die Gräfin Orsina sind unterwegs nach Guastalla, wird
Emilia von ihrem Vater erstochen. Zwischen dem Gespräch in der
Messe und ihrem Tod liegen etwa zwölf Stunden.
Der Ort ist ein kleines italienisches Fürstentum. Die erschließ­
baren historischen Fakten verweisen auf die Zeit vor 1750, nicht
auf die Renaissance, wie behauptet wird31. Auf Lessings Zeit wei­
sen Begriffe wie die „Empfindsamen“ (HL S. 12/R S. 14), „Tugend
und Gefühl und Witz“ (HL S. 12/R S. 14), Appianis Sehnsucht nach
der Natürlichkeit seiner „Täler“ (HL S. 12/R S. 14) und Odoardos
Bewunderung für Appianis Vorsatz, „sich selbst zu leben“ (HL
S. 21/R S. 25), hin. Die geschilderten Vorgänge sind im 18. Jahr­
hundert vorstellbar.
Die Dramaturgie des Stückes ist eine glückliche Mischung. Re­ Dramaturgie
präsentieren der Prinz und sein Anhang das verspielt Höfische des des Stückes

französischen Trauerspiels, so stehen Emilia und ihre Familie für


das ernsthaft Bürgerliche des englischen Trauerspiels. Aus die­
ser Mischung resultiert die Wirkung des Stückes. Zweitens kam
die politische Brisanz des Themas hinzu, widmete es sich doch
der widersprüchlichen Ehrauffassung von Hofadel und bürgerlich
denkendem Adel. Das gehörte in das Vorfeld der Französischen
Revolution. Schließlich sah der Zuschauer im Mätressen- und
Mäzenatentum deutscher Fürsten etwas in der Sache Bekanntes,
in dessen innere Vorgänge er Einblick bekam. Weil Lessing die
konsequente Veränderung nicht gestaltete, – er sah keine Lösung

31 Vgl. Barner, S. 175 f.

EMILIA GALOTTI 51
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Leben und Werk -interpretation

3.3 Aufbau

der Widersprüche in Deutschland –, wurde es zu einem typisch


deutschen Stück. Die moralische Integrität des Einzelnen ließ sich
durch den Freitod bewahren, ohne dass eine politische Massen­
aktion notwendig wurde. Matthias Claudius fragte allerdings am
15. April 1772 im Wandbecker Boten – er formulierte damit die Fra­
gen mehrerer Zeitgenossen –, ob es tatsächlich sinnvoll sei, um
der anatomischen Unschuld willen einen Menschen zu ermorden.
Er fragte weiter, wie Emilia

„(…) so zu sagen bei der Leiche ihres Appiani an die Verfüh­


rung eines andern und dabei an ihr warmes Blut denken konn­
te. Mich dünkt, ich hätte an ihrer Stelle halb nackt durch ein
Heer der wollüstigen Teufel gehen wollen und keiner hätte es
wagen sollen, mich anzurühren“.32

Emilias Verlobter, der von Odoardo als Geistes- und Wesensver­


wandter angesehen wird, ist dramaturgisch ein Gegenentwurf
zum Prinzen und zu Marinelli. Als Marinelli von Appiani fordert,
Befehle entgegenzunehmen und sich den Wünschen des Prinzen
zu unterwerfen, lehnt dieser ab: „Ich kam an seinen Hof als ein
Freiwilliger. Ich wollte die Ehre haben, ihm zu dienen: aber nicht
sein Sklave werden. Ich bin der Vasall eines größern Herrn –“ (HL
S. 31/R S. 37) und das ist der Kaiser. Dabei weiß Appiani noch
nicht einmal, dass der Befehl des Prinzen Bestandteil einer Intrige
ist, die sich gegen ihn richtet. Für Appiani führt die Eheschließung
aus der in Guastalla herrschenden Staatspolitik in eine freie natür­
liche Ordnung in seinen Tälern, vom Dienst bei Hof in ein privates,
natürliches Leben. Marinelli beschreibt es ironisch: „Er will mit
seiner Gebieterin nach seinen Tälern von Piemont: – Gämsen zu

32 Vgl. dazu: Horst Steinmetz (Herausgeber): Lessing – ein unpoetischer Dichter, S. 89 und 246 f.

52 Gotthold Ephraim Lessing

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3.3 Aufbau

jagen, auf den Alpen; und Murmeltiere abzurichten“ (HL S. 12/R


S. 14). Appiani begeistert an Emilia diese natürliche Lebensfüh­
rung; der Prinz ist in sie verliebt, weil diese natürliche Schönheit
sein erstarrtes Lebensprogramm verändern könnte. Dadurch
ist Emilia der Orsina überlegen: als Bild dem Bilde der schönen
­Orsina, als Mensch der geschickten und politisch ambitionierten
Orsina. Beide stehen sich gegenüber als Gegensatz von Mythos
vom Schönen (Orsina) und Natur des Schönen (Emilia). Der Prinz
und der Maler Conti erörtern diesen Gegensatz im Kunstgespräch,
das nach Lessings Laokoon klingt. Während Conti, nach dem Prin­
zen, aus den „stieren, starren Medusenaugen der Gräfin Gutes“
(HL S. 8/R S. 8) gemacht habe, also im Sinne des Laokoon Leiden­
schaften idealisiert hat, reichte dem gleichen Conti als „einziges
Studium der weiblichen Schönheit“ (HL S. 9/R S. 11) Emilias Ge­
genwart, um sie ursprünglich und natürlich zu porträtieren.
Die Handlung wird von Leidenschaft ausgelöst, angetrieben Vernunft, Macht
und zur Katastrophe geführt. Die zerstört die auf Vernunft ange­ und Leidenschaft

legte Handlung, die von den Galottis bestimmt wird: Abschluss


der Erziehung der Tochter in der Residenz, Vorbereitung einer
geeigneten Eheschließung und Rückzug in die Natürlichkeit des
ländlichen Lebens.
Die Verknüpfung von Macht und Leidenschaft wird bereits in
der Eröffnung in der Person des Prinzen erkennbar, als die Na­
mensgleichheit einer anderen Frau eine Entscheidung beeinflusst,
die sonst so nicht getroffen worden wäre. So ist sich der Prinz
während des Verführungsversuchs auch keines Unrechts bewusst.
Die Welt des Politischen wird in der Welt des Privaten mit den glei­
chen Mitteln fortgesetzt. Der Kontrahent zum leidenschaftlichen
Prinzen ist der von Vernunft und Verstand geleitete Appiani: Er
ist durch die Praxis seiner unabhängigen Lebensführung eine Al­
ternative zum Prinzen, durch den Rückgriff auf die Sittlichkeit des

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Leben und Werk -interpretation

3.3 Aufbau

Natürlichen ein Aufklärer, aber kein Politiker. Auch von ihm sind
übergreifende Änderungen nicht zu erwarten; sein Tod ändert für
die Perspektive der Lösung nichts, Emilia allerdings ist die Flucht
in seine „väterlichen Täler“ nicht mehr möglich.

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

Zusammen­
Emilia Galotti, eine schöne, tugendhafte und junge Frau, fassung

steht zwischen zwei Männern: dem Prinzen von Guastalla,


einem absolutistischen Herrscher und Mäzen, verantwor­
tungsbewusst, liebenswert und rücksichtslos ­gleichermaßen,
getrieben von seiner Begierde – und dem Grafen Appiani,
ländlich, sittlich, tolerant, Repräsentant des „Natürlichen“
und des aufgeklärten Adels mit Neigung zu bürgerlicher To­
leranz. Die zwei Männer bekommen Unterstützung: der
Prinz durch den intriganten Kammerherrn Marinelli, ohne
Skrupel und Moral; der Graf durch seinen künftigen Schwie­
gervater Odoardo Galotti, einen Pflichtmenschen, mit Tu­
gend- und Moralauffassungen bürgerlicher Prägung.
Der Dreieckskonflikt wird durch zwei Frauen geschaffen
und zerstört: Claudia Galotti, auf Emilias gesellschaftliche
Stellung bedacht, hat ihre Tochter in die höfischen Kreise
gebracht, wodurch sie Appiani kennenlernte und der Prinz
auf sie aufmerksam wurde; Gräfin Orsina, die Mätresse des
Prinzen, intelligent und zu allem entschlossen, rächt sich für
den Verlust ihrer gesellschaftlichen Stellung.

Emilia Galotti
Sie gibt dem Stück den Titel, ist aber nur selten präsent. Sie stammt
aus dem Landadel; ihr Vater ist Offizier (Oberst) in ­Sabionetta, der
dem Prinzen Paroli bietet, als er das Fürstentum übernehmen will.
Die Mutter hat Emilia, die auf dem Lande aufgewachsen ist, in
die Stadt gebracht, um ihre Erziehung zu vervollkommnen, sie ins
höfische Leben einzuführen und einen Mann von Rang zu finden.

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

Das ist mit dem Grafen Appiani gelungen. Man verkehrt im Hause
des Kanzlers Grimaldi, dem Treffpunkt des Adels, zu dem auch der
Prinz kommt. Die Galottis sind verarmter Adel, „ohne Vermögen
und ohne Rang“ (HL S. 12/R S. 14). Aber vom Vermögen ist die
ständische Stellung bestimmt. Dieser verarmte Adel war Träger
bürgerlichen Gedankenguts; daraus entstand die Gleichsetzung
zwischen der adligen Familie Galotti und einer bürgerlichen Fa­
Sven Lehmann milie.
als Gonzaga und Im Stück repräsentiert Emilia den aufklärerischen Menschen,
Regina Zimmer-
mann als Emilia dessen Merkmale Marinelli ihr ironisch zuordnet: „Ein Mädchen
in einer Insze­ ohne Vermögen und ohne Rang, (…) aber mit vielem Prunke von
nierung am Deut- Tugend und Gefühl und Witz“ (HL S. 12/R S. 14). Es ist die einzi­
schen ­Theater
2001–2002, ge Aussage über Emilias bürgerliche Haltung. Ihr zwiespältiger
© ullstein bild – Reichtum sind ihre Schönheit, ihre Tugend, ihre Unschuld und ihr
­Lieberenz Witz (= Geist) – Zentralbegriffe der bürgerlich geprägten, aufkläre­

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

rischen Gesellschaftsentwürfe und Menschenbilder. Während sie


ihre Schönheit gern in ihre Leidenschaft einbrächte, muss sie ihre
Tugend aus Gehorsam gegen die Eltern streng bewahren. Zusätz­
lich bekommt Emilia „Natur“ zugesprochen, der zentrale Wert der
europäischen Aufklärung. Emilia, im Besitz der „natürlichen“ Fä­
higkeiten, will und soll sich durch die Heirat mit Appiani und ihren
Weggang in dessen „väterliche Täler“ vom Hofe und dem Prinzen
entfernen, um, statt den feudal-höfischen Bedingungen gerecht zu
werden, mit ihrem Mann „sich selbst zu leben“ (HL S. 21/R S. 25).
Es wurde der Schlachtruf des aufklärerischen Denkens.

Gräfin Orsina
Lessing war an der Figur, die in den ersten Plänen zu einem drei­
aktigen Stück nicht vorhanden war, interessiert. Als sein Bruder
Karl das Manuskript las, war Lessing gespannt, „was Du von dem
Charakter der Orsina sagen wirst. (…) Wenn er einer guten Schau­
spielerin in die Hände fällt, so muss er Wirkung tun.“33 Von ihr
wird viel gesprochen, aber nur im 4. Aufzug ist sie fast durchge­
hend anwesend. Ihre Anwesenheit in Dosalo ist Zufall und Schick­
sal in einem: Sie hatte den Prinzen hinbestellt, er aber hatte ihren
Brief nicht gelesen. Er wollte Emilia in Dosalo treffen; die Orsina
kennt die Zusammenhänge nicht und nimmt des Prinzen Anwe­
senheit als Bestätigung für ihr Angebot. Andererseits ahnte sie
von der neuen Leidenschaft des Prinzen, denn ihre Kundschafter
hatten das Gespräch zwischen dem Prinzen und Emilia belauscht.
Wenn schon nicht mit dem Prinzen leben, will sie wenigstens mit
ihm sterben: Deshalb hat sie den Dolch für den Prinzen und das
Gift für sich in ihrer Tasche, als sie nach Dosalo kommt. Eine an­
dere Möglichkeit sieht sie darin, die Öffentlichkeit aufzustacheln

33 Brief vom 10. Februar 1772 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S.  500.

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

(„Morgen will ich es auf dem Markte ausrufen“, R S. 66), ein Rest
des Volksaufstands aus der Vorlage der Virginia. Die Orsina hat
ihre Vorläuferin in der Person Marcias aus Samuel Crisps Virginia
(1754), von der Lessing einen Teil übersetzte, und in Lessings Fi­
gur Marwood aus Miss Sara Sampson (1755).
Mätresse Gräfin Orsina, stolz, schön und selbstbewusst, ist die Mätres­
und Macht se des Prinzen, die verdrängt wird, als sich der Prinz für Emilia
begeistert. Lessings Stück lässt sich nicht als Anklage gegen das
Mätressenwesen lesen. Die Mätressen waren in jener Zeit politisch
und gesellschaftlich hochstehende und anerkannte Personen, die
gerade politische Entwicklungen wesentlich mitbestimmten. Die
Mätresse eines Fürsten zu werden, war im 18. Jahrhundert Gefahr
und Chance für die Frau gleichermaßen:

„Die meisten jungen Damen waren samt ihren Eltern nur ge­
ehrt, wenn der kleine Tyrann sie sich aussuchte. Bei Lessing
wird der Zwischenfall ganz ernst genommen, was sonst nicht
üblich gewesen war.“34

Marinelli bringt die Situation auf den Punkt, wenn er Claudia Ga­
lotti unterstellt, „so etwas von einer Schwiegermutter eines Prin­
zen zu sein, schmeichelt die meisten“ (HL S. 41/R S. 50). Die Mä­
tressen verfügten oft über jenen Geist, den die aus degenerierten
Fürstenhäusern stammenden fürstlichen Frauen nicht besaßen.
Während der Entstehungszeit der Emilia Galotti lebte Gräfin Cosel
(1680 –1765), eine der einflussreichsten Frauen dieser Zeit, ver­
bannt in Stolpen. Die Marquise de Pompadour (1721–1764) be­

34 Heinrich Mann: Lessing. In: Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe,
hrsg. von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel, Band 5. Bielefeld: Aisthesis Verlag,
2009, S. 136.

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

stimmte die Politik in Frankreich; der Siebenjährige Krieg, an dem


Lessing teilgenommen hatte, war auch ihr Werk. Am Braunschwei­
ger Hof war es von 1766 bis 1777 die Mätresse Karl Wilhelm Fer­
dinands, ab 1780 Herzog, die als schönste Frau Deutschland galt
und 1779 Goethe, der sie bewunderte, begeisterte: Maria Antonia
von Branconi (1746–1793).
Orsina entspricht ihnen, wird als „Philosophin“ (HL S. 50/R
S. 61) bezeichnet und weiß mit den Hebeln der Macht sensibel
umzugehen. Sie ist von anspruchsvollem Geist und den höfischen
Kreaturen wie Marinelli, die für sie „Hofgeschmeiß“ (HL S. 49/R
S. 60) sind, überlegen. Ohne gesellschaftliche Anerkennung hät­
te sie Oberst Galotti nicht für ihre Pläne gewinnen können. Ohne
Orsina gäbe es keine Lady Milford (Schiller, Kabale und Liebe),
obwohl für sie auch die Mätressen des Herzogs Karl Eugen von
Württemberg als Vorbild dienten. Die Orsina besitzt so viel Selbst­
bewusstsein, dass sie daran denken kann, das Volk „morgen“ auf
dem Markt aufzustacheln („wer mir widerspricht, der war des
Mörders Spießgeselle“, HL S. 55/R S. 66). Wenn ihre Aktion der
Mobilisierung des Volkes nicht im Stück auftaucht, bedeutet das
nicht, dass sie nicht stattgefunden hat: Das Stück endet vorher.
Dass Lessing sie nicht aufnahm, war allerdings den deutschen
Verhältnissen verpflichtet, in denen solche Aktionen in der Regel
erfolglos waren oder das Gegenteil vom Gewollten erreichten.

Hettore Gonzaga
Er ist von bedeutender Veranlagung, aber in Handlungen und
Äußerungen launisch. Nicht zufällig weist das Kunstgespräch mit
Conti aus, dass er ausgeprägte ästhetische Kenntnisse und Vor­
stellungen von der Autonomie der Kunst hat. Dieser Prinz ist nicht
tyrannisch, sondern außergewöhnlich: Neben seinen staatspoliti­
schen Geschäften, denen er sich schon am frühen Morgen widmet,

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Leben und Werk -interpretation

3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

hat er vielfältige Interessen. Lessings Bruder Karl beschrieb ihn


nach der Lektüre des Manuskripts:

„Der Prinz von Guastalla ist, wie unsere guten Prinzen, klug,
verständig, zurückhaltend, von heftigen Leidenschaften, ver­
liebt oder ehrgeizig – diesen Leidenschaften opfern sie alles
auf, so menschlich sie auch sonst sind.“35

Beim Übermaß der Gefühle verlässt ihn, menschlich verständlich,


aber politisch verantwortungslos, sogar der Sinn für seine staats­
politischen Aufgaben, denen er sich nur widerstrebend stellt, weil
er doch keine Glückseligkeit für alle schaffen kann. Das ist sein
Konflikt, den er am Ende erkennt: Er möchte Mensch und muss
doch Fürst sein; das schließt sich aus. Dass er die unerträgliche
und spannungsreiche Situation zwischen bürgerlichem und aris­
tokratischem Verhalten kennt und durchaus den Hofadel kritisch
einschätzt, wird im Gespräch mit Marinelli deutlich: In den „ers­
ten Häusern“ (HL S. 12/R S. 14) herrschten „das Zeremoniell,
der Zwang, die Langeweile, und nicht selten die Dürftigkeit“ (HL
S. 12 f./R S. 15).36
Schuld des Der Prinz wird schuldig, da er seine politische Stellung für seine
­Prinzen menschlichen Neigungen und Leidenschaften ausnutzt. Ursache
sind die gesellschaftlichen Verhältnisse: Sie geben ihm die Freihei­
ten, und sie beschränken die Möglichkeiten der Galottis, von den
sozial noch tiefer Stehenden zu schweigen. Sie sind bei L ­ essing
nicht zu finden oder, falls sie als Dienerschaft agieren, nutzen

35 Brief Karl Lessings vom 3. Februar 1772 an Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 498.
36 Die Einschätzung hat eine Parallele in Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther, als
Werther beschreibt, wie er aus der Adelsgesellschaft ausgewiesen wird (Brief vom 15. Mai);
die Schuld an seinem „Verdruss“ gibt Werther der gesellschaftlichen Hierarchie, vor allem dem
überholten und fast zur Karikatur erstarrten Feudaladel.

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

den Freiraum aus, der durch die Verhältnisse für ihre kriminelle
Energie entsteht. Die Meinung des Prinzen über die Verhältnisse,
in die er hineingeboren wurde und die er durch seine Macht re­
produziert, ist zwiespältig und verweist auf einige Ansätze eines
„aufgeklärten Fürsten“. Als Marinelli ihm die Fehler seines Gegen­
spielers Appiani vorstellt, da dieser mit Emilia ein „Missbündnis“
(HL S. 12/R S. 14) schließe und ihm dadurch die ersten Häuser
verschlossen seien, kontert der Prinz scharf und kritisiert das höfi­
sche Zeremoniell (vgl. HL S. 12 f./R S. 14 f.).

Odoardo Galotti
Er ist hoher Offizier aus dem wenig wohlhabenden Landadel; arm
und ehrlich. Mit den Worten des Prinzen gesagt: „Ein alter De­
gen; stolz und rau; sonst bieder und gut!“ (HL S. 8/R S. 9). Er ist
kein Graf. Sein Beruf fordert von ihm Disziplin und Geradlinigkeit.
Er ist aber auch von argwöhnischer Wachsamkeit, traut er doch
dem Prinzen, dessen territoriale Ansprüche er nicht anerkannte,
nicht über den Weg. Vor allem aber weiß er um die Verführbarkeit
seiner Tochter und sieht deshalb jeden ihrer Schritte ohne Auf­
sicht mit Missvergnügen („Einer ist genug zu einem Fehltritt!“, HL
S. 18/R S. 22). Schuld wird er insofern, als er autoritär auf Emilias
Tugend besteht und eigene Entscheidungen von ihr fernhält. Von
aufklärerischen Positionen Rousseaus ist er noch entfernt. Wenn
er die „väterlichen Täler“ Appianis lobt, meint er zuerst, dass „er
dort selbst befehlen kann“ (HL S. 22/R S. 26). Odoardos Tugend
ist eine „strenge Tugend“ (HL S. 21/R S. 25), eine „raue Tugend“
(HL S. 23/R S. 27), die einem vorgegebenen Kanon unterworfen ist
und wenig Raum für die Selbstbestimmung des Menschen lässt.
Insofern kommt er in einen tragischen Konflikt: Um die Ehre seiner Odoardos Konflikt
Tochter zu retten bzw. ihre Vernichtung zu sühnen, müsste er den
Prinzen töten; das aber kann er als der militärisch Untergebene

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

des Prinzen nicht. Also löst er sein Problem, indem er die Entehrte
richtet, die ihm aber als Tochter anvertraut ist. Er stellt die militä­
rische Disziplin über die familiär-moralische.
Gerade das, was Emilias Vorzüge sind, was die Mutter an ihr
lobt und was den Prinzen begeistert – „ihre Munterkeit und ihr
Witz“ (HL S. 22/R S. 26) als Tugenden der Aufklärung –, stört Odo­
ardo. Die Hierarchie, in die er als Offizier eingebunden ist, gibt ihm
keinen Blick für Emilias Wertvorstellungen. Wenn er sie schließlich
seinen Tugendvorstellungen opfert, geschieht das mehr aus rituel­
ler Verantwortung für einen überholte Tugendbegriff, weniger, um
Emilias neue Vorstellung von bürgerlicher Tugend zu bewahren.
Aber dieser Tugendbegriff trifft sich mit Emilias Tugendauffas­
sung, die den Wert des Menschen an der Beherrschbarkeit seiner
Leidenschaften misst. Er weiß nicht um die aufklärerische Radika­
lität, wie sie Lessing, Moses Mendelssohn oder Friedrich Nicolai
vertreten, weil seine Moralvorstellungen ländlich ständisch sind
und zudem noch durch eine an Wahnsinn grenzende Exaltiertheit
verzerrt werden, deren sich die Orsina zu bedienen weiß.

Marinelli
Die für die Handlung entscheidende Person ist der Kammerherr
des Prinzen, „bei dem schon der Name auf machiavellische Ränke
deutet“37. Er ähnelt jenem Mephisto, ohne dessen geistige Überle­
genheit und Welterfahrenheit zu besitzen, den Lessing mit seinem
Marinelli, Faust-Stoff kurz zuvor endgültig aufgab. Er steht für das Teuflische
der Teufel schlechthin. Aber mephistophelisch an ihm ist auch, wie er alle
Handlungen in seiner Hand hält: Auch der Prinz ist seine Krea­
tur. Wenn Lessings Faust von den sieben Teufeln, die sich ihm
anbieten, jenen erwählt, der so schnell ist „als der Übergang vom

37 Nisbet, S. 641.

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

Guten zum Bösen“38, weil dieser am schnellsten sei, hat er jenen


schmalen Grat beschrieben, auf dem sich alle Gestalten der Emilia
Galotti, mit Ausnahme Appianis, bewegen; Marinelli aber bestimmt
deren Wanderung. Als der Prinz alle Zusammenhänge und die Fol­
gen erkennt, ruft er Gott an und beklagt sich über sein Schicksal
als Fürst, der nicht Mensch sein darf, und über die Menschen,
die Teufel seien: „(…) müssen sich auch noch Teufel in ihren
Freund verstellen.“ (HL S. 71/R S. 87) Die Beschäftigung Lessings
mit Faust klingt nach. Als Höfling steht Marinelli dem Prinzen am
nächsten und bedeutet seine vollständige Abhängigkeit von den
höfischen Gesetzen. Insofern ist er ein Gegenspieler Appianis, des­
halb hasst er ihn auch: Über nichts ist er besser informiert als über
die Heirats- und Lebensabsichten Appianis. Solange dieser am Hof
ist und für Dienste beim Prinzen bereitsteht, beeinträchtigt er Ma­
rinellis Einfluss. Für ihn ist der Prinz in gleicher Weise ein Objekt
wie Appiani oder Emilia. Menschen sind für ihn nur so interessant,
wie sie sich benutzen lassen, um die Stellung in der feudalen Hie­
rarchie zu bewahren, zu festigen und auszubauen. Dramaturgisch
gesehen ist er ein typischer Intrigant; soziologisch ist er nicht an
die höfisch-feudale Struktur gebunden, sondern aktuell bis in die
Gegenwart als offizieller Sprecher, dem die Lüge wie die Demago­
gie zu selbstverständlichen Mitteln seiner Repräsentanz geworden
sind.

Graf Appiani
Appiani ist soziologisch die interessanteste Figur: Er ist als Per­ Gegenmodell zum
son und mit seinem Lebensprogramm das Gegenmodell zum hö­ höfischen Leben

fischen Leben. Die angesehene adlige Familie, aus der er stammt,


ist reichsunmittelbar und kann sich deshalb anderen Fürsten

38 Lessing (BDK), 5. Band, S. 264.

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

verdingen, aber auch jederzeit von ihnen lösen. Die „väterlichen


Täler“, über die er regiert, erscheinen allein durch diese Formulie­
rung und ihre Abgeschiedenheit – über die Marinelli lästert (vgl.
HL S. 12/R S. 14) – als ländlich-sittlich und tugendhaft, also „na­
türlich“. Das wird dadurch unterstützt, dass eine Ehe mit Emilia
ihm den „Zirkel der ersten Häuser“, also des Hofadels, verschließt
(vgl. HL S. 12/R S. 14). Er hat in dieser Ländlichkeit Toleranz und
Verantwortungsgefühl erworben; deshalb kann er sich auch der
„natürlichen“ Frau zuwenden und muss auf höfische Prinzipien
keine Rücksicht nehmen. Er stellt die Alternative zum Prinzen dar,
indem er sich aus dem höfischen Leben löst und sein Leben in
natürlicher Abgeschiedenheit führen will, hinter der sich Haltun­
gen Rousseaus erkennen lassen. Die Differenziertheit des Adels
wird in diesem gegensätzlichen Paar deutlich. In Appiani ist jener
aufgeklärte Fürst zu sehen, der das unerfüllte Ziel aufklärerischer
Erziehung war. Ermöglicht wird es durch eine eindeutige Ableh­
nung der höfischen Lebensumstände. Für Emilias Tugend, die sich
in erfüllter Sinnlichkeit aufheben möchte, ist er nicht zuständig.
Als sich diese Frage stellt, ist er schon tot. Allerdings wird das so­
ziologische Interesse an Appiani geschwächt durch seine drama­
turgische Farblosigkeit. Sie wird am greifbarsten in der Beziehung
zu Emilia, die zwischen traumhafter Verklärung und mangelnder
Zärtlichkeit pendelt, ohne jemals die Normalität eines Brautpaares
zu erreichen. Vergleicht man Appianis Zuneigung zu Emilia mit
des Prinzen stürmischer Leidenschaft und seiner bedrängenden
Sinnlichkeit, wird verständlich, dass sich Emilia ihrer Standhaftig­
keit nicht sicher ist. Appiani ist in jeder Hinsicht der Gegenentwurf
zum Prinzen, aber er zeigt auch die Grenzen für die Umsetzung
bürgerlicher Programme auf: Sein früher Tod lässt sie nicht Wirk­
lichkeit werden; er ist ein frühes Beispiel dafür, wie die bürgerliche

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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

Emanzipation in Deutschland sich vor allem als geistiger Prozess


vollzieht, aber nur eine schwache politische Wirklichkeit erfährt.

Claudia Galotti
Sie ist die lebenserfahrene, um die Sitten bei Hof wissende Ehefrau
Odoardos, aber ohne dessen rigorose Moralität. Sie ist auf Emilias
gesellschaftliche Stellung bedacht und hat deshalb den Aufenthalt
in der Residenz gesucht, um die Erziehung zu vollenden und in
den höfischen Umkreis münden zu lassen. Dabei verkennt sie die
Gefahren, die durch die höfischen Sitten drohen; deshalb greift sie
nicht rechtzeitig ein, als Emilia in die für sie zerstörerische Situa­
tion gerät, Objekt für die Leidenschaften des Prinzen zu werden.
Durch Claudias Erziehung und ihre ländliche Sittlichkeit ist Emilia
den Anforderungen an eine fürstliche Mätresse kaum gewachsen,
obwohl Claudia, wie Marinelli richtig einschätzt, gern „so etwas
von einer Schwiegermutter eines Prinzen“ (HL S. 41/R S. 50) sein
möchte.

Conti
Er ist Maler und ein Beispiel für das Mäzenatentum des Prinzen. Kontrastfigur
Gleichzeitig ist er trotz seines geringen Handlungsraumes eine zum Prinzen

wichtige Kontrastfigur zum Prinzen: Er gibt den Anlass, um über


des Prinzen Kunstverständnis ebenso zu sprechen wie über sei­
ne Ansprüche, getrieben von maßlosen Leidenschaften, die rück­
sichtslos sind und den Maler „fürchten“ (HL S. 10/R S. 11) lassen.
Er ist zudem ein Künstler des 18. Jahrhunderts, der sich um seine
Existenz, die vor allem vom Mäzenatentum abhängig ist, sorgt.
Durch diesen Maler erlebt der Leser/Zuschauer auch, wie der Li­
teraturkritiker Lessing Thesen aus dem Laokoon, die Idealisierung
der Leidenschaften, in Dichtung umsetzt. Die Schönheit einer Ge­
stalt kann von einem Dichter bewältigt werden, wenn er sie durch

EMILIA GALOTTI 65
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3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

einen bildenden Künstler beschreiben lässt. Conti bestätigt Emilias


weibliche Schönheit mit der Aufzählung der Körperteile, die als
natürliche Schönheit zu „den größten Glückseligkeiten“ (HL S. 9/R
S. 11) seines Lebens gehören.

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen


HL S. 3/ Emilia Galotti Der Vorname der Titelgestalt ist identisch mit der Bezeich-
R S. 1 nung für die Landschaft Emilia im Norden Italiens, wird
aber auch als Name mit der Bedeutung „die Eifrige, die
Fleißige“ und „die Schmeichlerin“ gebraucht. Der Fami­
lienname weist ebenfalls auf Italien.
Trauerspiel Erst im 17. Jahrhundert verwendet für „Tragödie“; Begriff
des aufstrebenden Bürgertums. Die Tragödie, meist von
heroischen oder mythologischen Gestalten getragen, war
die wichtigste Gattung des Dramas und wurde geprägt von
einem Konflikt, der nicht ohne die zumeist unverschuldete
Niederlage einer Konfliktseite gelöst werden kann, oder,
wenn man ihn löst, ­immer einen der Betroffenen vernich-
tet. Im Trauerspiel handelten bürgerliche Menschen, auch
nie­dere Adlige; es ereignete sich Alltägliches.
HL S. 4/ Per­sonen Es gibt keine direkte Zeitangabe zum Personenensemble,
R S. 3 aber durch den Hinweis auf Guastalla einen historischen
­Verweis, der die Handlungszeit erschließbar macht.
Gon­zaga Einerseits ist es ein Fürstengeschlecht, das sich bis auf
Kaiser Lothar zurückführt. Zum anderen ist der Name lite-
rarisch bekannt. In Shakespeares Hamlet spielt die Hand-
lung der Schauspielertruppe bei einem Gonzago: „(…) die
Geschichte ist vorhanden und in auserlesenem Italienisch
geschrieben. Ihr werdet gleich sehen, wie der Mörder die
Liebe von ­Gonzagos Gemahlin gewinnt“ (Hamlet III, 2).
HL S. 5/ Prinz Nach lat. „princeps“ (der Erste), ital. „principe“; bedeutete
R S. 5 bis in das 19. Jh. „Fürst“. Federigo II. Gonzaga von Mantua
hatte 1530 von Kaiser Karl V. die Herzogswürde erhalten.
Sein Bruder Ferrante erhielt die Grafschaft Guastalla in
der Poebene. Ein Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla, ist
his­torisch nicht bekannt. Das regierende Haus Gonzaga-
Guastalla starb 1746 mit Herzog Joseph Maria von Guas-
talla und Sabionetta aus, die Linie Sabionetta war 1703
erloschen. Maria Theresia zog das Fürstentum daraufhin
ein; es wurde 1748 dem spanischen Infanten Don Philipp
als Herzog von Parma überlassen.

EMILIA GALOTTI 67
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Leben und Werk -interpretation

3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

Emilia Wird „Bruneski“ ausgesprochen; Lessing hatte aufwändig


­Bruneschi in der Hamburgischen Dramaturgie über zehn Kapitel das
Drama Das Leben hingeben für seine Gebieterin, der Graf
von Sex (Essex) des Spaniers Antonio Coello besprochen.
Im 65. Stück sagt Elisabeth, die eine Bittschrift eines Gra-
fen Felix bekommt, weil sie damit an den geliebten Essex
erinnert wird: „Muss es denn eben von einem Grafen sein,
was mir zuerst vorkömmt!“ Lessing, der diesen Einfall als
„vortrefflich“ begrüßt, kommentiert: „Auf einmal ist sie
wieder mit ihrer ganzen Seele bei demjenigen Grafen, an
den sie itzt nicht denken wollte.“
March­ese Wird „Markese“ ausgesprochen; hoher ital. Adelstitel
­zwischen Herzog und Graf, verwandt dem franz. Titel
­„Marquis“ und möglicherweise dem deutschen „Mark-
graf“.
Gräfin Orsina Der Name der Gräfin erinnert an das weit verzweigte und
berühmte römische Fürstengeschlecht der Orsini, aus
dem mehrere Päpste, Kardinäle, Staatsmänner und Feld-
herren hervorgingen. Diese hochrangige Herkunft erklärt
es, dass sich der Marchese Marinelli als ihr „Vertrauter“
bezeichnet (vgl. R S. 12). Marinelli verdankt seinem Na-
men Pierre Bayle, einem französischen Frühaufklärer, den
Lessing überaus schätzte. Galotti bekam seinen Vornamen
­Odoardo nach dem italienischen Novellendichter Matteo
Bandello, der am Hof Pirro Gonzagas in Gazzuolo lebte.
Villa „(…) auf ihrer Villa“ bedeutet, auf einem repräsentati-
ven Landsitz zu sein. Einzelne dieser Villen sind in die
Literatur­geschichte eingegangen, wie die Villa Albani, die
Villa Borghese, die Villa Massimo, die Villa d’Este und die
Villa Falconieri.
HL S. 6/ die Kunst Der Satz des Malers Conti ist zum geflügelten Wort gewor-
R S. 6 f. geht nach den. Er besagt, dass die oft beschworene Autonomie der
Brot Kunst eingeschränkt und von den sozialen oder materiel-
len Bedingungen abhängig ist, unter denen sie entsteht.
Sie wird bestimmt vom Mäzenatentum und vom Auftrags-
wesen. Vor Lessing hatte bereits Luther in seinen „Tisch-
reden“ vermerkt: „So wohlfeil ist jetzt die Kunst, dass sie
schier muss nach Brot gehen.“

68 Gotthold Ephraim Lessing

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

in meinem Hier ist an die Kleinstaaterei in Italien und Deutschland


­kleinen zu denken, die bis 1803/1806 noch in voller Blüte stand
­Gebiete und in Deutschland mehr als 330 selbstständige Gebiete
umfasste, ehe Napoleon sie einschränkte. Aber solche klei-
nen ­Staaten, deren Herrscher (Duodezfürsten) sich, wie
auch die ­Braunschweiger, meist als Generäle in fremden
Diensten verdingten (Preußen), entwickelten teilweise eine
hohe Kultur des Mäzenatentums, wie ansatzweise Braun-
schweig oder wenig später vor allem Sachsen-Weimar-
Eisenach, Sachsen-Meiningen und andere belegen.
nicht vieles; Anspielung auf das lat. Sprichwort „multum, non multa“
sondern viel (viel – d. h. gründlich –, nicht vielerlei), das Plinius d. J. in
einem Brief an seinen Freund Fuscus als eine Art Wahl-
spruch schrieb.
Bild Mit der Betrachtung des Bildes der Gräfin Orsina wird ein
Kunstgespräch vorbereitet, in dem der Prinz Positionen
Lessings vertritt. Im zweiten Kapitel des Laokoon äußert
sich Lessing zum Porträt: „Der mittelmäßigen Porträts
sollten unter den Kunstwerken nicht zu viel werden. Denn
obschon auch das Porträt ein Ideal zulässt, so muss doch
die Ähnlichkeit darüber herrschen; es ist das Ideal eines
gewissen M­ enschen, nicht das Ideal eines Menschen
überhaupt.“
HL S. 7/ die plastische Die Bildnerin Natur arbeitet nach einem Modell, das durch
R S. 8 Natur Naturgesetze vorgegeben ist. Lessing argumentiert vor-
sichtig mit „wenn es eine gibt“ im Sinne einer selbststän-
digen, ­natürlichen Schöpfung.
Abfall Abstrich, Abzug; die Kunst schafft Vollkommenheit, d. h.,
sie erhebt sich über eine unzulängliche Wirklichkeit und
verwirklicht ein Ideal, das die Natur nicht erreichte. In
diesen Begriffen – das Anziehendste, die plastische Natur
und der Abstrich – werden Bestandteile der Widerspiege-
lungstheorie Lessings erkennbar. Das sind Prinzipien der
sich entwick­elnden klassischen Literatur und Kunst, die
in deutlichem Widerspruch stehen zur Kunst des 19. Jahr-
hunderts, das mit dem Naturalismus den entschiedenen
Gegensatz dazu ent­wickelte, indem die Schönheit keine
bestimmende ästhetische Kategorie mehr war und das
Hässliche als Gegenstand der Kunst eingeführt wurde.

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

Grazie Römische Göttin der Anmut; die drei Grazien, darunter


­Thalia, begleiteten Aphrodite, Dionysos und Apoll und
hielten sich gern bei Musen und Horen auf. In Griechen-
land, dort Chariten genannt, wurden sie kultisch verehrt.
HL S. 7 f./ ein schöner Der Prinz führt hier ein Kunstgespräch mit Conti, das sich
R S. 8 Mund (…) den eng an Lessings Laokoon (1766) anschließt. Es geht um die
wollüstigen Frage des Verhältnisses von Schönheit und Verzerrung,
Spötter dem Inhalt des zweiten Kapitels des Laokoon. Selbst der
als B
­ eispiel gewählte Mund findet sich dort, bezogen auf
die Laokoon-Gruppe. Eine weite Öffnung des Mundes in
Malerei oder Bildhauerei sei Fleck oder Vertiefung, „wel-
che die widrigste Wirkung von der Welt tut“.
HL S. 8/ Medusen­ Die Medusa war die sterbliche der drei Gorgonen. Wen sie
R S. 8 f. augen anblickte, der erstarrte zu Stein. Deshalb verwandte Per-
seus, als er ihr das Haupt abschlug, einen Spiegel, in den
er sah. Aus dem Rumpf der sterbenden Medusa, die von
Poseidon schwanger war, sprang Pegasus, das Dichter-
ross. Conti setzt gegen die Medusenaugen kurz darauf die
„Augen der Liebe“, mit denen der Künstler male.
Stolz haben Im zweiten Kapitel des Laokoon beschreibt Lessing das
Sie in Würde ­Prinzip der antiken bildenden Künste, der „großen alten
(…) Schwär- Meister“, nur Schönes zu schildern und Vollkommenheit
merei in sanf- anzustreben, selbst Unschönes, wird es zur Gestaltung nö-
te Schwermut tig, auf ein erträgliches Maß zu beschränken.
verwandelt
Vegghia ital., heute: veglia; Abendgesellschaft
heilige Emilia besucht täglich die Messe in der Kirche Allerheili-
­Stätten gen bei den Dominikanern; unweit davon wohnen Emilia
und ihre Mutter.
Sabionetta Eine Linie der Gonzaga, die 1703 ausstarb, wodurch das
regierende Haus Gonzaga-Guastalla Ansprüche darauf
anmeldete: 1708 erbte Herzog Vincenzo Gonzaga das am
linken Ufer des Po gelegene kleine Fürstentum und verei-
nigte es als kaiserliches Lehen mit Guastalla.
alter Degen alter Soldat, Krieger, Held (erhalten im Begriff „Haude-
gen“)

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

HL S. 9/ Künstler dann Das Kunstgespräch wird fortgesetzt; nach der Methode


R S. 10 f. erst recht lobt geht es nun um die Anerkennung. Hier sind Positionen
­Lessings aus verschiedenen Schriften, vor allem aber aus
der ­Hamburgischen Dramaturgie, zu finden. Im 36. Stück
wird der Gedanke mehrfach variiert und belegt, dass das
„wahre Meisterstück“ seinen Schöpfer vergessen mache,
wir deshalb wohl auch nichts von Homer wüssten: „Er
bringt uns unter Götter und Helden, wir müssten in dieser
Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Tür-
steher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen.“
Raphael Raffaelo Santi (1483 –1520), italienischer Maler und Bau­
meister (Peterskirche) der Hochrenaissance; Leonardo und
Fra Bartolomeo beeinflussten ihn. Berühmt sind Gemälde
wie die Sixtinische Madonna (Dresden) und die Madonna
della Sedia (Florenz). Er gilt als der heitere Gegenpol zu
seinem ebenso berühmten Zeitgenossen Michelangelo.
Wenn Conti Raffael nennt und als „das größte malerische
Genie“ bezeich­net, bedeutet das eine Grundsatzentschei-
dung für eine vollkommene, jedoch heitere Kunst.
Schilderei Bild, Gemälde
HL S. 10/ Kunst nicht Mit dieser Bemerkung des Prinzen endet das Kunstge-
R S. 11 f. nach Brot spräch, in dem sich der Prinz als wohlwollender Mäzen zu
­gehen erkennen gibt, dessen ästhetische Ansichten denen Les-
sings ähnlich sind. Sein Mäzenatentum geht so weit, dass
in seinem Land die Kunst nicht nach Brot gehe, sondern
nach ihrer Bedeutung gewürdigt werde.
Werk der Entgegen der Positionen im Kunstgespräch, bei dem das
Kunst/Meis- künstlerische Abbild zum Ideal geriet, wird das Ideal nun
terstück der der Natur zugebilligt. Es wird deutlich, dass des Prinzen
Natur ­Interesse weniger dem schönen Bild, desto mehr seinem
­natürlichen Original gehört.
neidisch das Bild nur sich selbst gönnend, auch: eifersüchtig
HL S. 11/ Massa Ital. Provinz in der Toskana mit der gleichnamigen Haupt-
R S. 13 stadt an der Straße von Genua nach Lucca; das Fürstentum
blieb bis 1879 souverän.

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

Geliebte Eheschließungen bei Regierenden waren in erster Linie


politische Entscheidungen. Neben der Ehefrau (Gemahlin)
war es an der Tagesordnung, dass eine Geliebte (Mätres-
se) mitbestimmte. Sie hatte oft beträchtlichen Einfluss auf
die Politik.
HL S. 12/ Piemont Lat.: Pedimontium (am Fuß der Berge liegendes Land);
R S. 14 Landschaft in den ital. Westalpen, Oberitalien, an der
Grenze zu Frankreich und der Schweiz. Piemont gehörte
seit 1720 zum Königreich Sardinien. „Fürst von Piemont“
war der Titel der italienischen Kronprinzen.
HL S. 15/ Dosalo Eigentlich Dósolo, ein Landgut am Po gelegen, am Wege
R S. 18 nach Sabionetta, etwa 10 km von Guastalla entfernt; im
Stück Handlungsort des 3. bis 5. Aufzugs als „Lustschloss
des ­Prinzen“ (R S. 40).
HL S. 16/ Dominikaner Ein 1215 von Dominicus in Toulouse gestifteter und 1216
R S. 18 vom Papst bestätigter Mönchsorden, der sich als Bettel­
orden verstand. Bedeutende Gelehrte gingen aus ihm
hervor: ­Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Meister
Eckardt, Savonarola u. a. Verhasst und gefürchtet wurde
der Orden, nachdem ihm die Inquisition übertragen wor-
den war. Wenn der Prinz versucht, in diesem Umkreis Emi-
lia zu gewinnen, verstößt er gegen alle Regeln des Ordens,
die er kennt. Es muss sich deshalb um eine außergewöhn-
liche Leidenschaft handeln, die den Prinzen beherrscht.
HL S. 16/ Ausfertigung Bedeutet in beiden Fällen, den endgültigen und förm-
R S. 19 f. anstehen las- lichen Abschluss aufzuschieben. Die Verwendung der
sen/Anstand zusammengehörigen Begriffe „anstehen/Anstand“ in zwei
damit haben kurz nach­einander behandelten Vorgängen, aber von
bis morgen ­unterschiedlichen Personen, weist auf den grundsätzlichen
Unterschied hin: Im ersten Fall geht es um eine beiläufige
Bevorzugung, im zweiten um ein Todesurteil. Der Prinz
kann in seiner Ver­wirrung beide nicht mehr auseinander-
halten, so muss sich der Rat Camillo Rota einer prinzlichen
Weisung bedienen, um Schlimmstes zu verhüten.

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

HL S. 18/ Pirro Der Name des Dieners der Galottis ist identisch mit dem
R S. 21 Vornamen jenes Gonzaga, bei dem Matteo Bandello im
Dienste stand. Es wird erkennbar, wie Lessing gebräuchli-
che und ihm bekannte Materialien im Stück „zitierte“ bzw.
sie in das Stück einbrachte. Bandello schrieb über Lukretia
eine Novelle (1554), die den Verführer in Leidenschaft ver-
strickt, aber als unritterlichen Menschen zeigt, wie er sich
auch in Lessings Prinzen darstellt.
Glück des Es ist der Tag von Emilias Hochzeit, die auf dem Landgut
­heutigen der Galottis vorbereitet wird. Von dort kommt Odoardo.
Tages Gleichzeitig wird dramaturgisch Spannung entwickelt: Das
Glück Odoardos wird bis zum Abend in Tod und Entsetzen
umschlagen; Emilias Wunsch, „Gnade von oben zu erfle-
hen“, folgt einer Ahnung davon, spräche sie doch sonst
von „Gnade erbitten“.
HL S. 19/ Pisa Hauptstadt der italienischen Provinz Pisa in der Toskana
R S. 23
Ring In Lessings Nathan der Weise wird in der Ring-Parabel ein
„Ring von unschätzbarem Wert“ beschrieben, der den ed-
len Menschen auszeichnen soll. Hier ist ein vergleichbarer
Ring nur schwer zu verkaufen, „er war zu kostbar“ und
machte die Verbrecher verdächtig.
Pistolen Ehemalige spanische, von Philipp II. eingeführte Gold-
münze, zuerst unförmig, seit 1730 rund. Die deutsche
Pistole war fünf Taler Gold wert. Der Verkauf eines Rings
brachte den Räubern ebenso viel Geld ein wie Lessing im
gesamten Jahr als Bibliothekar in Wolfenbüttel erhielt (600
Reichstaler ­Silber).

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

HL S. 21/ in seinen Es ist der von Rousseau beeinflusste Plan eines natürli-
R S. 25 väterlichen chen Lebens, in dem die Freiheit und Gleichheit des Men-
Tälern sich schen wiedererlangt wird. Dieser aufklärerische Stand-
selbst zu punkt steht im Gegensatz zur höfisch-feudalen Welt und
leben ihren Zerstreuungen. In Diderots Enzyklopädie finden sich
mehrere Artikel, die mit Appianis Prinzip korrespondieren,
so der unter dem Stichwort „Natürliche Freiheit“: „(…)
natürlicherweise werden alle Menschen frei geboren; das
heißt, sie sind nicht der Gewalt eines Herrn unterworfen,
und niemand hat auf sie ein Eigentumsrecht. Aufgrund
dieses Zustandes haben alle ­Menschen von Natur aus
das Vermögen, zu tun, was ihnen gut erscheint, und nach
ihrem Willen über ihre Handlungen und ihre Güter zu
verfügen (…).“
HL S. 22/ Grimaldi Der Kanzler des Prinzen stammt aus einem namhaften
R S. 26 Adelsgeschlecht Genuas, zu dem auch die heutige Fürs-
tenfamilie von Monaco gehört; allerdings ist die männliche
Linie derer von Monaco 1731 erloschen. Grimaldis waren
Seeoffiziere, Admirale, päpstliche Würdenträger und Po-
litiker in genue­sischen oder päpstlichen Diensten, aber
auch Abenteurer und Seeräuber.
HL S. 23/ sündigen Emilia gesteht, dass sie die Sünde als Möglichkeit gespürt
R S. 28 hat. Der Antrag des Prinzen, der zwar lasterhaft ist, hat sie
nicht unberührt gelassen. „Strafbares“ sieht sie deshalb
an sich nicht. Das Gespräch, das beide geführt haben, ist
geheim­nisvoll und scheint in vollkommener Verwirrung
geführt worden zu sein. Es wird zum ständigen, erregen-
den Moment des Trauerspiels; ein jeder weiß anderes von
ihm zu berichten.
HL S. 24/ das heilige die heilige Messe
R S. 28 Amt
HL S. 25/ Die Furcht hat Diesen Satz hatte Lessing ursprünglich der Emilia zuge-
R S. 30 ihren beson­ dacht, die damit sagen sollte, „dass sie nun wohl sehe, die
deren Sinn Furcht habe sie getäuscht“39.

39 Brief an Karl Lessing vom 10. Februar 1772. In: Werke, 9. Band, S. 497 als Antwort auf einen
Brief Karl Lessings (vgl. ebd., S. 498).

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

HL S. 27/ das Muster Natürlichkeit und moralisches Tun, Einhaltung der Nor-
R S. 32 f. ­aller männ­ men und Verantwortungsbewusstsein sind darunter zu
lichen Tugend verstehen; weibliche Tugend hat ihr Zentrum in jungfräu­
licher Unberührtheit, bezieht aber mehr ein.
Perlen Das Wort ist sehr viel älteren Ursprungs und gehört zum
­bedeuten mythischen Aberglauben. Karl Lessing merkte an, dass
Tränen sich dieser Satz Emilias nicht mit ihrer Strenggläubigkeit
als Katholikin vertrage.40 Lessing verteidigte sich ge-
schickt und meinte, Emilia glaube wie ihre Mutter nicht
an den Traum, habe aber größeren Geschmack an Perlen
denn an Steinen. So macht sie ihren Verlobten darauf auf-
merksam, in Zukunft keine Geschmeide mit Steinen, son-
dern mit Perlen zu schenken. Eine Variation des Verhält-
nisses von Freuden und Tränen findet sich auch im Psalm
126: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“
Der Satz wird heute als Sprichwort, meist nach Lessings
Stück, in Sammlungen geflügelter Worte zitiert.
HL S. 28/ Locken, wie Das Haar wird natürlich getragen und nicht durch eine
R S. 33 f. sie die Natur ­Perücke verdeckt. Der Begriff „Natur“ meint die gesamte
schlug ­Lebensauffassung. Appiani ist der Vertreter dieser „Na-
tur“.
Perlen Appiani nimmt den Satz erneut auf; er wird dadurch zum
­bedeuten Leitmotiv des Stücks.
Tränen
die Zeit nur Der Mensch in der Zeit wird zu einem Problem der Auf­
­außer uns klärungsphilosophie, weil seine Endlichkeit beschreibbar
wäre wird und die Unendlichkeit an Bedeutung verliert.
HL S. 29/ Herzog von vermutlich der Herzog Hercules III.
R S. 35 Massa

40 Vgl. Brief Karl Lessings vom 3. Februar 1772 an Lessing. In: Werke, 9. Band, S. 498: „Sie ist
­Katholikin. – Mag sie doch! Sie redet aber von den Bedeutungen der Perlen im Traum.“

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3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

HL S. 31/ Vasall eines Appiani hat seinen Besitz im Fürstentum Piemont und ist
R S. 37 f. größern Herrn so Vasall des dortigen Herrschers, der in der Regel der
Kaiser, nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation 1806 der italienische Kronprinz war.
Gleichzeitig ist aber „größern Herrn“ eine Metapher, die
für Gott oder Göttliches verwendet wird. Sie findet sich
auch in Dantes La Vita Nuova („Ecce deus fortior me, qui
veniens dominabitur mihi.“)41 und meint den Gott der
Liebe. Appiani ist Vasall des Kaisers und im Angesicht der
Hochzeit Vasall des Gottes der Liebe; beide verhindern,
dass Appiani den Prinzen als Herrn anerkennen kann.
ich fodere Nachdem Appiani Marinelli mehrfach als Affen bezeichnet
Genugtuung/ hat, fordert ihn dieser zum Duell. Appiani bietet ihm trotz
Spaziergange der Hochzeit den „Spaziergang“ sofort an; er ist sich sei-
nes Sieges sicher.
HL S. 33/ beschied er Marinelli lügt erneut. Appiani wollte sich sofort duellieren;
R S. 41 mich Marinelli aber erzählt, es wäre acht Tage nach der Hoch-
zeit festgelegt worden. So will er dem Duell entgehen, da
er um den bevorstehenden Tod Appianis weiß.
HL S. 34/ Sie kam Der Prinz schildert erstmals das Gespräch mit Emilia und
R S. 41 ­meinem übertreibt in Ermangelung aussagefähiger Inhalte maßlos.
­Verlangen (…)
selbst Mit fünfzig Leuten, selbst dabei der Fünfzigste, auch: mit
­funfziger einer Überzahl von Leuten. Erhalten geblieben in Wendun-
gen wie „Fuffziger“ (mundartlich) oder „falscher Fuffzi-
ger“ für einen unaufrichtigen Menschen.
HL S. 36/ nicht so ganz Der Überfall geschah heimtückisch. Hätte Appiani einem
R S. 43 unbereitet einzelnen Gegner gegenübergestanden, wäre er Sieger
geblieben. Das Duell bekommt nun eine dramaturgische
Funktion. Der Mörder Angelo muss anerkennen, dass
Appiani gut gekämpft hat. Aber nachdem er den angrei-
fenden Nicolo besiegt hatte, wurde er von Angelo heim­
tückisch erschossen.

41 Dante Alighieri: Das neue Leben. Italienisch und Deutsch. Leipzig: Insel Verlag 1965, S. 7.

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HL S. 37/ nicht ein Wort Der Prinz gibt hier seine zweite und wahrhaftigere Schil-
R S. 45 auspressen derung des Gesprächs mit Emilia. Es wird mehrfach
beschrieben (II,6; III,1; IV,5; IV,7), aber stets anders. Nach
dieser Schilderung hat Emilia nicht geantwortet; nach
einer früheren Beschreibung haben beide miteinander
gesprochen, können sich aber nicht erinnern, was sie sag-
ten. Die Spione der Orsina haben dagegen den Wortlaut
des Gesprächs gehört. Dem Gesprächsinhalt am nächsten
dürfte des Prinzen Darstellung gegenüber Emilia kommen
(vgl. S. 49).
HL S. 38/ ein glückli- Eine Zusammenstellung sich scheinbar widersprechender
R S. 46 ches Unglück Begriffe, Oxymoron oder auch Contradictio in adjecto (Wi-
derspruch in sich selbst) genannt; stilistische und rhetori-
sche Figur nach dem Modell „beredtes Schweigen“.
HL S. 40/ sprachlose Der Prinz bietet eine dritte Version des Gesprächs mit
R S. 49 ­Bestürzung ­Emilia am Morgen, die der Wirklichkeit am nächsten kom-
men dürfte. Es wird deutlich, dass er ihr eine Liebeserklä-
rung gemacht hat.
Entzückungen Der Prinz verspricht Eindeutiges, Liebeslust und Unter­
haltung. Obwohl Emilia ahnt, dass ihr Bräutigam gerade
getötet worden ist, lässt sie sich zu diesen „Entzückungen“
führen, „nicht ohne Sträuben“. Das ist das Verhalten eines
noch jungfräulichen Mädchens, das damit seinen Wert er­
höhen, gleichzeitig aber Takt und Sitte kundtun möchte; es
ist nicht der Kampf der verwitweten Braut um ihre Tugend,
der konsequenter sein müsste.
verhindern, Marinelli wird dafür sorgen, dass sie nicht gestört werden.
dass sie nicht Noch im 18. Jahrhundert folgte einem Verb mit negativer
gestöret Bedeutung eine eigentlich überflüssige, pleonastische
­werden ­Negationspartikel, in diesem Falle „nicht“.
HL S. 41/ etwas von Ist die Tochter die Mätresse des Prinzen, darf sich ihre
R S. 50 einer Schwie- Mutter „etwas“ als Schwiegermutter fühlen; tatsächlich
germutter zu und juristisch wird sie es nie, denn der Prinz wird Emilia
sein nicht heiraten: Sie ist als Mätresse vorgesehen und wäre
außerdem nicht standesgemäß, verglichen etwa mit der
Prinzessin von Massa. Nicht einmal für Appiani wäre sie
standesgemäß gewesen; deshalb wollte sich Appiani aus
dem Fürstentum zurückziehen.

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HL S. 43/ Es ist klar Emilias Mutter durchschaut Schritt für Schritt den An-
R S. 53 schlag und die Verantwortlichen, von denen Marinelli zu
ihrem Hauptfeind wird.
HL S. 46/ Vorsatz und Marinelli wendet zeitgenössische philosophische
R S. 55 Zufall: alles ist ­Positionen, die materialistischer Herkunft sind (Voltaire,
eins Diderot), pragmatisch und populistisch auf sein Verbre-
chen an. Das Gespräch um Zufall oder Schicksal („Nichts
unter der Sonne ist Zufall“, R S. 62) wird im dritten und
vierten Auftritt des vierten Aufzugs von Marinelli und
­Orsina weitergeführt.
HL S. 47/ Grund meines Dass das Verbrechen schnell bekannt sein wird, liegt am
R S. 57 Gebäudes un- Prinzen. Marinellis Vorbereitungen gingen davon aus, dass
tergrub weder Emilia noch ihre Mutter von der Liebe des Prinzen
wussten. Da der Prinz aber nach Marinellis Festlegung das
Gespräch mit Emilia in der Kirche suchte, ist von der Öf-
fentlichkeit zu schlussfolgern, dass des Prinzen Verlangen
der Grund des Verbrechens war. Erneut wird das Gespräch
zum dramaturgischen Ereignis.
HL S. 49/ das Gequieke, Die Geräusche, die die Orsina hört, stammen vom Prinzen
R S. 60 das Gekreu- und Emilia. Die Orsina, die Erfahrung in der Liebe und mit
sche dem Prinzen hat, beschreibt die Geräusche einer Liebes-
und Verführungsszene.
HL S. 50/ nur gegen ein Das sprachliche Spiel mit dem Wort „Ding“ wächst sich
R S. 61 Ding zur philosophischen Sentenz aus, die auch begründet,
warum man, auch Marinelli (vgl. R S. 61), die Orsina „eine
Philosophin“ nennt. Vorbild ist dabei Kant gewesen, auf
dessen ­philosophische Ansichten, die die Kritik der reinen
Vernunft vorbereiteten, Lessing 1764 in den Literaturbrie-
fen einge­gangen war. Auch der Ton ist von jener ironi-
schen Heiterkeit, deren sich Kant zu dieser Zeit bediente.

78 Gotthold Ephraim Lessing

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HL S. 51/ Über den Das Zusammentreffen zwischen der Orsina und dem
R S. 61 Zufall Prinzen auf Dosalo geht auf ein doppeltes Missverständnis
zurück. Im Gespräch mit Marinelli reflektiert die Orsina
über den Zufall und erklärt schließlich, das „Wort Zufall
ist Gotteslästerung“ (R S. 62). Es ist die Weiterführung des
Gedankens von Mari­nelli, der seine Verbrechen ähnlich zu
rechtfertigen versuchte. Diese Ansicht vom Zufall gehört
zu den Grundansichten der europäischen Aufklärung: Die
Welt ist ein Gefüge, das zwingend und logisch funktioniert
und so die beste aller möglichen Welten darstellt. Haupt-
vertreter dieser Ansicht war Leibniz mit seiner Theodizee
(1710); lustig gemacht hat sich über diese beste aller Wel-
ten Voltaire in seiner Erzählung Candide.
HL S. 54/ ein Langes Erneut wird über das morgendliche Gespräch zwischen
R S. 66 und Breites dem Prinzen und Emilia in der Kirche berichtet. Diesmal
gesprochen haben beide „ein Langes und Breites gesprochen“. Die
Kundschafter der Orsina sahen und hörten das Gespräch.
Ist Ihnen auch Nochmals wird das Gespräch über den Zufall weiterge-
das Zufall? führt; Orsina triumphiert über Marinelli. Nachdem sie nun
alle Details kennt, kann sie lückenlos Mord, Entführung
und Verführung dokumentieren. Was scheinbar zufällig
aussieht, erweist sich als Plan: „Ich reime (…) doch noch
ziemlich zusammen, was zusammengehört“ (R S. 66).
HL S. 57/ Sie hatten Erneut geht es um das Gespräch am Morgen. Die Orsina
R S. 70 nichts Kleines stellt eine direkte Beziehung zwischen der Begegnung am
abzureden Morgen und dem Aufenthalt auf dem Lustschloss des Prin-
zen her. Der Prinz und Emilia hätten mit „Vertraulichkeit“
und „Inbrunst“ miteinander gesprochen. Sie redet Odo-
ardo ein, der Prinz und Emilia hätten den Plan von Mord
und Entführung gemeinsam abgesprochen. Odoardo weist
das zurück, wenn auch, wie aus anderen Aussagen des
Prinzen erkennbar ist, der Prinz sich durchaus Hoffnungen
machen durfte.

EMILIA GALOTTI 79
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HL S. 58/ in Bacchantin- Diese Zusammenstellung ist widersprüchlich. Die (römi-


R S. 71 nen, in Furien schen) Furien entsprechen den griechischen Erinnyen; es
sind geheimnisvolle Beschützerinnen der sittlichen Ord-
nung, meist in der Dreizahl auftretend, die auch als Rache-
göttinnen gelten. Bacchantinnen sind die Teilnehmerinnen
an orgias­tischen Feiern zu Ehren des Weingottes Bacchus.
Die Orsina hat den Prinzen geliebt und war als seine
­Mätresse glücklich; umso größer wird nun ihr Hass.
HL S. 61/ Durchlaucht Dem lat. Serenitas oder Serenissimus nachgebildeter Titel,
R S. 74 f. der schon römischen Kaisern, fränkischen und gotischen
Königen beigelegt und für höher erachtet wurde als „Ho-
heit“. Im Deutschen wurde es seit dem 15. Jh. als Lehn-
übersetzung von lat. „perillustris“ im Titel der Häupter
fürstlicher Häuser üblich.
Neidhart Neider, Hasserfüllter; bezieht sich auch darauf, dass sich
Odoardo dem Anschluss Sabionettas an Guastalla wider-
setzte (vgl. I,4, R S. 8). Lessing hatte ursprünglich sogar
formuliert: „der alte garstige Neidhart“42.
HL S. 62/ Deine Sache Odoardo hofft auf göttliche Bestrafung nach 5. Moses, 32,
R S. 75 wird ein ganz 35: „Die Rache ist mein; ich will vergelten.“ Odoardo hält
anderer zu Emilia für unberührt, was sie möglicherweise nach den
­seiner ma- Stunden mit dem Prinzen nicht mehr ist.
chen
HL S. 67/ Sibylle Bezieht sich auf die Gräfin Orsina, die den von Odoardo
R S. 82 ­erinnerten Satz „Wer über gewisse Dinge seinen Verstand
nicht verliert“ gesagt hat (R S. 69). Die Sibyllen stammen
aus dem Orient und sind in der Antike Seherinnen, die zu-
meist unheilvolle Ereignisse vorausschauen.
HL S. 69/ Haarnadel Emilia will sich, nachdem ihr der Vater den Dolch entwun-
R S. 85 den hat, mit einer Haarnadel das Leben nehmen. Dieses
Vorhaben entspricht der Überlegung Hamlets: „For who
would bear, when he himself meight his quietus make with
a bare bodkin“, in der Schlegel’schen Übersetzung: „Wenn
er sich selbst in Ruhstand setzen könnte/Mit einer Nadel
bloß?“ (Hamlet III/1).

42 Brief vom 1. März 1772 an Karl Lessing. In: Werke, 9. Band, S. 503.

80 Gotthold Ephraim Lessing

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3.6 Stil und Sprache

3.6 Stil und Sprache

Zusammen­
Das bürgerliche Trauerspiel nutzt statt des Verses die Prosa. fassung

Lessings Sprache ist rational bewusst eingesetzt und bis


zum letzten Wort verzahnt. Wortwahl und nichtsprachliche
Bestandteile zeigen Merkmale des Sturm und Drang. Ein
Mittel, Sätze miteinander zu verbinden, ist das „Scharnier“
als spezielle Form der Wiederholung.

Das bürgerliche Trauerspiel hat sich vom Vers der klassizistischen Prosaform
Tragödie, dem Alexandriner, gelöst und der Prosa zugewandt. Die
ist bereits von der Gefühlsintensität des Sturm und Drang beein­
flusst. Brüche in Grammatik und Stil, Wiederholungen und Ellip­
sen, nichtsprachliche Zeichen und Affektausbrüche prägen sie und
verhindern eine normgerechte Diktion. Einige auffallende Kenn­
zeichen der Sprache sind:

FORM ERSCHEINUNG TE X TBELEG / FUNK TION

Prosa verbunden mit nichtsprach­ rhythmisiert


lichen Mitteln
Gedankenstriche, Elisionen, „Ihr Bild! – mag! – Ihr Bild“
Ausrufe; vor allem in Mono­ (HL S. 6/R S. 7); siehe auch
logen (z. B. HL S. 62/R S. 75) HL S. 62/R S. 75.
Wort in Handlung umgesetzt Wiederkehr als Wiederholung
Emilia, Bruneschi und Galotti „eine gewisse Emilia Galotti“
(HL S. 5/R S. 5) (HL S. 13/R S. 15)

EMILIA GALOTTI 81
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Leben und Werk -interpretation

3.6 Stil und Sprache

Dia­loge treiben die Handlung voran Bewegung


Komplott wird geschmiedet Prinz will abreisen
(HL S. 11 ff./R S. 12) (HL S. 15/R S. 18)
Auslassungen, Andeutungen keine Konversation
beschreiben Widersprüche äußere Ereignisse, Leiden-
schaft
Monologe besinnliches Pathos, Selbstbestimmung
­Haltepunkte
Claudia erkennt ein Konflikt- Bewunderung für Odoardo
bündel (HL S. 23/R S. 27)
beschreiben Verhaltens­ innere Zustände, Vernunft
möglichkeiten

Genauigkeit der Sprache


Die sprachliche Gestaltung des Stückes ist, wie die Handlung, bis
ins letzte Detail logisch geordnet und epigrammatisch verdichtet.
Jedes Wort hat eine Funktion für den Satz, jeder Satz für den Di­
alog der Szene. Wie oft bei Lessing findet sich eine Art akusti­
Strukturierung sche Strukturierung durch häufig verwendete Gedankenstriche,
Frage- und Ausrufezeichen, die eine ordnende, keine sprachliche
Funktion haben. Dazu gehören beschreibende Sätze, die sich von
der gesprochenen Sprache abheben und eine epische Funktion
bekommen: Regieanweisungen und Gegenstandsbezeichnungen
(„Sie fährt mit der Hand nach dem Haare, eine [= Nadel] zu suchen,
und bekommt die Rose zu fassen“, HL S. 70/R S. 86). In ihrem Um­
fang werden sie erst hundert Jahre später im Naturalismus üblich.
Auch in anderer Weise ist Lessings Sprache modern: „Ihr Charak­
ter offenbart sich (…) in der Ganzheit ihrer dialogischen Struktur,
worin etwa eine positive Formulierung ebenso ihr Gegenteil – et

82 Gotthold Ephraim Lessing

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3.6 Stil und Sprache

vice versa – bedeuten kann“ 43 Das wird in der Emilia Galotti beson­
ders in Marinellis Bemerkungen erkennbar (vgl. HL S. 12/R S. 14
und öfter).

Das „Scharnier“
Bis zur Perfektion geführt und am häufigsten angewandt wird Wiederholung
die Wiederholung. Dabei verzichtet Lessing auf Nebensätze, vor als Prinzip

allem auf Relativsätze, um schnelle Anschlüsse zu erreichen und


eine sich rasant bewegende Handlung zu suggerieren, „wodurch
die Dynamik des Dialogs und ganz allgemein die des diskursiven
Progresses unterstrichen wird“44. Unter den Wiederholungen er­
scheint eine Figur, für die ein Literaturwissenschaftler den Begriff
„Scharnier“45 eingeführt hat: Zwei Sätze greifen ineinander und
werden durch ein übereinstimmendes Wort, um das sich der Di­
alog bemüht, verbunden. Emilia Galotti ist voll davon. Spricht der
Kammerdiener von einem Brief der Gräfin Orsina, beginnt der
Prinz seine Antwort mit der Frage „Der Orsina?“ (HL S. 5/R S. 5).
Begegnen sich Claudia und Odoardo Galotti, folgen aufeinander
„Schritte“ und „Fehltritt“ (HL S. 18/R S. 21 f.) usw. Nicht nur ein
Wort, auch Satzteile und Sentenzen („Eine Rose gebrochen, ehe
der Sturm sie entblättert“, HL S. 70/R S. 87) bilden solche „Schar­
niere“, die Sätze und szenische Abläufe miteinander verketten und
dabei ähnliche Sprachstrukturen bilden. In einigen Szenen häu­
fen sich solche Beziehungen derart, dass ganze Abschnitte daraus
bestehen. So versichert sich Marinelli (4. Aufzug, 5. Auftritt, HL
S. 52/R S. 63), dass die Gräfin nun selbst gehört habe, was sie ihm

43 Claus Träger: „Heute ein Dichter: morgen ein Königsmörder“. Lessing und Goeze. In: Fausto
Cercignani (Hg.): Studia theodisca. Gotthold Ephraim Lessing. Milano: Edizioni dell‘ Arco, 1994,
S. 148. Träger gibt zahlreiche Hinweise zur entsprechenden Sekundärliteratur.
44 Vgl. dazu: Peter Heller: Dialektik und Dialog in Lessings Nathan der Weise. In: Klaus Bohnen
(Hg.): Lessings Nathan der Weise. Darmstadt 1984, S. 223.
45 Nach Bodmer (1924), dargestellt bei Heller, a.a.O., S. 223.

EMILIA GALOTTI 83
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Leben und Werk -interpretation

3.6 Stil und Sprache

nicht glauben wollte. Diese fragt sich selbst „Hab’ ich? hab’ ich
wirklich?“ und Marinelli antwortet „Wirklich“; danach wiederholt
die Gräfin eine Passage aus der vorigen Szene, die sie dann noch­
mals als Fragefolge anschließt. Dadurch wird ein Satz des Prinzen
(„Ich bin beschäftiget“, HL S. 52/R S. 63) dreimal wiederholt. Es
ergibt sich eine Intensivierung des Vorgangs, denn Entrüstung
und Enttäuschung der Orsina schlagen in Wut und Rache um. Ihre
Entscheidungen werden psychologisch motiviert.

Motive und Symbole


Geldsymbolik Unter den Motiven und Symbolen fällt die Geldsymbolik besonders
auf. Sie spielte in Lessings Werken wie auch in seinem Leben eine
große Rolle. In Emilia Galotti drängt sich diese Geldproblematik in
die Kunstdebatte zwischen Prinz und Maler; sie signalisiert Gefah­
ren, die aus Geldsorgen der Künstler entstehen. Gefahren entste­
hen auch dadurch, dass mit Geld alles zu erreichen ist. Nicht nur
Contis Bild der Emilia Galotti kann der Prinz kaufen („Dich hab’
ich für jeden Preis noch zu wohlfeil“, HL S. 10/R S. 12), sondern
Marinelli rät ihm, Emilia selbst aus zweiter Hand zu kaufen, da sei
sie noch „viel wohlfeiler“ (HL S. 14/R S. 17). Der Mensch und seine
Liebe werden zur Ware; unterwirft er sich diesem Warenfetischis­
mus nicht, muss er untergehen. Unterwirft er sich ihm, opfert er
Menschsein und Gefühle. Kunst, Liebe, Tugend und Mensch wer­
den vom Geld bestimmt, verlieren dadurch ihren ursprünglichen,
„natürlichen“ Wert und werden zur Ware. Das Geld ist der polare
Gegensatz zur „Natürlichkeit“.

84 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

3.7 Interpretationsansätze

3.7 Interpretationsansätze

Zusammen­
Geringe Bildung und mangelndes Geschichtsbewusstsein fassung

erschweren den Zugang zu dem Stück. Zunehmende Lücken


in den Geschichtskenntnissen führen zur Verkennung des
Stückes und seiner Aktualität. Auch als Beispiel für Werte­
entwicklung ist es nach wie vor beispielhaft. Besondere Auf­
merksamkeit sind Mäzenatentum und Mätressenwesen zu
schenken. Aktuelle Bezüge wie die zu Struensee, mit dem
Lessing sympathisierte, müssen mitgedacht werden.

Liest man die Meinungen vieler Schüler im Internet, ist man ent­
setzt. Sie machen ihr geringes Wissen zum Maßstab der Beurtei­
lung: Dass sie das Stück langweilig finden, ist noch das mildeste
Urteil, obwohl es doch mehrere kriminalistisch anmutende Vorgän­
ge (Tod Appianis, Verführung Emilias, Tötung Emilias) gibt. Dass
sie ihm kein historisches Verständnis entgegenbringen, zeigt ein
geringes Traditions- und Geschichtsbewusstsein. Die Entwicklung
moralischer Werte ist ihnen fremd. Dabei ist das Grundproblem,
durch Macht sich Menschen gefügig zu machen und sie zu entwür­
digen, keineswegs aus der Welt verschwunden: Nur sind an die
Stelle des Prinzen und Emilias andere Konstellationen getreten.

EMILIA GALOTTI 85
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Leben und Werk -interpretation

3.7 Interpretationsansätze

Deutungsansätze

Emilias Tragik aus gegensätzlichem Grund: als Jungfrau, als Mätresse


E
 milia: weiblicher Vorname, italienische Landschaft,
römische Traditionen, absolutistische Herrschaft
Verkörperung der Natürlichkeit;
Ehe mit Appiani wäre Erfüllung von Rousseaus „Zurück zur Natur“
Modernität, aufklärerische Positionen, Tugend als Wert,
bürgerliches Denken, zeitnahes Stück
Unterschiede zu Vorlagen über Virginia und Lukretia:
altrömische und aktuelle Widersprüche
Emilia als Modell für die Kunst: Conti und die Schönheit
Das Beispiel Struensees und seine Rolle für Lessing
Emilias Beziehung zur Macht, zur Gesellschaft (Grimaldi) und zur Familie

Historischer Stoff und Gegenwartsstück


Ihren Namen erhielt die Landschaft „Emilia“, die wie die Titelge­
stalt heißt, nach der berühmten „Via Aemilia“ der Römer, einer
mächtigen Verkehrsader, die für ständige und schnelle Entwick­
lung sorgte. Es spricht nichts dagegen, in Emilia Galotti die Ver­
körperung jener Landschaft zu sehen, deren Natürlichkeit und Ge­
schichtlichkeit im Machtkampf feudal-absolutistischer Herrscher
unterging. Nur Appianis Piemont gehört im Stück nicht zur Emilia.
Piemont und Appiani bedeuten Natürlichkeit, Freiheit und Selbst­
verwirklichung. Marinelli bringt es in die ironische Beschreibung
„Gämsen zu jagen, auf den Alpen; und Murmeltiere abzurichten“
(HL S. 12/R S. 14). Der Höfling Marinelli kann die Freiheit des Na­
türlichen nicht begreifen. Die Trauung mit Appiani soll auf dem
Landgut in Sabionetta stattfinden, also nicht im direkten Machtbe­
reich des Prinzen. Emilia soll nach Piemont gehen, in die Natür­

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geschichte aufgaben

3.7 Interpretationsansätze

lichkeit der Bergwelt. Repräsentiert der Prinz eine überzüchtete


Kunstwelt, der Natürliches fremd geworden ist, so erlebte Emilia,
käme sie denn an, in Piemont Natürliches, bei dem Mensch und
Natur eine harmonische Einheit eingehen könnten. Ihr Tod und der
Appianis deuten an, dass eine solche Natürlichkeit Utopie blieb.
Lessings Stück nahm Zeitgeschichte auf; es war ein zeitnahes, Zeitgeschichte
fast ein Gegenwartsstück46. Hatte die Tötung der Virginia zum Sturz
des Diktators geführt, so bleibt Emilias Tötung folgenlos. Es gibt in
Lessings Stück kein Volk, es gibt keine aufbegehrende Kraft und
deshalb gibt es auch keine Änderung. Die Gunst, die die Deutschen
dem Stück schenkten, entstand daraus, dass Emilia eine reduzierte
Virginia war und damit deutschen Verhältnissen und geschichtli­
chen Ergebnissen entsprach. Emilia Galotti wurde ein typisch deut­
sches Stück, weil es die Grenzen deutscher Handlungsfähigkeit
und politischer Entwicklungen ausstellte. Es war aber dennoch
„ein politisches Dokument, ein soziales Vermächtnis“47.

Das Mäzenatentum und der absolutistische Herrscher


Das Mäzenatentum des Prinzen ist mit seiner Genrespezifik (Ma­
lerei) typisch für das Italien des 18. Jahrhunderts. Man hat oft be­
hauptet, dass Lessing sein Stück nicht in Deutschland habe spielen
lassen dürfen und „die Verlegung der Szene nach Italien“ sei „un­
vermeidlich“ gewesen.48 In Lessings Briefen gibt es dazu keinen
Hinweis. Italienische Namen und Orte in dieser Zeit wurden kaum
als Verfremdung verstanden, sie gehörten zum Alltag. Schließlich
hatte Lessing selbst Sehnsucht nach Italien und seine „alten Ge­

46 Einige Interpreten nehmen die Renaissance als Handlungszeit an. Sabionetta wurde jedoch 1703
verfügbar, und der Prinz erhob daraufhin Ansprüche, denen sich Galotti widersetzte (vgl. R S. 8).
Einige Jahre später spielt das Stück. Es ist also zu Lessings Zeit ein Gegenwartsstück.
47 Drews, S. 103.
48 Ursula Wertheim: Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ und das „Henzi“-Fragment. In: Werner
(Hg.). Lessing 1979, 1980, 1. Band, S. 208.

EMILIA GALOTTI 87
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Leben und Werk -interpretation

3.7 Interpretationsansätze

danken, in Italien zu leben und zu sterben“49. Den Freunden teil­


te er nach dem gescheiterten Versuch eines Nationaltheaters in
Hamburg mit, dass er von dort aus nach Italien gehen wolle. Es sei
ihm gleich lieb wie Deutschland, nur wäre es lustiger und erbauli­
cher, besonders, wenn man arm sei. Als Leopold, Prinz von Braun­
schweig, ihn als Begleiter auf eine Italienreise mitnehmen wollte,
stimmte Lessing freudig zu, um „wenigstens einen Vorgeschmack
von Italien“ zu bekommen.50
Lessings Stoffe Lessing nahm sich nicht allein solcher sozialethisch geprägter
Stoffe an. Im Jahr zuvor hatte Marie Sophie von La Roche mit der
Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) ebenfalls die bürger­
liche Tugend thematisiert, die sich gegen adlige Mätressenwirt­
schaft zu behaupten hat. Nur endet der Roman in einer glücklichen
Lösung: Tugendhaftigkeit wird belohnt. Zwei Jahre nach Lessings
Emilia Galotti erschien J. M. R. Lenz’ Der Hofmeister (1774), Tu­
gend und Sinnlichkeit begegneten sich auf sehr viel radikalere
Art im ostpreußischen Insterburg51. Werke Gellerts, Hermes’ und
Hippels wären zu erwähnen. Es war wie üblich im literarischen
Prozess: Eine Vielzahl von Werken hatte sich dem aktuellen Thema
der bürgerlichen Tugend und ihrer Spannung zu barocker, feuda­
ler Lebenslust genähert; Lessing bot, in Kenntnis dieser Texte und
ihrer Konflikte, eine geniale Zusammenfassung unter Benutzung
der historischen Grundkonstellation. Die Verlegung der Handlung
nach Italien verhüllte nicht das besondere, deutsche Fürstentum
und damit die Einmaligkeit eines solchen Vorgangs, was bei deut­
schen Namen eingetreten wäre, sondern stellte die Thematik der
Vernichtung bürgerlicher Tugend durch ungehemmte, feudale Sin­

49 Brief vom 7. Mai 1775 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 640.
50 Brief vom 7. Mai 1775 an Karl Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S 640.
51 Vgl. Rüdiger Bernhardt: Interpretation zu J. M. R. Lenz: Der Hofmeister, Hollfeld, 3. Auflage 2010,
S.  20 ff., 77 ff.

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3.7 Interpretationsansätze

nenlust als europäische Erscheinung vor, die Lessing durch seine


dramaturgischen Studien kannte.
Eine zeitgenössische Beziehung ergab sich z. B. aus Vorgän­ Graf von
gen in Dänemark um den Grafen Johann Friedrich von Struensee ­Struensee

(1737 –1772). Wenn Lessing in dieser Zeit „Dänemark“ schrieb,


meinte er das Aufbegehren gegen despotische Umstände, wie es
in Deutschland noch ausstand. Dabei spielte sicher eine Rolle, dass
Struensee als Sohn eines Predigers 1737 in Halle (Saale) bürger­
lich geboren worden war. Struensee versuchte in kurzer Zeit (von
1771 bis zu seiner Hinrichtung am 28. April 1772) ein gewaltiges
Pensum aufklärerischer Politik, 1800 Kabinettorders, durchzuset­
zen: Aufklärung als Pressefreiheit, Verringerung der Abgaben, Re­
formen des Unterrichts, des Studiums und der Krankenhäuser, die
Gleichheit vor dem Gesetz, auch unehelicher Kinder; Frondienste
der Bauern wurden eingeschränkt. Durch diese Reformen verfein­
dete sich Struensee mit Adel und Geistlichkeit; das Volk verärger­
te er, als er das Schnapsbrennen verbot. In ­Lessings Briefen an
Eva König, die während der Abschlussarbeiten an Emilia Galot-
ti geschrieben wurden, spielten die Vorgänge um den Reformer
eine Rolle. Als Struensee gestürzt wurde, war Lessing interessiert,
was man ihm „zur Last legen wird“52. Struensee hatte jenen Mi­
nister Bernstorff gestürzt, der Klopstocks Fürsprecher war. Nach
Struensees Verhaftung galt Lessings Interesse den in die Ausei­
nandersetzung verstrickten Freunden, vor allem Helferich Sturz
(1736 –1779), der in Struensees Fall verwickelt wurde (Lessing
schrieb an Eva König: „Niemanden bedaure ich dabei mehr, als
Sturzen.“53), später aber vom dänischen Hof wieder angestellt
wurde. Struensees Schicksal beschäftigte Lessing sehr: Sollte das

52 Brief an Eva König vom 31. Januar 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 492.
53 Ebd.

EMILIA GALOTTI 89
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Leben und Werk -interpretation

3.7 Interpretationsansätze

Todesurteil vollzogen werden oder blieb er, wie Lessing hoffte, am


Leben. Als schließlich das Unerwartete, die Vollstreckung des Ur­
teils, eintrat, war es für Lessing erschreckend und grausam. All
das vollzog sich während der abschließenden Arbeiten an Emilia
Galotti, der Uraufführung und der ersten Reaktionen auf das Stück.
Es war nicht schwer, eine direkte Entsprechung zwischen den Vor­
gängen in Dänemark und den Ereignissen der Emilia Galotti zu
finden.
Bedeutung der An der Spitze des Personenverzeichnisses steht Emilia ­Galotti.
Namen im Stück Alle folgenden Namen stehen im Verhältnis des Privaten und
des Öffentlichen zu ihr. Odoardo und Claudia vertreten die pri­
vate Sphäre, sind „Eltern der Emilia“ (R S. 3), nicht hochrangiger
Offizier und seine Frau. Dabei vereitelt gerade die Abhängigkeit
des Obersten Odoardo vom Prinzen seine Rache, müsste er doch
seinen Befehlshaber ermorden, was wider seine militärische Ehre
wäre. Als Johann Jakob Bodmer 1778 sein Stück Odoardo Galotti
schrieb, mehr kurze Fortsetzung als Parodie Lessings, ließ er Odo­
ardo erklären: „Die Person des Prinzen ist mir heilig; ich fluche der
Hand, die sich an dem Souverän des Gesetzes vergreift.“54 Im Ver­
zeichnis folgen der Rat Camillo Rota und der Maler Conti, die wie­
derum im höfischen Bereich den Gegensatz von Macht und Kunst
vertreten, wobei die Macht das öffentliche Wirken, die Kunst das
private Wirken des Prinzen andeuten. Dass Lessing mit den Na­
men und ihrer Anordnung Hinweise für das Trauerspiel zu geben
versuchte, darf angenommen werden, hat er doch Namen in der
Dichtung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Personennamen
sind ihm wichtiges Kennzeichen der aufklärerischen Persönlich­
keit, nicht Rangbezeichnungen oder Titel.

54 Johann Jakob Bodmer: Odoardo Galotti. Vater der Emilie. Augsburg 1778, S. 17, zit. in Jan-Dirk
Müller, S. 42.

90 Gotthold Ephraim Lessing

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3.7 Interpretationsansätze

Bürgerliche Moral und Tugend


Schwierig ist die Beschreibung von Emilias Tragik. Ein Urteil dar­ Emilias Tragik
über ist abhängig davon, wie der Leser oder Zuschauer Emilia am
Ende sieht. Er kann sie, wie der Vater, für unberührt halten. Einiges
(Emilias Faszination vom Prinzen, die von der Orsina gehörten Ge­
räusche, das Erholungsbedürfnis des Prinzen zu Beginn von IV, 1,
HL S. 45/R S. 54 usw.) spricht aber dafür, dass Emilia die Geliebte
des Prinzen geworden ist. Der Prinz, der glücklich ist, nun Emilia
allein zu treffen und von Marinelli abgeschirmt zu werden, kommt
nach gemeinsam verbrachter Zeit zurück zu Marinelli, um sich zu
„erholen“ (HL S. 45/R S. 54). Wenn er die Gegenwart des Kammer­
herrn der begehrten Frau vorzieht, deutet das darauf hin, dass er
seine leidenschaftliche Sehnsucht gestillt hat. So würden auch ihre
letzten Worte erklärbar. Der Vater versteht sie nicht und hält sie
für eine „Unwahrheit“: „Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie
entblättert“. Emilia bekennt sich dazu und will alle Schuld auf sich
nehmen: „Ich selbst – ich selbst –“ (HL S. 71/R S. 87). Die gebro­
chene Rose ist das Symbol des gefallenen Mädchens. Das wäre ein
tragischer Konflikt, der sich als äußerlicher Widerspruch vollzieht,
denn sie hat keinen Wert mehr in den Umgang mit dem Prinzen
einzubringen und ist so seiner Willkür ebenso ausgesetzt wie den
Machenschaften Marinellis. Sie würde in kürzester Zeit in die glei­
che Position wie die Orsina kommen. Der Wunsch nach dem Tod
könnte so der Ausweg aus der erkannten Tragik sein, um nicht das
Schicksal der Orsina erleiden zu müssen.
Geht man aber davon aus, dass Emilia ihre Tugend vertei­
digt hat, entsteht ebenfalls ein tragischer Konflikt, der allerdings
nun ein innerlicher ist: Die ideale Möglichkeit ist durch den Tod
­Appianis zerstört, die Neigung zum Prinzen – die offenkundig
ist – darf nicht ausgelebt werden, aber sie wird Versuchen ausge­
setzt bleiben, bis ihre Anziehung verblichen ist. Emilias Tugend

EMILIA GALOTTI 91
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Leben und Werk -interpretation

3.7 Interpretationsansätze

und Odoardos Tugendverständnis sind nicht nur moralische Qua­


litäten, sondern auch politische. Es sind Merkmale des bürgerli­
chen Selbstverständnisses gegenüber des moralischen Verfalls
der Aristokratie und ihrer willfährigen Lakaien der Art Marinellis.
In der Enzyklopädie (1765) Diderots und anderer sind Moral und
Tugend eng verwandt mit „Empfindsamkeit“, finden sich in den
Abschnitten zum „Menschen“ [Mensch-Homme (Moral)] und zur
Philosophie; die Philosophie „muss die natürlichen Beweggründe
für die Handlungen des Menschen erforschen, um Mittel gleicher
Art zu finden, ihn während des vergänglichen Lebens im Diesseits
besser und glücklicher zu machen“55, während die Religion den
Menschen auf das Jenseits vorbereite.
Betrachter und Kritiker konnten sich nicht verständigen, wer
denn tragisch ende. Die einen meinten, nur Emilia käme dafür in­
frage. Andere sahen Odoardo so. Unpopulär ist sicher, auch dem
Prinzen ein tragisches Ende zuzubilligen. Dennoch ist es nicht von
der Hand zu weisen: Er hat Enttäuschungen erfahren, durch die
er seine Naivität verliert. Er hat politische Einsichten gewonnen,
die ihn an der eigenen Stellung und fürstlichen Berufung zweifeln
und damit sein Leben sinnlos werden lassen. Damit geraten un­
veränderlich geglaubte adlige Privilegien ins Wanken. Schließlich
muss er im Freund den verführenden Teufel erkennen. Mehr hat
er nicht zu verlieren, um sich seiner Bedeutungslosigkeit bewusst
zu werden. Dennoch weigert sich die Vernunft, dem Prinzen ein
tragisches Schicksal zuzubilligen.
Emilia weiß um die Möglichkeiten, durch den Erhalt der Tugend
oder durch Verteidigung der Vorstellung davon, im Falle, dass sie
nicht mehr unschuldig ist, zur Heiligen zu werden. Dann wäre ihre

55 Manfred Naumann (Auswahl und Einführung): Artikel aus der von Diderot und d’Alembert
­herausgegebenen Enzyklopädie. Leipzig: Reclam, 1984, (Universal-Bibliothek, Bd. 90), S. 532.

92 Gotthold Ephraim Lessing

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3.7 Interpretationsansätze

Entscheidung für den Tod weniger tragisch als eine Konsequenz


ihrer moralischen Haltung. Damit aber wäre sie bereits eine Erzo­
gene im Sinne von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts.
Emilias Tugend ist den Zwängen der politischen Welt und der ge­
sellschaftlich sanktionierten Verhaltensweisen ausgesetzt. Sie zu
bewahren bedarf es einer Tat, die an ein Verbrechen grenzt: Die
tragische Entwicklung ist die Folge des Zusammenpralls von feu­
daler Willkür, die bis zur Menschenverachtung in der Person Ma­
rinellis geht – für ihn ist Emilia ein käufliches Objekt –, und einem
neu entworfenen Wertekanon, der sich bürgerlich, also allgemein
menschlich, gibt.
Die Figuren, widersprüchlich und uneinheitlich, sind „gemisch­ „Gemischte“
te“ Charaktere im Sinne Lessings. Kann die feudalaristokratisch ­Charaktere im
Sinne Lessings
organisierte Gesellschaft (der Prinz) der Aufklärung und ihrer
vernünftig geordneten Zivilisation nicht gerecht werden, so feh­
len dem bürgerlichen Entwurf ökonomische und politische Macht,
um ihn zu verwirklichen. Deshalb verabsolutieren die bürgerli­
chen Ideenträger die moralischen Werte (Odoardo). Allenfalls
außerhalb der beschriebenen Zustände (Guastalla), also auf einer
utopischen Insel (Appianis „väterliche Täler“), sind vernünftige
Zustände denkbar, aber sie werden nicht lebbar, weil ihr Reprä­
sentant ­Appiani und seine Verbündete Emilia sterben, bevor sie in
ihr Refugium ziehen können.

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4. REZEPTIONSGESCHICHTE

Zusammen­
fassung Erste Wirkungen waren Zustimmungen der Freunde und
Fortsetzungsversuche. Widerspruch kam von den Berliner
Aufklärern. Nach 1789 wurden die deutschen Reaktionen,
besonders bei Herder, zwiespältiger, weil der Widerspruch
zwischen Anspruch und Ergebnissen deutlicher wurde. Be­
wunderung setzte noch einmal in der 2. Hälfte des 19. Jahr­
hunderts ein und blieb bis heute erhalten.

Reaktionen der Zeitgenossen


Zurückhaltend schickte Lessing den Freunden das Stück; einen
ließ er wissen, dass er zum Ende zu immer unzufriedener wer­
de.56 In einem Brief an Gleim hieß es: „Meinen Sie nicht, dass
ich der Mädchen endlich zu viel mache? Sara! Minna! Emilia!“57.
Bereits am Tag der Uraufführung wurde für die Presse berichtet.
Im Wandsbecker Boten kündigte Matthias Claudius in einer Notiz
vom 13. März, die am 17. März erschien, die Buchausgabe an und
sprach auch über die Aufführung. Anerkennung wurde Lessing zu­
teil; Claudius bekannte, ihm habe das Stück von Anfang bis Ende
gefallen. Er erwähnte die Anfälligkeit Emilias für die Leidenschaft
C. M. Wieland des Prinzen, die sie hindern könnte, dem Prinzen zu widerstehen.58
Christoph Martin Wieland nahm das Werk zum Anlass, um Les­
sing, der ihn einst scharf kritisiert hatte, einen Huldigungsbrief
zu schreiben.

56 Brief an Christian Friedrich Voß vom 25. 1. 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 489.
57 Brief vom 2. März 1772 an Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 509.
58 Hans Henning: Emilia Galotti in der zeitgenössischen Kritik. In: Werner (Hg.). Lessing 1979, 1980,
1. Band, S. 228.

94 Gotthold Ephraim Lessing

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Im Jahr der Uraufführung wurde das Stück an einflussreichen


Bühnen aufgeführt: Berlin, Hamburg, Wien und Danzig. Schau­
spielertruppen verbreiteten es in kleineren Städten; so spielte die
Seylersche Truppe das Stück Ende 1772 in Weimar, danach in Al­
tenburg und Leipzig. Das Stück wurde bald in den Kanon drama­
tischer Hauptwerke aufgenommen und bekam so denkmalähnli­
che Bedeutung. 1783 wurde das Prager Nostiz-Theater mit Emilia
­Galotti eröffnet; das Portal des Theaters wurde mit einem Brustbild
Lessings geschmückt.59
Es gab Versuche, Lessings Trauerspiel fortzusetzen. Der J. J. Bodmer
Schweizer Johann Jakob Bodmer (1698 –1783), als Theoretiker der
Aufklärung Gegenspieler Gottscheds, versuchte sich an Odoardo
Galotti. Vater der Emilia (1773, erst 1778 gedruckt), teils Fortset­
zung und Korrektur, teils Parodie: Appiani bleibt am Leben, er war
nur verwundet; der Prinz ist ein ehrenwerter Mann, der für das
Geschehen um Verzeihung bittet. Für die Tat liegen alle Erklärun­
gen bei Odoardo, der sie damit begründet, dass in seinem Hause
alle Söhne tapfer und alle Töchter unbefleckt sein müssen.60 Ande­
re Stücke, darunter eine Orsina von Gustav Anton zu Seckendorff
(1775 –1823), die eine Fortsetzung von Lessings Emilia Galotti sein
wollte, folgten.61 Seckendorff sah sich Lessing in vielerlei Hinsicht
verbunden: in seiner sächsischen Herkunft, in seinen Bemühungen
um die deutsche Schauspielkunst und als Professor am Carolinum
in Braunschweig.
Lessing hatte die Uraufführung und die nachfolgenden Vorstel­
lungen des Stücks nicht besucht. Er mied die Uraufführung, „weil

59 Heinz Härtl: Wirkungen Lessings und Innovationen des deutschen Dramas zwischen 1789 und
1830. In: Werner; Bausteine 1984, S. 189.
60 Johann Jakob Bodmer: Odoardo Galotti. Vater der Emilia. Augsburg 1778, S. 12. (in: Jan-Dirk
Müller, S. 42 f.)
61 Jan-Dirk Müller: ebd., S. 41 f.

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mir der Kopf davon noch warm ist, und es mir erst wieder fremd
werden muss, wenn mir das Sehen nützen soll.“62 Zuerst litt er
an Zahnschmerzen; danach zögerte er, sein Stück aufgeführt zu
sehen. Vermutungen der Sekundärliteratur 63, er hätte Sorge we­
gen der kritischen Haltung des Stückes gehabt, und es sei ihm
„doch nicht ganz geheuer zumut“64, die „Zahnschmerzen eher ein
Vorwand“65 gewesen, lassen sich nicht belegen. Man trug ihm den
Erfolg zu. An Eva König schrieb er nach der Uraufführung:

„Mein neues Stück hat er [= Döbbelin] dreimal gespielt; aber


ich habe es kein einziges Mal gesehen, und will es auch so bald
nicht sehen. Unterdessen versichern mich alle, dass die Auf­
führung ganz wider Vermuten gut ausgefallen, und dass diese
Truppe noch kein Stück so gut aufgeführt habe. Ich bin begierig
zu hören, was man in Wien davon urteilt.“66

Auch in Briefen an Freunde wie Ramler schrieb Lessing von der


vorzüglichen Aufführung. Das Stück war auch bei Hofe erfolgreich,
der die Döbbelin’sche Truppe dafür mit einem festen Engagement
ehrte; die Rezensenten lobten das Stück.
Widerspruch Widerspruch regte sich unter den Berliner Freunden. In den Re­
bei den Berliner zensionen der Aufführungen und der Buchausgabe finden sich Ein­
Freunden
wände gegen die Verwendung der italienischen Namen und Orte.67
Sie zielten auf den Widerspruch von Empfindsamkeit und mörde­
rischem Bühnengeschehen, auf den Tod Emilias, denn man fragte,

62 Brief vom 16. März 1772 an Johann Arnold Ebert. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 508.
63 Vgl. Aufklärung. Erläuterungen zur deutschen Literatur. Berlin: Volk und Wissen 1963, S. 405;
Paul Rilla und andere.
64 Paul Rilla: Lessing und sein Zeitalter. Berlin und Weimar: Aufbau, 1981, S. 234.
65 Witte, S. 18.
66 Brief vom 10. April 1772 an Eva König. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 514.
67 Vgl. Hans Henning: „Emilia Galotti“ in der zeitgenössischen Kritik. In: Werner (Hg.). Lessing 1979,
1980, 1. Band, S. 229 f.

96 Gotthold Ephraim Lessing

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ob keine andere Lösung für sie möglich gewesen wäre, „(…) die
Szenen, die Personen, die wir am liebsten sehen möchten, handeln
meistens hinter dem Vorhange und die Auflösung revoltiert jeder­
mann“, meinte Christian Felix Weiße, der im Wettstreit mit Lessing
als Dramatiker begonnen hatte.68 Einige wollten Emilia gern im
Kloster sehen, andere sprachen Odoardo die Urteilsfähigkeit ab.
Die Katastrophe der Emilia bekam teils nur verhaltenen Beifall69.
Die Zurückhaltung des Publikums hat auch daran gelegen, dass
man sich einem bekannten römischen Stoff gegenübersah, in dem
sich Menschen der eigenen Gegenwart bewegten. Das war neu für
den Zuschauer des 18. Jahrhunderts.
In der ersten Zeit nach der Uraufführung finden sich nur Andeu­ Nach der
tungen, dass Lessings Kritik an absolutistischer Willkür und un­ ­Uraufführung

würdiger Lustbefriedigung verstanden wurde. 1773 erschien unter


dem Titel Über einige Schönheiten der Emilia Galotti eine selbststän­
dige Publikation von Christian Heinrich Schmid (1746 –1800). Sie
richtete sich polemisch gegen die Lessing-Gegner. Shakespeare-
Stücke wurden von ihm zum Vergleich herangezogen, vor allem
wurde die antifeudale Haltung deutlich und erstmals benannt: Die
Handlung, „zwischen Italien und Deutschland“ angesiedelt, sei auf
die „vielen kleinen Höfe“ gemünzt. Die von Lessing abgebildeten
deutschen Zustände wurden erkannt.70 Schmid wies auf Emilias
Problem hin, sich ihrer Standhaftigkeit bei der Verteidigung der
Tugend nicht sicher zu sein, vor allem nicht gegenüber dem anzie­
henden und dringlich flehenden Prinzen. Mit Schmids Anerken­
nung und Rezension hatte sich Lessings Stück allgemein durch­

68 Zit. nach: Edward Dvoretzky (Hg.). Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1755 –1968.
Göppingen: Alfred Kümmerle 1971. Band 1, S. 24.
69 Vgl. diese und andere Meinungen, Urteile und Vorschläge in: Heidi Ritter: Publikumsreaktionen
in den ersten Aufführungen der Emilia Galotti. In: Werner (Hg.). Lessing 1979, 1980, 1. Band,
S. 234 ff.
70 Ebd., S. 230.

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gesetzt, von nun an galt die antifeudale Haltung und Kritik als ein
Wesensmerkmal dieses Trauerspiels.
Die Aufführungen in Berlin (6. und 7. April 1772) hatten das
Publikum begeistert, obwohl die dortigen Schauspieler der Kochi­
schen Gesellschaft nicht den Erwartungen der Zeitgenossen ent­
sprachen. Zwar habe die Darstellerin der Emilia (Karoline Elisabeth
Steinbrecher) besser als erwartet gespielt, vor allem das Naive
habe sie gut verstanden, aber ein wenig mehr Feuer habe man
von ihr erhofft. Lessing hatte seine Emilia ungern bei der „Stein­
brecherin“ gesehen; sie war ihm zu alt: „Man vergibt dem jungen
Mädchen immer mehr, als der alten Aktrice“71. Das entspricht dem
Bild der Emilia, das im Stück angelegt ist: Emilia weiß um den
Wert der Tugend, empfindet aber durchaus auch die Verlockung
der Verführung.
Emilia Galotti hatte Erfolg, wenn auch der Erfolg manchmal
merkwürdiger Art war. Anfang Juli 1772 wurde das Trauerspiel
dreimal hintereinander in Wien aufgeführt, „und zwar mit außer­
ordentlichem und allgemeinem Beifall“72. Zweimal war Kaiser
­Joseph II. Zuschauer und amüsierte sich, er habe in seinem Leben
in keiner Tragödie so gelacht wie in dieser, sagte er. Eva König, die
in den Vorstellungen war, bestätigte, dass sie in ihrem Leben „in
keiner Tragödie so viel habe lachen hören; zuweilen bei Stellen,
wo, meiner Meinung nach, eher hätte sollen geweinet, als gelacht
werden.“73 Worauf sich diese Heiterkeitserfolge bezogen, teilte sie
nicht mit.
Lessings Freund Johann Arnold Ebert (1723 –1795), Übersetzer
aus dem Englischen, einst Lehrer des Erbprinzen und Professor

71 Brief an Karl Lessing vom 1. März 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 503.
72 Brief Eva Königs vom 15. Juli 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 540.
73 Ebd.

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am Carolinum in Braunschweig, der ihn mit dem Shakespeare-


Übersetzer Eschenburg bekannt gemacht hatte, schrieb:

„Nur so viel kann ich Ihnen sagen, dass ich durch und durch,
mit Klopstock zu reden, laut gezittert habe. Selbst die komi­
schen Szenen und Züge haben eine ähnliche Empfindung mit
der bei mir hervorgebracht, die ich einmal bei Durchlesung der
ersten Szene Ihrer ‚Minna‘ hatte. O Shakespeare-Lessing! – Zu
andern, als Ihnen, würde ich vielleicht noch mehr sagen. – Gott
segne Sie dafür mit seinem besten Segen! – Ich habe davor
fast nicht einschlafen können, und hernach einen sehr unruhi­
gen Schlaf gehabt. Und itzt, da ich aufgestanden bin, kann ich
nichts anders denken und vornehmen. Die Geister Ihrer Perso­
nen spüken noch immer um mich her, und schweben mit auf
jedem Blatte, das ich lesen will, vor Augen.“74

1791 wurde das Weimarer Theater in Bad Lauchstädt eröffnet;


die Leitung hatte Goethe. Die Tradition ging auf die Bellomo’sche
Truppe zurück, die seit 1784 in Weimar spielte und auch Les­
sings Emilia Galotti in ihrem Repertoire hatte. Die Schauspielerin
Christiane Luise Becker (1775 –1799), die von Goethe in der Ele­
gie E
­ uphrosyne bedichtet wurde und deren Wohnhaus heute noch
in Bad Lauchstädt zu sehen ist, wurde durch diese Aufführungen
zwischen 1791 und 1798 zur bekanntesten Emilia-Darstellerin
Deutschlands und machte das Weimarer Hoftheater berühmt.
Goethes Urteile waren unterschiedlich, so wie auch Lessing, Goethes Urteile
bei aller Anerkennung des Genies Goethes, ihm kritisch gegen­
überstand. Goethes Werther las vor seinem Selbstmord Lessings
Emilia Galotti; das Stück lag aufgeschlagen auf dem Pult. Auch das

74 Brief Johann Arnold Eberts vom 14. März 1772. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 507.

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Modell, Karl Wilhelm Jerusalem, ein ehemaliger Wetzlarer Kollege


Goethes und Braunschweigischer Legationssekretär, hatte, als er
sich am 30. Oktober 1772 erschoss, auf seinem Pult dieses Les­
sing-Drama liegen. Goethe hatte Vorbehalte gegen die rationale
Klarheit der Dramaturgie, in der kein Platz für sich auslebende und
austobende Gefühle zu finden sei. Das erklärt, warum Goethe als
Erster darauf aufmerksam machte, dass Emilia den Prinzen liebe.

Veränderte Wirkung nach der


Französischen Revolution von 1789
Die Wirkung nach der Französischen Revolution von 1789 verän­
derte sich. Sie wurde zwiespältiger, denn die deutschen Schrift­
steller sahen den Widerspruch zwischen dem Anspruch Lessings
und den Ergebnissen. Lessings Werk war für die

„maßgebenden Schriftsteller Deutschlands zum Erbe gewor­


den. Sie empfanden es nicht mehr als unmittelbaren Ausdruck
einer ihnen gegenwärtigen Welt, der unabsehbare literarische
Zukunftsmöglichkeiten eröffnet“75.

Herder Zeugnis für die sich verändernde und veränderte Sicht wurden
Herders Briefe zur Beförderung der Humanität (1794), in deren
Dritter Sammlung er sich ausführlich mit Emilia Galotti beschäf­
tigte. Herder hatte schon nach Lessings Tod würdigende Worte
geschrieben und kritisiert, dass nun, nachdem die Unmittelbarkeit
der Auseinandersetzung nicht mehr vorhanden sei, man sich zum
Lobe Lessings vereinige. 1794 berichtete er, das Stück habe ihn
„wieder einmal“ ins Theater gelockt und er habe sich Gedanken

75 Hans-Georg Werner: Über die Schwierigkeiten, mit der „dramatischen Algebra“ von Emilia
­Galotti zurechtzukommen. In: Werner (Hg.): Bausteine, 1984., S. 110.

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über das Verhältnis von Ständischem, Charakteren und philoso­


phisch Allgemeinem gemacht. Er hatte über Bürgerliches nach­
gedacht. Dabei bestätigte er dem Prinzen Würde und Anstand
(es drehe sich alles um „seine Liebe, Treue und Affection“), gab
alle Schuld an den Verbrechen dem „verächtlichen Werkzeug“
Marinelli und stellte in diesem Zusammenhang die entscheiden­
de Frage, wie lange Marinelli vom Hofe entfernt werde und „wie
bald wird er, wenn sein Dienst abermals brauchbar ist, wieder­
kehren?“ Die Überlegung, was nach Emilias Tod folgte, war kaum
Spekulation, sondern öffnete den Blick für den vergeblichen Tod
Emilias. Herder fabulierte: Bei der Vermählung des Prinzen mit
der Fürstin von Massa „war Marinelli zugegen, vertrat als Kam­
merherr vielleicht gar des Prinzen Stelle, sie abzuholen. Appiani
dagegen ist tot (…)“.76 Herder hatte mit der Ahnung von Marinel­
lis Wiederkehr die gesellschaftliche Situation beschrieben, setzte
aber immer noch die Hoffnung dagegen, dem Theater durch die
Erziehung zum Protest einen gebührenden Platz bei der Bildung
des Volkes einzuräumen.
Es entstand eine andere Lesart. Goethe, der sich unterschiedlich
über das Stück äußerte, montierte Emilia Galotti in das 5. Buch von
Wilhelm Meisters Lehrjahre, das im Juni 1795 abgeschlossen wur­
de. Wilhelm, die Titelgestalt des Romans und mit Zügen Goethes
versehen, sollte den Prinzen spielen. Auffällig war die Unterschei­
dung zwischen „edel“ und „vornehm“, die eine Rechtfertigung für
den Prinzen wurde: „Der edle Mensch kann sich in Momenten ver­
nachlässigen, der vornehme nie“77. Hinweise auf die erzieherische

76 Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, 3. Sammlung (1794). In: Herders
Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1881,
Bd. 17, S. 185 f.
77 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Poetische Werke (Berliner Ausgabe). Berlin: Aufbau
1962, Band 10, S. 369. (5. Buch, 16. Kapitel)

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Wirkung des Stückes wurden vermieden, dafür wurde alles auf die
individuellen Erfahrungen der Schauspieler, die „Entblößung ihres
innersten Herzens“78, zurückgeführt.
Wirkungen in Es gab unmittelbare Wirkungen in der Literatur. Heinrich Leo­
der Literatur pold Wagners Kindermörderin (1776), Goethes Clavigo (1774) und
Schillers Kabale und Liebe (1784) seien stellvertretend für viele
genannt. Obwohl Schiller die Emilia Galotti „zuwider“ war79, wie
Goethe mitteilte, ist Schillers Lady Milford in Kabale und Liebe
ohne die Gräfin Orsina nicht zu denken. Bereits in Schillers Die
Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) gab es aus Emilia Galotti
abgeleitete Figurenanlagen, darunter den Grafen Lavagna nach
Odoardo und den Maler Romano, der die Geschichte der römi­
schen Virginia malt, nach Lessings Maler Conti. Schiller verwen­
dete die dramaturgische Anlage mehrfach.
Nicht begeistert nahmen die Romantiker das Stück auf, konn­
ten ihm aber die Anerkennung nicht verweigern. Ihnen war es zu
nüchtern und logisch angelegt. Zwar erkannten August Wilhelm
und Friedrich Schlegel die Besonderheit der Stücke Lessings, doch
die Rationalität in der Emilia Galotti war ihnen „ein gutes Exempel
der dramatischen Algebra“, die sie ablehnten80, „man mag es frie­
rend bewundern, und bewundernd frieren; denn ins Gemüt dringt
nichts und kanns nicht dringen, weil es nicht aus dem Gemüt ge­
kommen ist“81.
Der berühmte Philosoph Arthur Schopenhauer (1788 –1860)
fand das Ende der Emilia Galotti – ein Vater ersticht seine Tochter

78 Ebd., S. 370.
79 Vgl. dazu und zur Wirkung auf die Klassiker: Hans Georg Werner: Über die Schwierigkeiten, mit
der „dramatischen Algebra“ von Emilia Galotti zurechtzukommen. In: Werner (Hg.), Bausteine,
1984, S. 118
80 Friedrich Schlegel: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München: Carl Hanser, 1964
(2. Auflage), S. 363 f.
81 Ebd.

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auf deren Wunsch – empörend, es schicke den Zuschauer völlig


verstimmt nach Hause82. In der Literaturgeschichte ist der Platz
eindeutig, den das Stück einnimmt: Der berühmte Philosoph
Kuno Fischer (1824 –1907) sah in seinem Erscheinen „die Geburt
der modernen deutschen Tragödie“83, und für Wilhelm Dilthey
(1833 –1911), einen Schüler Fischers, war Emilia Galotti das „erste
echt politische Stück“ seit Gryphius.84 Der marxistische Literatur­
kritiker Franz Mehring (1846 –1919) sah wie die Vorigen, dass sich
in dem Stück „das Schicksal des damaligen Bürgertums“ spiegele,
aber die, für die es gedichtet wurde, hätten es „nie verstanden“85.
Dass Lessing Dichterschaft abgesprochen wurde, durchzog
die Wirkungsgeschichte des Stückes ebenfalls. Friedrich Hebbel
fragte 1839, warum „dieses Gedicht trotz seines reichen Gehalts
dennoch kein Gedicht ist“ und kritisierte zu viel „Bewusstsein“ in
dem Stück. „Übrigens übersehe ich nicht, dass Emilia der herr­
lichste Charakter geworden wäre, wenn ihn ein wahrhafter Dichter
geboren hätte.“86 Später schlugen sich die Beschäftigungen mit
Lessings Stück in Hebbels Maria Magdalene nieder, er wollte und
erreichte eine neue Qualität des bürgerlichen Trauerspiels, die
ohne Lessings Vorbild nicht zu denken ist.87
Bewunderer hat Lessing fortwährend gefunden, und die Bewun­
derer waren auch zumeist seine Nachfolger im Geiste. ­Heinrich
Heine hatte in seiner Romantischen Schule erkannt, dass sich erst
mit der Zeit herausgestellt habe, wie politisch bewegt das Stück

82 Vgl. dazu: Ralph Wiener: Der lachende Schopenhauer. Leipzig: Militzke, 1996, S. 98.
83 Kuno Fischer: G. E. Lessing als Reformator der deutschen Literatur. Erster Teil. Stuttgart:
J. G. ­Cottasche Buchhandlung, 1881, S. 186.
84 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 11. Auflage
1939, S. 76 f.
85 Franz Mehring: Lessings Emilia Galotti. In: Gesammelte Schriften., Band 9, S. 408 f.
86 Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Berlin 1903, Abt. 2, Band 1, S. 329.
87 Vgl. dazu: Marlen Ginolas: Hebbels Beschäftigung mit Lessings bürgerlichem Trauerspiel.
In: Günter Hartung (Hg.): Beiträge zur Lessing-Konferenz 1979. Halle 1979, S. 61 ff.

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war und was Lessing damit gemeint haben könnte. In seinem Atta
Troll dichtete er:

„Gleich dem alten Odoardo / Der mit Bürgerstolz erdolchte / Die


Emilia Galotti, / Würde auch der Atta Troll//Seine Tochter lieber
töten, / Töten mit den eignen Tatzen, / Als erlauben, dass sie sän­
ke/In die Arme eines Prinzen! // Doch in diesem Augenblicke / Ist
er weich gestimmt, hat keine / Lust, zu brechen eine Rose, / Eh’
der Sturmwind sie entblättert“88

Hermann Hettner, für den Lessing eine große Umwälzung in der


Geschichte der deutschen Tragödie ausgelöst hatte, konnte aller­
dings nichts mit Emilias Tod anfangen und sah ihn als Folge „der
Intrigentragödie“, an der Lessing gescheitert sei.89
National­ Während des Nationalsozialismus gab es eine auffällige Rezep­
sozialismus tion: Während das Stück 1933 an der Hälfte aller Gymnasien als
Lektüre akzeptiert wurde, sank diese Akzeptanz 1939 auf unter
zehn Prozent. Tötung der Tochter und Selbsttötung waren im An­
gesicht des Krieges, den man zu führen gedachte, keine akzep­
tablen Themen mehr. Die Frage nach der Tugend war längst zur
Nebensächlichkeit geworden.
Nach 1950 Das Stück wirkt auch heute noch und findet sich auf den Spiel­
plänen, steht allerdings im Schatten anderer Stücke Lessings. Hin
und wieder scheint es im Sog der großen Bekenntnisstücke mit­
gezogen worden zu sein, so um 1950 dem Nathan folgend, etwa
in der Spielzeit 1951/52 am Staatsschauspiel Dresden (Regie:
Martin Hellberg; Emilia: Helga Göring). Sechsmal mehr als ­Emilia
Galotti wird Lessings Nathan der Weise, neunmal mehr Minna von

88 Heinrich Heine: Atta Troll. In: Werke. Hg. von Ernst Elster, Leipzig o. J., 2. Band. S. 412.
89 Hettner, Band I, S. 718.

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­Barnhelm gespielt90. Für das Programmheft einer Inszenierung


1979 in Wien schrieb der Regisseur Adolf Dresen ein Sonett, in
dem nochmals der Verlust benannt wird, den Lessing durch die
Auslassung des Volksaufstandes mitgeschrieben hat:

„Die hübsche Bürgerstochter, beinah hätt / der Prinz sie noch


geschnappt vom Traualtar, / die Schüsse knallen, die Chose die
ist klar, / der Bräutigam im Blut, die Braut im Bett – // Im guten
Anzug, blass und zitternd stiert / der Vater, tief gebückt und tief
geknickt, /bis jemand ihm was in die Hände drückt, /ein Messer,
wie er mit Entsetzen spürt – // Den Fürsten killen, wie könnte er
es kühl? / er krallt das Messer unterm Rock, verstört / holt er es
raus, hält auf ein blasses Ziel – // er tappt im falschen Blut her­
um, es fiel sein / eignes Kind, er schreit, ob ihn wer hört? / Das
ist das wahre deutsche Trauerspiel.“91

Auch Versuche einer veränderten Deutung werden immer wieder


unternommen; am nachhaltigsten war die Fritz Kortners von 1970:
In seiner Inszenierung der Emilia Galotti war Odoardo der Schul­
dige und „negativer Gegenspieler eines verliebten Jünglings, der
zufällig Prinz ist, und der auf Liebeserfüllung drängenden Emilia.
Appianis Attacke auf Marinelli wird zur komischen Kraftanstren­
gung eines moralisierenden Schwächlings“92. Zwar fand man diese
Deutung Lessing nicht angemessen, aber den Versuch interessant
auf der Suche nach der Aktualisierung der Probleme. Ähnlich zer­
trümmernd inszenierte Michael Thalheimer das Stück 2001 am
Deutschen Theater (Berlin). Lessings dramaturgische Logik wurde

90 Vgl. Peter Weber: „Emilia Galotti“ – Zur Poetologie eines „unpoetischen Dichters“. In: Werner
(Hg.). Lessing 1979, 1980, 1. Band, S. 155 ff.
91 Zitiert nach: Theater heute, 1979, H. 2, S. 16.
92 Peter Weber, a. a. O., S. 171.

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aufgegeben, Nebenpersonen gestrichen, Andeutungen mit Kör­


persprache ausgespielt; „es ist der bizarrste Lessing, den man je
sah (…), zu hoch ist die Verlustquote.“93

93 Gerhard Jörder: Blut und Honig. In: Die Zeit, Nr. 41, 4. Oktober 2001, S. 56.

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5. MATERIALIEN

Unter den zeitgenössischen Urteilen fallen jene auf, die die Viel­
schichtigkeit des Textes spürten, nicht einseitig schwarz-weiß
malten und auch den Beitrag zur ästhetischen Auseinanderset­
zung erkannten. Karl Lessing hatte mit Moses Mendelssohn ein
Gespräch über das Stück und teilte dem Bruder die scharfsinnige
Erklärung mit:

„Ich fragte ihn, wie ihm Deine Tragödie gefallen habe. ‚Im Ganzen
vortrefflich‘, sagte er; ‚wir haben noch nichts so Vortreffliches: und
vielleicht können Franzosen und Engländer nichts aufweisen, wo
jedes Wort so bedächtlich, so ökonomisch angebracht ist, selbst
die Ausführung der Charakter findet man selten so. Welch ein al-
lerliebstes Mädchen ist nicht die Emilia!‘ – ‚Die Emilia?‘, unter-
brach ich ihn, und Du kannst Dir leicht vorstellen, mit was für Au-
gen. – Er fuhr fort: ‚Bei den Worten: Perlen bedeuten Tränen, habe
ich vor Tränen selbst nicht fortlesen können. Das ganze Stück hat
mich so ergriffen, dass ich die Nacht nicht werde davor schlafen
können.‘ (…) Der Prinz; der scheint ihm im Anfange tätiger und
tugendhaft, und am Ende ein untätiger Wollüstling. Und hiermit
bin ich nicht zufrieden. Nicht darum, weil er mich widerlegt hatte,
sondern weil ich Gründe habe, dass der Prinz so sein muss. Er
nimmt sich der Regierung an, er ist ein Liebhaber von Wissen-
schaften und Künsten, und wo seine Leidenschaften nicht ins Spiel
kommen, da ist er auch gerecht und billig; er ist überdies fein, und
hat allen Schein eines würdigen Fürsten: aber das sind noch nicht
die rechten Beweise, dass er es wirklich ist. Folglich hast Du uns
an seiner moralischen Güte noch immer zweifelhaft gelassen, und

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nur gezeigt, wie heutzutage Prinzen von guter Erziehung, welche


die Natur nicht ganz unbegabt gelassen, sein können.“94

Goethe hatte mit dem Stück Schwierigkeiten und gab zahlreiche,


sehr unterschiedliche Urteile darüber ab. Er hielt das Stück am
Ende seines Lebens für eine poetische „Mumie“95, wobei eine
Menge Ungerechtigkeit in diesem Urteil mitschwang, weil die
theoretischen und künstlerischen Anstrengungen Lessings als
nachdrücklichster Ausdruck deutscher Aufklärung folgenlos und
überholt erschienen. Sie hatten allerdings ebenso wenig in der
Politik Wirkung hinterlassen wie sie das Volk erreichten. Nur aus
dieser Sicht kann von Folgenlosigkeit gesprochen werden. Goethe
schrieb an Zelter:

„Zu seiner Zeit stieg dieses Stück, wie die Insel Delos, aus der
Gottsched-Gellert-Weissischen pp. Wasserflut, um eine kreißende
Göttin barmherzig aufzunehmen. Wir jungen Leute ermutigten uns
daran und wurden deshalb Lessing viel schuldig.
Auf dem jetzigen Grade der Kultur kann es nicht mehr wirksam
sein. Untersuchen wir’s genau, so haben wir davor den Respekt
wie vor einer Mumie, die uns von alter hoher Würde des Aufbe-
wahrten ein Zeugnis gibt.“96

Eine heutige Schwierigkeit im Umgang mit Lessings Emilia Ga­


lotti ist zu erwähnen: Die Tötung Emilias durch den Vater auf ihr
Drängen hin ist unwahrscheinlich geworden, eine verlorene Jung­
fernschaft schafft keine tragischen Konflikte mehr. Damit aber wird

94 Brief Karl Lessings vom 12. März 1772 an Lessing. In: Werke, 1957, 9. Band, S. 519.
95 Goethe an Karl Friedrich Zelter, 27. März 1830.
96 Ebd.

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geschichte aufgaben

Emilia Galotti, obwohl das Trauerspiel stets wieder zum Lesege­


nuss wird, immer schwieriger spielbar. Fritz Kortner inszenier­
te 1970 in Wien wirkungsvoll Odoardo als Tyrannen, nicht den
Prinzen, und zwar mit seiner „störrischen Pedanterie“ und seiner
„patriarchalischen Herrschsucht“97:

„Wenn ein geschändetes Bürgermädchen Selbstmord begehen


oder sich töten lassen muss, so liegt die Schuld nicht bei dem, der
es ‚geschändet‘ hat, sondern bei denen, die es für ‚geschändet‘
halten.“98

Zu einer Inszenierung des Trauerspiels (Regie: Michael Jurgons)


im Deutschen Theater Berlin schrieb ein Kritiker:

„Das Deutsche Theater hat in zeitbewusster Spielplandisposition


gleich für eine mehrfache Begegnung mit Lessings aufklärerischer
Vernunft gesorgt. Zum Lessing-Diskurs der Bühne gehören weiter
‚Emilia Galotti‘, der kaum noch gespielte ‚Philotas‘ und eine Ma-
tinee. Problematisch scheint mir die Zuordnung der ‚Emilia‘. Was
in diesem Stück vorgeht, ist die heutiger Einsicht zuwiderlaufende
Entscheidung, die Bewahrung jungfräulicher Tugend höher anzu-
setzen als das Leben – heute objektiv nur noch komisch.“99

Eine Lesart, wie Emilias Entscheidung noch heute verständlich


wird, bot eine Fernsehinszenierung 1981 (Regie: Klaus Dieter
Kirst), die für die Rolle Emilias vorsah:

97 Vgl. Rezension von Ivan Nagel. In: Theater heute, 1970, H. 6, S. 35.
98 Ebd., S. 33.
99 Gerhard Ebert: Entschiedenes Bekenntnis zur Kraft der menschlichen Vernunft. In: Neues
Deutschland, Berlin, 12. Oktober 1987.

EMILIA GALOTTI 109


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Leben und Werk -interpretation

„Erzogen im Sinne der besten und fortschrittlichsten Ideale des


Bürgertums der Lessing-Zeit, vor allem im Sinne von Tugend und
Selbstdisziplin, entdeckt Emilia, durch die Begegnung mit dem re-
gierenden Fürsten und dessen Werbungen um sie, sich selbst in
ihrer ganzen menschlichen Totalität. Sie gerät in einen unlösbaren
Konflikt zwischen ihrem sinnlichen Anspruch, den sie als Teil ihrer
Menschlichkeit begreift, und dem vom Vater übernommenen Tu-
gendideal, das sich in seiner Konsequenz so inhuman erweist, als
es notwendig und fortschrittlich ist.“100

100 FF-Dabei (Berlin) 1981, Nr. 8.

110 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

6. PRÜFUNGSAUFGABEN
MIT ­MUSTERLÖSUNGEN

Unter www.königserläuterungen.de/download finden Sie im Internet


zwei weitere Aufgaben mit Musterlösungen.

Die Zahl der Sternchen bezeichnet das Anforderungsniveau


der jeweiligen Aufgabe.

Aufgabe 1 ***

Begründen Sie, warum es sich bei Lessings Emilia Galotti


um ein bürgerliches Trauerspiel handelt und warum die
Adlige Emilia Galotti als Repräsentantin bürgerlichen Den-
kens begriffen werden kann.

Mögliche Lösung in knapper Fassung:


Lessing hat sich als Kritiker und Dramentheoretiker intensiv um EINLEITUNG

die Entwicklung des deutschen Dramas bemüht und sie der Öffent-
lichkeit in seinen Kritiken, vor allem in der Hamburgischen Drama-
turgie, vorgestellt. Neben Veränderungen, die das Lustspiel betra-
fen, galt sein Interesse den Veränderungen der Tragödie, die sich
zum bürgerlichen Trauerspiel entwickelte. Erste Ergebnisse sah
Lessing in England.
Die Besonderheit des bürgerlichen Trauerspiels war, dass die PERSONEN

bisher übliche Ständetragödie abgelöst wurde, indem eine neue


Personengruppe die Bühne betrat: Nicht mehr nur die Personen
hohen Standes oder Figuren mythologisch-heroischer Herkunft
sahen sich tragischen Konflikten ausgesetzt, sondern auch die
Menschen einer Mittelschicht, zu der verarmte Adlige gehörten,

EMILIA GALOTTI 111


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1 schnellübersicht 2 G. E. Lessing: 3 Textanalyse und
Leben und Werk -interpretation

die ihre ständischen Positionen nicht mehr ausweisen konnten. Sie


waren bisher nicht für tragödientauglich gehalten worden. Hinzu
kam, dass die Handlung nicht durch poetische oder geschichtliche
Quellen vollständig determiniert wurde, sondern einen alltäglichen
und teils privaten Charakter erhielt. Darin lag das eigentlich Bür-
gerliche, denn eine ökonomische oder politische Begründung ei-
nes sich bestimmenden Bürgertums gab es noch nicht.
ZUSCHAUER Daraus folgte, dass sich der Zuschauer in eine andere Bezie-
hung zur Handlung brachte: Sie war für ihn nicht mehr das stau-
nenswert Besondere, sondern das ihn auch betreffende Rührende.
Da ihm die Handlung naheging und er sie nachempfinden konnte,
war die emotionale Teilnahme an den Ereignissen auf Identifikati-
on gerichtet. Die bürgerliche Sicht mit ihren neu entstandenen
Werten und ihren sozialen Grundlagen trat in die Dramatik ein, die
heroischen Taten und Ansprüche traten zurück. Die Rührung war
ein bestimmendes Element des bürgerlichen Trauerspiels, einer
ihrer bestimmenden Anlässe war der Umgang mit der Tugend.
Im Gegensatz zur heutigen Bedeutung war Tugend in der
Aufklärung umfassender zu verstehen. Darunter wurde auch die
Handlung im Sinne einer Gemeinschaft verstanden. Das war auch
das Thema in Lessings Emilia Galotti. Zwar liegt hier noch ein his-
torisches Ereignis zugrunde – das Schicksal der römischen Virgi-
nia 500 v. Chr. –, aber es bestimmt nicht die Handlung, sondern
nur die Lösung des Konflikts.
EPOCHE Als Lessings Trauerspiel erschien, hatte bereits neben der Auf-
klärung der Sturm und Drang, eine literarische Revolution in
Deutschland, begonnen. Zu den bürgerlichen Werten, die von der
Aufklärung hervorgehoben wurden, traten pädagogische Zielvor-
stellungen, wie Natürlichkeit des Lebens und ein neues Verständ-
nis für die Natur. Emilia will in diesem Sinne nicht nur ihre Tugend
bewahren, sondern mit dem Grafen Appiani ein „natürliches“ Le-

112 Gotthold Ephraim Lessing

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4 Rezeptions­ 5 materialien 6 prüfungs­
geschichte aufgaben

ben in den „Tälern von Piemont“ (HL S. 12/R S. 13) abseits der
höfischen Welt des Prinzen führen. Das bedeutet auch ein entspre-
chendes Verhältnis zu Appianis Untergebenen. Appiani ist mit sei-
nem Lebensprogramm, das an die heimatlichen Täler fern des
technischen Fortschritts geknüpft ist, der antiaristokratische Typ,
zumal er sich auch den absolutistischen Machtritualen vollständig
entzieht. Durch sein Vorbild orientiert sich Emilia in Richtung auf
ein bürgerliches Leben im Sinne Rousseaus. Es tritt an die Stelle
der aristokratischen Attribute, denn sie ist zwar von Adel, aber „ein
Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang“ (HL S. 12/R S. 13). Sie
hat Appiani für sich gewinnen können, wie Marinelli missbilligend
hämisch kommentiert, „mit ein wenig Larve, aber mit vielem Prun-
ke von Tugend und Gefühl und Witz“ (HL S. 12/R S. 13).
Marinelli hat damit die Werte genannt, die das aufkommende BÜRGERTUM

Bürgertum für sich in Anspruch nahm: Tugend, Gefühl und Ver-


stand. Appiani und Emilia sind für Marinelli die „Empfindsamen“
(HL S. 12/R S. 13); er verwendet den Begriff höchst abfällig; emp-
findsam wird aber synonym mit bürgerlich verwendet. Der Prinz
jedoch weiß, das diese bürgerlichen Werte den Gegensatz darstel-
len zur höfisch-aristokratischen Welt, in der „das Zeremoniell, der
Zwang, die Langeweile und nicht selten die Dürftigkeit
herrschet“(HL S. 12 f./R S. 14 f.). Emilia Galotti wird in Appianis
Herrschaftsgebiet die Repräsentantin der bürgerlichen Werte, des
bürgerlichen Fühlens und einer bürgerlichen Lebensprogramma-
tik, die aus der Gesellschafts- und Naturkonzeption Rousseaus ent-
wickelt wurde. Sie unterscheidet sich durch ihre Wertvorstellun-
gen sowohl vom Prinzen als auch von der Gräfin Orsina; daraus
ergibt sich ihre soziale Differenzierung, die beträchtlich ist, denn
Marinelli sieht durch die Eheschließung mit Emilia, das „Miss-
bündnis“ (HL S. 12/R S. 14), dem Grafen Appiani die aristokrati-
schen Häuser verschlossen. Andererseits sind sie sich in ihren

EMILIA GALOTTI 113


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1 schnellübersicht 2 G. E. Lessing: 3 Textanalyse und
Leben und Werk -interpretation

Leidenschaften ähnlich. Allerdings führt der Umgang damit erneut


zur sozialen Differenzierung: Der Prinz kann seine Leidenschaften
jederzeit und unbegrenzt ausleben, die Orsina setzt sie in vernich-
tenden Hass um. Nur Emilia weiß, dass Werte wie die Tugend ihr
einziger Besitz sind und sie deshalb ihre Leidenschaften zügeln, in
letzter Konsequenz unterdrücken und abtöten muss, um den neu-
en Wert der Tugend, einen bürgerlichen Wert, zu erhalten. Das
rettet zwar den Wert an sich, bringt aber dem Menschen keine
neue Lebensqualität, sondern vielmehr den Tod.
FA ZIT In ähnlicher Weise gehen in den bürgerlichen Trauerspielen
viele der Verfechter bürgerlicher Werte unter. Emilias Tod verhin-
dert den Sieg des bürgerlichen Lebensprogramms; aber er verhin-
dert auch, dass sich der Prinz an dem Ergebnis seiner Willkür und
Verbrechen erfreuen kann. Der Tod Emilias und Appianis ist au-
ßerdem ein Symptom dafür, dass es noch keine gesellschaftlichen
und sozialen Bedingungen gibt, die den bürgerlichen Programmen
einen Wirkungsraum verschafften.

Aufgabe 2 *

Gräfin Orsina – Mätresse und aufbegehrende Adlige:


­Beschreiben Sie die historische Stellung der Mätresse in
dieser Zeit, die Stellung der Orsina bei Hof und ihr Vor-
haben, auf dem Markt die Hintergründe des Mordes zu
enthüllen.

Mögliche Lösung in knapper Fassung:


EINLEITUNG Gräfin Orsina ist eine der Mätressen des Prinzen. Zu Beginn des
Stückes ersetzt sie der Prinz gerade durch Emilia Galotti. Damit
schafft er sich eine erklärte Feindin, die keineswegs einflusslos
war. Mätressen waren im 18. Jahrhundert durchaus anerkannte

114 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

Personen bei Hof und entstammten oft adligen Familien. In ande-


ren Fällen waren es bürgerliche Frauen, die den herrschenden
Männern ermöglichten, ihre Leidenschaften und Gefühle auszule-
ben, denn die standesgemäßen Ehen waren zumeist der Vollzug
politischer Absprachen und hatten staatspolitische Bedeutung.
Auch der Prinz von Guastalla steht vor einer politisch ambitionier-
ten Eheschließung mit der Prinzessin von Massa, sein „Herz wird
das Opfer eines elenden Staatsinteresse(s)“ (HL S. 11/R S. 13)
­Marinelli weist darauf hin, dass neben einer solchen Ehefrau „die
Geliebte noch immer ihren Platz“ (HL S. 11/R S. 13) sieht.
Die Orsina wird von Marinelli ironisch, aber durchaus ange- ORSINA ALS
­M ÄTRESSE
messen, als „Philosophin“ (HL S. 50/R S. 61) bezeichnet. Das
meint aus Marinellis Mund nichts anderes als eine Närrin. Sie hat
sich ihren scharfen Verstand bewahrt, sicher auch deshalb, weil
die Mätressen ihre Position selbst verteidigen mussten und wenig
Unterstützung bei anderen Höflingen fanden. Ihr Einfluss über-
schritt öfter den intimen Bereich der Beziehung zum Herrscher
und reichte bis in die große Politik, denkt man an Madame Pompa-
dour in Frankreich oder die Gräfin Cosel in Sachsen.
Die Orsina hat typische Züge einer Mätresse entwickelt, die
ihre Position verteidigt. Sie zeigt Mut und Entschlossenheit, Geist
und politisches Verständnis. Damit erweist sie sich als sehr viel
wirkungsvoller als Emilia, die alles auf den Erhalt ihrer Tugend
richtet, die von der Orsina längst aufgegeben wurde. Tugend und
Macht verhalten sich reziprok zueinander: Indem die Orsina an der
herrschenden Macht teilnehmen wollte, musste sie ihre Tugend
aufgeben.
Alles deutet darauf hin, dass es sich bei der Orsina um eine ans
Herrschen gewöhnte Frau handelt, die vermögend ist, eigene Län-
dereien hat – die verwaltet werden – und die ihre Rolle nicht wie
Appiani in den fernen Tälern sucht, sondern am Hofe von Guastal-

EMILIA GALOTTI 115


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1 schnellübersicht 2 G. E. Lessing: 3 Textanalyse und
Leben und Werk -interpretation

la. Das heißt aber auch, dass sie sich in den Machtkonstellationen
des Hofes auskennen muss und sie mitbestimmt, da sie bisher den
direkten Zugang zum Prinzen hatte. Es ist die einschneidende Ver-
änderung, die ihre Lage bestimmt, dass sie diesen Zugang verlo-
ren hat und lediglich ein Zufall ihr auf Dosalo die Begegnung mit
dem Prinzen verschafft, die dazu noch eine vollständige Enttäu-
schung wird. Selbst in der Öffentlichkeit des kleinen Herzogtums
wirkt sie an zentraler Stelle, denn sonst könnte sie nicht mit der
Veröffentlichung ihres Wissens auf dem Markt und vor dem Volk
drohen.
ROLLE IM STÜCK Ihre dominierende Rolle wird auch in der dramaturgischen Ein-
führung erkennbar. Bereits in der ersten Szene tritt sie, ohne an-
wesend zu sein, als Kontrahentin Emilias auf. Ein Brief von ihr ir-
ritiert den Prinzen, der Maler Conti stellt die Bilder beider Frauen
vor und lässt sich über die unterschiedliche Schönheit der beiden
Frauen aus. Während Emilia eine natürliche und vollkommene
Schönheit ist, ist auf dem Bild der Orsina eine gedachte Schönheit
zu sehen. Nachdem diese Spannung aufgebaut ist, dauert es bis
zum vierten Aufzug, ehe die Orsina persönlich erscheint. Drama-
turgisch bekommt sie eine retardierende Funktion, die dadurch
verstärkt wird, dass sie den Machtbetrieb am deutlichsten durch-
schaut, hat sie ihn doch am eigenen Leibe erlebt bzw. mitgestaltet.
So wie sie jetzt die Geräusche der Verführung Emilias hört, so wur-
de sie vom Prinzen zuvor zur Mätresse gemacht. Sie kann es sich
erlauben, den engsten Vertrauten des Prinzen, Marinelli, als „Hof-
geschmeiß“ (HL S. 49/R S. 60) zu bezeichnen, denn sie ist ihm in
vielerlei Hinsicht überlegen. Ihre Abrechnung zielt denn auch
nicht auf ihn, sondern auf den Prinzen selbst.
MARK T Schönheit, Geist und Rigorosität hat die Orsina an die Seite des
Prinzen geführt. Ihre Position hätte sich unabhängig von Emilias
Wirkung auf den Prinzen verändert, denn durch die bevorstehende

116 Gotthold Ephraim Lessing

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geschichte aufgaben

Heirat des Prinzen mit der Prinzessin von Massa würde auch die
Rolle der Mätresse neu bestimmt. In dieser besonderen Situation
kann sie aus dem Einzelereignis – dem Mord an Appiani – die Ver-
allgemeinerung entwickeln. Aus „Der Prinz ist ein Mörder!“ (HL
S. 54/R S. 65 f.) entsteht der Vorsatz, es auf dem Markt auszurufen,
was nichts anderes als ein Angriff auf die Macht wäre, denn sie
weiß nun, dass die Macht, an der auch sie beteiligt war und ist, der
eigentliche Mörder ist. Deshalb ist es geradezu zwingend, dass
auch sie ihre Macht nutzt: So wie der Prinz in Marinelli sein will-
fähriges Werkzeug hatte, so schafft sie es sich mit Odoardo, nicht
ahnend, dass dessen bürgerliche Tugend ihm den Weg zum ei-
gentlichen Objekt der Rache versperrt. So scheitert die Orsina wie
beim Prinzen auch hier.

Aufgabe 3 ***

Beurteilen Sie, ob es sich bei Lessings Emilia Galotti um


ein politisches oder ein unpolitisches Stück handelt.

Mögliche Lösung in knapper Fassung:


Lessing hat bei der Entstehung des Stückes zuerst auf den ur- EINLEITUNG

sprünglichen, politischen Hintergrund verzichtet, die staatlichen


Beziehungen ausgelassen und den Konflikt deutlich privatisiert.
Dadurch konnte er auf den Umsturz, der in der römischen Ge-
schichte der Virginia auf ihren Tod folgte, verzichten.
Es gab für Lessings Verzicht mehrere Gründe: Zuerst entspra- LESSINGS
­K ONZEP T
chen die Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Plebejern
im Rom fast 500 Jahre v. Chr. nicht den Bedingungen des 18. Jahr-
hunderts. Dann waren die spezifisch deutschen Verhältnisse mit
einer schwachen Zentralmacht und fehlendem politischem Zent-
rum nicht so beschaffen, dass ein Volksaufstand aus einem sol-

EMILIA GALOTTI 117


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1 schnellübersicht 2 G. E. Lessing: 3 Textanalyse und
Leben und Werk -interpretation

chen Tod hervorgehen konnte, zumal die deutsche Kleinstaaterei,


die sich im italienischen Duodezfürstentum Guastalla deutlich ab-
bildete, keine großräumigen Volksaufstände begünstigte. Schließ-
lich musste Lessing auch auf die Zensur Rücksicht nehmen und
konnte deshalb politische Geschehnisse nicht vordergründig auf
die Bühne bringen. Er konzentrierte sich auf die moralische Quali-
tät des Bürgertums und ließ eine fast abstrakt wirkende Tugend
zum Sinnbild einer politischen Beschränkung werden, die keinen
„Staatsumsturz“, keine Revolution, anstrebte oder möglich mach-
te. Dennoch wurde das Trauerspiel zu einem ausgesprochen poli-
tischen Stück. Das wird zuerst deutlich, indem die Personen als
politische Menschen agieren. Das Stück beginnt als ausgespro-
chen politisches Werk: Der Prinz hält sich in seinem Kabinett „an
einem Arbeitstische“ auf und bearbeitet „Briefschaften“, die er als
„Klagen“ und „Bittschriften“ (HL S. 5/R S. 5) beschreibt.
Der Prinz erscheint als ein Machtausübender. Dabei wird die
Macht von ihm nach Gutdünken und Zufall gebraucht, nicht nach
Verstandesgründen. Weil eine Bittstellerin Emilia heißt, wird ihrer
Bitte stattgegeben; andererseits soll ein Todesurteil zwischen Tür
und Angel unterschrieben werden, weil der Prinz zu seiner Emi-
lia will. Absolutistische Macht wird in ihrer vollkommenen Weise
vorgeführt.
FIGUREN Politisches wird ferner in den Figurenkonstellationen deutlich.
Der Prinz hat einen Machtapparat zur Verfügung, den er nach Be-
darf einsetzen kann und der über Leben und Tod gebietet; Appiani
ist sein Opfer, Marinelli die den Apparat bedienende Kreatur der
Macht. Die Figurenkonstellationen sind auch abhängig von der so-
zialen Hierarchie, die wiederum das politische System stabilisiert.
Die Galottis und der Hofadel sind unvereinbar, ein Aufstieg Emilias
an die Seite des Prinzen deshalb undenkbar. Nur als Mätresse fän-
de sie ihren Platz im Gefüge. Die Beziehung zwischen diesen un-

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geschichte aufgaben

terschiedlichen Ständen sind Beziehungen der Käuflichkeit, nicht


Beziehungen des Gefühls und der Übereinstimmung. Auch hier
spricht Marinelli es deutlich aus: Wenn der Prinz Emilia nicht be-
kommen kann, dann die Gräfin Appiani, „Waren, die man aus der
ersten Hand nicht haben kann, kauft man aus der zweiten“ (HL
S. 14/R S. 17). Der Mensch wird in diesen Beziehungen zur Ware
degradiert, ein eminent politischer Vorgang. Selbst Graf Appiani
hätte nach der Eheschließung mit Emilia, dem „Missbündnis“ (HL
S. 12/R S. 14), keinen Zutritt mehr zu den „ersten Häusern“, womit
die Häuser des Hofadels gemeint sind.
Wenn Lessing auf den Aufstand verzichtet, wie er in der histori-
schen Vorlage stattfindet, so ist das letztlich kein Verzicht auf den
politischen Gehalt schlechthin, sondern nur auf den spezifischen
Gehalt der römischen Vorlage. Mit dem unerschütterlichen Glau-
ben an die Erziehbarkeit des Menschen vertraute Lessing auf die
Besserungsfähigkeit des politischen Machthabers. Er zeigte ihn
deshalb von Beginn an als einen gemischten Charakter, der sich
einerseits der vernichtenden und menschenverachtenden Aus-
wüchse absolutistischer Macht bediente, andererseits aber auch
Verständnis für andere Positionen zeigte und selbst seinen klagen-
den Untertanen gern mehr Hilfe gebracht hätte: „(…) wenn wir al-
len helfen könnten: dann wären wir zu beneiden“ (HL S. 5/R S. 5).
Indem sich der Prinz aus der Bindung an den teuflischen Ma-
rinelli löst, wird er im Ansatz zu einem aufgeklärten Fürsten. Das
war das große Erziehungsideal der Zeit Lessings und des jungen
Goethe, der in seiner Iphigenie auf Tauris mit dem König Thoas
eine solche Gestalt vorführte, die dieser Erziehung gefolgt war.
Lessing gab einer solchen Erziehung nicht nur in philosophischen
Schriften Raum – Die Erziehung des Menschengeschlechts – son-
dern schuf mit Nathan der Weise das Beispiel einer großräumigen
und umfassenden Erziehung, die durch die verwandtschaftliche

EMILIA GALOTTI 119


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1 schnellübersicht 2 G. E. Lessing: 3 Textanalyse und
Leben und Werk -interpretation

Gemeinsamkeit aller Menschen ursächlich begründet werden


kann.
FA ZIT Lessing stellt in Emilia Galotti innerhalb der Handlung nirgends
das gesellschaftliche System in Frage, die feudalabsolutistische
Herrschaftsform, aber indem er ihre Unmenschlichkeit in der
Machtausübung und die fehlende Gewaltenteilung szenisch im
ersten Akt vorführt, macht er auf politische Deformationen auf-
merksam, die nicht durch machtpolitische Veränderungen, son-
dern durch politische Erziehung ausgeglichen werden sollten. In-
sofern ist Lessings Trauerspiel ein ausgesprochen politisches
Stück, das zwar nicht innerhalb der Handlung, aber über sie hin-
aus grundsätzliche Veränderungen in den Blick rückte.
Der aufgeklärte Fürst als Erziehungsideal war eine, wenn auch
ideale, Überwindung der absolutistischen Macht und eine Aufhe-
bung dieser Macht in einer neuen, aufgeklärten Machtstruktur, in
der die bisherigen gesellschaftlichen und sozialen Unterschiede
in einem Ideal der Gleichheit aufgehen sollten. Diese politische
Zielstellung der Aufklärung scheiterte in der realen Politik; in der
Literatur bestand sie in Werken wie Lessings Emilia Galotti und
Goethes Iphigenie auf Tauris durchaus ihre Feuerprobe.

Aufgabe 4 *

Der historische Stoff und Lessings Stück:


Beschreiben Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Mögliche Lösung in knapper Fassung:


EINLEITUNG Lessing hat sich lange und intensiv mit dem Stoff beschäftigt. Au-
ßerdem hat er mehrere Gestaltungen des Stoffes nicht nur gelesen,
sondern sie unter dramaturgischen Gesichtspunkten behandelt
und übersetzt. Auf dem Weg zu seinem Stück Emilia Galotti erfuhr

120 Gotthold Ephraim Lessing

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das Werk mehrere Veränderungen, von denen wir heute nur indi-
rekt durch Zeitgenossen wissen. Insbesondere Gräfin Orsina hat
während der Entstehung deutliche Aufwertungen erfahren.
Der Stoff stammt aus der römischen Geschichte und handelt STOFF

von den Auseinandersetzungen zwischen patrizischer Macht und


Plebejern. Appius Claudius gehörte zu den zehn Senatoren, „De-
cemvirn“, die die Gesetze Roms zu formulieren hatten. Für die
Dauer ihrer Arbeit bekamen sie eine uneingeschränkte Machtbe-
fugnis, die Appius Claudius ausnutzte, um Virginia, die Tochter
des Plebejers Lucius Virginius, der im Krieg war, in seine Gewalt
zu bekommen. Appius ließ sie als Sklavin denunzieren und machte
sie dadurch rechtlos. Ihr Vater Virginius, der nach Rom gekommen
war, erstach die Tochter, um ihre Freiheit, gemeint waren: Jung-
fräulichkeit und Ehre, zu erhalten. Diese Tat löste einen Volksauf-
stand aus, der zum Sturz der Decemvirn und zur Verhaftung des
Appius führte, der sich 448 v. Chr. im Gefängnis selbst getötet
haben soll. Die Plebejer setzten ihre Forderungen durch.
Diese Konflikte entsprachen nirgends mehr den gesellschaftli- SITUATION IN
DEUTSCHL AND
chen Verhältnissen zur Zeit Lessings. Weder gab es diese Konfron-
tation zwischen sozial gegensätzlichen Gruppen in Deutschland,
noch einen zentralen Machtapparat, in dem sich alle Spannungen
spiegelten. Deshalb löste Lessing die Handlung bewusst von ihrem
politischen Hintergrund, zumal es keinerlei Anzeichen für ähnliche
revolutionäre Bewegungen in Deutschland gab. Er beschrieb das
Vorgehen in Briefen. Dafür interessierte ihn die entstehende mo-
ralische Qualität der aufsteigenden Klasse, des Bürgertums. Für
diese Klasse war ein politischer Umsturz (noch) kein Thema; aber
es stand die Frage im Raum, wie sich ihre moralisch-ethischen
Werte gegenüber der regierenden feudal-absolutistischen Macht
bewähren.

EMILIA GALOTTI 121


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Leben und Werk -interpretation

VER ZICHT AUF Der Verzicht auf einen Umsturz, wie er im römischen Beispiel
UMSTUR Z
dem Tod Virginias folgte, bedeutete aber keineswegs eine Entpo-
litisierung. Vielmehr war das tragische Schicksal Emilias und ihres
Vaters, nicht zu vergessen der Tod Appianis, der Hinweis darauf,
wie die entstehenden bzw. bereits entstandenen bürgerlich-mora-
lischen Werte einer Belastungsprobe standhielten. Die individuelle
Tragik war das Symptom einer gesellschaftspolitischen Phase des
Ausbruchs, die noch keine revolutionären Positionen ausgebildet
hatte.
VER ZICHT AUF Aus diesem Grunde fehlt auch das Volk vollständig; selbst ein
VOLK
kämpferischer Aufruf der Gräfin Orsina, auf dem Markt die Verbre-
chen der absolutistischen Macht zu enthüllen, dürfte in Anbetracht
der fehlenden Ansprechpartner verhallen. Andererseits waren be-
reits die programmatischen, bürgerlichen Forderungen erkennbar:
In Appiani ist die angestrebte Natürlichkeit eines Lebens außer-
halb der absolutistischen Ordnung erkennbar, die Aufgabe politi-
scher Abhängigkeiten, wie sie den alten Galotti noch prägen, steht
an, ein neues Tugendverständnis wird ausgebildet, selbst der auf-
geklärte Fürst als Erziehungsideal wird in Ansätzen erkennbar,
ohne erfüllt zu werden oder Bestand zu haben.
FA ZIT Der Prinz ist ein sinnfälliges Beispiel dafür, wie humane Veran-
lagungen, ein fantasievoller Umgang mit natürlichen Gefühlen und
ein sensibles Kunstverständnis vernichtet werden, wenn sie abso-
lutistischer Macht begegnen. An ihre Stelle tritt Gewissenlosigkeit,
tyrannische Vernichtungsbereitschaft und skrupellose Menschen-
verachtung. Lessing hat in diesen Veränderungen, die er vornahm,
die historisch gewordene Konfliktkonstellation der römischen Ver-
gangenheit ausgespart und durch gesellschaftliche Spannungen
seiner Gegenwart ersetzt.

122
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geschichte aufgaben

LITERATUR

Zitierte Ausgaben:
Lessing, Gotthold Ephraim. Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf
Aufzügen. Heftbearbeitung: Uwe Lehmann. Husum/Nordsee:
Hamburger Lesehefte Verlag 2010 (Hamburger Leseheft Nr.
149). Zitatverweise sind mit HL gekennzeichnet.
Lessing, Gotthold Ephraim. Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in
fünf Aufzügen. Anmerkungen von Jan-Dirk Müller. Stuttgart:
Reclam, durchgesehene Ausgabe 2009 (Reclams Universal-
Bibliothek Nr. 45). Zitatverweise sind mit R gekennzeichnet.

Weitere Werkausgaben:
Lessing, Gotthold Ephraim, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf
Aufzügen. In: Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen. Hrsg.
von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen. Zweiter
Teil. Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart: Bong, 1925 –1935 (Nach-
druck Hildesheim/New York: Olms, 1970)
Lessing, Gotthold Ephraim, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in
fünf Aufzügen. In: Werke in fünf Bänden. Bibliothek deutscher
Klassiker (BDK). Eingeleitet von Thomas Höhle. Berlin und
Weimar: Aufbau, 1964.
Lessing, Gotthold Ephraim, Gesammelte Werke in zehn Bänden.
Hg. von Paul Rilla. Berlin: Aufbau, 1957.

Lernhilfen und Kommentare:


Bauer, Gerhard, G. E. Lessing: Emilia Galotti. München: Wilhelm
Fink, 1987.
Dane, Gesa, Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti.
­Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam, 2009.

123
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literatur

Fischer, Walter, Gotthold Ephraim Lessing. Emilia Galotti.


Frankfurt a. M.: Diesterweg, 1987.
Gysi, Klaus (Ltr.), Gotthold Ephraim Lessing. In: Aufklärung.
­Erläuterungen zur deutschen Literatur. Berlin: Volk und Wissen,
1963.
Kröger, Wolfgang, Gotthold Ephraim Lessing. Literaturwissen für
Schule und Studium. Stuttgart: Reclam, 1995.
Müller, Jan-Dirk, Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti.
­Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam, 1971, 1995
(bibliografisch ergänzt 1993).
Scheller, Ingo, G. E. Lessings Emilia Galotti. In: Praxis Deutsch, 23
(1996), Heft 136, S. 67–74.

Sekundärliteratur:
Alt, Peter-André, Tragödie der Aufklärung. Tübingen und Basel:
A. Francke Verlag, 1994; zu Emilia Galotti: S. 251–270.
Anz, Heinrich, Sokratik und Geschichte in Lessings Werk. In: Text
& Kontext 9.2. Themaheft: Aufklärung und Sinnlichkeit in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Kopenhagen/München
1981.
Barner, Winfried, Grimm, Gunter u. a., Lessing. Epoche – Werk –
Wirkung. München: C. H. Beck, 1975.
Brenner, Peter J., Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart: Reclam,
2000.
Braun, Julius W., Lessing im Urteile seiner Zeitgenossen. Zei-
tungsberichte, Kritiken und Notizen, Lessing und seine Werke
betreffend, aus den Jahren 1747-1781. 3 Bände. Berlin 1884–
1897 (Reprint Hildesheim: Olms, 1969).
Drews, Wolfgang, Gotthold Ephraim Lessing in Selbstzeugnissen
und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994.

124
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Durzak, Manfred, Das Gesellschaftsbild in Lessings Emilia Galotti.
In: Poesie und Ratio. Bad Homburg, 1970.
Dvoretzky. Edward (Hg.), Lessing heute. Beiträge zur Wirkungs-
geschichte. Stuttgart: Akademischer Verlag, 1981.
Fick, Monika, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
­Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, 2004.
Hettner, Hermann, Geschichte der deutschen Literatur im acht-
zehnten Jahrhundert. 2 Bände. Berlin: Aufbau-Verlag, 1961.
Liebmann, Kurt, Das Beispiel Lessing. Dresden: Verlag der
Kunst, 1977.
Mehring, Franz, Die Lessing-Legende und Aufsätze über Lessing.
In: Gesammelte Schriften. Hg. von Thomas Höhle u. a., Berlin:
Dietz, 1963, Band 9.
Nisbet, Hugh Barr, Lessing. Eine Biografie. Aus dem Englischen
übersetzt von Karl S. Guthke, München: Verlag C. H. Beck,
2008.
Oehlke, Waldemar, Lessing und seine Zeit. München: C. H. Beck,
1919.
Rilla, Paul, Lessing und sein Zeitalter. Berlin und Weimar: Aufbau,
1981.
Sanna, Simonetta, Lessings „Emilia Galotti“. Die Figuren des
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literatur

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Verfilmungen:
Emilia Galotti.
1913. Regie: Friedrich Fehér
Emilia Galotti.
Kinofilm, DDR 1957. Regie: Martin Hellberg.
Emilia Galotti.
Fernsehfilm, BRD 1960. Regie: Ernst Ginsberg.
Emilia Galotti.
Fernsehfilm, BRD 1970. Regie: Ludwig Cremer.
Emilia Galotti.
Fernsehfilm, DDR 1981. Regie: Klaus Dieter Kirst.

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Emilia Galotti.
Fernsehfilm, DDR 1984. Regie: Thomas Langhoff.
Emilia.
Deutschland/Schweiz 2004. Regie: Henrik Pfeifer

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stichwortverzeichnis

STICHWORTVERZEICHNIS

Absolutismus 9, 17, 34, 46, Mäzenatentum 9., 51, 65,


50, 55, 86 ff., 97, 113, 118 ff. 68 f., 71, 85, 87 ff.
Aufklärung 6, 17 f., 57, 62, 79, Moral 8, 22, 24, 27, 30, 34,
89, 93, 95, 112 45, 47, 52, 55, 62, 65, 75,
bürgerliches Trauerspiel 6 f., 85, 91 ff., 118, 121 f.
17 ff., 20 f., 24 f., 29, 31, 33, Natur 30, 36, 45, 51 ff., 57, 69,
45 f., 67, 81, 103, 111 ff., 71, 74 f., 86 f., 112 f.
118, 120 Natürlichkeit 8 f., 18, 36, 45,
Bürgertum 9, 67, 110, 112 f., 48, 51 ff., 55, 57, 64, 66,
118, 121 69, 71, 74 f., 84, 86 f., 112,
Einheit der Handlung 7, 46 f. 116, 122
Einheit der Zeit 36, 50 Rührung 18, 25 f., 112
Einheit des Charakters 46 „Scharnier“ 9, 81, 83 f.
Einheit des Ortes 7, 50 Sturm und Drang 21, 46,
Ellipse 81 81, 112
Empfindsamkeit 17 ff., 92, 96 Tragik 48, 61, 86, 91 ff.,
Feudalstruktur 9, 57, 63, 86, 111, 122
88, 93, 120 f. Tugend 7 f., 17 ff., 20 f., 24 f.,
Französische Revolution 10, 27 f., 37, 40, 42 f., 45, 47 f.,
17, 21 f., 51, 100 50 ff., 55 ff., 61 f., 64, 75,
Fürst, aufgeklärter 8, 34, 44, 77, 84, 86, 88, 91 ff., 97 f.,
55, 61, 64, 119 f., 122 104, 107, 109 f., 112 ff.,
Konflikt, tragischer 48, 50, 117 f.,  122
55, 60 f., 67, 91, 108, 110 ff., Vernunft 48, 50, 53, 82,
117 92 f.,  109
Kunstgespräch 53, 59, 69 ff. Virginia-Stoff 6, 9, 18, 25,
Lukretia-Stoff 24, 26 ff., 86 26 ff., 29 ff., 41, 44, 58, 86 f.,
Mätressenwesen 17, 30, 102, 112, 117, 121 f.
58, 85

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eigene notizen

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