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DIE WENDUNG ZUM FÜHRERSTAAT

SCHRIFTEN DES INSTITUTS FÜR POLITISCHE WISSENSCHAFT


HERAUSGEGEBEN VOM WISSENSCHAFTLICHEN LEITER PROF. DR. OTTO STAMMER, BERLIN

BAND 12
JÜRGEN FIJALKOWSKI

Die Wendung zum Führerstaat


Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie earl Schmitts

Mit einem Vorwort von Hans-Joachim Lieber

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1958


D 188
© 1958 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag. Köln und Opladen 1958.
Bindearbeiten: Kornelius Kaspers· Düsseldorf
ISBN 978-3-663-19623-5 ISBN 978-3-663-19675-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-19675-4
Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1958
INHALT

Erläuterungen ...................................................... VIII

Vorwort. Von Hans-Joachim Lieber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. ... IX

Einleitung
Carl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung . ................... XIII

1. Teil: Carl Schmitts rechtsstaatliche Postulate


Erstes Kapitel
Das Rechtsstaatsideal 3
Die Idee der Freiheit, der Gesetzesherrschaft und der Gewaltenteilung. . . . . . . . 6
Methodische Zwischenbemerkung ...................................... 12

Zweites Kapitel
Funktions- und Legitimitätsbedingungen
des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Die Notwendigkeit des generellen Charakters von Gesetzen ................ 15
Das Parlament soll öffentlich diskutierende Repräsentation sein ............ 16
Die Wahl soll aristokratischen Charakter haben .......................... 18
Die Parteien sollen lose Meinungsparteien sein .......................... 19
Beschränkung auf Grundrechte und organisatorische Regelungen ............ 20
Die Verfassung soll Grundentscheidung sein ............................ 22
Das unmittelbar handelnde Volk soll keine Konkurrenz für das Parlament
darstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 24
Die Notgewalt soll auf Maßnahmengewalt beschränkt sein ................ 25
Die Gesellschaftsordnung soll die der liberal-individualistischen
Konkurrenz sein .................................................. 27
Die Postulate der gleichen Chance und der Homogenität .................. 28
Zusammenfassung .................................................. 30

H. Teil: Carl Schmitts polemische Gegenwartsdiagnose


Erstes Kapitel
Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie ................ 35
Der Verfall des Gesetzesbegriffs ...................................... 35
Die Entartung des Parlaments ........................................ 36
Der Sinnwandel der Wahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39
Die Wesensänderung der Parteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 42
Die Instrumentalisierung der Verfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 43
Die Relativierung der Verfassungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 51
Die Bedrohung des parlamentarischen Gesetzgebers durch den plebiszitären. . .. 53
Das Gesetzgebungsrecht der Notgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 54
Der Mißbrauch der Fl"eiheitssphäre .durch die Verbände. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 56
Die Zerstörung der gleichen Chance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 59
Die Auflösung des Staats in den Pluralismus ............................ 60
Schlußbemerkung ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 63

Zweites Kapitel
Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen ............................ 66
Die Verfassungs- und Staatsgerichtsbarkeit .............................. 66
Der Gedanke der Wirtschaftsverfassung ................................ 75
Die Vorstellung wirtschaftlicher Inkompatibilitäten ...................... 76
Der Halt an den Resten des Beamtenstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 77
Die Vorstellung des Expertenstaats .................................... 80
Die Untauglichkeit der NeutJ:1alisierungen und Entpolitisierungen . . . . . . . . . . .. 80

Drittes Kapitel
Der plebiszitär-autoritäre Ausweg .................................... 83
Der Zustand kalten Bürgerkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 83
Die Totalität der Schwäche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 86
Der Ausweg bei den plebiszitären und autoritären Kräften ................ 87
Der Reichspräsident als Hüter der Verfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 90

IU. Teil: Die Grenzen des Rationalen in Carl Schmitts Kritik


Erstes Kapitel
Die Entwicklung zur organisierten Massengesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 95
Methodische VOl'bemerkung .......................................... 97
Die gesdlschaftlichen Grundprozesse .................................. 99
Der Zustand der liberalen Konkurrenzgesellschaft ........................ 101
Der Zustand ,der organisierten Massengesellschaft ........................ 102

Zweites Kapitel
Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren . ................... 107
Verlorene und neue Funktionen des Parlaments .......................... 107
Der Wandel des Gesetzesbegriffs; die neue Form der Gewaltenteilung ........ 110
Sinn der Wahl und Gefahr ,des Plebiszits ................................ 112
Der Strukturwandel der Parteien und seine funktionelle Notwendigkeit ...... 114
Funktion der Verfassung und Bedeutung der Verfassungstreue .............. 120
Gefahr der plebiszitären Kräfte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 123
Bedeutung und Gefahr der Notgewalt .................................. 123
Gebrauch und Mißbrauch der Freiheitssphäre ............................ 125
Grenzen der Kritik am pluralisüschen System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127
Inhalt VII

Die Homogenitätsbedingullig und das zurückgebliebene gesellschaftliche


Bewußtsein ...................................................... 128
Die Verfassungsgerichtsbarkeit ........................................ 130
Der Hüter der Verfassung ............................................ 133
Der heimliche Souverän. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136

IV. Teil: Carl Schmitts politische Option und Ideologie


Erstes Kapitel
Die Option für den totalen Führerstaat ................................ 141
Die dreigliedrige politische Einheit .................................... 142
Der Staat als Apparat der Paneiführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 143
Der Selbstverwaltungsspielraum des Volkes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 144
Die staat- und volktragende Bewegung ................................ 145
Die Prinzipien von Führertum und Artgleichheit ........................ 147
Die Beseitigung der Wählerei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 152
Die Degradierung der Abstimmungskörperschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 154
Die Beseitigung der Gewaltenteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 155
Die Instrumentalisierung der Legalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158
Die Beseitigung des Föderalismus ...................................... 159
Das arngle,iche Richtertum ............................................ 161
Der Rechtsstaat Adolf Hitlers ........................................ 166

Zweites Kapitel
Die Ideologie in der Kategorienbildung 168
Rechtlsstaatlichkeit und konsequente politische Form ...................... 168
Identität und Repräsentation .......................................... 174
Souveränitätsvorstellungen .......................................... 178
Das Wesen der Diktatlur ............................................ 181

Drittes Kapitel
Die Ideologie in der Geschichtsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 187
Historisch-soziologische Relativierung des parlamentarischen Systems. . . . . . .. 187
Der Parlamentarismus als Mittel der Neutralisierung des Politischen .......... 198
Die geschichtliche Deutung des zweiten Reiches .......................... 201
Der Weg vom absoluten über den neutralen zum totalen Staat .............. 208

Schlußwort . ........................................................ 213

Literaturverzeichnis ................................................. 216


ERLÄUTERUNGEN

Zitierweise der Anmerkungen


Im Interesse einer schnellen Orientierung wird einer mehrfach zitierten Schrift in
Klammern die Nummer der Anmerkung mit dem ersten, vollständigen Zitat bei-
gefügt. Die Abkürzung a. a. o. wird nur verwendet, wenn sich die Angaben auf die
gleiche Quelle wie in der unmittelbar vorhergehenden Anmerkung beziehen; ebda.
bedeutet nicht nur die gleiche Quelle, sondern auch ,dieselbe Seitenzahl.
VORWORT

Wenn es die Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist, ideologische Komponenten in der
politischen Philosophie des Staatsrechtlers earl Schmitt systematisch herauszuarbeiten,
so läßt diese ThemensteIlung zunächst den Verzicht darauf erkennen, das gesamte
Lebenswerk earl Schmitts als Einheit darzustellen. Die Studie kann und will nicht
den Anspruch erheben, als erschöpfende Biographie zu gelten. In dieser thematischen
Selbstbegrenzung liegen jedoch zugleich ihre Möglichkeiten: die vornehmlich juristisch
orientierten Analysen des Schmittschen Werkes, wie sie etwa auch das jüngst erschie-
nene Buch Peter Schneiders Ausnahmezustand und Norm kennzeichnen, durch
philosophisch-ideologien kritische belangvoll zu ergänzen. Sachnotwendig muß sich
die Arbeit in Erfüllung dieser Aufgabe stärker auf die innenpolitisch-verfassungs-
rechtlichen als auf die außenpolitisch-völkerrechtlichen Aspekte des SchmittSchen
Werkes konzentrieren. Hierin gründen sicher gewisse Einseitigkeiten der Arbeit, die
z. B. die Bedeutung machtpolitischer Faktoren, wie sie vor allem in der Außenpolitik
in Erscheinung treten, für die innenpolitisch-verfassungsrechtlichen Konzeptionen
SchmittS nur ungenügend berücksichtigt. Der systematische, immanent-ideologien-
kritische Denkansatz der Arbeit wird dadurch jedoch kaum beeinträchtigt.
Diesen ideologienkritischen Denkansatz gegenüber dem Werk earl Schmitts zu be-
währen und konsequent durchzuhalten, ist jedoch vor allem deshalb geboten, weil
Schmitt selbst in jenen Gedankengängen, die der Kritik des Rechtsstaatideals an-
gesichts der politischen Realitäten der Weimarer Republik gewidmet sind, den An-
spruch erhebt, in einem bestimmten Sinne Ideologienkritik zu leisten. Schmitt mißt
nämlich die politischen Realitäten der Weimarer Republik an der Idee des Rechts-
staates, kritisiert sie als Abfall von dieser Idee und versucht, auf Grund dieser Kritik
die Idee des Rechtsstaates und des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates selbst als
historisch überholte Ideologie, als gesellschaftlich-politisch falsche geistige Orientie-
rung zu entlarven. Der Weg zu einer neuen totalitären Staatsform, in der die Willens-
einheit des "politisch mündigen Volkes" sich unmittelbar im Wollen des Führers
manifestiert, erscheint dann als einzige heute noch mögliche politische Realität von
Demokratie überhaupt, die freilich alle historisch überholten Institute des parlamen-
tarischen Gesetzgebungsstaates hinter sich läßt und damit zugleich wahres politisch-
soziales Selbstbewußtsein der modernen Gesellschaft wird.
Schmitt zieht also aus seiner kritischen Konfrontation von Idee und Realität der
parlamentarischen Demokratie politisch-philosophische und verfassungsrechtliche Kon-
sequenzen, die eindeutig in einer Apologie des totalen Führerstaates gipfeln. Daß
diese Apologie für den totalen Führerstaat selbst realpolitische Wirkungen zeitigte,
dürfte kaum einem Zweifel unterliegen. Schmitt hat nicht nur als wohl wichtigster
staatsrechtlicher Inspirator hinter dem Papen-Experiment von 1932 gestanden und
ja dann auch diese Regierung bei dem Prozeß gegen Preußen in Leipzig vertreten.
Seine Schriften und Thesen fanden darüber hinaus in der vidgelesenen Monatszeit-
schrift Die Tat seit 1930 eine solche Verbreitung, daß sie maßgebend propagan-
x Vorwort

distisch als Stütze der Forderung nach einer autoritären Umwandlung des Weimarer
Staates zu wirken vermochten. Schließlich haben nicht nur in der rechtsgerichteten,
republikfeindlichen Publizistik, sondern auch in der Neigung der zeitgenössischen
Staatsrechtslehre, der parlamentarisch-rechts staatlichen Parteien demokratie ein ent-
weder restaurativ-bürokratisches oder autoritär-national diktatorisches Staatsbild ent-
gegenzustellen, die Berufung auf geschickt und zeitgerecht aufgemachte Entwürfe
earl Schmitts oder doch die Anknüpfung an sie eine einflußreiche Rolle gespielt. Sie
vermochte, wie bei der Bildung der Regierungen Brüning und Papen und im Verlauf
der Notverordnungsregime faktisch geschehen, unmittelbar und direkt auf die Politik
einzuwirken.
Diese Bedeutung earl Schmitts für die politischen Ereignisse im Niedergang der
Weimarer Republik ist von Karl Dietrich Bracher sowohl im Band 2 der Schriften
des Instituts für politische Wissenschaft, Faktoren der Machtbildung, und zwar
in dem Aufsatz "Auflösung einer Demokratie", als auch im Band 4 dieser Schriften-
reihe, Die Auflösung der Weimarer Republik (insbesondere S. 50 ff.), behandelt
worden. Insofern knüpft die Studie, die das Institut für politische Wissenschaft hier-
mit vorlegt, an diese früheren Publikationen an. So gehört sie in den Zusammenhang
der Arbeiten des Instituts, in denen das politische Leben nicht nur der Gegenwart,
sondern auch der jüngsten Vergangenheit erforscht und dargestellt werden soll.
Angesichts der unmittelbaren und direkten politischen Bedeutung earl Schmitts
für das Werden des nationalsozialistischen Führerstaates steht jeder Versuch einer
Interpretation seines Werkes, der an der Idee der parlamentarischen Demokratie als
verbindlichem, politisch-philosophischem Theorem zur realen Gestaltung von Freiheit
und Ordnung in der Gesellschaft festzuhalten gewillt ist, vor einer eigentümlichen
Problemsituation: Die Option Schmitts für den totalen Führerstaat erhebt den An-
spruch, einzig mögliche Konsequenz einer radikalen, zeitnahen Demokratiekritik zu
sein. Der inneren Logik dieser Demokratiekritik Schmitts jedoch, seiner rationalen
Argumentation, vermag man sich nur schwer zu entziehen, weil in weitem Ausmaß
zugestanden werden muß, daß von ihr tatsächlich Krisenphänomene der modernen
Massendemokratie und ihres politisch-rechtlichen Funktionssystems getroffen werden.
Solange ein Interpretationsversuch des Schmittschen Werkes vordergründig an der
in ihm vorgetragenen Demokratiekritik fixiert bleibt und die sie begründende ratio-
nale Argumentation als solche akzeptiert, dürfte es kaum gelingen, sie selbst ideo-
logienkritisch anzugehen, d. h. daraufhin zu befragen, was an ihr - bei aller Treff-
sicherheit im einzelnen - falsches gesellschaftlich-politisches Bewußtsein ist. Ein sol-
cher ideologienkritischer Interpretationsversuch scheint jedoch geboten, weil er die
Fixierung an die rationale Argumentation der Schmittschen Demokratiekritik zu
durchbrechen in der Lage ist und zugleich aufzuweisen vermag, welche politisch-
geseBschaftlichen Motivationen voluntativer Art sich selbst hinter ihr verbergen und
sie zum bloßen Vorwand deklassieren. Was als Konsequenz rationaler Kritik der
Demokratie sich anbietet, erweist sich dann als vorlaufende Motivation eben dieser
Kritik.
Die Analysen .der vorliegenden Arbeit sind ausschließlich einem solchen j,deologien-
kritischen Interpretationsversuch gewidmet. Geleitet sind sie dabei von der Über-
zeugung, daß jede Sozialkritik aus der Konfrontation einer je konkreten Gesellschaft
mit ihrer eigenen Idee ihre entscheidenden Impulse erhält. Die hinter ihr stehende
und sie leitende politisch-philosophische Motivation freilich ist immer daraufhin zu
befragen, ob sie auf Grund einer vorlaufenden ideologischen Option die Norm der
Gesellschaft, die sie in ihrer Realität kritisiert, bewußt so zurichtet, daß mit der
Realität der kritisierten Gesellschaft auch die Norm selbst dem Verdammungsurteil
an heimfallen muß. Angesichts des Schmittschen Werkes konkretisiert sich die Frage
Vorwort XI

dahin: Gilt die Demokratiekritik Schmitts der Apologie der Demokratie, ist sie also
um deretwillen unternommen und wird sie demzufolge Element rationaler Selbst-
aufklärung und Selbstbewährung der Demokratie, oder dient sie der Realisierung
totalitärer Sozialideen und ist sie nichts anderes als ideologisches Fundament und
Instrument zur Inthronisation antidemokratischer Totalitarismen?
Ist das letztere der Fall, dann muß sich schon in der Kritik an der Weimarer
Demokratie, wie Schmitt sie übt, im einzelnen nachweisen lassen, daß sie sich von vorn-
herein an antidemokratischen verfassungspolitischen Zielsetzungen orientiert und sich
ihre Maßstäbe entsprechend dieser vorlaufenden ideologischen Option für den totalen
Staat zurechtlegt. Ziel der vorliegenden Analysen ist es, diese dem ideologienkri-
tischen Denkansatz entsprechenden programmatischen Thesen durch Einzelanalysen
des Schmittschen Werkes als sachgültig zu bewähren und somit den Nachweis zu
führen, daß Schmitts Kritik an der parlamentarischen Demokratie wegen seiner vor-
laufenden ideologischen Option diese selbst in ihrer inneren Problematik verfehlt.
So wird im ersten Teil der Arbeit zunächst der Nachweis geführt, daß Schmitt die
Idee des Rechtsstaates und die Bedingungen von Legitimität und Funktionalität des
parlamentarischen Gesetzgebungsstaates im Zuge eines verabsolutierten idealtypischen
Verfahrens in einer so abstrakten Reinheit konzipiert und darstellt, daß sie als Maß-
stab realsoziologischer Kritik konkreter politisch-gesellschaftlicher Strukturen eigent-
lich untauglich erscheinen müssen. Indem Schmitt jedoch sein im Grunde ahistorisches,
idealtypisches Verfahren historisch abzusichern sucht, erhebt er gerade diese abstrakte
Idee zur verbindlichen Norm realsoziologischer Kritik an der Demokratie der Wei-
marer Republik. Die im zweiten Teil der Arbeit dargestellte Demokratiekritik
Schmitts kann demzufolge auch als eine solche begriffen werden, die nicht demokra-
tie-immanent, sondern demokratie-transzendent verfährt, insofern nämlich, als für
Schmitt die konstatierte Diskrepanz zwischen Idee und Realität der parlamentari-
schen Demokratie nicht nur Anlaß wird, die Realität als Entartungszustand zu ver-
stehen, sondern zugleich als Argument gegen die Idee der Demokratie parlamen-
tarischer Form überhaupt zu postulieren. Die hinter diesem Urteil versteckte ideo-
logische Option für den totalen Staat, die sich an gewissen totalitären Elementen des
Rousseauschen Denkens orientiert, offenbart sich vor allem in jenen Partien des
Schmittschen Werkes, die zum autoritären Staat hinführende politisch-verfassungs-
rechtliche Möglichkeiten in der Weimarer Republik betont positiv bewerten, sie je-
doch zugleich als Manifestationen eines totalen Staates "aus Schwäche" deuten, der
sich zum selbstbewußten totalen Führerstaat "aus Stärke" umzuwandeln hätte.
Das Ergebnis der Analysen dieser ersten bei den Teile der Arbeit begründet, daß
die Schmittsche Idee der parlamentarischen Demokratie das pluralistische Prinzip
nicht als konstruktives Element in sich aufzunehmen weiß. Werden dadurch die
Schmittschen Bestimmungen von Gesetz, Verfassung, Parlament, Wahl usw. in ihrem
idealtypisch übersteigerten, implizit schon totalen Aspekt begreiflich, so erweist sich
dadurch zugleich, daß der eigentliche Gegenstand der realsoziologischen Demokratie-
kritik Schmitts eben der Pluralismus der Gruppen in der modernen Gesellschaft
sein muß.
Um die zur Legitimierung des totalen Führerstaates hinführende Kritik Schmitts
an der pluralistischen Demokratie der Moderne in ihrem Anspruch, einzig mögliche
und wahre Kritik zu sein, zu relativieren, steht am Beginn des dritten Teiles der
Arbeit eine kurze Skizze des Wandels der liberalen Konkurrenzgesellschaft zur
organisierten Massengesellschaft. Diese Skizze stützt sich im wesentlichen auf Arbeiten
Karl Mannheims zur politischen Soziologie. Das hat den Vorzug, daß die in der
Arbeit angezielten gesellschaftlichen Entwicklungstrends auf einer relativ hohen Ab-
straktionsstufe eindeutig herausgearbeitet werden können. Der Nachteil, die spezi-
XII Vorwort

fische gesellschaftliche Situation der Weimarer Zeit nicht völlig in den Griff zu be-
kommen, wird dabei in Kauf genommen. Von der Zielsetzung der gesamten Arbeit
aus erscheint dies als gerechtfertigt, denn die nicht explizit historisch-soziologische,
sondern systematisch-ideologienkritische Absicht bedarf zu ihrer Entfaltung in erster
Linie der Einsicht in die Notwendigkeit eines Zustandes der Pluralität von Interes-
sen, Organisationen und Konzeptionen und in die Unausweichlichkeit eines Vermitt-
lungs- und Filtersystems in der politischen Ordnung der Massendemokratie. Diese
Einsicht resultiert hinreichend aus der erwähnten Skizze des Funktionswandels der
demokratischen Institutionen. Ohne die innere Problematik ihrer Funktionsfähigkeit
in einer veränderten gesellschaftlich-politischen Situation zu verkennen und ohne
damit eine für die Demokratie selbst fruchtbare Sozialkritik zu verneinen, steht im
Vordergrund der dieser Skizze folgenden Analysen das Bemühen, Zug um Zug und
These für These darzulegen, daß und warum die Kritik Schmitts die innere Proble-
matik der modernen Massendemokratie doch verfehlen und damit vordergründig
bleiben mußte, wodurch sich ihre Verwandlung in unkritisdle Gegenaufklärung, in
Ideologie, von selbst ergibt.
Der vierte Teil der Arbeit belegt dann in Einzelanalysen der offen zum totalen
Führerstaat sich bekennenden Schriften Schmitts, in einem wie starken Maße die
Option für diesen Staat nicht nur Konsequenz der Kritik an der Demokratie ist,
sondern selbst als Kriterium und ideologische Motivation die Kritik an der Demo-
kratie geleitet und bestimmt hat. Gerade in diesem Kapitel und seinen Darlegungen
bestätigt sich die ideologienkritische Konzeption der ganzen Arbeit. Nicht zuletzt
die Ausführungen des Schlußkapitels beweisen, daß es in der Arbeit gelingt, in einer
beachtenswerten systematischen Geschlossenheit das disparate Werk Schmitts unter
einheitlichen Gesichtspunkten kritisch so zu durchforschen, daß Schmitt sich als ein in
seinem Werk durchgehend dem Totalitarismus verbundener Denker erweist.
Will also die vorliegende Arbeit weder umfassende Biographie sein noch in histo-
risch-soziologischen Einzelanalysen die faktischen Einflüsse des Schmittschen Denkens
auf das Werden des Nationalsozialismus ausreichend verfolgen, sondern versucht sie
lediglich, eine bestimmte Methode der Ideologienkritik am Werk earl Schmitts zu
üben, so haben ihre Resultate doch zumindest systematische und darüber hinaus wohl
auch historische Bedeutung für jene Probleme, die sich angesichts moderner Totali-
tarismen einem philosophisch-soziologisch begründeten, politischen Selbstverständnis
der Demokratie stellen.

Berlin-Dahlem, im August 1958 Prof. Dr. Hans-Joachim Lieber


Einleitung

CARL SCHMITTS WERK


UND DIE VORLIEGENDE UNTERSUCHUNG

Das Problem jeder Gesellschaft ist ihre Integration zu einem Zustand geordneter
Freiheit. Das ist ein Problem der gestaltenden Politik und des gesellschaftlichen Be-
wußtseins der Menschen. Es kann geschehen, daß die Fähigkeiten zu politischer Ge-
staltung und das Bewußtsein von gesellschaftlichen Verhältnissen hinter dem Wandel
dieser Verhältnisse zurückbleiben. Dann gerät Freiheit in Gefahr, zum umkämpften
Privileg der Herrschaft, und Ordnung, zum Zwangsgebot für den unterlegenen
Untertan zu werden. Das sind auch die Gefahren und Probleme der modernen Ge-
sellschaft. Es sind die Risiken und Chancen der Politik und des politischen Denkens
auch unter den Bedingungen unseres Jahrhunderts.
Der Abwege und Verfehlungen des Zustandes geordneter Freiheit sind viele. Die
Gefahren der modernen industriellen Massengesellschaft scheinen in der Anarchie
bzw. in der Diktatur zu liegen, zu der die Anarchie führt; Diktatur als Konsti-
tuierung einer autoritären Ordnungsgewalt erscheint nur allzuleicht als Ausweg aus
der Anarchie. Die Erfahrungen, die die totalitären Staaten den Menschen aufnötigten
und aufnötigen, haben aber gelehrt, daß der Triumph über die Anarchie nicht Ord-
nung ist. Es hat sich erwiesen, daß die Alternative zwischen autoritärer Ordnung
und anarchischer Freiheit nicht zur Gewinnung der Ordnung, sondern zum Verlust
der Freiheit führt. Von dieser Einsicht kann alles gedankliche Bemühen um eine funk-
tionsfähige politische Organisation der modernen Massengesellschaft ausgehen. Eben-
so ergibt sich aus dieser Einsicht, daß eine Kritik an anarchischer Entartung der Frei-
heit ihre Maßstäbe nicht aus der Option für eine autoritäre Ordnung gewinnen kann.
Umgekehrt kann Kritik an der Entartung zur autoritären und totalitären Diktatur
ihre Maßstäbe nicht aus einer gedankenlosen und unkritischen Option für die ab-
strakte Freiheit entnehmen. Konstruktives kritisches Denken über Politik, Gesell-
schaft und Recht kann heute seine Maßstäbe nur in Richtung auf das Ziel einer
geordneten Freiheit und nur in konkreter Diagnose gewinnen.
Das um die Erfahrungen der totalitären Diktatur bereicherte Bewußtsein vermag
nun aber rückblickend auch zu erkennen, was an früher geübter Kritik wie an früher
erdachten Konstruktionen falsches Bewußtsein war. Es vermag zu erkennen, welche
ideologischen Elemente die Ergebnisse früher geübten Philosophierens über die Gegen-
stände von Gesellschaft, Politik und Recht enthielten. Es vermag auszumachen, wo
sich rationale Kritik in ideologische Apologie und kritische politisch-philosophische
Spekulation in unkritische ideologische Option verwandelte. Es vermag also Ideo-
logienkritik politischen Philosophierens zu üben. Einen solchen Versuch unternimmt
die vorliegende Arbeit.
Ihr Gegenstand ist das publizistische Werk earl Schmitts, der als politisch-gesell-
schaftskritischer Denker und als Rechtslehrer in Deutschland die Zeit der Weimarer
Republik und des nationalsozialistischen Dritten Reiches mit mannigfachen Reflexio-
nen begleitete. überblickt man Carl Schmitts Oeuvre, so findet man Schriften verschie-
denartigsten Charakters zu den verschiedenartigsten Gegenständen. Carl Schmitt hat
XIV Einleitung

sich mit vielen und recht unterschiedlichen Gegenständen beschäftigt. In der Mitte sei-
ner überlegungen stehen Probleme des öffentlichen, des Verfassungs rechts und des Völ-
kerrechts, denn sein Beruf war die Jurisprudenz. Aber die Art, in der er diese recht-
lichen Erwägungen vornahm, sowie die Reflexionen, die er ihnen vorangehen und die
er ihnen folgen ließ, heben sein Werk über den Bereich bloßer Jurisprudenz hinaus.
Sie geben die Möglichkeit, es in den Problemzusammenhängen politischer Philosophie
und soziologisch-politischer Ideologienkritik zu behandeln.

Am Anfang der Reihe seiner Veröffentlichungen steht, nach der rechtsdogmatischen


Dissertation über den Schuldbegriff,l eine Untersuchung zum Beweise der metho-
dologischen Autochthonität der Rechtspraxis im Unterschied zur Rechtstheorie. 2 Es
folgt eine philosophische Untersuchung über den Wert des Staates und die Be-
deutung des einzelnen,3 die wesentlich aus einer dualistischen Konzeption von
reiner Normativität und bloßer Faktizität entwickelt ist. Nach einem literaturkriti-
schen Essay über Theodor Däubler 4 folgt die Veröffentlichung von Studien, in denen
earl Schmitt versucht, die geistige Struktur der von ihm sogenannten politischen
Romantik, insbesondere der Ideen Adam Müllers, nach der Formel: Okkasionalis-
mus geschichtlich und systematisch herauszuarbeiten. earl Schmitt sucht sich von der
moralischen, politischen und ontologischen Unentschiedenheit dieses romantischen
Denkens abzugrenzen. 5
Anschließend erfolgt die Veröffentlichung einer großen Arbeit über die Diktatur,
deren Begriff und Praxis historisch und systematisch untersucht wird. 6 Die Unter-
suchung gelangt zu der Unterscheidung von Reformationsdiktatur und Revolutions-
diktatur nach dem Vorbild der Unterscheidung von Fürsten- und Volkssouveränität.
Sie geht aus von dem schon in Gesetz und Urteil gefaßten Gedanken, daß der
Rechtswert der bloßen Entscheidung unabhängig von ihrem Gerechtigkeitsinhalt ist,
und behandelt die Diktatur als einen Souveränitätsfall, an dem offenbar wird, daß
die Substanz der Staatsgewalt jede rechtliche Regelung transzendiert. Die historischen
und systematischen Auseinandersetzungen mit der politischen Romantik und dem
Wesen der Diktatur führen zur Veröffentlichung von Vier Kapiteln zur Lehre von
der Souveränität, zusammengefaßt unter dem Namen Politische Theologie. 7 earl
Schmitt bestimmt darin zuerst den Souveränitätsbegriff. Er entwickelt so dann die
Hypothese, daß das metaphysisch-theologische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter
von der Welt macht, dieselbe Struktur hat wie das, was ihm "als Form seiner poli-
tischen Organisation ohne weiteres einleuchtet". 8 earl Schmitt nennt die Aufweisung
dieses Zusammenhanges Soziologie der für politische Gestaltungen maßgebenden
rechtlichen Begriffe und politische Theologie. Die Methode einer solchen Soziologie
findet er darin, daß politisch-rechtliche Begriffe, die auf konkrete Gesellschaftslagen
in konkreten historischen Situationen Bezug haben, bis zu ihrer radikalen begriff-
lichen Konsequenz und damit bis in die Metaphysik und Theologie hinein ausgedacht

1 earl Schmitt, Ober Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung, Diss. Breslau 1910.
2 earl Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, Berlin 1912.
3 earl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914.
4 earl Schmitt, Theodor Däublers ,Nordlicht". Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität
des Werkes, München 1916.
5 earl Schmitt, Politische Romantik, München - Leipzig 1919, 2. Auf!. 1925.
6 earl Smmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Sou'tieränitätsgedankens bis zum proletarischen
Klassenkampj, München 1921, 2. Auf!. 1928.
; earl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Auf!., München 1934
(1. Auf!. 1922).
8 A. a. 0., S. 59.
Carl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung xv
werden. Er versucht diese Methode sodann essayistisch an den Staats- und Rechts-
theorien des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei gewinnt er die Möglichkeit, gegen die
norm positivistischen Theorien eines Kelsen und Krabbe zu polemisieren, die das
Wesen der Souveränität und seine Analogie zu Gottes Allmacht nicht zu erkennen
vermögen bzw. nicht anerkennen wollen. Und er erörtert die Staatsphilosophie der
Gegenrevolution, insbesondere de Maistre, Donoso Cortes u. a., die ihn im Unter-
schied zu Positivismus einerseits, Fortschrittsliberalismus und politischer Romantik
anderseits durch die moralische und metaphysische Entschiedenheit ihres Denkens
beeindrucken.
In der Reihe der Veröffentlichungen folgt sodann die Arbeit über die geistesge-
schichtliche Lage des modernen Parlamentarismus, der geistesgeschichtlich für tot
erklärt wird. 9 Dem Parlamentarismus, der auf den relativen Rationalismus eines
liberalen Denkens in Balancierungen und auf einen spezifischen Agnostizismus rela-
tiviert wird, werden zwei Apodiktizitäten, die Apodiktizität des Rationalismus in
Gestalt des Marxismus und die Apodiktizität des Irrationalismus in Gestalt des
Anarchosyndikalismus bzw. Sorelismus, entgegengesetzt. Carl Schmitt findet, sich an
der moralisch-theologischen Entschiedenheit der Gegenrevolutionäre, insbesondere
Donoso Cortes' orientierend, daß sich der liberale Rationalismus im konsequenteren
Rationalismus des marxistischen Diktaturgedankens aufgelöst habe, und er findet im
sorelistischen Irrationalismus, im Mythos der Gewalt, die Vorbereitung der "Grund-
lage einer neuen Autorität, eines neuen Gefühls für Ordnung, Disziplin und Hier-
archie",10 In den Zusammenhang dieser Schriften Carls Schmitts zur geistesgeschicht-
lichen Ortsbestimmung der Gegenwart gehört auch der Essay Römischer Katholizis-
mus und politische Form, 11 darin Carl Schmitts Orientierung am gegenrevolutionären
Denken sich näher zu qualifizieren sucht.
In den folgenden Jahren finden sich Schriften und Ausarbeitungen über "Die Dikta-
tur des Reichspräsidenten",12 "Einmaligkeit und gleicher Anlaß bei der Reichstags-
auflösung" ,13 "Die Kernfrage des Völkerbunds", 14 "Die Rheinlande als Objekt
internationaler Politik",15 "Der Status quo und der Friede",16 ein Rechtsgutachten
bezüglich der Fürstenenteignung,17 Volksentscheid und Volksbegehren,18 "Völkerbund
und Europa", 19 spezielle rechtswissenschaftliche Arbeiten und allgemeinere Schriften
zu politischen, verfassungstheoretischen und völkerrechtlichen Problemen der Zeit

9 earl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München - Leipzig 1926

(1. Aufl. 1923).


10 A. a. 0., S. 89.
11 earl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (Schriftenreihe Der katholische Gedanke, Bd. 13),
München - Rom 1925.
t2 earl Schmitt, ,.,Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung. Referat auf der Tagung
der deutschen Staatsrechtslehrer in Jena 1924", in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechts-
lehrer, 1924, Nr. 1.
t3 earl Schmitt, .. !Einmaligkeit' und ,gleicher Anlaß' bei der Reichstagsauflösung nach Artikel 25 der Reichs-
verfassung", in; Archiv des öffentlichen Rechts, N. F., Bd. 8 (l925), Heft 1/2.
u earl Schmitt, "Die Kernfrage des Völkerbunds·, in; Völkerrechts/ragen, Heft 18, Berlin 1926.
15 earl Schmitt, "Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik" [Rede, gehalten zur Jahrtausendfeier
der Rheinlande in Köln a111 14. April 1925], in; Flugschri/ten zum Rheinproblem, Folge 2, Heft 4, Köln 1925,
zum Teil abgedr. in: Positionen und Bf!grif;e im Kampf mit lFein1:1r, Rnnn, Ver5ai!l e s. 1929-1939, Hamburg 1940.
'" earl Schmitt, "Ocr Status quo und der Friede", in; Hochland, 23. Jg. (1925), Heft 1.
ti earl Schmitt, Unabh:ingigkeit der Richter, Gleichheit vor dem Gesetz und Gewährleistung des Privateigen-
tums nach der Weim.1rer VerfaS5tmg. Ein Rechtsgutachten zu den Gesetzentwürfen über die Vermägensaufeinander-
setzung mit den früheren regierenden Fürstenhäusern, Berlin - Leipzig 1926.
18 earl Schmitt, Volksentscheid tmd Volksbegehren. Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und
zur Lehre ",,'on der unmittelbaren Demoleratie (Beitr:ige zum ausUndischen öf/entlichen Recht und Völkerrecht,
Nr.2), !lerlin 1927.
" earl Schmitt, .Der Völkerbund und Europa", in; Hochland, 25. Jg. (1928), Januarheft.
XVI Einleitung

also. Eine Arbeit wiederum mehr grundsätzlichen Charakters, in der Carl Schmitt
eine bestimmte politisch-philosophische Position expliziert, ist seine Schrift Der Begriff
des Politischen. 20
Bald darauf erscheint Carl Schmitts Verfassungslehre,21 in der er den Begriff der
Verfassung zu bestimmen, die politischen und rechts staatlichen Elemente der moder-
nen Verfassungen und das Wesen des parlamentarischen Systems wie das Wesen
bundesstaatlicher Organisation in historischen und systematischen Erörterungen zu
analysieren sucht. Er versteht das Ergebnis der Arbeit als eine Lehre vom bürger-
lichen Rechtsstaat. Im Anschluß daran erfolgen Veröffentlichungen über "Völker-
rechtliche Probleme im Rheingebiet",22 "Das Reichsgericht als Hüter der Verfas-
sung".23 Carl Schmitt stellt verfassungs theoretische und verfassungs politische Er-
wägungen darüber an, wer unter den gegebenen Umständen in der Weimarer
Republik als "Hüterder Verfassung" angesehen werden sollte. Er verfolgt völker-
rechtliche Entwicklungen, konstatiert verfassungstheoretisch die "Auflösung des Ent-
eignungsbegriffs"24 und beobachtet "Wesen und Werden des faschistischen Staates" .25
In einem Aufsatz über die "Europäische Kultur im Zwischenstadium der Neutrali-
sierung"26 deutet er sich den Weg der europäischen Geschichte in den letzten vier
Jahrhunderten als einen Weg stufenweiser Neutralisierung. Sowohl geistig als auch
politisch werde seit dem Zerfall des mittelalterlichen Glaubens in einer Stufenfolge
wechselnder Zentral gebiete kulturell-politischen Lebens versucht, neutralen Grund
zu gewinnen, auf dem man sich einigen kann, um dem immer wieder aufbrechenden
metaphysischen Streit und seinen Entscheidungen zu entgehen. Der Weg führt von
der Theologie des 16. Jahrhunderts über die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, die
humanitäre Moralität der Aufklärung im 18. Jahrhundert über die Romantik zum
Okonomismus des 19. Jahrhunderts und endet schließlich in der absoluten Neutra-
lität der Technik, deren Instrumentarium sich eine neue Kultur im 20. Jahrhundert
nicht mehr um der Neutralisierung willen, sondern um der positiven Sinngebung
willen bemächtigen wird.
In den folgenden Veröffentlichungen setzt Carl Schmitt sich wieder mit Problemen
wie "Der Völkerbund und das politische Problem der Friedenssicherung" ,27 "Ein-
berufung und Vertagung des Reichstags" ,28 "Das Problem der innerpolitischen Neu-

.. earl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl., Hamburg 1933 (erste Veröffentlichung unter dem gleichen
Titel in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd.56, 1927; Abdruck in der Schriftenreihe Politische
Wissenschaft, Probleme der Demokratie, Heft 5, Berlin-Grunewald 1932; 1. Auflage al, selbständige Schrift unter dem
Titel: Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, neu
herausgegeben als Nr. 10 der Schriftenreihe Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik
und Geistesgeschichte, München - Leipzig 1932).
'1 Carl Sc.1mitt, Verfassungslehre, München - Leipzig 1928 (Neudruck 1952).
" Carl Schmitt, • Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet·, Vortrag auf dem deutschen Geschichtslehrertag
vom 5. Oktober 1928, in: Rheinische Schicksalsfragen, Nr.27/28, Berlin 1928; abgedr. in: Positionen und Be-
griffe. '. (Anm. 15), S.97-108.
23 earl Schmitt, "Das Reimsgericht als Hüter der Verfassung'" in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen

Rechtsleben, Bd. 1, Berlin 1929.


" Carl Schmitt, .Auflösung des Enteignungsbegriffs·, in: Juristische Wochenschrift, Bd. 58 (1924), Heft 8.
25 Carl Schmitt, • Wesen und Werden des faschistischen Staates·, in: Positionen und Begriffe . .. (Anm. 15),
S. 109 ff. (Besprechung des gleichnamigen Buches von Erwin v. Beckerath; zuerst veröffentlicht in: Schmollers
Jahrbuch, 53. Bd., 1929).
26 Carl Schmitt, "Europäische Kultur im Zwischenstadium der Neutralisierung'" in: Europäische Revue) 5. Jg.
(1929), Heft 8 (auch in: Positionen und Begriffe . .. , a. a. 0.).
" Cari Schmitt, Der Völkerbund und das politische Problem der Friedenssicherung (Teubners Quellensammlung
für den Geschichtsunterricht, IV, 13), Leipzig 1930.
!S earl Schmitt, .Einberufung und Vertagung des Reichstags nach Art. 24 Reichsverf.·, in: Deutsche Juristen-
Zeitung, 35. Jg. (1930), Heft 20.
Carl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung XVII

tralität des Staates" ,29 "Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichs-
verfassung"30 auseinander. Er philosophiert über die Tendenzen des innerpolitischen
Pluralismus und die Tendenzen zum totalen Staat. So setzt er sich in "Staatsethik
und pluralistischer Staat" 31 kritisch-polemisch mit der pluralistischen Theorie Laskis
auseinander und in einer Schrift über H ugo Preuß, sein StaatsbegrifJ und seine Stel-
lung in der deutschen Staatslehre 32 mit dem "Agnostizismus", in dem die Staats-
theorie bisher geendet sei. In Der Hüter der Verfassung 33 gibt er dann eine Analyse
der konkreten Verfassungslage, die in der Diagnose eines staatsauflösenden Zusam-
menwirkens von Plurali~mus, Föderalismus und Polykratie gipfelt, der Justiz die
Möglichkeit und Berechtigung einer verfassungshütenden Funktion abspricht und sich
verfassungspolitisch in Orientit:rung an der "Wendung zum totalen Staat" an die
plebiszitären und autoritärt:n Kräfte zu halten sucht, mit Hilfe deren der übergang
zu einem plebiszitär-autoritären Regierungsstaat zu gewinnen ~ei.
earl Schmitt erörtert sodann das Verhältnis von Legalität und Legitimität 34 in der
Gegenwartslage der Weimarer Republik und kommt zu dem Ergebnis, daß diese
durch den Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats charakterisiert
sei, durch die innere Entleerung des Legalitätssystems. Er tritt nach dem Preußen-
schlag 1932 als Anwalt der Reichsregierung gegen das klageführende Preußen auf
und interpretiert die Notverordnungspraxis dieser gespannten Jahre der Weimarer
Republik in antiparlamentarischer verfassungspolitischer Absicht.
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 engagiert sich der Staatsrat
earl Schmitt mit Energie für den Aufbau des neuen ~eidles. Er entwirft national-
sozialistische Leitsätze für die Rechtspraxis,35 wirkt mit bei der neuen verfassungs-
politischen und strafrechtlichen Gesetzgebung, kommentiert das Reichsstatthalterge-
setz 36 und das "Ermächtigungsgesetz". 37 Er konstruiert das verfassungspolitische
Konzept des totalen Führerstaats 38 und interpretiert die "Stellvertretung des Reichs-
präsidenten"39 im nationalsozialistischen Sinne. Er rechtfertigt Adolf Hitler nach der
Röhm-Affäre als höchsten Richter,40 stellt das Dritte Reich als neuen "Rechtsstaat"41
dar und formuliert das Programm für den "Neubau des Staats- und Verwaltungs-
rechts" .42 Zugleich gibt er eine geschichtsphilosophische Neuverständigung über
29 earl Schmitt, "Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates", in: Mitteilungen der Industrie-

und Handelskammer zu Berlin, 28. Jg. (1930), Heft 9.


30 earl Schmitt, "Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung"', in: Rechtswissenscha/t-
liehe Beitriige zum 25jährigen Bestehen der Handelshochschule Berlin, Berlin 1931.
81 Carl Schmitt, .Staatsethik und pluralistischer Staat", in: Kantstudien, 35. Jg. (1930), Heft 1 (Vortrag auf
der 25. Tagung der Deutschen Kant-Gesellschaft in Halle am 22. Mai 1929).
32 Carl Schmitt, Hugo Preuß, sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre (Recht und
Staat in Geschichte und Gegenwart, Nr. 72), Tübingen 1930.
33 earl Schmitt, Der Hüter der Verfassung (Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, Nr. 1), Tübingen

1931.
" Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München - Leipzig 1932.
35 earl Schmitt, Fünf Leitsätze für die Rechtspraxis, hrsgg. vom Presse- und 2eitschriftenamt des Bundes

nationalsozialistismer deutscher Juristen e.V., 1933.


36 Carl Schmitt, Das Reichsstatthaltergesetz (Das Recht der nationalen Revolution, Nr.3), Berlin 1933.

37 earl Schmitt, "Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich", in: Deutsche Juristenzeitung,

38. Jg., 1933.


38 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit (Schriftenreihe Der
deutsche Staat der Gegenwart, hrsgg. von Carl Schmitt, Nr. 1), Hamburg 1933.
39 earl Schmitt, "Die Stellvertretung des Reimspräsidenten", in: Deutsche Juristenzeitung, 38. Jg., 1933 .

.. Carl Schmitt, "Der Führer schützt das Recht. Lur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934", in:
Positionen und Begriffe . .• (Anm. 15), S. 199-203; zuerst veröffentlicht in: Deutsche Juristenzeitung, 39. Jg., 1934.
41 Carl Schmitt, .Der Rechtsstaat", in: Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, hrsgg.

von Dr. Hans Frank, München 1935, 5.3-10.


42 earl Schmitt, "Der Neubau des Staats- und Verwaltungsredtts", in: Deutscher Juristentag. 4. Reichstagung

des Bundes nationalsozialistischer deutscher Juristen, Berlin 1933.


XVIII Einleitung

»Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches",43 polemisiert gegen den


»jüdischen Geist" und sucht die politische Haltung, die er jetzt, nachdem die Weima-
rer Anarchie durch eine große Entscheidung beendet worden ist,44 einnimmt, philoso-
phisch im sogenannten konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken zu fundieren,
welches er gegen Normativismus, Dezisionismus und Positivismus abgrenzt. 45
Nachdem das Dritte Reich endgültig konstituiert ist, wendet Carl Schmitt seine
Aufmerksamkeit in verstärktem Maße außenpolitischen und völkerrechtlichen Pro-
blemen zu. Nach dem Jahre 1936 erfolgen keine wesentlichen Veröffentlichungen
mehr, die sich mit konkreten innen- und verfassungspolitischen Problemen befassen.
Hatte er bis dahin schon in verschiedenen Aufsätzen und Arbeiten völkerrechtliche
Probleme erörtert, sich insbesondere mit der Lage der Rheinlande und der Fragwürdig-
keit des Völkerbundes beschäftigt, so rechtfertigt er nun die völkerrechtlichen An-
sprüche des Dritten Reiches. Er erwägt das Verhältnis vom totalen Staat, totaler
Feindschaft und totalem Krieg. 46 Er unterscheidet den nicht-diskriminierenden von
einem den Feind zum Verbrecher diskriminierenden Kriegsbegriff und polemisiert
gegen »die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff" ,47 für die er vor allem
die universalistischen Ansprüche des angeblich für imperialistische Zwecke der West-
mächte instrumentalisierten Völkerbundes verantwortlich macht. So rechtfertigt er
die außenpolitischen Ansprüche des nationalsozialistischen Dritten Reiches, implizite
auch die Möglichkeit, diese mit Hilfe des nicht-diskriminierenden, aber immerhin
Krieges durchzusetzen, in einer neuen völkerrechtlichen Theorie, die vom Grund-
satz der im Reichsbegriff faßbaren Großraumordnung ausgeht und sich von dort her
gegen den nur zum diskriminierenden Krieg führenden völkerrechtlichen Universalis-
mus wendet. Er verdächtigt den planetarischen Interventionismus universalistischer
Völkerrechtskonzeptionen der ideologischen Verhüllung des Imperialismus und recht-
fertigt umgekehrt den europäischen Imperialismus des Dritten Reiches aus der völker-
rechtlichen Konzeption eines Pluralismus von Großraumordnungen. 48
Inzwischen veröffentlicht Carl Schmitt eine Interpretation des Leviathan von Tho-
mas Hobbes,49 darin er »den politischen Mythos als eine eigenmächtige, geschichtliche
Kraft"50 zu begreifen sucht und im Leviathan das heiden-christliche Symbol eines
.. earl Schmitt, Staatsgejüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldate»
(Der deutsche Staat der Gegenwart, Nr. 6), Hamburg 1934.
" Hugo Fiala, .Politischer Dezisionismus', in: Internationale Zeitschrijt für Theorie des Rechts, Jg.1935,
S. 123, formuliert sehr deutlich: .,Die souveräne Entscheidung von einst fügt sich - nachdem sie gefallen ist - ein
in die neu entstehende konkrete Ordnung."
.. earl Schmitt, Ober die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (Schriften der Akademie für deut-
sches Recht), Hamburg 1934 .
.. earl Schmitt, • Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat" (1937), in: Positionen und Begriffe . .• (Anm.15),
S.235-239; zuerst veröffentlicht in: Völkerbund und Völkerrecht, 4. Jg., S. 139-145; ders., .Das neue Vae
Neutris!" (1938), in: Positionen . .. , a. a. 0., S. 251-255; zuerst veröffentlicht in: Völkerbund und Völkerrecht,
4. Jg., S. 633-638; ders., • Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität" (1938), in: Positionen . .. , a. a. 0.,
S.255-260; zuerst veröffentlicht in: Monatshefte für Auswärtige Politik, 5. Jg., Juli 1938, S. 613-618; ders.,
"Inter pacem et bellum nihil medium" (1939), in: Positionen . .. , a. a. 0., S. 244 ff.; zuerst veröffentlicht in:
Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht, 6. Jg. (1939), Heft 18.
" earl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (Schriften der Akademie für Deutsches
Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr.5), München 1938.
"earl Schnütt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein
Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (Schriften des Instituts für Politik und Internationales Recht an der
Universität Kiel, N. F., ßd.7), ßerlin - Wien - Leipzig 1939 (3. Aufl. 1941); dees., .Großraum gegen Universalis-
mus. Der völkerrechtliche Kampf gegen die Monroedoktrin", in: Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht,
6. Jg., Heft 7; abgedr. in: Positionen . .. (Anm. 15), S. 295-302; der,., .Der Reichsbegriff im Völkerrecht", in:
Deutsches Recht, Heft 11, 1939; abgedr. in: Positionen . .. , a. a. 0., S. 303-312 •
.. earl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen
Symbols, Hamburg 1938.
5' A. a. 0., S.55.
earl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung XIX

Versuches sieht, gegenüber der juden-christlichen Aufspaltung der politischen Einheit


in eine privat-sittlich-innere und eine öffentlich-rechtlich-äußere Sphäre die Einheit
der politischen Form zu wahren. Der Versuch sei zwar fehlgeschlagen, der Staat
habe sich zum leeren Legalismus des bloßen Funktionsmodus "Rechtsstaat" entsub-
stantialisiert und formalisiert, er sei im Vordringen des politischen Agnostizismus
zum bloßen Apparat geworden, dessen sich die indirekten verantwortungslos indi-
vidualistischen Gewalten bemächtigten, die mit dem Messer der liberalen Freiheiten
den Leviathan schlachteten und sein Fleisch unter sich verteilten. Aber von Hobbes sei
gleichwohl diese Warnung vor den indirekten Gewalten zu lernen und festzuhalten.
1940 gibt Carl Schmitt dann eine ausgewählte Sammlung seiner verschiedenen klei-
neren Aufsätze unter dem Titel Positionen und BegriffeS1 heraus, 1942 eine als Welt-
geschichte dichterisch-philosophisch erzählte Darstellung seiner in der Völkerrechts-
philosophie zur Anwendung gebrachten Konzeption von der geschichtswirksamen
Bedeutung des Verhältnisses von "Land und Meer". Die Erfahrungen des europä-
ischen Krieges und wohl auch der Entwicklung, die der Nationalsozialismus genom-
men hat, veranlassen Carl Schmitt 1944, in einem Vortrag über "Die Lage der euro-
päischen Rechtswissenschaft" einen entfesselten Technizismus des Rechtsdenkens fest-
7ustellen, demgegenüber das Rechtsbewußtsein sich nur auf die Theorie zurückziehen
könne.
Der Zusammenbruch des Dritten Reiches bringt Carl Schmitt dann in die Internie-
rung. Nach dieser Erfahrung veröffentlicht er eine Reihe von kleineren Reflexionen
unter dem Titel Ex Captivitate Salus 52 und eine Schrift über Donoso Cortes in ge-
samteuropäiscber Interpretation. 53 Darin philosophiert er darüber, daß der Gegen-
satz von Anarchie und Autorität, der 1922 bis 1933 aktuell gewesen sei, inzwischen
von dem Gegensatz von Anarchie und Nihilismus verdrängt worden sei. Er meint,
die in der Welt herrschenden Meinungen haben sich mit großer Folgerichtigkeit in
der Richtung weiterentwickelt, die von den Staatsphilosophen der Gegenrevolution
spätestens 1848 erkannt worden war, und er versucht, über A. de Tocqueville, B. G.
Niebuhr, Bruno Bauer, Donoso Cortes, S. Kierkegaard, J. Burckhardt, E. Troelrsch,
Max Weber, W. Rathenau und O. Spengler eine geistesgeschic.1.tt liche Kontinuität des
gegenrevolution ären Denkens zu konstruieren, um den Marxisten, die diese Konti-
nuität seit dem Kommunistischen Manifest besitzen, das Monopol der Sinn deutung
der Ereignisse streitig zu machen. Das Wesentliche der gegenrevolutionären Ein-
sichten scheint ihm in Donoso Cortes' Erkenntnis zu liegen, "daß gerade die Pseudo-
religion der absoluten Humanität den Weg zu einem unmenschlichen Terror öff-
net" .54 Carl Schmitt ordnet sich selber dieser Tradition ein und interpretiert sich als
der "schlechte, unwürdige und doch authentische Fall eines christlichen Epimetheus",53
d. h. als eines, der Christ sei, aber, wie der Epimetheus der griechischen Sage, die
schöne Pandora mit der Büchse des Unheils eingelassen habe, als Christ jedoch den
heilsgeschichtlichen Halt auch dadurch nicht verlieren konnte. Er versteht sein Ge-
schichtsbild nach dem Vorbild Donoso Cortes' als "eschatologisch, ohne den Begriff der
Geschichte zu leugnen" .56 Von der deutschen Intelligenz im Dritten Reich schreibt
er, sie sei aus Angst vor dem Bürgerkrieg zur Beute des Nationalsozialismus gewor-
den und wegen des unlösbaren, zum al auch außenpolitisch wichtigen Zusammenhangs

61 Smmitt, Positionen und Begriffe . •. (Anm. 15).


52 Carl Smmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945-47, Köln 1950.
63 Carl Smmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation. 4 Aufsätze, Köln 1950.
54 A. a. 0., S. 108.
6. Smmitt, Ex Captivitate . •. (Anm. 52), S. 12; das Bild stammt von Konrad Weiss, Der christliche Epi-
metheus, Berlin 1933.
" Smmitt, Donoso Cortes . •. (Anm. 53), S. 105.
xx Einleitung

von Schutz und Gehorsam loyal gegen die unbestrittene Regierung gewesen, habe sich
dann aber in die kalte Höflichkeit des Schweigens zurückgezogen. Er versteht sich
1946 angesichts der "Siegerjustiz" als "der letzte, bewußte Vertreter des jus publicum
Europaeum",57 der dessen Ende erfährt wie Benito Cereno in der Erzählung von
Herman Melville die Fahrt des Piratenschiffs.
Das ist im groben überblick" die gedankliche Entwicklung Carl Schmitts, soweit sie
sich aus seinen Publikationen ablesen läßt. Carl Schmitt war schon während der
Weimarer Zeit eine faszinierende Gestalt, die vielerlei und in weite Kreise dringende
Auseinandersetzungen hervorrief. Sein Werk gibt auch heute noch Anstoß zu kriti-
scher Diskussion. Aber so glänzend sein Stil, so scharfsinnig seine Argumentation, so
breit das Feld seiner Interessen und seines Wissens sind, so schwierig ist es auch, die
Einheit seiner geistigen Gestalt zu erkennen. Die meisten Schriften der Sekundär-
literatur58 beziehen sich nur auf einzelne Publikationen Carl Schmitts, insbesondere
auf den Begriff des Politismen, oder versumen Gesamtdeutungen nur auf früheren
Stufen und nur bis zu früheren Daten. 59
Der Versuch, Carl Schmitts geistige Gesamtgestalt aus der Entwicklung der von ihm
selbst unterschiedenen drei Arten des Remtsdenkens zu begreifen, smeint nom der
fruchtbarste Weg zu sein. So versteht Carl Schmitt die Entwicklung seiner philoso-
phischen Einsimt selbst als die fortschreitende überwindung des positivistischen Den-
kens auf dialektischem Wege. Zuerst wird der Normativismus mit Hilfe des Dezisio-
nismus überwunden. Es stellt sich heraus, daß der Normativismus alle konkrete und
substantielle Ordnung im wirklichen menschlimen Zusammenleben zerstört, weil er
sie nur aus einer abstrakten, vielleicht metaphysisch im Natur- und Vernunftrecht
objektivierten Normativität zu begreifen vermag, von deren reinem Sollen man
nicht weiß, woher es und wie es zur Wirklichkeit kommt. Diese Absetzung vom
Normativismus gelingt mit Hilfe des Dezisionismus, der erkennt, daß alle Ordnung
als wirkliche Ordnung nur durm das Wirken wirklichen Willens zu begreifen ist und
der daher an den Anfang jeder Ordnung den begründenden Akt einer souveränen,
auch Normen erst setzenden, reinen Entsmeidung stellt, durch die entschieden wird,
was in der Sache als Recht und Unrecht fortan zu gelten habe. Dieser Dezisionismus
aber steht in Gefahr, von der verabsolutierten reinen Entscheidung her das Sein zu
punktualisieren und also ebenfalls die Fülle der Wirklimkeit zu verfehlen.
Carl Schmitt grenzt sim deshalb auch gegen die Verabsolutierung des Dezisionismus
ab. Die rechtsphilosophische Schule des Positivismus begreift er als eine Entartung,
57 Sd!mitt, Ex Captivitate . .. (Anm. 52), S. 75. Sein absd!ließendes völkerred!tlid!es Werk hat Sd!mitt in:
Ver Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, vorgelegt. Er führt darin seine
bereits während des Dritten Reid!es entwickelten Gedanken über völkerred!tlid!e Großraumordnung und Anti-
Universalismus zu Ende.
* Die jetzt vorliegende Aufsatzsammlung: earl Sd!mitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924
bis 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, ersd!ien nad! Absd!luß der vorliegenden Untersud!ung
und konnte daher leider nid!t mehr berücksid!tigt werden. Die Aufsatzsammlung ist zumal durd! die Art der Aus-
wahl und durd! die von earl Sd!mitt beigegebenen Kommentare aufsd!lußreid!.
58 Vgl. die Zusammenstellung bei Piet Tommissen, Versuch einer Carl-Schmitt-Bibliographie, Düsseldorf 1953.
59 Eine interessante Deutung versucht z. B. die offenbar an der Staatslehre Hermann Hellers orientierte Arbeit
von Heinrich Wohlgemuth, Das Wesen des Politischen in der heutigen deutschen neoromantischen Staatslehre. Ein
methodenkritischer Beitrag zu seiner Begriffsbildung, Diss. Erlangen 1932. Wohlgemuth setzt sid! zugleid! mit
Leibholz und Smend auseinander, faßt aber den Begriff des Neoromantischen nicht scharf genug. -
Eine aufsd!lußreid!e Deutung earl Sd!mitts gibt Hans Krupa, Carl Schmitts Theorie des Politischen (Studien
und Bibliographien zur Gegenwartsphilosophie, hrsgg. von W. Smingnitz, Heft 22), Tübingen 1937. Krupa sieht
Schmitts Entwicklung nach dem Vorbild dessen eigener Unterscheidung dreier Arten des Rechtsdenkens von
einem Normativismus, der schon dezisionistische Züge trage, über den Dezisionismus, der vor allem als Anti-
liberalismus begreiflich wäre, zum "konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken" verlaufen, das sich im National-
sozialismus erfülle. Philosophisd!e Deutungen des Begriffs des Politisd!en haben versud!t: Helmuth Plessner, Macht
und menschliche Natur, Berlin 1931; Hermann Hefele, .Zum Problem des Politisd!en", in: Abendland, April 1928.
earl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung XXI

die von den Verfallsformen des Normativismus und Dezisionismus zugleich zehrt.
Kraft seines dezisionistischen Bestandteils vermag der rechtsphilosophische Positivis-
mus die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts, weil sie ins Metajuristische führen
würde, abzubrechen und die bestehende staatliche Macht anzuerkennen, ohne nach
ihrem guten Recht zu fragen oder sie als eine konkrete Ordnung vorzustellen. Kraft
seines normativistischen Bestandteils aber kann der Rechtspositivismus das Bedürfnis
nach der in der Berechenharkeit des Rechts liegenden Sekurität befriedigen, indem
er von der staatlichen Macht erwartet, daß ihre Entscheidung als Norm weiter gelten
und sie sich dem so gesetzten Gesetz selbst unterwerfen soll. Das Ordnungs- und Ge-
staltungsdenken dagegen, das earl Schmitt von Anbeginn auch im Dezisionismus als
Antipositivismus gesucht und gemeint hat, vermag sowohl die Bedeutung des Eigen-
wertes der Dezision als auch die Vermittlungsfunktion positiv gesetzter Normen zu
erfassen und vereint damit zugleich die Möglichkeit, das gute Recht, das sich in der
Wirklichkeit eines geschichtlichen Volkes herausbildet, zu fassen und in politische
Gestaltungen umzusetzen.
Aber auch diese Deutung der inneren Stimmigkeit der geistigen Gesamtgestalt
Carl Schmitts ist ungenügend. Denn das sogenannte "konkrete Ordnungs- und Ge-
staltungsdenken" ist selbst zunächst nur eine formalontologisch begriffene Anwei-
sung für das Denken über Politik, Recht, Geschichte und Sittlichkeit. Was es inhaltlich
bedeutet, kann erst gefaßt werden, wenn man Carl Schmitts konkrete politische und
ideologische Stellungnahme innerhalb der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit der
zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland betrachtet. Außerdem aber wäre selbst
damit noch immer nicht die Ganzheit der geistigen Person Carl Schmitts und ihre
innere Stimmigkeit begriffen, denn es bliehe dabei noch seine Selbstdeutung als
christlicher Epimetheus und seine nie ganz versinkende Orientierung an der geschichts-
bejahenden Eschatologie Donoso Cortes' außer Betracht.
Die Gesamtdeutung der geistigen Gestalt Carl Schmitts ist also einigermaßen
schwierig. Biographisch wird dieser Versuch von anderen vielleicht später einmal
besser unternommen werden können. Systematisch liegt jetzt die Gesamtdarstellung
von Peter Schneider 60 vor, die sich dicht und in voller Breite an das publizistische
Werk hält, auch eine gründliche juristische Kritik unternimmt und eine geistige Deu-
tung der Gesamtgestalt versucht, begreiflicherweise aber vor der Fülle historischen
und geistesgeschichtlichen Wissens und der Vielfalt der literarischen Beziehungen im
Werk Carl Schmitts sich den Versuch einer ausgebreiteten geistesgeschichtlichen Ein-
ordnung versagte.
In der vorliegenden Untersuchung kommt es jedoch gar nicht auf eine Gesamt-
darstellung des Werkes Carl Schmitts und ebensowenig auf den Versuch einer Ge-
samtdeutung seiner geistigen Gestalt an. Dafür kann vor allem auf die Arbeit von
Peter Schneider verwiesen werden. Da diese Gesamtdarstellung vorliegt, kann die
hier angestellte Untersuchung es sich um so eher gestatten, viele Seiten im Werk Carl
Schmitts zu vernachlässigen und nur die für ihren speziellen Zweck interessierenden
herauszunehmen. Die konkrete Person Carl Schmitts, die Einheit seiner geistigen
Gestalt und ebenso die Einheit und Ausbreitung seines Werkes gehören nicht zur
Fragestellung. So ergibt es sich, daß für die vorliegende Untersuchung häufiger Ge-
danken in den Mittelpunkt gerückt werden, die für den geisteswissenschaftlichen
Blick auf das Gesamtwerk nur am Rande zu liegen scheinen. Auch das Resultat der
Untersuchung will von Gewicht weniger für die Deutung der geistigen Gestalt Carl
Schmitts sein als für den Nachweis der Möglichkeit einer bestimmten Art ideologien-

60 Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre Carl Schmitts, Frankfurt a. M.
1957. Die Deutung aus der Lehre C. G. Jung' vermag nicht ganz zu befriedigen.
XXII Einleitung

kritischer Analyse politischen Philosophierens. Wenn im Folgenden stets einfach von


Carl Schmitt die Rede ist, so geschieht das also vor allem aus Gründen einfacherer
Darstellung.
Die Aufgabenstellung der vorliegenden Untersuchung will vor allem als die
Aufgabenstellung der Ideologienkritik verstanden werden und der Vorführung einer
bestimmten Möglichkeit ideologienkritischer Analyse politischen Philosophierens
dienen. Daher sind alle Gegenstände im Werke Carl Schmitts ausgeklammert worden,
die sich in keine unmittelbar faßbare Beziehung zu seinen Diagnosen des Zustands
der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik und seine Stellung-
nahme für das Dritte Reich bringen lassen. Herausgelassen sind auch alle speziellen
rechts dogmatischen Analysen Carl Schmitts, für deren Beurteilung der Verfasser nicht
zuständig ist. Von Interesse für den Zweck der vorliegenden Untersuchung waren
dagegen alle Gedankengänge grundsätzlicher Natur, insbesondere die Erörterungen
politischer Prinzipien, alle konkreten Diagnosen der gesellschaftlich-politischen Wirk-
lichkeit der Zeit sowie die Deutungen historischer Zusammenhänge.
Auch die Gliederung der vorliegenden Untersuchung hält sich nicht an die zeitliche
Reihenfolge der Publikationen und ebensowenig an die verschiedenen, von Carl
Schmitt gewählten Darstellungszusammenhänge. Sie ergibt sich vielmehr ausschließ-
lich aus dem Zweck der Untersuchung. Es soll gezeigt werden, welche ideologischen
Momente die politisch-philosophierenden Diagnosen zur gesellschaftlich-politischen
Situation der Gegenwart im Werk Carl Schmitts enthalten, welche Verzeichnungen
des Gegebenen und welche Verkennungen des zu Erwartenden zu erkennen geben,
wo rationale Kritik ihre Grenzen überschreitet und sich in ideologische Apologie
verwandelt.
Zunächst ist daher in einer Analyse der in Betracht kommenden Schriften Carl
Schmitts herauszuarbeiten versucht worden, welche Postulate und Bedingungen Carl
Schmitt für die Funktionalität und höhere Legitimität des als parlamentarischer Ge-
setzgebungsstaat konstruierten Rechtsstaats in seiner Kritik verwandt hat. Es werden
daher in einem ersten Teil die allgemeine Idee des Rechts- und Verfassungsstaats und
die speziellen Bedingungen der Funktionalität und Legitimität des parlamentarischen
Gesetzgebungsstaats dargestellt, so, wie sie sich aus Carl Schmitts Argumentationen
herausanalysieren lassen.
Alsdann ist in der weiterdringenden Analyse der in Frage kommenden Schriften
Carl Schmitts versucht worden, das Bild zu rekonstruieren, das er sich von der poli-
tisch-gesellschaftlichen und der Verfassungswirklichkeit des parlamentarisch-demo-
kratischen Gesetzgebungsstaats der Gegenwart, insbesondere der Weimarer Republik,
machte. Im Verlauf dieser Analyse zeigte sich, daß Carl Schmitts Diagnose positive
und negative Momente feststellt. Außerdem zeigte sich, daß seine Reflexionen, so
distanziert sie gegenüber ihren Gegenständen sein mögen, stets durchdrungen sind
von einem konkreten politischen und politisch rechtsetzenden Gestaltungswillen.
Diese aus der Einheit von Theorie und Praxis denkende Art der Diagnose macht die
Lektüre der Schriften Carl Schmitts ebenso interessant wie ihre genauere Analyse
schwierig. Reflexion auf das Bestehende, Erwägung dessen, was politisch getan wer-
den könnte, rationale Abschätzung und ideologische Option durchdringen sich in
recht verwickelter Weise gegenseitig. Für den Zweck der vorliegenden Untersuchung
mußte also eine Absonderung der verschiedenen Momente versucht werden. In sol-
cher Absonderung wird deutlich, wie sich die verschiedenen Momente gegenseitig
bedingen, wie bestimmte Diagnosen nur für bestimmte andere, und zwar ideologische
Optionen evident sein können, wie bestimmte Momente in sonst rationaler Kritik
sich nur durch ihre ideologisch-apologetische Funktion im Denken erklären. Für das
Ergebnis solcher Analysen wurde dann folgende Darstellung gewählt.
earl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung XXIII

In einem zweiten Teil wird versucht, die von earl Schmitt aburteilend geübte
Kritik an der gesellschaftlich-politischen und Verfassungs wirklichkeit der parlamen-
tarischen Demokratie, insbesondere der Weimarer Republik, zu einem geschlossenen
Bild zusammenzusetzen. Die Wirklichkeit erscheint als ein Entartungszustand des
parlamentarischen Gesetzgebungsstaats. Der zweite Teil erhält einen Anhang, in dem
zusammengetragen wird, welche der angebotenen Lösungs- und Abhilfemöglichkeiten
für die zweifellos konstatierbaren Krisenerscheinungen der parlamentarischen Demo-
kratie unter den Bedingungen der modernen Massengesellschaft und insbesondere in
der Weimarer Republik earl Schmitt für untauglich oder bloß halbtauglich hielt.
Es bleibt also als Gesamteindruck von der gegebenen Wirklichkeit das Bild eines
hoffnungslosen Entartungszustands bestehen, das Bild einer Anarchie und eines Zu-
stands kalten oder schwelenden Bürgerkrieges.
Der dritte Teil der vorliegenden Arbeit wird versuchen, andeutungsweise eine
unpolemische Darstellung des Zustands, der Struktur und Gestalt der modernen
Massengesellschaft zu geben; hervorzuheben, welche politischen Einrichtungen und
Organisationsformen sie mit funktioneller Unumgänglichkeit benötigt; und zurecht-
zurücken, was als der rationale Kern in den Diagnosen earl Schmitts anzusehen ist.
Die Hoffnung richtet sich darauf, daß auf diese Weise deutlicher wird, wo die Ver-
zeichnungen liegen, die earl Schmitts Diagnosen enthalten, jene Verzeichnungen, die
sich aus einer rationalen Kritik - einer für die parlamentarische Demokratie optie-
renden und aus dem Bewußtsein der strukturell-funktionellen Unausweichlichkeiten
sowohl als auch der Doppelgcfahr von Anarchie und totalitärer Diktatur lebenden
Kritik - nicht rechtfertigen lassen und daher ihren Ursprung in einer bestimmten un-
kritischen ideologischen Option haben müssen.
Der vierte Teil der vorliegenden Arbeit soll dann deutlich hervortreten lassen,
wodurch sich alle Verzeichnungen in earl Schmitts Diagnosen ergeben. Es wird das
Bild des totalen Führerstaats dargestellt, den earl Schmitt für die Lösung aus den
bestehenden Schwierigkeiten und als die der modernen Gesellschaftswirklichkeit an-
gemessene politische Organisationsform betrachtete. Dazu werden alle Gedanken und
Begriffsbildungen earl Schmitts herangezogen, in deren Konsequenz dieses Bild eines
totalen Führerstaats liegen mußte. Außerdem wird gezeigt, wie sich die Deutung der
geschichtlichen Zusammenhänge, seine Geschichtsphilosophie, nach den Maßstäben
dieser ideologisch-politischen Option gliedert. Im ganzen wird sich also herausstellen,
daß das hier in Betracht genommene Gedankengut earl Schmitts durchformt ist von
jener falschen Alternative zwischen anarchischer Freiheit und autoritärer Ordnung,
wodurch seine rationale Kritik eben jene auffallenden Züge apologetisch unkritischer
Ideologie erhält.

Der Verfasser möchte an dieser Stelle für das Verständnis, die Anregungen und die
hilfreiche Kritik danken, die ihm und dieser Arbeit zuteil wurden. Der Dank gilt vor
allem dem inzwischen verstorbenen Direktor des Philosophischen Seminars der Freien
Universität Berlin, Prof. Dr. Eduard May, und den Mitgliedern des Wissenschaftlichen
Beirats des Instituts für politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin, ins-
besondere dem Professor der Philosophie und Soziologie Dr. Hans-Joachim Lieber,
dem Wissenschaftlichen Leiter dieses Instituts, Professor der Soziologie Dr. Otto Stam-
mer, und dem Professor der Wissenschaft von der Politik, Dr. Ernst Fraenkel. Für das
Lesen der Korrekturen danke ich Herrn Albrecht Schultz.

Berlin-Dahlem, im August 1958 Dr. jürgen Fijalkowski


I. Teil

CARL SCHMITTS RECHTSSTAATLICHE POSTULATE


Erstes Kapitel

DAS RECHTSSTAATS IDEAL

earl Schmitt hat die kurze Geschichte der Weimarer Republik und die Zeit der Auf-
richtung des nationalsozialistischen Dritten Reiches mit mannigfachen Reflexionen
verfassungstheoretischer und politisch philosophierender Art begleitet. Er hat scharfe
Kritik geübt an der Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie, wie sie die
Weimarer Republik zu verwirklichen strebte; und er hat umgekehrt die Aufrichtung
des nationalsozialistischen Regimes zu :echtfertigen gesucht als die Verwirklichung
eines totalen Führerstaats aus neuem Ordnungsdenken.
Nun war die Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie, wie sie sich in der
Weimarer Republik zeigte, zweifellos kritikwürdig. Auch mochte sich earl Schmitts
Kritik in vielen Punkten und über weite Strecken mit der Kritik treffen, die auch
von späteren Feinden und Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes geübt
wurde. Anderseits unterschied sie sich, wie sich nach den Erfahrungen mit dem Drit-
ten Reich nun zeigt, von aller republikfreundlichen Kritik durch die Konsequenzen,
die sie nahelegte und die earl Schmitt in der Apologie des nationalsozialistischen
Regimes dann auch zog; und sie unterschied sich von aller republikfreundlichen
Kritik durch den Illusionismus der Hoffnungen, die sie unkritisch auf die Abwendung
von der parlamentarischen Demokratie und auf die Hinwendung zum totalen Führer-
staat setzte, - wie sich nach den Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime
ebenfalls gezeigt hat.
So entsteht die Frage, wie Kritik und Apologie im Werk und Denken earl Schmitts
zusammengehören, ob die Apologie des Dritten Reiches und die Option für den
totalen Führerstaat sich bloß als Folgerung aus einer sonst nichts als rationalen Kritik
an der Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik
ergaben, oder ob nicht umgekehrt es eine vorgängige Option für die autoritäre Ord-
nung war, die sich dann in der Apologie des Dritten Reiches als des totalen Führer-
staats vollendete und die von vornherein der Kritik die Maßstäbe vorgab, wodurch
diese Kritik sich als selbst ideologisch erwiese.
Vielleicht kann sich keine politische Kritik dem Zwang entziehen, zugleich der
Apologie bestimmter politischer Tendenzen zu dienen. Es scheint, als sei das erste
stets eine bestimmte politische Option, nach der sich dann alle weitere kritische oder
apologetische Argumentation und Diagnose glieaern. Jedenfalls gab es für die heute
zurückblickende Betrachtung in der geschichtlichen Zeit, die für eben diese Betrach-
tung die Zeit des Untergangs der Weimarer Republik und der Aufrichtung des
nationalsozialistischen Regimes ist, zwei Möglichkeiten: Kritik an der Weimarer
Republik mochte um der parlamentarischen Demokratie und um der Republik wil-
len geübt werden; dann aber mußte sie sich, selbst wenn sie im Positiven keine sicheren
Konsequenzen zu ziehen wußte, um so kräftiger in Apologie der parlamentarischen
Demokratie verwandeln, sobald die republikfeindliche Bewegung der Nationalsozia-
listen nach der Macht griff; sie mußte zur Kritik an Idee und Praxis des Dritten
Reiches übergehen. Oder aber umgekehrt: wenn sich die Kritik an der Weimarer Republik
4 Das Rechtsstaatsideal

und der Art oder Unart, in der sie die parlamentarisdte Demokratie verwirklidtte,
angesidtts der nationalsozialistisdten Madttergreifung nidtt in Apologie der parlamen-
tarisdten Demokratie und der Republik verwandelte, wenn sie weiter Kritik blieb
und sidt dafür offen der Apologie des nationalsozialistisdten Regimes als der Ver-
wirklidtung eines totalen Führerstaats zuwandte, dann zeigte sich an dieser Konse-
quenz, daß die Kritik von vornherein um anderer verfassungspolitisdter Zielset-
zungen, um autoritärer Legitimitätsvorstellungen willen geübt worden war.
Wie in solcher Weise an den sdtließlich gezogenen Konsequenzen einer politischen
Kritik offenbar wird, daß es die vorgängige politisdte Option ist, die in der Kritik
die Akzente setzt, soll im Folgenden am Beispiel der verfassungsphilosophischen
Diagnosen earl Sdtmitts gezeigt werden. earl Schmitts kritisdte Diagnosen der Wirk-
lidtkeit parlamentarisdter Demokratie insbesondere in der Weimarer Republik könn-
ten zunächst den Eindruck erwecken, als untersdtieden sie sidt von anderen kritisdten
Diagnosen bloß durdt größere Entsdtiedenheit und größere Präzision. Solange die
Konsequenzen der Kr~tik nidtt in voller Deutlichkeit hervorgetreten sind, kann dieser
Eindruck vielleidtt bestehen und die aufkommenden Zweifel ablenken. earl Schmitts
Kritik vermag die politisdte Option, aus der sie letztlich ihre Maßstäbe entnimmt,
längere Zeit immer wieder ins Ungewisse zu ziehen und zu verbergen. Sobald diese
vielleicht sudtende Option sich bei der nationalsozialistisdten Madttergreifung aber
offen als Apologie eines totalen Führerstaats zu erkennen gibt, gliedern sich dem
Rückblick alle kritischen Argumentationen und Diagnosen in einer durchgehenden
Tendenz.
earl Sdtmitts kritisdte Diagnose der parlamentarisdten Demokratie insbesondere
der Weimarer Republik scheint zunächst das Ergebnis einer immanenten Analyse zu
sein. Er sdteint zunächst nichts zu tun, als die ideellen Begründungen, die historisch
gegebenen Zielsetzungen und die faktischen Auswirkungen der sich an »Rechtsstaat"
und »parlamentarischer Demokratie" orientierenden politisch-gesellschaftlichen Be-
wegungen zu analysieren, sie auf Prinzipien zu bringen und ein Modell aus ihnen
zu abstrahieren, in dem mit immanenter Konsequenz die Postulate für die Funk-
tionalität und Legitimität von Rechtsstaat und parlamentarischer Demokratie ent-
wickelt werden. Nun erscheint aber die Wirklichkeit, wenn sie an diesem Modell
gemessen wird, in der Darstellung earl Sdtmitts nicht bloß als empirische Abwei-
chung, sondern als ein schier auswegloser Entartungszustand. Die faktischen Gegeben-
heiten erscheinen als Verfehlungen ihrer eigenen Zielsetzung und die gegebenen ideel-
len Begründungen als ideologisdte Verhüllungen einer schledtteren Wirklidtkeit bzw.
als bloße Fiktionen. So zeigt sich, daß earl Schmitt bei seinen kritischen verfassungs-
politischen Analysen in einer eigenartig radikalisierenden Weise vorgeht. Er rafft
die Mannigfaltigkeit des Gegebenen solange zusammen, bis die immer gegebene
Spannung zwisdlen Idee und Wirklichkeit zum Gegensatz und Widerspruch wird,
so daß schließlich beide, das Sein an seinem Sinn und der Sinn am Sein ad absurdum
geführt werden.
Angesichts der so entstehenden Aporien scheint dann nichts anderes mehr übrig-
zubleiben als eine völlige Abwendung von Idee und Praxis einer parlamentarischen
Demokratie. Durch solche Radikalisierung der Spannung zwischen Idee und Wirk-
lichkeit des parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaats bis zur gegenseitigen Ab-
surdifizierung wird aber die Immanenz der Kritik gesprengt. Es stellt sich heraus,
daß die Aporien nicht in rationaler Diagnose entstanden, sondern durch die mitge-
bradtte politisdte Option hervor getrieben wurden. Die autoritäre Option erreidtt
ihr Ziel auf dem Umweg über die Radikalisierung der Analyse. Die kritische Dia-
gnose der Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie gibt sidt zunächst als imma-
nente Analyse. Wie sidt an den sdtließlidt gezogenen Konsequenzen aber erweist,
Radikale Argumentation 5

gibt sie sich eben nur als immanente Kritik, ist in Wahrheit jedoch von vornherein
transzendente Kritik. Sie verbleibt nicht innerhalb der Ideen eines parlamentarisch-
demokratischen Rechtsstaats und kritisiert die Wirklichkeit nicht um der Verwirk-
lichung dieser Ideen willen. Sondern sie sucht mit der - zweifellos immer kritikwür-
digen - Wirklichkeit parlamentarisch-demokratischer Rechtsstaatlichkeit auch deren
Idee selbst ad absurdum zu führen; sie wird dem methodischen Zugang nach imma-
nent, der politisch-ideologischen Absicht nach aber transzendent, nämlich um der Ver-
wirklichung entgegengesetzter politischer Ideen willen geübt. So kommt es, daß die
Postulate, die earl Schmitt für die Funktionalität und Legitimität der parlamen-
tarischen Demokratie aufstellt, zwar mit scharfer Logik konstruiert zu sein scheinen,
und daß die mit diesen Maßstäben geübte Kritik an der Wirklichkeit logisch konse-
quent wirkt, dies aber doch nur Schein ist, hinter dem sich in Wahrheit eine anti-
parlamentarische und antidemokratische politische Option für die autoritäre Ord-
nung eines totalen Führerstaats verbirgt.
earl Schmitt konstruiert in philosophischer Deutung der verfassungspolitischen
Ereignisse und politischen Ideen des letzten Jahrhunderts ein Modell des bürgerlichen
Rechtsstaats und analysiert die Bedingungen der Legitimität und Funktionalität, die
sich aus dessen Prinzipien für den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat ergeben.
Aber er sammelt in allen hergehörigen Darstellungen und Argumentationen die
Gründe, die ihm dann die Behauptung ermöglichen, der parlamentarische Gesetz-
gebungsstaat sei in der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts
dis funktionell geworden, seine Legalität habe die innere Legitimitätsgrundlage ver-
loren und sei in offenen Gegensatz zu ihr geraten. Nicht die in anderen historisch-
gesellschaftlichen Situationen entstandenen "Antithesen von Herrschaft und Genossen-
schaft, Autorität und Freiheit, Rechtsstaat und Diktatur" ,61 auch nicht die überliefer-
ten aristotelischen Einteilungen von Monarchie, Aristokratie und Demokratie bilden,
in earl Schmitts Augen, den für die staatliche Gegenwart entscheidenden und charak-
teristischen Gegensatz. Sondern heute tritt "die normativistische Fiktion eines ge-
schlossenen Legalitätssystems in einen auffälligen und unabweisbaren Gegensatz zu
der Legitimität eines wirklich vorhandenen rechtmäßigen Willens" ,62 und die maß-
gebliche Alternative ist also ein Gegensatz jedenfalls zum parlamentarischen Gesetz-
gebungsstaat.
Die zur Begründung dieser Behauptung vorgebrachten Argumentationen earl
Schmitts sind nicht ohne innere Logik. Es besteht jedoch Grund zu der Frage, ob nicht
die in sich logische Argumentation im ganzen doch selbst ideologische Züge besitzt,
ob nicht die Begriffsbildung selbst, unter deren Voraussetzung allein jene Konse-
quenz gezogen werden kann, Züge einer rationalisierten Ideologie besitzt. Denn
earl Schmitts ganze Argumentation dient eben nicht allein immanenter Kritik des
parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebungsstaats, sondern will darüber hinaus
als Rechtfertigung ganz anderer verfassungspolitischer Zielsetzungen dienen. Betrach-
tet man aber diese, das Modell der dreigliedrigen politischen Einheit, das earl
Schmitt als Modell des totalen Staates entwirft, darauf hin, was sie in der Verfas-
sungswirklichkeit erwarten lassen mußten, befragt man diese anderen verfassungs-
politischen Zielsetzungen auf ihre höhere Legitimität, so zeigt sie sich als mindestens
so zweifelhaft, wie die Legitimitätsgrundlage des parlamentarischen Gesetzgebungs-
staats in der gegenwärtigen Verfassungswirklichkeit fragwürdig ist. Die Fragwürdig-
keit der Konsequenz also, die earl Schmitt aus seiner Kritik des Gesetzgebungsstaats
gezogen wissen will, sie ist es, die der Argumentation earl Schmitts, ungeachtet ihrer
immanenten Logik, im ganzen das Gepräge einer rationalisierten Ideologie gibt.
61 Schmitt, Legalität . .• (Anm. 34), S. 10 .
•• A. a. 0., S. 10 f.
6 Das Rechtsstaatsideal

In der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit wird ein politisches Gemeinwesen


niemals anders denn als Abweichung vom Idealtypus und seiner inneren Konsequenz
zu begreifen sein. Das liegt im Wesen einer idealtypischen Begriffsbildung und jeder
Konstruktion von Modellen. Das Urteil aber, wann die Abweichung der Wirklichkeit
die Grenze der Legitimität überschreitet, wann eine empirische Wirklichkeit mitsamt
dessen, was in ihr offiziell als Recht gilt, in substantiellem Sinne rechtswidrig sei,
dieses Urteil ist selbst ein politisches Urteil und ist mit allen Konsequenzen einem
bestimmten politischen Willen, bestimmten politischen Zielsetzungen und politischen
Tendenzen verbunden. Gleichviel, ob es in geschichtsphilosophischem Sinne wahr und
gerecht ist oder nicht, das Werturteil und diese Grenzziehung der Legitimität sind
unvermeidlich in den Kampf der politischen Parteiungen und Ideologien einbezogen.
Wo einer die Grenze der Legitimität zieht, charakterisiert seine politische Position
und die dazugehörige Ideologie. Die politische Ideologie gibt sich dort zu erkennen,
wo der kritische Punkt gefunden wird, an dem die Spannung zwischen Idee und
Wirklichkeit in Gegensatz und Widerspruch umschlägt.
Die autoritäre politische Option, die der Kritik earl Schmitts die leitenden Ge-
sichtspunkte liefert, ist nicht ohne weiteres und unmittelbar an dem Modell des
Rechts- und Verfassungsstaats zu erkennen, auch nicht schon in den Postulaten, die
er für die Funktionalität und Legitimität des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats
aufstellt. Sie kommt vielmehr darin zum Ausdruck, daß Modell und Postulate auf
der einen Seite sowie die konstatierbare Wirklichkeit auf der anderen Seite in einer
Weise radikal verstanden werden, daß gar nichts anderes mehr übrig bleibt als eine
restlose Aburteilung des einen durch das andere, der Ideen angesichts der Wirklich-
keit als bloßer Fiktionen und der Wirklichkeit angesichts der Ideen als hoffnungs-
losen Entartungszustands.
Zunächst soll dargestellt werden, was nach earl Schmitts Darstellung das rechts-
staatliche Verfassungsideal ist und welche spezifizierten Momente nach Auffassung
earl Schmitts zum parlamentarischen Gesetzgebungsstaat gehören, damit er in der
Wirklichkeit legitim und funktionell sein kann.

Die Idee der Freiheit, der Gesetzesherrschaft und der Gewaltenteilung


Montesquieu hatte in de l'esprit des lais eine Unterscheidung getroffen, die für das
ausgehende 18. Jahrhundert und für das 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hin-
ein zu einer wichtigen politischen Alternative wurde. Er schrieb Buch XI, Kap. 5
und 7, daß einige Verfassungen den Ruhm des Staats (la gloire de l'hat), andere die
politische Freiheit des Staatsbürgers (liberte du citoyen) zum unmittelbaren Gegen-
stand und Zweck haben. Der Gegensatz, den diese Gegenüberstellung bezeichnet,
ist nach Darstellung earl Schmitts der Gegensatz zwischen Machtstaat und Rechts-
staat, wie ihn dann das 19. Jahrhundert verstand. Die Idee des Rechtsstaats charak-
terisierte ein wesentliches politisches Ziel der bürgerlichen Bewegung, die gegen die
absolutistische Militär- und Beamtenmonarchie um ihre Emanzipation kämpfte. Den
ersten Höhepunkt dieses Kampfes bildete die Französische Revolution. In ihr zerfiel
die bürgerliche Gesellschaft mit dem absoiuten Staat, trat ihm gegenüber und ver-
suchte, seine Gewalt zu neutralisieren. Der tiers etat trat als Träger einer liberal-
demokratischen Bewegung in die politische Geschichte des europäischen Kontinents
ein und setzte den Anfang einer allgemeinen Emanzipationsbewegung.
Die Bedeutung der Französischen Revolution lag, wie earl Schmitt es sieht, in
einem doppelten Ereignis. Das Bürgertum vermochte sich auf dieser Stufe der gesell-
schaftlichen Entwicklung mit dem "Volk" schlechthin zu identifizieren und begriff
sidl den gesellschaftlichen Trägern des ancien regime gegenüber als "Nation", d. h. es
Die Idee der Freiheit, der Gesetzesherrschaft und der Gewaltenteilung 7

erwachte zum Bewußtsein eigener politischer Handlungsfähigkeit. Das Volk nahm


sein Schicksal selbst in die Hand, indem es sich als Träger der verfassunggebenden
Gewalt konstituierte und sich in einem bewußten Akt selbst eine Verfassung gab,
mit der es den Absolutismus der Fürsten beseitigte und die Souveränität für sich in
Anspruch nahm. Die Französische Revolution stellte aber nicht nur den politischen
Auftritt der nationalen demokratischen Bewegung, sondern auch den der liberalen
Bewegung dar. Ihre zweite Bedeutung lag nämlich darin, daß die Verfassung, die sie
einführte, alle Staatsgewalt zu beschränken und zu kontrollieren suchte. Das revolu-
tionäre Bürgertum stellte einen rechtsstaatlichen Idealbegriff von Verfassung auf und
anerkannte politische Zustände nur dann als verfassungsmäßig, wenn die Forderun-
gen bürgerlicher Freiheit erfüllt waren und das Bürgertum einen maßgebenden poli-
tischen Einfluß auf die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten besaß. Alle
Staaten, die die Eigentümlichkeiten des Rechtsstaatsideals nicht kannten und an-
erkannten, hießen dementsprechend verfassungslose Staaten überhaupt und wurden
im polemischen Gegensatz nun Despotismus, Absolutismus, Diktatur usw. genannt.
Der Rechts- und Verfassungsstaat wurde also zum Ideal einer öffentlichen
Ordnung, deren wichtigste Güter im Schutz von Privateigentum und persönlicher
Freiheit lagen und denen gegenüber der Staat nichts als den bewaffneten Garanten
bürgerlicher Ol'dnung, Ruhe und Sicherheit darstellen sollte. earl Schmitt sieht also
bereits am Beginn der modernen Emanzipationsbewegung eine Zwieschlächtigkeit,
die im weiteren Geschichtsverlauf dann immer weiter auseinandertritt, den Gegen-
satz von liberaler und demokratischer Bewegung.
Der Grundgedanke in der Konzeption des bürgerlichen Rechts- und Verfassungs-
staats ist nach Auffassung earl Schmitts die Vorstellung, daß die Freiheitssphäre
des Einzelmenschen prinzipiell unbegrenzt und vorstaatlich sei. Die Freiheitssphäre
des Einzelmenschen kennt danach, an sich betrachtet, keine Schranken. Der Staat hat
lediglich den Sinn, Garant und Diener dieser Freiheit zu sein. Also muß für ihn das
Umgekehrte gelten, seine Gewalt kann grundsätzlich nur eine begrenzte Gewalt sein.
Dies ist in earl Schmitts Worten das sogenannte "Verteilungsprinzip: die Freiheits-
sphäre des Einzelnen wird als etwas vor dem Staate Gegebenes vorausgesetzt, und
zwar ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des
Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist". 63
Dieses Verteilungsprinzip liegt dem Verlangen zugrunde, im staatlichen Leben
Freiheitsrechte zu gewährleisten, und gewinnt Ausdruck: in den Grundrechtsaufstel-
lungen der Verfassung. Die Proklamation und Gewährleistung von Grundrechten ist
ein unabdingbarer Bestandteil des Modells vom Rechts- und Verfassungsstaat. Da-
bei sind die Grundrechte ihrem eigentlichen Sinne nach "wesentlich Rechte des freien
Einzelmenschen und zwar Rechte, die er dem Staat gegenüber hat". 64 Als liberale
Menschenrechte gelten sie ihrer Idee nach für jeden Menschen bloß als Menschen,
ohne Unterschied der Person und ohne Ansehen der Staatsangehörigkeit. Sie sind
absolut, sie sind vorstaatlich, und sie sind überstaatlich, "Rechte die der Staat nicht
nach Maßgabe seiner Gesetze verleiht, sondern als vor ihm gegeben anerkennt und
schützt, und in welche er nur in einem prinzipiell meßbaren Umfang und nur in
einem geregelten Verfahren eingreifen darf. Diese Grundrechte sind also ihrer Sub-
stanz nach keine Rechtsgüter, sondern Sphären der Freiheit, aus der sich Rechte und
zwar Abwehrrechte ergeben." 65
Die Freiheitsrechte sind, wie earl Schmitt weiter zu verdeutlichen versucht, keine
Güter, die man mit anderen Gütern in eine Interessenabwägung bringen könnte. Sie
63 Schmitt, Verjassungs/ehre (Anm. 21), 5.126 .
.. A. a. 0., S. 164 .
•• A. a. 0., S. 163.
8 Das Rechtsstaatsideal

können nicht relativiert werden; es gibt nichts, was wichtiger wäre als sie und vor
dem sie zurücktreten müßten oder könnten. Ihrem Inhalt nach bezeichnen sie einen
"prinzipiell unkontrollierten Spielraum der individuellen Freiheit". Sie erhalten
ihren Inhalt daher "nicht aus irgendwelchen Gesetzen, nicht nach Maßgabe von Ge-
setzen oder innerhalb der Schranken von Gesetzen, sondern ... der Staat dient ihrem
Schutz und findet darin überhaupt erst seine Existenzberechtigung. Das Widerstands-
recht des Einzelnen ist das äußerste Schutzmittel und ein unveräußerliches, aber auch
unorganisierbares Recht." 66 Im Falle der echten Grundrechte erscheint jeder gesetz-
liche Eingriff von seiten des Staates "als Ausnahme und zwar als prinzipiell be-
grenzte und meßbare, generell geregelte Ausnahme" .67 Im Modell des Rechts- und
Verfassungsstaats gehört es zu den Prinzipien, daß staatliche Beschränkungen der
individuellen Freiheitssphäre nur als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme erscheinen
dürfen.
Aus diesen Grundideen bürgerlicher Freiheit ergibt sich, wie auch earl Schmitt
erkennt, eine wichtige Konsequenz: Der grundsätzlich freie Mensch unterwirft sich
nicht der Herrschaft anderer Menschen. Er unterwirft sich idealiter einzig der Ver-
nunft, durch die ihm die Gerechtigkeit von Einschränkungen seiner Freiheit einsichtig
wird. Gewiß muß es Einschränkungen der Freiheit geben, damit nicht ein Zustand
allgemeiner Willkür einkehrt. Der Gebrauch der Freiheit des einen darf nicht die
Freiheit des anderen aufheben. Aus diesem Grunde gehen die vorstaatlich freien
Individuen miteinander einen Vertrag ein, als welcher dann der Staat gilt. Das ist
im liberalen Ideenkreis vom Rechts- und Verfassungsstaat der philosophische Sinn
der Vertragstheorie des Staates. Die Aufrichtung einer Staatsgewalt dient der Her-
beiführung einer Ordnung, in der die Freiheit eines jeden mit der Freiheit von jeder-
mann anderem verträglich ist.
Wenn sich das freie Individuum dann der Staatsgewalt unterwirft, so erkennt es
damit nicht etwa den Willen von Herrschenden über sich an, sondern nur die ge-
rechten Weisungen der Vernunft. Darum beinhaltet das rechtsstaatliche Verfassungs-
ideal, wie earl Schmitt es beschreibt, daß im Staat nicht der Wille von Menschen,
sondern das Gesetz herrschen soll. Der Wille von Menschen ist Irrationalitäten und
Unberechenbarkeiten ausgesetzt, er kann leicht zur Herrschaft der Willkür führen,
heißt es. Das Gesetz aber hat Qualitäten, durch die menschliche Willkür ausgeschlos-
sen ist. Das Gesetz ist Gerechtigkeit und unpersönliche Vernunft. So ist der Rechts-
und Verfassungsstaat seiner Idee nach ein politisches Gemeinwesen, welches "den
höchsten und entscheidenden Ausdruck des Gemeinwillens in Normierungen sieht,
die Recht sein wollen, daher bestimmte Qualitäten beanspruchen müssen, und denen
deshalb alle andern öffentlichen Funktionen, Angelegenheiten und Sachgebiete unter-
geordnet werden können". 68
Es gehört nach Deutung earl Schmitts also wesentlich zur Vorstellung des Rechts-
und Verfassungsstaats, daß das Recht in der Form des Gesetzes erscheinen müsse. Der
Zustand des Rechts besteht in einer Gesellschaft nach dieser Idee nur dann, wenn
nicht Menschen, Autoritäten oder Obrigkeiten herrschen, sondern Gesetze, und zwar
als allgemeine, vorherbestimmte, für jedermann gleiche und dauernde Normen gelten.
Die individuelle Freiheitssphäre darf nur durch das Gesetz, das für alle gleich ist,
beschränkt werden. In der ausschließlichen Herrschaft des Gesetzes findet die grund-
rechtliche Menschenfreiheit ihre oberste Garantie. Wer in diesem Rechtsstaat konkrete
Macht und Herrschaft ausübt, besitzt dieselben nur "auf Grund des Gesetzes" und
handelt nur "im Namen des Gesetzes". earl Schmitt schreibt: "Er tut nichts, als eine
•• A. a. 0., S. 163 f.
01 A. a. 0., S. 166.
6. Schmitt, Legalität . .• (Anm. 34), S. 7.
Die Idee der Freiheit, der Gesetzesherrscha/t und der Gewaltenteilung 9

geltende Norm zuständigerweise geltend machen." 69 Auch die Instanz, welche die
Gesetze gibt, wird dadurch der Idee nach nicht zum Herrscher, ebensowenig wie sie
ihre Gesetze selber geltend macht oder selber anwendet. Sondern sie stellt "eben nur
die geltenden Normierungen auf ... , in deren Namen dann gesetzesunterworfene Ge-
setzesanwendungsbehörden staatliche Macht handhaben dürfen". 70
Die Idee einer solchen Gesetzesherrschaft ist, in den Augen Carl Schmitts, an sich
etwas Abstraktes. Jedoch erkennt er, daß sie gerade darum als etwas Hohes erscheint.
Die metaphysischen \'{'urzeln des Rechtsstaatsideals liegen im Vernunftnaturrecht des
17. und 18. Jahrhunderts, im cartesianischen Glauben an die Ratio und die Welt-
gültigkeit der idees generales. Im übrigen aber fügt sich die Forderung einer Ge-
setzesherrschaft in eine alte europäische Tradition, die sich aus der Neuzeit über die
mittelalterliche Scholastik bis zur griechischen Philosophie zurückverfolgen läßt. Der
normativistische Glaube kann sich, wir earl Schmitt schreibt, "auf eine vieltausend-
iährige Unterscheidung berufen und em uraltes Ethos für sich geltend machen, näm-
lich den nomos gegen den bloßen thesmos; die ratio gegen die bloße voluntas; die
Intelligenz gegen den blinden, normlosen Willen; die Idee des normierten, berechen-
baren Rechts gegen die von der wechselnden Lage abhängige bloße Zweckmäßigkeit
von Maßnahme und Befehl; den vernunftgetragenen Rationalismus gegen Pragma-
tismus und Emotionalismus; Idealismus und richtiges Recht gegen Utilitarismus; Gel-
tung und Sollen gegen den Zwang und die Not der Verhältnisse".71 Die Tradition
dieses rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs verfolgt earl Schmitt von Aristoteles, Thomas
von Aquin, Suarez, über die Monarchomaehen der beginnenden Neuzeit bis zu Locke,
Bolingbroke, Montesquieu, den Girondisten, Kant, Hegel, Mohl, Lorenz von Stein
und Gneist.
In diesem geistes geschichtlichen Zusammenhang natur- und vernunftrechtlicher Ge-
danken ist also die rechtsstaatliche Idee zu verstehen, daß das Oberste Normen sind,
"welche vor und über jedem politischen Sein gelten, weil sie richtig und vernünftig
sind und daher ohne Rücksicht auf die seinsmäßige, d. h. positiv-rechtliche Wirklich-
keit ein echtes Sollen enthalten". 72 Carl Schmitt sagt, daß der dem Rechtsstaats-
ideal entsprechende Verfassungsbegriff demgemäß auch ein absoluter Verfassungs-
begriff ist. Die Verfassung wird nicht als eine Summe besonders gekennzeichneter
Gesetze, sondern als ein geschlossenes Ganzes und System von Normen angesehen.
Es handelt sich "um die Gesamtnormierung des staatlichen Lebens überhaupt, um
das Grundgesetz im Sinne einer geschlossenen Einheit, um das ,Gesetz der Gesetze'.
Alle andern Gesetze und Normen müssen auf diese eine Norm zurückgeführt werden
können. In einer solchen Bedeutung des Wortes wird der Staat zu einer auf der
Verfassung als Grundnorm beruhenden Rechtsordnung, d. h. einer Einheit von Rechts-
normen." 73 In der französischen Revolution ging der rationalistische Glaube so weit,
daß man sich zutraute, mit der Verfassungskodifikation einen vollständigen ratio-
nalen Plan des gesamten politischen und gesellschaftlichen Lebens formulieren zu
können, und einige sogar Bedenken trugen, ob man nicht Revisionsmöglichkeiten
ausschließen sollte. Auch die geschriebenen Verfassungen, die sich die englischen
Kolonien in Nordamerika aus Anlaß ihrer Unabhängigkeitserklärung 1776 gaben,
waren als solche geschlossenen Kodifikationen gedacht. In dieser Metaphysik des Ver-
nunftnaturrechts gründet nach Einsicht earl Schmitts die liberale Idee vom Rechts-
staat .
•• A. a. 0., S. 8.
70 Ebda .
• 11 A. a. 0., S. 15 f.
72 Schmitt, Verfassungs/ehre (Anm. 21), S. 8 f.
73 A. a. 0., S. 7.
10 Das Rechtsstaatsideal

So ist also das Modell des Rechts- und Verfassungsstaats, wie earl Schmitt folgert,
nach der Idee der Gesetzesherrschaft ein Staat, dessen konkrete Tätigkeit sich restlos
in genau umschriebenen Zuständigkeiten erfassen läßt. "Der letzte, eigentliche Sinn
des fundamentalen ,Prinzips der Gesetzmäßigkeit' alles staatlichen Lebens liegt darin,
daß schließlich überhaupt nicht mehr geherrscht oder befohlen wird, weil nur un-
persönlich geltende Normen geltend gemacht werden. In der allgemeinen Legalität
aller staatlichen Machtausübung liegt die Rechtfertigung eines solchen Staatswesens.
Ein geschlossenes Legalitätssystem begründet den Anspruch auf Gehorsam und recht-
fertigt es, daß jedes Recht auf Widerstand beseitigt ist. Spezifische Erscheinungsform
des Rechts ist hier das Gesetz, spezifische Rechtfertigung des staatlichen Zwanges die
Legalität." 74 Diese Legalität hat im übrigen den Sinn, Legitimität, sei sie nun dy-
nastisch oder plebiszitär, überflüssig zu machen und "jede auf sich selbst beruhende
oder höhere Autorität und Obrigkeit ... zu verneinen" .75 Legitimität und Autorität
werden nur noch als Ableitungen aus der Legalität verstanden.
Sind also" vorstaatliche Freiheit" und "Gesetzesherrschaft" die Grundgedanken des
Rechts- und Verfassungsstaats, so bedarf sein Modell noch eines weiteren, eines Durch-
führungsprinzips. earl Schmitt stellt es etwa so dar: Die Staatsgewalt, die nach der
Freiheitsidee prinzipiell begrenzt zu sein hat, muß so organisiert werden, daß in ihr
roeine Willkür, sei es eines einzelnen, sei es einer Versammlung von Menschen, sich
absolut in Herrschaft setzen kann. Die Staatsgewalt muß daher in sich balanciert
und geteilt werden. Dem dient das "Organisationsprinzip", wie earl Schmitt es
nennt. Das "Organisationsprinzip ist in der Lehre von der sog. Gewaltenteilung
enthalten, d. h. der Unterscheidung verschiedener Zweige staatlicher Machtausübung,
wobei hauptsächlich die Unterscheidung von Gesetzgebung, Regierung (Verwaltung)
und Rechtspflege - Legislative, Exekutive und Justiz - in Betracht kommt. Diese
Teilung und Unterscheidung dient dem Interesse gegenseitiger Kontrolle und Hem-
mungen dieser ,Gewalten'." 76 Insbesondere die Trennung von Legislative und Exe-
kutive, Gesetz und Gesetzesanwendung, "ist das unmittelbar notwendige konstruk-
tive Grundprinzip des Gesetzgebungsstaats, in welchem eben nicht Menschen und
Personen herrschen, sondern Normen gelten sollen".77
Die liberaldemokratische Bewegung konnte, worauf earl Schmitt hinweist, ihre
Vorstellungen vom Rechts- und Verfassungsstaat nicht in die politische Wirklichkeit
umsetzen, wenn sie sich damit begnügte, Prinzipien zu verkünden. Die kontinentalen
Staaten waren in der Restaurationszeit nach dem monarchischen Prinzip rekonstru-
iert worden. Gegenüber ihren konkret bestehenden Einrichtungen mußten nun ebenso
konkrete andere politische Einrichtungen gefordert werden. Das politische Interesse
der liberaldemokratischen Bewegung konzentrierte sich daher, wie earl Schmitt er-
kennt, vor allem auf die Rechte der Volksvertretung, auf die Neugestaltung der Be-
fugnisse des Parlaments. Das Parlament als die gewählte Volksvertretung wird das
erste und wichtigste Mittel zur Durchsetzung der rechtsstaatlichen Interessen. Der
instrumentelle Sinn des Parlaments ergibt sich, wenn man earl Schmitt folgen will,
aus dem rechtsstaatlichen Organisationsprinzip. Durch die Einführung der gewalten-
teilenden Verfassung wird in der Wirklichkeit der politischen Ordnung die vordem
bei der königlichen Regierung - aber auch im Revolutionsparlament - vereinigte ab-
solute Gewalt geteilt und eingegrenzt. Aus der konzentrierten absoluten Staatsgewalt
werden die legislativen Funktionen abgespalten und dadurch vor allem die gesamte
Regierungstätigkeit der Idee nach auf die exekutiven Funktionen reduziert. Indem
74 Smmitt, Legalität • •• (Anm. 34), S. 8.
75 A. a. 0., S. 14.
7. Smmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 127.
77 Smmitt, Legalität . •. (Anm. 34), S. 8.
Die Idee der Freiheit, der Gesetzesherrscha/t und der Gewaltenteilung 11

das Parlament zur Legislative erklärt wird, wird die Regierung auf Exekutive ein-
geschränkt.
Ein anderes damit zusammenhängendes organisatorisches Mittel zur Durchsetzung
der bürgerlichen Freiheiten ergab sich, nach Darstellung Carl Schmitts, aus dem
Kampf "gegen die Machtmittel der königlichen Regierung, Militär und Beamten-
tum".78 Damit wurde ein weiteres wichtiges Element in das Modell des Rechts- und
Verfassungsstaates aufgenommen. Staatliche Herrschaftsausübung läuft in jedem
Falle auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger, d. h. in die in den Grund-
rechten garantierte Freiheitssphäre hinaus. Das politische Problem war daher, wem
auf Grund wessen solche Eingriffe erlaubt sein sollten. So wurde als etwas Rechts-
staatliches die Forderung erhoben, daß solche Eingriffe nur "auf Grund eines Ge-
setzes" erfolgen dürften. Die gesamte Verwaltungstätigkeit, d. h. die konkrete Herr-
schaftsausübung und insbesondere die Polizei sollte nach der Idee des Rechtsstaats
unter den" Vorbehalt" und" Vorrang" des Gesetzes gestellt werden. Wie Carl Schmitt
feststellt, wurde so Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zum weiteren Charakteristikum
des Rechtsstaats. In der Wirklichkeit der politischen Ordnung erhob sich damit die
gesetzgebende Körperschaft als die Vertretung der von den Eingriffen in Freiheit
und Eigentum Betroffenen über die ehemals absolutistische Bürokratie und machte
deren Tätigkeit von ihrem Willen abhängig. Insofern war dieser Vorbehalt und Vor-
rang des Gesetzes ein Mittel zur Verwirklichung der Gesetzesherrschaft im Interesse
des Freiheitsgedankens. Eingriffe in die Freiheitssphäre waren nur Exekutivorganen
erlaubt, d. h. Organen, die an das vom Parlament gegebene Gesetz gebunden und
richterlich kontrolliert blieben. Die Garantie der Freiheitsrechte lag somit im "Vor-
behalt", die Machteinschränkung der Verwaltung im "Vorrang" des Parlaments-
gesetzes.
Als weiteres Element des rechtsstaatlichen Modells stellt Carl Schmitt die Unab-
hängigkeit der Justiz dar. Auch die Instituierung einer neben Legislative und Exe-
kutive dritten Gewalt, der unabhängigen, rechtsprechenden Gewalt, dient der Garan-
tie der Freiheitsrechte. Ihre Träger sind der Idee nach an keinerlei Weisungen, weil
nur an das rationale Gesetz gebunden. Nach der Beseitigung der absolutistischen
Herrschaft sollte der Monarch auch nicht länger mehr der oberste Gerichtsherr sein,
der, wenn er wollte, den Richtern willkürlich Befehle geben und beliebig in ihre
Verfahren eingreifen konnte. Die Staatstätigkeit, die nach rechtsstaatlicher Verfas-
sung prinzipiell begrenzt sein sollte, sollte zu diesem Zweck in genau umschriebene
Befugnisse gegliedert und in ihrem Wirkungskreis meßbar sein. Die allgemeine Ge-
setzmäßigkeit ermöglichte eine allgemeine Meßbarkeit und damit auch eine allge-
meine Kontrollierbarkeit durch eine nur an das Gesetz gebundene Justiz. Im Falle
der Überschreitung kontrollierbarer Befugnisse konnte nun "ein justizförmiges Ver-
fahren in Bewegung gesetzt werden". 79
"Das vollendete Ideal des bürgerlichen Rechtsstaats gipfelt in einer allgemeinen
Justizförmigkeit des gesamten staatlichen Lebens",8o schreibt Carl Schmitt. Insbeson-
dere richtet sich das Interesse auf eine richterliche Kontrolle der Verwaltung und des
verwaltenden Beamtenturns, weil in ihm die königliche Regierung ihre eigentlichen
Machtmittel besaß. Wenn nicht die Unterstellung der gesamten Verwaltung unter
die Rechtsprechung der Zivilgerichte verlangt, sondern die Besonderheit der voll-
ziehenden Gewalt anerkannt wird, so wird doch jedenfalls die Organisation einer
besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit neben den normalen Zivilgerichten zum un-
entbehrlichen Element einer rechtsstaatlichen Organisation.
78 Schmitt, Ver/assungslehre (Anm. 21), S. 130.
7. A. a. 0., S. 131.
se A. a. 0., S. 133.
12 Das Rechtsstaatsideal

Eine die Grundrechte garantierende und die Gewaltenteilung installierende Ver-


fassung, die Einrichtung einer gewählten Legislativversammlung, die Einschränkung
der Regierungsgewalt auf Exekutive, der Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes für
alle Herrschaftsausübung, die Einrichtung einer von der Regierung und Verwaltung
unabhängigen und nur dem Gesetz unterworfenen Justiz und insbesondere einer Ver-
waltungsgerichtsbarkeit zur Kontrolle der Staats tätigkeit und Sicherung der Bürger-
rechte, diese alle bilden also, nach Darstellung Carl Schmitts, die Elemente des Mo-
dells vom Rechts- und Verfassungsstaat. »Gesetzmäßigkeit, Kompetenzmäßigkeit,
Kontrollierbarkeit und Justizförmigkeit ergeben ... das geschlossene System des bür-
gerlichen Rechtsstaats" 81 und das Modell dessen, was das Programm der liberal-
demokratischen Bewegung als Herrschaft des Gesetzes aufstellte. Die Vorstellungen
von Rechtlichkeit sind in diesem System, wie Carl Schmitt es zusammenfassend be-
schreibt, »von einer Reihe einfacher Gleichungen beherrscht: Recht = Gesetz; Ge-
setz = die unter Mitwirkung der Volksvertretung zustande gekommene staatliche
Regelung. Das war das Gesetz, das praktisch gemeint war, wenn man die ,Herrschaft
des Gesetzes' und das ,Prinzip der Gesetzmäßigkeit allen staatlichen Handeins' als
Wesensmerkmal des Rechtsstaats forderte. Auf dieser Kongruenz von Recht und Ge-
setz beruhte letzten Endes alles, was im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem heute
noch wirksamen System und Inventar rechtlicher Begriffe, Formeln und Postulate
entwickelt wurde. Der Staat ist Gesetz, das Gesetz ist der Staat. Nur dem Gesetz
wird Gehorsam geschuldet; nur ihm gegenüber ist das Widerstands recht vernichtet.
Es gibt nur Legalität, nicht Autorität oder Befehl von oben." 82 Auf seine politische
Organisation hin betrachtet, ist das Ideal des Rechtsstaats am glücklichsten im Mo-
dell des parlamentarischen Systems erfüllt, d. h. im Gesetzgebungsstaat, einem poli-
tischen Gemeinwesen, welches die höchste Instanz seines politischen Willens in einem
Parlament findet, das aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangen ist, dem die
Regierung verantwortlich ist und dessen Beschlüsse, weil sie für gerecht und ver-
nünftig gelten, letztmaßgeblich für die Gestaltung des öffentlichen Lebens und alle
übrigen Staatstätigkeiten auf den Gebieten der Verwaltung und Rechtsprechung sind.

Methodische Zwischenbemerkung
Dies ist die Darstellung, die Carl Schmitt vom Ideal des Rechts- und Verfassungs-
staats gibt, wie es die liberal-demokratische Bewegung herausgebildet hat. Die organi-
satorische Verwirklichung dieses Ideals findet Carl Schmitt idealtypisch im Gesetz-
gebungsstaat. Dabei unterscheidet er Vier idealtypische Staats arten, je nach dem, wo
das Schwergewicht der staatlichen Tätigkeit liegt: den Jurisdiktionsstaat, den Regie-
rungsstaat, den Verwaltungsstaat und den Gesetzgebungsstaat. Der Darstellung Carl
Schmitts wird weitgehend gefolgt werden können. Sie mußte hier wiedergegeben
werden, um das Verständnis des Folgenden vorzubereiten. Carl Schmitt gibt nämlich
in seiner kritischen Diagnose der Wirklichkeit des parlamentarisch-demokratischen
Rechtsstaats ein Bild dieser Wirklichkeit, insbesondere der Weimarer Republik, dem-
gemäß diese als ein Entartungs- und Entfremdungszustand erscheint, der nur noch
durch Abwendung von den Ideen und Praktiken parlamentarischer Demokratie und
durch Hinwendung zu einem entgegengesetzten, autoritären System zu überwinden
ist. Freilich sind die Maßstäbe dieser kritischen Diagnose nicht offen der Option
für die autoritäre Ordnung entnommen. Aber man darf sich, wenn man diese Maß-
stäbe wie hier isoliert betrachtet, nicht durch den vermeintlich immanenten Charakter
der Argumentation täuschen lassen, durch die sie herausgestellt werden.
8! A. a. 0., S. 131.
82 Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 21 I.
Methodische Zwischenbemerkung 13

Carl Schmitt nimmt die Sinnbestimmung der einzelnen Glieder und Zusammen-
hänge des Rechts- als parlamentarischen Gesetzgebungsstaats von vornherein so vor,
daß die Wirklichkeit im Vergleich zu ihnen als ein Abfall, ein Entartungszustand und
eine Sinnentfremdung erscheinen muß. Wenn die Wirklichkeit der parlamentarischen
Demokratie ringsum als Sinnentfremdung erscheint und als Konsequenz aus diesem
Eindruck die Wendung zu einem ganz anderen Sinnsystem nahegelegt wird - einem
Sinnsystem, im Vergleich zu dem genaueres Hinsehen für die Wirklichkeit mindestens
gleich arge Sinnentfremdungen und Sinnabweichungen erwarten lassen mußte, wie
doch in der Tat das Modell eines dreigliedrigen totalen Führerstaats -, so ergibt sich
umgekehrt, daß schon jene Sinnbestimmung der parlamentarisch-demokratischen Ord-
nung fragwürdig war. Die Postulate werden von Carl Schmitt nicht als Postulate
aufgestellt, sondern als Argumente für die Widerlegung. Sie sind nicht die Maßstäbe
einer unabhängig das Für und Wider erwägenden Entscheidung, die sich die Alter-
native von Rechtfertigung und Verurteilung zunächst noch offenhält, sondern Zweck-
konstruktionen eines Klageanwalts, der in jedem Fall die Aburteilung seines Gegners
erreichen will. Wenn also im Folgenden die Maßstäbe der Kritik Carl Schmitts aus
dieser Kritik extrapoliert und isoliert vorgeführt werden, so ist immer zu beachten,
daß die politischen Konsequenzen, die Carl Schmitt gezogen wissen will, auch diesen
scheinbar immanenten Maßstäben den Charak "c: von Zweckkonstruktionen geben.
Die einzelnen Sinnbestimmungen der Elemente einer parlamentarischen Demokratie,
wie Carl Schmitt sie vornimmt, sind nicht Postulate für das politische Handeln, son-
dern Extrapolationen für den Nachweis der Disfunktionalität und Illegitimität par-
lamentarischer Demokratie unter zeitgenössischen Bedingungen. In diesem Sinne kön-
nen die folgenden Abschnitte des Teiles I dieser Arbeit gelesen werden.
Ein Staatswesen, das durch den Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes bestimmt sein
will; das dem Gesetz allein die Kraft, objektives Recht schaffen zu können, zugesteht;
diesem Gesetz einen Vorrang vor allen anderen staatlichen Betätigungsarten gibt und
ihm außerdem im Gegensatz zu anderen staatlichen Betätigungsarten das Monopol
vorbehält, in die verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechte einzugreifen, ein sol-
ches Staatswesen steht und fällt nach Meinung Carl Schmitts mit dem Vertrauen auf
die zur Gesetzgebung befugte Instanz. Im organisatorischen Modell des Gesetz-
gebungsstaats ist "letzter Hüter allen Rechts, letzter Garant der bestehenden Ord-
nung, letzte Quelle aller Legalität, letzte Sicherheit und Schutz gegen Unrecht ... der
Gesetzgeber und das von ihm gehandhabte Verfahren der Ge~etzgebung. Mißbrauch
der Gesetzgebungsgewalt und des Gesetzgebungsverfahrens muß praktisch außer Be-
tracht bleiben, weil <onst sofort ein anders eingerichtetes Staatswesen, eine ganz
andere Struktur und Organisation erforderlich würde. Die prästabilierte und prä-
sumierte Kongruenz und Harmonie von Recht und Gesetz, Gerechtigkeit und Legali-
tät, Sache und Verfahren beherrscht das Rechtsdenken des Gesetzgebungsstaats bis
in jede Einzelheit hinein. Nur dadurch wurde es möglich, daß man sich der Herr-
schaft des Gesetzes gerade im Namen der Freiheit unterwarf, das "Widerstandsrecht
.ws dem Katalog d~r Freiheitsrechte entfernte und dem Gesetz jenen unbedingten
Vorrang zubilligte, der in der Unterwerfung des Richters unter das Gesetz eine
Garantie der richterlichen Unabhängigkeit erblickte, in der Gesetzmäßigkeit der Ver-
waltung den wichtigsten Schutz vor Mißbrauch staatlicher Macht fand und alle in
der Verfassung gewährleisteten Grundrechte unbedenklich dem Gesetzgeber zur Ver-
fügung stellte, der kraft des ,Vorbehalts des Gesetzes' nach seinem Ermessen in sie
eingreifen durfte.« 83
Der parlamentarische Gesetzgebungsstaat ist dadurch charakterisiert, daß das Par-
lament als Träger ,der legislativen Funktion im Staat dominiert. Der Schwerpunkt
83 A. a. 0., S. 22.
14 Das Rechtsstaatsideal

des entscheidenden Willens liegt bei der Gesetzgebung. Sie steht für das normale
und durchschnittliche Dasein im Mittelpunkt des staatlichen Lebens. Der Wille
des Parlaments tritt im entscheidenden Augenblick als der höchste Wille maßgebend
und ausschlaggebend hervor und wird für das Gemeinwesen artbestimmend. Darum
hängt für ein solches Gemeinwesen alles davon ab, daß die Legislativversammlung
das in die Vernunft, Objektivität, Gerechtigkeit und übereinstimmung mit dem
Volkswillen gesetzte Vertrauen rechtfertigt. "Alle Würde und Hoheit des Gesetzes
hängt ausschließlich und unmittelbar, und zwar mit unmittelbar positiv-rechtlicher
Bedeutung und Wirkung, an diesem Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Vernunft
des Gesetzgebers selbst und aller am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Instanzen.
Alle rechtlichen Garantien und Sicherungen, aller Schutz gegen Mißbrauch, sind in
die Person des allmächtigen Gesetzgebers oder in die Eigenart des Gesetzgebungsver-
fahrens gelegt.« 84 Dieses Vertrauen ist aber nach Auffassung earl Schmitts nur unter
bestimmten Bedingungen gerechtfertigt .

•• A. a. 0., S. 24.
Zweites Kapitel

FUNKTIONS- UND LEGITIMITKTSBEDINGUNGEN


DES PARLAMENTARISCHEN GESETZGEBUNGSSTAATS

Die Notwendigkeit des generellen Charakters von Gesetzen


Zunächst einmal muß der Beschluß der Legislativversammlung bestimmte Qualitäten
erfüllen, ohne die auch das System der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung nicht sinn-
voll wäre. Gesetz kann nicht "unterschiedslos alles [sein] ... , was irgendein Mensch
oder eine Versammlung befiehlt" .85 "Soll die ,Herrschaft des Gesetzes' ihren Zusam-
menhang mit dem Begriff des Rechtsstaats behalten, so ist es notwendig, in den Be-
griff des Gesetzes gewisse Qualitäten hineinzunehmen, durch welche der Unterschied
einer Rechtsnorm von einem bloß willensmäßigen Befehl oder einer Maßnahme mög-
lich wird." 86 Das Gesetz muß so geartet sein, daß es auch den Gesetzgeber selbst zu
binden imstande ist. Denn wäre der Gesetzgeber nicht selbst in irgendeiner Weise an
sein Gesetz gebunden, dann wäre nicht verhindert und ausgeschlossen, daß seine Ge-
setzgebungsbefugnis zur Willkürherrschaft und das Gesetzgebungsverfahren zu deren
Instrument wird. Eine Bindung des Gesetzgebers an das Gesetz ist aber nur dadurch
denkbar, daß das Gesetz Eigenschaften wie Vernünftigkeit, Richtigkeit, Gerechtigkeit
besitzt. "Alle diese Eigenschaften setzen voraus, daß das Gesetz eine generelle Norm
ist. Ein Gesetzgeber, dessen Einzelrnaßnahmen, Spezialanweisungen, Dispense und
Durchbrechungen ebenso als Gesetz gelten wie seine generellen Normierungen, ist in
keiner denkbaren Weise an sein Gesetz gebunden; die ,Bindung an das Gesetz' ist für
diejenigen, die beliebig ,Gesetze' machen können, eine bedeutungslose Redensart." 87
Der Gesetzesbegriff ist also der "Prüfstein" 88 für konstitutionelles und absolutistisches
Denken. "Die entscheidende Distinktion bleibt hier, ob das Gesetz ein genereller,
rationaler Satz ist oder Maßnahme, konkrete Einzelverfügung, Befehl." 89
Auch das System rechtsstaatlicher Gewaltenteilung ist nach Auffassung Carl
Schmitts "nur solange sinnvoll, als unter dem Gesetz eine generelle Norm verstanden
wird".90 Die Voraussetzung der Teilung zwischen Legislativ- und Exekutivgewalt ist
die Unterscheidung von zwei Bereichen: dem Bereich der Gesetze als der generellen
Normen und dem Bereich der Gesetzesanwendung im Sinne der Einleitung von kon-
kreten Maßnahmen mit Hilfe von Durchführungsverordnungen, Verwaltungsvor-
schriften und Einzelverfügungen. Die Trennung von legislativen und exekutiven
Funktionen und die Identifizierung dieser Funktionen mit den konkreten gesellschaft-
lichen Gebilden Parlament und Regierung bzw. Verwaltungsbürokratie ist nur durch-
führbar, wenn ein bestimmter Gesetzesbegriff anerkannt wird. Lex, wie sie der Legis-
lative vorbehalten sein soll, ist nicht jede beliebige herrschaftliche Willensäußerung
des Parlaments. Denn natürlich besteht auch die Tätigkeit von Regierung und von
8' Schmin, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 138.
86 Ebda.
87 A. a. 0., S. 139.
88 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . •• (Anm. 9), S. 54.
8t Ebda.
o. Schmitt, Verfassungs/ehre (Anm. 21), S. 151.
16 Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats

Verwaltung in herrschaftlichen Willensäußerungen und Anor,dnungen. Das im Sinne


der Gewaltenteilung dem Parlament zur Verabschiedung vorbehaltene Gesetz ist die
l'echtsstaatliche, im voraus bestimmte, für alle Betroffenen gleich geltende, generelle
Norm, im Gegensatz zu den "Einzelrnaßnahmen, Spezialanweisungen, Dispensen und
Durchbrechungen",91 die zu treffen der Exekutive, also Regierung und Verwaltung,
zukommt. "Die ganze Lehre vom Rechtsstaat beruht auf dem Gegensatz eines gene-
rellen, vorher aufgestellten, alle bindenden, ausnahmslos und prinzipiell für alle Zei-
ten geltenden Gesetzes zu einem von Fall zu Fall und mit Rücksicht auf besondere
konkrete Verhältnisse ergehenden persönlichen Befehl ... Diese Vorstellung vom
Gesetz gründet sich auf jene rationalistische Unterscheidung des ... Generellen und
des Singulären, und die Vertreter rechtsstaatlichen Denkens sehen ohne weiteres im
Generellen an sich den höheren Wert. "92
Wenn das in den Gesetzgeber und das Gesetzgebungsverfahren gesetzte Vertrauen,
von dem der parlamentarische Gesetzgebungsstaat nach Auffassung earl Schmitts
lebt, gerechtfertigt sein soll, dann muß die Macht des Parlaments beschränkt sein auf
die Verabschiedung generell geltender Gesetze. Die Eingrenzung der Regierungsrnacht
auf exekutive Funktionen, d. h. auf den Erlaß von Verwaltungsverordnungen und
das Treffen von Einzelrnaßnahmen, die im Rahmen der generellen Gesetze verbleiben
und dem Vorrang des Gesetzes unterworfen sein müssen, diese Eingrenzung ist er-
reicht durch die Institutionalisierung des Parlaments zur Legislativgewalt. Es muß
dann aber auch umgekehrt ausgeschlossen sein, daß das Parlament seim:rseits Einzel-
rnaßnahmen befiehlt. Das Parlament muß "selbst an sein Gesetz gebunden" 93 sein.
Zur Rechtfertigung jenes den Gesetzgebungsstaat tragenden Vertrauens muß also
daran festgehalten werden, "daß das Gesetz im formellen Sinne normalerweise einen
Rechtssatz im materiellen Sinne enthalte und von einem beliebigen Befehl zu unter-
scheiden sei". 94

Das Parlament soll öffentlich diskutierende Repräsentation sein


Im parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebungsstaat muß, wenn das in die Ver-
nunft seiner Verfahrensweisen gesetzte Vertrauen gerechtfertigt sein soll, das Parla-
ment in bestimmter Weise zusammengesetzt sein und arbeiten. Das Parlament muß
aus Repräsentanten bestehen, und die Prinzipien seiner Arbeitsweise müssen Dffent-
lichkeit und Diskussion sein.
Das Parlament, das im Gesetzgebungsstaat die höchste Instanz sein soll, hat
seinen Sinn nicht darin, ein Ausschuß des Volkes oder eine Versammlung von Volks-
beauftragten zu sein. Die Vorstellung eines Ausschusses vernichtet nach Auffassung
earl Schmitts "mittelbar die politische Einheit überhaupt'',95 wie auch das imperative
Mandat, das für konsequent demokratisch gehalten werden könnte, letztlich zur Auf-
8' A. a. 0., S. 139.
" Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage • •• (Anm. 9), S. 53 •
•• Schmitt, Verjassungslehre (Anm. 21), S. 139 .
.. Schmitt, Legalitäc. .. (Anm. 34), S. 25. - Die Staatslehre des 19. Jahrhunderts kannte einen dreifachen Ge-
setzesbegriff: Erstens das Gesetz im formellen Sinne; danach hieß Gesetz nur nach dem gesetzgebenden Subjekt
alles, was das Parlament beschloß. Zweitens das Gesetz im materiellen Sinne (I); danach war Gesetz gleich der
Rechtsnorm im Sinne einer Gleiches gleich behandelnden dauernden Regelung mit meßbarem und bestimmtem In-
halt, die für alle Bürger festlegte, was reduens sein soll für jedermann. Drittens das Gesetz im materiellen
Sinne (11); danach "'ar Gesetz definiert als "Eingriff in Freiheit und Eigentum der Staatsbürger", eine Definition,
die sich aus der poiemischen Entgegenstellung der bürgerlichen Gesellsmaft gegen die obrigkeitsstaatliche Exekutive
ergab und zur Abgrenzung gegen die Verwaitungsverordnung diente, die sidJ. nicht an die vorstaatlich freien
Bürger) sonaern nur an die dem besonderen Gewaltverhältnis unterworfenen Beamten richtet und innerhalb der
vollziehenden Gewalt verbleibt .
.. Schmitt, Ver;assungslehre (Anm. 21), S. 267.
Das Parlament soll öffentlich diskutierende Repräsentation sein 17

lösung der politischen Macht führen müsse. Denn der Abgeordnete, der an Instruk-
tionen jeweils seiner Wähler gebunden ist, würde durch eben diese strikte Bezogen-
heit auf einen Teil des Volkes kein Verhältnis zum Ganzen des Volkes und zur poli-
tischen Einheit gewinnen können. Wenn der Gesetzgebungsstaat legitim sein soll,
darf man im Parlament nicht einen "Exponenten der Interessen und Stimmungen
von Wählermassen" 96 sehen müssen, sondern den Repräsentanten der politischen Ein-
heit. Das parlamentarische System des Rechtsstaats ist ein "Repräsentativsystem" und
seine Verfassung eine "Repräsentativverfassung". In der Repräsentation aber "kommt
eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung". 97 Es ist nach Auffassung Carl
Schmitts für den Parlamentarismus sinngebend, daß im Parlament nicht die gebun-
denen Vertreter verschiedener Interessen, Funktionäre und Delegierte, sondern un-
abhängige Repräsentanten der ganzen Nation zusammenkommen. "Repräsentiert
wird die politische Einheit als Ganzes. In dieser Repräsentation liegt etwas, das über
jeden Auftrag und jede Funktion hinausgeht." 98
Vom Repräsentationscharakter des Parlaments hängt in spezifischer Weise der
rechtsstaatliche Charakter der Gesetze ab. Die Hoheit des Gesetzes und das Vertrauen
auf den Gesetzgeber beruhen darauf, daß im Parlament die Besten des Volkes zu-
sammenkommen. Es handelt sich seinem Sinne nach um eine aristokratische Ver-
sammlung, um eine repräsentierende Elite im werthaften Sinne des Wortes. Das Par-
lament ist "seiner Idee nach eine Versammlung gebildeter Menschen, welche Bildung
und Vernunft repräsentieren und zwar die Bildung und Vernunft der ganzen Na-
tion".99 Nur eine solche Versammlung von unabhängigen und über den Interessen-
gegensätzen stehenden Repräsentanten, in der, wie es Guizot ausgedrückt hat, die im
Volk verstreuten Vernunftpartikel an einem Platz zusammenkommen,100 nur sie ist
in der Lage, vernünftige und gerechte Gesetze im rechtsstaatlichen Sinne beschließen
zu können. "Die Herrschaft des Parlaments ist ein Fall von Aristokratie. "101
Wenn das Parlament als Ganzes repräsentieren soll, dann muß auch der einzelne
Abgeordnete bestimmte Kriterien typisch erfüllen. Dem Typ nach ist er ein "durch
Intelligenz und Bildung ausgezeichneter, nur für das politische Ganze als solches
besorgter Mann" .102 Er repräsentiert, das heißt, er ist unabhängig, an keinerlei
Aufträge und Anweisungen gebunden; und er ist verantwortungsfrei in dem Sinne,
daß er für die in Ausübung seines Berufes getanen Handlungen und .Äußerungen
nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Als Repräsentant ist er Inhaber einer
persönlichen Würde, so daß er sich in der Ausübung seines Mandats nicht vertreten
lassen kann. Auch ist sein Mandat logischerweise inkompatibel mit jeder sonst durch-
weg abhängigen Lebensstellung. "Eine ihrer ganzen Lebensstellung nach abhängige
oder einer bestimmten Organisation eingeordnete Person dürfte nicht Abgeordneter
werden." 103 Das gilt vor allem für Beamte und Geistliche. Und schließlich sollte der
Repräsentationscharakter darin zum Ausdruck kommen, daß das Mandat ehrenamt-
lich ausgeübt und höchstens Ersatz der Auslagen geleistet wird.
Seinen Repräsentationscharakter und seine zentrale Stellung im Staat, damit aber das
gesamte System des Gesetzgebungsstaats, rechtfertigt das Parlament nur, wenn öffent-
lichkeit und Diskussion die Prinzipien seiner Arbeitsweise sind. "Das Parlament des
bürgerlichen Rechtsstaats ist nach seiner Idee der Platz, an welchem eine öffentliche
" A. a. 0., S. 314.
B; A .•. 0., S. 210 •
• , A. a. 0 .. S. 212.
OB A. a. 0., S. 310 f.
"0 A. a. 0., S. 311.
101 A. a. 0., S. 218.
'0'
A. a. 0., S. 217.
m A. a. 0., S. 317.
18 Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats

Diskussion der politischen Meinungen stattfindet. Mehrheit und Minderheit, Regie-


rungspartei und Opposition suchen durch Erörterung von Argument und Gegenargu-
ment den richtigen Beschluß. Solange das Parlament die nationale Bildung und Ver-
nunft repräsentiert und sich in ihm die gesamte Intelligenz des Volkes vereinigt, kann
eine echte Diskussion entstehen, d. h. in öffentlicher Rede und Gegenrede der echte
Gesamtwille des Volkes als eine ,volonte generale' zustande kommen." 104 Es gehört zum
Sinn und Legitimitätsgrund des Parlaments, daß es durch rationale Diskussion Kon-
flikte in friedlicher und gerechter Weise zu lösen vermag. Das deliberare ist sein
Element wie das agere das der Exekutive. Darum ist seine Aufgabe die Gesetzgebung.
Daß die Beschlüsse der Legislative "im Wege des Parlamentierens" zustande kommen,
gibt ihnen "logisch einen anderen Charakter", als der "nur auf Autorität sich grün-
dende Befehl" 105 besitzt. Nur aber, indem es wirklich öffentlich diskutiert, besitzt
das Parlament und mit ihm der Gesetzgebungsstaat einen Vorzug gegenüber dem
Regierungsstaat der absoluten Monarchie, die nun als bloße Macht und Befehlsherr-
schaft erscheint, wie gegenüber der unmittelbaren Demokratie, die sich vergleichs-
weise als die Herrschaft einer von schwankenden Leidenschaften und kurzsichtigen
Interessen bewegten Masse ausnimmt.
"Die tlffentlichkeit der Verhandlungen ist der Kern des ganzen Systems",106 denn
die tlffentlichkeit ermöglicht die öffentliche und allgemeine Teilnahme aller Denken-
den an der Argumentation, in der die maßgeblichen und für die Regelung des staat-
lichen Lebens bestimmten Normen gefunden werden, ermöglicht dadurch auch die
öffentliche Kontrolle über die Rationalität, Vernunft und Gerechtigkeit des Gesetz-
gebungsverfahrens. "Zur Diskussion gehören gemeinsame überzeugungen als Prämis-
sen, Bereitwilligkeit, sich überzeugen zu lassen, Unabhängigkeit von parteimäßiger
Bindung, Unbefangenheit von egoistischen Interessen." 107 Nur um der Gewährlei-
stung öffentlicher Diskussion willen hat es einen Sinn, die Abgeordneten gegen Straf-
verfolgungen und Einschränkungen der persönlichen Freiheit zu schützen, ein Privi-
leg, das nach Auffassung Carl Schmitts im übrigen nur dem Parlament als Ganzem,
nicht dem Einzelabgeordneten als solchem zukommt. Die Durchführung der Prinzi-
pien von öffentlichkeit und Diskussion verlangt auch, daß die nichtöffentlichen Aus-
schüsse des Parlaments nur zur äußerlich-technischen Vorbereitung dienen, darüber
hinaus aber keine weitere und eigene Bedeutung für das Zustandekommen des poli-
tischen Willens haben dürfen. Schließlich folgt für Carl Schmitt aus dem Repräsen-
tationscharakter des Parlaments, daß "übertragung der Gesetzgebungsbefugnisse des
Parlaments auf Ausschüsse oder auf die Regierung, Delegation und Ermächtigung
zum Erlaß von Gesetzen ... unzulässig und bei einem richtigen Bewußtsein der Be-
deutung öffentlicher Diskussion undenkbar" 108 sind. Alles, was im Gegensatz zum
Repräsentationscharakter des Parlaments und zu den Prinzipien von tlffentlichkeit
und Diskussion steht, macht nach Auffassung Carl Schmitts den Parlamentarismus
und mit ihm die gesamte Konstruktion des Gesetzgebungsstaats illegitim, bringt den
Gesetzgebungsstaat um die höhere Rechtfertigung des in seine Verfahrensweisen ge-
setzten Vertrauens.

Die Wahl soll aristokratischen Charakter haben


Zu diesen Erfordernissen, ohne die der Gesetzgebungsstaat nach Auffassung Carl
Schmitts der Legitimität entbehrt, treten weitere. Wenn das Parlament repräsen-
A. a. 0"
lQ.!, S. 315.
105 Sdtmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . .. (Anm. 9), S. 54.
10' Schmitt, Verfassungslehre (Anm.21), 5.316.
117 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . .• (Anm. 9), 5.9.
108 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 316 f.
Die Parteien sollen lose Meinungsparteien sein 19

tativen Charakter haben soll, dann muß es auch gegenüber den eigenen Wählern reprä-
sentieren. Denn repräsentiert wird nach Meinung Carl Schmitts nicht das Volk, son-
dern die politische Einheit. Als Repräsentativversammlung muß das Parlament also,
solange seine Legislaturperiode andauert, unabhängig von der Wählerschaft sein. Das
macht einen bestimmten Charakter der Wahl erforderlich. Die Wahl soll nicht den
Sinn "der Bestellung eines Agenten, Kommissars oder Dieners haben",I09 sondern
"den aristokratischen Sinn einer Heraushebung des Besseren und des Führers". 110 Der
Wähler soll gegenüber dem Gewählten nicht als der über-, sondern als der Unter-
geordnete erscheinen. Die Wahl soll nicht "den Charakter der Bestellung von Partei-
und Interessenfunktionären "111 haben, sondern "eine Repräsentation begründen" ,112
Ihre Richtung soll von unten nach oben und nicht von oben nach unten gehen. Sie
soll "Auswahl im Sinne der Heraus- und HöhersteIlung einer Elite und der Begrün-
dung einer unabhängigen Repräsentation" 113 sein. Und sie soll "einen unmittelbaren
Zusammenhang zwischen dem Wähler und dem Abgeordneten" 114 zum Ausdruck
bringen, wobei vorausgesetzt wird, daß der Wähler ein nicht weniger rationales
und zu einem eigenen politischen Urteil befähigtes Subjekt ist, das aktiv am Prozeß
der öffentlichen Meinungsbildung teilhat. Die Wahl muß Einzelwahl und also Wahl
nach dem Majorzprinzip sein, so daß sie ein "persönliches Verhältnis der Wähler-
schaft zu einem anerkannten Führer" 115 ermöglicht, das immer wirksam ist, auch
wenn sich die Wahl an sachlichen Fragen orientiert. Zwischen den Wählern und
den Gewählten dürfen vermittelnde Organisationen nur in einem ganz beschränk-
ten Maße und höchstens zum Zwecke technischer Vorbereitungen, nicht aber als ein
festes Instrumentarium der Propaganda und nicht als ein durchorganisiertes Medium
parteilicher Willensbildung treten.

Die Parteien sollen lose Meinungsparteien sein


Eines der wichtigsten Erfordernisse für die Legitimität des Gesetzgebungsstaats, das
zugleich in engstem Zusammenhang mit dem repräsentativen Sinn des Parlaments
und der Wahl steht, ist ein bestimmter Charakter der Parteien. In gewisser Hinsicht
ist jeder Staat ein Parteienstaat, insofern es in jedem politischen Gebilde Parteiungen
geben wird, deren Auffassungen von der richtigen Gestaltung der öffentlichen Zu-
stände auseinandergehen. Insbesondere der parlamentarisch-demokratische Gesetz-
gebungsstaat ist ohne Parteiungen nicht denkbar. Aber die besondere Art, Struktur,
Organisation und Anzahl der Parteien ist dafür nicht unwesentlich. Vielmehr müssen
die Parteien bestimmte Kriterien erfüllen, wenn an ihnen nicht das ganze System
zuschanden werden soll.
Es ist der "Sinn aller verfassungsmäßigen Institutionen und Methoden einer parla-
mentarischen Demokratie ... , daß ein fortwährender Prozeß des übergangs und Auf-
stiegs von egoistischen Interessen und Meinungen auf dem Wege über den Partei-
willen zu einem einheitlichen Staatswillen führt". 116 Die Parteien sind als Media der
politischen Willensbildung gedacht in einem System, das im Parlament kulminiert.
Dort soll sich der Parteiegoismus in einen überparteilichen Willen verwandeln und
"die Vielheit der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und konfessionellen Gegen-
"0 A. a. 0., S. 257.
11' Ebda.
111 A. a. 0., S. 239.
II! Ebda.
tu Schmitt, Legalität . .• (Anm. 34), S. 92.
IU Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 86.
lt5 Schmitt, Verjassungslehre (Anm. 21), S. 325 f.
"' Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 87.
20 Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats

sätze, Interessen und Meinungen sich in die Einheit des politischen Willens" 117 trans-
formieren. Dies aber macht einen bestimmten Charakter der Parteien erforderlich.
"Zur Partei im Sinne des liberalen Verfassungsstaats gehört es, daß sie ein auf freier
Werbung beruhendes, also nicht festes, nicht zu einem ständigen, permanenten und
durchorganisierten sozialen Komplex gewordenes Gebilde ist. Sowohl die ,Freiheit'
wie die ,Werbung' verbieten, der Idee nach, jeden sozialen oder ökonomischen Druck
und lassen nur die freie überredung sozial und wirtschaftlich freier, geistig und intel-
lektuell selbständiger, eines eigenen Urteils fähiger Menschen als Motivationen
zu." 118 Eine konsequente Verfassung eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates
muß also nach Meinung Carl Schmitts davon ausgehen können, "daß die politische
Partei ein soziologisch so wenig festes, so wenig formiertes, so flüssiges oder sogar
luftiges Gebilde ist, daß es eben als nichtexistent behandelt werden darf. Denn die
Region, in der die Parteien überhaupt nur existieren sollen, ist ... nur die Sphäre der
öffentlichen Meinung." 119 Die öffentliche Meinung ist aber ein ihrem Wesen nach
unorganisiertes und unorganisierbares Medium, dessen ursprüngliche Wechselhaftig-
keit sich auch dem Wesen der Parteien mitteilen muß. Parteien sind darin eigentlich
nur als wechselnde und grundsätzlich nicht festlegbare Parteiungen legitim. Jede
festere Organisation läßt sich höchstens aus wahl- und abstimmungstechnischen Funk-
tionen rechtfertigen, muß in diesen aber auch schon ihre Grenze finden.
Das Wesen der Partei als eines auf freier Werbung beruhenden Gebildes "bleibt
außerhalb jeder magistratischen Organisation. Es gibt keine Demokratie ohne Par-
teien, aber nur, weil es keine Demokratie ohne öffentliche Meinung ... gibt." 120 Die
Parteien dürfen "nicht feste Organisationen interessen- oder gar klassenmäßig ge-
bundener Massen" 121 sein, sondern müssen bis zu gewissem Grade den Charakter
stets fluktuierender Gruppierungen wahren. Dabei müssen sie zugleich innerhalb einer
sie umfassenden und gemeinsam tragenden Homogenität des Volkes verbleiben. "Der
Gegensatz der Parteien darf in keinem Sinne absolut sein und niemals den Rahmen
der nationalen und sozialen Einheit durchbrechen. Eine Diskussion zwischen den Par-
teien ist nur solange möglich, als gemeinsame Prämissen vorhanden sind. Auch ver-
ständige Kompromisse und ein loyales Wechselspiel ... können nur dann zustande
kommen, wenn diese Parteien einander nicht vernichten oder beseitigen wollen, son-
dern sich nach den Regeln eines fairen Spiels verhalten. Sobald aber absolute Gegen-
sätze auftreten und konfessionelle, klassenmäßige oder nationale Verschiedenheiten
für den Partei willen maßgebend werden, hört diese Voraussetzung auf." 122

Beschränkung auf Grundrechte und organisatorische Regelun.gen


Das Postulat, daß im Gesetzgebungsverfahren der parlamentarischen Demokratie der
Grundsatz der einfachen Mehrheit gelten müsse, wenn anders das Legalitätssystem
auch legitim sein soll, begründet Carl Schmitt folgendermaßen.
Das Parlament faßt seine Beschlüsse normalerweise nach voraufgegangener Aus-
sprache durch Feststellung der Mehrheit. Als Gesetz und materielles Recht gilt also
"im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat der jeweilige Beschluß der jeweiligen Par-
lamentsmehrheit".123 Daß die Methode der Willensbildung durch Mehrheitsfeststel-
lung überhaupt anwendbar ist, resultiert aus der Voraussetzung demokratischer Ho-
117 A. a. 0., S. 88.
118 A. a. 0., S. 83.
'" Ebda.
ao Schmitt, Verfassungslehrt (Anm. 21), 5.247.
121 A. a. 0., S. 326.
12. Ebda.
m Schmitt, Legalität . •• (Anm. 34), S. 40.
Beschränkung auf Grundrechte und organisatorische Regelungen 21

mogenität. "Grundsätzlich beruht jede Demokratie, auch die parlamentarische, auf


der vorausgesetzten, durchgehenden, unteilbaren Homogenität. Jede Abstimmung
hat ... nur den Sinn, übereinstimmung, nicht eine majorisierende, vergewaltigende
überstimmung herbeizuführen, als ein Modus, die Einmütigkeit festzustellen, die
in einer tieferen Schicht immer vorhanden sein muß, wenn nicht die Demokratie auf-
hören soll." 124 Sofern aber, meint nun Carl Schmitt, die Mehrheitsmethode über-
haupt anwendbar ist, ist auch lediglich die Entscheidung mit einfacher Mehrheit zu
rechtfertigen. Natürlich kann eine Entscheidung auch mit Einstimmigkeit zustande
kommen oder mit einer sehr großen Mehrheit. Das ist als Faktum natürlich nicht
ausgeschlossen. Aber eine größere als die einfache Mehrheit darf nicht gefordert wer-
den. Darauf kommt es hier an. Wo die tiefere und zwar ausnahmslose und durch-
gehende übereinstimmung in den rechtlichen Grundwerten fehlt, dort "wäre es eine
sonderbare Art von ,Gerechtigkeit', eine Mehrheit für um so besser und gerechter zu
erklären, je erdrückender sie ist, und abstrakt zu behaupten, daß 98 Menschen 2 Men-
schen mißhandeln, sei bei weitem nicht so ungerecht, wie daß 51 Menschen 49 miß-
handeln".125
Die Forderung qualifizierter Mehrheiten für gewisse Gesetzgebungsmaterien möchte
plausibel erscheinen, wo man den Gedanken hat, daß eine Erschwerung der zum Be-
schluß erforderlichen Mehrheit die Beratung gründlicher und also eine gerechte und
vernünftige Beschlußfassung wahrscheinlicher machen wird. Das ist eine praktisch-
technische Erwägung, die sich aus bestimmten konkreten Gegebenheit in der gesetz-
gebenden Versammlung durchaus begründen läßt. Jedoch ist diese Erwägung nach
Auffassung Carl Schmitts eben nur eine praktisch-technische Erwägung und offen-
bart, daß, wo sie angestellt wird, mit der ganzen parlamentarischen Demokratie
etwas nicht stimmt. Carl Schmitt meint, aus den Grundsätzen der Demokratie jeden-
falls lasse sich die Forderung qualifizierter Mehrheit nicht rechtfertigen. Wenn die
Mehrheitsmethode überhaupt gerecht ist, dann nur, weil sie auf Grund tieferer über-
einstimmung in der Grundwerthaltung der Minderheit die gleiche Chance offenhält,
zur Mehrheit zu werden. Sie ist also wertneutral in dem Sinne, daß sie alle Bestre-
bungen und speziellen politischen Werthaltungen zum Verfahren der Willensbildung
gleichmäßig und ohne Unterschiede zu machen zuläßt. Die Erschwerung des Be-
schlusses für gewisse Gesetzgebungsmaterien hat aber unmittelbar oder mittelbar
immer den Sinn, Minderheiten gegen einfache Mehrheit zu schützen. Das heißt, daß
die Forderung qualifizierter Mehrheit stets Privilegierungen oder Erschwerungen für
bestimmte Einzelbestrebungen und Werthaltungen bewirkt. Auf diese Weise ist
die Gleichheit der Chancen zerstört. Denn es werden gewisse Interessen be-
günstigt, die Gegeninteressen aber benachteiligt. Zu diesem Zwecke werden etwa
in die Verfassung außer den Grundrechten bestimmte materiell-rechtliche Festlegun-
gen aufgenommen, die sich rechtslogisch nicht von normalen Gesetzen unter-
scheiden, aber durch ihre Aufnahme in die Verfassung den Rang von Verfassungs-
gesetzen erhalten, d. h. nur mit einer sog. verfassungsändernden Mehrheit geändert
werden können. Da es nun aber, so argumentiert Carl Schmitt, wegen der voraus-
gesetzten Homogenität "in einer Demokratie legitimerweise überhaupt keine dau-
ernde und organisierte Teilung des Volkes in Mehrheit und Minderheit gibt, so gibt
es auch keine gegenüber der Mehrheit dauernd schutzwürdigen und schutzbedürftigen
Interessen". 126 Die Forderung qualifizierter Mehrheiten stellt hier eine Verminde-
rung der gleichen Chance dar und steht also in Widerspruch zur Gerechtigkeitsvor-
aussetzung der Mehrheitsmethode überhaupt. Aus diesem Grunde auch soll sich die
.24 A. a. 0., S. 43.
123 Ebda.
126 Ebda.
22 Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats

Verfassung eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats, wenn dieser Staat in der


Wirklichkeit legitim und funktionell sein soll, auf die Formulierung von Grundrech-
ten zur Gewährleistung einer allgemeinen Freiheitssphäre und die Formulierung der
organisatorischen Verfahren und Zuständigkeiten in der staatlichen Willensbildung
beschränken.
Sie soll einerseits mit der Erklärung allgemeiner Grundrechte das allgemeine Staats-
ethos formulieren, also die allgemeinen Prinzipien aufstellen, "auf welchen die poli-
tische Einheit eines Volkes beruht und deren Geltung als wichtigste Voraussetzung
dafür anerkannt wird, daß diese Einheit sich immer von neuem herstellt und for-
miert".127 Dabei haben diese allgemeinen Freiheitsprinzipien "den Sinn, das tradi-
tionell typische und übliche Maß der Eingriffe in die Freiheit zu garantieren. Wie
weit der Gesetzgeber durch strafprozessuale Normierung der Festnahme, Haus-
suchung, Postbeschlagnahme usw. in die verfassungsmäßig gewährleisteten Grund-
rechte eingreifen darf, ist im einzelnen stark modifizierbar; aber solange ein gewisses
bürgerlich-rechts staatliches Bewußtsein vorhanden ist, kann man doch erkennen,
wann der Gesetzgeber das ihm durch den Gesetzesvorbehalt konzedierte Maximum
überschritten hat." 128 Anderseits soll sie die aus dem Organisationsprinzip der
Gewaltenteilung folgenden Zuständigkeiten für Gesetzgebung, Regierung, Verwal-
tung und Rechtsprechung regeln. Im übrigen aber soll sie die Schöpfung alles mate-
riellen Rechts ausschließlich dem von ihr eingesetzten Gesetzgeber überlassen. Wollte
sie ihm hierin für bestimmte Materien Beschränkungen auferlegen, etwa indem sie
die Beschlußfassung für bestimmte Gesetze erschwerte, weil sie deren Materien unter
die Bedingungen ihrer erschwerten Abänderbarkeit stellte, so würde sie für diese
Fälle eben die Forderung qualifizierter Mehrheiten aufstellen und damit die Gerech-
tigkeitsvoraussetzung aller Mehrheitsmethoden, das Prinzip der gleichen Chance,
verletzen. Deshalb soll die Verfassung dem von ihr eingesetzten, mit einfachen Mehr-
heiten arbeitenden ordentlichen Gesetzgeber nicht vorgreifen. Sie soll keinen außer-
ordentlichen Gesetzgeber der qualifizierten Mehrheit begründen. Sie darf also keine
Sonderrechte von Sondergruppen anerkennen und unter den Schutz dieser erschwer-
ten Abänderbarkeit stellen.
Diese Beschränkung auf Grundrechte und Verfahrens regeln wird nach Auffassung
Carl Schmitts von sämtlichen dem Gesetzgebungsstaat eigentümlichen Vorkehrungen
und Einrichtungen vorausgesetzt. "Alle dem Gesetzgebungsstaat eigentümlichen Be-
griffe, wie Herrschaft des Gesetzes, Allmacht, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes,
haben immer nur den einfachen Gesetzgeber im Auge und rechnen mit einer Verfas-
sung, die keine materiell-rechtliche Regelung wesentlichen Umfangs enthält, sondern
einen Grundrechtsteil, der die bürgerliche Freiheitssphäre im allgemeinen gewähr-
leistet und als solcher einem organisatorischen Teil, der das Verfahren staatlicher
Willensbildung regelt, gegenübersteht." 129 Es sollte "für jeden Gesetzgebungsstaat
selbstverständlich sein, ·daß die geschriebene Verfassung ... dem von ihr sanktionierten
Gesetzgeber nicht vorgreift, indem sie durch eigene materiell-rechtliche Regelungen
selber den Gesetzgeber spielt" .1 30

Die Verfassung soll Grundentscheidung sein


Zur Legitimität eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats gehört weiterhin ein
"positiver Verfassungsbegriff" . Die Verfassung muß als die "Gesamtentscheidung

,.7 Schmitt, Veriassungslehre (Anm. 21), S. 161.


128 Schmitt, .Freiheitsrechte .••• (Anm. 30), S. 26.
,.9 Schmitt, Legalität . .• (Anm. 34), S. 59.
130 A. a. 0., S. 29.
Die Verfassung soll Grundentscheidung sein 23

über Art und Form der politischen Einheit" aufgefaßt werden, und es muß von ihr
das einzelne Verfassungs gesetz unterschieden werden, das nur innerhalb ihres Rah-
mens gilt. Die Verfassung darf also nicht identifIziert werden mit der Summe der im
Verfassungs text, in der Verfassungskodifikation aufgeführten einzelnen Verfassungs-
gesetze.
Das wäre nach Meinung Carl Schmitts eine Relativierung der Verfassung von
schärfster praktischer Bedeutung. Man würde sich einer logischen Umkehrung schuldig
machen, denn man würde nun die Verfassungsgesetze von anderen Gesetzen nur noch
auf Grund ihrer erschwerten Abänderung unterscheiden können, während es doch
gerade ihre Zugehörigkeit zur Verfassung ist, die allein ihnen die Wichtigkeit gibt, die
es rechtfertigt, sie als erschwert abänderbar anzusehen. Daß der Gesetzgebungsstaat
am "positiven Verfassungsbegriff" festhält, ist für seine Verfassungspraxis äußerst
bedeutungsvoll. Das zeigt sich am Problem der Befugnisse der sog. verfassungsändern-
den Mehrheit.
Bei Relativierung des Verfassungsbegriffs und Auflösung in die bloße Summe der
Verfassungsgesetze verfällt die demokratische Wertneutralität der staatlichen Willens-
biIdungsverfahren einem selbstzerstörerischen, substanzlosen und leeren Funktio-
nalismus. Denn die yon den einzelnen Verfassungsgesetzen nicht unterschiedene Ver-
fassung reduziert sich notwendig zu einem bloßen, gegen jeden Inhalt indifferenten
Abänderungsverfahren. Der Artikel über Verfassungsänderungen wird zum einzigen
wesentlichen Verfassungsartikel. Die für Verfassungsänderungen vorgesehene Mehr-
heit aber wird auf diese Weise allmächtig. Es gibt dann keine Grenzen ihrer Befug-
nis, und sie könnte mit gleichbleibender Legalität den Staat aus einem parlamentari-
schen Rechtsstaat in eine absolute Monarchie oder eine bolschewistische Rätedemo-
hatie verwandeln. Folgerichtig gäbe es überhaupt keine verfassungswidrigen Ziele.
Der Verfassung würde ihre politische Substanz und ihr Boden entzogen werden. Sie
würde zu einem leeren erschwerten Abänderungsverfahren gemacht, "das namentlich
auch der jeweils bestehenden Staatsform gegenüber neutral ist. Allen Parteien muß
dann gerechterweise die unbedingt gleiche Chance gegeben werden, sich die Mehr-
heiten zu verschaffen, die notwendig sind, um mit Hilfe des für Verfassungsänderun-
gen geltenden Verfahrens ihr angestrebtes Ziel - Sowjetrepublik, nationalsozialisti-
sches Reich, wirtschaftsdemokratischer Gewerkschaftsstaat, berufsständischer Korpo-
rationsstaat, Monarchie alten Stils, Aristokratie irgendwelcher Art - und eine andere
Verfassung herbeizuführen. Jede Bevorzugung der bestehenden Staatsform oder gar
der jeweiligen Regierungsparteien, sei es durch Subvention für Propaganda, Unter-
scheidungen bei der Benutzung der Rundfunksender, Amtsblätter, Handhabung der
Filmzensur, Beeinträchtigung der parteipolitischen Betätigung oder der Partei zuge-
hörigkeit der Beamten in dem Sinne, daß die jeweilige Regierungspartei den Beamten
nur die Zugehörigkeit zur eigenen oder den von ihr parteipolitisch nicht zu weit ent-
fernten Parteien gestattet, Versammlungsverbote gegen extreme Parteien, die Unter-
scheidung von legalen und revolutionären Parteien nach ihrem Programm",l31 alles
das wären dann aufreizende Verfassungswidrigkeiten. Die Wertneutralität einer sol-
chen Auffassung ginge also "bis zum Selbstmord" und böte durch ihre absolute Neu-
tralität auch gegen sich selbst, durch ihren Indifferentismus "den legalen Weg zur
Beseitigung der Legalität selbst",132 "Wenn eine Verfassung die Möglichkeit von Ver-
fassungsrevisionen vorsieht, so will sie damit nicht etwa eine legale Methode zur
Beseitigung ihrer eigenen Legalität, noch weniger das legitime Mittel zur Zerstörung
ihrer Legitimität liefern." 133
131 A. a. 0., S. 51.
132 A. a. 0., S. 50.
133 A. a. 0., S. 61.
24 Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats

Will man eine solche ungeheuerliche Konsequenz verhindern, so muß man für den
Gesetzgebungsstaat einen positiven Verfassungsbegriff annehmen. Dann wären die
fundamentalen Entscheidungen der Verfassung, für die parlamentarische Demokratie
und für die grundsätzlichen Bürgerfreiheiten, auch für die sog. verfassungsändernde
Mehrheit unantastbar. Es könnte sich auch nicht der unmögliche Zustand ergeben,
daß die Grundrechte, die Freiheits- und Menschenrechte, in dem Dilemma zwischen
bloßer Proklamation und Leerlauf zerrieben würden oder daß die materiell-recht-
lichen Verfassungssicherungen heiliger würden als die fundamentalen Freiheiten, zu
deren zusätzlicher Absicherung sie doch höchstens dienen dürften, »daß die grund-
legenden Prinzipien von allgemeiner Freiheit und Eigentum nur die 51 prozentige
,niedere' Legalität, die Rechte von Religionsgesellschaften und Beamten ... dagegen
die ,höhere' 67prozentige Legalität für sich haben".13 4 Denn bei positivem Verfas-
sungsbegriff wird die Verfassung selbst vom einzelnen Verfassungsgesetz unterschie-
den, und dabei wird festgehalten, daß die Verfassung der verfassungsgesetzlichen
Einzelbestimmung vorgeht.

Das unmittelbar handelnde Volk soll keine Konkurrenz für das Parlament darstellen
Das Erfordernis der Konkurrenzlosigkeit des ordentlichen Gesetzgebers,d. h. des Par-
laments, gehört zu den Legitimitätsvoraussetzungen des Gesetzgebungsstaats, weil die
Verfassung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats sonst in ihrer Folgerichtigkeit
gestört würde und in einen Wlderspruch zu sich selbst geriete. Diese Forderung gilt
sowohl mit Bezug auf den »außerordentlichen Gesetzgeber ratione materiae" - wie er
durch die materiell-rechtlichen Verfassungssicherungen, die zu ihrem Eingriff eine
Zweidrittelmehrheit erforderlich machen, konstituiert ist -, als auch mit Bezug auf
etwaige Volksgesetzgebungsverfahren, mit denen neben der parlamentarischen, reprä-
sentativen Demokratie eine unmittelbare Demokratie organisiert wäre. Es handelt sich
also um die Zulässigkeit des »außerordentlichen Gesetzgebers ratione supremitatis".
earl Schmitt meint, ein konsequenter parlamentarischer Gesetzgebungsstaat dürfe
einen solchen außerordentlichen Gesetzgeber ratione supremitatis nicht kennen. »So
richtig es ist, die Einrichtungen der unmittelbaren Demokratie als eine unvermeidliche
Konsequenz des demokratischen Denkens den Einrichtungen der sogenannten ,mittel-
baren Demokratie'des parlamentarischen Staates überzuordnen, so selbständig
bleibt doch andererseits das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungs-
staates ein ideenmäßig und organisatorisch eigenartiges Gebilde, das keineswegs aus der
Demokratie und dem jeweiligen Volkswillen abgeleitet ist. Der in Normierungen gip-
felnde Gesetzgebungsstaat erscheint wesensmäßig und adäquat ,reiner' in der Form
des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates als in den Formen der unmittelbaren De-
mokratie, die Außerungsformen einer voluntas und nicht einer ratio sind, Legitimität
und nicht Legalität beanspruchen. Ebenso ist die Folgerichtigkeit eines auf dem Ge-
danken der Repräsentation aufgebauten Systems eine andere als die plebiszitär-demo-
kratische Folgerichtigkeit des mit sich selbst identischen, unmittelbar präsenten souverä-
nen Volkes." 135
Wenn eine Verfassung unmittelbare Volksgesetzgebungsverfahren organisiert und
diese neben das ordentliche parlamentarische Gesetzgebungsverfahren stellt, so hat sie
damit zwei verschiedene Rechtfertigungssysteme eingeführt, das parlamentarisch-
gesetzgebungsstaatliche Legalitätssystem und eine plebiszitär-demokratische Legitimi-
tät. »Das zwischen bei den mögliche Wettrennen ist nicht nur eine Konkurrenz von 1n-

... Ebda.
115 A. a. 0., S. 65 f.
Die Notgewalt soll auf Maßnahmengewalt beschränkt sein 25

stanzen, sondern ein Kampf zwischen zwei Arten dessen, was Recht ist.« 136 Das
plebiszitär-demokratische Legitimitätssystem wird unvermei.dlich seine inneren Kon-
sequenzen entfalten, und es ist daher fraglich, ob beide Systeme nebeneinander beste-
hen können. Wo überhaupt plebiszitär-demokratische Verfahren eingeführt werden,
dort wird implizit dem Träger des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates, dem
Parlament, ein Mißtrauen bekundet, das die Zweifelhaftigkeit seiner Repräsentativi-
tät und seiner Arbeitsweisen, also seiner Vernunft und Gerechtigkeit, anzeigt. In einer
solchen Situation aber ist durch die plebiszitären Elemente "die Qualität des Par-
laments selbst verändert; es verwandelt sich in eine bloße Zwischenschaltung des
plebiszitären Systems" ,137 das sich damit als das stärkere erweist. Gibt es konkurrierend
nebeneinander sowohl den parlamentarischen als auch den plebiszitären Gesetzgeber,
so liegt nach Auffassung Carl Schmitts die Konsequenz durchaus bei der unmittelbaren
Demokratie. Wenn also der Gesetzgebungsstaat funktionell sein und sicher stehen
soll, so muß der parlamentarische Gesetzgeber auch dem Volke gegenüber konkurrenz-
los sein. Tritt das Volk als konkurrierender plebiszitärer Gesetzgeber auf, so wird
vermöge der inneren Konsequenz der Demokratie .dem Gesetzgebungsstaatdie ihn
tragende Legitimität entzogen.

Die Notgewalt soll auf Maßnahmengewalt beschränkt sein


Die Konkurrenzlosigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers ist nach Auffassung Carl
Schmitts auch noch in einem anderen Sinne zu verlangen, wenn der Gesetzgebungs-
staat legitim und funktionell sein soll. Es kann kein Staatswesen umhin, für etwaige
Notsituationen eine in der normalen Rechtsordnung unbekannte Ausnahmegewalt
vorzusehen, die Diktaturgewalt. Die Befugnisse des Diktators aber dürfen nicht in die
ordentlichen Befugnisse einer der ordentlichen Gewalten des Staates einrücken. Im
legitimen Gesetzgebungsstaat insbesondere muß die Diktaturgewalt auf Maßnahmen
beschränkt bleiben.
Die Grundrechte bestimmen für den Rechtsstaat die Sphäre der vor- und überstaat-
lichen Freiheit. Die Eigenart des Gesetzgebungsstaats und sein Sinn liegen darin, daß
ein Eingriff in diese Freiheitssphäre nur dem Gesetz erlaubt ist, d. h. dem ordentlichen
Gesetzgeber, der von jenem vorbehaltlosen Vertrauen getragen wird, das den Gesetz-
gebungsstaat konstituiert. Gesetz im Rechtsstaat ist daher geradezu als "Eingriff in
Freiheit und Eigentum" definiert. Diese Sachlage ist ein Vorgebot auch für jede außer-
ordentliche und Not-Gewalt und trägt Konsequenzen für deren Befugnisse. Auch der
Gesetzgebungsstaat, der seinem Anspruch nach nur die Herrschaft von Gesetzen, nicht
aber die von Menschen kennt, der vielmehr gerade jede unberechenbare Gewalt besei-
tigen und alle konkrete Machtausübung in berechenbaren Normierungen einfangen
will, auch er kann in der Wirklichkeit nicht daran vorbei, für die Unberechenbarkeiten
von Notsituationen eine dann noch handlungsfähige und also an vorherbestimmte
inhaltliche Normierungen nicht bindbare Ausnahmegewalt organisieren zu müssen,
eine Gewalt, die, um überhaupt effektiv werden zu können, möglicherweise die für
den normalen Zustand gültigen Rechtsschranken muß durchbrechen können.
Wenn aber die Verfassung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats "im Aus-
nahmefall die Möglichkeit vorsieht, Grundrechte außer Kraft zu setzen, so will sie
dadurch für eine Instanz, die eben nicht Gesetzgeber ist, die in jenen Grundrechten
und ihrem Gesetzesvorbehalt liegenden Hemmungen und Schranken aufheben. Daß
diese Instanz nicht Gesetzgeber ist, muß dabei schon deshalb als ganz selbstverständ-
lich vorausgesetzt sein, weil ihr sonst die Grundrechte bereits durch den allgemeinen
UI A. a. 0., S. 69.
117 A. a. 0., S. 65.
26 Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats

Gesetzesvorbehalt ausgeliefert wären. Wenn der parlamentarische Gesetzgebungs-


staat in einer typischen Weise einen ,Ausnahmezustand' mit Suspendierung von Grund-
rechten zuläßt, so will er nicht den Aktionskommissar dieses Ausnahmezustands dem
Gesetzgeber, die Maßnahmen des Aktionskommissars nicht dem Gesetz gleichstellen,
sondern einen freien Aktionsraum für die nötigen effektiven Maßnahmen schaffen.
Die Außerkraftsetzung kann doch nur den Sinn haben, daß ein in der Anerkennung
von Grundrechten enthaltener Schutz von Freiheit und Eigentum suspendiert werden
soll." 138 Dieser Schutz liegt im Gesetzgebungsstaat vor allem beim Gesetzgeber selbst,
dem ansonsten der Eingriff in die Grundrechte ausschließlich vorbehalten ist. Die
Ausnahmebefugnisse müssen also gerade den Vorbehalt des Gesetzes und den Vor-
behalt für den Gesetzgeber suspendieren. Umgekehrt aber müssen, wenn nicht von den
Ausnahmebefugnissen her das gesamte Verfassungssystem des Gesetzgebungsstaats
soll aus den Angeln gehoben werden können, die Ausnahmebefugnisse auch auf bloße
Maßnahmen beschränkt sein.
Die Notgewalt ist eine schwer faßbare Größe. Sie ist in der Sphäre der Offentlich-
hit ebenso schwierig rechtlich zu regeln wie die Notwehr in der individuellen Sphäre.
"Ebenso wie bei der Notwehr, wenn die Voraussetzung, nämlich ein gegenwärtiger
rechtswidriger Angriff, gegeben ist, alles geschehen darf, was zur Abwehr des Angriffs
erforderlich ist, und keine inhaltliche Angabe darüber, was geschehen darf, in der
rechtlichen Regelung liegt, weil diese nicht tatbestandsmäßig umschreibt, sondern nur
einen Hinweis an das, was zur Abwehr erforderlich ist, enthält, so tritt auch, wenn
jene Voraussetzungen der Aktion des Ernstfalls einmal eingetreten sind, die nach Lage
der Sache erforderliche Aktion ein. Wie aber ferner das Wesen des Notwehrrechts
darin besteht, daß durch die Tat selbst über seine Voraussetzung entschieden wird,
daß also nicht eine Instanz geschaffen werden kann, die vor der Ausübung des Rechts
justizförmig prüft, ob die Voraussetzungen der Notwehr gegeben sind, so kann auch
hier im wirklichen Notfalle derjenige, der die Nothandlung ausübt, nicht von dem-
jenigen unterschieden werden, der darüber entscheidet, ob der Notfall gegeben ist." 139
Es fällt in der Tat zumindest sehr schwer, die Grenzen der Notwehrbefugnisse im vor-
aus zu bestimmen.
Gleichwohl versucht ,die rechtsstaatliche Entwicklung auch die Notgewalt des Aus-
nahmezustands in Befugnissen zu erfassen, und zwar "in ,der Weise, daß sowohl Vor-
aussetzung wie Inhalt der diktatorischen Befugnisse tatbestandsmäßig umschrieben und
aufgezählt werden". Denn es ist "ein Kriterium ,des Rechtsstaats ... , die staatliche
Allmacht in einem System von Kompetenzen zu regutieren, so daß niemals an irgend-
einem Punkte die Fülle der Staatsgewalt hemmungslos in unvermittelter Konzentra-
tion auftreten kann. Grundlage dieser Abgrenzung aller staatlichen Funktionen ist
die Verfassung" ,140 die "besagt, was normale Ordnung im Staate ist" .141 Diese ver-
fassungsmäßige und möglicherweise auch gesetzliche Gebundenheit der Diktaturgewalt,
die für den "Belagerungszustand" zumindest eine Verstärkung der Polizeigewalt her-
beiführen will, bedingt aber auch die Grenzen der Diktaturgewalt, wenn es legitim
zugehen soll, im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat. Als Grenze der Diktatur-
gewalt im Rechts- und Verfassungsstaat ergibt sich nämlich: "Was als öffentliche
Sicherheit und Ordnung und als eine Gefährdung derselben" - die also die Notgewalt
begründen würde - "anzusehen ist, kann nicht unabhängig von der Verfassung be-
stimmt werden." 142 Das heißt, es mag vielleicht "politisch möglich" 143 sein, die Dik-
139 A. a. 0., S. 75 f.
139 Schmitt, Die Diktatur (Anm. 6), S. 179.
HO Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten . .. (Anm. 12), S. 87.
141 A. a. 0., S. 91.
142 A. a. 0., S. 103 f.
143 A. a. O. S. 91.
Die Gesellschaftsordnung soll die der liberal-individualistischen Konkurrenz sein 27

taturgewalt des Ausnahmezustandes zur Beseitigung und Vernichtung des verfassungs-


mäßigen Zustands zu benutzen, rechtlich jedenfalls ist ausgechlossen, mit der Not-
gewalt eine andere Staats art und Verfassung einzuführen. Außerdem ergibt sich als
Grenze der Ausnahmebefugnisse: "Die Befugnis gilt nur für Maßnahmen, d. h. Ein-
zelhandlungen oder generelle Anordnungen, die im Hinblick auf eine als anomal
anzusehende und daher zu beseitigende konkrete Sachlage erfolgen, nicht aber auf un-
absehbare Zeitdauer Geltung beanspruchen." 144 Zur Maßnahme gehört, "daß das
Vorgehen in seinem Inhalt durch eine konkret gegebene Sachlage und ganz von einem
sachlichen Zweck beherrscht ist, so daß es nach Lage der Sache von Fall zu Fall ver-
schiedenen Inhalt und keine eigentliche Rechtsform hat. Sein Maß ist nicht eine im
voraus bestimmte generelle Entscheidungsnorm. " Die Eigenart der Maßnahme ...
besteht in ihrer Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage. Die Maßnahme ist
also ihrem Begriffe nach durchaus beherrscht von der clausula rebus s'ic stantibus." 145
Wenn es im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat mit rechten Dingen zugehen
soll, so darf also nach Auffassung earl Schmitts die Diktaturgewalt des Ausnahme-
zustands niemals benutzt werden, um in die Vollmacht der ordentlichen Instanzen
und Gewalten des Staates einzurücken; sie kann also z. B. auch nicht einen neben den
normalen parlamentarischen Gesetzgeber tretenden "außerordentlichen Gesetzgeber
ratione necessitatis" 146 oder ein gesetzvertretendes Verordnungsrecht des Befugten der
Notgewalt begründen.

Die Gesellschaftsordnung soll die der liberal-individualistischen Konkurrenz sein


Weiterhin gilt nach Auffassung earl Schmitts als Erfordernis zur Legitimität und
Funktionalität des Gesetzgebungsstaats, daß er slich weitgehend von Interventionen
in das Leben der freien Gesellschaft zurückhält, daß er insofern nach Möglichkeit neu-
tral gegenüber dem Eigenleben von Wirtschaft und Gesellschaft ist. Der Staat soll ein
Diener der freien Wirtschaftsgesellschaft sein, aber nicht als ein eigenbedeutender
Faktor eigenen Gewichtes in ihrem inneren Prozeß auftreten. Zum Vertrauen auf den
Gesetzgeber, das den Gesetzgebungsstaat trägt, gehört die Erwartung, daß er sich und
daß auch einzelne seiner Abgeordnetengruppen sich tunlichst von Eingl'iffen in den
freien Prozeß der Konkurrenzgesellschaft zurückhalten werden. Gesellschaft und
Wirtschaft wollen sich nach ihren immanenten Prinzipien und möglichst frei von
äußerem Eingriff entwickeln. "Die bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte, insbeson-
dere persönliche Freiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Vertrags-, Wirtschafts-
und Gewerbefreiheit, Privateigentum ... , setzen einen solchen grundsätzlich nicht
intervenierenden, höchstens zum Zwecke der Wiederherstellung der gestörten Be-
dingungen der freien Konkurrenz eingreifenden neutralen Staat voraus." 147 Daß der
Gesetzgeber diese vor- und überstaatlichen Freiheiten der Gesellschaft und Wirtschaft
achtet, gehört zu den Legitimierungsgrundlagen des parlamentarischen Gesetzgebungs-
staats.
Der Gesetzgebungsstaat soll sich von Interventionen zurückhalten, weil es gerade
die ungestörte Vertrags- und Wirtschaftsfreiheit ist, die im freien Spiel der gesell-
schaftlichen und ökonomischen Kräfte höchste Prosperität zu gewährleisten scheint,
weil am besten "der automatische Mechanismus der freien Wirtschaft und des freien
Marktes sich nach wirtschaftlichen Gesetzen (durch Angebot und Nachfrage, Leistungs-
austausch, Preisgestaltung, Einkommensbildung in der Volkswirtschaft) selbst steuert
,,, A. a. 0., S. 104.
'45 A. a. 0., S. 97.
u. Schmitt, Legalität . .• (Anm. 34), S. 70.
14' Schmitt, Der Hüter . •. (Anm. 33), S.78.
28 Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats

und reguliert" .148 In dieser freien Konkurrenzgesellschaft soll sich der ·staatliche Wille
nur aus der öffentlichen Meinung ergeben, die sich ihrerseits im freien Spiel frei wer-
bender Meinungsparteiungen bildet. Umgekehrt setzt die Funktionsfähigkeit des
parlamentarischen Gesetzgebungsstaats mitsamt seiner, Grundrechte garantierenden
und die Gewaltenteilung organisierenden, Verfassung eine liberal strukturierte Ge-
sellschaft voraus, die weitgehend von konkurrierenden einzelnen gebildet und getragen
wird. Die Verfassung eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats muß mit einer un-
mittelbaren Gegenüberstellung von Staat und privaten einzelnen, also einer Abwesen-
heit festerer, nichtstaatlicher, gesellschaftlicher Willensverbände rechnen können.

Die Postulate der gleichen Chance und der Homogenität


Um das in die Vernunft seiner Verfahrensweisen gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen,
muß der Gesetzgebungsstaat eine weitere Bedingung erfüllen. Er muß, so hebt Carl
Schmitt hervor, auf einer substantiellen Homogenität der Bevölkerung aufbauen, um
das Prinzip der für alle konkurrierenden Richtungen gleichen Chance politischer
Machtgewinnung verwirklichen zu können. Sowohl für die Wahlen, aus denen die
Legislativversammlung hervorgeht, als auch für die Abstimmungen, durch die im Par-
lament das Gesetz beschlossen wird, als auch schließlich für das Vertrauen des Parla-
ments, von dem die Regierung aJbhängig ist, gilt der Grundsatz der Mehrheitsentschei-
dung. Die Abstimmung der Mehrheit i'st aber überhaupt nur sinnvoll, wenn eine ge-
wisse übereinstimmung vorausgesetzt werden kann. Entfällt die Voraussetzung, "daß
kraft der gleichen Zugehörigkeit zum gleichen Volk alle in gleicher Weise im wesent-
lichen das gleiche wollen", 149 so kann die Methode der Willensbildung durch Mehr-
heitsfeststellung nicht mehr angewendet werden. Denn dann läßt die Abstimmung
nicht mehr "nur eine latent vorhandene und vorausgesetzte übereinstimmung und
Einmütigkeit zutage treten" ,150 sondern ist nur mehr eine überstimmung, das ist
"die quantitativ größere oder geringere Vergewaltigung der überstimmten und damit
unterdrückten Minderheit" ,151
Die Logik dieses Zusammenhanges von Mehrheitsmethode und Mindestmaß an
Homogenität zwischen Mehrheit und Minderheit wiederholt sich im anderen Zu-
sammenhang. Wenn der Wille der Mehrheit nicht bloß der subjektive Wille eines
größeren Teiles einer Bevölkerung oder eines parlamentarischen Gremiums, sondern
das Gesetz und damit objektives, für alle gültiges Recht sein soll, so muß der Minder-
heit die Chance offengehalten werden, zur Mehrheit werden zu können. Es muß "das
Prinzip der für alle denkbaren Meinungen, Richtungen und Bewegungen unbedingt
gleichen Chance, jene Mehrheit zu erreichen",t52 gelten. Ohne dieses Prinzip könnte
der parlamentarisch-demokratische Gesetzgebungsstaat nicht bestehen. Denn wenn
ohne eine Bindung an die Offenhaltung der gleichen Chance Mehrheit zum einzigen
Rechtstitel legalen Machtbesitzes würde, so wäre es "mit dem System selbst bereits
nach der ersten Mehrheitsgewinnung zu Ende, we,il gleich ,die erste Mehrheit sich legal
als dauernde Macht einrichten würde" .153
Formell betrachtet bestimmt im parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebungs-
staat die jeweilige Mehrheit der Wählerschaft bzw. des Parlaments, was Gesetz und
objektives Recht sein soll. Legalität ist gleichbedeutend dem Mehrheitswillen. Die
Methode der Willensbildung und Legalis,ierung durch Mehrheitsfeststellung ist aber
118 Ebda.
U' Schmitt, Legalität . •• (Anm. 34), S. 31.
150 Ebda.
151 Ebda.
15. A. a. 0., S. 32.
m Ebda.
Die Postulate der gleichen Chance und der Homogenität 29

nur dann legitim, wenn das Prinzip der gleichen Chance eingehalten wird. Da es im
Modell des Rechtsstaats kein Wi.derstandsrecht mehr gibt, sobald die Staatsgewalt
legal ist, so könnte, wenn die Mehrheitsmethode ohne weitere Voraussetzung für
leg,itim gälte, »die Mehrheit über Legalität und Illegalität nach Willkür verfügen" 154
und auf Grund ihres Legalitätsanspruches »jeden Widerstand und jede Gegenwehr
zum Unrecht und zur Rechtswidrigkeit, zur ,Illegalität'" 155 machen. »Wer 51 v. H.
beherrscht, würde die restlichen 49 v. H. auf legale Weise illegal machen können.
Er dürfte auf legale Weise die Tür der Legalität, durch die er eingetreten ist, hinter
sich schließen und den parteipolitischen Gegner, der dann vielleicht mit den Stiefeln
gegen die verschlossene Tür tritt, als einen gemeinen Verbrecher behandeln." 156 Die
Mehrheit kann also, wie an dieser Konsequenz klar wird, von der Minderheit nur
so lange den Verzicht auf das Widerstandsrecht verlangen, wie sie ihr auch die gleiche
Chance der Mehrheitsgewinnung offenhält. Carl Schmitt fordert also, daß nur unter
dieser Voraussetzung das Monopol legaler Gewaltausübung der Mehrheit ausgeliefert
werden kann.
Nun ist aber das Prinzip der gleichen Chance von großer Empfindlichkeit. Streng
genommen ist es sogar undurchführbar, und zwar aus folgendem Grunde. Der Ge-
winn der Mehrheit verschafft im Gesetzgebungsstaat den Besitz der legalen Macht,
außerdem aber noch »einen zur bloß normativistisch-Iegalen Macht hinzutretenden
zusätzlichen politischen Mehrwert, eine überlegale Prämie auf den legalen Besitz
der legalen Macht und auf die Gewinnung der Mehrheit".157 Die Mehrheit ist nicht
mehr bloß Mehrheit und Partei, sondern wird zum Staat selbst und erhält eine Vor-
zugsstellung. Sie gewinnt nicht nur die Möglichkeit, durch Gesetzgebung die Legali-
tät des ganzen Systems zu bestimmen, an die sie im Gesetzgebungsstaat immerhin noch
selbst gebunden bleibt, sondern gerät in den Genuß jener auch im Gesetzgebungsstaat
nie ganz begrenzbaren Fülle der Staatsgewalt, wie sie vor allem in den außerordent-
lichen Befugnissen des Ausnahmezustands hervortritt.
Der hier offenbare politische Mehrwert beruht auf dem Vorzug, jene unbestimmten
Ermessensbegriffe handhaben zu können, die in politisch schwierigen Situationen von
letztentscheidender Bedeutung sind. Der Inhaber der legalen Macht kann im entschei-
denden Falle bestimmen, was so gewichtige Ermessembegriffe wie »öffentliche Sicher-
heit und Ordnung", »Gefahr", »Notstand" und "nötige Maßnahmen", »Staars- und
Verfassungsfeindlichkeit", »friedliche Gesinnung" und »leb(.'llswichtige Interessen"
konkret bedeuten sollen. Dabei hat seine Auslegung in allen Zweifelsfällen auch noch
die Vermutung der Legalität für sich, und schließlich kann er seine Anordnungen zu-
nächst einmal sofort vollziehen lassen, auch wenn ihre Legalität zweifelhaft erscheinen
und später zum Gegenstand gerichtlicher Beschwerden gemacht werden mag. Diese
»dreifache, auf Ermessenshandhabung, Legalitätsvermutung und sofortiger Vollzieh-
barkeit begründete große Prämie auf den legalen Machtbesitz" ,158 die ihre Haupt-
wirkung in den sog. Notstandsbefugnissen entfaltet, »verschafft der herrschenden
Partei außerdem die Verfügung nicht nur über die ,Beute', die ,spoils' im alten Stil,
sondern zusammen mit dem Besteuerungs- und Abgabenrecht ... die Verfügung über
das gesamte Volkseinkommen" .1 59 Dazu treten dann noch kleinere Prämien wie die
Möglichkeit, durch wahlgesetzliche Regelungen für den eigenen Vorteil und für den
Nachteil des innenpolitischen Konkurrenten zu sorgen, oder die Möglichkeit, durch

'" A. a. 0., S. 33.


u; Ebda.
156 Ebda.
157 A. a. 0., S. 35.
158 A. a. 0., S. 39.
m Ebda.
30 Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats

Änderung der Geschäftsordnung für die Wahl der Regierung auch bei Mehrheitsver-
lust sich die Chance eines "Geschäftsministeriums" zu verbessern.
Zwischen dieser Machtbesitz-Prämie und dem Prinzip der gleichen Chance aber
besteht offenbar, streng genommen, ein unaufhebbarer Gegensatz, der sich in jeder
kritischen Situation enthüllen muß. Es gehört zur Machtbesitz-Prämie, daß der Inhaber
der legalen Macht, der die Legalitätsvermutung für sich hat, von ~ich aus bestimmt
und bestimmen muß, was er dem innenpolitischen Gegner an Legalität seiner Hand-
lungen zugestehen will, hinter welcher Grenze die Illegalität des Konkurrenten be-
ginnt. Es ist aber im kritischen Fall nicht mehr gleiche Chance, wenn einer über die
Grenzen der gleichen Chance des anderen befinden kann. Daraus folgert Carl
Schmitt: "Das Prinzip der gleichen Chance ist von solcher Empfindlichkeit, daß schon
der ernstliche Zweifel an der vollen loyalen Gesinnung aller Beteiligten die Anwen-
dung des Prinzips unmöglich macht. Denn man kann die gleiche Chance selbstver-
ständlich nur demjenigen offenhalten, von dem man sicher ist, daß er sie einem selber
offenhalten würde; jede andere Handhabung eines derartigen Prinzips wäre nicht
nur im praktischen Ergebnis Selbstmord, sondern auch ein Verstoß gegen das Prin-
zip selbst." 160 Daher kann die herrschende Mehrheit gar nicht umhin, die Grenzen
der Legalität und der gleichen Chance zu bestimmen. Anderseits gibt der Anspruch
auf die gleiche Chance der opponierenden Minderheit ein ebenso unveräußerliches
Recht, nicht nur über die eigene Legalität, sondern auch über die Legalität der im Be-
sitz der staatlichen Machtmittel stehenden Mehrheit zu urteilen.
So zeigt sich, daß auch das Prinzip der gleichen Chance noch von bestimmten Vor-
aussetzungen abhängt. Es müssen bestimmte Bedingungen bestehen, damit es nicht
streng genommen zu werden braucht. Es darf kein ernstlicher Zweifel an der gegen-
seitig loyalen Einstellung der politischen Gegner aufkommen. Der Gesetzgebungs-
staat ist vom Vertrauen in die Vernunft und Gerechtigkeit seiner Verfahrensweisen
getragen. Um dieses Vertrauen zu rechtfertigen, muß er auf einem Mindestmaß sub-
stantieller Gleichartigkeit der Bevölkerung aufbauen. Ohnedem verwandelt sich das
Prinzip der gleichen Chance in sein Gegenteil. "Sobald die zur Legalität dieses
Systems gehörende Voraussetzung einer beiderseitig gleich legalen Gesinnung entfällt,
gibt es keinen Ausweg mehr. Die im legalen Besitz der staatlichen Machtmittel
stehende Mehrheitspartei muß annehmen, daß die Gegenpartei, wenn sie ihrerseits
in den Besitz der legalen Macht gelangt, die legale Macht dazu benutzen werde, um
sich im Besitz der Macht zu verschanzen und die Tür hinter sich zu schließen, also
auf legale Weise das Prinzip der Legalität zu beseitigen. Die den Besitz der Macht
erstrebende Minderheit behauptet, daß die herrschende Mehrheit das gleiche längst
getan habe; sie erklärt damit, explizite oder implizite, von sich aus die bestehende
staatliche Macht für illegal, was keine legale Macht sich bieten lassen kann. So wirft
im kritischen Moment jeder dem anderen Illegalität vor, jeder spielt den Hüter der
Legalität und der Verfassung. Das Ergebnis ist ein legalitäts- und verfassungsloser
Zustand." 161

Zusammenfassung
Dies sind die Bedingungen, die, nach Darstellung Carl Schmitts, der parlamentarisch-
demokratische Gesetzgebungsstaat erfüllen muß, wenn er in der Wirklichkeit funk-
tionell und im höheren Sinne legitim sein will. Carl Schmitt entwickelt, wie zu zeigen
versucht wurde, diese Bedingungen als die Konsequenzen, die aus den Grundsätzen
des Gesetzgebungsstaats folgen: Die Legislative muß sich in Ausübung ihrer Funk-
16. A. a. 0., S. 37.
'81 A. a. 0., S. 38.
Zusammenfassung 31

tionen an einen bestimmten Gesetzesbegriff halten. Das Parlament muß eine Reprä-
sentativversammlung sein und nach den Prinzipien von Offentlichkeit und Diskussion
arbeiten. Die Wahl muß einen aristokratischen Charakter tragen und eine unmittel-
bare Beziehung zwischen Wählern und Gewählten darstellen. Die Parteien müssen
liberale, auf freier Werbung beruhende Meinungsparteien sein. Dazu kommen als
weitere Erfordernisse: Im Gesetzgebungsverfahren muß das Prinzip der einfachen
Mehrheit gelten, und die Verfassung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats muß
sich auf Grundrechte und organisatorische Regelungen beschränken. Die Verfassungs-
praxis hat sich an einem positiven Verfassungsbegriff zu orientieren, so daß die sog.
verfassungsändernde Mehrheit nicht zum allmächtigen Herrn der Verfassung wird
Die Verfassung und Verfassungspraxis des Gesetzgebungsstaats darf nur einen ein-
zigen und konkurrenzlosen, den ordentlichen Gesetzgeber kennen. Die für den Not-
stand erforderliche Diktaturgewalt im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat muß
auf "Maßnahmen" beschränkt bleiben. Der Staat muß der Gesellschaft gegenüber
als nichtinterventionistischer, neutraler Staat erscheinen, und umgekehrt muß die
Gesellschaft eine Gesellschaft von liberal konkurrierenden einzelnen sein. Schließ-
lich muß sich das System des Gesetzgebungsstaats auf eine bestimmte Homogenität
des Volkes aufbauen, damit die gleiche Chance politischer Machtgewinnung ein-
gehalten und der politische Mehrwert auf legalen Machtbesitz nicht mißbraucht wer-
den kann.
Im weiteren Fortgang der Untersuchung wird sich zeigen, daß diese Legitimitäts-
bedingungen und Funktionalitätspostulate Carl Schmitts, so logisch sie sich zu ergeben
scheinen, doch bereits ideologische Argumente sind: Sie werden nicht um des parlamen-
tarisch-demokratischen Rechtsstaats willen aufgestellt, sondern gerade um zu zeigen,
daß dieser illegitim und disfunktionell geworden ist und also überwunden werden muß.
Ir. Teil
CARL SCHMITTS POLEMISCHE GEGENWARTSDIAGNOSE
Erstes Kapitel

DER ENTARTUNGSZUSTAND
DER PARLAMENTARISCHEN DEMOKRATIE

Der Verfall des Gesetzesbegriffs


Der folgende, zweite Teil der Untersuchungen wird deutlich werden lassen, daß
Carl Schmitt, wo er die Verfassungswirklichkeit der gegenwärtigen parlamentarischen
Demokratie, insbesondere der Weimarer Republik, analysiert und diagnostiziert,
stets zu dem Urteil gelangt, diese Wirklichkeit sei ein Entartungszustand, der Hoff-
nung nur zuläßt, sofern sie sich auf Umwälzung und auf ein ganz anderes System
richtet.
Gesetz im rechtsstaatlichen Sinne sollte nach Auffassung Carl Schmitts, wie oben
gezeigt werden konnte, stets eine generelle Norm sein. Das Gesetz sollte durch gene-
reIlen Charakter und Dauerhaftigkeit von konkreter Einzelmaßnahme und Spezial-
anordnung zu unterscheiden sein. Die Befugnisse der gesetzgebenden Versammlung
sollten im Schema der Gewaltenteilung auf die Verabschiedung solcher generellen
Gesetze beschränkt sein. Der formelle Parlamentsbes·chluß sollte stets eine generell
geltende Rechtsnorm enthalten und nur dadurch Gesetz als Eingriff in Freiheit und
Eigentum sein dürfen.
Nun aber meint Carl Schmitt konstatieren zu müssen, daß sich eine Formalisierung
des Gesetzesbegriffs zugetragen hat, die in der Praxis der Gesetzgebung zum Gegen-
teil des Rechtsstaates, nämlich zu einer neuen Art des Absolutismus, führt. Das Be-
wußtsein der inhaltlich rechtsstaatlichen Qualitäten des Gesetzes, das Bewußtsein vor
allem des Unterschiedes von Gesetz und Maßnahme entschwinde immer mehr. Gesetz
werde nur noch formell bestimmt als das, "was von den für die Gesetzgebung zu-
ständigen SteIlen in den für die Gesetzgebung vorgeschriebenen Verfahren vorgenom-
men wird",162 und zwar ohne Rücksicht auf inhaltliche Qualitäten. Man messe dem
formalen Gesetzgebungsverfahren die Kraft bei, sich nach Belieben der Form des
Gesetzes für jeden beliebigen WiIlensinhalt zu bedienen, gleichviel ob er eine gene-
relle und dauernde, für aIle gleich geltende Normierung darstellt, oder ob er selbst
unmittelbar und individuell als konkrete Maßnahme in Freiheit und Eigentum her-
ausgenommener Gruppen oder einzelner eingreift. Auf diese Weise könne "jedes
Kommando an irgendeinen Offizier oder Soldaten und jede Einzelanweisung an einen
Richter, kraft der ,Herrschaft des Gesetzes' legal und rechtmäßig durch Parlaments-
beschluß .,. vorgenommen werden" .1 63 Alles, was das Parlament "mit dem Zauber-
stab des Gesetzgebungsverfahrens" 164 berühre, verwandle sich nun in ein Gesetz.
Das Gesetz reduziere sich auf eine bloße "Etikette" .1 6 > Es brauche "nicht einmal mehr
der Intention nach eine generelle (Gleiches gleich behandelnde) dauernde Regelung
mit einem meßbaren und bestimmten Inhalt zu sein; der Gesetzgeber macht im
Gesetzgebungsverfahren, was er wiIl; es ist immer ,Gesetz' und schafft immer
162 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 143.
163 Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 24.
164 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 145.
165 Schmitt, Legalität . •. (Anm. 34), S. 24.
36 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

,Recht'" .166 Herrschaft des Gesetzes bedeutet nun nichts weiter als "die Herrschaft
der mit der Gesetzgebung betrauten Stellen" ,167 Damit aber werde alles Ethos der
Gesetzesherrschaft sinnleer und alle Gewaltenteilung sinnlos. Der Gesetzesbegriff
werde "jeder inhaltlichen Beziehung zu Vernunft und Gerechtigkeit beraubt".168 Es
werde "die ganze rechts staatliche Würde, welche sich nur aus dem ersten materiellen
Gesetzesbegriff, Gesetz = Rechtsnorm, ableitete und auf das normale Gesetzgebungs-
verfahren ausstrahlte, von ihrem Ursprung und ihrer Quelle, nämlich ihrem sach-
lichen Zusammenhang mit dem Recht, abgeschnitten",169 Zugleich werde "der Schutz-
und Sicherungsgedanke, der in dem zweiten Gesetzesbegriff (Eingriff in Freiheit und
Eigentum) lag, gegenüber dem Gesetzgeber preisgegeben, und zwar zugunsten eines
nur formalen, d. h. von jeder Beziehung zu Recht und Gerechtigkeit losgelösten, rein
politischen Gesetzesbegriffs" .170 Die Legalität des Gesetzgebungsstaats, die alle Hoheit
und Würde des Staats beim Gesetz konzentriere, verliere so ihre eigentliche innere
Substanz und gebe einem wert- und qualitätsfreien, inhaltlosen Funktionalismus
Platz. Das Parlament bilde eine "Methode apokrypher Souveränitätsakte" 171 heraus
und entwickle, unter Benutzung des für Verfassungsänderungen vorgesehenen Ver-
fahrens, "eine konstante Praxis der Durchbrechungen "172 verfassungsgesetzlicher Be-
stimmungen. Auf diesen Wegen eines sich um die rechtsstaatliche Qualität seiner Ge-
setze nicht mehr bekümmernden Parlaments breite sich die Gefahr eines "vielköpfi-
gen Absolutismus der jeweiligen parteipolitischen Mehrheit" 173 aus und trieben die
Zustände zu einer Auflösung des Rechtsstaates "in den Absolutismus wechselnder
Parlamentsmehrheiten ".174 So vollzieht sich nach Meinung Carl Schmitts mit der
Formalisierung des Gesetzesbegriffs und mit der Anbahnung einer Praxis von Miß-
bräuchen der Gesetzgebungsbefugnis eine Entartung des parlamentarischen Gesetz-
gebungsstaats in sein Gegenteil; dem System politischer Einrichtungen wird in den
Augen Carl Schmitts auf diese Weise die innere Legitimität entzogen.

Die Entartung des Parlaments


earl Schmitt postulierte, wie oben gezeigt, unter den Legitimitätsbedingungen des
Gesetzgebungsstaates, daß das Parlament aus »Repräsentanten" bestehen und nach
den Prinzipien "öffentlichkeit" und »Diskussion" arbeiten müsse. Demgegenüber
meint er nun für die Wirklichkeit ,der gegenwärtigen Zustände feststellen zu müssen,
daß das Parlament nicht mehr die politische Einheit repräsentiert, sondern mehr und
mehr »zu einem Exponenten der Interessen und Stimmungen von Wählermassen" 175
wird. Das P,arlament integriere nicht, wie seine Aufgabe sein sollte, die politische
Einheit, sondern es sei zum Scha'llplatzeines Pluralismus geworden. Die Mitglieder
des Parlaments seien, ihrem Typus nach, nicht mehr unabhängige Repräsentanten,
sondern im Gegenteil abhängige Interessenvertreter, Agenten, Delegierte und Funk-
tionäre. Anstatt geistig unabhängig und nur für das Wohl des Ganzen besorgt zu
sein, sind sie fest in ideologisch gebundenen Gruppierungen verhaftet, seien diese nun
konfessionell, klassenmäßig, national oder durch bestimmte politische Weltanschau-
166 A. a. 0., S. 26 f.
167 Schmitt, Verfassungs lehre (Anm. 21), S. 145.
168 Schmitt, Legalität . •. (Anm. 34), S. 24.
169 A. a. 0., S. 26.
17. Ebda.
171 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 108.
172 Ebda.
173 A. a. 0., S. 152.
114 A. a. 0., S. 156.
m A. a. 0., S. 314.
Die Entartung des Parlaments 37

ungen bestimmt. Anstatt sozial und wirtschaftlich unabhängig zu sein, sind die Ab-
geordneten, ihrem vordringenden Typus nach, an bestimmte InteressenorganisationeIl
parteilicher oder außerparteilicher Art, und zwar durch Eigeninteressen, gebunden.
Auch Diskussion undOffentlichkeit glaubt Carl Schmitt nicht mehr als maß-
gebende Arbeitsprinzipien des Parlaments erkennen zu können. An die Stelle der
Diskussion sind Verhandlungen getreten, die natürlich auch von mancherlei Reden
und Erörterungen begleitet sind, doch in der Sache nur zu mehr oder weniger licht-
scheuen Kompromissen und Händeln führen. Das sind Verhandlungen, "bei denen
es nicht darauf ankommt, die rationale Richtigkeit zu finden, sondern Interessen und
Gewinnchancen zu berechnen und durchzusetzen und das eigene Interesse nach Mög-
lichkeit zur Geltung zu bringen". 176 Das Parlament ist, wie Carl Schmitt meint, in
den wenigsten Staaten heure noch der Platz, wo gegenseitige rationale Überredung
stattfindet, wo die Chance besteht, daß Abgeordnete einander durch vernünftige
Argumentationen überzeugen und wo der Beschluß das Ergebnis einer öffentlichen
Plenardebatte ist. "Große politische und wirtschaftliche Entscheidungen, in denen
heute das Schicksal der Menschen liegt, sind nicht mehr ... das Ergebnis einer Balan-
cierung der Meinungen in öffentlicher Rede und Gegenrede und nicht das Resultat
parlamentarischer Debatten." 177 Die Wirklichkeit zeigt nur das Bild fester Partei-
organisationen, durch die die Abgeordneten gebunden sind. "Der Standpunkt des ein-
zelnen Abgeordneten steht parteimäßig fest, der Fraktionszwang gehört zur Praxis
des heutigen Parlamentarismus, einzelne Außenseiter haben keine Bedeutung." 178 Die
Stärke der Fraktionen ist nach der Zahl ihrer Wählerstimmen genau berechnet. Die
Art ihrer interessen- und klassengebundenen Festlegung ist durch die parlamentarische
Diskussion kaum noch zu beeinflussen. Was in den Ausschüssen des Parlaments oder
in außerparlamentarischen Zusammenkünften besprochen wird, dient nicht einer un-
eigennützigen Wahrheitsfindung, sondern ist geschäftliche Interessenabwägung und
gegenseitige Berechnung der Machtchancen. Carl Schmitt folgert daraus: "Das Privi-
leg der Redefreiheit verliert dadurch seine Voraussetzungen." 179 Die Meinungs- und
Willensbildung vollzieht sich nicht in der Sorge um das Allgemeinwohl durch Ab-
wägung von besseren und schlechteren Argumenten, sondern politisierte und ideolo-
gisierte wirtschafts-gesellschaftliche Machtgruppen schließen Kompromisse und Koali-
tionen auf der Grundlage nur noch rein faktischer Machtkonstellationen. "Die Massen
werden durch einen Propagandaapparat gewonnen, dessen größte Wirkungen auf
einem Appell an nächstliegende Interessen und Leidenschaften beruhen. Das Argu-
ment im eigentlichen Sinne ... verschwindet." 180
Wie die Diskussion, so entfällt nach Dafürhalten Carl Schmitts auch die Offent-
lichkeit. Die wirklichen Entscheidungen werden nicht mehr in der öffentlichen Diskus-
sion einer öffentlichen parlamentarischen Vollversammlung gefällt. Die eigentlichen
Beschlüsse werden in geheimer Beratung engerer Parlamentsausschüsse oder in Zu-
sammenkünften von Parteifunktionären mit Ministerialbürokraten und Agenten der
mächtigen privaten Interessenverbände gefaßt. "Die engeren Komitees, in welchen
der Beschluß tatsächlich zustande kommt, sind nicht einmal immer Ausschüsse des
Parlaments selbst, sondern Zusammenkünfte von Parteiführern, vertrauliche inter-
fraktionelle Besprechungen, Besprechungen mit Auftraggebern der Parteien, den
Interessenverbänden usw." 181 Das Parlament ist, wie Carl Schmitt meint konstatie-

176 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . .. (Anm. 9), S. 10.


117 A. a. 0., S. 62.
178 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 319.
179 Ebda.
180 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . .. (Anm. 9), S. 11.
181 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 319.
38 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

ren zu müssen, nur noch die öffentliche Tribüne, wo die bereits anderswo gefaßten
Beschlüsse in Gestalt von Abstimmungen verkündet werden. Daß solchen Abstim-
mungen noch Reden der verschiedenen Parteien vorausgehen, hat nicht mehr den
Sinn der Wahrheitsfindung, sondern ist ein überbleibsel aus früheren Zeiten und
dient nur der Parteipropaganda. Und was gar die Mächtigen großer kapitalistischer
Interessenverbände unter sich abmachen, ohne erst den Weg über die Politik zu gehen,
ist, wie earl Schmitt sagt, "für das tägliche Leben und Schicksal von Millionen Men-
schen vielleicht noch wichtiger als jene politischen Entscheidungen".182 Es mag sein,
gesteht earl Schmitt zu, daß es angesichts der modernen Verhältnisse und der
komplizierten Aufgaben, die sie an die politischen Instanzen stellen, unumgänglich
ist, mit immer engeren Ausschüssen zu arbeiten und also immer mehr Funktionen
aus dem Plenum und seiner Offentlichkeit herauszunehmen, d. h. das Plenum und
seine Offentlichkeit "notwendig zu einer Fassade zu machen",183 earl Schmitt meint,
man müsse dann aber "wenigstens so viel Bewußtsein der geschichtlichen Situation
haben, um zu sehen, daß der Parlamentarismus dadurch seine geistige Basis aufgibt
und das ganze System von Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit, öffentlichen
Sitzungen, parlamentarischen Immunitäten und Privilegien seine ratio verliert" .1 84
Das Parlament ist zu einem Organ bloß technischer Umschaltung in den Staatsappa-
rat instrumentalisiert. Das Verlangen nach kontrollierbarer Offentlichkeit und nach
einem Verfahren, politische Entscheidungen durch öffentliche Argumentation einer
parlierenden Volksvertretung gewinnen zu können, diese Ideen, die den Parlamen-
tarismus tragen, sind entstanden aus der Empörung über die Geheimpolitik der
absoluten Fürsten und aus dem Kampf gegen eine Arkanpraxis, das Schicksal der
Völker zu bestimmen. Aber die Objekte jener Kabinettspolitik absoluter Fürsten
nehmen sich, wie earl Schmitt meint, angesichts der Schicksale, "die heute der Gegen-
stand aller Arten von Geheimnissen sind", geradezu "harmlos und idyllisch" 185 aus.
Nicht viele werden heute noch glauben, die liberalen Freiheiten existierten noch, "wo
sie den Inhabern der wirklichen Macht wirklich gefährlich werden könnten" .186 Inso-
fern hat "der Glaube an die diskutierende Offentlichkeit eine furchtbare Desillusio-
nierung erfahren" .1 87
An das Parlament heftete sich die Hoffnung, es könne eine Schule politischer Füh-
rer und Werteliten sein. 188 Was aber, meint earl Schmitt dagegen, "die zahlreichen
Parlamente der verschiedenen europäischen und außereuropäischen Staaten an poli-
tischer Elite in Hunderten von Ministern ununterbrochen hervorbringen, rechtfertigt
keinen großen Optimismus" .1 89 Im Gegenteil, es gebe genug Staaten, die der Parla-
mentarismus dahin gebracht hat, "daß sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute-
und Kompromißobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik,
weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich ver-
achteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist" .190
Das Parlament sollte der Ort politischer Integration durch rationale Diskussion sein.
Statt dessen haben sich feste gesellschaftliche Verbindungen und fest organisierte
Parteien in ihm festgesetzt und es zum Schauplatz des staatsauflösenden Pluralismus
182 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . .. (Anm. 9), S. 62.
180 Ebda.
184 Ebda.
185 A. a. 0., S. 62 f.
186 A. a. 0., S. 63.
187 Ebda.
188 Dieser Hoffnung war etwa Max Weber; vgl. ders., "Parlament und Regierung im neugeordneten Deutsch-
land", in: Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 126 H.
189 Schmitt, Die geistesgeschichtliehe Lage . .. (Anm. 9), S. 8.
100 Ebda.
Der Sinnwandel der Wahl 39

gemacht, "ein bloßes Abbild der pluralistischen Aufteilung des Staates selbst" .1 91
Zwar ließen sich Querverbindungen zwischen den Fmktionen finden, die als
gemeinsame Arbeiterinteressen, Landwirtschaftsinteressen, Beamteninteressen und
dergleichen mehr durch die Parteien hindurchgingen und für gewisse Fälle die parla-
mentarischen Mehrheitsbildungen bestimmten. Aber solche Interessengruppierungen
seien selbst ein Bestandteil und ein Wirkfaktor der pluralistischen Staatsauflösung.
Sie bedeuteten daher nur eine weitere Komplizierung, "keine Aufhebung und Be-
seitigung, eher sogar eine Bestätigung und Verstärkung dieses Zustands" 192 plura-
listischer Desintegration. Durch die Gemeinsamkeit, die das Abgeorclnetendasein als
solches stiftet und vielleicht zur Ausbildung eines besonderen Gruppengeistes der
Parlamentarier und zumal der Berufspolitiker, einer solidarite parlementaire, führt
und über die Parteigrenzen hinweggeht, anerkennt Carl Schmitt nicht als eine Wieder-
herstellung rationaler einheitsbildender Diskussionsfähigkeit. Sie besteht für ihn eher
aus den "gemeinsamen egoistischen Privatinteressen der parlamentarischen Abgeord-
neten" 193 und reicht in schwierigen Lagen und bei 'starker Verfestigung der Organi-
sation zur wirksamen Integration nicht aus.
"So wird das Parlament", schreibt Carl Schmitt, "aus dem Schauplatz einer ein-
heitsbildenden, freien Verhandlung freier Volksvertreter, aus dem Transformator
parteiischer Interessen in einen überparteilichen Willen, zu einem Schauplatz plura-
listischer Aufteilung der organisierten gesellschaftlichen Mächte." 194 Es ist nicht mehr
Repräsentant und Integrator der politischen Einheit des Volkes, und es gehorcht
nicht mehr den Prinzipien von Offentlichkeit und Diskussion. Es wird kaum noch
einer glauben wollen, "daß aus Zeitungsartikeln, Versammlungsreden und Parla-
mentsdebatten die wahre und richtige Gesetzgebung und Politik entstehe. Das aber
ist der Glaube an das Parlament selbst." 195 Offentlichkeit und Diskussion sind in der
Tatsächlichkeit des modernen parlamentarischen Betriebes "zu einer leeren und nich-
tigen Formalität geworden".196 "Die wesentlichen Entscheidungen werden außer-
halb des Parlaments getroffen." 197 Infolgedessen hat das Parlament in den Augen
Carl Schmitts die Grundlagen seiner höheren Legitimität und die Voraussetzungen
seiner Funktionalität verloren.

Der Sinn wandel der wahl


Das Parlament geht aus Wahlen hervor. earl Schmitt postulierte unter den Legiti-
mitäts- und Funktionalitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats,
daß die Wahl einen aristokratischen Charakter besitzen, also nicht einen bloßen
Beauftragten, sondern einen Höheren herausheben müsse. Er postulierte, daß die
Wahl ein unmittelbares Verhältnis zwi'schen Wählern und Gewählten herstellen und
aus solchem unmittelbaren Verhältnis hervorgehen müsse. Nun hat auch der als Wahl
bezeichnete Vorgang unter den Bedingungen der modernen Entwicklung einen Cha-
rakterwandel erfahren. Carl Schmitt meint, der ursprüngliche Sinn der Wahl sei
unerkennbar geworden, die Wahl habe einen völlig neuen Inhalt bekommen.
Zunächst einmal steht, nach Meinung Carl Schmitts, schon das Verhältniswahl-
system in einem gewissen Widerspruch zum demokratischen "Grundaxiom von der

191 Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 89.


192 Ebda.
193 Ebda.
194 Ebda.
195 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . .. (Anm. 9), S. 63.
196 Ebda.
197 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 319.
40 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

Identität des Willens aller Staatsbürger",198 Das Verhältniswahl system baut sich auf
dem Unverständnis dieses Grundaxioms auf. Denn ihm kann nur das einfache Mehr-
heitsverfahren adäquat sein. Eine überstimmte Minderheit hat keine eigens für sie
organisierte Vertretung zu erhalten, "denn man zerstört die Grundvoraussetzung
jeder Demokratie, wenn man das Axiom preisgibt, daß die überstimmte Minderheit
nur das Wahlergebnis (nicht ihren Sonderwillen) wollte und daher dem Mehrheits-
willen als ihrem eigenen Willen zugestimmt hat" .199 Außerdem aber stellt das Ver-
hältniswahlsystem die Unmittelbarkeit der Wahl in Frage, weil sich zwischen Wähler-
schaft und Abgeordnete Parteien geschoben haben, die schon mit der Listenaufstellung
das Wahlergebnis beeinflussen und insofern die Wahlunmittelbarkeit einschränken.
earl Schmitt behauptet in Auseinandersetzung mit den Argumentationen des Staats-
gerichtshofes außerdem, daß durch die Einführung einer Zulassungsschwelle für Split-
terparteien die Gleichheit der Wahl eingeschränkt würde. Durch die Einführung sol-
cher Zulassungsschwellen brächte man nur zum Ausdruck, "daß ein vom Verhältnis-
wahlsystem beherrschtes Wahlverfahren, das mit den beiden Grundeigenschaften des
gleichen, unmittelbaren demokratischen Wahlrechts kollidiert, diesen Grundeigen-
schaften vorgeht und für wichtiger gehalten wird als die demokratische Wahl
selbst" .200 Die Parteienzersplitterung sei in dieser Intensität doch überhaupt erst durch
das Verhältniswahlsystem in die Parteizustände hineingekommen. Daher würde
man die Parteienzersplitterung eher durch eine Einschränkung des Verhältniswahl-
systems selbst als durch eine Einschränkung der Wahl gleichheit bekämpfen. Organi-
siere man, um überstimmungen, wie sie sich aus dem Mehrheitssystem ergeben
und in der Demokratie wegen der tieferen Gleichheit des Volkes auch durchaus er-
träglich seien, unmöglich zu machen, durch das Verhältniswahlsystem die Vertretung
von Minderheiten, so müsse man konseguenterweise eine große Zahl auch kleinerer
Parteien gelten lassen. "Bekämpft man aber die Parteizersplitterung, so bekämpft
man eine Wirkung des Systems, das jenes demokratische Grundaxiom von der Iden-
tität des Willens aller Staatsbürger nicht mehr begreift." 201
Diese Unstimmigkeiten, die sich aus dem Verhältniswahlsystem ergeben, stellen
für Carl Schmitt den Beweis der Hilflosigkeit eines demokratischen Systems dar, das
einerseits die demokratische Voraussetzung einer allgemeinen Gleichheit nicht glaubt
verantworten zu können, anderseits aber die auflösenden Wirkungen einer tatsäch-
lichen Inhomogenität durch widerdemokratische Wahl gl eichheits einschränkungen
meint bekämpfen zu können. Abgesehen aber auch von diesen Problemen des Wahl-
systems, scheint eine andere Erscheinung die Entartung des Wahlvorgangs und seine
Selbst- und Sinnentfremdung noch deutlicher zu offenbaren. Carl Schmitt zeichnet
die Wirklichkeit von Wahlvorgängen der Gegenwart folgendermaßen.
Das Vorhandensein festorganisierter Parteien, die zwar im engsten Zusammenhang
mit dem Verhältniswahlsystem, aber doch auch unabhängig davon - das betont earl
Schmitt -die gegenwärtigen Verfassungszustände charakterisieren, habe eine Lage
herbeigeführt, in der "die Masse der Wahlberechtigten überhaupt nicht mehr einen
Abgeordneten wählt".202 Vielmehr wird, wie earl Schmitt schreibt, im "Dunkel ge-
heimer Beratungen unkontrollierbarer Komitees ... eine Pluralität von Parteilisten
mit einer langen Reihe von Namen" 20:1 aufgestellt, um den Wählern vorgelegt zu
werden. Bei der Wahl teilen sich die Wähler dann "nach den Partei listen auf. Es ist

198 Schmitt, Der Hüter . .• (Anm. 33), S. 86.


". Ebda .
• 00 Ebda.
201 Ebda .
• 02 Ebda .

• " Ebda.
Der Sinnwandel der Wahl 41

nicht mehr die Rede davon, daß der einzelne Wähler unmittelbar den einzelnen Ab-
geordneten bestimmt; es liegt nur noch eine statistische Gruppierung und Auf teilung
der Wählermassen nach einer Mehrzahl von Parteilisten vor." 204 Soweit die Wähler
Mitglieder oder Anhänger bestimmter Parteien oder von gesellschaftlichen Gruppen
sind, die bestimmten Parteien nahestehen, "bedeutet dieser Vorgang nichts als einen
Appell der stehenden Parteiheere" .205 Soweit die Wähler aber parteilich nicht gebun-
den und von den parteilichen Ideologien noch nicht erfaßt sind, geben sie als floating
~'ote in gewisser Weise den Ausschlag. Das heißt in den Worten earl Schmitts: fluk-
tuiert dieser Teil der Staatsbürger, "verächtlich so genanntes ,Treibholz' oder als
,Flugsand', zwischen diesen festen Organisationen umher ... Auch das kann man nicht
Wahl nennen, obwohl es der Idee der Demokratie nicht in dem gleichen Maße wider-
spricht, wie der Pluralismus der festorganisierten Komplexe." 206 Diese so zustande
kommende Wahl entscheidung sei keine Wahl von Repräsentanten und keine Wahl
im überlieferten liberalen Sinne, meint earl Schmitt, "sondern in Wirklichkeit ein
plebiszit-ähnlicher Vorgang. Der immer noch als ,Wahl' bezeichnete Vorgang ...
spaltet sich also nach zwei Seiten auf: einerseits die bloß statistische Feststellung der
pluralistischen Auf teilung des Staates in mehrere festorganisierte soziale Komplexe,
und auf der anderen Seite ein Stück Plebiszit." 207
Da die Masse der Wähler von sich aus keinen Kandidaten aufstellen kann, ist die
Kandidatenaufstellung und über sie die Wahl selbst zum Instrument eines partei-
politisehen Polypols geworden. earl Schmitt reflektiert hier insbesondere auf die Zu-
stände in der Weimarer Republik. Die Wahl ist unter den obwaltenden Umständen
keine direkte Wahl mehr, sondern der Abgeordnete "wird von der Partei ernannt" .208
Die Wahl wird zu einer "durchaus mittelbaren Stellungnahme der ,Wähler' zu einer
Parteiorganisation".209 In der Sache stellt sich also der ganze Vorgang für earl
Schmitt als "reine geradezu phantastische Option zwischen fünf untereinander völlig
unvereinbaren, völlig entgegengesetzten, in ihrem Nebeneinander sinnlosen, aber
jedes in sich geschlossenen und in sich totalen Systemen mit entgegengesetzten Welt-
anschauungen, Staatsformen und \1Virtschaftssystemen ... zwischen Moskau, Rom,
Wittenberg, Genf und Braunem Haus und ähnlich inkompatiblen Freund-Feind-Alter-
nativen, hinter denen feste Organisationen stehen",210 dar. "Das Ergebnis sind immer
nur fünf verschiedene Volks teile mit fünf verschiedenen politischen Systemen und
Organisationen, die sich in ihrem zusammenhanglosen, ja, feindlichen Nebeneinander
gegenseitig zu besiegen oder zu betrügen suchen und, zu jeder positiven Arbeit un-
fähig, sich immer nur im Negativen begegnen." 211
Wenn dann auf Grund dieser Auf teilung in feindliche Gruppen das Parlament
selbst mehrheits- und handlungsunfähig wird, und es, weil keine Regierung mit sol-
chem Parlament arbeiten, geschweige denn auf dessen Vertrauen bauen kann, zu
einer Parlaments auflösung kommt, die in der Sache ein Appell an das Volk ist, so
ergibt sich abermals ein absurder Zustand. Eine Neuwahl, nachdem die Regierung
bzw. der Reichspräsident zusammen mit der Regierung das Parlament aufgelöst
haben, hat entschieden eine "plebiszitäre Bedeutung und Funktion". 212 Was durch

'"' A. a. 0., S. 87.


205 Ebda.

'06 Ebda.
207 Ebda.

268 earl Schmirr, "Weiterenrwicldung des totalen Staats in Deutschland" (1933), abgedr. in: Positionen und
Begriffe . .. (Anm. 15), S. 188 (zuerst veröffentlicht in: Europäische Revue, Februar 1933).
269 Ebda.

210 A. a. 0., S. 189.


211 Ebda.
'" Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 92.
42 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

die Parlamentsauflösung eingeleitet wird, ist nicht so sehr eine Neuwahl, sondern
eine plebi>zitäre Entscheidung. Die Regierung sucht gegen das Parlament unmittelbar
beim Volke um Vertrauen nach und macht das Parlament dadurch zu einer bloßen
Zwischenschaltung im plebiszitären System. Vermeidet nun aber die Regierung, weil
sie noch in den Vorstellungen und Normierungen des parlamentarischen Systems be-
fangen ist, bei solchem Appell an das Volk die echte plebiszitäre Fragestellung, auf
die einfach mit Ja oder Nein geantwortet werden kann; oder besitzt die Regierung
nicht selbst die Möglichkeit, von sich aus Kandidaten zu benennen, fehlt ihr also das
"selbstverständlichste und natürlti,chste Rcecht einer Regierung, nämlich das jus agendi
cum papulo" ,213 'Wie Carl Schmitt schreibt, "so wird der bei einer ,Wahl' sich abspie-
lende Vorgang zu einer innerlich unmöglichen Prozedur. Er ist nicht mehr Wahl,
sonderndem Sinne nach Plebiszit; aber er wird mangels einer beantwortbaren Frage
auch nicht, oder bestenfalls nur durch einen glücklichen Zufall, zu einem wirklichen
Plebiszit".214 Die Rcegierung suche zwar die plebiszitäre Rechtfertigung, vermeide
aber die plebiszitäre Fragestellung. Die Regierung muß die Kandidatenaufstellung
wieder denselben Parteien überlassen, die das Parlament besetzt halten. So komme
wiederum keine sichere politische Entscheidung zustande. Die Parlamentsauflösung
bedeute nur, daß die Regierung eine Art von überlegenheit ausnützt, die ihr.durch
das Versagen der anderen zufällt. "Der ganze Vorgang ist weder echte Wahl, noch
echtes Plebiszit und dient nur, je nach seinem Ergebnis, der Regierung oder einigen
Parteien als Supplement fehlender Legitimierung." 215 Das ist das Bild, das Carl
Schmitt von der Entartung des Wahlvorganges entwirft. Er sieht aiUch darin einen
Beweis fehlender Legitimität und Funktionalität des parlamentarischen Gesetzgebungs-
staats.

Die Wesensänderung der Parteien


Schon verschiedentlich sind in der aburteilenden Diagnose Carl Schmitts die Parteien
und die Verfestigung der Parteien für die Entartungszustände des parlamentarischen
Gesetzgebungsstaats verantwortlich gemacht worden. Carl Schmitt hatte, wie oben
gezeigt, das Postulat aufgestellt, die Parteien dürften, wenn das ganze System legitim
und funktionsfähig sein soll, nur den Charakter liberaler Meinungsparteien, fluk-
tuierender bloßer "P,arteiungen" im Bereich der d~skuüerenden öffentlichen Meinung
haben. Von dieser Bedingung sollte es u. a. abhängen, ob der parlamentarische Ge-
setzgebungsstaat auch in der Sache als ein Rechtsstaat angesprochen werden könnte.
Demgegenüber glaubt Carl Schmitt nun für die Wirklichkeit der Zustände zum al
in der Weimarer Republik feststellen zu müssen, daß die meisten größeren Parteien
"feste, durchorganisierte Gebilde" 216 geworden seien, "mit einflußreichen Bürokratien,
einem stehenden Heer bezahlter Funktionäre und einem ganzen System von Hilfs-
und Stützorganisationen, in welchen eine geistig, sozial und wirtschaftlich zusammen-
gehaltene Klientel gebunden ist". 217 Sie stehen in durchorganisierten gesellschaftlichen
Zusammenhängen und unterhalten vielerlei Abhängigkeitsbeziehungen zu den Inter-
essen, Ideologien, Formationen und Machtträgern der verschiedenen gesellschaft-
lichen Einflußfelder. Für ihre Arbeitsweise und Zusammensetzung sei nicht mehr die
freie Werbung maßgebend. Sie sind demnach nicht mehr wesentlich in der öffentlichen
Meinungsbildung zu Hause; sondern sie werfen sich zu Herren über Wähler und An-
213 Schmitt, "Weiterentwicklung ..• " (Anm. 208), S. 188.
". Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 93.
215 A. a. 0., S. 95.
216 Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 83.
217 Ebda.
Die I nstrumentalisierung der Verfassung 43

hänger ebenso wie über die öffentliche Meinung auf und sind doch selbst noch von
großen Auftraggebern abhängig. Ihre Außenbeziehungen sind Beziehungen zu einer
Klientel. Das gleiche gilt für ihre Innenbeziehungen. Anstatt sozial und wirtschaftlich
frei zu sein, sind Mitglieder und Wähler der Parteien klassen- und interessen mäßig
gebunden. Anstatt geistig und intellektuell selbständig zu sein, leben sie in der Ab-
hängigkeit von bestimmten Ideologien.
Jeder der organisierten sozialen Machtkomplexe strebt zur Totalität, stellt ein
ganzes Kulturprogramm auf und versucht, sowohl für sich wie in sich, die Menschen
ganz, von Jugend auf und "vom Gesangverein und Sportklub bis zum bewaffneten
Selbstschutz" 218 zu erfassen. Zum Zeugnis für diesen Strukturwandel von Partei und
Parteibegriff zitiert earl Schmitt eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs aus dem
Jahre 1928. Darin läßt der Staatsgerichtshof "als politische Parteien nur solche Per-
50nenvereinigungen gelten, bei denen die Möglichkeit besteht, daß ihre Betätigung
für das Wahl ergebnis von Belang ist. Gruppen, die unzweifelhaft nicht in der Lag<!
sind, sich Zutritt zu der Volksvertretung zu verschaffen ... , sind keine Parteien im
parlamentarischen Sinne." 219 Als weitere Kriterien des heutigen, nach earl Schmitt
mit der Vorstellung einer liberalen Meinungspartei ganz unvereinbaren Parteien-
begriffs gelten: Die Parteien dürfen eine nicht zu geringe Mitgliederzahl haben, da-
mit, wenn sie sich nicht schon durch frühere Wahl erfolge ausgewiesen haben, an-
genommen werden kann, daß sie Aussicht besitzen, bei den nächsten Wahlen Man-
date zu erringen. So dann sollen die Parteien fest organisierte Parteien und nicht
"lose" Gruppen sein, weil sonst die Verhältniswahl nicht durchführbar wäre. Die
parlamentarische Partei wird kenntlich daran, daß sie über eine verhältnismäßig um-
fassende organisatorische Grundlage sowie über ein Programm, Zeitungen usw. ver-
fügt. Kurz, es darf ihr eine gewisse Festigkeit nicht fehlen, und es muß damit ge-
rechnet werden können, daß sie eine dauerhafte Vereinigung sein wird. Eine Partei,
so zitiert earl Schmitt abermals den Staatsgerichtshof, "setzt den festen Zusammen-
schluß einer größeren Zahl von Staatsbürgern zur Erreichung politischer Ziele
voraus". 220
earl Schmitt hat sich diese Kriterienzusammenstellung und diese Zitate heran-
geholt, um zu belegen, daß er eine durchaus zeitentsprechende Diagnose des Parteien-
charakters gibt. Er faßt diese Diagnose, die zugleich die Aburteilung der Legitimitäts-
und Funktionalitätsbedingungen eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats unter
gegenwärtigen Verhältnissen ist, in die Formel zusammen: "Partei, Verbindung,
Orden werden gleich." 221

Die Instrumentalisierung der Verfassung


Es fand sich, wie erinnerlich, unter den Legitimitäts- und Funktionalitätspostulaten,
die earl Schmitt für den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat aufstellte, die For-
derung, die Verfassung eines Gesetzgebungsstaates solle sich, wenn sie und das von
ihr organisierte Staatswesen legitim funktionieren wollten, auf die Formulierung
allgemeiner Grundrechte als Staatsethos und auf die Regelung der organisatorischen
Zuständigkeiten staatlicher Willensbildung beschränken, hierin aber unantastbar und
dauernd sein. Die Verfassung sollte also keine materiell-rechtlichen Verfassungssiche-
rungen enthalten, weil dadurch das Prinzip einfacher Mehrheit unmöglich und der
Vorrang von Gesetz und Gesetzgeber zerstört würden. Verfassungskräftige Absiche-
218 A. a. 0., S. S4.
2" Zit. nach Schmitt, ebda.
'20 Zit. nach Schmitt, a. a. 0., S. 85 .
• 21 A. a. 0., S. 86.
44 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

rungen bestimmter Sonderinteressen gegen den ordentlichen Gesetzgeber und seine


einfache Mehrheit, Absicherungen gegen seine normale Gesetzgebungsbefugnis, d. h.
seine Befugnis, auf dem Wege einfacher Gesetzgebung in die Freiheitssphäre einzu-
greifen, seien unzulässig und enthielten einen Widerspruch zu jenem Vorrang von
Gesetz und Gesetzgeber, der den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat konstituiert.
Die Weimarer Verfassung enthielt nun in der Tat im zweiten Hauptteil außer den
klassischen Grundrechten verschiedene Aufstellungen, Anerkennungen und Gewähr-
leistungen, die nicht zu den klassischen Grundrechten gehören und sich von ihnen auch
in ihrer logischen Struktur unterscheiden. So wurden etwa spezielle Beamtenrechte
aufgeführt, spezielle Rechte von Religionsgesellschaften, spezielle Rechte der Selbst-
verwaltung. Auch wurde etwa der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände
Erwähnung getan, was ihnen eine irgendwie verfassungsmäßige Bedeutung gab. earl
Schmitt trifft verschiedene rechtslogische Unterscheidungen unter diesen speziellen
Verfassungssätzen, unterscheidet etwa institutionelle Garantien als öffentlich-recht-
liche von Institutsgarantien als privatrechtlichen Garantien usw., Unterscheidungen,
die hier nicht näher berücksichtigt zu werden brauchen, weil earl Schmitt sie selbst
unter dem Namen "materielle Verfassungssicherungen" zusammenfaßt. Im Unter-
schied zu den klassischen Grundrechten, die inhaltlich sehr weit gefaßt sind, weil sie
eben allgemeine Interessen und Interessen jedes Staatsbürgers zum Ausdruck bringen,
im Unterschied zu diesen sind die materiellen Verfassungssicherungen in inhaltlich
bestimmter Weise formuliert, so daß sie immer als Sicherungen von Sonderinteressen
besonderer Gruppen ausgelegt werden können. Gesetzesbeschlüsse, die in solche spe-
ziellen verfassungsmäßigen Rechte eingreifen wollen, können nach herrschender Inter-
pretation nur im Wege der Verfassungsänderung und also nur mit der sog. verfas-
sungsändernden Mehrheit gefaßt werden.
Bei diesen, von den klassischen Grundrechten abweichenden, speziellen Garantie-
rungen und Anerkennungen der Verfassung wird nach Auffassung earl Schmitts die
erschwerte Abänderbarkeit verfassungsgesetzlicher Bestimmungen benutzt, "um be-
stimmte Interessen oder Rechte, die man aus irgendwelchen Gründen für schützens-
wert hält, mit Hilfe der erschwerten Abänderbarkeit eines Verfassungs gesetzes vor
dem einfachen Gesetzgeber in Sicherheit zu bringen und seinem Zugriff zu ent-
ziehen" .222 Haben diese materiell-rechtlichen Verfassungs sicherungen einen inneren
Zusammenhang mit den Grundentscheidungen der Verfassung selbst, so können sie
immer noch den Sinn von Konnex- und Komplementärgarantien für den Grundwert
der Freiheit haben, die die rechtsstaatliche Verfassung zu garantieren sucht. earl
Schmitt schreibt: Solange ",das Vertrauen auf den Gesetzgeber und den Gesetzgebungs-
staat anhält, kann man sich mit der allgemeinen Garantie der Freiheit selbst begnü-
gen und das weitere dem Vorbehalt des (einfachen) Gesetzes überlassen; sobald dieses
Vertrauen aufhört, erscheinen neue Garantien, die nicht unmittelbar die Freiheit
selbst, sondern Schutznormen und -einrichtungen zur Verteidigung und Umhegung
der Freiheit gewährleisten sollen" .223 Solche materiell-rechtlichen Verfassungssiche-
rungen wären dann zwar nicht selbst Grundrechte, aber sie dienten dem Prinzip der
Grundrechte. Sie enthielten etwa "einen Sonderschutz gegen den Mißbrauch der Ge-
setzgebungsbefugnis, eine Sonder garantie zur Sicherung der Unterscheidung der Ge-
walten und zur Wahrung eines rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs" .224 Sie könnten also
den Sinn haben, die grundrechtliche Freiheit mit einer Art Umbau zu umgeben. "Das
Grundrecht der Freiheit, d. h. der staatsfreien Sphäre, wird mit Rechtsinstituten,

222 Smmitt, "Freiheitsrechte ... " (Anm. 30), S. 15.


223 A. a. 0., S. 29.
22. Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 180.
Die Instrumentalisierung der Verfassung 45

typischen Normierungen und sogar mit staatlichen Institutionen umgeben." 225 Aber
die Auswirkung der Einführung solcher materiell-rechtlichen Verfassungssicherungen
ist in den Augen earl Schmitts verhängnisvoll. Sie leisten am Ende nur einer Auf-
lösung und Zerstörung des Staates Vorschub. Sie sind nach seiner Meinung einem
begründeten oder unbegründeten Mißtrauen gegen den ordentlichen Gesetzgeber ent-
sprungen und werden zum Fallstrick des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats, denn
es bemächtigen sich ihrer die staatszerstörenden pluralistischen Gewalten.
Zunächst einmal wird durch sie die Sphäre der Legalität in einen höheren und
einen niederen Bereich aufgespalten. Denn die Entartung des parlamentarischen Ge-
setzgebungsstaats liegt darin, daß alle Verfassungssätze von den pluralistischen Mäch-
ten zum Instrument ihres Interesses gemacht werden, benutzt werden, um als Waffen
im parteipolitischen Kampf zu dienen. Bloße Erwähnung im Verfassungstext be-
deutet nun ohne jeden inneren logischen Zusammenhang die Anerkennung bestimmter
Sonderrechte, und zwar auch gegen die Interessen von Allgemeinheit und politischer
Einheit. Dadurch wird umgekehrt ein notwendiger Eingriff in solche Sonderrechte
von seiten des Gesetzgebers nur durch Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit
möglich. Durch die Forderung eines quantitativ größeren Stimmenquantums für be-
stimmte Gesetzgebungsmaterien muß nach Meinung earl Schmitts "eine folgenreiche
qualitative Wandlung und sogar Umwälzung in der Legalität des parlamentarischen
Gesetzgebungsstaats eintreten". 226 Gegenüber dem einfachen Gesetzgeber würde eine
höhe're Art Gesetzgeber, ider ,a;ußerordentliche Gesetzgeber ratione materiae der Ver-
fassung, und eine stärkere Art Legalität konstituiert. Es würde im Bereich der mate-
riell-rechtlichen Normen durch die Verfassung selbst eine Differenzierung eingeführt,
da sie für einige Gesetzgebungsmaterien eine größere Mehrheit verlange, während sie
die übrigen Gesetzgebungsbereiche der einfachen Mehrheit des ordentlichen Gesetz-
gebers überlasse. Durch "jene inhaltlich begründeten Differenzierungen innerhalb der
materiell-rechtlichen Normen" würde aber "die niedere Norm als Norm degradiert",
meint earl Schmitt.227 Durch die Einführung materiell-rechtlicher Verfassungssiche-
rungen gäbe es nun unter den Gesetzen einerseits einfache, ordentliche Gesetze und
anderseits verhssungsändernde Gesetze. Währ,end im legitimen Gesetzgebungsstaat
der "Vorrang" des Gesetzes ein Vorrang gegenüber der Gesetzesan wendung, der
Exekutive und Justiz sei, sei der Vorrang des durch jene Sicherungen konstituierten
verfassungsändernden Gesetzes dagegen "ein Vorrang eines Gesetzes gegenüber einer
andern Art Gesetz; es ist ein die Sphäre des Gesetzes aufspaltender Vorrang, es ist
der Vorrang einer höheren Art Legalität gegenüber einer niedrigeren Art." 228 Und
während im legitimen Gesetzgebungsstaat der" Vorbehalt" des Gesetzes ein allgemei-
ner Vorbehalt gegenüber den allgemeinen Freiheitsverbürgungen sei, sei "der Vor-
behalt des verfassungsändernden Gesetzes ... ein Vorbehalt zugunsten inhaltlich
bestimmter, besonderer Interessen und Schutzobjekte, unter verfassungsgesetzlicher
Fixierung materiellen Rechts und wohlerworbener Rechte besonderer Gruppen".229
Eine solche Aufspaltung der Gesetzessphäre aber hat, nach Darstellung earl
Schmitts, unvermeidlich organisatorische Folgewirkungen, die den Gesetzgebungsstaat
gleichsam von Verfassung wegen auflösen und zerstören. "Wo in einem größeren
Umfang ein bestimmter Komplex materiellen Rechts, als ein Komplex höherer Art,
dem vom einfachen Gesetzgeber gesetzten materiellen Recht, als einem Komplex
niederer Art, gegenübersteht und diese Unterscheidung gerade auf dem Mißtrauen
225 Schmitt, "Freiheitsrechte ..• " (Anm. 30), S. 28.
226 Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 42
227 A . •. 0., S. 57.
228 A. a. 0., S. 59.
22' Ebda.
46 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

gegen den einfachen, das heißt den ordentlichen Gesetzgeber beruht, bedarf der Kom-
plex höherer Normen konkreter organisatorischer Einrichtungen, um vor dem ein-
fachen ordentlichen Gesetzgeber geschützt zu sein. Denn keine Norm, weder eine
höhere noch eine niedere, interpretiert und handhabt, schützt oder hütet sich selbst. "23()
Wie earl Schmitt es ansieht, charakterisiert den legitimen Gesetzgebungsstaat wesent-
lich, daß er Gesetz und Gesetzesanwendung organisatorisch trennt. Durch die Ein-
führung materiell-rechtlicher Verfassungssicherungen, einer höheren Art von Gesetzen,
wird aber dieser Aufbau in Frage gestellt. Die Gesetzesanwendung hat nämlich nun
mit der Anwendung beider Arten von Normen zu tun. So kann es, wie earl Schmitt
schreibt, geschehen, »daß im Instanzenzug der Gesetzesanwendungsbehörden die
Geltung der höheren Norm von der niedrigeren Stelle gegenüber der hierarchisch
höheren Stelle geltend gemacht wird". 231 Man könnte eigene Behörden zum Schutz
der höheren gegen die niederen Normen einrichten, würde dann aber den organisa-
torischen Aufbau des Gesetzgebungsstaats offen durchbrechen und solche Prüfungs-
behörden dem Gesetzgeber überordnen. Aber auch wenn dies nicht geschieht, wäre
es bei einer Aufspaltung der Gesetzessphäre unvermeidlich "sozusagen unter der
Hand Sache der gesetzesanwendenden Stellen in Justiz, Reg;ierung und Verwaltung,
das einfache Gesetz, dem sie angeblich ,unterworfen' sind, anläßlich ihrer zuständigen
Amtstätigkeit an der Hand eines höheren Gesetzes in seine Schranken zurückzuwei-
sen". 232 Der Geltungsbereich der niederen Gesetzgebung würde eingeschränkt und in
gleichem Maße die Macht der Exekutive und Justiz über den normalen Gesetzgeber
hinauswachsen.
Läßt ein solcher Einspruch von Gesetzesanwendungsbehörden einen Konflikt zwi-
schen niederer und höherer Norm entstehen, so wird der einfache Gesetzgeber sein
Gesetz vielleicht zurücknehmen und andere Gesetze erlassen. Er erkennt aber auf
diesem Wege "die neuen Hüter der Verfassung als höhere Instanzen an".233 Der Staat
verwandelt sich dadurch, wie earl Schmitt folgert, offensichtlich aus einem Gesetz-
gebungsstaat in einen "teils Jurisdiktions-, teils Regierungs- oder Verwaltungsstaat,
je nach der Behörde, die die höhere Art der Legalität handhabt" .234 Findet aber der
einfache Gesetzgeber, was auch geschieht, "bei einem Teil des Gesetzanwendungs-
apparates, zum Beispiel bei der Regierung gegen die Justiz oder bei der Justiz
gegen die Regierung, Unterstützung und beharrt auf seinem Standpunkt", dann,
schließt earl Schmitt, "bildet sich eine Reihe selbständiger, voneinander un-
abhängiger Machtkomplexe, die in einem bunten Nebeneinander ihren Stand-
punkt festhalten, solange nicht die Not oder Gewalt einer vereinheitlichenden
Dezision dieser Art gemischten Staatswesens ein Ende macht" .235 Es entsteht also eine
verhängnisvolle innere Pluralisierung des Staatswesens. In jedem Falle zeigt sich,
nach Darstellung earl Schmitts, daß durch die qualitative Aufspaltung der Legalitäts-
sphäre und die Einführung von materiell-rechtlichen verfassungskräftigen Gesetzen
neben den einfachen Gesetzen "der Gesetzgebungsstaat bis in seine organisatorischen
Fundamente hinein gesprengt" 236 wird. "Die Unterscheidung von materiell-rechtlichen
Gesetzen höherer und niederer Art ... verdrängt den Gesetzgeber aus der Position
zentraler Normierung, durch die ein Staat überhaupt erst zum Gesetzgebungsstaat
wird. Die Unterscheidung dringt wie ein Keil in den organisatorischen Gesamtbau
des Gesetzgebungsstaats hinein und gestaltet ihn dadurch um, daß auf dem Wege
230 A. a. 0., S. 56 f.
231 A. a. 0., S. 57 f.
... A. a. 0., S. 58 .
•s, Ebda .
... Ebda.
m Ebda.
2.6 A. a. 0., S. 59.
Die lnstrumentalisierung der Verfassung 47

über die Handhabung und Geltendmachung der höheren Leßlalität in lder Folge un-
vermeidlich höhere, dem ordentlichen Gesetzgeber übergeordnete Instanzen und
Organisationen entstehen." 237
Angesicht dieser Folgewirkungen erklärt earl Schmitt, die Einführung materiell-
rechtlicher Verfassungsgesetze sei aus den Voraussetzungen des parlamentarisch-demo-
kratischen Gesetzgebungsstaats nicht zu rechtfertigen. Wo sie in einer Verfassung
aufträten, seien sie das Zeichen entfallener Homogenität. Sie bezeugten also den Weg-
fall der den Gesetzgebungsstaat tragenden Voraussetzungen, denn sie stellten immer
ein Mißtrauen gegen den ordentlichen Gesetzgeber dar, dessen Befugnissen und Auf-
gaben sie vorgreifen. Jede derartige verfassungsmäßige Sicherung und Festlegung
materiell-rechtlichen Inhalts bedeute "vor allem eine Sicherung vor dem einfachen,
ordentlichen und normalen Gesetzgeber, nämlich der Parlament,<mehrheit..., wodurch
die bisher festgehaltene Grundlage des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats, das
unbedingte Vertrauen auf den ordentlichen Gesetzgeber, sozusagen von Verfassung
wegen untergraben wird" .238 Man wolle mit der Einführung solcher verfassungs-
gesetzlicher Sicherungen irgendwelche Sonderinteressen schützen. Interessengruppen
versuchten, auf diesem Wege ihre Interessen vor anderen Interessengruppen in Sicher-
heit zu bringen. Da es aber in einer Demokratie und auch in der parlamentarischen
Demokratie, wenn ihre Verfahren der staatlichen Willensbildung überhaupt gerecht
und legitim sein wollen, "keine dauernde und organisierte Teilung des Volkes in
Mehrheit und Minderheit" und also auch "keine gegenüber der Mehrheit dauernd
schutzwürdigen und schutzbedürftigen Interessen" 219 geben könne, so sei mit der
verfassungsgesetzlichen Anerkennung solcher Sonderinteressen "die Demokratie bereits
verneint".240 Es sei implizit anerkannt, daß die demokratischen Willensbildungsver-
fahren durch Mehrheitsfeststellung illegitim geworden seien. Wo es Einzelinteressen
gebe, die gegenüber der einfachen Mehrheit für schutzbedürftig gelten, dort sei offen-
sichtlich die Homogenität und Einmütigkeit der Grundwerthaltung entschwunden,
die, weil sie in ihrem Rahmen eine unterschiedslos gleiche Zulassung aller Bestrebun-
gen, politischen Zielsetzungen und Wertüberzeugungen zur staatlichen Willensbildung
ermöglicht, das Mehrheitsverfahren erträglich macht. Wo aber diese substantiell wert-
hafte Homogenität entfallen sei, dort sei das Mehrheitsverfahren offensichtlich zu
einem inhaltlosen, sinnleeren Funktionalismus geworden, in dem die Mehrheitsent-
scheidung in der Sache nur noch überstimmung sei.
Sind zwar verfassungsgesetzliche Sicherungen gegen die Mehrheit demokratisch
nicht zu rechtfertigen, so können sie jedoch, nach Meinung earl Schmitts, durchaus
in der Sache gerechtfertigt sein. Ihr Sinn kann gerade darin liegen, bestimmte sub-
stantielle Inhalte gegen einen substanzlos und illegitim gewordenen, "alle sachinhalt-
lichen Werte an die jeweilige Mehrheit ausliefernden Mehrheitsfunktionalismus" 241
sichern zu wollen. Insofern stellt der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung mit
seinen verfassungsgeschichtlich beispiellos zahlreichen Gewährleistungen, Unverletz-
lich-Erklärungen, Sicherungen und anderen materiell-rechtlichen Festlegungen für
earl Schmitt in "Wahrheit ... eine, gegenüber dem ersten, einen parlamentarischen
Gesetzgebungsstaat organisierenden Hauptteil heterogene, zweite Verfassung" ,242
eine Gegen-Verfassung dar. Die Weimarer Verfassung ist insofern, schreibt earl

237 Ebda.
2" A. a. 0., S. 47.
23. A. a. 0., S. 43.
2" A. a. 0., S. 44 .
• ., A. a. 0., S. 48.
2" A. a. 0., S. 41.
48 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

Schmitt, "zwischen der Wertneutralität ihres ersten und der Wertfülle ihres zweiten
Hauptteils buchstäblich gespalten" .243
Die Schwierigkeit wird "noch größer und unlösbar, weil im zweiten Hauptteil
neben wirklichen ,positiven' und ,aktuellen' Wertfestlegungen auch inhaltliche Ziele
angegeben sind, die noch nicht positiv und aktuell, aber doch (durch Gesetzgebung,
Verwaltung und Rechtspraxis) positivierbar und aktualisierbar sein sollen".244 Es
handelt sich dabei, nach Darstellung earl Schmitts, vor allem um die Implikationen
solcher Artikel wie des Artikels über den Reichswirtschaftsrat. So wäre es denkbar,
"daß eine verfassungsgesetzliche ,Anerkennung' von Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-
organisationen, wie sie, von der Vereinigungsfreiheit des Art. 159 ausgehend, Art. 165
Abs. 1 ausspricht, zu einer institutionellen Garantie weiter ausgebaut würde und
schließlich ein Monopol der bestehenden Verbände und Gewerkschaften auch verfas-
sungsgesetzlich fundierte" .245 earl Schmitt zieht daraus die Konsequenz, es sei unter
den obwaltenden Umstanden also "eine Frage der Weiterentwicklung, wem es unter
Ausnützung der legalen Möglichkeiten und insbesondere aber unter Ausnützung der
politischen Prämien auf den legalen Machtbesitz gelingt, die Weimarer Verfassung
als Instrument und Mittel zu seinem Parteiziel zu handhaben". 246
Wenn der Sinn der verfassungsgesetzlichen Sondersicherungen gerade in der Ab-
wehr des illegitim gewordenen Mehrheitsfunktionalismus liege, kann die Vernünftig-
keit und Berechtigtheit solcher Bestrebungen nach Meinung earl Schmitts nicht ein-
mal durchweg abgeleugnet werden, denn es handelt sich dabei in earl Schmitts Augen
zum Teil gerade um die notwendige Sicherung "substanzhafter Inhalte und Kräfte
des deutschen Volkes".247 Die Konsequenz liegt aber dann, meint earl Schmitt, bei
einer vollen Exemtion der gegen den leeren Mehrheitsfunktionalismus zu schützenden
Werte und Inhalte, bei einer Verneinung des Gesetzgebungsstaats überhaupt, also
bei einer Umgestaltung des Staats zu einer anderen Staats art. Durch die materiell-
rechtlichen Verfassungssicherungen wird der Mehrheit und dem Mehrheitsverfahren
ein die Demokratie verneinendes Mißtrauen ausgesprochen; es werden "gewisse ge-
schützte Objekte, Personen oder Personengruppen aus der Demokratie herausgenom-
men, eximiert und damit gegenüber der Mehrheit als mehr oder weniger exklusive
Sondergemeinschaften privilegiert. Folgerichtig zu Ende gedacht, müßte die Anerken-
nung solcher Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit bestimmter, von der Mehrheit
bedrohter Interessen oder Gruppen der Jeweiligkeit des Funktionalismus parlamen-
tarischer und demokratischer Abstimmungsmethoden überhaupt ganz entzogen wer-
den. Konsequent wäre demnach volle Exemtion mit itio in partes oder Anerkennung
des Rechts auf Exodus und Sezession." 248 Diese Konsequenz aber, wenn sie nicht als
bloßer übergang zu einer anderen Staatsform verstanden wird, muß, wie earl
Schmitt folgert, eine Auflösung des Staates und seiner Einheit überhaupt bedeuten.
Und earl Schmitt meint, dahin sei die Weimarer Republik in der Tat auf dem Wege.
Das Ergebnis wäre eine Art Privilegienstaat, jedenfalls keine politische Einheit mehr.
In der Tat zeigt sich, wie earl Schmitt es sieht, die Tendenz, daß die institutionellen
Garantien und materiell-rechtlichen Verfassungssicherungen, die ursprünglich viel-
leicht noch "als Konnex- und Komplementärgarantien zu einer allgemeinen Frei-
heit" 249 gelten konnten, "sich verselbständigen und einem eigenen Entwicklungsgesetz

." A. a. 0., S. 52 .
... Ebda .
... Schmitt, .Freiheitsrechte .•• " (Anm. 30), S. 31.
'" Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 52.
247 A. a. 0., S.97 .
... A. a. 0., S. 44 .
... Schmitt, .Freiheitsrechte ... " (Anm. 30), S. 31.
Die Instrumentalisierung der Verfassung 49

folgen, durch welches jene Institutionen gegenüber dem Staate und den staatlichen
Organisationen immer selbständiger, immer besser ,gesichert' werden, um schließlich
in ,vertrags gesicherten' Körperschaften des öffentlichen Rechts ,einen neuen Typ' her-
vorzubringen ... Das alles braucht keineswegs planmäßig berechnet zu sein, sondern
entspricht der Dialektik einer häufig eintretenden Entwicklung. Der Weg von der
allgemeinen Freiheit zum Privilegium ist oft sehr kurz; er geht über die speziellen
Garantien und Sicherungen der Freiheit." 250
Mögen also, meint earl Schmitt, die materiell-rechtlichen Sicherungen der Ver-
fassung um der Wahrung substantieller Werte willen und gegenüber einem leer und
illegitim gewordenen Mehrheitsfunktionalismus berechtigt und vernünftig scheinen:
Ihre Konsequenz liegt bei der vollen Exemtion und führt also nur zu einem Privi-
legienstaat. Ihre Auffassung als bloße Erschwerungen der Beschlußfassung für be-
stimmte Gesetzgebungsmaterien aber ist nach Darstellung earl Schmitts in jedem
Fall sinnwidrig. Die bloße Erschwerung der Mehrheit ist immer nur ein Notbehelf
und zudem zweckwidrig.
"Wird das Schutzobjekt wegen seines besonderen inneren Wertes, vielleicht gar
wegen seiner Heiligkeit, vor der Mehrheit geschützt, so bedeutet der Schutz, der
darin liegt, daß zu den 51 v. H. der einfachen Mehrheit noch weitere 16 v. H. hinzu-
kommen müssen, offensichtlich etwas Halbes und nur einen Notbehelf. Denn die hin-
zukommenden 16 v. H. sind ja nicht etwa ihrerseits im Hinblick auf das Schutz-
objekt inhaltlich qualifiziert; es werden bei ihnen nicht Eigenschaften vorausgesetzt,
durch die sie von den übrigen 51 v. H. unterschieden werden. Sie stehen auch nicht
in einer spezifischen, sei es sachlichen, sei es persönlichen Beziehung zu dem geschütz-
ten Objekt, die es begründen würde, daß gerade sie ihre Zustimmung zu dem Ein-
griff in dieses Objekt und zur Verletzung des Schutzes geben müßten. Es ist nicht so,
als müßte zum Beispiel bei der Beseitigung von besonders gesicherten Interessen der
Religiongesellschaften irgendeine Vertretung dieser Religionsgesellschaften zugezogen
werden und ihre Zustimmung geben, oder als könnten die für unverletzlich erklärten
wohlerworbenen Beamtenrechte des Art. 129 R V nicht gegen den einmütigen Willen
der Beamtenvertreter oder aller beamteten Abgeordneten verletzt werden. Vielmehr
bleibt es bei der rein arithmetisch-quantitativen Berechnung." 251 Wie bei der ein-
fachen Mehrheit wird also, so folgert earl Schmitt, auch hier die Voraussetzung einer
durchgehenden Homogenität gemacht, ohne die die Abstimmung nicht möglich wäre,
weil man ungleichartige Größen so wenig wie Birnen und Äpfel addieren kann.
Wenn aber, wie die Einführung der speziellen Sicherungen zeigt, die Voraussetzung
der durchgehenden substantiellen Homogenität nicht gemacht wird und nicht gemacht
werden kann, wenn vielmehr anerkannt wird, "daß die Masse der Staatsbürger"
(bzw. auch der Abgeordneten) "nicht mehr einheitlich denkt, sondern pluralistisch in
eine Mehrzahl heterogener, organisierter Komplexe aufgeteilt ist, so muß auch anerkannt
werden, daß gegenüber solchen heterogenen Machtkomplexen jedes arithmetische
Mehrheitsprinzip seinen Sinn verliert" .252 Behält man aber das Mehrheitsverfahren
in Gestalt der erschwerten Mehrheit bei, so ergibt sich ein in den Augen earl Schmitts
völlig entarteter und absurder Zustand.
Entweder die qualifizierte Mehrheit ist gegenüber der Minderheit immer noch in sich
homogen; dann ergeben aber die zu den 51 v. H. hinzukommenden 15 oder 16 v. H.
"keine neue Rechtfertigung, sondern im Gegenteil, sie würden ein noch stärkeres
Schutzbedürfnis rechtfertigen; daß Mißtrauen gegen die einfache Mehrheit müßte sich
angesichts einer gleichartigen Zweidrittelmehrheit noch steigern, weil die gefährliche
259 Ebda.
25! Smmitt, Legalität . .• (Anm. 34), S. 44 f.
252 A. a. 0., S. 45.
50 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

stärkere Mehrheit doch offenbar viel gefährlicher ist als die gefährliche einfache
Mehrheit." 253
Oder die qualifizierte Mehrheit ist auch in sich noch heterogen und ist erst durch
einen "Kompromiß mehrerer heterogener Parteikomplexe" 254 zustande gekommen.
Dann aber sind auch die hinzukommenden 15 oder 16 v. H. heterogen und erhalten
durch die Forderung qualifizierter Mehrheit "in völlig beziehungsloser Weise eine
Schlüsselstellung..., die es ihnen erlaubt, beziehungslose Gegenleistungen zu fordern.
Gegenüber einer konservativ-christlichen Gruppe auf der einen, einer kulturradikalen
auf der anderen Seite könnte zum Beispiel eine Mittelstandspartei ihre Zustimmung
zur Entchristlichung und zur Laizienmg des Staates oder die Verweigerung dieser
Zustimmung davon abhängig machen, daß die Hauszinssteuer beseitigt wird." 255
Solche Verhältnisse aber machen nach earl Schmitt das Gesetz zum "jeweiligen Kom-
promiß heterogener Machtklumpen ".256 Das zu schützende Objekt wird bei Vor-
liegen einer Heterogenität durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheit also gerade
nicht geschützt, sondern einer "politischen Geschäftemacherei" ausgeliefert, einer Art
von faulen Kompromissen, die nach Auffassung earl Schmitts "bei den einfachen
und noch mehr bei qualifizierten Mehrheitsbildungen des pluralistischen Parteien-
staats ... typisch und sozusagen institutionell" 257 sind, wobei für "die kleineren und
mittleren Parteien ... die Praxis solcher Kombinationen geradezu eine Existenz-
frage" 258 darstellt.
Wenn das Vertrauen zum einfachen Gesetzgeber entfallen ist, können die hinzu-
kommenden, die Zweidrittelmehrheit konstituierenden Stimmen dieses Vertrauen
nicht wiederherstellen. Es ist unmöglich, meint earl Schmitt, Schutzobjekte einerseits
durch rein quantitative Erschwerungen aus dem Funktionalismus des Mehrheitsver-
fahrens herausnehmen zu wollen, sie zugleich anderseits aber wieder einem solchen
Funktionalismus der Zweidrittelmehrheiten auszuliefern. Die Illegitimität des illegi-
tim gewordenen Mehrheitsverfahrens kann sich dadurch nur noch potenzieren. Die
erschwert abänderbaren Normen müssen, so folgert earl Schmitt, unvermeidlich als
Instrument zur Zerstörung des Gesetzgebungsstaats wirken. Sie enthalten geradezu
die Einladung, die mit ihnen gegebene "Prämie auszunützen und die jeweilige Macht
über die Dauer der jeweiligen Mehrheit hinaus mißbräuchlich zu verlängern. Augen-
fällig tritt das dann zutage, wenn die materiell-rechtliche Verfassungsgarantie eine
Sach- oder Rechtslage verfassungsgesetzlich sichert, die durch einfaches Gesetz oder
gar durch bloßen Verwaltungsakt geschaffen wird. So kann zum Beispiel die mit ein-
facher Mehrheit herrschende Partei durch Beamtenernennungen den staatlichen Ver-
waltungs- und Justizapparat personalpolitisch für sich okkupieren, mit der Wirkung,
daß diese Machterweiterung wegen der verfassungsgesetzlichen Garantie der wohl-
erworbenen Beamtenrechte durch Art. 129 RV auch gegen die folgende Mehrheit der
Gegenpartei gesichert ist." 259 Eine Verfassung, so zieht earl Schmitt die endgültige
Konsequenz seiner Erwägungen, eine Verfassung, die Sonderinteressen garantiert und
für bestimmte Gesetzgebungsmaterien die parlamentarische Beschlußfähigkeit er-
schwert, bricht das für den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat unentbehrliche Ver-
trauen zum einfachen Gesetzgeber und zerstört ihn somit durch sich selbst. Ein Staat
mit solcher, für Sonderinteressen instrumentalisierten und instrumentalisierbaren Ver-

.53 Ebda.
25. Ebda.
255 Ebda.
256 Ebda.
257 A. a. 0., S. 46.
258 Ebda.
25' A. a. 0., S. 259.
Die Relativierung der Verfassungsvorstellungen 51

fassung befindet sich im Entartungszustand und läßt wenig Hoffnung zu, daß man
ihn noch als parlamentarischen Gesetzgebungsstaat regenerieren kann.

Die Relativierung der Ver/assungsvorstellungen


earl Schmitt hatte das Postulat aufgestellt, der Verfassungs begriff eines parlamenta-
rischen Gesetzgebungsstaats müsse der positive Verfassungsbegriff sein, Verfassung
also als "Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit" 260 ver-
stehen. Die Verfassung dürfe nicht mit den einzelnen Verfassungsgesetzen verwech-
selt werden. Die Grundentscheidungen der Verfassung selbst müßten vielmehr den
einzelnen Verfassungsgesetzen vorgehen. Im Gegensatz dazu erscheint ihm nun die
vorherrschende Auffassung der Verfassungsrechtspraxis als eine Relati vierung des
Verfassungsbegriffs. Er stellt fest, die Verfassung werde nur als die Summe der er-
schwert abänderbaren Normen begriffen. Dieser Unbegriff in Verbindung mit einem
ebenso formalisierten Gesetzesbegriff liege als ein ideologischer Schleier über den
wahren Sachverhalten.
Die echt rechtsstaatliche Verfassung kennt nach Auffassung earl Schmitts nur
Grundrechte einerseits und den Vorbehalt des ·einfachen Gesetzes anderseits. In den
Grundrechtsverbürgungen kommt das Verteilungsprinzip der rechtsstaatlichen Ver-
fassung zum Ausdruck. Der Schutz der Freiheitsrechte liegt in der rechtsstaatlichen
Organisation der Staatsgewalt, die es nur dem Gesetz erlaubt, in die grundrechtlich
gesicherte Freiheitssphäre einzugreifen. Aber der Vorbehalt des einfachen Gesetzes
bedeutet immerhin, daß schon die einfache Parlamentsmehrheit befugt ist, in die
Grund- und Freiheitsrechte einzugreifen. Die reale Garantie der Freiheitsrechte liegt
also im Vertrauen auf den Gesetzgeber. Die Aufstellung und verfassungsmäßige
Fixierung der Freiheits- und Grundrechte richtet sich nur gegen mögliche übergriffe
der monarchischen Regierung. Von seiten des Gesetzgebers werden keine übergriffe
befürchtet. Vielmehr ist die Macht des Parlaments gegenüber der Regierung die
Garantie dafür, daß die Freiheitssphäre faktisch respektiert wird. Nur dem Gesetz
ist der Eingriff in die Freiheitssphäre erlaubt, und das Gesetz gibt das Parlament,
das mit der Monopolisierung dieser Befugnis die Regierung von der legislativen
Funktion ausschließt und auf Exekutive beschränkt. Beim legislativen Parlament
aber wird vorausgesetzt, daß es als die Vertretung der vom Gesetz Betroffenen nur
vernünftige, allgemeingültige und nur um der öffentlicl1en Gerecl1tigkeit willen not-
wendige Gesetze geben und also vertrauenswürdig sein wird. Diese Vorstellungen
wurden im 19. Jahrhundert entwickelt.
Da nun aber die einzige politiscl1 reale Garantie der Achtung der Grundrechte in
der Situation des 19. Jahrhunderts in der Macht der Volksvertretung lag, kam
politisch alles darauf an, die Macht des Parlaments gegenüber der Macht der könig-
Ecl1en Regierung und Exekutive auszudehnen. Dadurcl1 wird es verständlich, daß
sicl1 kein Gedanke daran einstellt, die Grundrechte könnten auch gegenüber der Macl1t
des Gesetzgebers schutzbedürftig sein. Infolgedessen wurde, wie earl Schmitt meint,
der Zusammenhang von Grundrechtsgarantie und Gesetzesbegriff nicht bewußt. Viel-·
mehr führte der politische Kampf des bürgerlichen Parlaments gegen die königliche
Regierung um die Durchsetzung der rechts staatlichen Verfassung zur Entwicklung
und Vorherrschaft des formellen Gesetzesbegriffs, der die Machtvollkommenheiten
und Befugnisse des Parlaments an keinerlei Einschränkungen band. Diese Entwicklung
führte zur Vorstellung von der Omnipotenz des einfachen Gesetzes, demgegenüber
auch die Grundrechte keinerlei einschränkende Bedeutung hatten. Als Gesetz wurde

260 Sclllnitt, Verfassungs/ehre (Anm. 21), S.20.


52 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

einfach alles angesehen, was das Parlament als die Legislative beschloß. Zum ein-
zigen Kriterium des Gesetzes wurde, daß es aus einem Beschluß der gesetzgebenden
Versammlung hervorgehen mußte.
Was aber von diesen Vorstellungen verdeckt wird, sind nach Auffassung earl
Schmitts diese unmöglichen Praktiken bzw. die Praxis leitenden Auffassungen: Es
konnte sich - und zwar je mehr die Durchsetzung des Gesetzgebungsstaats gelang -
eine Praxis der Behandlung der Grundrechte entwickeln, in der die Grundrechte an
Bedeutung und Gewicht immer mehr verloren. Die Entwicklung endete, nach earl
Schmitt, in einem Dilemma: Waren die Grundrechtsaufstellungen der Verfassung ohne
Gesetzesvorbehalt formuliert, so wurden sie infolge der als unbeschränkt angesehenen
Vormachtstellung des Gesetzgebers als bloßes Programm und für positivrechtlich
bedeutungslos angesehen, als »gutgemeinte Proklamationen, politische Aphorismen,
fromme Wünsche, Monologe des Verfassungsgesetzgebers oder wie die zahlreichen
mehr oder weniger bagatellisierenden Namen lauten".261 Zum Beispiel wurde aus
der Forderung der Gleichheit vor dem Gesetz keinerlei Bindung für den Gesetzgeber
gefolgert. Vielmehr herrschte, wie earl Schmitt darstellt, nach der von Anschütz
geführten »alten Lehre" die Vorstellung, daß die Gleichheit vor dem Gesetz »nicht
einmal einen Anhaltspunkt für den rechtsstaatlichen Begriff des Gesetzes als einer
generellen Regelung gebe, also nicht einmal Ausnahmegesetze im engsten und gröb·
sten Sinne des Wortes verbiete" .262
Waren - auf der anderen Seite des Dilemmas - die Grundrechtsaufstellungen der
Verfassung mit dem Zusatz des Gesetzesvorbehalts formuliert und konnten bzw. soll-
ten sie durch einfaches Gesetz somit erst positiviert werden, so stellten sie, wie earl
Schmitt schreibt, nur» Umschreibungen des allgemeinen Grundrechts auf Gesetzmäßig-
keit der Verwaltung" dar, richteten sich also »nicht an den Gesetzgeber, sondern an
die gesetzes anwendenden Behörden in Verwaltung und Justiz" und berührten den
Vorrang des einfachen Gesetzes, die Omnipotenz des Gesetzgebers in keiner Weise.
In diesem Falle waren die Grundrechte, »weil es nur auf diese positiven Gesetze an-
kommt", »leerlaufend".263 »Als einfache Gesetze konnten diese Positivierungen durch
ein späteres einfaches Gesetz völlig verändert werden. Letzter Schutz der Grund-
und Freiheitsrechte war das Gesetz, und zwar das einfache Gesetz, d. h. die unter
Mitwirkung der Volksvertretung zustande gekommene Normierung." 264
Folgt man jener oben gekennzeichneten Art von Behandlung der Grundrechte,
die in das Dilemma von Bedeutungslosigkeit und Leerlauf führte, orientiert man sich
also an Vorstellungen, die in den Verfassungs kämpfen gegen die monarchische Re-
gierung und Exekutive im 19. Jahrhundert ausgebildet wurden und darin ihren
Sinn hatten, inzwischen aber ideologisch geworden, weil von der veränderten Ver-
fassungswirklichkeit überholt sind, so ergibt sich nach Ansicht earl Schmitts »nicht
nur ein paradoxes, sondern auch ein ganz unmögliches Ergebnis" .265 Es ergibt sich
dann nämlich, daß jene von normalen Gesetzen logisch gar nicht unterscheidbaren,
aber plötzlich in die Verfassung hineingenommenen Spezialbestimmungen die ganze
Kraft verfassungsgesetzlicher Normen haben, auch durch keinerlei Vorbehalt eines
einfachen Gesetzes eingeschränkt sind und demgemäß nur nach dem Abänderungs-
artikel der Verfassung selbst mit qualifizierter Mehrheit abänderbar und voll ver-
fassungsgesetzeskräftig sind. Sie sind, schreibt earl Schmitt, »demnach mit der stärk-
sten Sicherung umgeben und zur höchsten Bedeutung gesteigert, die das positivistische
161 Schrnitt, "Freiheitsrechte ... " (Anm. 30), S. 2.
m Ebda .
... Ebda.; der Ausdruck .leerlaufend" stammt von R. Thoma •
••• Ebda.
266 A. a. 0 .• S. 4.
Die Bedrohung des parlamentarischen Gesetzgebers durch den plebiszitären 53

Staatsrecht kennt. Die fundamentalen und zentralen Freiheits- und Menschenrechte


dagegen werden in dem eben erwähnten Dilemma zwischen Programm und positivem
Gesetz teils zur Bedeutungslosigkeit, teils zum Leerlauf herabgemindert. Das Recht
des Beamten auf Einsicht in seine Personalakten (Art. 129, Abs. 3, Satz 3) soll kräf-
tiger, sicherer und heiliger sein als alle Grundrechte der persönlichen Freiheit, der
Unverletzlichkeit der Wohnung, der freien Meinungsäußerung usw." 266
In der Praxis hat diese Relativierung des Verfassungsbegriffs zur Summe seiner
verfassungsgesetzlichen Einzelbestimmungen in den Augen earl Schmitts also die
Konsequenz zur Folge, daß die verfassungsgesetzlichen Einzelgarantien und mate-
riellen Verfassungssicherungen heiliger und kräftiger werden als die eigentlichen
Grundrechte, so daß der Bürger jetzt den indirekten Gewalten, die sich im Schutze
der materiellen Verfassungssicherungen breitmachen, ausgeliefert ist, ohne noch weiter
den Schutz der »leerlaufenden" oder »bedeutungslos" gewordenen Grundrechte zu
genießen. Die Bürgerfreiheit sollte unter dem Schutz des Gesetzes stehen, d. h. unter
dem Schutz des Gesetzgebers. Wo nun aber indirekte gesellschaftliche Gewalten die
Bürgerfreiheit beeinträchtigen und sich übergriffe in die Freiheitssphäre erlauben,
dort wird, wenn die indirekten Gewalten zugleich im Schutz der Verfassung stehen,
dem Gesetzgeber auch noch die Möglichkeit erschwert, dem freien Bürger gegen die
übergriffe der indirekten gesellschaftlichen Gewalten zu Hilfe kommen zu können.
Das ist nach Meinung earl Schmitts ein Zustand, der sich noch verschärft, wenn es
diesen indirekten Gewalten außerdem gelungen ist, über ,den Parteienpluralismus das
Parlament lahmzulegen. Die vcrfassungsgesetzlich anerkannten indirekten Gewalt'cn
- wie etwa Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerverbände oder Kirchen usw. - werden
kräftiger als die Grundrechtsfreiheiten des einzelnen Bürgers. Im Schutz der verfas-
sungsgesetzlichen Spezialgarantien werden die indirekten Gewalten kräftiger als die
Kraft des einfachen Gesetzgebers, die Freiheitssphäre des einzdnen auch gegen die
indirekten Gewalten zu schützen. Wo aber die indirekten Gewalten auch die Mehrheit
des Parlaments besitzen, dort h:1!ben sie ohnehin die Möglichkeit, in die im Dilemma
von Leerlauf und Bedeutungslosigkeit zerriebene Grundrechtssphäre nach Willkür ein-
greifen zu können. Diese Zusammenhänge aber erscheinen earl Schmitt wiederum
als ein Beweis für den Entartungszustand des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats,
der um seine innere Legitimität gebracht ist.

Die Bedrohung des parlamentarischen Gesetzgebers durch den plebiszitären


Eine weitere Erscheinung der Selbstentfremdung des parlamentarischen Gesetzge-
bungsstaats stellt das Auftreten eines mit dem parlamentarischen konkurrierenden
plebiszitären Gesetzgebers dar. earl Schmitt hatte, wie oben gezeigt wurde, für den
konsequenten und legitimen Gesetzgebungsstaat das Postulat formuliert, er dürfe
nur einen einzigen und konkurrenzlosen, den parlamentarischen Gesetzgeber ken-
nen. Zwar könne das Volk in Gestalt von Referenden in das Gesetzgebungsverfah-
ren eingeschaltet sein. In diesem Falle liege aber keine unmittelbare Volksgesetz-
gebung, sondern nur eine Bestätigung oder Nichtbestätigung von Beschlüssen der
gesetzgebenden Körperschaften vor, das Volk übe hier also keine selbständige und
keine mit der parlamentarischen konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis aus. Nun
aber sehe die Weimarer Verfassung auch die Möglichkeit eines »Volksentscheids auf
Volksbegehren" 267 vor. Das bedeute eine unmittelbare, plebiszitäre Volksgesetzge-
bungsbefugnis, die nur unvollkommen in die parlamentarische Gesetzgebung abge-
leitet zu werden vermag. Die Verfassung eröffnete damit, wie earl Schmitt folgert,
266 Ebda.
267 Vgl. dazu Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren (Anm. 18).
54 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

die Möglichkeit, daß, jedenfalls nach vorherrschender Interpretation, die Verfassung


selbst auf dem Wege des Volksbegehrens und Volksentscheids auf Volksbegehren ab-
geändert zu werden vermochte.
Es ist nicht so, daß Carl Schmitt die Methoden unmittelbarer Demokratie ablehnte.
Er sieht im Gegenteil bei den plebiszitären Kräften die Chance, zu einer zeitgemäßen
Staatsform zu gelangen. Das wird noch des näheren gezeigt werden. In jedem Falle
aber erblickt er in der verfassungs rechtlichen Existenz zweier Gesetzgeber und in der
Möglichkeit einer Konkurrenz zwischen Parlament und Volk einen inneren Wider-
spruch der Weimarer Verfassung, an dem sich ihm die Selbstentfremdung und der
Legitimitätsverlust des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats erweisen. Durch die
Möglichkeit des Volksentscheids auf Volksbegehren wird der parlamentarische Ge-
setzgeber aus der Zentralposition verdrängt, durch die nach Auffassung Carl Schmitts
der parlamentarische Geseozgebungsstaat konstituiert ist. Dem parlamental1ischen Ge-
setzgebungsstaat wird gleichsam von Verfassung wegen das Vertrauen entzogen, von
dem er anderseits doch lebt.

Das Gesetzgebungsrecht der Notgewalt


Carl Schmitt hatte weiterhin das Postulat formuliert, im Gesetzgebungsstaat habe die
Diktaturgewalt auf Maßnahmengewalt beschränkt zu sein. Das ergab sich ihm schon
daraus, daß für den normalen Zustand das gesetzgebende Parlament das zentrale
Staatsorgan darstellt, daß das Parlament aber diese zentrale Position aufgeben würde,
wenn es seine Gesetzgebungsbefugnisse an die Regierung oder an ein anderes Staats-
organ delegieren wollte. Die Notgewalt dürfte daher niemals in die normalen Funk-
tionen und schon gar nicht die normalen Funktionen des Gesetzgebers einrücken.
Gegenüber diesen Postulaten zeigt die Wirklichkeit der Weimarer Republik für den
Blick Carl Schmitts aber eine den Gesetzgebungsstaat verneinende Tendenz.
Es wird sich noch herausstellen, daß Carl Schmitt bei seinen Argumentationen
keineswegs den Schutz der Republik im Auge hat. Er kritisiert die Wirklichkeit der
Weimarer Republik keineswegs um der Wahrung der parlamentarischen Demokratie
willen, wenn er sie an jenen Postulaten eines legitimen parlamentarischen Gesetz-
gebungsstaats mißt. Die Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit ist ihm eher ein
Beweis für die Unbrauchbarkeit der Idee. In diesem Sinne zählt er zu den Verfalls-
erscheinungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats in der Wirklichkeit der
Weimarer Republik, daß sich eine Praxis herausgebildet hat, durch den Reichspräsi-
denten Notverordnungen ergehen zu lassen, denen Gesetzescharakter zugesprochen
wird. Es handelt sich um das reichs gese tz vertretende Rechtsverordnungsrecht aus
der Notgewalt des Art. 48. Diesem gesetzesvertretenden Rechtsverordnungsrecht des
Reichspräsidenten sei durch die Praxis der höchsten Gerichte inzwischen die legiti-
mierende Sanktion erteilt worden. Es sei dadurch zum positiv rechtlichen Inhalt des
Art. 48 der Weimarer RV geworden, obwohl dieser Artikel die weitere inhaltliche
Regelung zunächst noch offen und einem späteren, in der Weimarer Republik aber
immer wieder hinausgezögerten Ausführungsgeserz überließ. Wie sehr dieses gesetzes-
yertretende Rechtsverordnungsrecht des Reichspräsidenten im Widerspruch zum par-
lamentarischen Gesetzgebungsstaat steht, glaubt Carl Schmitt daran ermessen zu
sollen, daß im 19. Jahrhundert das selbständige königliche Rechtsverordnungsrecht
von seiten des Parlaments erbittert bekämpft wurde, weil in ihm eine unduldbare
Konkurrenz zum eigentlichen Gesetzgeber und seiner Gesetzgebungsbefugnis erblickt
wurde. Das königliche Verordnungsrecht sollte auf Verwaltungsverordnungen be-
schränkt sein, aber nicht in die Rechte der freien Bürger selbst eingreifen können, in
die einzugreifen allein dem ordentlichen Gesetz vorbehalten blieb. Nun aber, nach
Das Gesetzgebungsrecht der Notgewalt 55

dem Sieg des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats, erhält der Reichspräsident genau


die Befugnisse in konkurrierender Position, die das Parlament ursprünglich dem
König genommen und für sich monopolisiert hatte.
Der Träger der Notgewalt aus Art. 48 wird durch die Zubilligung eines auch
gesetzesvertretenden Rechrsveror1dnungsrechts, das weitaus mehr ist als eine b~oße Be-
fugnis zu außerordentlichen Maßnahmen, wie earl Schmitt schreibt, zum "außer-
ordentlichen Gesetzgeber ratione necessitatis" .268 Im Widerspruch zu den Prinzipien
des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats zeigt sich, daß er "hinsichtlich des Um-
fangs und Inhalts der ihm zuerkannten Rechtsetzungsbefugnis dem Reichstag, das
heißt dem ordentlichen Gesetzgeber, überlegen ist" .269 Denn während "der ordent-
liche Gesetzgeber des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats nur Gesetze geben darf
und bei der Eigenart des Gesetzgebungsstaats von dem Gesetzesanwendungsapparat
getrennt ist",270 stellt für den Befugten des Art. 48, wenn er als außerordentlicher
Gesetzgeber mit voll gesetzesvertretendem Rechtsverordnungsrecht interpretiert wird,
"die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesanwendung, Legislative und Exekutive,
weder rechtlich noch faktisch eine Hemmung" 271 dar; er ist, so folgert earl Schmitt,
"beides in einer Person ... , er vereinigt bei sich Gesetzgebung und Gesetzesanwendung
und kann die von ihm gesetzten Normen unmittelbar selbst vollziehen, was der
ordentliche Gesetzgeber des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats nicht kann".272
earl Schmitt konstatiert weiterhin, daß die Praxis der Weimarer Republik den
Befugten aus Art. 48 nicht nur als außerordentlichen Gesetzgeber versteht, wodurch
er dem ordentlichen Gesetzgeber jedenfalls zumindest gleichgestellt würde, sondern
ihm sogar ein verfassungsgesetzvertretendes Rechtsverordnungsrecht zugesteht, indem
sie ihm erlaubt, in Befugnisse der Länder einzugreifen. Dadurch wird der Befugte
aus Art. 48 dem ordentlichen Gesetzgeber und sogar der ganzen Verfassungsorgani-
sation überlegen, die nun in ihren organisatorischen Grundelementen nicht mehr
diktaturfest ist, so daß man, wenn man mit earl Schmitt die Konsequenz aus der
herrschenden Auslegung zieht, von Art. 48 aus schließlich die ganze Verfassung um-
stürzen kann. Darin liegt, wie earl Schmitt es darstellt, ein offensichtliches Ent-
artungsmoment des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats.
earl Schmitt betont, die herrschende Verfassungsrechtspraxis mache sich eines
Widerspruchs schuldig, wenn sie die wichtigsten Bestimmungen des Gesetzgebungs-
staats für nicht ,diktaturfest hinstellt, anderseits aber die sachlich ganz untergeord-
neten einzelnen Verfassungsgarantien für unantastbar und damit für heiliger als die
Organisation und die Grundrechte der Verfassung erklärt. Die Meinung und der
Wille der verfassunggebenden Versammlung sei dies auch durchaus nicht gewesen,
wie die Entstehungsgeschichte zeige. Man kann, meint earl Schmitt, nicht die niederen
Interessen für diktaturfest und die höheren für nicht diktaturfest erklären, ebenso-
wenig wie man die niederen Interessen dem einfachen Gesetzgeber entziehen und
die höheren ihm ausliefern kann, wenn man ihm schon überhaupt mißtraut. Es ist
absurd, dem Diktator, dem man mißtraut, die Minima zu entziehen, die Maxima
aber auszuliefern. Die Begrenzung der Diktaturgewalt kann nicht in der Diktatur-
festigkeit der Minima liegen, sondern nur in der Beschränkung auf Maßnahmen-
gewalt.
Die Entartung des Gesetzgebungsstaats, wie earl Schmitt sie in diesem Zusammen-
hang sieht, zeigt sich schließlich darin, daß das Ausführungsgesetz, das den Artikel

268 Schmitt, Legalität. •. (Anm. 34), S. 70.


2.9 A. a. 0., S. 73.
270 Ebda.
271 A. a. 0., S. 74.
272 Ebda.
56 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

über die Notbefugnisse abschließen sollte, längste Zeit überhaupt nicht in Angriff
genommen wurde. Die Hinauszögerung dieses Gesetzes bedeutet nur, daß "das nicht
aktionsfähige Parlament ein bestimmtes Vorgehen der Regierung stillschweigend
ermöglicht, um nicht selbst zu einer Entscheidung gezwungen zu sein. In der Sache
handelt es sich dabei um Ermächtigungen.« Die Herbeiführung der vorgesehenen
gesetzlichen Regelung wird unterlassen, "damit Reichspräsident und Reichsregierung
ungehindert Verordnungen erlassen und Maßnahmen treffen können, die der Reichs-
tag selbst weder erlass,en noch nach Art. 48 Abs. 3 außer Kraft setzen möchte" .273
Diese Art verschleierter Delegation allein schon bringt, nach Darstellung earl
Schmitts, die verfassungsmäßigen Einrichtungen und Kontrollen allmählich um ihren
Sinn. Die Beibehaltung des Provisoriums von Art. 48 führte zu einem Sinnwandel
der Verfassung selbst.

Der Mißbrauch der Freiheitssphäre durch dze Verbände


earl Schmitt hatte für die Funktionalität und Legitimität des Gesetzgebungsstaats
postuliert, ·daß dieser sich weitgehend von Interventionen in die freie Wirtschaft und
Gesellschaft zurückhalten und nicht selbst zu einem eigenbedeutenden Fiaktor im freien
Konkurrenzproz.eß dieser Wirtschaftsgesellschaft werden solle. Demgegenüber zeigt
nun die moderne Wirklichkeit ein ganz abweichendes Bild, das earl Schmitt wie,derum
als einen Entartungszustand beschreibt.
Mit der Entwicklung von der liberalen Konkurrenzgesellschaft zur organisierten
Massengesellschaft und mit den Prozessen der Interdependenzsteig,el1ung, Fundamental-
demokratisierung und funktionellen Rationalisierung, die sie tragen,274 hat sich auch
das Verhältnis von Staat und Wirtschaft verändert. Die öffentliche Wirtschaft, ins-
besondere ,die öffentliche Finanzwirtschaft, hat außerordentlich an Umfang zugenom-
men, und zwar sowohl im Vergleich zu den Ausmaßen, die sie früher hatte, als auch
und vor allem im Vergleich zur privaten Wirtschaft. Diese quantitative Vermehrung
hat eine Stufe erreicht, auf der bereits von einem qualitativen Strukturwandel des
ganzen Systems gesprochen werden muß. Der sich zumal über die Finanzhoheit zur
Geltung bringende staatliche Wille ist zu einem bestimmenden Faktor in den Zirku-
lations- und Distrihutionsprozessen, aber auch in der Produktionssphäre und in der
Konsumtionssphäre der Wirtschaft geworden. Es ist im ganzen unbestreitbar, daß
sich ein Strukturwandel zugetragen hat, den earl Schmitt mit Fritz Karl Mann 275
als den Wandel beschreibt "vom Anteilsystem (bei welchem dem Staat nur ein Anteil
des Volkseinkommens, eine Art Dividende vom Reingewinn zusteht) zum Kontroll-
system, bei welchem der Staat, infolge der intensiven Beziehungen von Finanzwirt-
schaft und Volkswirtschaft, infolge der starken Vergrößerung sowohl des Staats-
bedarfs wie des staatlichen Einkommens, als Teilhaber und Neuverteiler des Volks-
einkommens, als Erzeuger, Verbraucher und Arbeitgeber, die Volkswirtschaft maß-
gebend mitbestimmt".276 Dieser Wandel ist darauf zurückzuführen, daß im modernen
Industriestaat wirtschaftliche Fragen zum Hauptinhalt sowohl der Innen- als auch
guter Teile der Außenpolitik geworden sind. Die wesentlich wirtschafts gesellschaft-
lich bestimmten Interessen setzen sich im politisch-gesellschaftlichen Prozeß der
organisierten Massengesellschaft zu wesentlichen Teilen auf dem Wege über die staat-
lichen Hoheitsgewalten auseinander und schaffen auf diese Weise ein kompaktes
System von öffentlichen Einrichtungen, die sich im Gesellschaftsprozeß immer inter-
273 Smmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten . .. (Anm. 12), S. 90.
m Vgl. u. III. Teil, Erstes Kapitel.
275 Fritz Karl Mann, Die Staatswirtscha/t unserer Zeit, Jena 1930.
m Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 80 f.
Der Mißbrauch der Freiheitssphäre durch die Verbände 57

ventionistisch auswirken müssen, gleichviel, ob sie dirigistisch oder nur steuernd und
vermittelnd gemeint sind.
Carl Schmitt meint, diese Entwicklung der objektiven Verhältnisse habe im Ver-
ein mit den Tendenzen des parteipolitischen Pluralismus und mit dem Aufkommen
fest organisierter gesellschaftlicher Mächte Wirkungen hervorgerufen, die dem Ge-
samtzustand den Charakter einer Entartung geben. Es habe sich das nach dem Aus-
druck von Popitz sogenannte Phänomen der Polykratie herausgebildet, "ein Neben-
einander und Durcheinander zahlreicher, weitgehend selbständiger und voneinander
unabhängiger, autonomer Träger der öffentlichen Wirtschaft",277 zu dem die Haus-
halte des Reiches, der Länder und Tausender Gemeinden, eine Vielzahl kommunaler
Gesellschaftsbetriebe, verschiedene Sozialversicherungsträger und mit eigener Haus-
macht ausgestattete öffentliche Anstalten wie Reichsbahn, Reichsbank und Reichspost
gehören. Dieses polykratische System aber ermangele einer durchgehenden Gesamt-
leitung und Koordination, zu der es schon dadurch nicht komme, weil zugleich die
Regierungen auf Grund der pluralistischen Zerrissenheit des Parlaments schwach und
zu einem konsequenten, dauernden Willen unfähig sind. Es baue sich rechtlich vor
allem auf der Institution der Selbstverwaltung auf. Dabei ermögliche der Grundsatz
der "Universalität des Wirkungskreises" "eine fast grenzenlose Ausdehnung der
Gemeindewirtschaft; die privatrechtliche Form der kommunalen Gesellschaftsbetriebe
ermöglicht es, der staatlichen Kontrolle (Staatsaufsicht, kommunale Beratungsstelle
beim Reichsfinanzministerium) weitgehend zu entgehen und sich eine Art von privat-
rechtlichem Allod zu schaffen, das ähnliche politische Bedeutung haben kann, wie
das mittelalterliche Allod für den Vasallen, der sich dadurch dem auf die Lehnsver-
fassung gegründeten staatlichen Verband entziehen konnte".278 So nehme die viel-
gestaltige Polykratie "hinter einem starken Wall gesetzlichen und auch verfassungs-
gesetzlichen Schutzes" 279 Deckung und behindere alle notwendigen Versuche, ein
umfassendes Finanz- und Wirtschaftsprogramm durchzuführen. Dieser Widerstand
aber habe staatsauflösende Wirkungen um so mehr, als er sich mit den pluralistischen
Kräften verbindet. Die Parteien versuchten, sich in den Einrichtungen der öffentlichen
Wirtschaft festzusetzen und diese als besondere Schutz- und Machtpositionen im
Dienste ihrer besonderen Zwecke zu behaupten. Zumal die kommunalen Wirtschafts-
betriebe können, wie Carl Schmitt schreibt, "einer politischen Partei und dem sozialen
Machtkomplex, zu dem die Partei gehört, als Stütze und Hilfsstellung gegenüber
einer anderen Partei dienen" .280
"Ihre eigentliche Bedeutung", meint Carl Schmitt, "erhält die Polykratie der öffent-
lichen Wirtschaft dadurch, daß sie mit dem pluralistischen Auseinanderbrechen eines
parlamentarischen Gesetzgebungsstaates bei gleichzeitiger intensivster Entwicklung
des Staates zum Wirtschaftsstaat zusammentrifft." 281 So wird aus dem klassischen
Grundsatz der Nichtintervention jetzt das Gegenteil. Nichtintervention bedeutet jetzt,
daß man den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konflikten, die mit allen Macht-
mitteln ausgetragen werden, freien Lauf läßt. Nichtintervention wird zur "Interven-
tion zugunsten des jeweils Überlegenen und Rücksichtslosen".282
Der Grundsatz der Nichtintervention läßt sich also nur rechtfertigen, wenn die
Verfassung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats mit einer Gesellschaft liberaler
Konkurrenz und mit einer unmittelbaren Gegenüberstellung von Staat und freiem

277 A. a. 0., S. 91.


278 A. a. 0., S. 92.
279 A. a. 0., S. 93.
280 A. a. 0., S. 72.
281 A. a. 0., S. 93 f.
282 A. a. 0., S. 81.
58 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

einz·elnen rechnen kann. Auch ,dies gehörte nach Auffassung Carl Schmitts zu den
Postulaten des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats.
Die konkrete politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit der gegenwärtigen Verhält-
nisse nimmt sich diesem Postulat gegenüber aber als ein ganz sinnwidriger Zustand
aus; bzw. umgekehrt, die Organisation des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats
wird in der gegenwärtigen Wirklichkeit zu einer Sinnwidrigkeit. Es tritt jetzt nämlim
die Lage sein, daß "starke kollektive Verbände oder Organisationen die nichtstaatlich-
unpolitische Freiheitssphäre besetzen und diese nichtstaatlichen (aber keineswegs
unpolitischen) ,Selbstorganisationen' immer fester und stärker einerseits die Einzel-
personen zusammenfassen, andererseits dem Staat unter verschiedenen Rechtstiteln ...
gegenübertreten" .283 Hinter den Schutzvorrichtungen, die zur Simerung der Freiheit
von unpolitischen und des Schutz,es bedürftigen einzelnen errichtet sind, nehmen
Jetzt kollektive indirekte Mämte "Deckung".284 Verbände, die die mit der liberalen
Gesellschaft remnende Verfassung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats gar
nicht zu fassen vermag - verschiedenste Parteien, Gewerkschaften, winschaftlich.e
Machtgruppen, Kirchen- und Religionsgesellsmaften, nationale und sonstige feste und
oft sogar in sich geschlossene Organisationen -, erscheinen jetzt als nichtstaatliche und
daher private Größen und sind doch politism mämtig. Sie beherrschen aus der staats-
freien Privatsphäre heraus auf dem Wege über die Gesetzgebung den staatlimen Wil-
len und zugleich auch, auf dem Wege über "rein privatrechtlichen" Zwang, das ein-
zelne Individuum, das seine Freiheit ihnen gegenüber verliert und von ihnen mediati-
siert wird. earl Schmitt smreibt: "Gelingt es ... solchen Verbänden, auf dem Wege
über die von ihnen beherrschten politischen Parteien sich der staatlimen Mamtposi-
tionen und Mamtmittel zu bemächtigen - und das ist die typische Entwicklung - so
nehmen sie ihre Interessen im Namen der staatlimen Autorität und des Gesetzes
wahr; sie genießen alle Vorteile der staatlichen Macht, ohne die Vorteile der politisch
unverantwortlichen und unkontrollierten, weil angeblich unpolitischen Freiheits-
sphäre aufzugeben. "285
Liberal-demokratisme Freiheit und bürgerlicher Rechtsstaat werden für earl
Schmitt unter soldJ.en Bedingungen ein bloßer "SdJ.leier" ,286 hinter dem ein System
heterogener Mämte und Verbände seine Händel tätigt, und dies scheint ihm für den
Zustand der Weimarer Verfassungswirklichkeit kennzeichnend. Verfassung und Ver-
fassungsrecht werden dabei zu bloßen Waffen instrumentalisiert, "die jeder gegen
jeden, auch der Volksfremde und der Staatsfeind gegen den Volksgenossen, hand-
habt, so daß alle Mitspieler dieses Systems zu einem zwangsläufigen Mißbrauch aller
legalen Möglichkeiten gezwungen sind" .287
Das gesamte öffentliche Rechtssyst:em und das gesamte Verfassung'srecht wel1den
in der Wirklichkeit einer von starken kollektiven Verbänden und Machtorganisa-
tionen beherrschten Gesells·chaft nach Darstellung earl Schmitts zu einem unentwirr-
baren Gemenge von Widersprüchen. Starke und einflußreiche Verbände wie die der
Gewerkschaften und der Arbeitgeber werden in der Verfassung anerkannt, und doch
wird zugelassen, daß sie rein privatrechtliche oder sogar nicht-rechtsfähige Vereini-
gungen bleiben. Für Kirchen, Gemeinden und Berufsbeamtentum wird, obwohl sie
öffentlich-rechtliche Institutionen sind, die Möglichkeit offengelassen, sich zugleich
außerhalb ihrer staatlichen Funktionen zu organisieren und somit eine für die poli-
tische Einheit bedrohliche Domäne der Eigenmacht im Staate zu werden. An die
283 Schmitt, Staat, Bewegung . .. (Anm. 38), S. 24.
2S' Ebda.
285 A. a. 0., S. 25.
286 Ebda.
281 Ebda.
Die Zerstörung der gleichen Chance 59

Kirchen z. B. hängt sich "nicht nur ein politisches Partei wesen, sondern auch ein
mächtiges privatrechtliches Vereinswesen" 288 an. Gemeinden und Gemeindeverbände
können sich mit Hilfe von bürgerlich- und handelsrechtlichen, also privatrechtlichen
juristischen Personen eigene Wirtschaftsrnacht schaffen und sie der staatlichen Auf-
sicht entziehen. Eine große öffentlich-rechtliche Institution wie das Berufsbeamtenturn
kann im Widerspruch zu sich selbst zugleich große Gewerkschaften privaten Rechts
bilden. Ein solches Staatswesen scheint Carl Schmitt völlig pluralisiert, seine Einheit
scheint ihm nur noch "Abfallprodukt" mannigfacher Kompromisse. Es besteht, wie
er schreibt, "schließlich nur noch aus Querverbindungen und grundsätzlicher Ver-
bindung und Verquickung privater und öffentlicher Interessen und Funktionen. In
einem solchen System kann man gleichzeitig Reichstagsabgeordneter, Reichstagsbe-
vollmächtigter, hoher Staatsbeamter, hoher kirchlicher Würdenträger, Parteiführer,
Aufsichtsratsmitglied verschiedenartiger Gesellschaften und viel anderes mehr sein;
ja, dieses merkwürdige System funktioniert überhaupt nur mit Hilfe solcher Quer-
verbindungen." 289 Unter der Verfassung des mit einer liberalen Gesellschaft rechnen-
den parlamentarischen Gesetzgebungs'taats wuchert so "ein anarchischer Pluralismus
sozialer Mächte, in einem chaotischen Gemenge von Staatlich und Nichtstaatlich,
öffentlich und Privat, Politisch und fiktiv Unpolitisch" .290

Die Zerstörung der gleichen Chance


Wie gezeigt, hatte Carl Schmitt das Postulat gebildet, daß der parlamentarische Ge-
setzgebungsstaat nur dann der jeweiligen Mehrheit die legale Macht ausliefern dürfe,
wenn zugleich der Minderheit die gleiche Chance offenbliebe, die Mehrheit zu er-
reichen; daß ein Mindestmaß an Homogenität zwischen allen um den legalen Macht-
besitz und die Bestimmung der öffentlichen Angelegenheiten konkurrierenden Be-
strebungen und Gruppierungen bestehen müsse, damit der mit dem legalen Macht-
besitz gewonnene polinische Mehrwert nicht zur Illegalisierung des innenpolitischen
Gegners mißbraucht würde. Der Charakterwandel der Parteien aber wie der Wahl
und des Parlaments, die parteiliche Verfestigung einer Pluralität organisierter sozialer
Machtkomplexe la3sen nun nach dem Urteil Carl Schmitts gerade das eintreten, was
von jenen Postulaten ausgeschlossen werden sollte. Die zur Legitimität des parla-
mentarisdl-gesetzgebungsstaatlichen Systems vorausgesetzte Homogenität entfällt. So
wird die Gewährung der gleichen Chance unmöglich, und der Gebrauch der legalen
Macht, sofern es überhaupt noch zu einer ausführbaren Willensbildung im Parla-
ment kommt, wird zum illegitimen Mißbrauch.
Die Legalität der politischen Gewalt verliert, wie earl Schmitt meint, ihre Sub-
stanz und entleert sich zu einem formalistischen Funktionalismus. Diese "funktionali-
stisch-formalistische Entleerung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats ... führt
... zu einem inhaltlich indifferenten, selbst gegen seine eigene Geltung neutralen,
von jeder materiellen Gerechtigkeit absehenden Legalitätsbegriff. Die Inhaltlosigkeit
der bloßen Mehrheitsstatistik nimmt der Legalität jede überzeugungskraft; die Neu-
tralität ist vor allem Neutralität gegen den Unterschied von Recht und Unrecht." 291
Gegensätzliche Weltanschauungen versuchen in fest organisierten Parteien ihre je-
weilige Machtbesitzprämie nach Kräften zu nutzen und dem parteipolitischen Geg-
ner die gleiche Chance nach Möglichkeit zu mindern. "Es gilt nicht mehr die gleiche

288 A. a. 0., S. 26.


289 A. a. O.~ S. 27.
290 Ebda.
291 SdImitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 32.
60 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

Chance, sondern nur noch der Triumph des beatus possidens." 292 Die Mehrheits-
methode führt in solchen Verhältnissen nur zu Majorisierungen, oder sie gibt völlig
heterogenen Gruppen beziehungslose Schlüsselpositionen, die es ihnen ermöglicht, für
ihre Beihilfe zur Mehrheitsbildung beziehungslose Gegenleistungen zu fordern. Die
Methode, nach Mehrheit zu entscheiden, bedeutet dann nur, daß ein kleiner und wo-
möglich an der zur Entscheidung stehenden Sache gar nicht interessierter Teil den
Ausschlag gibt, weil die großen, aber in entgegengesetzter Auffassung zu der anste-
henden Frage verharrenden Gruppen sich gegenseitig aufwiegen. Schon in der Verfas-
sungslehre schreibt Carl Schmitt: "Die Frage der Bekenntnisschule z. B. kann von
einer kleinen Mieterschutzpartei entschieden werden, deren Angehörige aus tak-
tischen Gründen für die eine oder andere der an der Bekenntnisschule interessierten
Parteien stimmen, eine Frage der Außen- oder Wirtschaftspolitik von einer Partei,
die vor allem an der Bekenntnisschule interessiert ist." 293 Wenn nicht eine volle
Gleichartigkeit aller Abstimmenden gegeben ist, ist also die Mehrheitsmethode, so
folgert Carl Schmitt, unsinnig, weil sie nur verhüllt, wer in Wahrheit die Entschei-
dung trifft. Man darf allerdings "nicht verkennen, daß es eine Art Demokratie und
namentlich parlamentarischer Demokratie gibt, die gerade ein Interesse daran hat,
daß gewisse Gegensätze latent bleiben und nicht zur Entscheidung kommen. Hier
kann das Verfahren der Mehrheitsfeststellung ein geeignetes und erwünschtes Mittel
werden, um politische Entscheidungen zu vermeiden oder zu suspendieren. Es kann
eben politisch klüger sein, sich nicht zu entscheiden und die angebliche Mehrheits-
entscheidung in solcher Weise zu benutzen. Dann würde der Satz ,Mehrheit ent-
scheidet' bereits zu den Arcana gewisser politischer Systeme gehören." 294
Der Zustand pluralistischer Zerreißung des Volkes in eine Mehrheit heterogener,
zur Selbstverabsolutierung drängender Machtorganisationen macht also nach Mei-
nung Carl Schmitts das Prinzip der gleichen Chance und mit ihm die Legitimität
und Funktionalität des ganzen Systems eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats
zur Fiktion. In der Wirklichkeit ergibt sich für die Ansicht Carl Schmitts der Zu-
stand, daß die jeweils in der Macht sitzende Gruppe "die Ausnützung aller legalen
Möglichkeiten und die Sicherung ihrer jeweiligen Machtpositionen, die Verwertung
aller staatlichen und verfassungsmäßigen Befugnisse in Gesetzgebung, Verwaltung,
Personalpolitik, Disziplinarrecht und Selbstverwaltung, mit allerbestem Gewissen
Legalität" nennt, "woraus sich dann von selbst ergibt, daß jede ernste Kritik oder
gar eine Gefährdung ihrer Situation ihr als Illegalität erscheint, als Umsturz und als
ein Verstoß gegen den Geist der Verfassung; während jede von solchen Regierungs-
methoden betroffene Gegenorganisation sich darauf beruft, daß die Verletzung der
verfassungsmäßig gleichen Chance den schlimmsten Verstoß gegen den Geist und
die Grundlagen einer demokratischen Verfassung bedeutet, womit sie den Vorwurf
der Illegalität und der Verfassungswidrigkeit ebenfalls mit allerbestem Gewissen
zurückgeben kann. Zwischen diesen beiden, in der Situation eines staatlichen Plura-
lismus fast automatisch funktionierenden, gegenseitigen Negationen wird die Ver-
fassung selbst zerrieben." 295

Die Aufläsung des Staats in den Pluralismus


Carl Schmitt faßt also die Wirklichkeit des parlamentarisch-demokratischen Par-
teienstaats in der organisierten Massengesellschaft als einen Zustand auf, in dem das
,., A. a. 0., S. 40.
'" Sdtmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 281.
'" A. a. 0., S. 282.
m Sdtmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 90 f.
Die Aufläsung des Staats in den Pluralismus 61

Prinzip der gleichen Chance nicht mehr gilt, sondern die Gegner sich gegenseitig für
illegal erklären und entweder überhaupt keine Mehrheitsbildungen zustande kom-
men, oder, wenn sie zustande kommen, dann durch sachfremde und unverantwort-
liche politische Geschäfte oder aber durch unversöhnliche Majorisierungen. Die Par-
teien benutzen "ihre Beteiligung an der staatlichen Willensbildung als Objekt von
Kompromißgeschäften mit anderen Parteien oder gar als Erpressungsmittel".296 Die
"rücksichtslose Ausnutzung" der Prämien auf legalen Machtbesitz wird "zu einem
selbstverständlichen Mittel parteipolitischer Machtbehauptung" .297 Im ganzen ergibt
.sich nach Auffassung Carl Schmitts ein chaotisches und anarchisches Durcheinander
von Pluralismus, Polykratie und Föderalismus. Der konkrete Verfassungszustand der
Weimarer Rebuplik erscheint als charakterisiert durch drei Phänomene, die durch
den gemeinsamen Gegensatz gegen jede geschlossene und durchgängige staatliche
Einheit untereinander verbunden sind. Das Deutsche Reich ist einerseits ein Bundes-
staat, besteht also aus einem Mit- und Nebeneinander einer Mehrheit von Staaten.
Anderseits ist es von einem Pluralismus fest organisierter sozialer Machtkomplexe
durchzogen, die "sowohl durch die verschiedenen Gebiete des staatlichen Lebens,
wie auch durch die territorialen Grenzen der Länder und die autonomen Gebiets-
körperschaften" hindurchgehen und sich "der staatlichen Willensbildung bemächti-
gen, ohne aufzuhören, nur soziale (nichtst!aatliche) Gebilde zu sein". 298 Schließlich
ist der konkrete Verfassungszustand des Reiches durch die Polykrauie einer Mehr-
heit rechtlich autonomer Träger der öffentlichen Wirtschaft bestimmt, "an deren
Selbständigkeit der staatliche Wille eine Grenze findet" ,299 die also aus dem Staat
herausgenommen und gegenüber seinem Willen verselbständigt sind. Die diese drei
Phänomene begründenden Kräfte und Handlungszusammenhänge wirken vielfältig
zu- und gegeneinander. Dabei kann, wie Carl Schmitt schreibt, immer eins "hinter
dem andern Deckung nehmen und trotzdem gleichzeitig in den Mißbräuchen des
andern seine eigene Rechtfertigung finden" .300
Als Gesamteindruck ergibt sich für die Sicht Carl Schmitts, daß das Parlament
nicht mehr das Mittel "zur Bildung eines überegoistischen, überparteilichen, staats-
politischen Willens" 301 ist. Sondern: "Infolge der Art, Zusammensetzung und Zahl
der Parteien, infolge der ... Umwandlung der Parteien in fest organisierte Größen
mit festem Verwaltungsapparat und festgebundener Klientel, und außerdem noch
durch die große Zahl der für eine Mehrheit notwendigen Parteien und Fraktionen
wird ... der Aufstieg vom egoi3tischen Partei- zum verantwortlichen Staats willen
immer wieder verhindert." :lO2 Es kommen dadurch "nur solche Regierungen zustande,
die infolge ihrer fraktion ellen Kompromißbildungen zu schwach und gehemmt sind,
um selbst zu regieren, andererseits aber immer noch soviel Macht- und Besitztrieb
haben, um zu verhindern, daß andere regieren".30J Die Institutionenordnung des
parlamentarischen Gesetzgebungsstaates "funktioniert also einfach nicht mehr, und
statt eines staatlichen Willens kommt nur eine nach allen Seiten schielende Addie-
rung von Augenblicks- und Sonderinteressen zustande" .304 Die staatliche Willens-
bildung wird im parlamentarischen System unter den Bedingungen der modernen
organisierten Massengesellschaft abhängig von "labile [n], von Fall zu Fall wech-
"6 A. a. 0., S. 87.
2.7 Schmitt, Legalität • .• (Anm. 34), S. 40.
2" Schmitt, Der Hüter . •. (Anm. 33), S. 71-
29. Ebda.
300 A. a. 0., S. 72.
301 A. a. 0., S. 88.
302 Ebda.
""3 Ebda.
'04 Ebda.
62 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

selnde [n] Parlamentsmehrheiten zahlreicher, in jeder Hinsicht heterogener Par-


teien ... Die Mehrheit ist immer nur eine Koalitionsmehrheit und nach den verschie-
denen Gebieten des politischen Kampfes - Außenpolitik, Wirtschaft~politik, Sozial-
politik, Kulturpolitik - ganz verschieden. Dieser parlamentarisch-demokratische Par-
teienstaat ist, mit einem Wort, 'ein labiler Koalitions-Parteien-Staat." 305 Die Miß-
stände dieses Zustandes zeigen sich in unberechenbaren Mehrheiten, Regierungsun-
fähigkeit, Unverantwortlichkeit der Regierungen infolge ihrer Kompromißbindun-
gen; einer Praxis von Partei- und Fraktionskompromissen, die auf Kosten Dritter
und der Allgemeinheit geschlossen werden und bei denen jede Partei sich "bezahlen
läßt" ;306 Behandlung aller öffentlichen Stellen als Pfründen, die unter die Parteigän-
ger verteilt werden. "Auch die Parteien, die mit aufrichtiger Staatsgesinnung das
Interesse des Ganzen über die Parteiziele stellen wollen, werden teils durch die
Rücksicht auf ihre Klientel und ihre Wähler, aber noch mehr durch den immanenten
Pluralismus eines solchen Systems gezwungen, entweder den fortwährenden Kom-
prornißhandel mitzutreiben oder aber bedeutungslos beiseite zu stehen, und finden
sich am Ende in der Lage jenes aus der Lafontaineschen Fabel bekannten Hundes,
der mit den besten Vorsätzen den Braten seines Herrn bewacht, aber dann, als er
andere Hunde darüber herfallen sieht, sich schließlich auch an dem Mahl be-
teiligt." 307
Die Auswirkung dieser aufgelösten und dis funktionellen Zustände auf die Staats-
und Verfassungsgesinnung bleibt nicht aus. Im gleichen Maße, wie sich der Staat in
ein pluralistisches Gebilde verwandelt, wird, so meint Carl Schmitt, die Treue gegen
den Staat und seine Verfassung durch die Treueansprüche der den Pluralismus tra-
genden Gebilde verdrängt. "So entsteht ein Pluralismus schließlich auch moralischer
Bindungen und Treueverpflichtungen ... , durch welche die pluralistische Auf teilung
immer stärker stabilisiert und die Bildung einer staatlichen Einheit immer mehr
gefährdet wird ..., ein Pluralismus der Legalitätsbegriffe, der den Respekt vor der
Verfassung zerstört und den Boden der Verfassung in ein unsicheres, von mehreren
Seiten umkämpftes Terrain verwandelt." 308
Theoretisch wäre es, wie Carl Schmitt zugesteht, vielleicht möglich, daß der parla-
mentarische Gesetzgebungsstaat der Weimarer Verfassung dem Ansturm seiner drei
außerordentlichen Gesetzgeber - dem plebiszitären Volk ratione supremitatis, der
qualifizierten Mehrheit ratione materiae und dem Reichspräsidenten ratione neces-
sitatis - widersteht. Denn jene Abweichungen von der Konsequenz des parlamentari-
schen Gesetzgebungsstaats "verlieren gleich einen großen Teil ihrer praktischen Be-
deutung, wenn das Parlament sich mit entschiedenem, einheitlichen Willen auf seine
Macht besinnt".309 Es könnte sowohl der materiell-rechtlichen Verfassungssicherungen
Herr werden, als auch des plebiszitären Gesetzgebungsverfahrens, als auch schließlich
der Notverordnungsgewalt aus Art. 48. "Dennoch ist das Legalitätssystem des par-
lamentarischen Gesetzgebungsstaats damit nicht wieder restituiert." 310 Eine solche
Restituierung verhindert der Pluralismus der sozialen Mächte, der den jeweiligen
Willen der jeweiligen Parlamentsmehrheit in einen Kompromiß heterogener Macht-
organisationen verwandelt hat.
Die pluralistischen Kräfte folgen ihrer eigenen Konsequenz, mit der die Legalität
des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats nicht verträglich ist. Die organisierten

'05Ebda.
300Ebda.
807 A. a. 0., S. 88 f.
308 A. a. 0., S. 90.

". Schmitt, Legalität . •• (Anm. 34), S. 89.


"0 A. a. 0., S. 90.
Schlußbemerkung 63

Träger des Pluralismus können den Gesetzgebungsstaat nicht tragen, sondern nur zer-
stören. Was sie davon zurückhält und den Schein einer staatlichen Einheit wahrt, ist
nach Darstellung earl Schmitts nur, daß sie "gern im Zwielicht eines Zwischenzu-
standes" bleiben, "der es ihnen erlaubt, bald als ,Staat' und bald als ,nur soziale
Größe' und ,bloße Partei' aufzutreten, alle Vorteile des Einflusses auf den staatlichen
Willen ohne die Verantwortlichkeit und das Risiko des Politischen zu genießen und
auf diese Weise a
deux mains zu spielen". 311 Sie versuchen also, "die Legalität des
jeweiligen Machtbesitzes, vor allem dessen politische Prämien und Mehrwerte, nach
Kräften auszunutzen",312 vermögen aber nicht, eine eigene Legitimität und Verfas-
sungsform hervorzubringen. Sie leben vielmehr "nur von Supplementen "313 einer
Legitimität, "da sie keine innere und eigene Autorität aufbringen".314 "Sie geben
kein Ermächtigungsgesetz, verlangen aber auch nicht Außerkraftsetzung der nach
Art. 48 Abs. 2 ergangenen Verordnungen, sondern ziehen ... den Zwischenzustand
vor. Ein pluralistischer Parteienstaat wird nicht aus Stärke und Kraft, sondern aus
Schwäche ,total'; er interveniert in alle Lebensgebiete, weil er die Ansprüche aller
Interessenten erfüllen muß. "315 earl Schmitt formuliert seine radikale Kritik mit
schonungsloser Schärfe: "In einem Staatswesen, das quantitativ, nach dem Umfang
und Sachgebiet seiner Interventionen ,total' und gleichzeitig als pluralistischer Par-
teienstaat zerteilt ist, stehen die Machtklumpen, die sich des politischen Einflusses
bemächtigen ... , sämtlich unter dem gleichen Zwang: den Augenblick ihrer Macht
auszunutzen, dem innerpolitischen Gegner zuvorzukommen und jede Art von Recht-
fertigung als Waffe des innerpolitischen Kampfes zu betrachten. Legalität und Legi-
timität werden dann taktische Instrumente, deren sich jeder bedient, wie es im Augen-
blick vorteilhaft ist, die er beiseite wirft, wenn sie sich gegen ihn selber richten, und
die einer dem andern fortwährend aus der Hand zu schlagen sucht. Weder die parla-
mentarische Legalität, noch die plebiszitäre Legitimität, noch irgendein anderes denk-
bares Rechtfertigungssystem kann eine solche Herabwürdigung zum technisch-funk-
tionalistischen Werkzeug überdauern. Auch die Verfassung löst sich in ihre wider-
sprechenden Bestandteile und Auslegungsmöglichkeiten auf, und keine normativisti-
sche Fiktion einer ,Einheit' wird es verhindern, daß jede kämpfende Gruppe sich
desjenigen Verfassungsstückes und Verfassungswortes bemächtigt, das ihr am besten
geeignet scheint, die Gegenpartei auch im Namen der Verfassung zu Boden zu schla-
gen. Legalität, Legitimität und Verfassung würden dann, statt den Bürgerkrieg zu
verhindern, nur zu seiner Verschärfung beitragen." 316

Schlußbemerkung
Das also ist das Bild, das earl Schmitt vom Zustand des parlamentarischen Gesetz-
gebungsstaats und des Verfassungsstaats in der gesellschaftlich-politischen und Verfas-
sungswirklichkeit insbesondere der Weimarer Republik entwirft. Es fällt auf, daß
die Darstellung den Eindruck eines hoffnungslosen Entartungszustandes erweckt, aus
dem es innerhalb des Systems einer parlamentarisch-parteienstaatlichen Demokratie
keinen Ausweg zu geben scheint. Parlament, Wahlen, Parteien, Regierung, Födera-
lismus, Selbstverwaltung, Verfassung, alle sind ihrer ursprünglichen Bestimmung ent-
fremdet und das ganze Legalitätssystem des Rechtsstaats in zahllose Widersprüche

311 A. a. 0 .. S. 91.
312 A. a. 0., S. 92.
313 A. ,I. 0., S. 95 .
• 1< Ebda.
315 A. a. 0., S. 95 f.
316 A. a. 0., S. 96 f.
64 Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie

verwickelt. Die Diagnose ist im einzelnen Argumentationszusammenhang nicht ohne


innere Logik. Und doch kommt das Ergebnis im ganzen einer Karikatur gleich, mit
allen Vorzügen und Fragwürdigkeiten der Karikatur. Das Bild der Wirklichkeit
wird verzeichnet. Einige Züge werden besonders stark hervorgehoben, andere werden
um der scharfen Typisierung willen weggelassen; beobachtbare Fakten werden mit
Hilfe logischer Explikation bloßer Denkmöglichkeiten bis in die Absurdität verlängert,
anderen, ebenfalls beobachtbaren Fakten wird die Hilfe logischer Spekulation auf
ihre Entwicklungsmöglichkeiten versagt, obschon sie einen noch unbekannten Sinn
zeigen könnte.
So wird das Bild der Wirklichkeit einseitig. Die Wirklichkeit ist noch zu erkennen,
aber ihr Abbild im betrachtenden Bewußtsein wird nur noch auf dem Umweg über
die Subjektivität des Betrachters verständlich. Die Darstellung, die von der Wirklich-
keit und ihren Tendenzen gegeben wird, ist nur noch evident, wenn der politisch
gestaltenwollende Wille berücksichtigt wird, der das Erkennen leitet und das Bewußt-
sein gliedert. Die Diagnose der Wirklichkeit kommt in der vorliegenden Gestalt
immer nur durch Radikalisierung zustande, und diese Radikalisierung folgt einer
bestimmten Richtung, die ein bestimmter politischer Wille angibt. Das gegebene Bild
der Wirklichkeit ist, vielleicht nicht der Absicht, jedenfalls aber der Wirkung nach,
eine zweck orientierte Darstellung zur Rechtfertigung bestimmter politischer Bestre-
bungen. Darin liegt der ideologische Charakter der sonst wie immer rationalen Dia-
gnose Carl Schmitts. Die Wirklichkeit erscheint als Entartungszustand nur am Maß-
stab von Postulaten, die einer historisch bereits überwundenen Entwicklungsstufe
entnommen wurden. Die Postulate der Legitimität und Funktionalität des parlamen-
tarischen Gesetzgebungsstaats wurden an der inzwischen vergangenen, aber zum Mo-
dell konstruierten Wirklichkeit der bürgerlichen Ges·ellschaft des 19. Jahrhunderts
abgelesen. Die Kritik bedient sich also falscher Maßstäbe, obwohl das Bewußtsein
der historischen Relativität dieser Maßstäbe und ebenso das Bewußtsein der Unmög-
lichkeit einer Rückkehr zu jenen vergangenen Verhältnissen durchaus lebendig sind.
So erscheint die Wirklichkeit als Zwischenzustand zwischen einem unwiederbring-
lichen Alten und einem radikal Neuen und wird außerdem mit Hilfe von Spekula-
tionen und logischen Explikationen bloßer Denkmöglichkeiten zu einem Entartungs-
zustand, und zwar hoffnungslosen Entartungszustand, verzeichnet.
Durch diese Darstellung aber wird die Konsequenz nahegelegt, daß man nicht bloß
nach einer doch aussichtslosen Reformation, sondern nach Möglichkeiten einer revo-
lutionären UmgestaltJUng des ganzen Systems zu suchen habe. Es drängt sich der Ein-
druck auf, daß das ideologisierte Bewußtsein bereits für entgegengesetzte politische
Gestaltungsmöglichkeiten optiert, die die bisherigen Wege verneinen. Von solcher
unkritischen Option her deformiert sich das kritische Bewußtsein der Wirklichkeit.
Die Möglichkeiten, an denen sich das praktische politische Verhalten orientieren
möchte und nach denen sich auch das Bewußtsein von Wirklichkeit und Möglichkeit
gliedert, liegen in einer Richtung, die den Möglichkeiten parlamentarisch-parteien-
staatlicher Demokravie, gleichviel welcher Gestalt, entgegengesetzt verläuft. Im letzten
Teil dieser Untersuchung wird gezeigt werden, was die Auflösung dieses Ineinanders
rationaler Reflexion und ideologischer Verzeichnung ist, was nämlich die konkrete
Gestalt der erstrebten politischen Ordnung ist, von der her die rationale Kritik Carl
Schmitts ihre Züge ideologischer Apologie erhält.
Es wird sich zeigen, auf welche Kräfte und legalen Gelegenheiten Carl Schmitt
setzt, um die zweifellosen Krisenerscheinungen der Republik zu überwinden. Und es
wird daran offenbar werden, auf welche politischen Zielvorstellungen seine Erörte-
rungen legaler Möglichkeiten eines Auswegs aus der Krise hinauslaufen. Es darf
bereits angedeutet werden, daß die Art, in der er den Hüter der Verfassung und das
Schlußbemerkung 65

Problem einer Wahrung der in der Verfassung niedergelegten Grundwertordnung


der Weimarer Republik konstruiert, hinausläuft auf die Eröffnung von Möglichkeiten
des übergangs zu einer neuen Staatsart, die weder parlamentarisch noch parteien-
staatlich ist und keinesfalls dem Versuch entspringt, die liberale Demokratie in einer
sozialen zur Erfüllung zu bringen. Die neue Staats art, für die earl Schmitt optiert
und die seinen Diagnosen und Interpretationen den letzten, verborgenen Maßstab
vorgibt, liegt vielmehr auf der Linie eines plebiszitär legitimierten Regierungs- und
Verwaltungs- und schließlich totalen Führerstaats.
Zweites Kapitel

BEURTEILUNG VERSCHIEDENER GEGENBEWEGUNGEN

Zunächst ist darzustellen, wie sich dem ideologisch bereits für die autoritäre Ordnung
optierenden Bewußtsein jene politisc..1.en Abhilfe- und Gegenbewegungen darstellen,
die sich angesichts des unzweifelhaften Krisenzustands der parlamentarischen Demo-
kratie zumal der Weimarer Republik herausbildeten. Carl Schmitt konstatiert im
Entartungszustand der Weimarer Republik verschiedene politische Gegenbewegungen
und Abhilfeversuche. Sie erscheinen ihm aber entweder völlig untauglich oder doch
nur als halbtauglich, so daß sie zwar die gänzliche Auflösung des Staates in den
Bürgerkrieg der Parteien noch aufhalten, ohne jedoch den Aufbau einer neuen, zeit-
entsprechenden Staatsform tragen zu können.

Die Verfassungs- und Staats gerichtsbarkeit


Als Gegenkraft gegen den Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie ins-
besondere der Weimarer Verfassung bot sich zunächst die Justiz an. Der Rechts- und
Verfassungsstaat als parlamentarischer Gesetzgebungsstaat war im Kampf gegen den
monarchistischen Obrigkeits- und Regierungsstaat entstanden und hatte die Drei ..
teilung der Gewalten in legislatives Parlament, exekutive Regierung und unabhängige
Justiz eingeführt. Geriet jetzt der auf das legislative Parlament aufgebaute Gesetz-
gebungsstaat in Krisen, so mochte es naheliegen, die Hilfe bei der unabhängigen
Justiz als dritter Gewalt zu suchen.
Man geht, meint Carl Schmitt, wenn man einen Hüter der Verfassung fordert,
immer von der Vorstellung einer bestimmten, aus einer bestimmten Richtung kom-
menden Gefahr aus. Ursprünglich, d. h. in der Situation, in der es zur Gründung der
konstirutionellen Staaten kam, richtete ~ich die Besorgnis vor allem gegen die Re-
gierung und Exekutive, die noch im wesentlichen monarchische Regierung war. So hatte
ursprünglich die Verfassung selbst die Funktion, vor MachtübergriHen und absoluti-
stischer Gewalt der Exekutive zu s·chützen. Als Hüter und Garant der Verfassung aber
trat der Gesetzgeber auf, die Volksvertretung, die der Regierung entgegentrat.
Inzwischen hat sich die Funktion der Verfassung gewandelt. "Heute dient die ver-
fassungs gesetzliche Regelung bereits zu einem großen Teil der Aufgabe, gewisse An-
gelegenheiten und Interessen, die sonst Sache der einfachen Gesetzgebung waren, vor
diesem Gesetzgeber, d. h. vor wechselnden Parlamentsmehrheiten, zu schützen. Die
verfassungsgesetzliche ,Verankerung' soll bestimmte Interessen, insbesondere Minder-
heitsinteressen, vor der jeweiligen Mehrheit ~ichern." 317 Die Besorgnis, die zur For-
derung eines Hüters der Verfassung führt, richtet sich also nicht mehr so sehr gegen
die Exekutive und Regierung, als vielmehr gegen den Gesetzgeber. Daher kann der
Gesetzgeber nicht mehr seLbst der Hüter der Verfaswng sein. Weil man aber "immer
noch unter dem Eindruck des jahrhundertelangen Verfassungs kampfes gegen die Re-

317 Schmitt, Der Hüter . .• (Anm. 33), S. 24.


Die Verfassungs- und Staatsgerichtsbarkeit 67

gierung stand", 318 suchte man den Hüter der Verfassung jetzt nicht umgekehrt in der
Sphäre der Exekutive, sondern bei der dritten Gewalt, der Justiz.
Aber die Justiz erscheint Carl Schmitt untauglich, als Gegenkraft gegen die Ent-
artung des Staats zu dienen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Carl Schmitt
geht, um diese Untauglichkeit der Justiz zu zeigen, von der These aus, daß das
Wesen richterlicher Tätigkeit in der Gesetzesanwendung liegt. Die besondere Stellung
des Richterturns im Rechtsstaat, seine Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit, hat ihren
Sinn nur darin, daß die Richter auf der Gegenseite an die Gesetze gebunden sind.
Ihre Funktion liegt in der Entscheidung von "Fällen" "auf Grund von Gesetzen",
die also die Voraussetzung dieser Funktion sind. "Zum Wesen der richterlichen Ent-
scheidung gehört es, daß sie inhaltlich aus der zugrunde liegenden Norm abgeleitet
werden kann, daß die den Richt~r bindende Norm wirkiich in meßbarer und be-
rechenbarer Weise bindet und nicht nur ermächtigt. Ein Spielraum unbestimmter Be-
griffe kann bleiben; wird die ,Norm' aber so weit und inhaltlos, daß eine tatbestand-
mäßige Subsumtion nicht mehr möglich ist, oder liegt nur eine Zuständigkeitsanwei-
sung vor, so entfällt im gleichen Maße mit der justiziablen Norm die Grundlage für
eine mögliche Justizförmigkeit." 319 Der Sinn der richterlichen Unabhängigkeit ist
nicht die Freistellung von politischer Verantwortung - auch nicht die Freistellung
von der überall sonst, eben durch die Gerichtsbarkeit gewährleisteten, justizförmigen
Verantwortung -, sondern die Freistellung für eine ausschließliche Bindung an die
inhaltlichen Gesetze. Die Unabhängigkeit der Justiz ist keine Ermächtigung zu einem
selbst nicht mehr kontrollierbaren Handeln. Wo Entscheidungen auf der Grundlage
von nichts als allg~meinen Zuständigkeitsanweisungen oder Ermächtigungen ergehen,
haben sie nicht richterlichen, sondern in der Sache politischen Charakter wie etwa die
Entscheidungen der Regierung, die für die Führung der Außenpolitik zuständig ist;
und sie haben politischen Charakter, auch wenn sie formell von einem Gericht ge-
troffen werden.
Nun enthält allerdings jede richterliche Entscheidung auch ein Moment reiner Ent-
scheidung,320 die aus dem Inhalt der zugrunde gelegten Norm nicht abzule:iten ist.
Dieses Moment einer vom Inhalt der Norm losgelösten reinen Entscheidung kommt
schon in jeder Subsumtion eines Tatbestandes unter die gesetzliche Regelung zutage,
wird deutlich jedenfalls dort, wo die Auseinandersetzung der Anwälte der Prozeß·
parteien den Tatbestand so oder so zu fassen versucht, so daß das richterliche Urteil
am Ende nach Würdigung der Argumente der Parteien die Auseinandersetzungen
über die Auffassung des Tatbestandes beendet und sich für diese, jene oder eine dritte
Auffassung entscheidet, die dann die Anwendung der entsprechenden Gesetze nach
sich zieht. Das Rechtsurteil ist eine Anwendung des Gesetzes auf einen davon betrof-
fenen Tatbestand, der also unter die Regelung des Gesetzes zu subsumieren ist. Wie
die Auseinandersetzung der Prozeßparteien zeigt, können dabei verschiedene Auf-
fassungen über den Tatbestand bestehen. Daraus ergibt sich, daß die vom Richter
gewählte Auffassung, die dann zur Anwendung des Gesetzes und zur überweisung
an die Vollstreckungs ins tanzen führt, selbst ein Moment reiner, aus dem Inhalt des
Gesetzes nicht notwendig ableitbarer Entscheidung enthält. Dieses Moment autorita-
tiver Zweifelsbeseitigung tritt allerdings zu dem wesentlichen Moment subsumieren-
der Normanwendung nur hinzu. Die Zweifel, mit denen es die Gerichtsbarkeit in
fast jedem Prozeß zu tun hat, betreffen in aller Regel immer nur die Auffassung des
Tatbestandes, nicht etwa den Inhalt der Gesetze. Der Inhalt der Gesetze ist klar und
318 A. a. 0., S. 25.
319 A. a. 0., S. 39.
320 Carl Schmitt hat diese Zusammenhänge sehr früh erkannt und herauszuarbeiten versucht, so in: Gesetz und
Urteil (Anm. 2).
68 Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen

eindeutig, die Frage ist im allgemeinen nur, was eigentlich der Tatbestand ist, der
dann die Anwendung dieses oder jenes Gesetzes nach sich zieht. Allerdings kann die
Justiz auch in die Verlegenheit kommen, daß der Inhalt der Gesetze unklar zu sein
scheint, während der Tatbestand eindeutig vorliegt, oder daß es für diesen Tatbestand
gar kein treffendes Gesetz gibt. Da sie in solchem Falle gleichwohl das Recht nicht
verweigern kann, befindet sich die Gerichtsbarkeit in einem Notstand. Sie kann dann
nicht umhin, selbst das Recht fortzubilden, durch Präzedenzentscheidungen die Ge-
setzeslücke auszufüllen oder den inhaltlich zweifelhaften Gesetzestext authentisch und
wiederum präzedenzwirksam zu interpretieren. Das Moment reiner Dezision tritt
hier noch offenbarer hervor. Die Justiz übernimmt in der Sache gesetzgeberische oder
quasigesetzgeberische Funktionen, indem sie Zweifel autoritativ beseitigt, Ent-
scheidungen zum Zwecke der Präzedenzwiirksamkeit trifft und mit ihren Urteils-
begründungen sich an die anderen Gerichte zur Herstellung ,eines einhelligen Rechts-
bnauchs wendet. Doch nimmt die Justiz solche quasi-gesetzgeberischen Funktionen
nur aus einem Notstand heraus und nur ,im Ausnahmefall wahr. Würden Zweifel
über den Inhalt des Gesetzes zur Regel, so würden die Grundlagen jeder gesetz,es-
gebundenen Justiz zerstört. Das Schwergewicht der richterlichen Tätigkeit bleibt also
wesensgemäß immer in der Sphäre der Gesetzesanwendung, wobei sich Zweifel und
ebenso das Geschäft der GesetzeSlinterpretation im wesentlichen nur auf die Auffassung
des Tatbestandes richnen, nicht aber auf den Inhalt der Gesetze.
Im Falle der sogenannten Verfassungs gerichtsbarkeit liegen nach Auffassung earl
Schmitts die Dinge aber anders. Es handelt sich hier entweder um Fälle, in denen ein
ordentliches Gesetz, das doch eigentliche Grundlage von richterlichen Prozeßentschei-
dun gen sein soll, in offenbarem und unzweifelhaftem Widerspruch zu verfassungs-
gesetzlichen Regelungen steht, oder um Fälle, in denen der Inhalt von Verfassungs-
gesetzen selbst unklar und zweifelhaft ist.
Handelt es sich um offenbare Widersprüche von Gesetzen und Verfassungsgesetzen,
so besitzt die ordentliche Justiz ein sog. materielles richterliches Prüfungsrecht. Dieses
darf sie, auch nach Meinung earl Schmitts, akzessorisch und incidenter bei Gelegen-
heit von ordentlichen Prozessen gebrauchen, indem sie der niederen Norm, dem ein-
fachen Gesetz, wegen des Vorrangs des höheren Verfassungs gesetzes die Anwendung
auf den gerichtlich zu behandelnden Tatbestand versagt. Dieses akzessorische Prü-
füngsrecht wird, wie earl Schmitt es ausdrückt, "diffus" gebraucht, d. h. von allen
jeweils auf den Widerspruch zwischen Gesetz und Verfassungsgesetz bei Gelegen-
heit ihrer Prozesse stoßenden Gerichtsbehörden. Das Prüfungs recht ist also nicht etwa
bei einer bestimmten, ausschließlich mit solchen Angelegenheiten befaßten Instanz
zentralisiert. Außerdem werden beim akzessorischen richterlichen Prüfungsrecht die
Gesetze nicht etwa unter den Gesichtspunkten allgemeiner Verfassungsprinzipien - die
die tatbestandsmäßig subsumierbare Regelung und richterlich anwendbare Konkre-
tisierung noch der Festlegung des ordentlichen Gesetzes überlassen - oder unter den
Gesichtspunkten allgemeiner Grundsätze richtigen Vernunft- oder Naturrechts kriti-
siert. "Das allgemeine (akzessorische) sog. materielle richterliche Prüfungsrecht konsti-
tuiert in Deutschland keinen Hüter der Verfassung" ,321 schreibt earl Schmitt. Die
Wahrnehmung dieses Prüfungsrechts resultiert also nicht so sehr darin, daß das dem
Verfassungsgesetz offenbar widersprechende einfache Gesetz für ungültig erklärt und
direkt aufgehoben wird, als vielmehr darin, daß es bloß nicht zur Anwendung ge-
bracht wird.
Wird nun aber in Fällen offenbaren Widerspruchs zwischen Gesetz und Verfas-
sungsgesetz die Prüfung bei einer einzelnen und besonderen Instanz zentralisiert, so

'" Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), 5.12.


Die Verfassungs- und Staats gerichtsbarkeit 69

wird allerdings die Frage akut, ob deren Tätigkeit noch Gerichtsbarkeit im normalen
Sinne ist. Es handelt sich zwar immer noch um eine von unabsetzbaren und unab-
hängigen Richtern besetzte Behörde, die gewiß auch verfahrenstechnisch wie ein
normales Gericht fungieren mag. Aber ihre Tätigkeit ist nicht mehr im sonstigen
Sinne Entscheidung von Fällen auf Grund von Gesetzen, nicht mehr Subsumtion von
Tatbeständen unter im wesentlichen inhaltlich klare, diese Tatbestände regelnde Ge-
setze. Zwar ist noch die Grundlage des Prozesses ein Gesetz, in diesem Fall ein Ver-
fassungsgesetz, aber der Gegenstand des Prozesses ist nicht mehr ein Fall, eine Tat
oder ein Sachverhalt, sondern selbst eine Norm, etwas zur Entscheidungsgrundlage
für normale Gerichte Bestimmtes. Carl Schmitt ist der Auffassung, daß die Entschei-
dung über Normen etwas dem Wesen richterlicher Tätigkeit nicht Entsprechendes ist.
Auch wenn der Widerspruch zwischen Gesetz und Verfassungsgesetz ganz klar und
unbestreitbar ist, ist bei solchem Prozeßgegenstand die Entscheidung nicht mehr
richterliche Entscheidung, weil sie keine "Subsumtion eines seinsmäßigen Sachverhalts
unter eine sollensmäßige Norm" 322 ist, sondern ein Vergleichen, Konfrontieren und
Für-ungültig-Erklären von Normen, d. h. von Entscheidungsgrundlagen selbst. Wenn
eine Norm besagt: Du sollst nicht töten!, so ist ein gerichtliches Urteil, das schuldig
spricht, weil sich diese Norm auf eine bestimmte darunter subsumierbare Tat anwen-
den läßt, etwas Grundverschiedenes von der Entscheidung zwischen zwei kollidieren-
den Normen, etwa der Norm: Du sollst nicht töten! und der anderen Norm: Du
sollst töten!, wobei zu entscheiden wäre, welche von beiden Normen nun gelten soll
und welche nicht.
Gleichviel aber, wie man über die Möglichkeit, Normen selbst zum Gegenstand
gerichtlicher, auf höheren Normen beruhender Entscheidungen zu machen, denkt
- und die Möglichkeit wird z. B. von Peter Schneider 323 bestritten -, die für das Pro-
blem der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Hütung der Verfassung durch die Justiz
interessanten Fälle sind nicht die, in denen ein Widerspruch zwischen Gesetz und
Verfassungsgesetz offensichtlich ist. Die interessanten Fälle sind vielmehr die, in denen
sich begründeter Zweifel auf den Inhalt der Verfassungsgesetze selbst richtet. Wird
in diesem Falle eine besondere Instanz ausschließlich mit der Behandlung solcher
Zweifelsfälle betraut, so ist höchst zweifelhaft, ob deren Tätigkeit in der Sache noch
Justiz sein kann. Denn nun tritt das Moment reiner Dezision in den Vordergrund
und wird gewissermaßen selbständig. Der wesentliche Zweck dieser Institution ist
nicht mehr richterliche Gesetzesanwendung, sondern "Iauthentische Interpretation". Die
Zweifel, über die hier zu entscheiden ist, betreffen nicht mehr vor allem die Auffas-
sung des Tatbestandes, sondern vor allem und wesentlich nur den Inhalt der Gesetze,
hier der Verfassungsgesetze. Das Interes,e richtet sich offensichtlich nicht mehr wesent-
lich auf Rechtsprechung durch Gesetzesanwendung, sondern auf Rechtsetzung selbst,
und zwar durch Beseitigung von Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten. Das In-
teresse richtet sich auf das, was sonst das Geschäft der Ge3etzgebung ist, nämlich
parteiliche Meinungsgegensätze über das, was Recht sein soll und was öffentlich zum
Zwecke der Anwendung in Verwaltung und Rechtsprechung geregelt werden soll, zu
beenden durch Gesetzgebung. Liegt also der Fall eines Gesetzes, dessen Verfassungs-
mäßigkeit bestritten wird, nicht offensichtlich, sondern kann man mit Grund darüber
streiten, so liegt, wie Carl Schmitt schreibt, auch keine offene Verfassung.sverletzung
vor, sondern "der Zweifel über den Inhalt einer Norm ist so begründet und dje
Norm in sich selbst in ihrem Inhalt so unklar, daß von einer Verletzung auch dann
nicht gesprochen werden kann, wenn das Gericht anderer Auffassung ist als der Ge-

322 A. a. 0., S. 44.


323 Schneider (Anm. 60), S. 175 H.
70 Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen

setzgeber oder die Regierung",324 deren Anordnungen mit dem zweifelhaften Ver-
fassungsgesetz in Widerspruch zu stehen scheinen. In solchem Fall aber ist für die
Funktion des entscheidenden Verfassungsgerichts klar, "daß die Entscheidung des
Gerichtshofes keinen anderen Sinn hat als den einer authentischen Interpretation".325
Das aber ist für Carl Schmitt "in der Sache Beseitigung einer Unklarheit über den In-
halt des Verfassungsgesetzes und daher Bestimmung des Gesetzesinhalts, demnach in
der Sache Gesetzlgebung, SlOg,ar Verfassungsgesetzgebung, und nicht }ustiz" .326
Gleichviel, "ob diese Instanz als Gerichtshof oder anders organisiert ist, ob sie im
justizförmigen Verfahren entscheidet oder nicht", 327 wenn es ihre spezifische Funktion
ist, Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden, so tritt das dezisionisti-
sche Element in voller Selbständigkeit hervor und nicht mehr bloß hinzu; "vielmehr
ist die Entscheidung als solche Sinn und Zweck des Ausspruchs [jener Instanz], und
ihr Wert liegt nicht in einer überwältigenden Argumentation, sondern in der autori-
tären Beseitigung des Zweifels" .328 Die Entscheidung hat also, so folgert Carl Schmitt,
eindeutig politischen Charakter. Am offenbarsten ist das für jene verfassungsgesetz-
lichen Einzelbestimmungen der Weimarer Verfassung, die "überhaupt keine Entschei-
dung [enthalten], auch keine Kompromißentscheidung, sondern nur mehrdeutige
Formeln, durch welche die Entscheidung hinausgeschoben und verschiedenartigen, oft
sogar widersprechenden Gesichtspunkten Rechnung getragen werden soll", 329 die in
der Sache also nur dilatorische Formelkompromisse sind wie z. B. die Regelungen
der Kirchen- und der Schulfrage. Carl Schmitt meint: "Bei solchen ,dilatorischen
Formelkompromissen' ist die Entscheidung über ,Zweifel und Meinungsverschieden-
heiten' in Wahrheit überhaupt erst die wirkliche Normierung ... Wenn hier ein Ge-
richtshof entscheidet, ist er offenbar Verfassungsgesetzgeber in hochpolitischer Funk-
tion." 330
Aber auch in anderen Fällen zeigt sich die hochpolitische Funktion eines Verfas-
sungsgerichtshofs. Etwa, wenn es sich nicht um Verfassungssätze handelt, die vom
Verfassungsgesetzgeber selbst mehrdeutig formuliert wurden, sondern um Fragen
verfassungsmäßiger Zuständigkeit, die ganz von der gegebenen politischen Sachlage
abhängen. Diesen Fall zeigte nach Darstellung earl Schmitts etwa die Situation in
Deutschland 1930.
Der Reichstag hatte die Außerkraftsetzung einiger Notverordnungen des Reichs-
präsidenten verlangt. Darauf hatte der Reichspräsident den Reichstag aufgelöst. Wäh-
renddessen hatte die Reichsregierung Brüning die aufgehobenen Notverordnungen
zum großen Teil wiederholt. Die Frage konnte also entstehen, ob dieses Verhalten
und die Anwendung des Notgewaltartikels 48 eine verfassungswidrige Umgehung
und Beseitigung der Gesetzgebungsbefugnis des Reichstags bedeutete. In der Sache
war die Frage sehr schwierig zu entscheiden. Denn die Regierung Brüning berief sich
auf die Mehrheits- und Handlungsunfähigkeit des Reichstags, um ihre Schritte zu
rechtfertigen, während von seiten zum al der Sozialdemokratie der Gegeneinwand er-
hoben wurde, die Regierung habe sich um eine regierungsfähige Mehrheit nicht be-
müht, obwohl sie zu erreichen gewesen wäre. Nun zeigt aber Carl Schmitt, daß über
diese Möglichkeit einer Linksmehrheit für die Regierung sogar unter den Sozialdemo-
kraten gegensätzliche Auffassungen bestanden. In einer also offenkundig sehr schwie-

324 Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 45.


325 Ebda.
32. Ebda.
327 Ebda.
328 A. a. 0., S. 46.
329 A. a. 0., 5.48.
330 Ebda.
Die Verfassungs- und Staatsgerichtsbarkeit 71

rigen Sachlage rein politischen Charakters wäre eine verfassungsgerichtliche Stellung-


nahme als gerichtliche Entscheidung gar nicht möglich gewesen bzw. hätte sie not-
wendig selbst einen rein politischen Charakter haben müssen. Nach der Reichsverfas-
sung waren, wie Carl Schmitt sagt, "je nach der Sachlage, die Reichsregierung, der
Reichspräsident in Verbindung mit dem gegenzeichnenden Reichskanzler oder der
Reichstag zur Entscheidung befugt",331 und zwar je nach der politischen Sachlage in
gleich verfassungsmäßiger Weise. Würde man in solchem Konfliktsfall nun "statt der
verfassungsmäßig zuständigen Stelle einen Staatsgerichtshof einsetzen, der über alle
sich erhebenden Zweifel und Meinungsverschiedenheiten entscheiden soll und der
von einer zu anderen Entschlüssen vielleicht nicht fähigen Reichtstagsmehrheit oder
sogar von einer Reichstagsminderheit angerufen werden könnte, so wäre dieser Staats-
gerichtshof eine politische Instanz neben dem Reichstag, dem Reichspräsidenten und
der Reichsregierung, und es wäre nichts anderes erreicht, als daß mit irgendwelchen
,Entscheidungsgründen' Regierungsakte unter dem Schein der Justizförmigkeit er-
gingen oder verboten würden". 332 Hier aber treten nun die sachlichen Grenzen jeder
Justiz in Erscheinung. "Die innere Logik jeder zu Ende gedachten Justizförmigkeit
führt unvermeidlich dahin, daß die echte richterliche Entscheidung erst post eventum
kommt." 333 Justiz ist also ihrem Wesen nach auf repressive und vindikative Funk-
tionen beschränkt. In solcher Funktion etwa tritt sie bei Hochverratsprozessen auf,
in denen der Verfassungsschutz sich offensichtlich "auf bereits abgeschlossene, ver-
gangene Tatbestände beschränkt", so daß er seinem Wesen nach "nur eine nachträg-
liche Korrektur" 334 darstellt. In dieser Gebundenheit an repressive und vindikative
Funktionen aber liegt es nach Carl Schmitt auch begründet, daß die Justizför-
migkeit, wo sie für politische Entscheidungen gewählt wird, unvermeidlich eine läh-
mende Wirkung hat.
Im Falle des Instituts der Ministeranklage führt das geradezu zu einer Umkehrung
des politischen Wertes der Einrichtung. Wie schon bei Hochverratsprozessen, in denen
man "auch in dem konsequenten Rechtsstaat" 335 sidl gezwungen sieht, dem poli-
tischen Charakter des Deliktes, der immerhin ganz offenkundig liegen mag, dadurch
Rechnung zu tragen, "daß Abweichungen von der sonstigen strafgerichtlichen Zu-
ständigkeit eingeführt" 336 werden, wird auch im Falle der Ministeranklage dem be-
sonderen politischen Charakter des Prozesses dadurch Rechnung getragen, daß man
einen besonderen Staatsgerichtshoi als einzige Instanz oder eine sich zum Staats-
gerichtshof konstituierende politische Versammlung vorsieht. "Aber auch bei größter
Rücksicht auf die Besonderheiten politischer Justiz bleibt die politisch lähmende Wir-
kung der Justizförmigkeit unvermeidlich." :;37 Die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts
haben nach Darstellung Carl Schmitts gezeigt, daß sich die politische Funktion der
Ministeranklage geradezu in das Gegenteil ihres Sinnes umkehrt. So hatte in den
deutschen konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts "die justizförmige Mini-
sterverantwortlichkeit gerade den politischen Sinn, eine politische Verantwortlichkeit
des Ministers zu verhindern und die ganze ,VeranuwortLichkeit' politisch möglichst un-
smädlich zu madlen. Die J ustizförmigkeit war das sichere Mittel der politischen
Wirkungslosigkeit." 338

", A. a. 0., S. 31.


332 Ebda.
333 A. a. 0., S. 32.
334 A. a. 0., S. 27.
335 A. a. 0., S. 26.
336 Ebda.

337 A. a. 0., S. 27 f.
338 A. a. 0., S. 28.
72 Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen

Könnte eine Justiz als Hüter der Verfassung also schon in allen klaren Fällen nur
eine nachträglich korrigierende, repressive und vindikative Funktion ausüben, so
könnte sie in den eigentlich interessanten Fällen, wo die Sachlage aus faktis·chen politi-
schen Gründen oder wegen der notwendigen Weite jeder geschriebenen Verfassung un-
klar und zweifelhaft liegt, keine eigentlich r:ichterliche, sondern nur eine selbst höchst
politische funktion ausüben. Kommt es in solchen Fällen gerade darauf an, den Ein-
tritt bestimmter Tatbestände zu verhüten, soll also der Verfassungsschutz nicht bloß
repressiv und vindikativ sein, wozu ein Gericht bei vollzogenem Verfassungs bruch
und gar Staatsstreich vielleicht gar keine Möglichkeit und Gewalt mehr hat, soll der
Verfassungsschutz vielmehr präventiv sein, so muß der Gerichtsbarkeit, die ihrem
Wesen nach eigentlich nur post eventum in Aktion treten kann, die Möglichkeit einst-
wciliger Verfügungen zugestanden werden. Dadurch kommt aber in politisch so
brisanten Fällen, wie es Verfassungs konflikte nun einmal sind, wie Carl Schmitt
schreibt, "der Richter in die Lage, politische Maßnahmen zu treffen oder solche zu
verhindern und in einer Weise politisch aktiv zu werden, die ihn zu einem mächtigen
Faktor der staatlichen Innen- und gegebenenfalls sogar Außenpolitik macht". 339
Damit aber tritt die zum Hüter der Verfassung bestimmte Justiz in eine Situation
ein, die die Frage ihrer eigenen politischen Verantwortlichkeit aufwirft. Die verfas-
sungsmäßig gewährleistete Unabhängigkeit des Richterturns hat ihre Grundlagen in
der gleichzeitigen Gesetzesgebundenheit. Hier aber, bei solchen Verfassungskonflik-
ten, handelt es sich offensichtlich um nach klaren Gesetzen oder Verfassungsgesetzen
nicht eindeutig entscheidbare Angelegenheiten. Die Entscheidung erhält also selbst
politischen Charakter und wird zu Gesetzgebung oder sogar Verfassungsgesetzgebung
und Souveränitätsakt. In einer solchen Situation kann den Richter "seine richter-
liche Unabhängigkeit ... vor der politischen Verantwortung nicht mehr schützen,
wenn überhaupt noch eine politische Verantwortlichkeit bestehen soll. Die richter-
liche Unabhängigkeit verliert ihre verfassungsrechtliche Grundlage in dem gleichen
Maße, in welchem sie sich vom zweifellosen Inhalt der verfassungsgesetzlichen Be-
stimmungen entfernt", 340 d. h. in gleichem Maße wie die Fälle, für die das Richter-
turn bemüht wird, uneindeutig und die geforderten Entscheidungen selbst politisch,
der selbständigen Gesetzgebung oder sogar Verfassungsgesetzgebung oder Souveräni-
tätsakten vergleichbar werden. In den für das Problem der Verfassungswahrung
eigentlich interessanten, weil nach dem Verfassungswortlaut oder nach der faktischen
politischen Lage - in einer politisch höchst auswirkungsreichen Weise - unklaren Fäl-
len zeigt sich für Carl Schmitt "das Mißverhältnis zwischen der richterlichen Unab-
hängigkeit und ihrer Voraussetzung der strengen Bindung an ein Gesetz, das inhalt-
liche Bindungen in sich enthält" .341 Es wird also wiederum zu einer rein politischen
Frage, ob man die unabhängige Stellung des Richterturns benutzen soll, um die wich-
tigsten politischen Entscheidungen, verfassungspolitische Entscheidungen, treffen zu
lassen. Nach Auffassung Carl Schmitts bringt solche Expansion der Justiz auf eine
nicht mehr justitiable, weil bereits politische Materie die Justiz in einen Selbstkon-
flikt und bewirkt "nicht etwa eine Juridifizierung der Politik, sondern eine Politi-
sierung der Justiz",342 die sich mit ihrer in der strikten Gesetzesgebundenheit begrün-
deten politischen Unverantwortlichkeit und Unkontrollierbarkeit nicht vereinbart.
Die Tendenz, die Justiz zum Hüter der Verfassung zu machen, resultiert nach Mei-
nung Carl Schmitts im wesentlichen nur aus dem Bedürfnis, eine unabhängige Instanz
zum Hüter der Verfassung zu machen. Das ist nach Auffassung Carl Schmitts inso-
A. a. 0.,
339 S. 32.
A. a. 0.,
840 S. 32 f.
341 A. a. 0" S. 33.
'" A. a. 0., S. 22.
Die Verfassungs- und Staatsgerichtsbarkeit 73

fern begründet, als "Unabhängigkeit" die "fundamentale Voraussetzung" 343 für


den Hüter der Verfassung ist. Das Richterturn also bietet sich für diese Funktion an,
weil es verfassungsgemäß erstens als Richterturn und zweitens als Beamtenturn in
besonderer Weise unabhängig ist. Man erstrebt zum Schutze der Verfassung gegen
die pluralistischen parteipolitischen Kräfte begreiflicherweise "eine unabhängige und
neutrale Instanz und möchte den richterlichen Charakter nur als sicherstes und deut-
lichstes Mittel einer verfassungsgesetzlich garantierten Unabhängigkeit benutzen".3 44
Nun muß der Hüter der Verfassung "allerdings unabhängig und parteipolitisch
neutral sein. Aber man mißbraucht die Begriffe von Justizförmigkeit und Gerichts-
barkeit wie auch die institutionelle Garantie des deutschen Berufsbeamtenturns, wenn
man in allen Fällen, in denen aus praktischen Gründen eine Unabhängigkeit und
Neutralität zweckmäßig oder notwendig erscheint, gleich ein mit berufsbeamteten
Juristen besetztes Gericht und eine Justizförmigkeit einführen will. Die Justiz sowohl
wie das Berufsbeamtenturn werden in einer unerträglichen Weise belastet, wenn auf
sie alle die politischen Aufgaben und Entscheidungen gehäuft werden, für die eine
Unabhängigkeit und parteipolitische Neutralität erwünscht ist." 345 Außerdem wäre
es auch vom "demokratischen Standpunkt aus ... kaum möglich, einer Aristokratie
der Robe solche Funktionen zu übertragen", 346 wie sie die hochpolitischen Tätig-
keiten einer authentischen Verfassungsinterpretation und also in der Sache Verfas-
sungsgesetzgebung nun einmal darstellen.
Im übrigen aber sieht Carl Schmitt in dem Versuch, den Hüter der Verfassung in
einer Staats- oder Verfassungsgerichtsbarkeit zu konstruieren, nur den "Ausdruck
der Tendenz, die Verfassung in einen Verfassungsvertrag (Komprorniß) zu verwan-
deln".347 Denn was als Aufgabe des Verfassungsgerichrshofs, als Verfassungsstreitig-
keit und als vor dem Verfassungsgericht prozeßfähige Partei angesehen wird, berührt
das Wesen der Verfassung selbst. Soweit der Verfassungsgerichtshof eine bundes-
staatlich-föderalistische Einrichtung ist, nämlich zur Entscheidung von Streitigkeiten
zwischen den Ländern oder sogar auch zur Entscheidung von Verfassungsstreitig-
keiten innerhalb eines Landes, weil diese die Homogenität und allgemeine Befriedung
des Bundes selbst gefährden können, soweit ist der Verfassungsgerichtshof gerechtfer-
tigt und verfügt er über klare Gegenstände und klare Begriffe der Prozeßpartei-
fähigkeit. Denn als Bundesverfassung enthält die Verfassung vertrags artige Elemente.
Verfassungsstreitigkeiten als mögliche Gegenstände vor einem Staats- oder Verfas-
sungsgerichtshof wären danach eindeutig Streitigkeiten über den Inhalt des Bundes-
vertrages; und parteifähig wären die Partner dieses Bundesvertrages. Aber um solche
Fälle handelt es sich gar nicht, wo nach dem Hüter der Verfassung gefragt wird,
oder handelt es sich jedenfalls nur in zweiter Linie.
In jedem Falle aber führt nach Meinung Carl Schmitts unter den gegenwärtigen
Bedingungen einer organisierten Massengesellschaft, die vom Pluralismus beherrscht
ist, Verfassungsgerichtsbarkeit zur Auflösung der Verfassung in den bloßen Vertrag
der Parteien und Verbände. Der Staat wird dann nicht mehr als "eine in sich ge-
schlossene (sei es durch Herrschaft eines Monarchen, sei es durch Homogenität des
in sich einheitlichen Volkes) bewirkte Einheit aufgefaßt".348 Art und Form der poli-
tischen Existenz sind dann vielmehr durch dualistische oder pluralistische Vereinba-
rungen und Verträge bestimmt: "So bef\Uhte der mittelalterliche Ständestaat auf Ver-

'43 A. a. 0., S. 150.


344 A. a. 0., S. 153.
'" A. a. 0., S. 155.
'" A. a. 0., S. 156.
347 A. a. 0., S. 60.
'48 Ebela.
74 Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen

trägen mannigfacher Art, auf Vereinbarungen, Abmachungen, Kapitulationen, Kom-


promissen, Rezessen, Stabilimenta, Verständnissen, kurz, auf einem System gegen-
seitiger Verträge mit vertragsmäßig erworbenen Rechten und mit den typischen exi-
stentiellen Vorbehalten, nötigenfalls des Widerstandsrechts, die nun einmal zu dieser
Art von Verträgen gehören." 349 Im 19. Jahrhundert sah man die Verfassung für
einen Vertrag zwischen Fürst und Volk, König und Kammern, Regierung und Volks-
vertretung an. Verfassungsstreitigkeiten waren bei solchen Vorstellungen vor allem
Streitigkeiten zwischen Regierung und Parlament über ihre gegenseitigen Rechte.
Ahnlich wie beim völkerrechtlichen Vertrag wird bei der Vorstellung solcher Ver-
fassungsverträge "die zweifelhafte oder streitige Angelegenheit zunächst Gegenstand
von Verhandlungen ..., und die Zuständigkeit des Gerichts [beruht] auf der Unter-
werfung der Parteien",350 und nur darauf.
Auf vertragliche Vorstellungen laufen aber vor allem auch die pluralistischen Ten-
denzen hinaus, die die heutigen Verfassungszustände beherrschen. Die Parteien und
Verbände, die sich der staatlichen Willens bildung und der öffentlichen Machtpositio-
nen bemächtigen, betrachten und behandeln die staatliche Einheit mitsamt ihrer Ver-
fassung nur noch als Kompromißobjekt und als Kompromißprodukt. So wird die
Weimarer Verfassung als ein Komprorniß aufgefaßt, etwa als Klassenfrieden oder
wenigstens als Waffenstillstand zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, als Reli-
gionsfrieden zwischen Katholiken und Protestanten, Christen und Atheisten, als
Komprorniß auch in einzelnen Fragen wie im Schulkompromiß zwischen Simultan-
und Konfessionsschule, öffentlicher Schule und Elternrecht. In jedem Fall erheben
nach Darstellung Carl Schmitts die den Pluralismus tragenden Mächte Anspruch auf
die Verfassung selbst und "machen Rechte an der Staatsgewalt selbst geltend, weil sie
sich darauf berufen können, die Träger des Kompromisses, d. h. die Kontrahenten
des Vertrages zu sein, durch den sowohl die Verfassung wie alle weitere staatliche
Willensbildung zustande kommt".351 So werden ihre Differenzen völkerrechtlichen
Streitigkeiten immer ähnlicher, und die staatliche Einheit wird in eine Menge von
Vorbehalten eigner Rechte aufgelöst.
Es fehlte nur noch, meint earl Schmitt, daß man die "Verwandtschaft des heutigen
Pluralismus mit dem mittelalterlichen Feudal- und Ständestaat und seinen wohl-
erworbenen Rechten so weit triebe, daß man den Machtbesitz sogar noch als erbliches
Recht zu garantieren versuchte"; 352 macht sich doch schon die Auffassung breit, es
handele sich bei öffentlich-rechtlichen Befugnissen und verfassungsmäßigen Zuständig-
keiten um Rechte, die nach Analogie des Zivilprozesses als subjektive Rechte ange-
sehen und behandelt werden könnten, während doch bisher alle Theorie des Staats-
und öffentlichen Rechtes davon ausging, ,,<daß es kein Recht an der Staatsgewalt und
für rhre Ausübung kein Recht am Amt gibt und <daß <der Inhaber einer öffentlich-
rechtlichen Befugnis oder Zuständigkeit keineswegs darüber verfügen kann wie über
ein ihm zustehendes subjektives Recht, wohingegen die Singularität, Abnormität, Un-
zeitgemäßheit einer Monarchie gerade darin erblickt wurde, daß der Monarch ein
Recht am Amt und seiner staatlichen Befugnis hat, was sonst im modernen Staat
angeblich ganz undenkbar ist". 353
Der Versuch, den Hüter der Verfassung in einem Staats- oder Verfassungs gerichts-
hof zu konstruieren, entspringt also nach Deutung Carl Schmitts nur der Tendenz,
die Einheit des Staates und seine Verfassung in pluralistische Gebilde bloßer Waffen-
.49 A. a. 0., S. 60 f.
350 A. a. 0., 5. 62.
351A. a. 0., 5.64.
352A. a. 0., S. 69.
'" A. a. 0., S. 67.
Der Gedanke der Wirtscha/tsver/assung 75

stillstandsverträge zu verwandeln, in "ein System vertraglich erworbener Rechte,


deren Einhaltung die interessierten Gruppen und Organisationen vom Staat durch
einen Prozeß erzwingen können" .354 Die Anerkennung der Parteifähigkeit verschie-
denster sozialer Gruppen vor dem Staats- und Verwaltungs gerichtshof und die Be-
handlung verfassungsmäßiger Zuständigkeiten als subjektiver öffentlicher Rechte
würde also "nur die pluralistische Auflösung des Staates sanktionieren".355 "Die Ver-
fassung würde aufhören, als eine politische Entscheidung des in sich einheitlichen,
ganzen Volkes behandelt zu werden; die sogenannten Staatsorgane, d. h. die Inhaber
der staatlichen Machtbefugnisse, könnten ihre Machtbefugnisse und Zuständigkeiten
wie subjektive Rechte ansehen, die sie für die sozialen Organisationen, als deren
Beauftragte sie zu ,Staatsorganen' geworden sind, ausüben und gegen feindliche
Organisationen nötigenfalls auch im Prozeßwege einklagen. Die staatliche Willens-
bildung würde im ganzen und in allen wichtigen Einzelheiten ein Komprorniß, dessen
Partner - die den pluralistischen Staat bildenden sozialen Machtträger - je nach Lage
der Sache bald durch die von ihnen bestellten Staatsorgane subjektive Rechte am
staatlichen Machtbesitz geltend machten, bald aber, wenn es sich darum handelt, dem
politischen Risiko zu entgehen, sich darauf besännen, daß sie ,formell' und ,staats-
rechtlich' überhaupt nicht vorhanden sind." 356
Aus allen diesen Gründen ist nach Meinung Carl Schmitts die Verfassungsgerichts-
barkeit oder Staatsgerichtsbarkeit das Gegenteil eines Hüters der Verfassung. Sie
würde nicht der Neugewinnung staatlicher Geschlossenheit gegen den Pluralismus der
eigenmächtigen Parteien und Verbände, sondern der Sanktionierung dieses Pluralis-
mus dienen. Die Gegenkräfte gegen die Entartung des Staates müssen mithin anders-
wo gesucht werden. Die Justiz ist untauglich zur Wahrnehmung solcher Funktionen.

Der Gedanke der Wirtschaftsverfassung


Carl Schmitt stellt nun weitere Gegenbewegungen gegen den pluralistischen Ent-
artungszustand der Weimarer Republik fest. Er würdigt sie einer unterschiedlichen
Bewertung, die jedoch immer darauf hinausläuft, daß sie untauglich oder bloß halb-
tauglich, jedenfalls nicht geeignet seien, einen dauernden Ausweg zu bieten. Wieder
ist zu erkennen, daß Carl Schmitts Kritik ihre Maßstäbe aus der Option für ein ganz
anderes .md entgegengesetztes politisd1es System nimmt. Die Darstellung der kon-
statierbaren Gegenkräfte gegen den Pluralismus arbeitet daher wiederum mit dem
Mittel der Spekulation auf bloße Denkmöglichkeiten, einer Spekulation, die sich
von unentkräftbarem Mißtrauen leiten läßt und dadurch dem entworfenen Bild der
Wirklichkeit die radikalen Züge gibt, die es der großen, von vornherein mitgebrach-
ten weltanschaulichen Alternative zwismen Freiheit = Anarchie und Ordnung =
Zwangsautorität einordnet.
Da die Probleme des PluraEsmus und der Polykratie sich vor allem aus der engen
Verflechtung des Staates in wirtschaftliche Probleme ergeben, könnte eine Abhilfe
der bestehenden Mißstände darin gesucht werden, daß man dem Staat eine beson-
dere Wirtschafts verfassung zu geben sucht. Denn die bestehende Verfassung ist nach
dem Vorbild der klassischen parlamentarischen Gesetzgebungsstaaten, herstammend
aus der libcralen Konkurrcnzgcscllschaft, eine rein politische Verfassung. "Für die
Organisation und den politischen Aufbau des Staates werden nicht wirtschaftliche
Gebilde und Größen als solche verwandt (z. B. Betrieb, Gewerkschaft, Wirtschafts-
verband, Wirtschaftskammern oder andere Interessenvertretungen), und der einzelne
354 A. a. 0., S. 54.
355 A. a. 0., S. 68.
356 A. a. 0., S. 70.
76 Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen

Staatsbürger hat seine Stellung und staatsbürgerlichen Rechte nicht in seiner Eigen-
schaft als Wirtschafts subjekt, etwa als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, Produzent
oder Steuerzahler, oder irgendwie auf Grund einer ökonomischen Qualität oder
Leistung; er ist für eine solche Staatsverfassung immer nur citoyen und nicht pro-
ducteur." 357 Für das System der politischen Willensbildung ist die Form der Kopf-
zahldemokratie, nicht aber die Form einer wirtschaftsständischen Verfassung gewählt.
Auch der Verfassungs artikel über den Reichswirtschaftsrat, der nie zur vollen Aus-
führung gekommen ist und der bezeichnenderweise nie über die Organisation eines
wesentlich auf bloße Gutachterfunktionen beschränkten Expertengremiums hinaus-
geführt hat, kann nach Auffassung earl Schmitts keinen Anknüpfungspunkt für eine
Wirtschaftsverfassung bieten, da dies eine mit der gegebenen politischen Verfassung
unvereinbare und zu ihr widersprüchliche Konstruktion wäre, durch die die Reichs-
verfassung zu einem "Gebilde von phantastischer Monstrosität" 358 würde. Immerhin
ergibt sich aber in den Augen earl Schmitts "eine offensichtliche Diskrepanz: ein
Wirtschaftsstaat, aber keine Wirtschaftsverfassung" .359
earl Schmitt hält eine Wirtschaftsverfassung aus verschiedenen Gründen für keine
brauchbare Abhilfe gegen die pluralistischen Tendenzen. Sie würde, so meint er, viel-
leicht "auf den ersten Blick den Vorteil der Ehrlichkeit und der Anpassung an die
Realität" 360 bieten. In Wahrheit aber würde sie im Gegenteil nur gefährlich werden.
Sie ergäbe nicht nur praktische Schwierigkeiten, da eine Unterscheidung und Bewer-
tung der verschiedenen Berufsgruppen und Wirtschaftszweige ebenso wie eine Ver-
teilung der politischen Macht und jede Stimmenberechnung auf der Basis wirtschaft-
licher Bedeutung schwer durchzuführen sind. Vor allem erweckt sie nach earl Schmitt
grundsätzliche Bedenken. Der Ausbau einer Wirtschaftsverfassung würde nämlich
"die Einheit des staatlichen Willens nicht stärken, sondern nur gefährden; die wirt-
schaftlichen und sozialen Gegensätze würden nicht gelöst und aufgehoben, sondern
träten offener und rücksichtsloser hervor, weil die kämpfenden Gruppen nicht mehr
gezwungen wären, den Umweg über allgemeine Volkswahlen und eine Volksver-
tretung zu machen" .361 Wirtschaftsverfassungen sind daher auch nur in solchen Län-
dern eingeführt worden, die wie das kommunistische Rußland oder das faschistische
Italien Ein-Parteien-Staaten sind und die Wirtschaftsverfassung nicht zur Selbstver-
waltung der Wirtschaft und der freien Wirtschaftsgesellschaft, sondern im Gegenteil
als Instrument zu ihrer Unterwerfung unter den von der straff zentralisierten Par-
teiorganisation dominierten Staat gebrauchen.

Die Vorstellung wirtschaftlicher Inkompatibilitäten


Auch der andere Weg, der aus den organisierten Auseinandersetzungen der Wirt-
schaftsgesellschaft folgenden Pluralisierung des Staates abzuhelfen, indem man den
Staat entschlossen entökonomisiert, ist nach Meinung earl Schmitts ungangbar.
Man würde dann etwa versuchen, durch Einführung von strengen Inkompatibilitä-
ten die politischen Parteien wieder "in unabhängige, nach freien Meinungen orien-
tierte, auf freier Werbung beruhende Gebilde" 362 zurückzuverwandeln, vor allem
den einzelnen Abgeordneten wieder unabhängig von den neufeudalständischen Bin-
dungen zu machen, in die er im pluralistischen System geraten ist. Man würde etwa

357 A. a. 0., S. 97.


'" Ebda.
359 A. a. 0., S. 98.
360 A. a. 0., S. 99 .
• 61 A. a. 0., S. 99 f.
." A. a. 0., S. 99.
Der Halt an den Resten des Beamtenstaats 77

spezielle wirtschaftliche Inkompatibilitäten einführen, die das parlamentarische Man-


dat mit bestimmten wirtschaftlichen Berufen oder Stellungen für unvereinbar erklä-
ren, etwa mit der Stellung "eines Sydikus, Verbands- oder Partei sekretärs, Auf-
sichtsratsmitgliedes, Bankiers, Staatslieferanten".363 Das könnte, so meint earl
Schmitt, vielleicht den Forderungen der moralischen Sauberkeit des staatlichen Lebens
eher entsprechen, würde aber gleichwohl untauglich und unwirksam sein. Denn es
würde die gegebene Verbindung von Staats- und Wirtschaftsleben nicht beseitigen
können. "Die Massen der heutigen Wähler werden sich wahrscheinlich immer nach
wirtschaftlichen Interessen gruppieren, und das läßt sich durch kein Gesetz wegdekre-
tieren; die Einführung von Inkompatibilitäten für bestimmte wirtschaftliche Berufe
und Stellungen würde bei unseren verwickelten wirtschaftlichen Verhältnissen eine
Ungleichheit und Ungerechtigkeit gegenüber anderen, ebenfalls wirtschaftlich deter-
minierten Stellungen und Berufen bedeuten; den mittelbaren Einwirkungen sozialer
und wirtschaftlicher Mächte aber stehen so viele gesetzgeberisch nicht faßbare Mög-
lichkeiten offen, daß auf diese Weise nur ein neues System von Verschleierungen
entstände, nicht aber die Gesamtstruktur des staatlichen Lebens geändert würde." 364

Der Halt an den Resten des Beamtenstaats


earl Schmitt konstatiert andere Kräfte und Gegenwirkungen gegen die Methoden
des labilen Koalitionsparteienstaates, die er durch diesen Gegensatz als "Versuch
eines parteipolitisch neutralen Staats" 365 charakterisiert. Die Existenz solcher neu-
tralen, unparteiischen und überparteiischen Kräfte ist nach Meinung earl Schmitts
unerläßlich, wenn es überhaupt einen Staat geben soll. Wenn die verfassungsmäßigen
Instanzen auf Grund der Pluralisierung der Kräfte zu keiner Willens bildung fähig
sind, so wandert die politische Substanz ab, und die List der Idee sucht sich ein an-
deres Feld. "Andere, seien es legale, seien es apokryphe Mächte, übernehmen frei-
willig oder notgedrungen, bewußt oder halbbewußt die Rolle des Staates und regie-
ren sozusagen unter der Hand." 366
Vor allem kommt hier für earl Schmitt das Beamtenturn in Betracht, und zwar
das Reichsbeamtenturn, das vom unabhängigen Reichspräsidenten ernannt wird. Das
Beamtenturn der Länder ist entgegen den verfassungsgesetzlichen Verboten, wie earl
Schmitt meint, zu guten Teilen bereits Beute- und Kompromißobjekt der Parteien
geworden, die die Beamtenstellen unter ihre Parteigänger verteilen. Aber selbst hier
vermag das Beamtentum ein beachtliches Gegengewicht unparteiischer Sachlichkeit
und Objektivität des Staates zu bieten, weil in ihm immer noch die alten Tradi-
tionen und Tugenden wirksam sind und die verfassungsmäßigen Garantien und ihre
lebenslängliche Anstellung eine gewisse Unabhängigkeit auch gegen die Parteien be-
wirken. Durch "Qualitäten wie Unbestechlichkeit, Trennung von der Welt des Geld-
und Gewinnstrebens, Bildung, Pflichtgefühl, Treue, auch gewisse, freilich verblaßte
Tendenzen zu einer Kooptation aus sich selbst" 367 besitzt das Beamtenturn als
stabilisierter, mit der Wahrnehmung öffentlicher Interessen betrauter Berufsstand
sogar in sich Potenzen "einer echten Autorität und Legitimität schaffenden Elite im
staatssoziologischen Sinne des Wortes".368 Das Beamtenturn des 19. Jahrhunderts in
Deutschland erfüllte nach Meinung earl Schmitts in gewisser Weise die "Kennzeichen

'" Ebda .
•" Ebda.
'" A. a. 0., S. 101.
366 Ebda.
367 Schmitt, Legalität. .. (Anm. 34), S. 17.

36' Ebda.
78 Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen

emer staatstragenden politischen Elite", nämlich "Stabilität, Qualität und Koop-


tation".369
Das deutsche Heer und Beamtentum hatten in den meisten deutschen Staaten und
insbesondere in dem führenden Staate Preußen "ein Jahrhundert lang selbst die
Funktion der staa tstr.<lJgenden Schicht übernommen". 370 Sie waren nicht bloß mehr
oder minder neutraler bürokratischer Apparat, sondern stellten eine eigene, die poli-
tische Einheit und Ordnung tragende und gestaltende Macht dar. Der durch das
gebildete und unbestechliche Beamtentum getragene Staat vermochte so über der
Gesellschaft zu stehen und war nicht bloß ein Instrument und Medium gesellschaft-
licher Interessen. "Das ist die geschichtliche Wirklichkeit, die in Hegels Staatsphilo-
sophie, in seiner Lehre vom Staat als dem Reich der objektiven Vernunft, ein theore-
tisches und philosophisches System gefunden hat." 371 Der deutsche Militär- und
Beamtenstaat war es, der als das über dem System der Bedürfnisse, über der bürger-
lichen Gesellschaft stehende "Reich der objektiven Sittlichkeit und Vernunft" auf-
gefaßt werden konnte. Er wurde zum Träger einer vorbildlichen Kultur- und Sozial-
politik. Aber er stand, wie earl Schmitt meint, seit der Revolution 1848 in der
Defensive gegen die liberaldemokratischen Tendenzen und gegen die rechtsstaatlich-
parlamentarische Theorie, die das Gedankengut dieser Bewegung ausmachte. Mehr
und mehr ist das Beamtentum in den Theorien des juristischen Positivismus, sagt earl
Schmitt, "geistig und politisch verdorrt".372 Es ist dadurch schließlich "unfähig ge-
worden, die entscheidenden Aufgaben einer politisch führenden Schicht zu erfül-
len".373 Es blieb nur noch ein erschlaffender Widerpart gegen die "im Namen des
,Rechtsstaates' vordringenden politischen Kräfte und Mächte der Liberaldemokratie
und des unmittelbar nachrückenden Marxismus",374 vermochte diese aber nicht mehr
von sich aus zu überwinden.
Es zeigte sich nach Deutung earl Schmitts bereits vor dem ersten Weltkrieg, "daß
das auf über 20 Einzelstaaten verteilte deutsche Beamtentum für sich allein nicht
mehr in der Lage war, beide Funktionen, nämlich die eines objektiven und neutralen
staatlichen Behördenapparates und die einer politisch führenden, staatstragenden
Schicht, zu erfüllen" .375 Das Beamtentum suchte seinen eigentlichen Wert vor allem
in der "sachlich-fachlichen Sicherheit und Berechenbarkeit eines vorbildlichen Ver-
waltungs- und Justizbetriebes", nicht aber "in der Verantwortlichkeit politischer Ent-
schlüsse".376 So verlor es nach earl Schmitt die Fähigkeit, "von sich aus in klarer
politischer Dezision den Staatsfeind zu erkennen oder gar zu besiegen".377 Es ging
auf in der Legalitätsgebundenheit des Gesetzgebungsstaates, und so stand "dem poli-
tischen Führungsanspruch der parlamentarischen Parteien keine ernste Gegenwehr im
Wege".378 Während des Weltkrieges konnte dann, wie earl Schmitt schreibt, eine
"Schicht parlamentarischer Parteipolitiker in den Staat eindringen, ohne irgendwelche
politische Leistung aufzuweisen, getragen nur von der Notwendigkeit, daß das Va-
kuum der politischen Führung irgendwie ausgefüllt werden mußte".379 Nach dem
Zusammenbruch des monarchischen Beamtenstaates aber fand, wie earl Schmitt meint,

369 Ebda.
370 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 29.
371 Ebda.

'" Ebda.
373 Ebda.
37< A. a. 0., S. 30.

'" Ebda.
376 Ebda.
377 Ebda.
378 Ebda.
379 A. a. 0., S. 30 f.
Der Halt an den Resten des Beamtenstaats 79

"das deutsche Beamtentum im pluralistischen Parteienstaat der Weimarer Verfassung


von 1919-1932 seine Rechtfertigung nur noch in einem vermittelnden Ausgleich und
einer Art parteipolitisch neutraler, schiedsrichterlicher Stellung zwischen den organi-
sierten Parteiinteressen".38o Immerhin hat auch die Herrschaft des pluralistischen
Parteiensystems "die großen Traditionen des deutschen Beamtenstaats mcht völlig
zu zerstören" 381 vermocht. Aber das Beamtentum stand nicht mehr eigentlich über
der Gesellschaft, "sondern zwischen den Schichten der Gesellschaft" und geriet da-
durch "selbst in das Spiel des pluralistischen Systems; es mußte auf die Dauer, um
sich zu halten, zum politischen Mitspieler und Komplicen des Kompromißhandels
werden, dadurch sein Wesen aufgeben und das pluralistische System um eine weitere
Größe vermehren. Schließlich konnte der bestgemeinte ,neutrale Ausgleich', wenn
er auch einem innerlich korrupten Parteiensystem moralisch gewiß überlegen war,
doch nur ein schlechter, unzulänglicher Ersatz für die mangelnde politische Führung
sein. Weder das neutrale Beamtentum noch das plunlistische System und sein parla-
mentarischer Betrieb haben ihre staatliche Aufgabe erfüllt und eine politische Füh-
rung aus sich erzeugt." 382
Gleichwohl besaßen nach Meinung Carl Schmitts insbesondere Reichswehr und
Reichsbeamtentum eine eigene politische Potenz, die sich "staatserhaltend" als "Ge-
gengewicht gegen den pluralistischen Parteienstaat" auswirkte. Beide fanden eine
neue Basis in der plebiszitären Legitimität des Reichspräsidenten, in dem "systema-
tischen Zusammenhang von verfassungsrechtlich gewährleistetem Beamtenstaat und
einem auf plebiszitärer Grundlage stehenden, das plebiszitäre Element der Reichs-
verfassung beherrschenden Reichspräsidenten" 383 und konnten daher "zum Sammel-
punkt der starken Bedürfnisse und Tendenzen nach einem autoritären Staat werden
und versuchen, in einem Verwaltungsstaat von sich aus ,die Ordnung herzustellen' ".384
Da aber ein solches Beamtentum seiner Natur nach doch vor allem ein Instrument
der Staatsgewalt ist, vermag es aus sich heraus zwar hemmend gegen die Auflösung
des Staates zu wirken, aber nicht selbst den Aufbau einer neuen staatlichen Einheit
zu tragen. Insofern fehlt ihm "gerade die entscheidende Qualität jener politischen
Elitefähigkeit und Bereitschaft zur Gefahr des Politischen".385 So wertvoll die Kräfte
des neutralen, un- und überparteiischen Beamtenstaates sind, "dem eigentlichen Miß-
stand des labilen Koalitionsparteienstaates, nämlich dem Mangel einer regierungs-
fähigen und stabilen Regierung, vermögen sie nicht abzuhelfen", 386 meint Carl
Schmitt. Zu einem solchen Aufschwung fehlt der Bürokratie die innere Legitimität.
"Das Berufsbeamtentum ist der Natur der Sache nach auf Justiz und Verwaltung
beschränkt. Es erhält infolgedessen von der Gesetzgebung oder von der Regierung
seine entscheidenden Normierungen oder Direktiven. Es ist unfähig, von sich aus die
politische Entscheidung zu treffen und an der Hand der Normen und Maßstäbe seiner
Fachlichkeit die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Es kann hemmen und zurück-
halten und in diesem Rahmen seine neutralisierende Wirkung betätigen, aber nicht
entscheiden und im eigentlichen Sinne regieren." 387 So kommt also auch die neutrale
Gewalt des Beamtentums nach Carl Schmitt nicht für die überwindung des plura-
listischen Entartungszustandes in Betracht.

880 A. a. 0., S. 31.


381 A. a. 0., S. 30.
332 A. a. 0., S. 31.
333 Schmitt, Der Hüter . •. (Anm. 33), S. 150.
33' Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 18.
385 Ebda.
886 Schmitt, Der Hüter . •. (Anm. 33), S. 102.
387 Ebda.
80 Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen

Die Vorstellung des Expertenstaats


Versuche der Gegenwirkung gegen den Pluralismus heften sich auch an Bestrebungen,
"eine Art von neutralem Sachverständigen- und Gutachter-(Experten-)Staat zu schaf-
fen, in welchem die politischen Entscheidungen den Sachkundigen der einzelnen Ge-
biete, insbesondere den administrativen, finanztechnischen oder ökonomischen Sach-
verständigen überlassen werden" .388 Solche Ansätze finden sich nach earl Schmitt etwa
in der Einrichtung eines Reichssparkommissars, der ein parteipolitisch neutraler Sach-
verständiger sein soll. Okonomische Sachverständige, teils als sachkundige Inter-
essenten, teils als neutrale Sachkundige, die von der Regierung benannt werden, fin-
den sich im Reichswirtschaftsrat. Der neutrale und objektive Einfluß von Sachkundi-
gen macht sich dann auf dem Wege über die Autorität von Gutachten bemerkbar.
Gewisse Ansätze dafür bieten auch, wie earl Schmitt zugesteht, die verschiedenen
Ausschüsse des Parlaments, in denen sich die Fachleute der verschiedenen Parteien
zusammenfinden und innerhalb ihrer Parteien wie gegenüber dem Plenum und seinen
parteilichen Gegensätzen die Autorität von Fachleuten in Anspruch nehmen. Auch
die Kammern, die Berufskammern, Industrie- und Handelskammern oder die Bei-
räte der verschiedenen Verwaltungs zweige erfüllen eine solche neutralisierende
Expertenfunktion. Weitere Beispiele der Tendenz zum neutralen Expertenstaat bie-
tet die B,esetzung der A1"beit&gerichte und des Reichswirtschaftsgerichts, auch des
Kartellgerichts oder der staatlichen Schlichtungsinstanzen.
Versuche, im Gegensatz zum Koalitionsparteienstaat neutrale und unabhängige
Größen zu schaffen, finden sich nach earl Schmitt sodann in der Konstruktion der
Reichsbank und der Reichsbahngesellschaft. Ein Teil der polykratischen Kräfte und
der Träger der Polykratie sind also nicht Verbündete, sondern Gegenkräfte und
Gegenpositionen gegen den Pluralismus. Im Falle von Reichsbank und Reichsbahn
führt sich die parteipolitische Neutralisierung und überhaupt politische Exemtion
allerdings auch auf die Verpflichtungen gegen das reparations berechtigte Ausland
zurück. In jedem Falle aber »ist eine Absplitterung staatlicher Hoheitsredlte eingetre-
ten und ein selbständiges Rechtssubjekt gebildet worden, das gegenüber dem Parteien-
staat neutral und unabhängig erscheint" .389 Solche Autonomisierungen lassen sich auch
für Sondervermögen, die, wie das der Reichspost, aus dem allgemeinen Staatshaus-
halt herausgenommen werden, denken, für besondere Monopolisierungen also oder
auch für die übertragung von staatlichen Rechten an bestehende autonome Gebilde,
wie die Sozialversicherung, die kommunale und wirtschaftliche Selbstverwaltung,
Kirchen, Weltanschauung,sgesellschaften oder andere autonome Verbände.
Auch die Länder bieten für die Auffassung earl Schmitts in gewissem Grade ein
»Reservoir staatlicher Kräfte"390 und erfüllen in gewissem Ausmaß eine neutralisie-
rende Funktion; »obwohl auch sie parlamentarisch regierte Parteienstaaten sind, be-
wirkt doch der Umstand, daß in ihnen anders zusammengesetzte Koalitionen als im
Reich regieren, schon durch die bloße Verschiedenheit ein gewisses Gegengewicht" .391

Die Untauglichkeit der Neutralisierungen und Entpolitisierungen


Aber die Versuche, der pluralistischen Auflösung durch Autonomisierungen und Neu-
tralisierungen entgegenzuwirken, sind in den Augen earl Schmitts allzumal unzu-
länglich. Sie bedeuten ihm nur eine »allgemeine Kapitalflucht alles dessen, was in

388 A. a. 0" S. 103.


". A. a. 0., S. 107 .
••• A. a. 0., S. 108.
391 A. a. 0., S. 107.
Die Untauglichkeit der Neutralisierungen und Entpolitisierungen 81

Deutschland an staatlicher Substanz noch vorhanden ist", 392 und richten sich "in
ihrem praktischen Ergebnis gegen ihre eigentlichen Ziele" .393 Alle Abhilfeversuche,
die auf Entpolitisierung hinauslaufen, paralysieren sich gegenseitig. Sie entstehen
einerseits, wie earl Schmitt interpretiert, aus dem Bedürfnis nach echter politischer
Entscheidung, da es dem labilen Koalitionsparteienstaat eben an regierungsfähiger
Regierung und politischer Entscheidung gebricht. Anderseits aber wird dieses Bedürf-
nis falsch verstanden; man wendet sich gegen die Parteilichkeit und Unsachlichkeit
der politischen Entscheidungen, so daß man immer auf Beifall rechnen kann, wenn
man sich gegen die Politik überhaupt wendet, weil bei jeder Entscheidung notwendig
irgendein Interessent benachteiligt wird. Politik aber, hält earl Schmitt dem ent-
gegen, ist "unvermeidbar und unausrottbar".394 Die Konsequenz der berechtigten
Verneinung der mißbräuchlichen Parteipolitik des labilen Koalitionsparteienstaats,
der keine echten politischen Entscheidungen zustande bringt, liegt daher nach earl
Schmitt bei der Forderung einer stärkeren und echten entscheidungsfähigen Politik,
nicht aber bei einer Entpolitisierung überhaupt, die sich als absolute Versachlichung
ausgibt und in der Sache nur trügerisch oder betrügerisch versucht, der "unbequemen
Verantwortung" und dem "Risiko des Politischen" 395 zu entgehen. "Alles, was
irgendwie von öffentlichem Interesse ist, ist irgendwie politisch, und nichts, was
wesentlich den Staat angeht, kann im Ernst entpolitisiert werden. Die Flucht aus
der Politik ist die Flucht aus dem Staat." 396 Eine solche Flucht aber muß entweder
im politischen Untergang oder einer anderen Art Politik enden.
Die Versuche, dem Pluralismus abzuhelfen durch Neutralisierungen und Auto-
nomisierungen, sind nach Auffassung earl Schmitts untauglich, weil ihre Konsequenz
in der gleichen Richtung liegt, aus <der auch die Gefahr des Pluralismus kommt. "Die
Polykratie der öffentlichen Wirtschaft würde durch neue autonome Bildungen und
Absplitterungen noch weitergetrieben und käme in Verbindung mit dem pluralisti-
schen System schließlich den Zuständen eines mittelalterlichen Ständestaates nahe,
in denen der deutsche Staat schon einmal zugrunde gegangen ist ... Denn auch das
pluralistische System verwandelt mit seinen fortwährenden Parteien- und Fraktions-
verbindungen den Staat in ein Nebeneinander von Kompromissen und Verträgen,
durch welche die jeweils am Koalitionsgeschäft beteiligten Parteien alle Ämter, Ein-
künfte und Vorteile nach dem Gesetz der Quote unter sich verteilen und die Parität,
die sie dabei beobachten, womöglich noch als Gerechtigkeit empfinden. Die Verfas-
sung eines von solchen Methoden politischer Willensbildung beherrschten Staates
reduziert sich auf den Satz ,pacta sunt servanda' und auf den Schutz der wohlerwor-
benen Rechte." 397 Die Autonomisierungs- und Neutralisierungsversuche bieten also
dem Pluralismus nur eine abermalige und zweite Fundierung. "Die letzte Folge eines
solchen doppelt fundierten Pluralismus wäre eine völlige Zersplitterung der deutschen
Einheit" 398 und lieferte den deutschen Staat an die Gewalt und das Ermessen frem-
der Regierungen aus, die dann mit Hilfe ausländischer Kommissare die Richtlinien
der deutschen Politik bestimmen und also an die Stelle der deutschen eine fremde Poli-
tik setzen würden, weil das deutsche Volk eine eigene Willensbildung nicht mehr
zustande zu bringen vermochte. Versuche einer Herstellung innerstaatlicher Neutra-
lität sind nur dann sinnvoll, folgert earl Schmitt, wenn Neutralität die Neutralität

392 A. a. 0., S. 108.


3" A. a. 0., S. 110.
3" A. a. 0., S. 111.
395 Ebda.
396 Ebda.
397 A. a. 0., S. 110.
398 Ebda.
82 Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen

eines höheren Dritten ist und der Staat in seiner Einheit und Ganzheit durch staat-
liche überlegenheit die innerstaatlichen Gegensätze relativiert. Alle anderen Auf-
fassungen von Neutralität führen nur von der notwendigen politischen Entscheidung
weg und liefern sie einem Fremden aus.
Die Versuche eines neutralen entpolitisierten Expertenstaates sind untaugl:ich, weil
sie, w:ie earl Schmitt es darstellt, notwendig vor ein Dilemma führen: Die Sachverstän-
digen sind entweder zugleich Interessenten, so daß sie nicht neutral sind, oder sie
sind uninteressierte Sachverständige, so daß ihnen die letzte Sachkunde fehlt bzw.
die Interessenten ihre Gutachten aus Mangel an Interesse ignorieren. Paritätische Her-
anziehung von interessierten Sachverständigen führt nicht zur Entscheidung, weil ge-
rade di,e Parität der Besetzung die Entscheidung verhindert. Uninteressierte Sach-
verständige aber haben nichts als das Gew:icht ihrer Argumente und Gutachten ein-
zusetzen, was bei starken entgegenstehenden Interessen nicht viel ist. Möglicherweise
auch verschaffen sich die Inha,ber der politischen Macht und die Träger der eigentlichen
Interessen Einfluß ~uf die Besetzung der neutralen Expertenkommissionen. Dann wird
entweder die sachverständige Erledigung das Gegenteil einer neutralen und sachlichen
Erledigung, oder aber das Interesse wendet sich von der Gutachterkommission ab,
ignoriert ihre Argumente und sucht sich andere Wege der Entscheidung.
Drittes Kapitel

DER PLEBISZIT.KR-AUTORIT.KRE AUSWEG

Der Zustand kalten Bürgerkriegs


Die Lage des staatlichen Ganzen, der Bestand der politischen Einheit und Ganzheit,
stellt sich auf diese Weise für Carl Schmitt höchst problematisch ,dar. Die Tendenz des
Pluralismus geht ihm dahin, den Staat auf einen fortwährenden Komprorniß zu redu-
zieren. In der Konsequenz dieser Pluralisierung aber sieht er den Bürgerkrieg. Die
Gegenwartslage ist für Carl Schmitt so in gewisser Weise der Zustand eines kalten
Bürgerkriegs. Die Verfassung erscheint als bloßer Vertrag der sozialen Machtkom-
plexe und beruht bald nur noch auf dem leeren Satz: paeta sunt servanda, was darum
nichts besagt, weil solche Verträge immer mit einer clausula rebus sie stantibus ver-
bunden sind, also unter dem Vorbehalt stehen, gera.de in dem Fall, wo sie sich frieden-
stiftend erweisen sollten, gekündigt werden zu können. Die Partner des Verfassungs-
vertrages stehen einander als selbständige politische Größen gegenüber, als "Herren
des Verfassungsvertrages, den sie durch neue Kompromisse ebenso abändern könnten,
wie sie ihn abgeschlossen haben". 399 Die staatliche Einheit wird zum Resultat eines
"mit allen existentiellen Vorbehalten abgeschlossenen Bündnisses" .400 Ein solcher blo-
ßer Vertragszustand unter pluralistischen Gewalten aber hat, wie Carl Schmitt folgert,
"nur den Sinn eines Friedensschlusses zwis.:hen den paktierenden Gruppen, und ein
Friedensschluß hat, ob die Parteien wollen oder nicht, immer einen Bezug auf die,
wenn auch vielleicht entfernte, Möglichkeit eines Krieges".401 "Das wäre aber, wenn
die maßgebenden Freund-Feind-Gruppierungen :innerpolitisch 5tatt außenpolitisch be-
stimmt sind, ein Bürgerkrieg." 402 Die Sorge des Bürgerkrieges ist um so ernster, je
entschiedener die spannungsreiche Pluralität der Partei- und Interessengruppen sich
in eine Klassenteilung der Gesellschaft einordnet, so daß als der letzte und alles andere
durchdringende gesellschaftspolitische Gegensatz der von Kapital und Arbeit erscheint
und der Zustand der Gesdlschaft von einem Klassengleichgewicht :beherrscht wird. 403
Wie problematisch die staatliche Einheit und ,der Zusammenhalt ,des staatlichen
Ganzen in solchem kalten Bürgerkriegszustand ist, versucht Carl Schmitt auch an einer
Untersuchung des staatlichen Schlichtungswesens für Arbeitsstreitigkeiten zu erweisen.
Die Funktionen des Schlichters und seine mögliche Rolle scheinen ihm in ,der klassen-
gespaltenen Gesellschaft geradezu symbolisch für die Funktion des Staates selbst. Die
Staatsgewalt könne in der Rolle einer ,neutralen Gewalt' zunächst als bloß vermitteln-
der Makler auftreten, der seine guten Dienste zur Herstellung eines Selbstausgleichs
der Interessengegner anbietet. Er erscheint dann "als bloßer Helfer und Beförderer
gemeinsamen Verhandelns und gemeinsamer Verständigung zwischen den einander

399 A. a. 0., S. 141.


400 Ebda.
401 Schmitt, "Staatsethik und pluralistischer Staat" (Anm. 31), S. 41.
402 Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 142.
40S Vgl. dazu Otto Bauer, Bolschewismus oder Sozialdemokratie?, Wien 1920.
84 Der plebiszitär-autoritäre Ausweg

gegenüberstehenden Interessenkomplexen, die aber in Wirklichke1it sich selbst unter-


einander ausgleichen. Solange dieses ... zu ... einer Einigung der bei den Parteien,
einem Selbstausgleich führt, ist der staatliche Vertreter nur ein vermittelnder Makler,
und seine ausgleichende Neutralität ist die eines solchen." 404 Dieser Fall ist aber nicht
der eigentlich interessante Fall für die Bedeutung und Funktion des Staates.
Der interessante Fall tritt für earl Schmitt dann ein, "wenn die beiden, einander
gleichen Interessenkomplexe nicht zu einer Einigung kommen, sondern sich im Gleich-
gewicht gegensätzlich verhalten".405 In solchem Falle kann es, wenn überhaupt, zu
einer Entscheidung nur noch durch einen Dritten kommen, der jetzt den Ausschlag
gibt. Nun könnte es sich so verhalten, daß die "parteiischen und egoistischen Inter-
essen und Le]denschaften" 406 zwar sich gegenseitig aufheben, aber doch Idem schlich-
tenden Dritten und einander das Zugeständnis des guten Willens machen. Dadurch
könnte ein "an sich schwacher und im Vergleich zu den einander gegenüberstehenden,
mächtigen Interessenkomplexen hilfloser, neutraler Dritter" 407 in den Stand gesetzt wer-
den, im Geiste der Objektivität und Weitsicht und als Anwalt der Gerechtigkeit "die
Waagschale zugunstendes relativ Richtigen und Gerechten zu bestimmen und der
Vernunft zum Siege zu verhelfen". 408 Eine solche Vorstellung von der Funktion des
Staates erscheint earl Schmitt aber unrealistisch und eigentlich nur als Ausdruck einer
"liberalen Metaphysik". 409 Denn die Tendenz egoistischer und parteiischer Interessen
wird in solchem Konfliktsfall eher dahin gehen, ·das Zugeständnis von gutem Willen
und Objektivitätsbereitschaft vor allem nur sich selber zu machen. Inder Wirklich-
keit der Gegenwart lasse sich jedenfalls die Tendenz "kaum verkennen",410 meint
earl Schmitt, daß der Staat nicht als Anwalt der Objektivität und Vernunft auf-
gefaßt wird, sondern als ein "Machtkomplex neben den anderen sozialen Machtkom-
plexen, der sich bald mit der einen, bald mit ,der anderen Seite verbündet und ,dadurch
die Entscheidung herberführt" .411 Der Staat ist in der Auffassung der Interessenten
nur "ein hinzutretender Machtfaktor, Ider einer Partei gegen die andere zum Siege
verhilft" ,412 nicht aber der Vernunft. Die Konsequenz ist, wie earl Schmitt konsta-
tiert, daß die Parteien "ohne jede Rücksicht auf irgendein Prinzip, immer im Hinblick
auf das taktische Interesse des Augenblicks, den Staat baLd als Autorität proklamieren,
wenn er gerade auf der Seite ihres Parteiinteresses ist, und ,dann wieder, wenn er
ihrem Augenblicksvorteil im Wege steht, -ihn als einen Eindringling hinstellen, der die
Eigengesetzlichkeit des Wirtschafts- und Al1beitskampfes stört".413 In solcher Situa-
tion kann ,der Staat nicht der neutrale Anwalt der Vernunft und ,der um ihretwillen
mehrheitsbildende Dritte sein. Die streitenden Parteien anerkennen seine Objektivität
nicht von sich aus, sondern verstehen ihn nur als jeweils hinzutretenden Machtfaktor.
Gelingt es auf diese Weise, auch das Schlichtungswesen zum Schauplatz des Pluralis-
mus und dadurch handlungsunfähig zu machen, "so erhebt sich für den Staat als un-
vermeidliche Alternative: entweder aufzuhören, als Einheit und als Ganzes zu existie-
ren, oder aber zu versuchen, aus der Kraft der Einheit und des Ganzen heraus die
notwendige Entscheidung herbeizuführen".414 Die Alternative charakterisiert nach
'04 Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 143.
405 A. a. 0., S. 144.
'06 A. a. 0., S. 142.
401 Ebda .
... Ebda .
... Ebda.
410 A. a. 0., S. 147.
411 A. a. 0., S. 145.
m Ebda.
4t. A. a. 0., S. 147.
m A. a. 0., S. 148.
Der Zustand kalten Bürgerkriegs 85

Auffassung earl Schmitts den Bürgerkriegszustand, in dem sich die moderne Gesell-
schaft, insbesondere die der Weimarer Republik befindet.
Diese überaus skeptische Darstellung earl Schmitts expliziert zwar unbestreitbar
logische Möglichkeiten der Entwicklung. Daß sie aber mit ihnen rechnet und die Ex-
plikation dieser extremen Möglichkeiten eigentlich nur dazu dient, die Abhilfever-
suche, in denen das komplizierte politische System einer organisierten Massengesell-
schaft sich den Gefahren der Entwicklung zu stellen sucht, für überhaupt unsinnig und
hoffnungslos zu erklären, diese Haltung ist nur zu begreifen aus der entgegengesetz-
ten politischen Option earl Schmitts. Die Argumentation ist im Grunde advokatorisch
und evident nur für den, dessen Hoffnungen sich auf ein anderes politisches System
richten. Das offenbart schließlich die Richtung, in der earl Schmitt die Lösungen der
bestehenden Schwierigkeiten sucht.
Am Symbol der Arbeitsstreitigkeiten und ihrer Schlichtung dargestellt, gibt es nach
Meinung earl Schmitts einen Ausweg nur, wenn der Staat von sich aus die selbstän-
dige Entscheidung des Konflikts, und zwar möglicherweise gegen die Interessen so-
wohl des einen als auch des anderen Konfliktgegners zu treffen vermag. Die Beilegung
des Konfliktes ist dann weder "das Ergebnis der Interessenverständigung" 415 im
Wege des Kompromisses noch das Ergebnis einer "bloßen Mehrheitsbildung zwischen
Staat und Interessenten",416 sondern das Ergebnis einer selbständig getroffenen "staat-
lichen Entscheidung" ,417 die den Staat als den höheren Dritten und als <eigene, über-
legene Autorität erweist, die "auf dem Boden der politischen Einheit und Ganzheit
ihren Standpunkt" 418 hat. Aber auch dieser Ausweg ist, allgemein gesagt, nur so-
lange möglich, wie "das pluralistische System noch nicht alle Teile des staatlichen Gan-
zen besetzt hat, solange außerdem die Vielzahl der Parteien sie gegenseitig hemmt und
beschränkt und ihre weltanschauliche, ökonomische und sonstige Heterogenität diese
gegenseitige Beschränkung noch verstärkt, vor allem aber, solange noch andere Kräfte
in einem Volk vorhanden sind als diejenigen, die paneiorganisatorisch erfaßt und
dienstbar gemacht sind, und diese Gegenkräfte von der staatlichen Verfassung mit
einem System relativ stabiler Einrichtungen in Verbindung gebracht werden". 419
Eine haltbare und auch für die Dauer tragfähige Lösung aus den Schwierigkeiten,
in die die parlamentarische Demokratie in der Weimarer Republik geraten ist, läßt
sich nach Auffassung earl Schmitts erst durch den Übergang zu einem neuen und
andersartigen politischen System finden, letztlich, so wird sich zeigen, einem System,
wie es dann mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 verwirklicht wunde.
Die Entartungszustände, die in der Weimarer Republik herrschten, beruhten nach
Deutung earl Schmitts letztlich darauf, daß deren politisches System nicht fähig war,
mit der Entwicklung der Verhältnisse Schritt zu halten, daß die Methoden der parla-
mentarischen Demokratie untauglich waren, die neu entstandenen gesellschaftlich-
poltitischen Ordnungs aufgaben zu bewältigen. Die gesellschaftlich-politische Wirklich-
keit ist nach earl Schmitts Vorstellung nämlich bereits die eines potent:iell totalen
Staates; sie ist durchweg bestimmt von einer "Wendung zum totalen Staat". Solange
die allerorten bemerkbare Wendung zum totalen Staat aber noch Z!usammengeht mit
den Methodensystemen der Liberaldemokratie, solange der potentiell totale Staat in
Wirklichkeit noch keinen entschlossenen Träger gefunden hat, der der totalen Staats-
gewalt zur konsequenten Aktualisierung verhilft, solange ergibt die gleichwohl wirk-

.15 Ebda.
416 Ebda.
417 Ebda.
418 Ebda.
419 A. a. 0., S. 148 f.
86 Der plebiszitär-autoritäre Ausweg

same Expansion ,der Staatstätigkeit nur einen Zustand überr,eizter Politisierung aller
Gesellschaftsteile urud einen Zustarud der Totalität aus Schwäche.

Die Totalität der Schwäche


Im Zustand des potentiell totalen, aber politisch schwachen Staates ist, wie earl
Schmitt nun folgert, die liberale Neutralität des Staates bereits unvollziehbar ge-
worden. Alle Angelegenheiten und Lebenssphären in der Gesellschaft, in der Wirt-
schaft wie in der Kultur, die vordem für neutral im Sinne von nichtstaatlich, privat
und unpolitisch galten, sind von einer fortschreitenden Politisierung ergriffen. Alle
Auseinandersetzungen in den vordem unpolitischen Gesellschaftsbereichen, denen
gegenüber sich ,die staatliche Politik vordem weitgehend neutral verhielt, haben sich
inzwischen selbst politisch organisiert. Die Auseinandersetzungen vollziehen sich nun-
mehr auf den Wegen politischer Willensbildung, unter stetiger Inanspruchnahme der
Staatsorgane, durch organisierte Beeinflussung der staatlichen Entscheidungsbildung
und Rechtssetzung. Dadurch baut sich der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft
immer mehr ab. Im selben Maße, wie sich die Gesellschaft politisiert, wird der Staat
demokratisiert, das Funktionensystem der staatlichen Organisation erhält einen star-
ken Zuwachs an Aufgaben, Ider Staat wil1d in die KonflLkte der Gesellschaft einbezo-
gen und in ihnen mediatisiert. Im selben Maße, wie der Gesetzgebungsstaat sich voll-
endet, verliert das Gegenüber von Staat und Gesellschaft seine Spannung, und der
Staat wird zur SeLbstorganisation ,der Gesellschaft. Damit aber wer,den, wie earl
Schmitt schreibt, "alle sO'zialen ul1Jd wirtschaftlichen Probleme unmittelbar staatliche
Probleme, und man kann nicht mehr zwischen staatlich-politischen und gesellschaftlich-
unpolitischen Sachgebieten unterscheiden ... Die zum Staat gewordene Gesellschaft wird
ein Wirtschaftsstaat, Kulturstaat, Fürsorgestaat, Wohlfahrtsstaat, Versorgungsstaat;
der zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordene, demnach von ihr in der Sache
nicht mehr zu trennende Staat ergreift alles Gesellschaftliche, d. h. alles, was das
Zusammenleben der Menschen angeht." 420 earl Schmitt versteht diesen Vorgang nach
dem Wort von Ernst Jünger als eine "totale Mobilmachung". 421 Solange diese all-
gemeine Wendung zum totalen Staat aber noch nicht zum Aufschwung einer starken
politischen Kraft über alle gesellschaftlichen Gegensätze geführt hat, solange ist der
Staat total nur aus Schwäche. Auf jedem gesellschaftlichen Gebiet und in allen ge-
sellschaftlichen Angelegenheiten ist der Arm der Staatsgewalt im Spiele, aber nur als
die am Ellenbogen gekrümmte Verlängerung der gesellschaftlichen Mächte, die den
schwachen Staat als Instrument benutzen, um sich gegenseitig in ihre Angelegen-
heiten hineinzulangen. Die staatlichen Positionen sind weitgehend selbst von den
Vertretern organisierter gesellschaftlicher und politischer Interessen besetzt. So be-
steht die Totalität des Staates im pluralistischen System der parlamentarischen Demo-
kratie eigentlich nur in ,der allseitigen und einigermaßen chaotischen Instrumentali-
sierung der staatlichen als höchsten politischen Gewalten für die gesellschaftlichen
und parteilichen Interessen.
Soll aus solchen Zuständen eines nur durch Schwäche totalen Staates ein Ausweg
gefunden und die politische Ordnung und Einheit wiedel1hergestellt werden, so muß
es nach Auffassung earl Schmitts gelingen, einer starken und staatstragenden politi-
schen Kraft zum Aufschwung über alle Auseinandersetzungen ,der politisierten und
organisierten gesellschaftlichen Mächte zu verhelfen. Aus der sich bereits vollziehenden
Wendung zum totalen Staat muß auch die verfassungspolitische Konsequenz gezogen
werden .
... A. a. 0., S. 79.
42' Ebda.
Der Ausweg bei den plebiszitären und autoritären Kräften 87

Auf welchem Wege Carl Schmitt die verfassungspülitische Künsequenz sucht,


machen die Interpretatiünen deutlich, die er der Weimarer Verfassung gibt, um aus ihr
eine Grundlage pülitischer Entscheidungsfähigkeit zu gewinnen. Sein Interesse richtet
sich dabei vür allem auf die autoritären und plebiszitären Kräfte, die er schün aus
der Weimarer Verfassung glaubt mübilisieren zu können. Carl Schmitt sagt selbst
v,on der Verfassungsinterpretatiün, sie könne "nicht ühne historisch-kritisches Bewußt-
sein vür sich gehen, wenn sie nicht in einen gedankenlüsen Fürmalismus und in leere
Würtstreitigkeiten geraten will".422 So, muß also, seine eigene Verfassungsinterpretatiün
auch als das Zeugnis seines eigenen geschichtlich-gesellschaftlichen Bewußtseins ver-
standen werden. Sie ,offenbart einen spezifischen Versuch, sich in der gesellschaftlich-
pülitischen Gegenwartslage zu ,orientieren, und eine daraus resultierende, spezifische
pülitische Optiün und Einstellung. Carl Schmitts Verfassungsinterpretatiün richtet
sich, wenn sie Lösungen für die gegebenen Schwierigkeiten sucht, nicht nach dem Bilde
der parlamentarischen Demükratie, sündern nach dem BiLde des plebiszitär legitimier-
ten autoritären Regierungsstaats. Er sucht die Lösung im übergang zu einer anderen
Staatsart, in der süwohl der Pluralismus als auch der demokratische Parlamentarismus
in einem überwunden sind.

Der Ausweg bei den plebiszitären und autoritären Kräften


So meint er, die Lösung der Schwierigkeiten, ,die durch das Wirken der plurali\Sti-
schen Kräfte hervürgerufen wurden, könne nicht in einer weiteren Schwächung des
Staates und also, auch nicht in einer unpülitischen Sachlichkeit liegen, sündern allein
darin, daß einer entscheidungsfähigen Politik die Grundlage gewonnen wird. Die
Weimarer Verfassung biete die Möglichkeiten dafür aber vür allem in ihren plebiszi-
tären Teilen, in deren Mittelpunkt der Reichspräsident und seine außerordentlichen
Befugnisse stehen. Im Zustand der "totalen Pülitisierung des menschlichen Da-
seins" ,423 die nur die F,olge einer totalen Schwäche ist, bedarf es einer "stabilen Autori-
tät" ,424 einer starken, sich durchsetzenden und sich in die Püsition eines höheren
Dritten setzenden pülitischen Gewalt, um "wieder freie Sphären und Lebensgebiete
zu gewinnen".425 Das Verfassungsschema des neutralen Staates, das mit einer Gegen-
überstellung und Unterscheidbarkeit von freier Gesellschaft und küntrülliertem Staat
rechnet, muß fallengelassen werden. Das politische Meohodensystem der parlamenta-
rischen Liberaldemokratie, das disfunktionell und illegitim geworden ist, muß ab-
gestreift wel1den. Die Grundlage einer entscheidungsfähigen Pülitik ist nur zu ge-
winnen, wenn es gelingt, zu einer anderen Staatsart überzugehen, di,e nicht mehr par-
lamentarisch, liberal, ,demükratisch und gesetZrgebung'Sstaatlich ist. Die p,olitische Ein-
heit ist für den Gesellschaftszustand des potentiell totalen Staates nur wiederherzustel-
len, wenn an ihre Spitze eine starke und überlegeIlJe polirrsehe Führungsgewalt gelangt,
die die nütwendige pülitische Integratiün vün sich aus zu vüllbringen vermaJg. Der
Staat muß ein Regierungsstaat werden und der Aufbau der politischen Einheit als,o
eine grundandere Gliederung erfahren.
Der Wille, zu einer neuen Staatsart zu gelangen, die den totalen Staat zu aktuali-
sieren und ihm eine neu angemessene Verfassung und Gliederung zu geben vermag,
kann sich zunächst an die plebiszitären und autüritären Kräfte halten, die auch die
Weimarer Verfassung zu mübilisieren erlaubt .

•" A. a. 0., S. 128.


423 Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S.93.
'" Ebda.
'" Ebda.
88 Der plebiszitär-autoritäre Ausweg

Nach den Ausführungen Carl Schmitts über die Konsequenz einer gesetzgebungs-
staatlichen Verfassung hält sich sein eigener verfassungspolitischer Wille also gerade
an diejenigen Verfassungsteile, die die den Prinzipien des parlamentarischen Gesetz-
gebungsstaates widersprechenden Prinzipien enthalten. Sie interpretiert Carl Schmitt
nun als Ansatzpunkte für den übergang zu einer anderen Staatsart. Stellen sich nach
der Konsequenz des parlamentarisch-gesetzgebungsstaatlichen Modells die außeror-
dentlichen Gesetzgeber Volk und Reichspräsident gerade als Entartung und Abwei-
chung vom Gesetzgebungsstaat dar, so erscheinen sie nunmehr als "dem Geist der
Verfassung besser entsprechende Antwort" .426 Carl Schmitt richtet seine Erwartungen
und Hoffnungen auf die Abwendung von der parlamentarischen Demokratie und auf
die Hinwendung zu einem plebiszitär legitimierten autoritären Regierungsstaat, auf
den Diktator, ·derdem sich bereits vollziehenden übergang zum Wirtschafts- und Ver-
waltungsstaat "eher adäquat und wesensgemäß [ist] als ein von der Exekutive ge-
trenntes Parlament", 427 so 'sagt er, und auf eine autoritäre Regierung, denn "alle
plebiszitären Methoden" 428 und "alle plebiszitäre Legitimität braucht eine Regierung
oder irgendeine andere autoritäre Instanz".429
Ansatzpunkt für den übergang zu einer neuen Staatsart bieten vor allem die Be-
fugnisse des Reichspräsidenten zur Auflösung des Reichstags,430 ,die Praxis der Er-
mächtigungsgesetze und vor allem die Praxis des Art. 48.
Die langjährige Praxis des Art. 48 hat nach Darstellung Carl Schmitts inzwischen
folgende Befugnisse und Zuständigkeiten des Reichspräsidenten in allgemeiner An-
erkennung durchgesetzt: die Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen mit Ge-
setzeskraft, also das sogenannte gesetzesvertretende Veror,dnungsrecht, und die "Ent-
wicklung eines spezifisch wirtschaftlichen und finanziellen Not- und Ausnahmezu-
standes",431 also eine besondere Hinaus- und Weiterentwicklung des früher nur poli-
zeilichen und militärischen Belagerungs- und Kriegszustandes. Diese Entwicklung hat
sich "unter dem Zwang des wesentlich wirtschaftlichen und finanziellen Charakters
heutiger Notlagen" 432 vollzogen, so daß die Voraussetzungen der außerordentlichen
Befugnisse einer Notgewalt nun auch in GefaJhren gefunden werden können, die aus
einer nicht ,durch Aufruhr oder Belagerung hervorgerufenen, sondern wirtschaftlichen
und finanziellen Notlage entstehen. Zum Inhalt der außerordentlichen Befugnisse ge-
hört somit nach Darstellung Carl Schmitts auch "das Recht, gesetzesvertretende Ver-
ordnungen wirtschaftlichen und finanziellen Inhalts und Charakters zu erlassen". 433
Diese Entwicklung ist, gleichviel, ob sie ursprünglich in den außerordentlichen Be-
fugnissen des Art. 48 enthalten war - was Carl Schmitt bestreitet, aber gegenüber der
herrschenden Lehre nicht durchzusetzen vermochte und nun angesichts der pluralisti-
schen Entwicklung auch nicht mehr durchzus·etzen intel'essiert list -, inzwischen durch die
Behandlung der Staatsrechtslehre, durch die zahlreichen Präzedenzfälle und durch die
Entscheidungen der höchsten Gerichte zur festen Rechtsüberzeugung und zum festen

426 Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 116.


m Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 87.
'28 A. a. 0., S. 93 .
... A. a. 0., S. 94.
,"0 Es heißt von ihnen allerdings, daß der Reichspräsident nur einmal den Reichstag aus dem gleichen Anlaß
auflösen darf; earl Schmitt interpretiert diese Befugnis aber so, daß sie einen noch weiteren Sinn erhält: "Wird
aber ein mehrheitsunfähiges Parlament aufgelöst, so trifft diese Voraussetzung (daß nur einmal aus dem gleichen
Anlaß aufgelöst werden dürfte) nicht zu, und es wäre absurd, einem späteren, wiederum mehrheitsunfähigen
Parlament sozusagen ein Recht auf vier Jahre Mehrheitsunfähigkeit zu geben." Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33),
S. 116; vgl. auch ders., .Einmaligkeit und gleicher Anlaß ... " (Anm. 13).
431 Schnütt, Der Hüter . .. , a. a. 0., S. 119.
m Ebda.
'" A. a. 0., S. 120.
Der Ausweg bei den plebiszitären und autoritären Kräften 89

Brauch geworden, dessen verfassungsrechtliche Gültigkeit schon darin liegt, daß der
Reichstag jedenfalls keine Außerkraftsetzung verlangte.
Bedenken, die gegen diese Fortentwicklung des Ausnahmezustandes zu einem
auch wirtschaftlichen und finanziellen Ausnahmezustand und zu einem auch finanz-
gesetzvertretenden Verordnungsrecht des Reichspräsidenten erhoben werden könnten,
beseitigt earl Schmitt durch eine bestimmte Deutung der gesellschaftlich-politischen
Wirklichkeit, in deren Zusammenhang die Verfassung verstanden werden müßte. Im
19. Jahrhundert, in einer anderen gesellschaftlich-politischen Lage, wurde ein un-
bedingter Vorbehalt entwickelt, wonach Finanzgesetze, Gesetze finanzrechtlichen In-
halts in jedem Falle nur vom Parlament verabschiedet werden konnten, reine andere
Instanz in diesem Falle aber unmöglich diesen formellen Gesetzesvorbehalt ausfüllen
kann, sie ,also keinesfalls auf dem gesetzesvertretenden Verordnungswege ergehen
durften. Weil aber ,die Regierung keine mehr vom Parlament unabhängige und ihr
selbständig gegenüberstehende Macht ist, weil vor allem auch der Reichspräsident vom
ganzen Volk gewählt sei und im übrigen auch das Volk selbst, nach der Verfassung,
sowohl der Regierung und dem Reichspräsidenten als auch dem Parlament als höherer
Dritter gegenübertritt, deshalb, so meint earl Schmitt, besitze das Parlament nicht
mehr das "Monopol der Volksvertretung" 434 und könne daher auch nicht mehr den
ausschließlichen Vorbehalt des Gesetzes beanspruchen, jedenfalls nicht, wenn es selbst,
und zwar gerade in wirtschaftlichen und finanziellen Notsituationen, nicht hand-
lungsfähig ist. "Die geltende Reichsverfassung gibt einem mehrheits- und handlungs-
fiihigen Reichstag alle Rechte und Möglichkeiten, deren ein Parlament bedarf, um sich
als den maßgebenden Faktor der staatlichen Willensbildung durchzusetzen." 435 Es
würde ihm nicht schwerfallen, durch Außerkraftsetzungsverlangen oder Mißtrauens-
beschluß gegen die Regierung sich gegenüber ,der Diktaturgewalt zur Geltung zu brin-
gen. Ist aber das zum Schauplatz des Pluralismus gewordene Parlament nicht hand-
lungsfähig, so hat es, urteilt earl Schmitt, "nicht das Recht zu verlangen, daß auch
alle andern verantwortlichen Stellen handlungsunfähig werden". Das wäre "ge-
schichtlich unmöglich und moralisch unerträglich" 436 und außerdem rechtlich falsch.
"Wenn sich inder gegenwärtigen Verfassungslage Deutschlands gerade eine Praxis des
wirts·chaftlich-finanziellen Ausnahmezustandes mit einem gesetzvertretenden Ver-
ordnungsrecht herausgebildet hat, so ist das nicht Willkür und Zufall, auch nicht
,Diktatur' in dem Sinne des vulgären, parteipolitischen Schlagwortes, ,sondern der
Ausdruck eines tiefen und innerlich gesetzmäßigen ZusaJmmenhanges. Es entspricht der
Wendung, die ein Gesetzgebungsstaat zum Wirtschaftsstaat nimmt und die von einem
pluralistisch aufgespaltenen Parlament nicht mehr vollzogen werden kann." 437
So zeigt sich im ganzen, daß es der Reichspräsident ist, der als der Herr dieses er-
weiterten und fortgebildeten Ausnahmezustandes für die Vorstellungen earl Schmitts
den eigentlichen Hüter der Verfassung darstellt. Es zeigt sich, daß earl Schmitts In-
terpretation der Verfassung von einer bestimmten politischen Erwartung und Haltung
bestimmt ist, einer verfassungspolitischen Fundamentalentscheidung, ,die sich auf die
Abwendung vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat überhaupt, nicht gegen die
Gefahren der pluralistischen Kräfte allein und vor allem gegen diese nicht um der
Wahrung der parlamentarischen Demokratie willen, sondern gerade gegen die par-
lamentarische Demokratie und gegen den Parteienstaat übel"haupt richtet und sich
dafür an jene politische Bewegung hängt, die zum plebiszitär fundierten, im übrigen
aber autoritären Regierungsstaat, zum antiparlamentarischen und antiliberaldemo-
." A. a. 0., S. 130.
435 A. a. 0., S. 131.
436 Ebda
437 Ebda.
90 Der plebiszitär-autoritäre Ausweg

kratischen, vermeintlich konsequent demokratischen, cäsaristischen totalen Führerstaat


und "Staat der Bewegung" drängt, auf dem Wege zu dem die immer noch als verfas-
sungslegal interpretierte Gewalt des Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung nur
der Statthalter ist.

Der Reichspräsident als Hüter der Verfassung


earl Schmitt konstruiert für den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung eine
eigene staatsphilosophische Theorie. "Soll nicht eine bloß akzessorische Nebenwirkung
anderer staatlicher Tätigkeiten eintreten, sondern eine besondere Einrichtung und In-
stanz organisiert werden, deren Aufgabe es ist, ,das verfassungsmäßige Funktionieren
der verschiedenen Gewalten zu sichern und die Verfassung zu wahren, so ist es in
einem Gewalten-untersche~denden Rechnstaat folgerichtig, keine der vorhandenen Ge-
walten nebenbei damit zu betrauen, weil sie sonst nur ein übergewicht gegenüber den
andern erhielte und sich selbst der Kontrolle ent2Jiehen könnte... Es ist daher notwen-
dig, eine besondere neutrale Gewalt neben die andern Gewalten zu stellen und durch
spez.iEsche Befugnisse mit ihnen zu verbinden und auszubalancieren." 438 Dies sei der
nach dem Ausdruck von Benjamin Constant sogenannte Pouvoir neutre et interme-
diaire, eine Funktion, die sowohl der konsuitutionelle König, von dem es heißt: il
regne et ne gouverne pas, als auch der republikanische Präs~dent wahrnehmen könne.
Der Träger dieser neutralen Gewalt besitzt nicht so sehr potestas als vielmehr aucto-
ritas, er ist der Repräsentant der staatlichen Kontinuität und Permanenz. Seine be-
sondeTe Stellung beruht darauf, daß es in jedem Staat "aus Gründen der Kontinuität,
des moralischen Ansehens und allgemeinen Vertrauens eine besondere Art von Autori-
tät" geben muß, "die ebensogut zum Leben jedes Staates gehört wie die täglich aktiv
werldende Macht und Befehlsgewalt".439 Die eigenartige Funktion des neutralen Drit-
ten besteht "nicht in fortwährender, kommandierender und reglementierender Akti-
vität ... , sondern [ist] zunächst nur vermittelnd, wahrend und regulierend, und nur
im Notfall aktiv" .440 Auch konkurriert sie nicht mit anderen Gewalten um die Aus-
dehnung eigener Macht, sondern hält sich unauffällig und unaufdringlich zurück. Von
dorther, meint earl Schmitt, sei allein die ansonsten widerspruchsvoll wirkende ver-
fassungsmäßige Stellung des Reichspräsidenten der Weimarer Verfassung zu verstehen
und zu interpretieren.
Die Unabhängigkeit des Reichspräsidenten unterscheidet sich von allen ihrem Sinne
nach entpolitisierenden Unabhängigkeiten gerade dadurch, daß durch sie eine Bezug-
nahme auf das Ganze und die Einheit von Verfassung und Staat zum AU9druck ge-
bracht und "ein selbständiger positiver Anteil an der Bestimmung oder Beeinflussung
des politischen Willens gesichert" 441 werden soll. Die Einrichtung einer Reichspräsident-
schaft hat in allen ihren Eigentümlichkeiten und Befugnissen nach earl Schmitts Ver-
fassungsinterpretation ,den Sinn, "eine wegen ihres unmittelbaren Zusammenhanges
mit dem staatlichen Ganzen parteipolitisch neutrale Stelle zu schaffen, die als solche
der berufene Wahrer und Hüter des verfassungsmäßigen Zustandes und des verfas-
sungsmäßigen Funktionierensder obersten Reichsinstanzen und für den Notfall mit
wirksamen Befugnissen zu einem aktiven Schutz der Verfassung ausgerüstet ist". 442
Darum steht ,der Reichspräsident "im Mittelpunkt eines ganzen, auf plebiszitärer
Grundlage aufgebauten Systems von parteipolitischer Neutralität und Unabhängig-
438 A, a. 0., S. 132.
43' A. a. 0., S. 136 .
.. 0 A. a. 0., S. 137.
441 A. a. 0., S. 157.
442 A. a. 0., S. 158.
Der Reichspräsident als Hüter der Verfassung 91

keit", und darum ist auf ihn "die Staatsordnung des heuoigen Deutschen Reiches in dem-
selben Maße angewiesen, in welchem die Tendenzen ,des pluralistischen Systems ein
normales Funktionieren des Gesetzgebungsstaates erschweren oder sogar unmöglich
machen".443 Der Reichspräsident soll als Hüter der Verfassung das plebiszitär fun-
dierte Gegengewicht gegen den Pluralismus sein und die Einheit des Volkes als eines
politischen Ganzen bewahren. Es ist nach Carl Schmitt der Sinn der Verfassung, dem
Volk als unmittelbar handlungsfähiger Einheit Ausdruck zu verschaffen, so daß dieser
Wille "nicht erst durch soziale Gruppenorganisationen vermittelt" 444 werden muß.
Diesem unmittelbaren Gesamtwillen soll der Präsident Ausdruck geben können und
als Hüter der Einheit des Volkes gegen den Pluralismus handeln können. Wenn man
vielleicht auch daran zweifeln kann, "ob es auf die Dauer möglich sein wird, die Stel-
lung des Reichspräsidenten dem parteipolitischen Betriebe zu entziehen",445 so ist es
doch, nach Deutung Carl Schmitts, der WiUe der Verfas'sung.
Was als Rechtfertigungssystem im Staat und für politisches Handeln unter den ge-
gebenen Umständen allein übrigbleibt, ist also die plebiszitäre Legitimierung des
Reichspräsidenten. Bei ihr anzuknüpfen bedeutet aber, eine Wendung zum autoritären
Staat zu nehmen. Das ist unerläßlich und liegt, auch nach Ansicht earl Schmitts, in
der Sache selbst. "Infolge ihrer Abhängigkeit von der Fragestellung setzen nämlich alle
plebiszitären Methoden eine Regierung voraus, die nicht nur Geschäfte besorgt, son-
dern auch Autorität hat, die plebiszitären Fragestellungen im richtigen Augenblick
richtig vorzunehmen. Die Frage kann nur von oben gestellt werden; die Antwort nur
von unten kommen ... Autorität von oben, Vertrauen von unten. Die plebiszitäre
Legitimität braucht eine Regierung oder irgendeine andere autoritäre Instanz, zu der
man Vertrauen haben kann, daß sie die richtige Frage richtig stellen und ,die große
Macht, die in der Fragestellung liegt, nicht mißbrauchen werde. Das ist eine sehr be-
deutende und seltene Art von Autorität. Sie kann verschiedenen Quellen entspringen:
aus der Wirkung und dem Eindruck eines großen politischen Erfolges; aus den etwa
noch vorhandenen autol1itären Residuen einer vordemokratischen Zeit; oder <liUS dem
politischen Ansehen einer nebendemokratischen Elite - von welcher die heutigen orga-
nisierten Rarteien meist'ens nur ein Surrogat oder eine Karikatur sind." 446 In jedem
Fall müßte sich eine autoritäre Instanz entschließen, "die plebiszitäre Frage von sich
aus zu stellen, und das mit der ganzen Gefahr des Mißerfolges" .447 Eine Neugestaltung
der Verfassung, die nach Darstellung earl Schmitts "allgemein als Notwendigkeit
empfunden" 448 wird, weil die Autoritätsresiduen und Legalität und Legitimität in
der bisherigen Praxis erschöpft sind, eine 'SOlche Neugestaltung ist nach Meinung earl
Schmitts nur noch auf dem Wege über die plebiszitären und die korrespondierenden
autoritären Kräfte zu vollbringen. In jedem Fall darf man nicht die funktionalisoische
Wertneutralität beibehalten, sondern muß substantielle Unterschiede zwischen den ver-
schiedenen konkurl1ierenden Richtungen und Bestrebungen machen und muß sich dabei
auf die "Anerkennung substanzhafter Inhalte und Kräft.edes deutschen Volkes" 449
besinnen. Sonst ist es "mit den Fiktionen eines gegen Wert und Wahrheit neutralen
Mehrheitsfunktionalismus bald zu Ende. Dann rächt sich die Wahrheit." 450

'43 Ebda,
'44 A. a. 0., S. 1;9.
'45 Ebda.
446 Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 94.
447 Ebda.

44' A. a. 0., S. 97.


44' Ebda.
450 A. a. 0., S. 98.
III. Teil
DIE GRENZEN DES RATIONALEN
IN CARL SCHMITTS KRITIK
Erstes Kapitel

DIE ENTWICKLUNG
ZUR ORGANISIERTEN MASSENGESELLSCHAFT

Im II. Teil der vorliegenden Untersuchung wurde ,das Bild wiedergegeben, das
earl Schmitt von der Verfassungswirklichkeit der modernen parlamentarischen De-
mokratie, insbesondere von der Weimarer Republik vermittelt. Er zeichnet die Wirk-
lichkeit der organisierten Massengesellschaft als einen Entartungszustand des par-
lamentarischen Gesetzgebungsstaats und als Auflösung des Staates überhaupt. Das
Vertrauen auf den Gesetzgeber, das die Voraussetzung und Stütze des parlamen-
tarisch-demokratischen Gesetzgebungsstaates ist, scheint aus den verschiedensten Grün-
den zerbrochen. Die politische Organisation der parlamentarischen Demokratie scheint
in der Wirklichkeit der organisierten Massengesellschaft disfunktionell geworden, ihre
verschiedenen Einrichtungen scheinen keine höhere Legitimität mehr zu besitzen. Das
formale System des Rechtsstaats scheint sich entsubstantialisiert zu haben und in der
Sache zu einem Unrechtssystem geworden zu sein. Die Gründe dafür liegen für earl
Schmitt sowohl in der formalen Verfassungsorganisation als auch und vor allem in
der Verfassungswirklichkeit selbst.
Man fragt sich, ob diese Darstellung und die Postulate, die scheinbar so logisch für
die Funktionalität und Legitimität eines Gesetzgebungsstaats entwickelt worden wa-
ren, gerechtfertigt sind. Die Verfassungswirklichkeit der modernen parlamentarischen
Demokratie bietet in der Tat ihre besonderen Probleme. Es hat sich ein Wandel der
Gesellschaft vollzogen, der sich in allen Konsequenzen allen Zügen ihrer politischen
Organisation und allen ihren politischen Einrichtungen mitteilt. Die moderne Gesell-
schaft ist nicht mehr die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Auch ihre politische Orga-
nisation ist es nicht.
Es kann in der vorliegenden Arbeit nicht der Versuch gemacht werden, in voller
Breite die Theorie· der modernen Gesellschaft und ihrer politischen Organisation zu
entwickeln. Ein solches Unterfangen würde den dieser Arbeit gesetzten Rahmen spren-
gen. Zahl und Umkreis der von earl Schmitt berührten Probleme sind allzu groß, als
daß sie hier eine volle Bewältigung erfahren könnten. Auch sind viele der Probleme
und Zusammenhänge einer endgültigen Behandlung noch gar nicht fähig. Worauf es
im folgenden Teil ankommen soll, ist also nur dies: auf einige Zusammenhänge auf-
merksam zu machen, die die Fragwürdigkeit der Deutungen und Konstruktionen
earl Schmitts zu erweisen geeignet sein können; die Möglichkeit ganz anderer Deu-
tungen vorzustellen und dadurch die ideologischen Momente in der Kritik earl
Schmitts greifbarer zu machen. In diesem Sinne gilt es jetzt, versuchsweise die neue
gesellschaftlich-politische Wirklichkeit des gegenwärtigen Jahrhunderts anders als
earl Schmitt zu beschreiben und jene Funktionen zu bestimmen, die ihre verschiedenen
politisch-gesellschaftlichen Gebilde und Einrichtungen besitzen. Es wird dabei nicht
vorübergegangen werden dürfen an den Ambivalenzerscheinungen, die sich jenen Ge-
bilden und Einrichtungen verbinden. Es wird vielmehr versuchsweise hervorzuheben
sein, welche legitimen Funktionen sie jeweils erfüllen, welche Gefahren sie herauf-
führen und von welchen Krisen sie bedroht sein können.
96 Die Entwicklung zur organisierten Massengesellschaft

Diese Analyse soll eines offenbar werden lassen: daß earl Schmitts Behauptung
der Illegitimität und Disfunktionalität des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats in
der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit der Gegenwart sich ausschließlich aus einer
BegriffsbiIdung erg~bt, deren Berechtigung, unbeschadet ihrer immanenten Logik,
durchaus zweifelhaft ist. "Parlamentarischer Gesetzgebungsstaat" bedeutet doch zu-
nächst nur ein Modell, eine idealtypische Konstruktion und also ein begriffliches, zur
Beschreibung der Wirklichkeit erst bestimmtes Gebilde. earl Schmitts Begriffsbildung
aber gewinnt ihre Ansätze zu guten Teilen aus politischen Werturteilen und summari-
schen weltanschaulichen Alternativen. Die begriffliche Explikation des gesetzgebungs-
staatlichen Modells will eben als Explikation von Legitimitätsbedingungen verstan-
den sein und damit von vornherein als ein Unternehmen, das am Ende wiederum
politische Werturteile ermöglichen soll, wie es zu Anfang schon von politischen Wert-
urteilen ausging. Diese politische Grundwerthaltung, die sich in den entsprechenden
weltanschaulichen Alternativen kundgibt und die also mit entsprechenden Leitvor-
stellungen die gesamte Begriffsbildung durchformt, vermag auch keineswegs zu über-
zeugen, sondern erweist sich im Gegenteil, auch vor dem Richtstuhl der Geschichts-
philosophie, als ideologieverdächtig. Wenn es der Sinn der Geschichte und das,
was sie ,dem Menschen aufgibt, ist, den Menschen zu sich selbst zu befreien, die
Entfremdung zwischen ,den Menschen und ihren Verhältnissen aufzuheben, dann ist
eine Alternative wie ,die von Legalität und Legitimität, die earl Schmitt als die eigent-
liche Alternative der Zeit angesehen wissen will, eine I.deologie, ein falsches Bewußt-
sein. Dann verdeckt die Vorstellung, es sei zwischen der leeren Legalität eines par-
lamentarischen Gesetzgebungsstaats UIl!d der substantiellen Legitimität eines plebiszi-
tären Regierungsstaats zu wählen, nur die wahre Alternative zwischen der in einer
parlamentarischen Demokratie zu suchenden Freiheit und einer totalitären Herr-
schaft, deren fragwürdiger geschichtlicher Ruhmsucht die Freiheit zum Opfer gebracht
werden soll.
Der folgende Versuch zu einer Analyse der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit
der Gegenwartsgesellschaft soll den Nachweis vorbereiten - der dann später auszu-
führen sein wird -, daß earl Schmitts Behauptung der Illegitimität und Disfunktiona-
lität der parlamentarischen Demokratie zu wesentlichen Teilen nur unter einer Vor-
aussetzung evident scheint; wenn nämlich für ein anderes politisches System optiert
und eine andere, gegensätzliche politische Erwartung gehegt wird. Die Voraussetzung
dieser Evidenz ist, ,daß earl Schmitt sich einer politischen Tendenz verschreibt. Deren
Zielsetzungen sind im Vergleich zur Wirklichkeit und zur politischen Möglichkeit
aber selbst erst einer genaueren Analyse bedürftig. Die kritische Analyse dessen, was
eine politische Bewegung solcher antiparlamentarischen Zielsetzung in der politisch-
gesellschaftlichen Wirklichkeit erwarten lassen mußte, muß aber den ideologischen,
irrtümlichen und verirrten Oharakter solcher Zielsetzungen offenbar machen. Sie ver-
mag zu zeigen, daß eine politische Bewegung, die solchen Zielsetzungen folgt, für die
Wirklichkeit Schlimmeres anstatt Besseres gewärtigen lassen mußte. So wird sich bei
genauerem Zusehen also herausstellen, daß jene Behauptung der Illegitimität und
Disfunktionalität der parlamentarischen Demokratie in ihrer ganzen Konsequenz nur
für ein selbst ideologisches und unkritisches Bewußt1>ein eVlident sein kann. Es ist die
gegensätzlich orientierte politische Opoion earl Schmitts, die ihn alle Gefährdung,en
der parlamentarischen Demokratie bereits für letale Krisen und die politisch-gesell-
schaftliche Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie unter modernen Verhält-
nissen, weil sie komplizierter als das für sie idealtypisch entwickelte Modell ist, bereits
für einen immer unerträglicher werdenden Entartungszustand ansehen läßt.
Methodische Vorbemerkung 97

Methodische Vorbemerkung
Die Wirklichkeit der Gegenwartsgesellschaft wird nicht aus dem isolierten zeitgenös-
sischen Augenblick, sondern aus dem Zusammenhang des geschichtlichen Wandels zu
verstehen sein. Sie ist, so wird sich vielleicht behaupten lassen, in ihrer Grundform
bestimmt durch den Wandel von der liberalen Konkurrenzgesellschaft zur organisier-
ten Massengesellschaft. Das ist freilich eine summarische Formel, mit der versucht
wird, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf einen Nenner zu bringen. Aber der
so gekennzeichnete Wandel läßt sich durch alle Lebensbereiche hindurch verfolgen, in
der kulturellen und der politischen Sphäre nicht minder als in der wirtschaftlichen.
Denn es handelt sich um einen durchgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsvorgang.
Zumal die Veränderungen und Umwälzungen der politischen Organisation, die sich in
den letzten hundert Jahren zugetragen haben und die auch die Probleme der Gegen-
wart ausmachen, müssen in diesem umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang
verstanden werden.
Die Frage, auf welche die summarische These, die Gegenwartslage sei durch einen
Wandel von der liberalen Konkurrenz- zur organisierten Massengesellschaft bestimmt,
Antwort geben will, ist sozialtechnischer Art. Es gehört zu den fundamentalen, diese
Wissenschaft geradezu konstituierenden soziologischen Einsichten, daß alles mensch-
liche Verhalten gesellschaftlich bestimmt und mitgeformt ist. Soziologie ist insofern die
Wissenschaft vom gesellschaftlichen Handeln. Das menschliche Verhalten, sofern es
nur überhaupt, beeinflussend oder beeinflußt, einen Bezug auf das Verhalten anderer
Menschen hat, ist stets an effektiven Chancen und an normativen Werten orientiert.
Werte und Chancen sind nicht dasselbe. Die Chancen stellen in einem ganz wertneu-
tralen Sinne den Ausschnitt der typisch erreichbaren unter den denk- und wünsch-
baren Möglichkeiten des Verhaltens und seiner Auswirkungen dar. Die Werte hin-
gegen sind jene Verhaltensregulatoren, durch die auch unter den Chancen noch eine
Auswahl getroffen werden kann und in denen sich die gegenseitige Angewiesenheit
der Menschen zur Geltung bringt. Beide aber, normative Werte und effektive Chan-
cen, sind gesellschaftlich bedingt. Auf den Wegen bei der wirkt sich die "socia! con-
tro!", jenes Maßwalten aus, das die gesellschaftlichen Gruppierungen und Verhältnisse
über jeden einzelnen ausüben. Durch dieses Maßwalten, das die gesellschaftlichen
Gruppierungen und Verhältnisse auf dem Wege über die Bereitstellung von Chancen
und die Bildung von Werten ausüben, erfährt das Einzelverhalten eine gewisse Stabi-
lisierung, die es möglich macht, in gewissen Wahrscheinlichkeitsgrenzen bei gegebenen
Bedingungen auf bestimmte Verhaltensweisen zu rechnen. Das nieder und höher, enger
und weitläufiger verwobene gesellschaftliche Handeln der Menschen läßt sich so
technisch begreifen: als die jeweilige Wahrnehmung oder Verfehlung von Rollen, Po-
sitionen und Funktionen in strukturierten höheren gesellschaftlichen Zusammenhän-
gen. Zumal die verschiedenen Weisen des gesellschaftlichen Maßwaltens über das Ein-
zelverhalten werden sich als verschiedene Methoden der socia! contro! betrachten und
in gewissen Grenzen dann auch im politisch instrumentalisierenden Sinne als Tech-
niken handhaben lassen.
In diesem Sinne will jene These von der Verwandlung der liberalen Konkurrenz-
in eine organisierte Massengesellschaft die historisch-gesellschaftlichen Veränderungen
als Veränderungen der "socia! contro!" 451 beschreiben. Für das bessere Verständnis
des Folgenden werden dabei einige Unterscheidungen nützlich sein, in denen sich u. a.
die Verschiedenheit von Werten und Chancen verdeutlicht. Kar! Mannheim hat dar-
auf hingewiesen, daß es "in the field of social control" zunächst einmal direkte und
451 Karl Mannheim hat den sozialtechnischen Charakter dieses Begriffs bestimmt in: Man and Society in an
Age 0/ReconstTuction. Studies in Modern Social StTuctuTe, London 1940, S. 239 H.; S. 265 H.
98 Die Entwicklung zur organisierten M assengesellscha/t

indirekte "methods of influencing human behaviour" zu sondern gilt. Der direkte


Einfluß ist stets der Einfluß eines individuellen Willens auf einen anderen individuel-
len Willen. Diese Einwirkung ist in jedem unmittelbar erteilten Gebot oder Verbot
gegeben, in jeder Weisung oder Verweisung, die der Lehrer dem Schüler, die Eltern
dem Kind, der Meister dem Arbeiter, der Chef der Sekretärin, der Rat dem Beamten,
der Nachbar dem Nachbarn erteilt. Dabei wird allerdings in der Mehrzahl der Fälle
der Gebietende, wissentlich oder unwissentlich, selbst nur der Exponent und Über-
mittler von Ansprüchen sein, die auch hinter ihm stehen und über- oder unpersönlicher
Natur sind. Er wird also der übermittler von indirekten Einflüssen und Auswirkun-
gen der socia! contro! sein. Indirekte Verhaltensformung liegt vor, wenn "the action,
outlook, and habits of the individual" beeinflußt sind "by conscious or unconscious
control of the natural, social, or culoural surroundings".452 Der indirekte Einfluß
wirkt gleichsam von weitem und entspringt entfernten Quellen. Dabei handelt es sich
aber nicht um einen individuellen oder persönlichen Willen, sondern entweder um
überpersönliche Gruppennormen und tradierte Institutionen oder einfach um unper-
sönliche Situationen, die sich aus objektiven Konstellationen in der gesellschaftlichen
Feldstruktur ergeben. Diese Unterscheidung innerhalb der indirekten Einflüsse ist
sehr wichtig.
Im einfachsten Falle ist das Subjekt, von dem die socia! contro! ausgeht, eine kon-
krete soziologische Gruppe. Da es sich um die indirekten Einflüsse handelt, ist es im-
mer eine sekundäre, keine primäre Gruppe,453 jedenfalls aber eine konstituierte
Gruppierung und weder eine unorganisierte Masse noch eine nichtorganisierte funk-
tionelle Konfiguration. In der konstituierten sekundären Gruppe wird entweder der
Charakter einer Gemeinschaft oder der einer Gesellschaft vorherrschen. Ihre hervor-
tretenden Charakterzüge werden mithin entweder dadurch bestimmt sein, daß sie
überwiegend ein Gebilde ist, in das die Mitglieder hineingeboren werden und in dem
sie sich existentiell verwurzelt wie emotionell gebunden fühlen; oder im Gegenteil
dadurch, daß sie überwiegend ein Produkt vorsätzlicher Organisation ist, das seine
Mitglieder stets nur in dieser oder jener Hinsicht interessiert und nur zweckrational
bindet. In der »Gemeinschaft" vermittelt sich die social control vor allem auf dem
Wege über die ungeschriebenen Konventionen, in festen Gewohnheiten, altüberkom-
menen Sitten und deutlich geregelten Institutionen, durch allen gemeinsame Wertvor-
stellungen und eingelebte Daseinsformen also. Diese umschreiben den Spielraum der
Verhaltensmöglichkeiten, zu denen die Gruppe ihre Mitglieder ermuntert oder zwingt,
die sie freistellt oder hemmt. In der »gesellschaftlichen Assoziation" hingegen über-
mittelt sich die socia! contro! vor allem im Wege der rationalen Satzung von Normen,
der zweckrationalen Verteilung von Funktionen, durch organisatorische Planung,
Administration und zielbewußte Koordination.
Sieht man vom Verhalten in der unorganisierten konkreten Masse ab, das seinen
eigenen psychologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, so lassen sich den eben geschil-
derten Einflüssen, die von konkreten Gruppen ausgehen, die indirekten Verhaltens-
determinationen gegenüberstellen, die sich aus sog. funktionellen Konfigurationen er-
geben. Es handelt sich um "social controls which are based on the interdependence
of human action without being centred in concrete groups, communities, or associa-
tions".454 "We speak of the influence of a field structure on the character of an in-
dividual, if we cannot explain his behaviour by group institutions or by the mechani-
cal patterns of organization, but only by a more or les,s free adjustment to the pressure
m A. a. 0., S. 275.
"3 Vgt. zu diesen Begriffen Roben M. McIver and eharles H. Page, Society. An Introductory Analysis,
London 1950.
'" Mannheim (Anm.45I), S.295.
Die gesellschaftlichen Grundprozesse 99

of segmental influences." 455 Eine Feldstruktur ist immer dort gegeben, wo eine Gesell-
schaft, an statt sich in konzentrischen Kreisen aus~ubreiten, neue Aktionssphären her-
ausbildet, die die Grenzen der konkreten Gruppen sprengen, wie Mannheim sagt. Die
typische soziologische Konfiguration, die, ohne selbst eine fest formierte soziologische
Gruppe zu sein, bestimmte Chancen und Ansprüche an das Verhalten des Indivi-
duums heranbringt, vom Individuum eine bestimmte Einpassung verlangt und auf
diese Weise sodal control ausübt, ist der offene Markt. Die Partner, die sich auf dem
Markt begegnen, sind vor eine Vielzahl von Situationen gestellt, in denen sie frei
konkurrieren können und müssen, ohne daß ihr Verhalten unter bestimmten gesell-
schaftlichen Vorgeboten stände. Die Regulation des Verhaltens erfolgt allein durch
die objektive Verteilung von Chancen und Risiken. Die social control vollzieht sich
hier nicht so sehr über die Setzung und Befolgung von Werten als vor allem über die
Verteilung der Chancen und Risiken, die sich entweder selbstgesetzlich oder aber nach
absichtlicher Planung gestaltet.
Bleibt man dieser Unterscheidungen in den Weisen der social control eingedenk, so
lassen sich die Schwierigkeiten in der modernen Industriegesellschaft in das Problem
fassen, wie die offensichtlichen Irrationalitäten im System der social controls selbst
wieder unter Kontrolle gebracht werden können. Denn die Irrationalitäten im System
der social controIs, mit denen eine liberale Konkurrenzgesellschaft immer noch funk-
tionsfähig blieb, kann sich eine organisierte Massengesellschaft offensichtlich nicht
mehr leisten. Angesichts der Dynamik der modernen gesellschaftlichen Entwicklung
kann sie auch die selbständige Herausbildung der für die Funktionsfähigkeit der Ge-
sellschaft notwendigen social control, die sich naturgemäß langsam vollzieht, nicht
abwarten. Die liberale Konkurrenzgesellschaft war durch die Gewichtigkeit der kon-
stellativen social controls charakterisiert und dadurch, daß sie diese ihrer Eigengesetz-
lichkeit überließ. Die organisierte Massengesellschaft aber, in der eine Mehrzahl von
Großverbänden ihre eigenen und widerstreitenden sodal controls ausübt, kann sich
nicht mehr der Selbstgesetzlichkeit der konstellativen social control anvertrauen, son-
dern muß versuchen, diese selbst zu planen, um die sodal controls der Groß verbände
zu koordinieren und ihre Macht zu zähmen.

Die gesellschaftlichen Grundprozesse


Versucht man in dieser, soziologische Funktionszusammenhänge beachtenden Weise,
den Zustand der modernen Gesellschaft näher zu beschreiben, so zeigen sich wenigstens
drei Gruppen von gesellschaftlichen Grund- und Fundamentalprozessen, die den Wan-
del von der liberalen Konkurrenz- zur organisierten Massengesellschaft tragen und
hervorbringen. Es ist im wesentlichen Karl Mannheim gewesen, der sie herausgearbei-
tet hat. Die drei Gruppen von Fundamentalprozessen sind diese: 1. Prozesse ,der Des-
integration traditioneller Gemeinschaften. Es handelt sich dabei um jene Vorgänge der
Liberalisierung und Emanzipation, durch die die Gliederung der vorbürgerlichen Ge-
sellschaft zersprengt und die Entwicklung der dynamischen Industriegesellschaft er-
öffnet wurde. Sie bewirkten einen allgemeinen Abbau der alten Lebensgemeinschaften
und Lebensformen, in denen der einzelne gebunden, aber auch geborgen war. Auf der
einen Seite stellen sie sich als Befreiung von ständischen Bindungen dar, auf der an-
deren Seite vertiefen sie aber alle jene Erscheinungen, die man als Atomisierung der
Gesellschaft, als Entwurzelung des einzelnen, als Vereinsamung in der Masse, als Des-
integration, als fundamentale Konkurrenz zu beschreiben versuchte. Diese Prozesse
sind gleichsam die Kehrseite der verkehrswirtschaftlichen Expansion, der industriellen

m A. a. 0., S. 296 f.
100 Die Entwicklung zur organisierten Massengesellschaft

Entwicklung und des gesellschaftlichen Fortschritts. Sie resultieren in einem. "Displace-


ment 0/ Self-Regulating Small Groups" und in einer "Desintegration 0/ Traditional
Group Controls".456
2. Die zweite Gruppe von Fundamentalprozessen bilden alle jene Tendenzen, die
zu dem führen, was Karl Mannheim als Steigerung der gesellschaftlichen Interdepen-
denz 457 zu beschreiben suchte. Die extensive und intensive Expansion der sich indu-
strialisierenden Verkehrsgesellschaft führt dazu, daß die in der Arbeitsteilung gege-
bene Abhängigkeit der Menschen immer weitläufiger wird. Die zwischenmenschlichen
Verhältnisse vermitteln sich vielfacher. Diese Verflechtung der Beziehungen gilt nicht
nur innerhalb der einzelnen gesellschaftlichen Lebensbereiche, wie besonders offenkun-
dig in der Wirtschaft, deren Märkte sich differenzieren, ausdehnen und abstrakt wer-
den, deren Zirkulationsprozesse immer komplizierter, deren Produktions-, Distribu-
tions- und Konsumtionszusammenhänge immer verwickelter werden. Die Interdepen-
denzsteigerung läßt sich auch zwischen den verschiedenen Lebensbereichen verfolgen,
so in der Verwirtschaftlichung von Kultur und Politik, in der Politisierung von Wirt-
schaft und Kultur, in der gegenseitigen Beeinflussung und Bedingung von kulturellen,
sozialen, ökonomischen, politischen, ideologischen Prozessen. Mit dieser allgemeinen ge-
sellschaftlichen Interdependenzsteigerung verbinden sich Prozesse der funktionellen Ra-
tionalisierung, der Ausweitung in der Verklammerung zweckrationaler Handlungs-
zusammenhänge und der fortschreitenden Durchorganisierung der Gesellschaft, Pro-
zesse, die immer präziser eingepaßte und weitläufiger disziplinierte Verhaltensweisen
der Menschen erforderlich machen und sie somit zu funktionalisieren scheinen. Außer-
dem läßt die allgemeine Interdependenzsteigerung weitere und nicht minder bedeutungs-
volle gesellschaftliche Prozesse entspringen. So leistet sie Konzentrationserscheinungen
Vorschub. Tendenzen zur Konzentration der Verfügungsgewalten, zur Herausbildung
immer höherer, zugleich an Einfluß gewichtigerer und an Zahl geringerer Schlüssel-
positionen setzen sich durch. Die allgemeine Interdependenzsteigerung ermöglicht und
verlangt sodann die Entwicklung von neuen Techniken zur Menschenbeeinflussung
und Verhaltensgestaltung. Diese von Mannheim so genannten "social techniques"
werden vor allem in den Bereichen der Propaganda und öffentlichen Meinungsbil-
dung, in der Werbung und Reklame, in der industriellen, politischen und administra-
tiven Organisation wichtig. Außerdem begünstigt die allgemeine Interdependenzsteige-
rung jene vielberedeten Prozesse der Bürokratisierung, die so charakteristisch für das
moderne Leben geworden sind. Die fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung bietet
also den Ansatz ebenso zum weiteren Abbau traditioneller Gemeinschaftsformen wie
zur Integration neuer Vergesellschaftungsformen. Und sie führt im ganzen zu einer
Neudimensionierung des menschlichen Daseins, in dem jetzt kleine und scheinbar pri-
vate Ursachen große gesellschaftliche und öffentliche Wirkungen zeitigen.
3. Die dritte Gruppe von Fundamentalprozessen ist bereits mit dem Hinweis auf
diese Neudimensionierung des menschlich-gesellschaftlichen Daseins angedeutet. Es han-
delt sich um Vorgänge einer allgemeinen Aktivierung und einer durchgreifenden Poli-
tisierung aller gesellschaftlichen Schichten. Kar! Mannheim 458 hat diesen Prozeß als
Fundamentaldemokratisierung bezeichnet. Die dynamische Wirtschaftsgesellschaft bil-
det neue Schichten heraus und bezieht alle alten gesellschaftlichen Schichten in ihre
Bewegung ein. Dadurch, daß sie einerseits die Menschen aus ihren traditionellen Bin-
dungen herauslöst und sie anderseits der allgemeinen gesellschaftlichen Dynamik
ausliefert, sie mit deren Bedürfnissen und Ängsten in immer dichtere und weitläu-
." Karl Mannheim, Freedom, Power, and Democratic Planning, ed. by Han, Gerth and Erne't K. Bramstedt,
London 1951, S. 11; S. 13.
m Mannheim, Man and Society . •. (Anm. 451), S. 49 H.
m A. a. 0., S. 44 H.
Der Zustand der liberalen Konkurrenzgesellscha/t 101

figere Abhängigkeiten verstrickt, bringt sie ihnen ihre Macht und ihre Ohnmacht zum
Bewußtsein, belebt die Reflexion auf ihre Interessen und führt sie zur aktionsbereiten
Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten.

Der Zustand der liberalen Konkurrenzgesellschaft


Getragen von diesen gesellschaftlichen Grundprozessen geht der Wandel von der
liberalen Konkurrenz- zur organisierten Massengesellschaft vonstatten. Trotz seiner
weltgeschichtlichen Geschwindigkeit vollzieht er sich in allmählichen Zustandsverän-
derungen. Aber die Menge der kleinen Wirkungen ruft schließlich jenen Qualitäts-
wechsel der typischen Erscheinungen hervor, die dazu berechtigt, von einem Struktur-
wandel zu sprechen.
Die Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, die hier als liberale Konkurrenzgesell-
schaft bezeichnet wird, ist charakterisiert durch die strukturbildende Kraft der Wirt-
schaftsprinzipien, denen vor allem das aufstrebende Bürgertum folgte. Die gesell-
schaftliche Schichtung der frühbürgerlichen Zeit bis noch ins 19. Jahrhundert hinein
war durchaus nicht durchgängig von der sich ausbreitenden Industrie- und Verkehrs-
gesellschaft geprägt. Große Teile der Bevölkerung lebten noch auf dem Lande und
prägten ihre Lebensformen in bäuerlicher Arbeit und auf dem weitgehend selbst-
genügsamen Dorf. Anderseits spielten für die gesellschaftliche Gliederung sowohl
die traditionell privilegierten Stände, zumal der Grundadel, als auch der Klerus und
vor allem, als die wichtigsten Träger der staatlichen Gewalt, Beamtentum und Heer
eine bedeutende Rolle. Diesen überwiegend konservativen Kräften und Schichten
stand das vorwärtsdrängende und die Gesellschaftsordnung revolutionierende Bür-
gertum gegenüber. Die Entwicklung verlief in den einzelnen Ländern und Gebieten
sehr verschieden. Im Ergebnis erweisen sich jedoch die bürgerlichen Wirtschaftsweisen
immer als typisch und als die eigentlichen Entwicklungskräfte. Die fortschreitende
Expansion kapitalistischer Erwerbswirtschaft durchdringt die gesamte Ges·ellschafts-
struktur und verändert sie gründlich.
Auf der Höhe des 19. Jahrhunderts ist der Gesellschaftszustand charakterisiert
durch eine Fülle von gewerblichen und Handelsunternehmungen, die die ganze Ge-
sellschaft als einen großen und sich vielfältig differenzierenden Markt behandeln. Die
Zunftbindungen des Mittelalters sind gesprengt. Privateigentum und Freiheit des
Vertrages werden jetzt zu Grundrechten erklärt. Der industrielle Fortschritt lebt von
der laufenden Erfindung neuer Güter und Produktionsweisen, der Aufschließung neuer
Gebiete und Märkte. Kußerlich gibt sich die Dynamik dieser Entwicklung kund in
der Entstehung immer neuer Fabriken, Gruben und Hütten, im schnellen Wachstum
der Städte, in der Wanderung der Arbeitskräfte vom Lande zu den Produktionsstät-
ten, im Ausbau der Verkehrswege, Eisenbahnen, Kanäle und der Schiffahrt, einer
durchgreifenden Technisierung und Motorisierung des Daseins.
Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hat neue gesellschaftliche Schichten
ins Leben gerufen und alte bedroht. Das Handwerk wird durch die Fabrikwirtschaft
bedrängt, ein einflußreiches Großbürgertum läßt ein weniger begütertes Kleinbürger-
tum hinter sich zurück, es entsteht das Industrieproletariat. Damit kommen auch neu-
artige gesellschaftliche Spannungen herauf wie die zwischen Landwirtschaft und In-
dustrie, Bourgeoisie und Proletariat. Der innere Zustand dieser bürgerlichen Gesell-
schaft ist im ganzen gekennzeichnet durch die ununterbrochene, sowohl intensive als
auch extensive Expansion von Handel und Gewerbe, die getragen wird durch die
Konkurrenz vieler relativ kleiner Wirtschaftsunternehmen, ein Prozeß, der immer
weitere Kreise der Bevölkerung in sich einbezieht, auch immer höhere Organisations-
stufen erreicht, doch in dieser Phase der gesellschaftlichen Entwicklung sowohl die
102 Die Entwicklung zur organisierten Massengesellschaft

Produktions- wie die Distributions-, Konsumtions- und Zirkulationsphänomene


durchweg vom Konkurrenzprinzip beherrscht sein läßt. Die liberale Konkurrenz gilt
ideologisch als das Vehikel des Fortschritts, und ist es auch, unterliegt aber ihren eige-
nen Gesetzlichkeiten. Die freie Konkurrenz ergibt eine gesellschaftliche Feldstruktur,
die eine eigengesetzliche social control ausübt. In politischer Hinsicht wird von sei-
ten des Bürgertums eine Konstitutionalisierung des Staates durchgesetzt. Nichtinter-
vention in die inneren Angelegenheiten der bürgerlichen Gesellschaft wird zum Grund-
satz für staatliches Handeln erhoben. Das politische, rechtliche und gesetzliche Rah-
menwerk der Gesellschaft soll im wesentlichen nur die Grundbedingungen der libera-
len Konkurrenzgesellschaft effektuieren. 459

Der Zustand der organisierten Massengesellschaft


Der Fortschritt der liberalen Konkurrenzgesellschaft unterliegt einer eigengesetzlichen
Entwicklung. Er stellt sich in gewisser Hinsicht als gradlinige Fortsetzung einmal be-
gonnener Prozesse dar. Doch führt er zu einem Zustand der Gesellschaft hinüber,
der sich schließlich doch als qualitativer Wechsel, als neuer, grundverschiedener Ag-
gregatzustand und als Verwandlung der ganzen Szene erweist. Die Entwicklung
bringt das hervor, was hier idealtypisch als organisierte Massengesellschaft bezeichnet
werden soll.
Zunächst läßt sich ein weiteres Fortwirken der verkehrswirtschaftlichen Expan-
sions- und Intensivierungsprozesse konstatieren. Es vollzieht sich eine zunehmende
Verstädterung der Gesellschaft und eine weitere Industrialisierung der Wirtschaft.
Der Anteil der landwirtschaftlich Tätigen an der Gesamtbevölkerung geht weiter zu-
rück. Die Mechanisierung und die rationalisierte Produktion greift auch in der Land-
wirtschaft Platz und verändert so die Gesellschafts- und Lebensformen auch der bäuer-
lichen Bevölkerung. Der Verkehr beschleunigt und intensiviert sich weiter. Aber die
liberale Konkurrenzgesellschaft zeitigt auch zunehmend stärker wirkende Erscheinun-
gen einer unerwarteten Eigengesetzlichkeit: Konkurrenz-, Geld- und Absatzkrisen
mitsamt ihren Folgen von Arbeitslosigkeit und Teuerung. Neben der Tendenz zu
Großbetrieben, Vermehrung des stehenden Kapitals und Kapitalkonzentration treten
nun Tendenzen zur Kartell-, Konzern- und Trustbildung auf, weil die Wirtschafts-
subjekte versuchen, ihr konkurrenzwirtschaftliches Risiko zu vermindern und ihre
profitwirtschaftlichen Chancen gegenüber der Konkurrenzfreiheit zu verbessern.
Hatte der verkehrswirtschaftliche Expansionsprozeß eine Situation hervorgebracht,
in der die Lebenschancen der Menschen vorherrschend von ihrer Klassenlage, von ihrer
Stellung im Produktionsprozeßabhängig wurden, und hatt'e er damit die Klassen-
schichtung zum vordringenden Prinzip der gesellschaftlichen Gliederung gemacht, so
führte er nun zu Spannungen, die in antiliberalistischen Organisationen klassenbe-
stimmter Interessen resultierten: Es bildeten sich in den wirtschaftlich-gesellschaft-
lichen Auseinandersetzungen große Interessenverbände und organisierte Bewegungen,
wie die gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse der Arbeiter und die Wirtschaftsorgani-
sationen der Unternehmer, die die gesamte Bestandsstruktur der Gesellschaft ebenso
wie die Verlaufsstruktur des Gesellschaftsprozesses verändern .

• 59 Khnlich beschreibt Mannheim, Freedom . .. (Anm. 456), S. 110 f., diese Zusammenhänge: "The liberal state
arose with the advent of industry and free enterprise, proclaiming the free market and the right of the individual
to find his own economic niche as basic principles of soeial organization. The liberal believed in the voluntary
co ordination of individual activities and intergroup relationships. The state should not interfere; it should only
provide the legal framework for the smooth functioning of the innumerahle processe. of voluntary assoeiation and
ftee enterprise. U
Der Zustand der organisierten Massengesellschaft 103

Die staatliche Gewalt, die in der liberalen Konkurrenzgesellschaft der Intention


nach möglichst neutral sein sollte, wird nun zu einem immer interessanteren Faktor
im Geselischaftsprozeß. Das heißt: die nicht zuletzt wirtschaftlich bestimmten Inter-
essen politisieren sich zusehends und versuchen, sich auf dem Wege über die politische
Macht durchzusetzen oder zu sichern. 460 So entstehen auf seiten der proletarischen
Bevölkerungsteile große Massenparteien, die nach Eroberung der Staatsgewalt stre-
ben, um von dorther umwälzend in die Bestands- und Verlaufs struktur der Wirt-
schaftsgesellschaft eingreifen zu können. Auf der Gegenseite versuchen bürgerliche und
konservative Parteien eine Massenbasis zu gewinnen, um den Druck der politisierten
Interessen aufzufangen und wiederum mit politischen Mitteln auf dem Wege über
Gesetzgebung und Verwaltung in ihrem Sinne regulierend in den Prozeß der Wirt-
schaftsgesellschaft einzugreifen. Sobald hier ein politisch vermitteltes Klassengleich-
gewicht 461 erreicht ist, kommt zutage, daß auch speziellere Konflikte 462 von wirtschaft-
lichen Interessengruppen gemeinsamer Klassenlage sich auf dem Wege über die Staats-
gewalt auseinanderzusetzen suchen, wie die Konflikte zwischen Grund- und Ver-
tdelungsindustrie oder die zwischen landwirtschaftlichem Großgrundbesitz und In-
dustrie oder schließlich auch zwischen verschiedenen Gewerkschaften. Der Prozeß der
volkswirtschaftlichen Expansion verwandelt so den Zustand der liberalen Konkur-
renzgesellschaft in den der organisierten Massengesellschaft. Er läßt neue Schichten
entstehen wie erst das Proletariat und dann den unselbständigen Mittelstand. Er ak-
tiviert die Massen der Bevölkerung zu einer sich immer mehr politisierenden Wahr-
nehmung ihrer überwiegend wirtschaftsgesellschaftlich bestimmten Interessen, ruft
aber in diesem Zusammenhang auch die verschiedensten, immer gesellschaftspolitisch
orientierten Ideologien hervor, die zum Medium der Organisation jener politisierten
gesellschaftlichen Interessen we1"den.
Die Politisierung des Interessenkampfes führt schließlich zur ständigen Vermehrung
der Staatsaufgaben, d. h. vor allem der administrativen, legislativen und richterlichen
Funktionen. Dadurch verwandelt sich das Verhältnis von Staat und Wirtschaft aus
einem Anteil- in ein Kontrollsystem. Die politische Gewalt gewinnt auf dem Wege
über Besteuerung, Kredit-, Zoll-, Investitionslenkungs-, Subventionierungspolitik
Macht über immer größere Teile des Sozialprodukts und Volkseinkommens. Zugleich
gewinnt die sich stark vermehrende Schicht der öffentlichen Beamten und Angestell-
ten, die sich wiederum interessen-politisch organisierende Bürokratie, ein besonderes
Eigengewicht im gesamtgesellschaftlichen Prozeß, wodurch der organisierten Massen-
gesellschaft ein neues Element zuwächst. Der neue Zustand der Gesellschaft ist insge-
samt nicht mehr durch die liberale Konkurrenz einer Vielheit von Unternehmungen

460 So beschreibt Hermann He1ler, Artikel "Political Power", in: Encyclopedia 0/ the Social Sciences, New York
1934, val. XII; ebenso in ders., Staatslehre, hrsgg. von Gerhart Niemeyer, Leiden 1934, daß politische Macht nicht
nur durch den Staat ausgeübt wird, sondern auch durch kleinere politische Assoziationen innerhalb des Staates.
Solche politischen Assoziationen erstrecken sich quer durch die Staatsgrenzen ebenso wie durch die Kirchen, Unter-
nehmerorganisationen, Gewerkschaften und ähnliche Gruppen, die nur mittelbare politische Macht haben. Der
einzige Weg, auf dem die mindere Machtgruppe sicher sein kann, ihren Willen im allgemeinen Leben der Be-
völkerung zur Geltung zu bringen, ist der Weg zur Erreichung des li.ußersten an Macht, nämlich Staatsrnacht. Die
Einheit des Staates wird so von Heller als eine dialektische Vermittlung von Gegensätzen verstanden. Jede Inter-
essengruppe versucht der Tendenz nach ihr Interesse in staatlich gesetztes Recht zu verwandeln und wenigstens,
wenn nicht die Kontrolle über das Ganze, so doch ihren appropriierten Platz im öffentlichen System zu erreichen.
461 Vgl. Otto Bauer, .Das Gleichgewicht der Klassenkräfte", in: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift,
Wien 1924; ders., Die österreichische Revolution, Wien 1923.
46' Moritz Julius Bann, Die Krisis der europäischen Demokratie, München (Karlsruhe) 1925, S. 130, weist z. B.
darauf 'hin, daß die "vertikale Klassentrennungslinie" in den politischen Zersplitterungen angesichts des Vor-
dringens wirtschaftlicher Fragen "durchaus nicht immer am deutlichsten sichtbar" sei, vielmehr die "Reibung der
Interessen zwischen benachbarten Berufsgruppen, die auf dem Boden der privatkapitalistischen Ordnung stehen .. 'J
oft sehr viel stärker als der Gegensatz zwischen ,Klassen'" sei.
104 Die Entw'icklung zur organisierten Massengesellschaft

und die politische Aktivität von Minoritäten charakterisiert, sondern durch den poli-
tischen Machtkampf zwischen Großorganisationen, wirtschaftspolitischen Interessen-
gruppen, gesellschaftspolitischen Verbänden und Massenbewegungen, politischen Par-
teien und Weltanschauungen. Im Zustand der organisierten Massengesellschaft zeigt
sich die Gesellschaft mithin von starken partiellen Integrationsbewegungen durch-
drungen, durch sie aber auch in hohe Spannungen versetzt. Da dieser Gesamtzustand
in jedem Falle ein Resultat hoher gesellschaftlicher Interdependenz darstellt, offen-
bart er allseit~ge Angewiesenheit ebensosehr wie vielseitige Widersetzlichkeit. Seine
Gesamtintegration benötigt daher ein kompliziertes System von Vermittlungen.
Der Zustand der organisierten Massengesellschaft setzt auch für den politischen In-
tegrationsprozeß, für die Probleme der staatlichen Organisation, die Bedingungen
und gibt den Einzelprozessen und Einzelinstitutionen ihre besonderen Funktionen.
Jede Gefährdung der modernen Gesellschaft entsteht aus einer Verfehlung dieser funk-
tionellen Notwendigkeiten. Es soll jetzt für einige der wichtigsten Gebilde und Zu-
sammenhänge untersucht werden, welches diese funktionellen Notwendigkeiten sind
und auf welcher Seite die Gefahren zu suchen sind.
Wie erinnerlich, hatte Carl Schmitt einige Postulate formuliert, unter denen allein
er das politische System des parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebungsstaates für
funktionell und legitim hielt und an denen gemessen er die gesellschaftlich-politische
Wirklichkeit der Gegenwart, insbesondere der Weimarer Republik, als einen Ent-
artungszustand meinte begreifen zu müssen. Das in seinen Grundzügen bereits an-
gedeutete und jetzt in einige Details hinein zu verfolgende Bild der politischen Or-
ganisation der modernen Massengesellschaft stimmt in der Tat mit jenen Postulaten
Carl Schmitts nicht überein. Gerade die nähere Analyse einiger seiner Zusammenhänge
aber läßt die funktionellen Notwendigkeiten der umstrittenen, von Carl Schmitt
zu den Entartungserscheinungen gezählten Gebilde, Auffassungen und Institutionen
erkennen. Die Grenzen der Legitimität des politischen Systems einer organisierten
Massengesellschaft, die Grenzen der Legitimität eines parlamentarisch-demokratischen
Parteienstaates sind anders zu ziehen, seine Gefahren anders zu bestimmen, als Carl
Schmitt es tat.
In diesem Zusammenhang interessieren vor allem einige besondere Erscheinungen
in der politischen Ordnung der organisierten Massengesellschaft, von denen Charakter
und Funktionsweise des Parlaments, der Wahlen, der Parteien, des unmittelbaren
Volkswillens usw. abhängen. Darauf soll jetzt des näheren eingegangen werden. 463
Wenn ein Groß- und Massenstaat von vielen Millionen Bürgern demokratisch ge-
staltet sein soll, so kann er sich nicht mehr mit Einrichtungen begnügen, die für die
politische Organisation der liberalen Konkurrenzgesellschaft ausgebildet wurden. Be-
sondere organisatorische Gebilde, die zwischen den einzelnen und den Organisationen
der Gesamtheit vermitteln, werden unerläßlich. Die Meinungs- und Willensbildung
einer organisierten Massengesellschaft bedarf besonderer Medien, Instrumente und
Organe, wenn sie sich überhaupt soll vollziehen können. Das ist einfach eine gesell-
schaftliche Notwendigkeit. In der Selbstverständlichkeit, die diese Einsicht heute be-
sitzt, zeigt sich aber der Strukturwandel des Herrschaftssystems und der Herrschafts-
bedingungen an, der sich im Wandel der liberalen Konkurrenz- zur organisierten
Massengesellschaft vollzogen hat .
... Zur allgemeinen Darstellung der politischen Konsequenzen des neueren Gesellschaftsprozesses vgl. Alfred
Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart - Berlin - Leipzig 1925. Weber will zur Ver-
meidung von Bolschewismus und Faschismus einerseits und zur überwindung der Mediatisierungsversuche des
Staates von seiten der wirtschaftlichen Interessengruppen anderseits der Umwandlung der modernen organisierten
Massengesellschaft durch die Vorstellung einer .in versmiedene Parteismattierungen zerlegte[n] nationale[n] Führer-
oligarmie auf demokratismer Mehrheitsbasis· Remnung tragen (5. 169).
Der Zustand der organisierten Massengesellschaft 105

Die liberale Konkurrenzgesellschaft bedurfte keines so vielfältig organisierten Me-


dialsystems der politischen Willens bildung. Ihren Bedingungen entsprach der klas-
sische repräsentative Parlamentarismus mit seinen typischen Normierungen. Die De-
mokratie war eine Minoritätendemokratie. 464 Der Abgeordnete sollte in gleichen,
freien, geheimen und unmittelbaren Wahlen gewählt werden. Er galt als ein mit
besonderer Würde ausgestatteter Repräsentant des ganzen Volkes und daher als an
Aufträge und Weisungen nicht gebunden, vielmehr als unabhängig und nur seinem
Gewissen unterworfen. Der Charakter seines Mandats sollte also durch die Unabhän-
gigkeit bestimmt sein. Er sollte als Persönlichkeit gewählt werden. Damit nur die
klügsten und verantwortungsvollsten Männer in die gesetzgebende Versammlung ka-
men, sollte das Wahlrecht auf die Kreise von Bildung und Besitz beschränkt sein. Die
Abgeordneten waren ihrer gesellschaftlichen Qualität nach wesentlich Honoratioren,
die jedenfalls nicht von der Politik lebten, sondern über irgend welchen Besitz verfüg-
ten oder einen abkömmlichen bürgerlichen Beruf hatten, der sie unabhängig machte
und sie auch auf Diäten nicht angewiesen sein ließ. Der Typ des Abgeordneten wurde
nicht durch den Berufspolitiker bestimmt. Das Parlament konnte als die Stätte gelten,
wo unabhängige Repräsentanten unter den Augen der öffentlichkeit in rationaler
Argumentation die Wahrheit herausfanden, die sie dann als Gesetz beschlossen. Es
fungierte als Repräsentationsorgan der Gesellschaft, das der Regierung, dem Reprä-
sentationsorgan des - monarchistischen - Staats gegenüberstand, so daß zwischen bei-
den die Herrschaftsgewalt geteilt war. In diesem System wurde auch der vorherr-
~chende Typ der Parteien bestimmt. Die Parteien waren in der Tat zu guten Teilen
nur verschiedene Strömungen in der öffentlichen Meinung, relativ lose Parteiungen
und Abgeordnetenklubs innerhalb des Parlaments und im übrigen lockere lokale
Wählervereinigungen, die sich meist nur zur Wahlzeit um bestimmte Kandidaten
scharten. Dies war, in typologischer Einseitigkeit dargestellt, die Gestalt des minoritäts-
demokratischen, repräsentativen Parlamentarismus als der Herrschaftsorganisation der
liberalen Konkurrenzgesellschaft.
Es liegt nun auf der Hand, daß diese Art politischen Systems in keiner der moder-
nen Demokratien mehr existiert. Die klassische Zeit des Parlamentarismus ist vorbei.
Für die organisierte Massengesellschaft hat sich eine neue Form der politischen Organi-
sation und der staatlichen Willensbildung entwickelt, die sich formelhaft vielleicht
als massendemokratischer Parteienstaat bezeichnen ließe. In ihr haben die klassischen
Formen und Institutionen parlamentarischer Demokratie veränderte Funktionen er-
halten und sich in ein komplizierteres System politischer Willensbildung eingegliedert.
Historisch vollzog sich dieser Wandel als ein fortlaufender Demokratisierungsprozeß.
Der klassische Parlamentarismus wurde einst durch die liberale Bewegung herauf-
geführt, die der Emanzipation des Bürgertums diente. Dem Bürgertum drängten je-
doch weitere soziale Schichten nach und erstrebten gleichfalls ihre Emanzipation. Diese
nachdrängenden Schichten wandten sich jetzt gegen die Beschränkung der Emanzipa-
tion auf die Kreise von Besitz und Bildung. Sie verstanden ihre eigenen politischen
Zielsetzungen als konsequent demokratisch und wollten die Verheißungen des Libera-
lismus erfüllt sehen. Weil der Liberalismus als Idee vom Bürgertum getragen wurde,
wandten sie sich vordergründig sogar gegen den Liberalismus, obschon sie in Wahr-
heit doch seine Erfüllung in der Verallgemeinerung suchten. Ihr wichtigstes Ziel war
zunächst die Verallgemeinerung des Wahlrechts. Der Kampf um das allgemeine
Wahlrecht im 19. Jahrhundert gibt von diesen Auseinandersetzungen ein bewegtes
Zeugnis. Seit nun das Wahlrecht allgemein und gleich und mit ihm alle Schichten des
Volkes für politisch mündig erklärt worden sind, tritt das politische System in den

.B< Vgl. die Studie von Gerhard Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie, Karlsruhe 1952.
106 Die Entwicklung zur organisierten Massengesellschaft

Status der Massendemokratie ein. Das Repräsentationsprinzip verändert seinen Sinn.


Es begründet jetzt nicht mehr die Freistellung einer bildungs- und besitzbürgerlichen
Elite, sondern die demokratische Verantwortlichkeit politischer Willensbildung. Da-
mit wird nun aber auch das ganze komplizierte Medialsystem der gesellschaftlich-
politischen Meinungs- und Willensbildung in der organisierten Massengesellschaft ge-
sellschaftlich unentbehrlich. Mandat, Wahl, Abgeordnetentypus, Parlament, Gewal-
tenteilung und Parteien gewinnen einen neuen Charakter.
Zweites Kapitel

FUNKTIONELLE NOTWENDIGKEITEN
UND POLITISCHE GEFAHREN

Verlorene und neue Funktionen des Parlaments


Zunächst das Parlament. earl Schmitt hatte gemeint, die gegenwärtige Praxis des Par-
lamentarismus zeige, daß das Parlament seinem Sinn und ursprünglichen Zweck ganz
entfremdet sei. Er hatte die vermeintliche Entartung darin finden wollen, daß das
Parlament zum Mißbrauch der Gesetzesfonn für spezielle Maßnahmen, also zu über-
griffen in die Sphäre der Exekutive neige, daß seine Mitglieder nicht mehr Repräsen-
tanten, sondern Agenten seien und daß die Prinzipien seiner Arbeitsweise, öffent-
lichkeit und Diskussion, entfallen seien. 465 Was sich inder Tat beobachten läßt, ist
aber nur etwas, was zugleich neuen und positiven Sinn zu erkennen gibt. 466
In der politischen Wirklichkeit der organisierten Massengesellschaft büßt das Man-
dat zweifellos an Unabhängigkeit ein. Die Abgeordneten werden der Fraktions- und
Parteidisziplin unterworfen. 467 Aber man kann nicht behaupten, daß dadurch die Un-
abhängigkeit überhaupt entfällt. Die Unabhängigkeit verändert ihre Bedeutung. Sie
bietet dem eigenwilligen Argument immer noch Schutz, sofern es stark ist. Ein schwä-
cherer Abgeordneter allerdings, der allzu eigenwillig auf seiner Unabhängigkeit be-
steht, kann Gefahr laufen, bei der nächsten Wahl von seiner Partei nicht mehr auf die
Kandidatenliste gesetzt zu werden. Es treten Tendenzen auf, wonach die außerparla-
mentarische Partei oder sogar Kräfte und Einflüsse, die auch noch außerhalb der Par-
tei stehen, versuchen, die innerparlamentarische Parteifraktion an bestimmte Richt-
linien zu binden. Zumindest ist unübersehbar, daß die Fraktionen versuchen, die
Tätigkeit und Stimmabgabe ihrer Mitglieder in den Parlamentsausschüssen und im
Plenum festzulegen. Aber es darf nicht übersehen werden, daß die Fachleute der Aus-
schuß arbeit für die allgemeine Willensbildung in ihren Fraktionen oft eine erhebliche
465 Eine im wesentlichen der earl Schmitts ähnliche Darstellung des Parlamentarismus gibt Heinz O. Ziegler,
Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931; auch in seiner Schrift Autoritärer oder
totaler Staat, Tübingen 1932, ist Zieglers Begriffsbildung und Auffassung der earl Schmitts sehr ähnlich .
. . 6 Richard Thoma hat in seiner Kritik der Arbeit earl Schmitts über die geistesgeschichtliche Lage des heutigen
Parlamentarismus sehr richtig darauf hingewiesen, daß in der Abhandlung earl Schmitts zwei Bestandteile zu
unterscheiden sind: der geisteswissenschaftlime Beitrag zur Kenntnis gewisser politischer Ideen und ihrer philo-
sophischen Verknüpfung und "eine Art verfassungspolitischer These und Prognose"; Ridtard Thoma, "Zur Ideo-
logie des Parlamentarismus und der Diktatur", in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 53,
Heft 1 (1924), S. 213.
461 Vgl. zum Thema die Spezialstudie über niedersächsische Verhältnisse, die jedoch gewisse Verallgemeine-
rungen andeutet, von Götz Roth, Fraktion und Regierungsbildung, Eine monographische Darstellung der Regie-
rung,bildung in Niedersachoen im Jahre 1951 (Parteien - Fraktionen - Regierungen, Bd.3), Meisenheim •. GI.n
1954, bes. S. 132 f. Auch die Arbeit von Rudolf Wildenmann, Partei und Fraktion. Ein Beitrag zur Analyse der
politischen Willen,bildung und des Parteiensy'tems in der Bundesrepublik (Parteien - Fraktionen - Regierungen,
Bd. 2), Meisenheim •. Glan 1954, ist speziell auf deutsche N.chkriegsverhältnisse zugeschnitten. Immerhin erlaubt
auch sie wenigstens andeutungsweise Verallgemeinerungen. Vgl. im übrigen Heinz Markmann, Das Abstimmungs-
verhalten der Parteifraktionen in deutschen Parlamenten (Parteien - Fraktionen - Regierungen, Bd. 5), Meisen-
heim a. Glan 1955; Emil Obermann, Alter und Konstanz von Fraktionen. Veränderungen in deutschen Parlaments-
fraktionen seit dem Jahre 1920 (Parteien - Fraktionen - Regierungen, Bd. 7), Meisenheim a. Glan 1956.
108 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

Autorität genießen. Genauso können die Parlamentsmitglieder ein erhebliches Ge-


wicht in der außerparlamentarischen Partei haben, wenn nicht die Parteivorstände
ohnehin selbst im Parlament sitzen.
Gewiß hat sich der vorherrschende Abgeordnetentypus verwandelt. Die typischen
Honoratioren werden immer mehr durch Funktionäre verdrängt,d. h. Personen, die
hauptberuflich in abhängigen Stellungen tätig sind, mögen diese nun eigentliche Par-
teifunktionäre und Berufspolitiker sein oder Funktionäre bestimmter Interessenver-
bände oder, wo sie zum Parlament zugelassen werden, Beamte des öffentlichen Dien-
stes. Viele dieser Abgeordneten sind auf die Diäten zu ihrem Lebensunterhalt ange-
wiesen, so daß jedenfalls nicht mehr im klassischen Sinne von einer durch eigenen
Besitz oder abkömmlichen Beruf gewährleisteten Unabhängigkeit gesprochen werden
kann. Auch dieser Umstand jedoch sollte nicht voreilig zu der Schlußfolgerung ver-
leiten, daß durch ihn die Abgeordneten ihre Unabhängigkeit völlig eingebüßt hätten.
Auch die Honoratioren waren schließlich Vertreter ihrer besonderen Interessen und
auch ihre politischen Auffassungen vom Allgemeinwohl ideologisch durch ihre beson-
dere gesellschaftliche Interessenlage geprägt. Wer umgekehrt heute in das Parlament
gelangt, ist auch als besonderer Vertreter eines besonderen Interessenverbandes oder
als Parteifunktionär immer noch nach speziellen Qualifikationen ausgelesen wor-
den. 468 Seine Sachkenntnis für bestimmte Gesetzesmaterien mag zwar durchaus in-
teressenorientiert sein, doch qualifiziert sie ihn auch innerhalb seines besonderen
Interessenverbandes und gibt ihm dadurch eine gewisse Unabhängigkeit, auch in sei-
nem eigenen Verband. Insofern läßt auch die Delegiertenfunktion politischem Gewis-
sen einen Spielraum; und wenn es ein Abgeordneter mit seinem besonderen Interessen-
verband verdirbt, so bietet ihm häufig genug der konkurrierende nicht schlechtere
Chancen. Im übrigen gilt auch für jedes noch so gebundene Sonderinteresse der Unter-
schied von Engstirnigkeit und Weitsicht, so daß, wenn bei der Ausarbeitung eines
Gesetzes im Parlamentsausschuß die Vertreter verschiedener Interessenrichtungen zu-
sammensitzen, immer noch Weitsicht und Vorsicht zählen, also Qualitäten, die nicht
die geringsten unter denen sind, denen die Unabhängigkeit des Abgeordneten dienen
soll. Daß in diesem System auch Begünstigungen und Übervorteilungen im Interesse
besonderer Interessengruppen und auf Kosten anderer geübt werden, ist nichts, was
dieses System von der Korruptionsanfälligkeit anderer Systeme unterscheidet. Im
Gegenteil bietet es dagegen selbst die Kontrollen. Wenn die Zurücksetzung des Über-
vorteilten zu stark wird, kann er sich empören und zur Opposition gehen. Man wird
also nicht wie Carl Schmitt verallgemeinern können, daß der neue Typus des Abge-
ordneten durch den »Agenten" spezieller Interessen charakterisiert ist.
Das Parlament selbst verändert ebenfalls im ganzen seinen Charakter gegenüber
der klassischen Form des bürgerlichen Staats. Das Plenum gibt viele seiner Funktionen
an die Ausschüsse ab. 469 Der Arbeitsanfall des Parlaments ist so reich und auch so
kompliziert, daß ihn das Plenum gar nicht mehr bewältigen kann. Gesetzesinitiativen
werden von der Ministerialbürokratie oder in den Fraktionen vorbereitet. Nachdem
Gesetzesentwürfe eingebracht sind, werden sie alsbald in die speziellen Ausschüsse
verwiesen, die entweder ständig eingerichtet sind oder für diesen speziellen Gegen-
stand gebildet werden. Dort begegnen sich die Vertreter der nach Stärke ihrer Frak-
tionen anteilmäßig anwesenden Parteien etwa mit den Vertretern der Regierungs-
468 Das Parlament bietet insofern stets doch wenigstens die Chance, Stätte einer politischen Elitenbildung zu
sein, wie es Max Weber verstand. Max Weber, Gesammelte politische Schriften, bes. darin "Parlament und Re-
gierung im neugeordneten Deutschland" (Anm. 188) .
... Vgl. zum Thema Bruno Dechamps, Macht und Arbeit der Ausschüsse. Der Wandel der parlamentarischen
Willensbildung (Parteien - Fraktionen - Regierungen, Bd. 4), Meisenheim a. Glan 1954, bes. die Schlußbemerkung,
S. 154 f.
Verlorene und neue Funktionen des Parlaments 109

bürokratie oder Interessenvertretern und Experten, die gehört werden. Die Arbeit der
Ausschüsse ist bis auf Ausnahmen nicht öffentlich. Das hat den Vorteil, daß sie dem
Druck voreiliger Publizität und damit dem Druck eventueller demagogischer Stim-
mungsmache entzogen sind. In solcher Nichtöffentlichkeit kann sich auch das rational\!
Argument leichter entfalten; es braucht sich nicht vorzeitig zu massenwirksamer Ge-
stalt zu vereinfachen. Freilich bietet die Nichtöffentlichkeit auch die Gefahr unehr-
licher Händel. Doch stehen dem etliche Korrektive gegenüber. Die Ausschüsse sind
durch die verschiedenen Parteien besetzt. Ihre Mitglieder geben von ihrer Arbeit in
ihren Fraktionen Bericht. Das Angebot unredlicher Händel läuft also - das liegt in
der Logik der Dinge - die strikte Gefahr, einfach um der Konkurrenz der Parteien
willen an das Licht der öffentlichkeit gezogen zu werden. Schließlich kommt die Aus-
schußvorlage noch zu einer zweiten und dritten Lesung in das öffentlich arbeitende
Plenum, wo sie abermaligen Korrekturen unterzogen werden kann. Ein weiteres
Wächteramt üben die selbst an der Vorbereitung von Gesetzesvorlagen zum Teil be-
teiligten konkurrierenden Interessenverbände sowie die Neugier der für die konkur-
rierenden Zeitungen oder an unabhängigen Rundfunkstationen arbeitenden Journalisten
aus. Die öffentlichkeit des Parlaments ist nicht einfach entfallen, wie Carl Schmitt
behauptet. Schon wegen der Konkurrenz um die Wählerschaft sind alle Parteien be-
reit und gewillt, große Entscheidungen in die öffentlichkeit zu ziehen, um sich für
ihre Meinung in der öffentlichkeit Rückhalt zu holen. Man wird also nicht summarisch
wie Carl Schmitt behaupten können, daß die eigentlichen Entscheidungen im Dunkeln
fallen. Die wichtigen Entscheidungen werden durchaus in die öffentlichkeit gezogen
und in der öffentlichkeit ausgetragen. Außerdem ist niemand, der sich zur Mitwir-
kung bei den großen Entscheidungen berufen glaubt, gehindert, in die Politik zu
gehen. Der Eintritt in Parteien oder die Gründung von Parteien sind nicht verboten.
Zwar ist der Mechanismus nur schwer zu bewegen, und der Vordringende wird mit
langen Zeiten und großen Schwerfälligkeiten rechnen, also sich mit Ausdauer und
Klugheit wappnen müssen. Aber wenn die persönlichen Qualitäten, über die er ver-
fügt, groß genug sind und die Situation gerade ihn verlangt, wird er sich durchsetzen
können. Dringt er in der einen Partei nicht vor, so wird ihn die andere vielleicht gern
aufnehmen und schon aus Gegnerschaft gegen di\! Konkurrenz nach oben bringen.
Immerhin hat das Plenum des Parlaments gute Teile seiner Arbeit an die Regie-
rungsbürokratie und an die Ausschüsse abgegeben. Dafür tritt es in der Funktion einer
öffentlichen Tribüne hervor, auf der die schon vorher durchgearbeiteten Entscheidun-
gen veröffentlicht werden und die formale Sanktion der Gesetzesverabschiedung er-
teilt wird. Dieser Funktionswandel begünstigt Reden, die nur noch "zum Fenster hin-
aus" gehalten werden. Aber darin liegt zugleich auch eine neue positive Bedeutung,
nämlich die der aufklärenden Unterrichtung der öffentlichkeit,470 der für die Mög-
lichkeit allgemeiner politischer Erörterung vereinfachten Darstellung und der Er-
weckung des allgemeinen Interesses.
Hat sich also im ganzen eine Verlagerung des politischen Schwergewichts, was die
eigentliche Entscheidungsbildung anbelangt, vom Parlament auf die Regierung und
Bürokratie einerseits und auf die in den Parteien organisierte Aktivbürgerschaft an-
derse.its vollzogen, so sind der parlamentarischen Plenarversammlung doch auch
neue positive Funktionen zugewachsen. Diese Strukturveränderungen, das darf Carl
Schmitt kritisch entgegengehalten werden, sind um so zwingender, als die Aufgaben
des modernen Staates beträchtlich angewachsen sind, so daß die Plenarversammlung
gar nicht mehr genug Zeit und Urteilskraft für die Erledigung ihrer Aufgaben haben

'70 Vgl. e.rl Je.chim Friedrich, Der VerjaSiungSitaat der Neuzeit, Berlin - Göttingen - Heidelberg 1953,
S. 343 H.
110 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

kann. Die Arbeitsteilung in Ausschüsse und der Machtzuwachs der Ministerialbüro-


kratie sind also unvermeidlich geworden. Anderseits aber vermag das Parlament
wiederum konkurrierende und kontrollierende Funktionen wahrzunehmen. 471

Der "Wandel des Gesetzesbegri/fs; die neue Form der Gewaltenteilung


Im politischen System der organisierten Massengesellschaft hat auch die alte Form
der Gewaltenteilung in Regierung und Parlament ihre Kraft eingebüßt. Man kann
nicht mehr in gleicher Weise wie im 19. Jahrhundert davon sprechen, daß Staat
und Gesellschaft sich gegenüberstehen. Zumal seit Abschaffung der Monarchie ist der
Staat zur politischen Integrationsform der Gesellschaft selbst geworden. Die Re-
gierung wird nicht vom Monarchen als dem Haupt des Staates oder vom Präsidenten
bestellt, sondern vom Parteienparlament. Die Regierung ist selbst von einer Partei
oder Parteienkoalition gebildet, jedenfalls in den europäischen Verhältnissen. So tritt
eine neue Gewaltenteilung an die Stelle der alten. 472 Sie liegt zumal in der Pluralität
der Parteien und anderer gesellschaftspolitisch relevanter Großorganisationen, die sich
als Regierungs- und Oppositionsgruppen gegenseitig balancieren. Für dieses neue Ge-
waltenteilungssystem braucht es nicht unbedingt ein Widerspruch zu sein, wenn die Le-
gislative und die Regierung nicht mehr in alter Eindeutigkeit auf Verabschiedung
genereller Gesetze und Einleitung spezieller Maßnahmen festgelegt sind, wenn viel-
mehr das Parlament sucht, seinen politischen Willen möglichst weit zu spezialisieren
und zu konkretisieren, so daß es teilweise selbst die Maßnahmen einleitende Regie-
rungsfunktion übernimmt oder, bei größerer Heterogenität und Labilität, der Re-
gierung ihrerseits eine sehr breite Verordnungs gewalt überläßt, so daß sie weitgehend
legislative Funktionen übernimmt, denen gegenüber das Parlament und die inner-
parlamentarische Opposition dann vor allem die Funktion der Kontrolle und der Ver-
lautbarung öffentlicher Opposition 473 übernehmen.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind komplizierter geworden. Es ist dafür not-
wendig geworden, immer mehr und zunehmend ins einzelne gehende staatliche Re-
gelungen zu treffen, um den notwendigen Interessenausgleich und die notwendige
Gerechtigkeit für alle möglichen Sondergruppen durchzuführen. 474 Man wird vielleicht
471 Insbesondere kommen dafür auch die parlamentarischen Untersuchungsaussmüsse in Frage. Vgl. dazu z. B.
Ernst Fr.enkel, ,Diktatur des Parlaments?", in: Zeitschrift für Politik, N.F., Heft 2 (1954).
'72 Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein, Berlin 1931, S. 40, schreibt vom Gegensatz zwischen
Regierung und Parlament unter den modernen Verhältnissen: "Er hat seinen Sinn nicht verloren, sondern nur ge-
ändert. In ihm drückt sich nicht mehr der Gegensatz zwischen den in der Parlamentsmehrheit repräsentierten Volks-
schichten zu den im Monarchen und seiner Regierung sich durchsetzenden Interessengruppen, sondern der Gegensatz
aus, der zwismen der Parlamentsminorität und der Parlamentsmajorität besteht, als deren Treuhänder die Re-
gierung fungiert."
"3 Zum Problem der parlamentarismen Opposition und ihrer Bedeutung für die Gewaltenteilung vgl. aum
Dolf Sternberger, ,Opposition des Parlaments unO parlamentarisme Opposition. Eine Studie zum Problem der
Gewaltenteilung", in: ders., Lebende Verfassung (Parteien - Fraktionen - Regierungen, Bd. 1), Meisenheim a. Glan
1956, S. 133 ff.
,,. Der Strukturwandel der Gesellsmaft wird hier aum in anderer Rimtung bedeutungsvoll. Die Wirtsmafts-
gesellsmaft hat ihre liberalistisme Phase verlassen und tritt in eine monopolistisme Phase über. Der Gesetzgeber
ist daher nicht mehr mit gleichen freien Wettbewerbern konfrontiert, sondern vielfach mit Monopolen, die nicht
mehr dem Prinzip der Marktgleimheit entspremen. Gegen sol me individuelle Mamtgebilde generelle Gesetze
postulieren zu wollen, ist sinnlos, denn ihnen kann nur die konkrete Maßnahme angemessen sein. Franz L. Neu-
mann, ,Der Funktionswandel des Gesetzes im Remt der bürgerlimen Gesellsmaft", in: Zeitschrift für Sozial-
forschung, hrsgg. von Max Horkheimer, Paris, 6. Jg., 1937, S. 542 H., hat gezeigt, daß in dieser Situation die
Forderung genereller Gesetze zur Verhüllungsideologie werden kann. "Die Renaissance des Generalitätsbegriffs
(des Gesetzes) unter der Weimarer Demokratie und seine unterschiedslose Anwendung auf persönliche, politische
und ökonomische Freiheitsrechte war ... ein Werkzeug, um die Mamt des Parlaments, das jetzt nicht mehr aU$-
smließlim Interessen des Großgrundbesitzes, des Kapitals, der Armee und der Bürokratie repräsentierte, zu be-
sdlränken" (5.577). lthnlim argumentiert aum Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? (Recht und Staat in
Der wandel des Gesetzesbegri//s; die neue Form der Gewaltenteilung 111

nicht sagen können, daß sich das Ganze vom Gesetz zur Maßnahme verschoben habe.
Es gibt immer noch höchst wichtige generelle Gesetze. Aber der Raum zwischen Gesetz
und Maßnahme ist gleichsam breiter geworden, es sind immer mehr Zwischenbildun-
gen erschienen. Die Gewaltenteilung ist dadurch jedoch nicht sinnlos geworden, wie
earl Schmitt behauptet. Es ergibt sich ein unvermeidlicher Funktionszuwachs der Re-
gierung. Um so wichtiger ist es, an der Institution eines Parlaments festzuhalten, da-
mit eine Kontrolle der Verwaltungs- und Regierungstätigkeit ausgeübt werden kann.
Die Gefahr aber, daß das Parlament selbst in der Form des Gesetzes ungerechtfertigte
Ausnahmegesetze trifft, ist nicht so groß, wie earl Schmitt unterstellt, schon weil es
eine vielköpfige und in Parteiungen auseinandergehende Versammlung ist, die sich
jedenfalls bei der Verabschiedung der Gesetze der t5ffentlichkeit um so weniger ent-
ziehen kann, als die Konkurrenz der Parteien die Auseinandersetzungen gerne in die
t5ffentlichkeit zieht. Die Gefahr eines Parlamentsabsolutismus wird sich also weit-
gehend als eine Fiktion 475 ansehen lassen.
In der Formalisierung des Gesetzesbegriffs liegt gleichwohl zweifellos eine Gefahr.
Das Gesetz verliert seinen Zusammenhang mit substantiellem Recht und substantieller
Gerechtigkeit, wenn es ohne weitere Bedingungen als der bloße Beschluß der für die
Gesetzgebung vorgesehenen Instanzen angesehen wird. Wenn das Gesetz bloßes In-
strument eines rücksichtslosen Interessenkampfes wird, hat es nichts mehr mit Ver-
nunft, Volkswillen und Gerechtigkeit zu tun. Wenn das Gesetz die Form wird, mit
der eine Mehrheit eine Minderheit vergewaltigt, oder die Form, mit der Sonder-
interessen nach unehrlichem Komprorniß ihren Vorteil auf Kosten eines gemeinsam
übervorteilten Dritten in Sicherheit bringen, dann verliert es seine rechtliche Substanz.
Die substantielle Gerechtigkeit und Vernunft von Gesetzen ist jedoch nicht an die
Generalität des Gesetzes und auch nicht an eine vordergründige Übereinstimmung mit
dem Volkswillen gebunden, wie earl Schmitt meint. Vernunft und substantielle Ge-
rechtigkeit können auch in individuellen Maßnahmen verwirklicht werden. Ebenso
können sie auch im Willen der Minderheit eines Volkes liegen. Ob Generalität des Ge-
setzes als ein Kriterium für Vernunft und Gerechtigkeit angesehen werden kann,
hängt von der Lage der Umstände ab. Je vielfältiger und komplizierter die gesell-
schaftlichen Verhältnisse sind, desto weniger wird Generalität des Gesetzes Kriterium
5einer substantiellen Vernunft und Gerechtigkeit sein können. Ob die Übereinstim-
mung mit dem Volkswillen Kriterium der Vernunft und Gerechtigkeit des Gesetzes
ist, hängt ebenfalls von weiteren Bedingungen ab. Die demagogisch aufgepeitschten
Leidenschaften eines Volkes oder der demagogische Mißbrauch der natürlichen Kurz-
sicht einer Volksmehrheit bieten kaum eine Garantie für die Vernunft und Gerechtig-
keit der Resultate. Der vordergründig verstandene Volkswille kann leicht gegen das
Wohl dieses Volkes selbst mißbraucht werden.
Substantielle Vernunft und Gerechtigkeit des Gesetzes werden also nicht ohne
nähere Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Verfahren, in denen
politischer Wille gebildet wird, und der politisch-sittlichen Zielsetzungen, in deren
Geschichte und Gegenwart, Heft 68), Tübingen 1930. Neumann weist darauf hin, daß die meisten der in der
Weimarer Republik ergangenen Gerichtsentscheidungen gegen vermeintlich mangelnde Generalität von Gesetzen
bezeichnenderweise Eigentumsgarantien betrafen. Die gesellsmaftliche Bedeutung dieser Renaissance des generellen
Gesetzesbegriffs illustriert sich nach Neumann darin. daß z. B. Carl 5chmitt auf dieser Grundlage die Verfassungs-
mäßigkeit des Gesetzes über die Enteignung des fürstlichen Grundbesitzes meinte ablehnen zu müssen. "Die Wieder-
belebung des Gleichheits- und Allgemeinheitsgedankens ist eine verschleierte Wiederbelebung des Naturrechts, das
nunmehr gegenrevolutionäre Funktionen erfüllte" (5. 576) .
• 75 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein (Anm.472), 5. 12, wendet höchst einsichtsvoll gegen Carl
Schmitts Polemik gegen den vermeintlichen Absolutismus des Gesetzgebers ein: .Als ob nicht ,heute' in Deutschland
die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der auf Art. 48 gestützten Funktion der aus Präsident und Ministern be-
stehenden ,Regierung' eine Schicksalsfrage der Weimarer Verfassung wäre!"
112 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

Dienste sie stehen, gefunden werden können. Carl Schmitts Kritik an der Formalisierung
des Gesetzesbegriffs ist Aufklärung nur insoweit, als sie auf die Notwendigkeit wei-
terer Bedingungen hinweist. Sie ist jedoch selbst ideologisch, insofern sie diese Bedin-
gungen vordergründig in der Generalität des Gesetzes sucht und dabei über die grö-
ßere Kompliziertheit der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse hinweggeht. Und
sie wird zur bloßen Kehrseite einer offenkundigen Ideologie dort, wo sich dann her-
ausstellt, daß Carl Schmitt, wie gezeigt werden wird, den nationalsozialistischen
Führerbefehl und das Regierungsgesetz eines auf "Artgleichheit" eingeschworenen
Staates für substantielle Gerechtigkeit und Vernunft anzusehen vermag.

Sinn der Wahl und Gefahr des Plebiszits


Der neue Charakter der Wahl offenbart sich darin, daß die Parteien in ihr eine her-
vortretende Bedeutung haben. Der Abgeordnete wird, selbst wenn er zu den zugkräf-
tigsten Rednern seiner Partei gehört, nicht so sehr als Einzelpersönlichkeit als vielmehr
als Exponent seiner Parteirichtung gewählt. So ist das Verhältnis- und Listenwahl-
system der Eigenart des Wahlvorgangs nur angemessen. 476 Selbst in Ländern, in denen
das Persönlichkeitswahlsystem eine alte und feste Tradition besitzt, wie in England
z. B., steht die Einzelpersönlichkeit hinter dem Exponenten der Partei zurück. Denn
selbst der stärksten Persönlichkeit gelingt es dort kaum, in einem Wahlkreis, der der
Oppositionspartei als sicher gilt, die Mehrheit zu gewinnen.
Carl Schmitt hatte eine Darstellung des Wahlvorgangs gegeben, der gemäß die
Unmittelbarkeit der Wahl verdrängt worden sei durch die Macht der Parteien, die
"im Dunkel geheimer Beratungen" die Kandidatenlisten aufstellen und eigentlich so-
gar die Abgeordneten "ernennen". Der Wahlgang selbst aber sei einerseits "statistische
Feststellung der pluralistischen Auf teilung" des Staats und "Appell stehender Partei-
heere" und anderseits "ein Stück Plebiszit" geworden.
Der Wahlvorgang hat nun in der Tat seinen Charakter geändert. Er hat sich mit ple-
biszitären Zügen angereichert, insofern er mehr ein Akt des Einverständnishandelns als
ein Akt des Verständnishandelns m geworden ist. Aber erstens muß einmal das funk-
tionell Notwendige von den Gefahren getrennt werden. Es ist der gute Sinn der Par-
teien, die Aktivbürgerschaft zu organisieren, die sich überhaupt um die Aufstellung
der Kandidaten bekümmert. Man kann nicht vom Volk in seiner Unmittelbarkeit
verlangen, daß es die Kandidaten aufstellt. Man kann auch unter modernen gesell-
schaftlichen Verhältnissen nicht erwarten, daß die einzelnen Wahlkreise unmittelbar
die Kandidaten aufstellen. Die Kandidaten müssen schon von engeren Gremien auf-
gestellt werden. Die Alternative zum "Dunkel geheimer Beratungen unkontrollier-
barer Komitees" kann nur die noch viel weniger kontrollierbare Kooption der höhe-
ren Gremien einer totalitären Organisation sein, die sich nur noch um ein Plebiszit
an die Bevölkerung wendet, ohne eigentliche Alternativen, schon gar nicht personelle
Alternativen zu stellen. Außerdem handelt es sich bei demokratischen Parteien und
Wahlen im demokratischen Parteienstaat gar nicht um das "Dunkel geheimer Bera-
tungen unkontrollierbarer Komitees". Die Parteien sind dem Aktivbürger durchaus

476 Vgl. zur Beurteilung der Gerechtigkeit etwaiger Prozentklauseln im Verhältniswahlrecht Hermann Heller,
Rechtsgutachten - Die Gleichheit in der Verhältniswahl nach der Weimarer Verfassung, Berlin - Leipzig 1929.
Heller weist im übrigen darauf hin: "Das Wesen der Verhältniswahl wird ... grundsätzlich verkannt, wenn man
zum Träger des Rechts auf proportionale Repräsentation das Individuum macht und nicht die politische Par-
tei" (5. 22).
417 Vgl. zur Unterscheidung von Verständnis und Einverständnis sowie zur Auswirkung dieser Unterscheidung
auf die Arten sozialen Handeins Max Weber, .. über einige Kategorien der verstehenden Soziologie" (1913), in:
ders., Gesamm 'lte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl., Tübingen 1951, S. 427 H., bes. S. 471.
Sinn der Wahl und Gefahr des Plebiszits 113

nicht unzugänglich. Auch gibt es eine innere, Kontrolle durchaus ermöglichende Par-
teiöffentlichkeit. Weiterhin werden die Kandi.daten der öffentlichkeit immerhin vor-
gestellt.
Schließlich liegt eine funktionelle Notwendigkeit auch darin, daß die Parteifüh-
rungen einen relativ starken Einfluß auf die Kandidatennominierung haben, denn die
Zusammensetzung der Fraktionen muß schon um ihrer Arbeitsfähigkeit willen ge-
plant werden. Bei der Wahl selbst handelt es sich nicht um einen "Appell der stehen-
den Parteiheere" und die "statistische Feststellung der pluralistischen Aufspaltung des
Staats" einerseits und einen "plebiszitähnlichen Vorgang" anderseits, wie Carl Schmitt
meint. Denn diesen Parteiheeren steht in demokratischen Parteien zumindest die Mög-
lichkeit eines Einflusses und einer von unten aufsteigenden Willensbildung offen. Sie
sind keine "Heere", insofern sie nicht aus Untertanen, sondern aus freien Bürgern
bestehen. Die Nichtöffentlichkeit der Wahl gewährleistet dem einzelnen Wähler auch
die Möglichkeit, die Gegenpartei zu wählen, ohne Verfolgungen fürchten zu müssen.
Ein Appell ist die Wahl insofern nicht, als hier kein Obrigkeitsverhältnis und keine
Befehlsgewalt vorliegt und dem Sinne nach auch nicht in Anspruch genommen wird,
außer bei den totalitären Parteien, die für die Abtrünnigen eigene Strafen bis zum
Fememord vorsehen. Sofern es sich um demokratische Parteien und Wahlen handelt,
stellen diese natürlich eine statistische Feststellung dar, aber nicht der "pluralistischen
Auf teilung des Staats". Das Wesentliche an der Wahl liegt gerade in der Wahlmöglich-
keit zwischen den beiden Vorgängen: traditionelle Stimmabgabe einerseits, oder:
Wahl einer anderen Parteirichtung anderseits. Mag der Vorgang sich mit plebiszitären
Zügen angereichert haben, so liegt sein Wesen doch darin, daß hier zwischen Richtun-
gen und Kandidatengruppen gewählt werden kann, an deren Aufstellung mitzuwir-
ken jedem zur Aktivität bereiten Bürger offensteht.
Zwischen Plebiszit und Plebiszit besteht ein großer Unterschied, auch das muß Carl
Schmitt kritisch entgegnet werden, je nachdem, ob echte Alternativen gestellt wer-
den oder nicht. Das Plebiszit steht in der großen Gefahr, mißbraucht zu werden. Ein
Plebiszit, das mit der Alternative von Ja und Nein arbeitet, ist eine mißbräuchliche
Form. Denn die bloße Alternative zwischen Ja und Nein ist unecht. Es kann zum einen
Vorschlag nicht Nein gesagt werden, wenn nur Nein gesagt werden kann, im übrigen
aber gar kein anderer Vorschlag zur Wahl entgegengestellt wird. Und es kann eigent-
lich auch nicht Ja gesagt werden, wenn man keine Möglichkeit besitzt, eine konkrete
Negation, also etwas anderes, zu wählen. Solches Plebiszit läßt immer nur die ab-
strakte Negation frei, weil derjenige, der plebiszitäre Sach- oder Personalfragen stellt,
konkurrenzlos ist. Daher wendet er alle Mittel auf, um die Akklamation zu erhalten.
Ihm stehen aber in den modernen Propaganda- und Sozialtechniken höchst mächtige
Mittel zur Verfügung. Es kommt unter solchen Umständen immer schon einer Revo-
lution gleich, wenn im Plebiszit eine abstrakte Negation ausgesprochen wird, ein
einfaches Nein. Stellt das Plebiszit nur eine abstrakte Negation zur Wahl, so spielt
es mit der Provokation anarchistischer Kräfte. Da die entschlossene Wahl der ab-
strakten Negation der Freigabe anarchistischer Kräfte und der Entschluß zur abstrak-
ten Negation seinem Sinne nach der Bereitschaft zum Aufruhr gleichkommt; da
außerdem die plebiszitäre Legitimierung nur für große Entscheidungen nötig sein
wird, die Möglichkeit also, bei kleineren Entscheidungen Gleichgültigkeit zu zeigen,
nicht interessant ist; deshalb ist die Durchführung eines alternativlosen, abstrakten
Plebiszits immer ein Appell an die Ordnungsbereitschaft der Bürger und wird sicher
nicht dort gesucht werden, wo die Möglichkeit eines Nein das Zeichen für eine Revo-
lution sein könnte.
Im alternativlosen Plebiszit wird außerdem jener Charakter des Appells eines
stehenden Parteiheeres noch viel deutlicher. Wenn es keine Mehrheit von Parteien
114 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

und keine statistische Feststellung der pluralistischen Auf teilung des Staates gibt, dann
w.ird die Kandidatenaufstellung zu einem Cliquenkampf zwischen Machtgruppen
innerhalb ,der totalitären Bewegung werden und noch viel anonymer und unkontrol-
lierbarer vor sich gehen. Und die Wahl wird nicht mehr wenigstens Wahl zwischen ver-
schiedenen Personengruppen verschiedener Parteirichtungen sein, sondern nur noch
Appell und Bestätigung bereits getroffener Entscheidungen. Es müßte dann recht
sonderbar zugehen und wäre schon der Untergang der totalitären Führungsgruppe,
wenn sie es nicht fertigbringen sollte, durch Propaganda und nötigenfalls auch Ge-
walt, Bedrohung mit Verlust des Arbeitsplatzes oder sogar Verhaftung und Aburtei-
lung ihre Bestätigung zu erhalten.
Es muß also zunächst einmal eine funktionelle Notwendigkeit darin anerkannt
werden, daß die Kandidaten von besonderen Aktivbürgergremien aufgestellt werden
oder daß man sich durch Listenaufstellungen der Fachleute für die Gesetzgebungs-
arbeit zu versichern sucht. Auf dieser Grundlage dann, so kann Carl Schmitt ent-
gegengehalten werden, ist zu wählen zwischen demokratischer Wahl und totalitärem
Appell. Es kommt alles auf die Offenhaltung der Chance an, die Gegenpartei wählen
zu können. Wenn irgendwo Gefahr besteht, daß die Wahl in der Tat nur zu einer
Feststellung pluralistischer Aufteilung des Staates wird, dann besteht sie dort, wo Par-
teien sich zu totalitären Organisationen verwandeln. Von dorther droht Gefahr, daß
die brutalste Partei, die Partei, die die irrationalen Argumente mit größter Bedenken-
losigkeit benutzt, das Wählen überhaupt beseitigt und den totalitären Staat gründet.
Dann wird die Wahl zum plebiszitären Appell, der nicht einmal mehr ein Akt des
Einverständnishandelns ist.

Der Strukturwandel der Parteien und seine funktionelle Notwendigkeit


Wie schon verschiedentlich angedeutet, hat sich vor allem eine Struktur- und Wesens-
wandlung der Parteien vollzogen. Sie läßt sich gut am Unterschied zwischen den tra-
ditionellen bürgerlichen und den Arbeiterparteien demonstrieren. Die Arbeiterpar-
teien waren es, die im 19. Jahrhundert vor allem um die Verallgemeinerung des
Wahlrechts und die Emanzipation der unteren sozialen Schichten kämpften. Und sie
waren es auch, die zugleich den Partei typ entwickelten, der inzwischen auch für die
bürgerlichen Parteien weitgehend maßgeblich geworden ist. Sie wurden zuerst zu
Massenparteien mit einer festen, gut disziplinierten Organisation und hauptberuf-
lichen Funktionären. Diese Parteienstruktur ergab sich zunächst aus den Notwendig-
keiten des politischen Emanzipationskampfes der tieferen sozialen Schichten. In-
zwischen ist sie um der Integration der organisierten Massengesellschaft willen un-
entbehrlich geworden.
Wenn das in allen sozialen Schichten mündig gewordene Volk überhaupt aktions-
und äußerungsfähig sein soll, so bedarf es dazu organisatorischer Medien, Organe
und Instrumente. Bestimmt man als Politik alles Handeln, das sich auf die Staats-
gewalt richtet, um mit ihrer Hilfe die Daseinsordnung und die öffentlichen Geschicke
einer Gesellschaft zu beeinflussen und zu gestalten, so gibt es in dem Raum zwischen
dem Volk der einzelnen und den Staatsorganen im engeren Sinne eine ganze Reihe
von mehr oder weniger festen organisatorischen Medien mit politischer Potenz. Sie
lassen sich vielleicht in fünf typische Gruppen gliedern: erstens die speziellen wirt-
schaftlichen Interessenverbände, wie etwa der Verband freiwirtschaftlicher Woh-
nungsunternehmen, zweitens die Kirchen beider Konfessionen, drittens die großen
gesellschaftspolitischen Willensverbände, die zum Teil Dachorganisationen spezieller
Interessengruppierungen sind, wie die Gewerkschaften und die Unternehmerorgani-
sationen, viertens ,di,e 50nstigen freien gesellschaftlichen Vereinigungen wie Staats-
Der Strukturwandel der Parteien und seine funktionelle Notwendigkeit 115

bÜ1"gervereine usw. und schließlich fünftens die möglicherweise durch die anderen
Gruppen hindurchlaufenden politischen Parteien. 478
Die Parteien unterscheiden sich von den anderen Typen durch dreierlei. Erstens ist
die Zugehörigkeit zu ihnen nicht an bestimmte Voraussetzungen gebunden, wie bei
Gewerkschaften, Stände- und Wirtschaftsorganisationen die Berufe, bei Soldaten-
bünden die militärische Vergangenheit, bei Kirchen die Konfession Voraussetzung
sind. Die Parteien sammeln ihre Mitglieder in freier Werbung. Zweitens unterscheiden
sie sich dadurch, daß sie gesamtpolitische Konzeptionen entwickeln und sich an ge-
samtpolitischer Verantwortung orientieren. 479 Drittens schließlich unterscheiden sie
sich im modernen Staat von den anderen politisch potenten Gruppen durch ihr faktisch
fast vollkommenes Monopol über den Zugang zu den Staatsorganen, insbesondere
Parlamenten und Regierungen. Es kommt nur in Ausnahmefällen eine Persönlichkeit
in diese Organe, ohne den Weg über die Parteien gegangen zu sein. Wenn also andere
Organisationen direkten Einfluß auf Regierung und Gesetzgebung gewinnen wollen,
müssen sie sich entweder auf die Rolle von "lobbyists" und "pressure groups" beschrän-
ken oder aber selbst eine Partei gründen bzw. ihre Vertreter in die bestehenden Par-
teien und auf deren Kandidatenlisten bringen.
Die Parteien haben eine hervorragende Funktion im Prozeß der organisierten politi-
schen Willensbildung. Sie können es hindern, daß die Wählermassen fragwürdigen
und unkontrollierbaren Demagogen in die Hände fallen oder in direktionslose Gleich-
gültigkeit zurücksinken. Da außerdem der normale Staatsbürger sittlich überfordert
wäre, wenn man von ihm eine volle Urteilsfähigkeit in allen zur politischen Entschei-
dung stehenden Fragen verlangen wollte, bekommen die Parteien die Aufgabe, dem
Wähler eine Wahlentscheidung zu ermöglichen, indem sie die sachlichen Argumente
soweit verdichten, bis sie als klare und einfache, schlagwortartig treffende Alternativen
wirksam werden und vor den Bürger treten können. Daraus ergibt sich, daß die Par-
teien auch während der Legislaturperiode selbst, und nicht nur im Wahlkampf, Kon-
takt mit der Wählerschaft halten müssen, damit eine Kontinuität im Prozeß der
Meinungs- und Willensbildung gewahrt bleibt. Diesem Zweck dient nicht nur die
innerparteiliche Information und Arbeit, sondern auch die nach außen wirkende
Parteipublizistik. So ist es eine funktionelle Notwendigkeit, daß die Parteien relativ
dauernde und feste Gebilde sein müssen.
Freilich macht die organisierte Massengesellschaft auch die Entstehung von totali-
tären Parteien möglich. Was totalitäre Parteien von demokratischen Parteien unter-
scheidet, ist ihre durch Benutzung der Staatsgewalt abgesicherte Monopolstellung und
das von ihnen über alle konkurrierenden Parteiungen ausgeübte Verdikt. Befördert
durch eine schon in sich autoritäre Struktur, setzen sie sich in der politischen Organi-
sation des Volkes absolut. Die Zielsetzung des konkurrenzlosen Einparteienstaats
prägt von Anbeginn die Organisation und Kampf taktik totalitärer Parteien. Keine
demokratische Partei vermag so vollkommene Integration ihrer Mitglieder und Mit-
läufer zu leisten wie die totalitäre Partei. Parteimitgliedschaft in ihr nimmt den gan-
zen Menschen in Anspruch und läßt ihm keinen privaten Spielraum übrig. Freilich
vermag die totalitäre Partei diese Integrationswirkung nur mit Hilfe der Gewalt und
der Bevormundung, mit Hilfe des widerdemokratischen Führer- bzw. Kaderprinzips

478 Vgl. hierzu auch die aufschlußreichen Unterscheidungen bei Rupert Breitling, Die Verbände in der Bundes~
republik. Ihre Arten und ihre politische Wirkungsweise (Parteien - Fraktionen - Regierungen, Bd. 8), Meisen-
heim a. Glan 1955.
4" Hierzu vgl. Wilhelm Grewe, .Zum Begriff der politischen Partei", in: Um Recht und Gerechtigkeit. Fest-
gabe für Erich Kaufmann, Stuttgart 1950. Sehr aufschlußreiche Ausführungen zur Problematik des modernen
Partei wesens bietet das Referat von Gerhard Leibholz! "Verfassungsrechtlime Stellung und innere Ordnung der
Parteien", in: Verhandlungen des 38. Deutschen Juristentages. Staatsrechtliche Abteilung, Tübingen 1951, S. C3 H.
116 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

zu erzielen. Und da sie im Herrschaftssystem, wenn sie sich einmal durchgesetzt hat,
eine unablösbare und zu keiner Ablösung bereite Vorherrschaft genießt, da sie die
Staatsgewalt zum ausschließlichen Instrument ihres gesellschaftsgestaltenden Willens
macht, so daß sie nicht mehr auf den Staat als die höchste Integrationsform gerichtet
ist, sondern sich dem Staate in der Verdrängung aller Oppositionsgruppen überge-
ordnet hat, deshalb bildet sie in sich selbst eine neue staatsähnliche Hierarchie aus, 480
in der die einfachen Mitglieder den Amtsleitern, Funktionären und Kadern genauso
gegenüberstehen wie sonst nur das untertane Volk den Gewalten des Obrigkeitsstaa-
tes. Die totalitäre Partei dient nicht den Zwecken der Allgemeinheit, sondern bringt
diese ihren hochfahrenden Zielen willig zum Opfer. Dafür aber bietet sie ihrer Klien-
tel durch ihre Organisation eine nebengleisige Karriereleiter.
Die Partei im Zustand der liberalen Konkurrenzgesellschaft mit beschränktem
Wahlrecht war vorwiegend bloße Richtung der öffentlichen Meinung und konkreti-
sierte sich in einem organisatorisch faßbaren Gebilde nur einerseits in der Vereini-
gung der Abgeordneten gleicher Gesinnung bzw. gleicher Interessen, anderseits in
den vielfach verstreuten lokalen Kaukus zur Kandidatennominierung und zur Wahl-
hilfe. Im Zustand der organisierten Massengesellschaft sind die Parteien zu selbstän-
digen Machtfaktoren zwischen Gesellschaft und Staatsorganen geworden. Ihre Lokal-
einheiten sind über das ganze Land verstreut und unterhalten eine ständige Tätigkeit.
Außerdem sind sie in einem System von Bezirks-, Kreis-, Landes- und schließlich
Bundes- oder Reichsgliederungen fest miteinander verklammert und in einer vielfäl-
tigen Organisation von Vorständen, geschäftsführenden Vorständen, beigeordneten
Ausschüssen und Delegiertenversammlungen über alle Ebenen hin durchgegliedert.
Es gibt vielfältige Unterschiede zwischen den Parteien. 481 Gleichwohl läßt sich viel-
leicht folgendes verallgemeinern: Sie verfügen heute fast alle über einen eigenen Appa-
rat von hauptberuflichen Funktionären und unterhalten eine Vielzahl von kleineren
und größeren festen Büros mit festangestellten Sekretären. Ihren Führungsgruppen
und Vorständen kommt im allgemeinen ein den einfachen Mitgliedern und sogar den
Delegiertenversammlungen gegenüber recht beträchtlicher Einfluß zu. Außerdem un-
terhalten sie in der organisierten Massengesellschaft die verschiedensten Beziehungen
zu den nichtparteilichen gesellschaftspolitischen und speziellen wirtschaftlichen In-
teressenverbänden, erhalten von diesen zum Teil Geldspenden zur Wahlfinanzierung,
gehen auf deren besondere Interessen ein, um sich von ihnen Wählerstimmen zufüh-
ren zu lassen, oder nehmen auch Vertret,er dieser Verbände als Exponenten bestimmter
Interessen auf ihre Kandidatenlisten. Im übrigen sind die Parteien in großen Um-
rissen auf relativ konstante Wählerschichten rückbezogen, die gleichsam ihre Mutter-
gruppen darstellen und nach deren Eigenart sich auch die typische soziale Zusammen-
setzung der Parteimitgliederschaft richtet. Zumal in den zwanziger Jahren, in der
Weimarer Republik, unterhielten die meisten Parteien in den Muttergruppen noch
ein ganzes System von Nebenorganisationen, angefangen von Jugendorganisationen

4g0 Vgl. 7ur Darstellung der totalitären Organisation Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herr-
schaft, Frankfurt a. M. 1955, S. 577 H.
481 Die Unterscheidungen verschiedener Partei typen sind sehr zahlreich und die Gesichtspunkte für die Unter-
scheidungen sehr mannigfaltig. So lassen sich etwa Wählerparteien und Mitgliederparteien, Weltanschauungs- und
Plattform parteien, Honoratioren- und Massenparteien, Repräsentations- und Integrationsparteien, Klassen- und
Patronageparteien u. ä. m. unterscheiden. Die Literatur zur Parteiensoziologie ist sehr ausgebreitet. Vgl. die Zu-
sammenstellung wichtigerer Titel bei Otto Stamm er, .Politische Soziologie", in: Soziologie. Lehr- und Handbuch
zur modernen Gesellschaftskunde, hrsgg. von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, Düsseldorf - Köln 1955, S.310.
Die Aufgaben einer Parteiensoziologie bestimmt treffend Sigmund Neumann in seiner Einleitung zu: Parteien
in der Bundesrepublik, Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953 (Schriften
des Instituts für politische Wissenschaft, Bd. 6), mit Beiträgen von Max Gustav Lange, Gerhard Schulz, Klaus
Schütz et al., Stuttgart - Düsseldorf 1955.
Der Strukturwandel der Parteien und seine funktionelle Notwendigkeit 117

und Soldatenverbänden bis zum Gesangverein. Dieses ganze System von Neben-
organisationen ist innerhalb der Muttergruppe zusammengehalten durch eine
mehr oder minder deutliche Gemeinsamkeit der sozialen und wirtschaftlichen
Lage,482 aus der in vielfältig vermittelter Weise eine ungefähre Gemeinsamkeit
der Geisteshaltung erwächst, die sich dann in der Partei zur mehr oder minder be-
stimmten politischen Ideologie artikuliert. So versuchen auf vielfältigen Wegen di,e
Führungsgruppen der Parteien, sich eine politische Basis in der Gesellschaft als Vor-
aussetzung für die Verwirklichung ihres Programmes und für die übernahme der
Regierungsgewalt zu schaffen.
Demokratische Parteien in der organisierten Massengesellschaft sind somit aus funk-
tioneller Notwendigkeit heraus relativ dauerhaft organisierte Willensgruppen, die
um der Erreichung bestimmter, ideologisch fundierter politischer Ziele willen ver-
schiedene soziale Interessen und Schichten in sich zu integrieren und ihre so erwach-
sende Macht dann im Staate zur Geltung zu bringen suchen. 483 Indem sie sich
an die Allgemeinheit um deren Venrauen wenden und ihre Zielsetzungen für die
Allgemeinheit formulieren, also Sonderinteressen und Allgemeininteresse zur gerech-
ten Gesamtintegration vermitteln wollen, konkurrieren sie miteinander zur Verwirk-
lichung ihrer gesellschaftspolitischen Konzeptionen um die Machtpositionen des Herr-
schaftssystems. Sie üben eine in der organisierten Massengesellschaft unentbehrliche
positive Funktion aus, indem sie die Aktivbürgerschaft organisieren und die Inte-
gration der verschiedensten Interessen und politischen Impulse zu einem regierungs-
bereiten Willen vollbringen. Soziale und ideologische Verschiedenheiten, seien sie nun
klassenmäßig, konfessionell oder auch national bestimmt, sind notwendig immer für
den Parteiwillen maßgebend. Solange sich die Parteien aber als demokratische Par-
teien verstehen, verdrängt ihr Machtwille niemals ihre gesamtstaatliche Verantwor-
tungsbereitschaft, enthalten sie sich der Selbstverabsolutierung, orientieren sie sich am
allgemeinen Wohl, respektieren sie die Zulässigkeit abweichender politischer über-
zeugungen und anerkennen die Notwendigkeit politischer Kritik und Opposition.
Sie trachten insofern nicht nach gegenseitiger Vernichtung, sondern eher danach, sich
durch Leistungen gegenseitig die Wähler abzuwerben. Freilich ist die Fairneß ihres
Konkurrenzkampfes und ihrer Machtnutzung eine Frage der öffentlichen Moral und
hängt von der Höhe des gesellschaftlichen Bewußtseins ab.
Sowohl die Gestalt als auch die Pluralität der massenorientierten, gesellschaftliche
Interessen integrierenden und mit einem festen Apparat von Funktionären arbeitenden
Parteien erweisen sich als eine Notwendigkeit für die organisierte Massengesellschaft.
Ihre Gefährdung liegt in der organisierten Konfessionalisierung zur radikalen Welt-
anschauungs partei, in der Versuchung zur Selbstverabsolutierung und zur totalen
Organisation. Hier vermag eine empirische Kritik anzusetzen. Jedoch setzt jene
funktionelle Notwendigkeit von Mehrzahl und Gestalt der modernen Parteien der
Kritik zugleich die Grenzen. Das sollte hier im Hinblick auf die Kritik earl Schmitts
zu zeigen versucht werden. Politische Einheit, Gerechtigkeit und Freiheit lassen sich
unter den Bedingungen der modernen hochindustrialisierten Massengesellschaft besser
und schlechter, in jedem Falle aber nur im System des parlamentarisch-demokratischen
Parteienstaats verwirklichen. Eine politische Kritik, die diese Grenze nicht achtet,
wird unvermeidlich Z!um Instrument einer in falschem gesellschaftlich-politischem Be-

'" Vgl. zur Definition der durch Gemeinsamkeit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage sowie durch
Gemeinsamkeit der typischen Aufstiegschancen bestimmten sozialen Klasse: Max Weber, Wirtschaft und Gesell-
schaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 4., neu hrsgg. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen
1956, 1. Halbband, S. 177.
<B' Khnlich die Definition von Otto Stammer, .Gesellschaft und Politik', in: Handbuch der Soziologie, hrsgg.
von Werner Ziegenfuß, Stuttgart 1955.
118 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

wußtsein befangenen und zerstörerischen politischen Bewegung. Sie erweist sich da-
durch als ideologisch bedingte und nur polemische Kritik, die die nicht minder not-
wendige Kritik der Gegenbewegung gegen den parlamentarisch-demokratischen Par-
teienstaat versäumt und vor allem die eigentlichen inneren Gefahren des Parteien-
staates, totalitären Bewegungen die Aufstiegschance zu geben, verkennt. Der massen-
demokratische Parteienstaat steht zwischen zwei Gefahren, einerseits im radikalisier-
ten Parteienkampf und schließlich Bürgerkrieg zu zerbrechen, anderseits in totalitä-
rer Diktatur unterzugehen. Totalitäre Organisation aber ist niemals eine Lösung der
inneren Schwierigkeiten des massendemokratischen Parteienstaates.
earl Schmitt hatte als einen Entartungszustand des modernen ParteiweS'ens kon-
statiert, daß die Parteien zu verfestigten Gebilden geworden seien, die dem vordrin-
genden Typ nach versuchten, jede in sich eine politische Totalität zu verwirklichen,
so daß es gar nichts Auffallendes mehr sei, wenn die Partei des Einparteienstaats
genauso den Namen Partei tr3ige wie die Partenen des Vielparteienstaats. Sein Vorwurf
und seine Kritik richteten sich vor aHem gegen die Pluralität und Heterogenität der
Parteien.
Das Auffallende an earl Schmitts Diagnose ist nicht die Beobachtung des zweifel-
los konstatierbaren Struktur- und Funktionswandels der Parteien, sondern die Unter-
stellung, daß alle gleichermaßen zur totalitären Organisation werden, und die Kon-
sequenz, die er daraus zieht. 484 Es wird noch zu zeigen sein, daß earl Schmitt die
Versuchung der modernen Funktionärs- und Massenpartei zur Totalisierung nicht
für eine Gefahr, sondern für den legitimen übergang zu einer anderen Staatsart hält.
Das übel liegt nach seinem Dafürhalten nicht so sehr in der totalitären Organisation
als vielmehr in ,der Pluralität der totalitären Organisationen, welche die unvermeid-
liche legitime Wendung zum totalen Staat gleichsam "nur parzelliert" .485
Aber die eigentliche Gefahr des mooernen Parteien staates kommt von der Versu-
chung zur Totalisierung her. Man kann unter den heutigen gesellschaftlichen Bedin-
gungen nicht mehr zum liberalen Staat und seinen freien, losen Meinungsparteien zu-
rückkehren. Die Bedrohung der Funktionsfähigkeit der parlamentarisch-demokra-
tisch organisierten Gesellschaft geht aber nicht von der Verfestigung der Parteien und
nicht von deren Pluralismus aus, wie earl Schmitt meint. Sondern sie wird durch
jene Parteien heraufgeführt, die sich selbst nicht als parlamentarische Parteien ver-
stehen und in der Pluralität der Parteien, aus Gründen der Rechtfertigung ihrer eige-
nen Bestrebungen zum totalen Staat, nur eine Zerrissenheit des Volkes oder ein Pro-
dukt des Klassenkampfes sehen wollen, einen Zustand der Staatsauflösung überhaupt.
Durch diese totalitären Parteien erst werden die demokratischen Parteienkämpfe zu
extremistischen Konflikten und .der demokratische Parteienstaat in einen Zustand der
Anarchie gestürzt. Die Wahl, vor der ein parlamentarisch-demokratischer Parteien-
staat steht, ist daher: zu entscheiden zwischen der Möglichkeit, daß die Parteien sich
totalisieren und sich in extremistische Konflikte einlassen, so daß letzten Endes nur
der Sieg einer aus der Anarchie herauswachsenden, ja, erst durch sie ermöglichten,
besonders brutalen totalitären Bewegung und deren Triumph über alle anderen und
zumal die demokratischen Parteien sein kann,488 oder der Möglichkeit, daß die Parteien
sich der funktionellen Notwendigkeit ihrer Mehrheit und ihrer neuen Struktur einge-
denk bleiben, die demokratischen unter ihnen sich zusammenschließen, um die totali-

... Das bemerkt aum smon Gottfried Salomon, der in seiner Bespremung von earl Smmitts Hüte, der V tr·
I,mung (in: Weltwirtscha/tlichts Archi"" 36. Bd., 1932, II, S.254) darauf hinweist: .Die Totalisierung oder viel-
mehr universelle Politisierung ist aber bei den verschiedenen Parteien verschieden." .
OBI Sdtmitt, Der Hültr . •• (Anm. 33), S. 84 .
•s, So sagt z. B. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur' (Anm. 474), S. 18, daß .Diktatur nur die politisme Er-
.meinungsform der gesellsmaftlimen Anarmie ist".
Der Strukturwandel der Parteien und seine funktionelle Notwendigkeit 119

tären Bewegungen auszuscheiden und also das System eines demokratischen Parteien-
staats zu einem regierungsfähigen System auszugestalten.
Die demokratische Kritik kann sich also nicht gegenden Strukturwandel und die
Verfestigung der Parteien überhaupt wenden und dabei die Gestalt der liberalen
Meinungspartei zum Maßstab nehmen, sondern muß sich gegen die totalitären Or-
ganisationen wenden und hat dabei von der funktionellen Notwendigkeit der neuen
Parteiengestalt auszugehen. Unter diesen neuen Parteien ist noch sehr deutlich zwischen
demokratischen und totalitären Parteien zu unterscheiden, z. B. nach der Zielsetzung,
ob sie eine die Möglichkeit und Notwendigkeit politischer Opposition und deren
Organisationsfreiheit anerkennende Regierung anstreben oder eine Einparteienregie-
rung, die die tragende Partei nicht mehr als Partei, sondern als Bewegung und Orden
versteht und politische Opposition ebenso wie deren Organisationsfreiheit verbietet.
Demokratische Kritik wird auch zu unterscheiden haben nach der inneren Gestalt
der Parteien und die totalitäre Organisation leicht an ihrem Führer- oder Kaderprin-
zip und an der in ihnen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Disziplin ge-
rechtfertigten und zum Prinzip erhobenen Entmündigung der einfachen Mitglieder
erkennen können. Carl Schmitts trügeris,ch-tautologische Argumentation, daß streng
genommen die Gewährung gleicher politischer Chance gar nicht durchführbar sei,
verdeckt nur die eigentlichen und entscheidenden Unterschiede zwischen demokrati-
scher Partei und totalitärer Organisation, zwischen demokratischem Staat und tota-
litärem Staat und erweckt den Eindruck, als sei auch der sich selbst sichernde demo-
kratische Staat schon ein totalitärer Staat gleich dem die Möglichkeit politisch orga-
nisierter Opposition überhaupt verbietenden Einparteienstaat.
Carl Schmitts Erwägungen über die Undurchführbarkeit des Versuches, durch Ein-
führung von Inkompatibilitäten 487 die Parteien in Gebilde liberaler Struktur zurück-
zuverwandeln und die Parlamentarier aus ihren speziellen Interessenbindungen zu
lösen, sind durchaus einleuchtend. Gewiß werden sich die Wähler in einer primär
wirtschaftlich bestimmten Gesellschaft stets nach wirts,chaftlichen Interessen gruppie-
ren. Aber in weiteren Zusammenhängen der kompliziert interdependenten Wirtschafts-
gesellschaft gesehen, sind solche wirtschaftlichen Interessen eben politische Interessen,
ordnen sich die kurzsichtigen Spezialinteressen zu höheren, weitsichtiger faßbaren
Großgruppen- und schließlich Gemeininteressen zusammen.
Also müßte doch das System des parlamentarisch-demokratischen Partelienstaats
für eine wirtschaftlich bestimmte und organisierte Massengesellschaft immer noch das
beste System sein. Carl Schmitts Alternativlösung: eine Organisation nach dem Vor-
bilde des totalitären Staats, der die politischen Eigenimpulse der Wirtschaftsgesell-
schaft und ihrer Gruppen unterdrückt und der Herrschaft einer zentralisierten Mono-
pol partei unterwirft, diese Alternativiäsung ist nur noch im Interesse der Herren des
totalitären Staats, nicht im Interesse der verschiedenen Gruppen der freien Wirt-
schaftsgesellschaft. Würde die totalitäre Monopolpartei der Wirtschaft nur einen ge-
wissen Freiheitsspielraum für eigene Willensbildungen lassen, so würden sich - das
liegt in der Logik der Dinge - die wirtschaftlichen und sozialen Mächte sehr bald
wiederum auf mittelbare Weise Einfluß verschaffen und den Staat für ihre Interessen
zu instrumentalisieren verstehen, wobei sie noch den Vorteil hätten, mit dem Verbot
politischer Betätigung ihnen nicht genehmer gegnerischer Organisationen arbeiten zu
können. - Carl Schmitt lehnt aber den pluralistischen Parteienstaat gänzlich ab und
übt eine sein System transzendierende Kritik, die zur Rechtfertigung für den "Re-
gierungsstaat" dienen soll. Er erwartet vom Regierungsstaat, daß er erstens die
Unabhängigkeit von wirtschafts gesellschaftlichen Einflüss·en wiederherstellt und außer-

.., Vgl. o. II. Teil, Zweites Kapitel, Abschnitt .Die Vorstellung wirtschaftlicher Inkompatibilitäten".
120 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

dem das pluralistische System überwindet. Dies aber mußte notwendig einer ideolo-
gischen Illusion gleichkommen. Denn bei Abwendung von der parlamentarisch-
parteienstaatlichen Demokratie gibt es nur noch diese Alternative: Totalitarismus
einer Monopolpartei unter Beseitigung der Demokratie überhaupt, oder: abermaliger,
mittelbarer politischer Einfluß bestimmter gesellschaftlich-wirtschaftlicher Kräfte auf
die Regierung und ihre Politik nach dem Vorbild der Zustände im ausgehenden
zweiten Reich, als ebenfalls wirtschaftliche Interessenverbände in Zusammenarbeit mit
der staatlichen Bürokratie die Politik zu beeinflussen suchten. Das echte Problem für die
politische Organisation einer Wirtschaftsgesellschaft liegt nicht in der Alternative von
parteiständischem Pluralismus und totalem Einheitsstaat, sondern darin, daß die Par-
teien schon in sich eine Integration verschiedener Spezialinteressen vollbringen
müssen.

Funktion der Verfassung und Bedeutung der Verfassungstreue


Die Verfassung hat in der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit die Funktion, alle
für besonders wichtig und für den Bestand des Gemeinwesens besonders bedeutungs-
voll gehaltenen öffentlichen Einrichtungen unter einen besonderen Schutz zu stellen
bzw. diesen besonderen Schutz zu gewähren. Sie enthält die Spielregeln, an die sich
der Prozeß der gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen halten soll, und be-
stimmt die Grenzen, jenseits deren der Spielraum des Erlaubten aufhören soll. Zwar
kann eine dynamische Gesellschaft auch ihre Verfassung für nichts Unabänderliches
ansehen. Aber sie will ihren wichtigsten Institutionen doch möglichste Dauer ver-
leihen. Die Verfassung läßt sich so charakterisieren als die zur normativen Regel ver-
gegenständlichte Entscheidung für ein Methodensystem politischer Willens- und Ent-
scheidungsbildung, welches ausschließt, daß irgendeine Macht, die in ihm gebildet
wird, sich absolut setzen kann. Ein politisch organisiertes Gemeinwesen ist dann ein
Verfassungsstaat, wenn keine der in ihm organisierten Mächte schrankenlos ist. 488
Zumal in der organisierten Massengesellschaft, in der eine Pluralität von Parteien
und Verbänden miteinander um die Durchsetzung ihrer Interessen durch Gestaltung
der öffentlichen Ordnung konkurrieren, wird ein offenkundiges Interesse bestehen,
sich gegenseitig an der Absolutsetzung zu hindern. Daher besteht bei den entsprechen-
den Interessen und Interessenminderheiten die Tendenz, sich nach Möglichkeit in den
Schutz der Verfassung zu begeben. Gelingt es, die Garantie solcher besonderen Inter-
essen in die Verfassung selbst aufzunehmen, so bedeutet diese verfassungsgesetzliche
Absicherung, daß nun in die so geschützten Interessen nur noch im erschwerten Be-
schlußfassungsverfahren eingegriffen werden kann. Solche besonderen Verfassungs-
garantien haben den plausiblen positiven Sinn, durch Erschwerung der Beschlußfassung
einer größeren Vorsicht die Wege zu ebnen und den Eingriff in die geschützten In-
teressen so lange zu hemmen, bis die Tatsache, daß eine qualifizierte Mehrheit für den
Eingriff zustande kommt, die öffentliche Notwendigkeit des Eingriffs beweist.
earl Schmitt sieht es aber als eine Entartungserscheinung der parlamentarischen
Demokratie an, daß es eine Praxis gibt, Gesetze als Verfassungsänderungen zu be-
schließen, und eine Praxis, spezielle Verfassungsgarantien gegen den Gesetzgeber in
Anspruch zu nehmen. 489 Das können in der Tat fragwürdige Mittel des politischen
Kampfes sein. Auf der anderen Seite aber dienen sie sowohl der Homogenisierung der

". Vgl. Friedrich (Anm. 470), S. 138: •... wenn es in einem Gemeinwesen tatsächlich keinen Souverän gibt, der
die uneingeschränkte Gewalt innehat •.• " .l'i.hnlich schreibt Kelsen (Anm. 472), S. 6: .Die politische Funktion der
Verfassung ist: der Ausübung der Macht rechtliche Schranken zu setzen."
". Vgl. o. I. Teil, Zweites Kapitel, und II. Teil, Erstes Kapitel.
Funktion der Verfassung und Bedeutung der Verfassungstreue 121

Bevölkerung als auch dem Schutz von Minderheiten. 49o Darüber kann auch ,die scharf-
sinnigste Spekulation und die kunstvollste Explikation logischer Möglichkeiten nicht
hinwegtäuschen. Wenn eine starke Mehrheit besteht, die wünscht, ihren Willen zum
Willen des Ganzen zu machen, warum soll sie nicht bestimmte Regelungen in der
Weise treffen, daß eine bloß einfache Mehrheit sie nicht schon umstoßen kann? Wenn
67 % für die Simultanschule sind, warum sollen sie die Simultanschule nicht in der
Weise einführen, daß nicht schon 51 % sie wieder abschaffen können? D[ese Erschwe-
rung der Möglichkeit, sie wieder abzuschaffen, dient doch nur der Homogenisierung
der Bevölkerung, deren die Demokratie in einem Mindestmaße bedarf. Umgekehrt,
wenn einmal 67 % die Freiheit zur Konfessionsschule zum Verfassungsgesetz mach-
ten, warum sollen nicht 34 Ofo Anhänger der Konfessionsschule gegenüber 66 Ofo An-
hängern der Simultanschule immer noch den Schutz der Verfassung in Anspruch
nehmen? Das dient doch wieder nur der Gerechtigkeit, die verlangt, daß die Möglich-
keit staatlich vorgenommener Homogenisierung bereits ein höheres Maß ohnehin be-
stehender Homogenität voraussetzen soll.
Die Möglichkeit, Minderheiten durch staatlichen Druck zur Konformierung zu
bringen, soll nicht schon einer einfachen Mehrheit gegeben sein. Sie soll an ein größeres
Maß ohnehin bestehender Homogenität gebunden sein, die es eben möglich macht, die
qualifizierte Mehrheit zu finden. Und sie soll an ein größeres Maß öffentlichen In-
teresses gebunden sein, so daß also 67 Ofo es wichtig finden und für notwendig erach-
ten müssen, die Minderheit durch staatlichen Druck zur Konformierung zu bringen,
weil ihre Fremdheit eine Gefahr für das Ganze zu werden droht. - Die Praxis, Ge-
setze als Verfassungsgesetze und also mit der Folge erschwerter Abänderbarkeit zu
geben, ebenso wie die Praxis, Sonderinteressen mit Hilfe materiell-rechtlicher ver-
fassungsgesetzlicher Garantien gegen die einfache Mehrheit zu schützen, beide können
nur unter ganz abstrakten Voraussetzungen als illegitim und disfunktionalisierend
ausgelegt werden. Sie haben ihren guten Sinn. Daß sie organisatorische Folgewirkun-
gen haben, die Sphäre der Legalität aufspalten und Stellen der Justiz, der Verwal-
tung oder auch die Regierung zum Hüter der Sonderinteressen gegen die einfache
Mehrheit machen, bedeutet zwar eine Komplizierung des Systems, aber keine Spren-
gung seiner organisatorischen Fundamente, wie earl Schmitt meint. 491
Freilich ist auch für die Bedeutung der materiellen Verfassungssicherungen ein ge-
wisser Verfassungsbegriff vonnöten, der der Praxis von Justiz und Verwaltung in
Konfliktsfällen zwischen Parlamentswillen und Verfassungs sicherungen zur Orientie-
rung dienen kann. Die Vorstellungen, die das Handeln leiten, dürfen die Grundrechte
der Verfassung nicht als bedeutungslos oder leerlaufend behandeln und die verfas-
sungsgesetzlichen Spezialgarantien nicht für kräftiger ansehen als die Freiheitsrechte
selbst. Vor allem aber ist vonnöten, daß die Parteien als die wesentlichen Organe der
politischen Willensbildung und diejenigen, die das Parlament, d. h. die zentrale und
wichtigste Stelle im ganzen Staatswesen, beschicken, daß die Parteien die richtigen
Vorstellungen von der Verfassung haben, daß sie in deren Grundwerthaltung, den
Grundrechten und dem Grundsatz der Gewaltenteilung ihr verbindliches politisches
Ethos erkennen, nicht aber die Verfassung nur als ein völlig neutrales, erschwertes Ab-
änderungsverfahren bzw. einfach als erschwertes Verfahren für jede Art beliebiger
politischer Zielsetzung ansehen .

•• 0 Zum Problem des Minderheitensmutzes vgl. Bonn (Anm.462), S. 105: .Das schwierigste Problem, dessen

Lösung den Anhängern des demokratismen Regierungssystems obliegt, ist die Simerstellung der Remte der dauernden
Minderheiten." Bonn warnt allerdings auch: "Je höher entwickelt der verfassungsmäßige Minderheitenschutz ist,
desto größer ist die Gefahr, daß er zu einer vollständigen Lähmung des Gemeinsmaftswillens führt" (S. 112).
<91 Vgl. o. 11. Teil, Erstes Kapitel, Absmnitt .Die Instrumentalisierung der Verfassung".
122 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

Mit anderen Worten, es ist vonnöten, daß die Parteien der in der Verfassung nieder-
gelegten Grundwertordnung von Menschenfreiheit, Gewaltenbalancierung und Volks-
willen treu sind. Wenn die verfassungsändernde Mehrheit allmächtig ist, dann sind
die der Grundwertordnung der Verfassung treuen wie die ihr feindlichen politischen
Bewegungen alle gleichberechtigt. earl Schmitt verschiebt aber das Problem, indem
er gegen die Relativierung und Formalisierung der Verfassungsvorstellungen mit dem
sogenannten positiven Verfassungsbegriff polemisiert.
Worauf es um der Wahrung der Verfassung und ihrer Grundwertordnung willen
ankam, war nicht, daß die Zweidrittelmehrheit nicht als allmächtig angesehen wer-
den dürfte, sondern daß, da die Zweidrittelmehrheit nun einmal im Legalitätssystem
allmächtig ist, die politischen Parteien und Bewegungen der Grundwertordnung der
Verfassung anhingen und in ihr ihr Ethos fanden. Darauf kam es an. 492 earl Schmitt
stellt die Dinge aber so dar, als seien alle Parteien jetzt gleichermaßen gewillt, mit
Hilfe der verfassungsändernden Mehrheit die parlamentarische Demokratie zur
legalen Abdankung zu bringen. Die Entartung und Gefahr lag nicht so sehr in der
Formalisierung und Relativierung des Verfassungsbegriffs, denn diese hätten sich
sehr wohl auch mit einem rechtsstaatlichen Ethos parlamentarischer Demokratie ver-
tragen, zumal "die Grenzen zwischen statthaftem ,Verfassungsgesetz' und angeblich
unstatthafter Veränderung der eigentlichen ,Verfassung' dunkel bleiben", wie
R. Thoma gezeigt hat. 493 Die Gefahr lag in der Bedrohung dieses rechtsstaatlichen
Ethos durch die totalitären Bewegungen und ihre Ideologien; sie lag nicht in einem
allgemeinen Verfall rechtsstaatlichen Bewußtseins, sondern war durchaus näher lokali-
sierbar: Sie kam von jenen Kräften her, die sich, seit ,dem Zu~ammenbruch des zweiten
Reiches und seit der Niederlage des ersten Weltkrieges, überha.upt nicht erst zu einer
Anerkennung der parlamentarischen Demokratie und ihrer Grundsätze bereitfanden,
bzw. von denen, die sich allzu bereitw,illig von der parlamentarischen Demokratie
und ihrer Grundwertol'dnung ,abwandten. 494 earl Schmitt verschleiert also nur das

"2 "Die Existenz eines Verfassungsstaates hängt ... daran, daß sich jede Veränderung, die die Tendenz und
Dynamik des politischen Lebens wieder einzufangen sucht, innerhalb der ratio constitutionis vollzieht; stellt sie
das Rechtsbewußtsein selbst in Frage, so strebt sie nach Aufhebung der Verfassung. Auch Machtbildung vollzieht
sich dann nicht mehr im verfassungsmäßigen Raum, sondern emanzipiert sich von der Verfassung. Während ein
akzidentelles Streben nach solcher Emanzipation eine fast ständige Erscheinung des Verfassungslebens bildet, gipfelt
das essentielle Streben nach Emanzipation im Staatsstreich, der gewöhnlich eine Ersetzung von Institutionen durch
Personen bedeutet: gefährlicher als der offen intendierte und darum paralysierbare Putsch ist der getarnt an~
ge strebte Staatsstreich, der durch Vorgabe eines neuen Redltsbewußtseins, also in legalistischer Verhüllung, vor-
bereitet wird und als ,legale Machtergreifung" scheinbar nur auf eine normale Verfassungsänderung ausgeht. Eine
solche Bewegung ist ebenso schwer zu fassen wie abzuwehren; mit ihrer Taktik, das Wesen des Rechts zu ver-
neinen und doch auf legalem Weg die Macht zu besetzen, bildet sie den gefährlichsten Gegner des Rechtsstaats,
dessen Institutionen eben ein doppeltes Gesicht tragen und immer auch zum Zwecke des bloßen Machterwerbs aus-
genutzt, dadurch korrumpiert und schließlich beseitigt werden können." Karl Dietrich Bracher, .Auflösung einer
Demokratie. Das Ende der Weimarer Republik als Forschungsproblem", in: Faktoren der Machtbildung
Wissenschaftliche Studien zur Politik (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Bd. 2), Berlin 1952,
S. 54 f.
4•• Richard Thoma, .Die Staatsgerichtsbarkeit des Deutschen Reiches", in: Die Reichsgerichtspraxis im deut·
schen Rechtsleben, Bd. 1, Berlin-Leipzig 1929, S. 199.
,., Das hat inzwischen die ausführliche Literatur zum Verfallsstadium der Weimarer Republik gezeigt. Vg!.
insbesondere Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zIlm Problem des Macht-
verfalls in der Demokratie (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Bd.4), Stuttgart - Düsseldorf 1955
(2., verb. und erw. Auf!. 1957). Waldemar Gurian (unter dem Pseudonym Walter Gerhart), Um des Reiches Zu-
kunft. Nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion?, Freiburg i. Br. 1932, hat bereits darauf hingewiesen,
daß die .Berufung Hitlers auf seine Legalität" dazu führen mußte, .daß das republikanische Regime gleichsam
seiner Substanz beraubt wurde. Denn es war eine ihrer stillschweigenden Voraussetzungen, daß zumindest anti-
parlamentarische Gruppen, die bewußt antidemokratisch eingestellt waren, sich nie zu einer Massenbewegung wür-
den entwickeln können" (S. 89; Auszeichnung vom Verf.). Carl Schmitt aber machte unterschiedslos und ohne
nähere Konkretisierung den Parteienstaat schlechthin für alle Schwäche der Staatsgewalt und allen Verfall der
Gefahr der plebiszitären Kräfte 123

eigentliche Problem der totalitären Bewegungen, wenn er von einem, nicht näher un-
verschiedenen, allgemeinen Verfall rechtsstaatlichen Denkens spricht.

Gefahr der plebiszitären Kräfte


Daß die Weimarer Verfassung die Möglichkeit des Volksgesetzgebungsverfahrens 495
zuließ, konnte sie nur dann gefährden, wenn antiparlamentarische und totalitäre Be-
wegungendiese Möglichkeit mit demagogischen Mitteln mißbrauchten. Darin aber
anderseits, wie Carl Schmitt, die Entfaltung konsequenter unmittelbarer Demo-
kratie zu sehen, konnte nur einem selbst ideologisierten Bewußtsein geschehen. Denn
es mußte offenbar sein, daß eine unmittelbare Demokratie oder eine plebiszitäre Re-
gierungsform unter den obwaltenden Umständen der organisierten, hochinterdepen-
denten Massengesellschaft überhaupt nicht mehr Demokratie, sondern nur noch die
Brücke zu einer autoritären Regierungsform sein konnte, zu einem totalitären Regime.
Das plebiszitäre Volk hat in der Wirklichkeit der organisierten Massengesellschaft
eine sehr a-mbivalente Funktion. Das Plebiszit ist eine für die Bewahrung der kon-
stitutionellen Ordnung sehr gefährliche Größe, denn es enthält in sich alle Potenzen
e.ines Cäsarismus und gibt nur allzu leicht totalitären Bewegungen die Entstehungs-
chance. Das Plebiszit, die unmittelbare Abstimmung, und zwar Sachabstimmung des
gesamten Volkes, war eine Einrichtung, die in kleinen Gemeinschaften ihre Funk-
tion zu erfüllen vermochte. Unter den Bedingungen der modernen Großgesellschaft
steht es unter der dringenden Gefahr, irrationalen und unheilvollen Massenstimmun-
gen den Weg zu ebnen. "The danger of mass democracy ... arrises when unorganized
masses are exposed to incalculable waves of emotion, especially in tim es of crisis." 496
Die Funktion des Plebiszits hat sich unter den Bedingungen der Massengesellschaft,
wie oben bereits angedeutet, gemdezu in das Gegenteil seines ursprünglichen Sinnes
umgekehrt. "For it no longer interprets the general will as the expression of the
considered intentions of the cioiz.ens, but is rather the result of skilful agitation and
a powerful prop<l!ganda machine." 497

Bedeutung und Gefahr der Notgewalt 498

Auch das Wesen der für Notsituationen der parlamentarisch-parteienstaatlichen De-


mokratie vorgesehenen Notgewalt mußte sich unter den Bedingungen der organisier-
ten Massengesellschaft wandeln. Daß ,jhrein gesetzesvertretendes Verordnungs-
recht zuwächst, entspricht zunächst nur der allgemeinen Tendenz, daß der Unter-
schied zwischen Gesetz und Maßnahme, inhaltlich betrachtet, sich immer mehr ver-
wischt, weil die staatlichen Aufgaben immer komplizierter werden und die oberste
Ordnungsgewalt immer komplizierteren Verhältnissen gerecht werden muß. Diese
Verfassung verantwortlich. - Zur Literatur vgl. auch Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer
Republik, hrsgg. von Kurt Kersten, Frankfurt a. M. 1955.
"5 Vgl. o. I!. Teil, Erstes Kapitel, AbschnItt .Die Bedrohung des parlamentarischen Gesetzgebers durch den
plebiszitären".
496 Mannheim, Man and Soeiety (Anm. 451), S. 335.
4" A. a. 0., S. 357.
,os Was hier unter Notgewalt behandelt wird, ist nicht identisch mit der Dikatur, wie sie der polemisch-
politische Sprachgebrauch heute versteht. Zur Unterscheidung von einfacher, cäsaristismer und totalitärer Diktatur
hat Franz L. Neumann einen aufschlußreichen Beitrag geliefert (z. B. in einem Rundfunkvortrag im RIAS BerIin
am 16. März 19;3; hektogr.). - Zum allgemeinen Problem von Demokratie und Diktatur bemerkt Sigmund Neu-
mann, .Leaders and Followers", in: Introduetion to Polities, ed. by Peel and Roucek, New York 1940, sehr rich-
tig: "It would be ... misleading as to regard the political evolution of the last forty years showing a new
emphasis on a strong executive power as an irrevertible process toward dictatorship" (5. 254); Diktatoren seien
nur »substitutes«, wenn in Zeiten des übergangs Institutionen zerfallen und geltungslos werden.
124 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

Tendenz macht sich schon in der Gesetzgebungstätigkeit des Parlaments bemerkbar.


Die einer staatlichen Regelung bedürftigen Verhältnisse liegen zunehmend vielfältiger
und gesonderter. Die regelungsbedürftigen Angelegenheiten betreffen die Angelegen-
heiten immer speziellerer Gruppen und Interessen. Die je besondere Lage kleinerer
Gruppen und spezieller Fälle muß daher mehr und mehr berücksichtigt werden. So
kommt es, daß das generelle Gesetz, das unterschiedslos für alle gilt, einerseits und die
Spezialanweisung, die in voller Berücks1ichtigung verschiedenartig liegender Sonder-
verhältnisse nur für besondere Einzelfälle gilt, anderseits zu Grenzfällen werden, zwi-
schen denen sich die Zwischenformen der Berücksichtigung je besonderer Lagen je
besonderer kleinerer und größerer Gruppen immer vielfältiger ausbreiten.
Daß der für Notsituationen vorgesehenen Gewalt so auch ein gesetzesvertretendes
Verordnungsrecht zuwächst, kann also nicht wundernehmen. Die Notgewalt kann
demnach in Krisensituationen einer Handlungsunfähigkeit des Parlaments auch in
gewissen Grenzen die Legislative vertreten. Carl Schmitts Behauptung aber,499 die
Notgewalt würde dadurch mächtiger als das Parlament selbst, trifft nicht zu. Sie ist
eher ein Zeugnis ideologisierten Bewußtseins und ein Zweckargument, um zu erwei-
sen, daß die Gegenwart zu kennzeichnen sei als der "Zusammenbruch des parlamen-
tarischen Gesetzgebungsstaats" .500 Rechtlich bleibt die Notgewalt, auch wenn sie zu
gesetzesvertretenden Verordnungen befugt ist, nach Art und Umfang ihrer Befug-
nisse dem Parlament immer nur gleichgeordnet sowohl als Maßnahmengewalt als auch
als Gesetzgebungsgewalt. Daß sie Grundrechte außer Kraft setzen kann, besagt
nichts, weil diese Grundrechte dem Eingriff des Gesetzgebers ohnehin zur Verfügung
stehen. Daß sie ihre Gesetze auch gleich anwenden kann, besagt auch nichts, weil sie
schon als Maßnahmengewalt in dieser Hinslicht der gesetzesgebundenen Exekutive
überlegen ist - braucht sie doch ihre Maßnahmen eben nicht im Gesetz zu begrün-
den; und besagt ebensowenig gegenüber dem Parlament, weil dieses durch seine Ge-
setzgebungsbefugnis und die Gesetzesgebunclenheit der Exekutive ohnehin der Exeku-
tive überlegen ist, die Notgewalt in Hinsicht auf das Verhältnis von Exekutive und
Legislative im Falle gesetzesvertretenden Verordnungsrechtes der Legislative also
nur gleichgeordnet wird. Befugnis zu Magnahmen, auch wenn sie augerordentliche
Maßnahmen sind, kann nicht umfassender sein als Gesetzgebungsbefugnis. Carl Schmitts
ganze Argumentation vermag also nicht zu überzeugen. Sie gibt nur zu erkennen,
daß er eben in der Notgewalt die unbeschränkte und absolute Fülle der Staatsgewalt,
in der Diktatur die Souveränität erblicken möchte.
Vor allem nun konnte für denjenigen, der um den Fortbestand der parlamenta-
rischen Demokratie und die Wahrung der Grundwertordnung der Weimarer Repu-
blik besorgt war, das primäre Problem nicht darin liegen, ob die Notgewalt nur eine
Befugnis zu Maßnahmen oder auch eine Befugnis zu gesetzesvertretenden Rechts-
verordnungen einschloß. Das war eine sekundäre Frage. Das vordringliche Problem
konnte nur darin liegen, in wessen Sinne und zu wessen Gunsten der Diktator seine
Gewalt gebrauchte, vor allem also, was als die von ihm im Notzustand zu schützende
Verfassungsordnung, was als die Grundwertordnung der Verfassung angesehen wer-
den sollte. Es wird sich zeigen, daß Carl Schmitt das zu Wahrende nicht in der Ge-
währleistung einer grundrechtlichen Freiheitssphäre, nicht in der Gewährleistung
einer Gewaltenbalancierung, nicht in der Wahrung von Institutionen wie der freien
Wahl oder der Möglichkeit politischer Opposition, nicht in der Wahrung einer In-
stitution wie des Parlaments oder der Selbstverwaltung sah, sondern vor allem in
der Wiedergewinnung einer geschlossenen politischen Einheit und in der Herstellung
einer straffen autoritär-hierarchischen Ordnung.
'0' Vgl. o. II. Teil, Erstes Kapitel, Abschnitt "Das Gesetzgebungsrecht der Notgewalt".
5 •• Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 7.
Gebrauch und Mißbrauch der Freiheitssphäre 125

In der bestehenden Krisensituation der Weimarer Republik hatte der Diktator


die doppelte Aufgabe, einerseits die totalitären Bewegungen abzuwehren und an-
derseits die Ausartungen des Plura1ismus einzudämmen. Insofern mochte es unter Um-
ständen sinnvoll scheinen können, Kräfte zur Unterstützung des Reichspräsidenten zu
sammeln. Aber die Aufgabe konnte immer nur darin bestehen, die parlamentari'sche
Demokratie und ihre Grundeinrichtungen um ihrer selbst willen zu schützen, nicht
also den Parteienpluralismus überhaupt zu bekämpfen, sondern die parlamenta-
rischen Parteien zuerst emmal gegen die totalitären Bewegungen zu schützen. Der
Pluralismus war gegen seine Entartung, vor allem aber gegen den Totalitarismus zu
schützen. Die Gefahr für die in der Verfassung gewollte Grundwertordnung der
Weimarer Republik ging von den antiparlamentarischen und antidemokratischen
totalitären Bewegungen aus; sie und ihr Wirken waren es im Verein mit den eben-
falls antiparlamentarischen und antidemokratischen reaktionären Kräften, die das
Parlament und den demokratischen Parteienstaat handlungsunfähig machten.
Es kam also alles darauf an, Freund und Feind der Verfassungsordnung zu unter-
scheiden. Gewiß war die Notverordnungspraxis des Reichspräsidenten eine Verfalls-
folge der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik. 501 Aber es hing
nicht von der Frage Maßnahmen- oder Gesetzgebungsbefugnis ab, ob die Notgewalt
zur Wahrung oder zum Schaden der Grundwertordnung der Republik gebraucht
wurde. Auch der auf bloße Maßnahmengewalt beschränkte Diktator konnte zur Ein-
bruchsstelle totalitären Willens werden; auch er konnte in den heftigen innerpoli-
tischen Konflikten der Republik die antiparlamentarischen und antidemokratischen
Kräfte begünstigen, sie gegen etwaige Selbsthilfeversuche der republiktreuen Kräfte
schützen und umgekehrt die Anhänger der parlamentarisch-demokratischen Regie-
rungsform benachteiligen. Carl Schmitts Unterscheidung von Gesetzgebungs- und
Maßnahmengewalt des Reichspräsidenten ging also am eigentlichen politischen Pro-
blem der Situation vorbei. 502 Es wird sich dann auch zeigen, daß Carl Schmitt, wenn
er den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung interpretiert, mit Verfassung gar
nicht die Grundwertordnung der Weimarer Republik und nicht die Verbürgung von
Freiheit und Menschenrechten, sondern einseitig die geschlossene politische Einheit
meint, nicht die parlamentarisch-parteienstaatliche Demokratie, sondern die Möglich-
keit eines übergangs zu einer anderen Staatsart, zum plebiszitären Regierungs- und
Verwaltungsstaat, dem "der ,Diktator' eher adäquat und wesensgemäß als ein von
der Exekutive getrenntes Parlament" 503 ist.

Gebrauch und Mißbrauch der Freiheitssphäre 504


Das Wesen und die Funktion der Freiheitssphäre haben sich unter den Bedingungen
der modernen Massengesellschaft ebenso verwandelt wie Wesen und Funktion der
501 Sie kam im übrigen den großen Wirtschaftsinteressen sehr entgegen, die, wie Moritz J. Bonn (Anm. 462,
S. 136) schreibt, "das Halbdunkel der Verordnungsdiktatur der öffentlichen Verhandlung vorzogen".
'02 earl Joachim Friedrich (Anm. 470) hat richtig auf den Unterschied zwischen konstitutionalistischer und
antikonstitutionalistischer Diktatur hingewiesen. Die Probleme der Einsetzung und der Zurückberufung der
Diktaturgewalt sind für die politische Praxis konstitutioneller Staaten wesentlich wichtiger als die Unterschei-
dungen von Maßnahmen- und Gesetzgebungsgewalt. Die wesentliche Unterscheidung und das wesentliche Problem
konstitutioneller und antikonstitutioneller Diktatur .. liegt in den Zwecken, die sich am besten als verfassungsmäßige
und verfassungswidrige (uneingeschränkte) Diktatur bezeichnen lassen" (5. 672); •... die Unterscheidung zwischen
legislativen und exekutiven oder administrativen Vollmachten ist bei Vorliegen eines Notstands an sich schon frag-
würdig; denn die Notvollmadlten werden in Anspruch genommen, um einen ganz bestimmten Zweck zu erfüllen.
Sie umfassen große und kleine Entscheidungen, die Zusammen diejenige Politik ausmachen, die zu befolgen ist,
um ... den Notstand zu überwinden und den Verfassungsstaat intakt zu halten" (5.687).
503 Sdlmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 87 .
... Vgl. o. I. Teil, Zweites Kapitel, und H. Teil, Erstes Kapitel.
126 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

Selbstverwaltung. Es wurde bereits zu Anfang dieses Teiles zu zeigen versucht, wie


sich mit dem übergang von der liberalen Konkurrenzgesellschaft zu den gegenwär-
tigen Stufen, getragen von den drei Grundprozessen, eine um sich greifende Ver-
bandsbildung und organisierte Politisierung der wirtschaftsgesellschaftlich bestimmten
und gesellschaftspolitisch orientierten Interessen vollzieht. Den Trägern der öffent-
lichen Gewalten wachsen neue Machtfunktionen auch im vormals freien Wirtschafts-
prozeß zu. Die Interessenauseinandersetzungen der dynamisierten und zunehmend
arbeitsteiligen Gesellschaft werden auf politischen Wegen und unter Einbeziehung der
Hoheitsgewalten ausgetragen.
Dadurch weiten sich die legislativen, administrativen und jurisdiktionellen Aut-
gaben des Staates nach Art und Zahl in wachsendem Maße aus. Es verändert sich
das Verhältnis von öffentlicher Staatsgewalt und freier Wirtschaftsgesellschaft. Der
klassische Grundsatz der Nichtintervention wird unter den Bedingungen einer hoch-
interdependenten, industrialisierten und organisierten Massengesellschaft undurch-
führbar. Die organisierten Interessen versuchen, auf dem Wege über die poli-
tischen Gewalten in ihre Angelegenheiten gegenseitig zu intervenieren. Die Sphäre
der Freiheit ist also nicht mehr die Sphäre von mehr oder weniger isolierten einzelnen
und die Sphäre einer unbeschränkten Konkurrenz, sondern die Sphäre der sich selbst
organisierenden gesellschaftlichen Interessen. Das ist der unverkennbare Tatbestand.
Die Selbstorganisation der Interessen hat aber nicht nur den Sinn, durch Zusammen-
schluß größerer Bedenkenlosigkeit des Interessenkampfes zu dienen und neuen Macht-
habern zu einer Klientel zu verhelfen, wie Carl Schmitt vermeint, sondern auch den
positiven und funktionell unentbehrlichen Sinn, dem einzelnen Schutz gegen über-
griffe von seiten entgegengesetzt interessierter gesellschaftlicher Mächte zu bieten und
Vertrauenspersonen zu verständigem Ausgleich der gegensätzlichen Interessen zu er-
mächtigen. Es wird sich also nicht ohne weiteres behaupten lassen, daß die kollektiven
Verbände und Organisationen sowohl den Staat beherrschen als auch den einzelnen
mediatisieren, wie Carl Schmitt meinte. Sie sind umgekehrt ebenso das Medium der
gemeinsamen Willensbildung von einzelnen und werden auf den Wegen der Politik
und vor den Staatsorganen in gegenseitiger Anerkennung berechtigter Interessen zur
Erwägung gemeinsamer Interessen gebracht. Die Pluralität organisierter Interessen
bietet zweifellos auch Gefahren für die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft. An-
derseits aber ist ohne sie eine Selbstintegration der freien Gesellschaft nicht mög-
lich. Es läßt sich darin sogar die Tendenz zur "Ergänzung der individuellen durch
die kollektive Demokratie" 505 erkennen. Die freiwilligen Wirtschaftsorganisationen
übernehmen staatliche Aufgaben, Aufgaben der Verwaltung und in Ansätzen auch
der Justiz. Sie lassen sich so als "funktionelle Integrationsmittel" ansprechen, "die
in die Exekutive eingebaut werden" .506 Es liegt darin eine Chance zur Überwindung
der Parlamentsverdrossenheit, wenn die Interessenverbände z. B. Präsentationsrechte
für die Beisitzer der Sozialverwaltungs- und Gerichtsbehörden erlangen oder z. B.
bei sie betreffenden politischen Entscheidungen konsultiert werden. Ein Anspruch der
Interessenverbände, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre An-
gelegenheiten selbständig zu regeln, läßt sich als ein Grundrecht der ungeschriebenen
Verfassung der "kollektiven Demokratie" ansehen. Solange die Interessenverbände
nicht in eine feindliche Machtkonkurrenz zum politischen Parteienparlament eintre-
ten und solange sie wirklich autonom bleiben, ist in dieser Entwicklung, die Carl
Schmitt als "Besetzung der Freiheitssphäre durch die nichtstaatlichen Verbände"
polemisch aburteilt, durchaus ein positiver Sinn zu erkennen. "Die Idee der kollek-
505 Ernst Fraenkel, .Kollektive Demokratie", in: Die Gesellschaft, hrsgg. von Rudolf Hilferding, 6. Jg. (1929),
Bd. II, S. 113 .
• 06 Ebda.
Grenzen der Kritik am pluralistischen System 127

tiven Demokratie beruht darauf, daß ... man einen bürokratischen Apparat nur
durch einen anderen bürokratischen Apparat zu durchdringen vermag" ,507 also die
Staatsbürokratie mit der Verbandsbürokratie, so daß sich die demokratische Teil-
habe an der Politik des Alltags, der Verwaltung, aktiviert.
Für den Bereich der öffentlichen Wirtschaft und die Freiheitssphäre der Selbstver-
waltung wird man wohl verlangen dürfen, daß ihre Vielfältigkeit unter eine gewisse
Einheitlichkeit einer Gesamtleitung gebracht wird. Ein Mindestmaß an Plan muß
ihre Tätigkeit koordinieren. Dazu bedarf es Regierungen, die einer gewissen Stabili-
tät, Permanenz und Konsequenz fähig sind. Demokratische Kritik wird sich also gegen
die übermäßige Schwäche von Koalitionsregierungen, gegen den Zustand dauernder
Regierungskrisen und dagegen richten können, daß ein Parlament zu keiner klaren
Willensbildung zu gelangen vermag. Aber Carl Schmitt hatte geurteilt: "Ob plura-
listischer Parlamentarismus und moderner Wirtschaftsstaat miteinander vereinbar
sind, wird man heute wohl verneinen müssen." 508 Das war ein summarisches Urteil,
das die entscheidenden Gründe für die bestehenden Funktionshemmungen der par-
lamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik überging. Denn die Funktions-
hemmungen der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik und zu-
mal in der Zeit der Wirtschaftskrise, die Schwäche ihrer Koalitionsregierungen und
die Unfähigkeit ihres Parlaments, zu tragenden Mehrheitsbildungen zu gelangen,
waren doch im wesentlichen nicht auf die Unfähigkeit der republiktreuen Parteien
zurückzuführen, sondern auf die Obstruktion der republikfeindlichen Bewegungen
rechts und links, auf die zerstörerische Aktivität der totalitären Organisationen, die
durch ihre Haltung erst die Schwierigkeiten potenzierten und dann auf die "anarchi-
schen" Zustände hinwiesen, um aus ihnen ihre Rechtfertigung zu ziehen, wie in der
Fabel jener Wolf, der seinen Bruder biß und dann den Siechenden zum Schutz der
Wolfsgesundheit auffraß.

Grenzen der Kritik am pluralistischen System 509


Carl Schmitt beschrieb das komplizierte Geflecht von föderaler Organisation, Selbst-
verwaltungsautonomie, Interessenverbänden, Parteienpluralität, Parlament, Regie-
rung und Verwaltung als einen Zustand anarchischen Durcheinanders von Pluralis-
mus, Föderalismus und Polykratie. Die Wirklichkeit der Weimarer Republik bot in
der Tat ein Bild großen Spannungsreichtums und beträchtlicher Anfälligkeit. Aber
die eigentliche Gefahr dieses Zustands war nicht die Auflösung des Staates in die
Anarchie, sondern seine Widerstandslosigkeit gegen die totalitären Bestrebungen.
Das verwickelte Institutionensystem, das das Ineinander von Pluralismus, Poly-
kratie und Föderalismus trägt, besitzt eine funktionelle Unumgänglichkeit, wenn die
staatliche Einheit die Einheit einer freien Gesellschaft sein und nicht auf der Gewalt-
lösung einer Beseitigung von Freiheit und Demokratie beruhen soll. Gewiß finden
sich in diesem verwickelten System allerorten positive so gut wie negative Tendenzen
und Kräfte. Die durchgängige Organisation der Parteien gibt ihnen dem Föderalis-
mus wie der Gefahr des Partikularismus gegenüber die Möglichkeit, der Integration
eines überföderalistischen Gesamtwillens zu dienen. Umgekehrt bietet die föderali-
stische Verfassung Schutz für Parteien, die in einem Lande stark, aber im Reich
schwach sind, und zwar Schutz gegen etwaige zentralistische und absolutistische
Ambitionen einer umgekehrt im Reich dominierenden Partei oder Parteiengruppe.
Die Selbstverwaltungsrechte der Gemeinden und halböffentlichen Körpersdlaften
507 A. a. 0., S. 117.
50s Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 94.
509 Vgl. o. II. Teil, Erstes Kapitel, Abschnitt ,Die Auflösung des Staats in den Pluralismus".
128 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

bieten lokalen Gruppen bestimmter Parteien Schutz gegen absolutistische Ambitionen


anderer Parteien oder sozialer Organisationen, bieten auch Personen Unterschlupf.
Daß auch die Unternehmungen der öffentlichen Wirtschaft Sammelstellen bestimmter
Parteien sein können, ist nicht erstaunlicher als das gleiche im Fall der privaten Un-
ternehmungen und Betriebe, auch nicht erstaunlicher als die Neigung des öffentlichen
Beamtentums, sich nicht als Diener der öffentlichkeit, sondern als Machtträger zu
fühlen.
In der Polykratie wie Carl Schmitt die Gefahr eines Bündnisses mit dem Plura-
lismus zu suchen, ist ein summarisches Urteil. Die Träger der Polykratie können schon
darum kaum als Potenzierungsfaktoren des Parteien pluralismus in Frage kommen,
weil es sich bei ihnen vor allem um lokale Gruppen handelt, die auch innerhalb der
Parteien sehr verschieden gesonnen und oft gegensätzlich orientiert sind. Der Pluralis-
mus der politischen Parteien ist ein vertikaler Pluralismus, nicht horizontal wie der
Pluralismus der vielen autonomen Gebietskörperschaften. Der Parteienpluralismus
stützt sich also auf die Selbstverwaltungspolykratie nicht anders, nicht stärker und
nicht schwächer als auf die, wenn man so sagen darf, Selbstbestimmungspolykratie
der vielen privatwirtschaftlichen Betriebe. Im Vergleich zu den Wirtschaftsverbänden
und Gewerkschaften sind die Träger der Polykratie sicher sogar die kleinsten "Stütz-
positionen" der politischen Parteien. Man kann an der mangelnden einheitlichen Lei-
tung der öffentlichen Wirtschaft Kritik üben und insofern die Polykratie einschrän-
ken, die Selbstverwaltungsautonomie begrenzen wollen, aber nicht deswegen, weil
sie Stützpositionen de~ partei politischen Pluralismus sind, sondern höchstens, weil sie
in den gegebenen wirtschafts-gesellschaftlichen Interdependenzverhältnissen eine
eigene zentrifugale, pluralistische Kraft darstellen.
Von der bundes staatlichen Organisation läßt sich sagen, daß sie in ihren staatlichen
Positionen ein neutralisierendes Gegengewicht gegen alle Kräfte bieten kann, von
denen die Gefahr droht, daß sie ohne staatliches Verantwortungsgefühl ihre Inter-
essen verfolgen. Im ganzen also wird man verantwortungsvolle und verantwortungs-
lose Kräfte überall feststellen können. Es gibt eigensüchtige Tendenzen ebenso in den
Parteien wie in den Ländern und in den Kommunen, es gibt sie ebenso auch in allen
halbpolitischen und privaten Verbänden. Es gibt aber verantwortungsbewußte, zu
Entgegenkommen bereite und um das öffentliche Wohl besorgte Kräfte ebenso überall
und allerorten in den Parteien, den Ländern, Kommunen und Verbänden. Die
eigensüchtigen Kräfte können sich miteinander verbünden und ebenso die verantwor-
tungswilligen. Dabei bekräftigt immer der Mißbrauch des einen die Notwendigkeit
des anderen, wie die Tugend des einen den Mißbrauch des anderen auszugleichen
vermag. Eben dieser allgemeine Umstand, daß jede Macht ebenso von Mißbrauch
bedroht ist wie sie rechtlichem Willen eine Chance gibt, eben dieser Umstand ist es,
der sowohl die Hoheit der Länder wie die Institutionen der Selbstverwaltung oder
die Pluralität der politischen Parteien und Verbände rechtfertigt. Der funktionelle
Sinn der sowohl den Pluralismus wie den Föderalismus und die Polykratie tragen-
den Institutionen ist unzweifelhaft. Jede Kritik wird daher diese Institutionen selbst
unangetastet lassen müssen, sie mag im übrigen so scharf und so gerechtfertigt sein
Wle lmmer.

Die Homogenitätsbedingung
und das zurückgebliebene gesellschaftliche Bewußtsein 510
Es stellt sich also im ganzen heraus, daß die Wirklichkeit der modernen Gesellschaft
äußerst inhomogen ist. Sie ist in eine Pluralität von gesellschaftlichen Interessenlagen
510 Vgl. o. J. Teil, Zweites Kapitel und II. Teil, Erstes Kapitel.
Die Homogenitätsbedingung und das zurückgebliebene gesellschaftliche Bewußtsein 129

und wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Interessenorgani-


sationen zergliedert. Dieser Zustand birgt seine eigenen Gefahren in sich. Zwar
kommt er gerade durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem weitläufigen und
dichten gesellschaftlichen Interdependenzsystem zustande und offenbart somit zu-
gleich eine tiefere gegenseitige Angewiesenheit aller heterogenen Interessen und In-
teressenorganisationen. Doch ist die Rationalität dieses tieferen Zusammenhanges
recht kompliziert und bietet um so mehr der Entstehung von Spannungen die Gele-
genheit, die das ganze Gefüge mit Zusammensturz bedrohen können. Die Dynamik
des Gesellschaftsprozesses kann bis an die Grenze des Zerreißens führen und setzt
dann gefährliche irrationale Kräfte frei, die sich zunächst im Medium der Ideologien
und Utopien radikalisi,eren, um schließlich täüich zur Zerstörung des Systems zu
schreiten.
Es besteht hier ein höchst bedeutungsschwerer Zusammenhang zwischen gesell-
schaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein der Bevölkerung. Das gesell-
schaftliche Bewußtsein der Bevölkerung wird um so differenzierter und weiter hori-
zontiert sein müssen, je komplizierter und vielschichtiger die Zusammenhänge des
gesellschafdichen Seins sind. Jedes Zurückbldben des Bewußtseins hinter dem gesell-
schaftlichen Sein wird als Engstirnigkeit in Erscheinung treten und die ideologischen
Kurzschlußhandlungen hervorrufen, deren Irrationalität im gesellschaftlichen Sein
zerstörerisch wirkt und anstatt zur Meisterung der Konflikte nur zu Abbau und
Barbarei führt. Die Ungerechtigkeiten, die zu jenen Spannungen führten, werden
nicht überwunden, sondern ein bloßes Verhängnis nimmt seinen Lauf. Die Gegen-
sätzlichkeit der Interessen wird nicht in einer höheren Vermittlung aufgehoben, son-
dern geht in der Gewaltlösung unter, deren homogenisierende Wirkung allein in der
Destruktion liegt. Eine ideologische Kurzsichtigkeit, in deren Vorstellungen die Plu-
ralität der Interessenlagen einer modernen Gesellschaft verneint wird, kann niemals
die Homogenitätsgrundlage sein, die die Vermittlung der Interessenspannungen zu
ermöglichen vermag. Die höhere Einigung, die das spannungsreiche System der
modernen Gesellschaft zusammenzuhalten vermag, wird also stets nur im Bewußt-
sein der notwendigen Interessenpluralität und der Legitimität gegensätzlicher gesell-
schaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Interessenorganisationen zustande kom-
men können.
Gewiß ist für die Legitimität der parlamentarischen Demokratie und ihre eigen-
tümlichen staatlichen Willensbildungsverfahren in der modernen Gesellschaft ein
Mindestmaß an Homogenität vonnöten. Aber deren wesentlicher Bestandteil ist das
Bewußtsein der notwendigen Pluralität und Inhomogenität der gesellschaftlichen
Interessen. 511 Für ein solches, der Entwicklungshöhe des gesellschaftlichen Seins adä-
quates gesellschaftliches Bewußtsein aber ist das Verfahrenssystem der parlamen-
tarisch-parteienstaatlichen Demokratie das geeignete Medium politischer Integration.
Jeder der großen Interessenverbände, jede der Bewegungen und Parteien, die in der
organisierten Massengesellschaft um die politischen Entscheidungen konkurrieren,
wird sich angesichts der Kompliziertheit der gesellschaftlichen Zusammenhänge leicht
auf sein Recht in der Sache berufen können. Zur Höhe des gesellschaftlichen Bewußt-
seins gehört aber gerade diese Einsicht, daß dies so ist. Die Konsequenz daraus ist, was
den Willensbildungsverfahren der parlamentarischen Demokratie ihren Sllln gibt:
Wenn Idie Entscheidungen nicht im Bürgerkrieg zwi'schen selbstüberzeugten Großver-
511 Vgl. auch Hermann Heller, "Politische Demokratie und soziale Homogenität", in: Probleme der Demokratie
(Politische Wissenschaft, Schriftenreihe der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und des Instituts für Aus-
wärtige Politik in Hamburg, Heft 5), Berlin 1928. Heller erkennt, daß ein bestimmtes Maß sozialer Homogenität
gegeben sein muß, wenn "politische Einheitsbildung überhaupt möglich sein soll. Soziale Homogenität kann aber
niemals Aufhebung der notwendig antagonistischen Gesellschaftsstruktur bedeuten" (S. 41).
130 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

bänden gewonnen werden sollen, wobei nur ein allgemeiner Verfall und Niedergang
herauskommen kann, dann bedarf es eines Vermittlungssystems, das der richtigen
Sache wenigstens immer die Tür oder Chance offenhält, d. h. verhindert, daß einer
der Großverbände oder eine der Parteien und Bewegungen sich mit ihrer überzeu-
gung absolut setzen. Gerade vor dem Richtstuhl eines unbedingten und selbstlosen
Rechtswillens, des Willens, nur der Wahrheit die Ehre zu geben, gerade vor ihm
erweist sich die Weisheit dieses Verfahrens und der ideologische Kurzschluß jeder an
nichtparlamentarisch-demokratische Verfahren sich heftenden Legitimitätsgesin-
nung. 512
Die für den Zusammenhalt der organisierten Massengesellschaft erforderliche
Homogenität beinhaltet vor allem die Forderung eines zur Höhe des gesellschaftlichen
Seins erhobenen Bewußtseins in der Bevölkerung, und zwar des Bewußtseins der not-
wendigen gesellschaftlichen Interessenpluralität und der notwendigen Offenhaltung
des politischen Willensbildungssystems. Es ist die Legitimitätsgesinnung der parla-
mentarischen Demokratie. Jede andere Legitimitätsgesinnung bleibt hinter dem ge-
sellschaftlichen Sein zurück und wird dadurch zum Faktor seiner Zerstörung. Die
eigentliche Gefahr der organisierten Massengesellschaft liegt in diesem Zurückbleiben
des gesellschaftlichen Bewußtseins hinter dem gesellschaftlichen Sein, in den Ideolo-
gien, die daraus entstehen. Die Homogenitätsbedingung wird also nicht durch das
Bestehen einer Pluralität von Interessenverbänden und Parteien, sondern durch deren
im gesellschaftlichen Bewußtsein zurückgebliebene politische Legitimitätsgesinnung
verletzt, also vor allem durch jene Bewußtseinshaltungen und politischen Bestrebungen,
die gegen die parlamentarische Demokratie eingenommen sind. Das Mindestmaß an
Homogenität, das für die Funktionsfähigkeit und Legitimität der parlamentarischen
Demokratie in der organisierten Massengesellschaft bestehen muß, betrifft eine Homo-
genität durchgebildeten gesellschaftlichen Bewußtseins. Die Inhomogenität im gesell-
schaftlichen Sein ist nicht unbedingt ein Widerspruch zur Legitimitätsbedingung der
parlamentarischen Demokratie, sondern im Gegenteil das, was sie überhaupt erst
sinnvoll und notwendig macht. Was die Legitimitätsbedingung der parlamentarischen
Demokratie in der organisierten Massengesellschaft verletzt, ist allerdings auch nicht
summarisch die Inhomogenität des gesellschaftlichen Bewußtseins, sondern genauer:
das falsche und zurückgebliebene gesellschaftliche Bewußtsein, dem die antiparlamen-
tarische und antidemokratische Legitimitätsgesinnung entspringt.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit
earl Schmitt hatte gezeigt, daß einer Verfassungsgerichtsbarkeit eine hochpolitische
Funktion zukommen mußte. 513 Nun läßt sich sagen, daß solche Funktion ihr zunächst
512 Gustav Radbruch formuliert das an einer Stelle sehr eindrucksvoll: "Volk muß unvermeidlich ein Begriff
streitender Parteien sein, solange nicht ein Engel vom Himmel uns die untrügliche Offenbarung des Gemeinwohls
gebracht hat." (Gustav Radbruch, "Parteienstaat und Volksgemeinschaft", in: Die Gesell,chaft, 6. ]g. (1929),
Bd. II, S. 99.) Gewiß gehen die Regeln des demokratischen Kampfes um die Bestimmung der öffentlichen Geschicke
historisch aus einer bestimmten politischen Ideologie und Grundwerthaltung hervor, die im Aufklärungsdenken
wurzelt; aber diese Ideologie kann in Vergessenheit geraten, ohne daß der Integrationsfunktion der Kampfregeln
Abbruch geschieht. Die Einhaltung der formellen Regeln selbst ist insofern in gewisser Weise wichtiger als die
übergreifende Homogenität einer inhaltlichen politischen Ideologie. Auf diesen selbständigen Sinn der formellen,
sog. "funktionellen Integration" hingewiesen zu haben, ist u. a. das Verdienst von Rudolf Smend. Es "kann
die Ideologie zerfallen und die Integration bleiben". Rudolf Smend, VerfaHung und VerfaHungsrecht, München
1928; jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1955, 5.153.
513 In earl Schmitts allgemeinen Ausführungen über das Wesen der Justiz und ihre Gesetzesgebundenheit meint
Hans Kelscn, Wer ,oll der Hüter der VerfaHung sein? (Anm. 472), eine Ideologie zu entdecken. earl Schmitt
hatte zu zeigen versucht, daß alle Justiz aufhört, wenn die Normen, an die sie gebunden ist, in ihrem Inhalt
zweifelhaft und umstritten sind. Kelsen sagt dazu (5. 18): »Erst die Umkehrung dieses Satzes führt wieder zu
Die Ver/assungsgerichtsbarkeit 131

einmal nur dann zukommen kann, wenn in der Tat Verfassungskonflikte auftreten.
Dergleichen wird nur in Ausnahmesituationen der Fall sein, also gerade inden Situatio-
nen, in denen es um den Fortbestand zum Beispiel einer parlamentarischen Demokratie
geht. Carl Schmitt hatte außerdem selbst gezeigt, daß es eine politische, und zwar
verfassungspolitische Frage erster Ordnung ist, wer in solchen Ausnahmesituationen,
wo ein Staat z. B. von totalitären Kräften bedroht wird, der Hüter der Verfassungs-
ordnung sein soll. Carl Schmitt hielt es für unvereinbar mit der Unabhängigkeit und
zugleich politischen Unverantwortlichkeit des Richterturns, daß ihm höchste verfas-
sungspolitische Entscheidungen und Souveränitäts akte überlassen würden.
Was hieß nun aber politische Verantwortlichkeit? Möglicherweise war in der Tat
die vom höchsten Gericht getroffene Entscheidung ein Souveränitäts akt. Aber solcher
Souveränitäts akt war doch wesentlich unterschieden von etwaigen Souveränitäts-
akten, die nach Interpretation Carl Schmitts vom Reichspräsidenten als Inhaber der
Notgewalt getroffen werden konnten. Die Betrachtung der Konstruktion, in der Carl
Schmitt den Reichspräsidenten zum Hüter der Verfassung machte, zeigt, daß dessen
Befugnisse, nach Interpretation Carl Schmins, die Freiheit einschließen sollten, ver-
fassungspolitische Entscheidungen zu treffen, durch die der übergang vom parla-
mentarischen Gesetzgebungsstaat zum plebiszitären Regierungs- und Verwaltungs-
staat sollte innerhalb der Verfassungslegalität vollzogen werden können. Der Reichs-
präsident, der selbst von bestimmten Parteien als Kandidat aufgestellt worden war
und für den die Parteien den Wahlfeldzug führten,514 sollte als schließlich gewählter
Präsident die Möglichkeit besitzen, die parlamentarisch-parteienstaatliche Form der
Demokratie zugunsten einer nichtparlamentarischen, antiparteienstaatlichen und
plebiszitär-demokratischen, regierungsstaatlichen Form zu beseitigen. Diese Be-
rufung auf die unmittelbare Volkswahl nicht nur gegen totalitäre Parteien, sondern
auch gegen republiktreue parlamentarische Parteien, ohne deren Wahlkampfunter-
stützung der Reichspräsident gar nicht gewählt worden wäre, stellt eine Art Sou-
veränitätsakt dar, der den Präsidenten zum Herrn der Verfassung und das Verfas-
sungsorgan Reichspräsident zum zusammenhanglos einzig wichtigen, zum verabsolu-
tierten Verfassungsinstitut machte. In solchem Falle berief sich der Reichspräsident
also auf den unmittelbaren Volkswillen gegen die Parteien, die doch die offensicht-
lichen Vermittler dieses Volkswillens waren, er agierte also mittelbar auch gegen den
Volkswillen, der bei seiner Wahl jedenfalls nicht darüber entschieden hatte, ob die
Parteien abgeschafft werden sollten, ihre politische Funktion somit wohl noch an-
erkannte.
Die Freiheit, sich in dieser Art auf den Volkswillen gegen den Volkswillen zu beru-
fen, läuft aber, das muß Carl Schmitt entgegengehalten werden, dem Volks willen
und der Volkssouveränität auf viel ärgere Weise zuwider als ein Souveränitätsakt des
höchsten Gerichtes. Ein höchstes Gericht konnte sich zwar nicht auf den unmittelbaren
Volkswillen berufen, da es nicht vom Volke gewählt war, vermochte sich doch aber
mittelbar auf den Volkswillen zu berufen. Denn es war erstens ein Organ der auf

der einfachen und jedermann sidubaren Wahrheit zurück, daß die Justiz zumeist überhaupt erst anfängt, wenn
die Normen und deren Inhalt zweifelhaft und umstritten werden, da es sonst nur Tatbestands- und überhaupt
keine eigentlichen ,Rechts<streitigkcitcn gäbe." Kclsen sieht daher den Unterschied zwischen dem politischen
Charakter der Gesetzgebung und dem politischen Charakter der Justiz nur als einen quantitativen 1 nicht als
einen qualitativen Unterschied an.
514 KeJsen, a. a. 0., S. 44, schreibt dazu: "Daraus, daß das Staatsoberhaupt ,vom ganzen Volke gewählt',
d. h. in Wirklichkeit von einer Mehrheit und unter Umständen sogar nur von einer Minderheit des Volkes im
Kampf gegen andere Gruppen berufen wird, zu schließen, daß es den Gesamtwillen des einheitlichen Volkes Zum
Ausdruck bringen werde, ist ... nicht nur darum fragwürdig, weil es einen solchen Gesamtwillen nidlt gibt,
sondern auch darum, weil gerade die Wahl keine Gewähr für eine die Interessengegensätze ausgleichende Funktion
des Staatsoberhauptes bietet."
132 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

dem Volks willen beruhenden Verfassung; zweitens wurde es von den Parteien als
offensichtlichen Mittlern des Volkswillens oder von einer Gruppe von Abgeordneten
- unmittelbaren Gewählten des Volkes also, die primär .doch, auch nach der Verfas-
sung, Abgeordnete und sekundär erst Parteileute waren - angerufen; und drittens
besaß es immerhin noch die Autorität, die die Verfassungsorgane, auch wenn sie im
Klagefall die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts zu bestreiten suchten, bewegte,
bei Zuständigerklärung des Gerichtes vor dem Gericht zu erscheinen. Wenn also der
Reichspräsident sich in jener Weise auf den Volkswillen berufen konnte, so konnte
es das höchste Gericht nicht minder, sondern in einer Weise, die der Wirklichkeit
sogar noch besser gerecht zu werden vermochte.
Wenn die politische Verantwortlichkeit des Reichspräsidenten ihm erlauben sollte,
die parlamental'isch-parteienstaadiche Demokratie zugunsten eines plebiszitär-
demokraoischen, antiparlamentarischen und a;ntiparteienstaatlichen Regierungs-
staats zu beseitigen, so war diese Art politischer Verantwortlichkeit inhaltlich so
leer, daß sie in der Sache sogar noch weniger bedeutete als die "politische Unverant-
wortlichkeit" eines höchsten Gerichtes. Es bleibt also eine rein politische, und zwar
verfassungspolitische Erwägung, ob ein höchstes Gericht von unabhängigen - hier in
höchstpolitischer Funktion tätigen, aber nicht weniger als andere Verfassungsorgane,
wie der Reichspräsident, an die Verfassung gebundenen - Richtern als Hüter der Ver-
fassung in Frage kommt; eine Erwägung, deren Entscheidung nicht eine positive
Rechtsfrage, sondern selbst eine politische Entscheidung ist.
Gerade Carl Schmitts Argumentation hatte gezeigt, daß es sich um eine rein poli-
tische Frage handelte, ob man einer von unabhängigen Personen, die den Beruf des
Richters erlernt haben und ihrer Fähigkeiten wegen in das höchste Gericht berufen
wurden, besetzten Instanz, die den Namen Verfassungsgericht oder Staatsgerichtshof
trug, politische Entscheidungen in die Hand geben wollte oder nicht. Seine Argumen-
tation, daß die Justiz zum Hüter der Verfassung untauglich sei, hatte also selbst
einen ausgesprochen politischen Sinn, nämlich, die politische Möglichkeit des Justiz-
staates, die politische Aktivierung der Autorität des höchsten Richtertums zum
Schutze der Weimarer Verfassungs ordnung zu verneinen und zu bekämpfen. 515
Man kann also den Eindruck gewinnen, als bestehe Carl Schmitt nur darum auf
der Untauglichkeit der Justiz zum Hüter der Verfassung, weil er will, daß die Regie-
rung diese Funktion wahrnehmen soll, und mehr noch, weil er den Übergang zum
antiparlamentarisch-antiparteienstaatlichen Regierungsstaat vollzogen 'Sehen will.
Seine Interpretation des R,eichspräsidenten als Hüters der Verfassung bedeutet eine
Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Die Aktivierung der politischen Po-
tenzen des höchsten Gerichtes aber konnte höchstens einen Justizstaat ergeben. Ein
Justizstaat aber mußte seiner Natur nach auf die vorübergehende Zeit einer Not-
situation beschränkt sein. Denn es liegt in der Natur auch einer politisierten Justiz,
daß ein höchstes Richtertum politisch nur in begrenztem Maße fähig ist, in Krisen-
~ituationen ausfallende Regierungs- und Gesetzgebungsfunktionen zu übernehmen,
daß es im wesentlichen nur eine hemmende und wahrende Funktion auszuüben ver-
mag. In jedem Falle hätte auch eine Art "Regierung der Justiz mit einstweiligen
Verfügungen" immer die Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie offen-

515 Aum Kelsen, a. a. 0., S. 51 f., bemerkt, daß earl Smmitts gesamte Argumentation von der Tendenz
erfüllt sei, .die Ungleimheit einer Verletzung der Verfassung durm das Staatsoberhaupt bzw. die Regierung zu
ignorieren, eine Möglichkeit, die gerade gegenüber einer Verfassung besteht, zu deren wichtigsten Bestimmungen
ein Art. 48 gehört. Indem aber Carl Smmitt die unbewiesene und unbeweisbare Behauptung aufstellt, die Front
eines Verfassungsgerimts wäre nur gegen das Parlament gerimtet, deutet er die Funktion dieses ,Hüters der
Verfassung' aus einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Staatsakten, im besonderen auch von Gesetzen,
in die eines ,Gegengewichts gegen das Parlament' um."
Der Hüter der Verfassung 133

gelassen. Denn ein Gericht kann zwar vielleicht Hüter der Verfassung sein und seine
Autorität dazu verwenden, durch politische Entscheidungen den ordentlichen poli-
tischen Gewalten wieder in ihre ordentlichen Funktionen zu verhelfen und Richt-
weisen für die Abwehr der eigentlich verfassungsfeindlichen - hier der totalitären
und autor:itären - Bewegungen zu geben, aber es kann nicht selbst in extenso regie-
ren und nicht in extenso Gesetze geben. Demgegenüber muß der von Carl Schmitt in
Vorschlag gebrachte Hüter der Verfassung bei solchen verfassungspolitischen Ziel-
setzungen, wie Carl Schmitt sie aufstellt, die Verfassung der parlamentarisch-parteien-
staatlichen Demokratie stürzen, da er im Unterschied zur Justiz durchaus in der
Lage ist, selbst die gesetzgeberischen Funktionen zu übernehmen und zudem noch
weitgehende politische Möglichkeiten hat, die höchste Justiz kaltzustellen.

Der Hüter der Verfassung 516

Die Weimarer Republik befand sich zumal seit Ausbruch der großen Wirtschafts-
krise in der Tat in einer höchst kritischen Lage. Sie litt an den verschiedensten übeln.
Sie konnte auf keiner Tradition parlamentarischer Demokratie aufbauen und war aus
einem verlorenen Kriege hervorgegangen. Sie war von vornherein mit der Liqui-
dation dieses von der halbabsolutistischen Monarchie und schließlich Militärdiktatur
verlorenen Krieges belastet. Sie stand auf den Kompromissen zwischen den widerspre-
chendsten sozialen Kräften. Sie hatte mit großen außen- und innenpolitischen Proble-
men zu ringen, zu deren Bewältigung sich die Kräfte nur mühsam zusammenfanden.
Und diese Kräfte hatten zugleich gegen zahlreiche republikskeptische und republik-
feindliche Strömungen zu kämpfen.
Die republikanischen Regierungen mußten mit einer Bürokratie arbeiten, die nur
zu geringen Teilen republikfreundlich gesonnen war, im übrigen aber an den anti-
parlamentarischen Traditionen des Obrigkeitsstaats, an der überlieferten Parteien-
verachtung festhielt und gern ihre alte Herrschaftsrolle zurückgewonnen hätte. über-
parteilichkeit bedeutete stets Konservativismus und oft genug Antidemokratie. Die
Reichswehr, auf die die Republik nicht verzichten konnte, verfolgte ihre eigene Politik
im Staate. Großindustrie, Hochfinanz und Großgrundbesitz zeigten jedem arbeiter-
freundlichen Vorhaben wenig Entgegenkommen. Um so leichter griffen in der organi-
sierten Arbeiterschaft radikale Bestrebungen Platz, die auf Vollendung der halben
Revolution und auf Beseitigung der bürgerlichen Demokratie drangen. Der unselb-
ständige und der selbständige Mittelstand, zumal das schon von der Inflation geschla-
gene und in der Wirtschaftskrise abermals hart bedrängte Kleinbürgertum und
Bauerntum, fürchteten um ihre Existenz und gaben der Republik, dem Großkapitalis-
mus und dem Sozialismus in einem die Schuld. Die parlamentarisch-demokratischen
und republiktreuen, koalitionsbereiten Parteien sahen daher ihre Basis immer enger
werden. Die Sozialdemokratie wurde durch die radikale Linke geschwächt, die
liberalen bürgerlichen Demokraten verloren an Boden gegenüber einer restaurativen
und sich zunehmend radikalisierenden Rechten. Die außenpolitischen Belastungen
und die innenpolitischen Spannungen verbrauchten .die Kräfte der republiktreuelll
Parteien. Nationalistische Strömungen erwiesen sich besonders geeignet, die republik-
skeptischen und antiparlamentarischen Tendenzen mit den antikommunistischen Res-
sentiments zu einer Bewegung zusammenzuführen, deren Führung dann die radikale
nationalsozialistische Partei an sich zu reißen verstand.
So nahm die Koalitionsfähigkeit der Parteien im Parlament immer mehr ab. Die
schließlich mühsam gebildeten Regierungen besaßen nicht die Kraft, die feste Politik

51' Vgl. o. II. Teil, Drittes Kapitel.


134 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

durchzuführen, die in der um sich greifenden Wirtschaftskrise geboten gewesen wäre.


So wuchsen die Zahlen der Firmen, die in Konkurs gehen mußten, stiegen die Schul·
den der Bauern in die Höhe, breitete sich die Plage der Arbeitslosigkeit aus und
drängte alles in eine politische Radikalisierung. Die auch in anderen Ländern - war
doch die ganze Welt von der Wirtschaftskrise betroffen - sich unausweichlich einstel-
lenden Spannungen und Verhärtungen, die die Regierungsfähigkeit wie die Willens-
bildungen der gesetzgebenden Körperschaften beeinträchtigten, die Versteifung der
Parteienfronten, standen in Deutschland unter der zusätzlichen Belastung, daß sie
den immer wirksamen restaurativen Kräften Anlaß boten, sich noch entschiedener
dem Schema des Obrigkeitsstaats, nun in Gestalt der Präsidialkabinette, zuzuwenden.
In dieser Situation besaß die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik
nur schwache Stützen, die zum Teil nur darum noch hielten, weil die Kräfte, die sie
wegzudrängen suchten, aus entgegengesetzten Richtungen wirkten. Wollte man in
solcher Lage nach dem Hüter der Verfassung fragen, so mußte man von vornherein
davon ausgehen, daß die Schwäche der Republik eben durch das Wirken der restau-
rativen und der offen republikfeindlichen Kräfte von Links und Rechts hervorgerufen
wurde. Die offene Bedrohung der Verfassungsordnung ging von den totalitären Be-
wegungen aus. Die weniger offene, aber nicht weniger wirksame Bedrohung ging von
den restaurativen Kräften aus, die auf dem Wege über den Reichspräsidenten und
die Präsidialdiktatur den Obrigkeitsstaat wiederherzustellen suchten. Die Stütze der
Republik konnte also kaum bei denen gesucht werden, die die Grundwertordnung
der Verfassung von Anfang an nicht zu der ihren gemacht, die Republik nie richtig
als die ihre anerkannt hatten. Welches der verfassungsmäßigen Staatsorgane konnte
in solcher Lage die Funktion eines Hüters der Verfassung wahrnehmen? Das Parla-
ment war nicht handlungsfähig und stand in Gefahr, ganz von den antiparlamenta-
rischen und antidemokratischen Bewegungen erobert zu werden. Zur Regierungsbil-
dung auf demokratischer Grundlage war es daher kaum fähig. Die Autorität und
die Möglichkeiten der Justiz konnten ihrer Natur nach nicht sehr weit reichen, zumal
der Justiz kaum Möglichkeiten zur Verfügung standen, Exekutionen in Bewegung
zu setzen. So konnte es vielleicht als der einzig noch übrigbleibende Weg scheinen,
im Reichspräsidenten den Hüter der Verfassung zu finden. Das war formal verfas-
sungsrechtlich vielleicht konstruierbar. Aber angesichts der restaurativen Tendenzen
zur Wiederherstellung eines autoritären Staats, die ihre Hoffnungen auf den Reichs-
präsidenten setzten, mußte bei einer solchen Erwägung zugleich klargestellt werden,
was denn eigentlich das zu Schützende war und auf welcher Seite die Bedrohung ge-
funden werden sollte.
Jede Feststellung, der Reichspräsident sei der Hüter der Verfassung, mußte nun
genau sagen, was sie mit Verfassung meinte und auf welcher Seite sie die Gefahr
für die Verfassungsordnung sah. Hüter der Verfassung war ein zunächst vieldeutiger
und äußerlicher Begriff. Er konnte antitotalitäre, parlamentarisch-parteienstaatliche,
demokratische Bestrebungen ebenso decken wie antiparteienstaatlich-antiparlamen-
tarische und pseudodemokratische, totalitäre Bestrebungen. Der Reichspräsident
konnte wie als Hüter eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaans genausogut als
Hüter eines plebiszitären Regierungs- und Verwaltungsstaats angesehen werden. Er
konnte also als Hüter der Verfassung im Sinne einer antitotalitären Demokratie nur
unter bestimmten Bedingungen angesehen werden. Die Frage nach dem Hüter der
Verfassung war nicht schon mit earl Schmitts Feststellung beantwortet, daß die Justiz
ihrer Natur wegen und das Parlament seiner derzeitigen Situation wegen nur man-
gelhaft für die Wahrnehmung dieser Funktion in Frage kamen und also nur die Not-
gewalt des Reichspräsidenten übrigblieb. Es kam jetzt vielmehr alles darauf an, zu
welchen verfassungspolitischen Zielsetzungen und mit welchem verfassungspolitischen
Der Hüter der Verfassung 135

Bewußtsein die Gewalt des Reichspräsidenten benutzt werden sollte. Ob er wirklich


Hüter der Verfassung oder nur die letztverbleibende formelle Verfassungsgewalt
war, hing von den verfassungspolitischen Zielsetzungen ab, vom verfassungspoliti-
schen Bewußtsein und Willen des Reichspräsidenten selbst und aller Bestrebungen,
die sich um ihn und hinter ihm zu sammeln suchten. Hüter der Verfassung konnte
der Reichspräsi1dent also einzi<g unter .der Voraussetzung sein, .daß ,das verfa:ssungs-
politische Ziel war, die parlamentarisch-parteienstaatliche Demokratie zu erhalten
und die anti parlamentarischen, antiparteienstaatlichen und pseudodemokratischen Be-
wegungen, die autoritär-restaurativen wie die totalitär-revolutionären Kräfte abzu-
wehren.
Auf diese Voraussetzung kam es an. Ob der Reichspräsident Hüter der Verfas-
sung war oder nicht, hing von den verfassungspolitischen Zielsetzungen ab, die von
ihm und den Kräften, die sich hinter ihn stellten, verfolgt wurden. Sie mußten sich
also auch in der verfassungspolitischen Diagnose, in der die verfassungshütende Funk-
tionsmöglichkeit des Reichspräsidenten näher bestimmt wurde, zu erkennen geben.
Wenn eine solche, den Reichspräsidenten zum Hüter der Verfassung erklärende
Diagnose die Bedrohung vor allem im Pluralismus sah und unkritisch generalisierend
alle Parteien unterschiedslos für totalitär erklärte, dann verkannte sie die eigentliche
Gefahr, die von den republikfeindlichen restaurativ-autoritären einerseits, links- und
vor allem rechtsradikalen totalitären Bewegungen anderseits ausging. Eine solche
verfassungspolitische Diagnose aber erklärte implizit die Beseitigung der parlamen-
tarisch-parteienstaatlichen Demokratie zum verfassungspolitischen Ziel und erklärte
sich für die Aufrichtung der antiparlamentarisch-antiparteienstaatlichen, pseudo-
demokratisch-plebiszitären Ordnung eines nicht einmal unbedingt antitotalitären
Regierungs- und Verwaltungs staats. Die Logik der Argumentation, daß der Reichs-
präsident das letzte Verfassungsorgan war, das mit Hoffnung auf einige Wirkung
die Funktion eines Hüters der Verfassung hätte wahrnehmen können, ist nicht ganz
abzuleugnen. Um so mehr aber hing alles von der verfassungspolitischen Zielsetzung
und dem verfassungspolitischen Bewußtsein ab. earl Schmitt gab eine verfassungs-
politische Diagnose, die als Zielsetzung nur die Wendung zum totalen Staat als
plebiszitärem Regierungsstaat offenließ, also auf jeden Fall antiparlamentarisch war
und mit der Vorstellung eines plebiszitär getragenen Regierungsstaats die Forderung
nach einer staatstragenden Elite einschloß, welche im totalen Staat natürlich nicht
mehr eine ablösbare Parteiengruppe liberaler Grundlage, sondern nur noch eine
ordensmäßig organisierte, feste Verbindung sein konnte. earl Schmitts Konstruktion
vom Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung mochte also formal verfassungsrecht-
lich nicht ohne Logik sein, konkret politisch war sie bereits von einer - in seiner ver-
fassungspolitischen Diagnose offen zum Ausdruck kommenden - Option für einen
jedenfalls antiparlamentarischen, antiparteienstaatlichen und pseudodemokratisch
plebiszitären, totalen Staat bestimmt. Darin liegt die ideologische Komponente seiner
Argumentation für den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung. Das verfassungs-
politische Ziel, 'dem der sog. Hüter der VerfasSiung dienen soll, ist, wie sich nun heraus-
stellt, nicht die parlamentarisch-parteienstaatliche Demokratie, sondern der antiparla-
mentarisch-antiparteienstaatliche totale Einheitsstaat. 517
earl Schmitt sieht die Gründe für den Entartungszustand der parlamentarischen
Demokratie in der Weimarer Republik vor allem im Wirken der pluralistischen
Kräfte. Gestalt und Streben der politischen Parteien scheinen vor allem verantwort-
517 Aum Gottfried 5alomon (Anm. 484) in seiner Bespremung des Hüters der Verfassung wendet gegen Car!
Smmitt ein, daß sich die Idee eines pouvoir neutre nicht ohne weiteres von der konstitutionellen Monarmie auf
die Demokratie übertragen lasse. Carl Smmitt übersehe .. die Verbindung von Staat und herrsmender Klasse-
(5. 252).
136 Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren

lich für die vermeintliche Auflösung des Staates. Der suchende politische Wille richtet
sich also auf die Alternative zum Parteienpluralismus. In Wahrheit ging die eigent-
liche Gefahr für den Bestand der Republik von den restaurativ-autoritären, den
linksradikalen und vor allem von den rechtsradikal-revolutionären Bewegungen aus,
die auch die restaurativ-autoritären Bestrebungen hinter sich zu bringen verstanden.
earl Schmitt aber verkennt diese Gefahr, wenn er seine Frage auf die Verneinung
des Parteienpluralismus schlechthin richtet. Diese Verkennung und Verneinung der
Möglichkeiten einer parlamentarisch-parteienstaatlichen Demokratie bestimmt somit
von vornherein die Fragerichtung nach dem Hüter der Verfassung und führt im Er-
gebnis zu einer nur ideologisiertem Bewußtsein evidenten Rechtfertigung des pseudo-
demokratisch-plebiszitären Regierungs- und schließlich totalen Führerstaats.
earl Schmitt bietet gegenüber dem pluralistischen Gesamtzustand die Alternative
des totalen Staats, und zWlar als autoritären Führerstaates an. Wie es eigentlich die
Option für den letzteren ist, die den ersteren als Anarchie und kalten Bürgerkriegs-
zustand erscheinen läßt, wird auch deutlich, wenn man der Kritik von Hans Kelsen
folgt. Kelsen schreibt, daß sich in der Entgegensetzung von Pluralismus und totalem
Staat zwei Gegensatzpaare miteinander verbinden, die nichts miteinander zu tun
haben, daß earl Schmitts Entgegensetzung also die Funktion ideologischer Verhül-
lung habe. Es handelt sich um "den Gegensatz von Staat und Gesellschaft und den
einer autokratisch-zentralistischen und demokratisch-dezentralistischen Willensbil-
dung".518 In den Begriffen Pluralismus und totaler Staat werde das nur verborgen:
"Der totale als der die Gesellschaft vollständig absorbierende, alle sozialen Funk-
tionen ergreifende Staat ist ebenso als Demokratie möglich, bei der der Prozeß der
Willensbildung im Kampf der politischen Parteien vor sich geht, wie als Autokratie,
innerhalb deren die Bildung politischer Parteien überhaupt ausgeschlossen ist. "519

Der heimliche Souverän


earl Schmitts Konstruktion, der Reichsprä~~dent als Hüter .der Verfassung sei pouvoir
neutre und also nicht höherer Dl'itter und souveräner Herr des Staans, .der Konflikte
zwischen Trägern politischer Entscheidungs- und Einflußrechte durch seine stärkere
politische Macht von oben beseitigt, sondern nur nebengeordneter neutraler Dritter,
durch dessen Vermittlung die Konflikte ausgetragen und beigelegt werden, diese
Konstruktion ist in sich sdbst widerspruchsvoll und daher ideologieverdächtig. Denn
eine neutrale Instanz, die nur Autorität, a:ber keine eigene Macht hat, Wlird in schwi.e-
rigen Situationen, wo sich verschiedene Autoritänsauffassungen bekämpfen und die
kämpfenden Machtgruppen jede der anderen die Autorität abspr.echen, nicht viel ver-
mögen, sondern selbst zu einer parteiischen Größe werden, die eben damit keine ver-
mittelnde Autorität mehr hat.
Sie wird also vor dem Dilemma einer vollen Einflußlosigkeit im allgemeinen Streit
oder einer eigenen, über die Autorität hinausgehenden Machtergreifung stehen. Dann
aber steht sie vor der Wahl, entweder neutraler und damit gleichgültig bedeutungs-
loser oder aber: doch höherer Dritter zu sein. Der vermeintlich neutrale Hüter der
Verfassung steht also vor dem Dilemma, entweder ein Hüter der Verfassung nur
zum Schein oder eben doch der Herr der Verfassung zu sein. Die Logik dieses Zusam-
menhanges brauchte gerade earl Schmitt nicht zu entgehen. In Zeiten aber, in denen
solche extremen Konflikte nicht auftreten, list die Funktion eines nur neutralen, neben-
geordneten Dl1itten auch mit dem Pluralismus vereinbar. Dieser Dritte ist dann eben
nur Vermittler zwischen streitenden Gruppen.
518 Kelsen (Anm. 472), S. 33.
519 Ebda.
Der heimliche Souverän 137

Die Theorie vom neutralen Hüter der Verfassung ist also entweder eine Ver-
schleierung des wahren Herrn der Verfassung oder aber selbst ein Ausdruck jener
Tendenz, die Einheit des Staats in einen Komprorniß und den Repräsentanten der
staatlichen Einheit in einen bloßen Vermittler dieses Kompromisses zwischen Macht-
gruppen zu machen. Da das letztere der Intention Carl Schmitts offensichtlich zu-
widerläuft, so stellt sich heraus, daß der angeblich neutrale Hüter ,der Verfassung
eben doch ihr heimlicher Herr ist. 520
Der Hüter der Verfassung, der sich wie der konsoitutionelle Monarch aus dem
Alltag des politischen Kampfes zurückhält, erfüllt eben durch diese Zurückhaltung,
diese Aufsparung für kritische Situationen, die Kriterien, die nach Carl Schmitts
ureigener Souveränitätstheorie den S"ouverän zu erkennen geben, nämlich den im
Ausnahmezustand die Voraussetzungen jeder Ordnung überhaupt erst setzenden,
allen Streit der Parteiungen beendenden Herrn der obersten, ersten und letzten poli-
tischen Dezision, den Träger einer im Ernstfall unbegrenzbaren Fülle von Staats-
gewalt. Der Hüter ,der Verfassung entpuppt sich also als der letztlich doch höhere
Dritte, der nicht bloß ein nebengeordneter Neutraler ist. Also bedeutet wohl die Vor-
stellung vom neutralen Hüter der Verfassung nur eine Verschleierung des Souveräns,
eine Verschleierung jener Gewalt, die in der Situation 1932 den übergang zum Regie-
rungsstaat und die Abwendung von der parlamentarischen Demokratie ermöglichen
sollte.

520 Das erkennt auch Kelsen (a. a. 0.), der an earl Schmitts Argumentation kritisiert, sie versuche, den
Präsidenten als nur nebengeordnete Stelle in der Verfassung und also nicht als deren souveränen Herrn erscheinen
zu lassen, und versuche zugleich, "die Zuständigkeit des Reichspräsidenten durch eine mehr als extensive Inter~
pretation des Art. 48 so auszudehnen, daß dieser nicht anders kann, als zum souveränen Herrn des Staates
werden" (5. 11).
IV. Teil

CARL SCHMITTS POLITISCHE OPTION UND IDEOLOGIE


Erstes Kapitel

DIE OPTION FÜR DEN TOTALEN FÜHRERSTAAT

Die Richtung jener Verfassungsinterpretationen, die earl Schmitt in den letzten Jahren
der Weimarer Republik vOfiIlahm, ist, wie gezeigt werden konnte, deutlich die des Wun-
sches nach übergang zu einem neuen System, nach Abwendung vom parlamentarisch-
demokratischen Parteienstaat und nach Hinwendung zu einem plebiszitär legitimier-
ten, autoritären Regierungsstaat. earl Schmitt sucht nicht nach Schutz und Hut für
die freiheitlichen Grundwerte der Verfassung, nicht nach Reformationen eines parla-
mentarisch-demokratischen Staates, sondern nach Wegen zur Wiederherstellung einer
geschlossenen politischen Einheit und einer starken Staatsgewalt. Auch war zu be-
merken, daß earl Schmitt jede Anknüpfung an der Weimarer Verfassung eigentlich
nur als übergang versteht. Es handelte sich ihm nicht so sehr darum, die Weimarer
Verfassung zu wahren, als vielmehr darum, aus ihr Möglichkeiten zu gewinnen, die
den legal disziplinierten übergang zu einem neuen System eröffnen können. Die
Kräfte, die er aus der Weimarer Verfassung meinte mobilisieren zu können, sind d~e
plebiszitären und die autontären. Der Reichspräsident ist durch seine Ausnahme-
befugnisse und deren in der Praxis vorgenommene Erweiterung sowie durch seine ple-
biszitäre Legitimität die berufene Instanz, die politische Einheit gegen die auflösenden
Kräfte des Pluralismus zu wahren und die Hand zum übergang in einen Regierungs-
staat zu reichen. Die geschichtliche Entwicklung verlief auf der gleichen Bahn.
So kann es nicht wundernehmen, daß earl Schmitt seine Hoffnungen und Erwar-
tungen sich .in der Machtergreifung der nationalsozlialistischen Bewegung erfüllen sieht.
Das politische System, das die nationalsozialistische Bewegung auszubilden verspricht,
scheint ihm die angemessene Form der politischen Organisation im 20. Jahrhundert
zu sein. Dabei war er der Überzeugung: "Es entscheidet nicht den Wert und die
Wichtigkeit einer politischen Idee, daß sie sich selber in einer großen Partei Mas~e
gebe. Sondern daß sie sich im kritischen Moment nur irgendeiner parteimäßig organi-
sierten Masse bediene, um ihr vorges,etztes Ziel zu erreichen. .. Ich könnte mir denken,
daß die von einem Goebbels ein exerzierten Truppen von Jünger [Ernst] als General
zum Sieg geführt würden, der den Goebbels nur an dem ihm zukommenden Platz
eines vom Gesamtplan nichts ahnenden Feldwebels fände, wenn überhaupt innerhalb
der Kadres." 521 Schon die Entwicklung des faschistischen Staates hatte er sehr an-
erkennend begrüßt. So wie die von earl Schmitt gegebene Kritik am demokratischen
Parteienstaat evident immer nur sein konnte bei einer Option für ein entgegengesetz-
tes und auf anderen Grundwerten aufbauendes politisches System, so erweist sich nun
in aller Deutlichkeit, was der Maßstab war, der alle diese Kritik bereits leitete. So
wie earl Schmitt gegenüber dem neugegründeten nationalsozialistischen Reich mit
einem Mal alle gewohnte Haltung kritischen Vorbehaltes aufgibt und sich im Gegen-
teil zum Interpreten und Verfassungskonstrukteur des neuen Reiches macht, so offen-

521 So wiedergegeben von Franz Blei, .Das deutsche Gespräch", in: Neue Schweizer Rundschau, JulI 1931,
S. 526 f.
142 Die Option für den totalen Führerstaat

bart sich nun auch, daß die vordem an der parlamentarischen Demokratie geübte
Kritik zu guten Teilen bereits Apologie für eine Bewegung entgegengesetzter politi-
scher Zielsetzungen war. Das Objekt dieser Apologie tritt mit Klarheit hervor. Es
ist das Modell der in Staat, Bewegung und Volk dreigegliederten politischen Einheit,
dessen Prinzipien Führertum und substantielle Gleichartigkeit bzw., wie es nun heißt:
"Artgleichheit" sind. Diese Staatsform hält Carl Schmitt den Verhältnissen des
20. Jahrhunderts für angemessen. Seine Konzeption soll jetzt dargestellt werden.
Es kann also gezeigt werden, was die positiven Vorstellungen von der politisch
erstrebten Ordnung sind, die den Maßstab für Carl Schmitts Kritik am Entartungs-
zustand des Gesetzgebungsstaates und der parlamentarischen Demokratie hergeben.
Diese Kritik ist in ihrem Ausmaß und ihrer Schärfe nur zu begreifen aus der Option
für ein ganz anderes und entgegengesetztes politisches System. Die Kritik Carl
Schmitts am Zustand der parlamentarischen Demokratie während der Dauer und
während der Endzeit der Weimarer Republik war keine immanente Kritik, die um
der Erneuerung der parlamentarischen Demokratie willen geübt wurde. Sondern sie
trug den Charakter einer transze.ndierenden Kritik, die den Nachweis von Mißstän-
den unmittelbar als Begründung für ein andersartiges politisches System, andersartige
Wertprinzipien und Weltanschauungsgrundsätze benutzen wollte. An allen kritischen
Feststellungen über die Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik, die Carl
Schmitt getroffen hat, läßt sich daher dieses Moment einer Verzeichnung erkennen,
das stets den Sinn hat, die Unmöglichkeit des parlamentarisch-demokratischen
Systems überhaupt zu erweisen und die Notwendigkeit eines gegenteiligen Systems
zu bekräftigen. Diese ideologische Komponente in allen kritischen Analysen wird
deutlich sichtbar, wenn man erfährt, was nun eigentlich die Konsequenz aller Kritik
ist, welche politische Bewegung welchen politischen Zieles Carl Schmitt für legitim
und funktionsfähig erklärt, welcher politischen Ordnung er nicht mehr mit kritischen
Vorbehalten, sondern mit Bejahung und Unterstützung gegenüber wie als Anwalt
und Interpret zur Seite tritt.
Es ist darzustellen erstens das Modell des neuen Staates, zweitens die Rechtferti-
gung konkreter politischer Akte der Nationalsozialisten nach 1933, die earl Schmitt
von diesem Modell her und um seinetwillen rechtfertigt, drittens der historische Zu-
sammenhang, den Carl Schmitt für das dritte Reich konstruiert, und viertens die
Momente im Werk Carl Schmitts, die durch ihre Eigentümlichkeit von Anbeginn auf
die dereinstige Rechtfertigung des plebiszitär-autoritären Totalstaates hindeuten.

Die dreigliedrige politische Einheit


Das oberste Gestaltungsprinzip des neuen Staatswesens ist der Grundsatz der politi-
schen Führung. Die unumgängl,iche VoraussetzJUng und Grundlage eines so gestal-
teten Systems ist die Artgleichheit, die substantielle Gleichartigkeit des deutschen
Volkes. Der Aufbau des politischen Ganzen gliedert sich in drei Ordnungssysteme:
Die Befehls-, Justiz- und Verwaltungs organisation des Staatsapparates; die kommu-
nale und berufsständische Selbstverwaltung des Volkes; und schließlich die alles
überragende und durchdringende Monopolpartei, die die organisatorische Gestalt
der "Bewegung" ist. Die Durchbildung dieses dreigliedrigen Systems von Staat, Volk,
Bewegung unter dem Prinzip des Führertums und auf der Grundlage der Artgleich-
heit erfordert eine Neufassung und Umformung aller sonst bekannten Einrichtungen
und Begriffe. Die dreigliedrige Einheit von Staat, Bewegung und Volk "unterscheidet
sich von dem aus dem 19. Jahrhundert überkommenen liberal-demokratischen Staats-
schema von Grund auf, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer weltanschaulichen Vor-
aussetzungen und ihrer allgemeinen Grundsätze, sondern auch in allen wesentlichen
Der Staat als Apparat der Parteiführung 143

Konstruktions- und Organisat:ionslinien des konkreten staatlichen Aufbaues. Jeder


wesentliche Begriff und jede bedeutungsvolle Einrichtung wird von dieser Verschie-
denheit betroffen." 522
Zunächst einmal sind die drei Ordnungssysteme nicht alternativ trennbar und
schließen einander nicht aus. Man darf, schreibt Carl Schmitt, nicht nach dem Vorbild
der "liberalen Zerreißungen, deren politischer Sinn die Aufhebung oder wenigstens
die Relativierung des politischen Ganzen ist", 523 Staat, Bewegung und Volk gegen-
einander ausspielen und gegeneinander balancieren wollen. Die drei Ordnungssysteme
laufen zwar jedes in sich geordnet nebeneinander her, aber sie "treffen sich an ge-
wissen entscheidenden Punkten, insbesondere in der Spitze" .524 Zumal die "Staat-
und Volktragende Bewegung durchdringt und führt die beiden anderen",525 über-
ragt und gestaltet sie. Sie ist der "Staat- und Volktragende politische Führungskör-
per" ,526 und findet ihre Aufgabe gerade darin, alle Entgegensetzungen der drei
Ordnungssysteme zu verhindern und zu überwinden. Durch die staat- und volktra-
gende Bewegung insbesondere wird die Dreiheit zur Einheit zusammengefaßt. So
läßt sich denn in der umfassenden Einheit des politischen Ganzen "der Staat im
engeren Sinne als der politisch-statische Teil, die Bewegung als das politisch-dyna-
mische Element und das Volk als die im Schutz und Schatten der politischen Ent-
scheidungen wachsende unpolitische Seite betrachten" .527 Der "Dreiklang"528 der poli-
tischen Einheit besteht darin, "daß Staat, Bewegung, Volk unterschieden, aber nicht
getrennt, verbunden, aber nicht verschmolzen sind".529

Der Staat als Apparat der Parteiführung


Im einzelnen ist der Staat im engeren Sinne für diese Konstruktion Carl Schmitts
das "staatliche Behörden- und Ämterwesen, bestehend aus dem Heer und dem staat-
lichen Beamtentum", ist die "Befehls-, Verwaltungs- und Justizorganisation".53o Der
Staat darf nicht mehr im liberal-rechts staatlichen Sinne als das Gegenüber der Ge-
sellschaft angesehen werden. Die politische Einheit läßt sich auch nicht als absoluter
Staat auffassen nach dem Vorbild der absoluten Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts,
in denen das dem absoluten König verpflichtete staatliche Beamtentum und Heer zu-
gleich die Träger der politischen Einheit waren und das Monopol des Politischen
besaßen. Der Staat ist nur noch im apparaoiven Sinne ein Teil des politischen Ganzen
und steht unter dem Führungsanspruch der eigentlichen staatstragenden "Bewegung",
auf die er angewiesen ist. Der Staat ist ein "Organ des Führers der Bewegung".531
"Das staatliche Behörden- und Ämterwesen für sich allein ist also nicht mehr mit dem
522 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 11 f. Eine in den meisten Zügen gleichartige, zum Teil sogar
noch konsequenter formulierte Darstellung des neuen Staates hat Ernst Forsthoff gegeben. Auch er kritisiert die
Entsubstantialisierung des Staates im 19. Jahrhundert und vor allem in der Weimarer Republik. Er stellt einem
privatisierenden Individualismus und der sog. Volkszersetzung durch den Liberalismus die Unerbittlimkeit der
Politik und die historisme Sendung einer autokratischen und autoritären Staatsordnung entgegen. Vorsätzlich will
cr mit seiner Schrift nicht historischer Erkenntnis, sondern politischer Aktion dienen. Der totale Staat, wie
Forsthoff ihn entwirft, gliedert sich in eine von der Aristokratie der Staatskommissare getragene Herrschafts-
ordnung und eine berufsständisch in Korporationen gegliederte Volksordnung. - Ernst Forsthoff, Der totale Staat,
Hamburg 1933.
523 Schmitt, a. a. 0., S. 12
524 Ebda.
525 Ebda.
5211 A. a. 0., S. 16.

517 A. a. 0., S. 12.

528 A. a. 0., S. 21.


529 Ebda.

580 A. a. 0., S. 12.


531 earl Schmitt, "Nationalsozialismus und Rechtsstaat", in: Deutsche Verwaltung, Jg. 1933, 5.716.
144 Die Option für den totalen Führerstaat

politischen Ganzen und nicht mehr mit einer in sich selbst ruhenden ,Obrigkeit' iden-
tisch. Heute kann das Politische nicht mehr vom Staate her, sondern muß der Sta.at
vom Politischen her bestimmt werden." 532 Das staatstragende deutsche Beamtenturn,
das im gewissen Sinne die Funktion der staatstragenden Elite wahrnahm, erfüllte
schon einmal das Schema der dreigliedrigen politischen Einheit, indem es gleichsam
Staat und Bewegung in einem war. Das war die Zeit der Herrschaft des Hegelschen
Staatsgedankens. So aber, wie das Beamtenturn sich im Laufe der Entwicklung ohne-
hin aus den politischen Führungsfunktionen und auf eine mehr oder minder instru-
mentelle Tätigkeit zurückzog, so ist auch im neuen Staatsmodell die Einheit von Staat
und staatstragender Bewegung gelöst und die Partei auch dem staatlichen Beamten-
turn übergeordnet. Der neue Staat ist für Carl Schmitt nicht Beamtenstaat, sondern
Führerstaat.

Der Selbstverwaltungsspielraum des Volkes


Der Größe» Volk" entspricht im dreigliedrigen Schema der neugeordneten politischen
Einheit nach Carl Schmitt eine Sphäre der berufsständischen und kommunalen Selbst-
verwaltung. Diese Sphäre der Selbstverwaltung ist der Spielraum selbstregulativen
gesellschaftlichen Daseins, den der von den politischen Entscheidungen gesteckte Rah-
men offenläßt. Sie ist nicht-staatlich, aber öffentlich-rechtlich, "eine im Gesamtrah-
men der politischen Führung mögliche Autonomie". 533 In diesen Bereich gehören der
Möglichkeit nach sowohl gewerkschaftsartige oder industriellenverbandsartige und alle
sonstigen berufsständischen korporativen Zusammenschlüsse sowie auch Kirchen und
die auf nachbarschaftlicher Grundlage ruhenden kommunalen Selbstverwaltungen,
im ga.nzen eine "Sphäre der volkstümlichen und der berufsständischen Selbstverwal-
tung".534 Diese Sphäre des Volkes hat einen relativ entpolitisierten Charakter. Das
ist aber in der Konstruktion Carl Schmitts nur so zu verstehen, daß sie eben »im
Schutz und Schatten" der politischen Entscheidungen lebt. "Diese ,Entpolitisierung'
hat ... nichts mit dem früheren politischen Mißbrauch der angeblich ,unpolitischen'
Selbstverwaltungs>aIll);elegenheiten zu tun, sondern beruht ganz auf ,der politischen
Entscheidung der anerkannten politischen Führung." 535 Diese Art Selbstverwaltung
soll nichts mehr gemein haben mit dem klassischen Institut der Selbstverwaltung, wie
es im 19. Jahrhundert gegen den monarchischen Militär- und Beamtenstaat ausgebil-
det wurde. Die Gemeindevertretung wurde damals, eben weil sie gewählt wurde, als
der wahre Repräsentant der Gemeinde aufgefaßt und die kommunale Selbstverwal-
tung nach Deutung Carl Schmüts "dadurch zu einer EinbruchsteIle des liberal-demo-
kratischen parlamentarischen Prinzips in einen monarchistisch-autoritären Beamten-
staat" .536 Die Rechte der Selbstverwaltung dienten dem liberalen Bürgertum dazu,
sich unter "dem typischen Vorwand, daß es sich um ,unpolitische' Selbstverwaltungs-
angelegenheiten handle" ,537 eine staatsfreie Sphäre zu schaffen, "in der andere poli-
tische Ideale, andere Form- und Gestaltungsprinzipien gelten als im Staat" .538 Ihr
angeblich unpolitischer Charakter war also in Wahrheit das Instrument einer Gegen-
politik, wie sie denn später auch zur Bastion und zum Asyl der pluralistischen Partei-
kräfte wurde. Im neuen Staats- und Verwaltungs recht muß daher nach dem verfas-

m Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 15.


53'A. a. 0., S. 13.
534 A. a. 0., S. 17.
535 Ebda.
536 A. a. 0., S. 34.
537 Ebda.
538 Ebda.
Die staat- und volk tragende Bewegung 145

sungspolitischen Willen Garl Schmitts die Selbstverwaltung ganz der politischen


Führung und den politischen Entscheidungen der staat- und volktragenden Partei
unterworfen sein. Unter dieser Bedingung aber entspringt ihre Gewährung einem
"Sinn für das konkret Eigenwüchsige", so daß "der Nationalsozialismus auf dem
Gebiet der kommunalen Selbstverwaltung den sachlichen Verschiedenheiten von Dorf,
Landstadt, Industriegemeinde, Großstadt, Riesenstadt gerecht werden [kann], ohne
durch die falschen Gleichheitsvorstellungen eines liberaldemokratischen Schemas be-
hindert zu sein". 539

Die staat- und volktragende Bewegung


Die alle anderen überragende Größe aber ist .die Bewegung. Ihre besondere Gestalt ist
die "aus allen Schichten des Volkes sich rekrutierende, aber in sich geschlossene und
hierarchisch geführte, weil besonders strengen Aufbaues und straffer Führung bedürf-
tige, Staat- und Volktragende Partei". 540 Auf sie vor allem stützt sich die politische
Führung. Sie durchdringt daher gestaltend die bei den anderen Ordnungssysteme.
"Die politisch führende Partei trägt als Organisation der ,Bewegung' sowohl den
Staats,apparat', wie die Sozial- und Wirtschaftsordnung, wie das Ganze der politischen
Einheit." 541 Sie "ist sowohl Suaat wie Volk",542 die beide ohne sie nicht denkbar
wären. Sie ist "im spezifischen Sinne das politische Element des Gemeinwesens, als <der
dynamische Motor gegenüber dem statischen Element des auf Normierungen und den
[die?] datin liegenden politischen Entscheidungen ,angewiesenen Behördenapparates, wie
auch der politische Garant der entpolitisierten, kommunalen oder berufsständischen
Selbstverwaltung".543 Diese Organisation der Bewegung ist nur dem Namen nach
Partei, in der Sache aber nicht mit den auf freier Werbung beruhenden und nicht fest
organisierten Parteien des liberalen Staates zu vergleichen. Ihrer Geschlossenheit und
ihres hierarchischen Aufbaus wegen hat sie eher den Charakter eines "Ordens" oder
einer "Elite". 544 Gerade auf diese Weise aber kann sie nach Garl Schmitt den inner-
gesellschaftlichen Gegensätzen und Konflikten gegenüber der höhere Dritte sein. Eine
solche "Suprematie" des Staates (im weiteren Sinne der politischen Einheit) gegen-
über den innergesellschaftlichen Konfliktspannungen, zumal den Spannungen zwi-
schen Kapital und Arbeit in der wirtschaftlich bestimmten Gesellschaftssphäre aber
ist nach Urteil Garl Schmitts "nur mit Hilfe einer geschlossenen, ordensmäßigen
Organisation durchführbar. Sowohl der Fasaismus als auch der kommunistische Bol-
schewismus bedarf zu seiner Überlegenheit über die Wirtschaft eines solchen ,Appara-
tes' ... Wie soll der Staat der höhere und mächtigere Dritte sein, wenn er nicht eine
starke, festformierte, in sich geschlossene und daher nicht wie die Partei auf freier
Werbung beruhende, hierarchische Organisation zu seiner Verfügung hat?"545
Die Einpartei "ist der staat- und volktragende Führungskörper" ,546 der sich durch
"Gesetz gegen die Neubildung von Parteien" eine "alleinige und aus·schließliche" Vor-
zugsstellung gegenüber allen Versuchen [sichert], den früheren konfessionellen, klassen-
mäßigen oder sonstigen Pluralismus wiederzubeleben". 547 Sie erklärt sich zur Siche-

539 A. a. 0., S. 33.


540 A. a. 0" S. 13.
541 A. a, 0., S. 14.
542 A. a. 0., S. 12.
543 A. a. 0., S. 17.
544 A. a. 0., S. 13.
545 Schmitt, "Wesen und Werden ... " (Anm. 25), S. 112.
546 Schrnitt, Staat, Be'wegung, Volk (Anm. 38), S. 20.
547 Ebda.
146 Die Option für den totalen Führerstaat

rung der "Einheit von Partei und Staat" für eine "Körperschaft des öffentlichen
Rechts, und zwar natürlich in anderem und höherem Grade als irgendeine der vielen,
unter Staatsaufsicht stehenden Körperschaften des öffentlichen Rechts". 548 Als die
selbst "staattragende" Größe soll sie nämlich der sonstigen Staatsaufsicht sowie der
staatlichen Gerichtsbarkeit und Haftung entzogen sein. Mit den liberal-rechtsstaat-
lichen Vorstellungen von staatlich und nichtstaatlich, öffentlich und privat, kann
die Eigenart der Partei der Bewegung nach Darstellung Carl Schmitts nicht erfaßt
werden. "Die Nationalsozialistische Partei ist weder Staat im Sinne des alten Staates,
noch ist sie nichtstaatlich-privat im Sinne der alten Gegenüberstellung von staatlicher
und staatsfreier Sphäre. Daher können aiUch die Gesichtspunkte der Haftung, insbeson-
dere die der Körperschaftshaftung für Amtsmißbrauch ... , nicht auf die Partei oder
die SA übertragen werden. Ebensowenig dürfen sich die Gerichte unter irgendeinem
Vorwand in innere Fragen und Entscheidungen der Parteiorganisation einmischen
und deren Führerprinzip von außen her durchbrechen. Die innere Organisation und
Disziplin der Staat- und Volktragenden Partei ist ihre eigene Angelegenheit. Sie
muß in strengster Selbstverantwortung ihre eigenen Maßstäbe aus sich selbst ent-
wickeln. Die Parteistellen, denen diese Aufgabe obliegt, haben eine Funktion wahr-
zunehmen, an der nicht weniger als das Schicksal der Partei und damit auch das
Schicksal der politischen Einheit des deutschen Volkes hängt. Diese gewaltige Auf-
gabe, in der sich auch die ganze Gefahr des Politischen anhäuft, kann keine andere
Stelle, am wenigsten ein justizförmig prozedierendes bürgerliches Gericht, der Partei
oder der SA abnehmen. Hier steht sie ganz auf sich selbst" 549 und muß daher ihre
eigene Gerichtsbarkeit ausbilden.
Die Partei der Bewegung ist nicht Staat im engeren Sinne, sie ist aber auch nicht
etwa eine aus dem Volke selbst in freier Vereinigung emporgewachsene politische
Bewegung, sondern der "staat- und volktragende Führungskörper" ,550 Seine Spitze
fällt die maßgeblichen politischen Entscheidungen, denen sowohl Staat wie Volk
unterworfen sind, d. h. sowohl die gesamte Heeres-, Verwaltungs- und Justizorgani-
sation als auch die gesamte relativ unpolitische, von selbstverwaltenden Berufs- und
Kommunalverbänden getragene Sozial- und Wirtscl-taftsorganisation. Die Organi-
sation der Partei selbst aber durcl-tdringt dann sowohl den staatlicl-ten Apparat als
aucl-t die Sdbstv.erwaltungsvel"bände. So kann der Beamte wie aucl-t der Angehörige
jedes anderen Berufs'standes oder jeder anderen Schicht des Volkes jetzt als Partei-
genosseein Glied der staat- und volktragenden Organisation selin. Di,e gestaltende
Durchdringung besteht nach dem Willen Carl Schmitts vor allem darin, daß die "ent-
scheidenden Umschaltestellen des ·sta,atlichen Behördenorganismus mit pol~tischen Füh-
rern aus der Staat- und Volktragenden Bewegung besetzt" 551 sind. Die Durchdrin-
gung wird hauptsächlich durch Personalu11Iionenerreicht, welche zumal "die Spitzen der
verschiedenen Organisationsreihen miteinander verbinden", 552 und zwar in einer
absichtsvoll durchdacl-tten Weise.
So tragen diese Personalunionen zum Teil "bereits institutionellen Charakter: der
Führer der Nationalsozialistischen Bewegung ist deutscl-ter Reichskanzler; seine Pala-
dine und Unterführer stehen in anderen pol,itisch führenden Stellungen als Reichsmini-
ster, Preußischer Ministerpräsident, Reichsstatthalter ... " 553 Außel'dem sind "der Stell-
vertreter des Führers und der Chef des Stabes der SA ... Mitglieder der Reichsregierung,

". Ebda.
549 A. a. 0., S. 22.
550 A. a. 0., S. 20.
551 A. a. 0., S. 17.
552 A. a. 0., S. 20.
553 Ebda.
Die Prinzipien von Führertum und Artgleichheit 147

um die engste Zusammenarbeit der Dienststeu,en der Partei und der SA mit den öffent-
lichen Behörden zu gewährleisten".554 "Aiuß·er diesen Personal-Unionen können be-
stimmte Einfl'llßmöglichkeiten insbesondere personaler Art (Vorschlags-, Nominie-
rungs-,PräsentierrUngsrechte regionaler und lokaler P,arteistellen) typische Mittel de8
Kontaktes von Staat und Partei sein." 555 Erst durch diese nach dem Führerprinzip aktiv
gestaltende Durchdringung ist das Volk anstatt einer bloßen "Summe stimmberechtigter
Nicht-Regierer" 556 zu einer effektiven politischen Einheit gebildet. Erst durch die
Organisation der staat- und volktragenden Einpartei sind sowohl die staatlichen
Beamten als auch die Bürger in ihren verschiedenen Berufen zu einer Gemeinsamkeit
von Volksgenossen vereint. "Der staatliche Beamte steht nicht mehr, wie im monarchi-
schen Verfassungsstaat, in einem Gegensatz zu dem sich ,frei' nennenden Bürger,
dessen Freiheit wesentlich Unstaatlichkeit und ein polemischer, gegen den ,unfreien'
Soldaten und Berufsbeamten gerichteter liberaler Kampfbegriff war. Das staatliche
Beamtentumist aber auch nicht mehr, wie im pluralistischen Parteiensystem von 1919
bis 1932, gezwungen, sich als Interessentengruppe 2lU organisieren und sich, statt auf
die Idee und die Institution des deutschen Beamtenturns, auf individualistisch kon-
struierte ,wohlerworbene Rechte' des einzelnen Beamten zu berufen. Der Beamte ist
jetzt Volksgenosse in einer auf Artgleichheit beruhenden politischen Einheit", ;;57 wie
der in der Verschiedenheit seines Seins als Bauer, Arbeiter, Betriebsführer, Frau usw.
zu sich selbst gekommene "Bürger" auch.

Die Prinzipien von Führertum und Artgleichheit


Diese dreigliedrige Organisation der politischen Gesamtheit ist nun nach Willen und
Darstellung earl Schmitts durchweg beherrscht vom Führerprinzip und baut sich auf
der Grundlage substantieller Gleichheit des Volkes, seiner Artgleichheit, auf. Führer-
turn und Artgleichheit erscheinen also als die Prinzipien des neuen Staatswesens und
"als Grundbegriffe des nationalsozialistischen Rechts" .558 Beide Prinzipien vermögen
endlich die Hoffnungen einzulösen, die earl Schmitts Kritik am Entartungszustand
der parlamentarischen Demokratie, ihrem Mangel an politischer Führung und ihrem
Mangel an substantieller Homogenität leiteten. Durch Führerturn und Artgleichheit
kann die pluralistische Zerrissenheit des Parteienstaates überwunden und die politische
Einheit und Ordnung des Volkes wiedergewonnen werden.
Durch das Führerprinzip ist das neue Staatswesen zunächst einmal heraus aus der
Totalität der Schwäche. 559 Es ist ein starker Staat, welcher "das Ganze der politischen
Einheit über alle Vielgestaltigkeiten hinaushebt und sichert" .560 Die politische Einheit
besitzt dadurch eine zusammenhängende Logik ihrer Institutionen und Normierun-
gen, den "einheitlichen Formgedanken, der alle Gebiete des öffentlichen Lebens durch-
gängig gestaltet" .561 Sie vermag so die ihr zukommende Totalität zu verwirklichen
und jene Unsicherheiten und Zwiespalte auszuräumen, die, wie earl Schmitt schreibt,
"zu einem Ansatzpunkt zuerst staatsneutraler, dann staatsfeindlicher Bildungen und
zur Einbruchsstelle pluralistischer Aufsplitterung und Zerreißung" 562 wurden.

554 Ebda.
555 A. a. 0" S. 21.
556 A. a. 0., S. 16.
557 A. a. 0., S. 16 f.
558 A. a. 0., S. 32.
559 Vgl. O. II. Teil, Drittes Kapitel, Abschnitt "Die Totalität der Schwäche".
560 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 33.
561 Ebda.
562 Ebda.
148 Die Option für den totalen Führerstaat

Der starke Staat "läßt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende


oder staatszersplitternde Kräfte aufkommen" .563 Die Entwicklung der neuen Sozial-
techniken zumal im Propagandawesen ebenso wie die Entwicklung der modernen
Techniken in der Wirtschaft und im Militärwesen geben ungeheure Machtmittel an
die Hand. Der starke, sich zu seiner Totalität bekennende Staat, meint earl Schmitt
dazu, "denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zer-
störern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalis-
mus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen". 564 Er ist in
seiner Totalität ein echter Staat, der Freund und Feind unterscheidet. Denn es ist
"jeder echte Staat ein totaler Staat; er ist es als eine societas perfecta der diesseitigen
Welt zu allen Zeiten gewesen".565 Nur ein "starker Staat ist die Voraussetzung eines
starken Eigenlebens seiner verschiedenartigen Glieder. Die Stärke des nationalsozia-
listischen Staates liegt darin, daß er von oben bis unten und in jedem Atom seiner
Existenz von dem Gedanken des Führertums beherrscht und durchdrungen ist." 566 Aus
dieser Stärke heraus, so prognostiziert earl Schmitt, muß der totale Führerstaat auch,
wie schon der Staat des italienischen Faschismus, auf die Dauer nicht den wirtschaftlich
Starken, sondern der Masse der Arbeitnehmer zugute kommen, "und zwar deshalb,
weil diese heute das Volk sind und der Staat nun einmal die politische Einheit des
Volkes ist. Nur ein schwacher Staat ist Diener des kapitalistischen Privateigentums.
Jeder starke Staat - wenn er wirklich höherer Dritter ist und nicht einfach identisch
mit dem wirtschaftlich Starken - zeigt seine eigentliche Stärke nicht gegenüber den
Schwachen, sondern gegenüber den sozial und wirtschaftlich Starken." 567
Der Begriff der Führung als "Kernbegriff des nationalsozialistischen Staatsrechts"
darf nach earl Schmitt nicht mit anderen, scheinbar verwandten Begriffen verwech-
selt werden, weil dann die Gefahr besteht, daß solche anderen Begriffe benutzt
werden, "um den Führergedanken an sie zu assimilieren und dadurch seine eigent-
liche Kraft zu lähmen". 568 Zur konsequenten Liberaldemokratie gehört nämlich, wie
earl Schmitt behauptet, das Ideal der Führerlosigkeit, und seit einem Jahrhundert
wird mit einem ganzen System von besonderen Begriffsbildungen daran gearbeitet,
den Führergedanken auszumerzen und die Hebel solcher fremden Begriffe dort anzuset-
zen, "wo sie politisch zerstörend und geradezu vernichtend wirken müssen". 569 So ver-
sucht z. B. das" von dem Grundprinzip der Sicherheit, Berechenbarkeit und Meßbarkeit
beherrschte rechtsstaatliche Denken" 570 in einer normativistischen Weise die Rechts-
pflicht als etwas zu fassen, was normativ nachmeßbar sein muß, wenn es rechtlich
relevant sein soll. Die moralischen und politischen Zusammenhänge konkreter Ord-
nungen werden dadurch aus den Rechtsvorstellungen eliminiert. "Auf diese einfache
Weise wird eine andere, dem individualistisch-liberalen Rechtsdenken unzugängliche
Art von Pflichten aus dem Rechtsleben hinausverwiesen ... Die für das Recht eines
Führerstaates lebensnotwendigen Treuepflichten z. B. der Gefolgschaft, des Beamten-
tums, der Volksgenossen, die durchaus im vollen Sinne Rechtspflichten sind, werden
dadurch zu ,bloß moralischen' oder ,bloß politischen' Angelegenheiten umgedeutet
und ihres rechtlichen Kernes beraubt." 571 Solche normativistischen Verkennungen
konkreter Ordnungen haben nach earl Schmitt zum Beispiel im Preußenprozeß 1932
56' Schmitr, "Weiterentwiddung des totalen Staats ... " (Anm. 208), S. 186.
564 Ebda.
565 Ebda.
566 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 33.
567 Schmitt, "Wesen und Werden ... " (Anm. 25), S. 113.
568 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 36.
569 Ebda.
"0 Ebda.
571 A. a. 0., S. 36 f.
Die Prinzipien von Führertum und Artgleichheit 149

dazu geführt, daß man die Treuepflicht der Länder gegen das Reich nicht zu erken-
nen vermochte. "Daß man Nationalsozialisten und Kommunisten politisch auf eine
Stufe stellte, galt dieser Auffassung als ,Recht' zum Unterschied von ,Politik'; die
kommunistische Organisation, also einen gefährlichen Todfeind des deutschen Staates,
von einer nationalen deutschen Bewegung zu unterscheiden, galt dagegen als ein Ver-
stoß gegen die ,Gleichheit vor dem Gesetz' und als eine ,politische' im Gegensatz zu
einer ,rechtlichen' oder ,juristischen' Bewertung. Hier wurde der staatsfeindliche Kern
der liberalen Antühetik von Recht und Politik handgreiflich",572 schre'ibt Carl Schmitt.
Ein Rechtsdenken, das dem Führerprinzip gerecht werden will, muß also substanzhaft
in konkreten Ordnungen denken und die konkret-en moralischen und politischen Zu-
sammenhänge der rechtlichen Ordnungen auch rechtlich begr,eifen.
Eine besondere Gefahr droht dem Führergedanken nach Ansicht Carl Schmitts vom
Begriff der Aufsicht her, der in der Sache ein spezifischer Gegenbegriff geworden ist.
So wurde z. B. die Hegemonie und politische Führung Preußens, die das wesentliche
Element in Bismarcks bundesstaatlicher Verfassung von 1871 war, in den Begriff der
"Reichsaufsicht" umgemünzt. Diese Tendenz wurde unter der Weimarer Verfas-
sung noch gesteigert und vollendet, weil diese "die preußische Hegenomie ganz be-
seitigt und dadurch das letzte Führerelement aus der im übrigen beibehaltenen bun-
desstaatsrechtlichen Organisation vollends ausgemerzt hat". 573 Aus dem Begriff der
Aufsicht "wurde für das Staatsrecht ein typisches Mittel der Zerstörung, und zwar
ein politisches Mittel der Zerstörung des echten Führergedankens".574
Der Aufsichtsbegriff wird durch drei Momente gekennzeichnet: Es muß einen vor-
her festgelegten Maßstab der Aufsicht geben, nach dem sie meßbar und berechenbar
1st. Das ist nach Carl Schmitt "seine normativistische Tendenz".575 Zweitens sind Be-
aufsichtigender und Beaufsichtigter im V,erhältnis zu ein.ander primär nicht unter-
worfen, sondern koordiniert, weil beide als nur den Normen unterworfen gelten.
Das ist die "Tendenz zur Gleichordnung von Subjekt und Objekt der Aufsicht".576
Es scheint bereits vorher festgelegt zu sein, was der Aufsichtsführende sich an Eingrif-
fen "erlauben" darf und was der Beaufsichtigte sich "zumuten" lassen muß. So ist,
wie Carl Schmitt meint, "der Gedanke der Disziplin und der Hierarchie auf eine
ganz bestimmte Weise zerstört worden" .577 Drittens unterliegt das Aufsichtsverhalten
der justiz- und prozeßförmigen Kontrolle durch den Richter als objektiven Dritten,
der als Organ der übergeordneten Norm erscheint. "Der dem liberalen Rechtsstaats-
begriff wesensnotwendige Schutz- und Sicherungsgedanke verwandelt dann, zu Ende
gedacht, die Verwaltungsgerichte zur Entscheidung von Streitigkeiten aus dem kom-
munalen Aufsichtsrecht in Behörden zur Aufsicht über die Staatsaufsicht; die Dienst-
strafgerichte des Beamtenrechts, die strenge Standesgerichte sein sollen, in bloße
Schutzvorrichtungen gegen das Dienstaufsichtsrecht, die statt des Vorgesetzten über
alle wichtigen Anwendungsmöglichkeiten und Verwirklichungen der Dienstaufsicht
entscheiden; den Staats- oder Verfassungsgerichtshof in ein Organ zur politischen
Beaufsichtigung der auf Verfassungsaufsicht beschränkten Regierung. Das Ergebnis
ist immer Justiz statt politischer Führung. Ein Prozeßrichter ist [aber] kein politi-
scher Führer ... Im entscheidenden politischen Fall bedeutet die Normativierung und
Prozessualisierung nur eine Bindung des Führers zum Vorteil des Ungehorsamen; die
Gleichordnung der Parteien nur Gleichordnung des Staats- und Volksfeindes mit dem

572 A. a. 0., S. 37.


573 A. a. 0., S. 38.
574 Schmitt, "Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts" (Anm. 42), S. 248.
515 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 39.
576 Ebda.
577 Schmitt, "Der Neubau ... " (Anm. 42), S. 249.
150 Die Option für den totalen Führerstaat

Staats- und Volksgenossen; die Entscheidung durch einen unabhängigen Richter nur
die Unterwerfung von Führer und Gefolgsmann unter einen politisch nicht verant-
wortlichen Nichtführer. "578 Eine solche Zerstörung des Führerprinzips und aller kon-
kreten auf Führung angewiesenen Ordnung ist also, wie earl Schmitt folgert, das
Ergebnis des Aufsichtsprinzips.
Das Führerprinzip darf auch nicht mit anderen Vorstellungen vermengt und ver-
wechselt werden. "Führen ist nicht Kommandieren, Diktieren, zentralistisch-büro-
kratisches Regieren oder irgendeine beliebige Art des Herrschens." 579 Führung ist
kein "spezielles Gewaltverhältnis" im liberal-rechtsstaatlichen Sinne, das an der vor-
her bestimmten generellen Norm einerseits und an der grundrechtlich gewährleisteten
Freiheitssphäreandersei~s 'seine Grenze f,indet. Führung ,ist auch nicht das Verhält-
nis von Hirt und Herde, wie es die römisch-katholische Kirche für ihre Herrschafts-
gewalt über die Gläubigen zu einem theologisch-dogmatischen Gedanken ausgeformt
hat. Führung ist nicht das Verhältnis des Steuermanns zur Mannschaft seines Schiffes,
wie es Platon im Politikos als Aufgabe des Staatsmannes bestimmt hat und wie es
dann über das lateinische WOrt für kybernetes, nämlich gubernator, als "gouverne-
ment", "governo", "government", "Gubernium" und "Regierung" in die europäisdlen
Sprachen und Vorstellungen eingegangen ist. Führung ist endlich auch nicht das Ver-
hältnis von Roß und Reiter, wie Hippolyte Taine von Napoleon und dem französi-
schen Volk gesagt hat und wie es für ein zwanghaft immer neuer Legitimierungen und
Institutionalisierungen bedürftiges Imperatorentum zutrifft.
Was nun aber Führung wirklich ,ist, daJs bestimmt earl Schmitt dann in einer be-
merkenswert und verblüffend .dürft~gen Weise: "Keines dieser Bilder trifft wesentlich
das, was unter politischer Führung im wesentlich deutschen Sinne des Wortes zu ver-
stehen ist. Dieser Begriff von Führung stammt ganz aus dem konkreten, substanz-
haften Denken der nationalsozialistischen Bewegung. Es ist bezeichnend, daß über-
haupt jedes Bild versagt ... Unser Begriff ist eines vermittelnden Bildes oder eines
repräsentierenden Vergleichs weder bedürftig noch fähig. Er stammt weder aus barok-
ken Allegorien und Repräsentationen noch ;liUS einer cartesianischen ide,e generale. Er
ist ein Begriff unmittelbarer Gegenwart und realer Präsenz. Aus diesem Grund
schließt er auch, als positives Erfordernis, eine unbedingte Artgleichheit zwischen
Führer und Gefolgschaft in sich ein. Auf der Artgleichheit beruht sowohl der fort-
währende untrügliche Kontakt zwischen Führer und Gefolgschaft wie ihre gegensei-
tige Treue. Nur die Artgleichheit kann es verhindern, daß die Macht des Führers
Tyrannei und Willkür wird; nur sie begründet den Unterschied von jeder noch so
intelligenten oder noch so vorteilhaften Herrschaft eines hemdgearteten Willens. "580
Es ist sonderbar zu ,sehen, welches Ergebnis der sonst so mächüg begriffsbi1dende
Scharfsinn earl Schmitts für den "Kernbegriff des nationalsozialistischen Staats-
rechts",581 den Begriff der Führung zustande bringt: eine blanke Tautologie. Führung
ist Führung, ein "Begriff unmittelbarer Gegenwart" ,582 zu dessen Verständnis man

578 5chmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), 5. 40 f.


579 A. a. 0., 5. 41.
586 A. a. 0., 5. 42. Vgl. hierzu auch die charakteristische Definition des Führerbegriffs bei Hermann Flicken-
schild, Die Freiheitsidee des Politischen. Sein Bereich im Werden des deutschen Volkes, Kiel 1940. Flickenschild
schließt an Carl Schmitt an, indem er dessen Begriff des Politischen mit nationalsozialistischem Gedankengut zu
substantialisicren sucht. Der Bereich des Politischen im deutschen Volk wird danach geschaHe!) durch "Feindschaft
als Artfeindschaft" (5. 69), und zwar gegen die Machtträger "art- und volksfeindlicher ,freiheiten'" (ebda.).
Die "arteigene" Freiheit aber erfüllt sich in Führung: "In der seinem Führer geschenkten unbedingten Treue aus
rassenseelischer Verbundenheit, die keinerlei Wanken kennt, liegt die innere Freiheit eines Gefolgsmannes .. .'~
(5.54).
581 5chmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), 5. 36.

582 A. a. 0., S. 42.


Die Prinzipien von Führertum und Artgleichheit 151

bereits zu den Artgleichen gehören muß. Führung ist soviel wie gegenseitige Treue
auf der Grundlage "unbedingter Artgleichheit zwischen Führer und Gefolgschaft",5S3
ein "fortwährender untrüglicher Kontakt zwischen Führer und Gefolgschaft".584 Füh-
rung ist nicht dasselbe wie Befehlen und Diktieren, sie ist nicht fremdgeartet wie das
Herrschaftsverhältnis. "Aber daraus folgt nicht, daß der Führer nun nicht befehlen
dürfe und auf ,Einflußnahme', womöglich sogar ,indirekte' Einflußnahme angewiesen
wäre. Dieser Punkt ist entscheidend." 585 Führung ist für Carl Schmitt also kein neu-
traler Allgemeinbegriff, wie er von der Soziologie her zu entwickeln versucht wird.
Führung ist für ·ihn vielmehr ganz auf die konkreten Verhältnisse des Dritten Reiches
bezogen. Der Begriff der Führung besitzt seine Prägnanz allein durch die "politisch-
geschichtliche Tat" der Machtergreifung von 1933 und "ist notwendig mit der Be-
sonderheit eines solchen konkreten politisch-geschichdichen Ereignisses verbunden".
"Unser Führer stellt die echte Dffentlichkeü wieder her, die durch indir,ekte Methoden
und Wege der Machtausübung zerstört war." 586
Ob im konkreten Fall etwas Führung oder Tyrannei und Willkür ist, läßt sich nach
solchen Verdeutlichungen überhaupt nicht entscheiden. Und doch soll, ob Führung
oder Tyrannei besteht, allein von der unbedingten und präsenten Artgleichheit ab-
hängen, denn nur sie "kann es verhindern, daß die Macht des Führers Tyrannei und
Willkür wird". 587 Wo Artgleichheit besteht, gibt es Führung und Gefolgschaft. Dar:l'us
kann man zur Interpretation Carl Schmitts folgern: Wo Gefolgschaft verweigert
wird, besteht entweder Artfremdheit oder Mißbrauch der Führungsgewalt, im Zwei-
felsfall also, wenn es nicht gerade zur Revolution kommt, Artfremdheit, die be-
kämpft wel'den muß, ·und zwar Idurch zwangsweise Homogenisierung oder Ausschal-
tung. Auf diese Weise kann jede Willkür als Führung durchgehen, sofern nicht Ge-
horsam und Gefolgschaft offen verweigert werden. Was Artgleichheit ist, bestimmt
der Führer, denn seine Führung beruht ja eben auf Artgleichheit mit der Gefolgschaft.
Will ein Teil der Gefolgschaft die Gefolgschaft verweigern, so stellt er sich eben damit
außerhalb der Artgleichheit und wird zum Feind, der rücksichtslos bekämpft werden
muß. Es kann sogar der überwiegende Teil des Volkes sein, der die Macht des Führers
als Tyrannei empfindet; wenn er sich nicht durch Revolution von ihr befreit, so kann
sie immer noch als Führung auf der Grundlage der Artgleichheit hingehen; denn nach
dem Prinzip der Führung bestimmt eben der Führer, was Artgleichheit ist, und so-
lange das Volk nicht offenen Widerstand leistet, gilt es eben als Gefolgschaft; in
Wirklichkeit stützt sich der Führer ja auch nicht auf die Verantwortlichkeit vor dem
Volk, sondern auf die Treue der "Staat- und Volktragenden Bewegung", deren Füh-
rung dem Volk gegenüber in der Herstellung der Artgleichheit, möglicherweise durch
Drohung und Zwang, besteht. Das alles liegt auf der gleichen Linie w,ie jene Behaup-
tung earl Schmitts, daß Demokratie mit Diktatur vereinbar sei und auch ohne Ab-
stimmung ein einzelner den Willen des Volhs haben kann, den er selbst erst bildet. 588
"Artgleichheit des in sich einigen deutschen Volkes ist also", wie Carl Schmitt schreibt,
"fürden Begriff der politischen Führung des deutschen Volkes die unumgänglichste
Voraussetzung und Grundlage ... Ohne den Grundsatz der Artgleichheit könnte der
nationalsozialistische Staat nicht bestehen und wäre sein Rechtsleben nicht denkbar;
er wäre mit allen seinen Einrichtungen sofort wieder seinen - bald überlegen-kriti-

580 Ebda.
584 Ebda.
085 earl Schmitt, "Führung und Hegemonie", in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und
Volkswirtschaft, 63. Jg. (1939), 5.519.
586 A. a. 0., S. 518 f.
"7 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 42.
588 Vgl. u. IV. Teil, Zweites Kapitel, Abschnitt "Identität und Repräsentation".
152 Die Option für den totalen Führerstaat

sierenden, bald unterwürfig sich assimilierenden - liberalen oder marxistischen Fein-


den ausgeliefert." 589 In der Vorstellung der Artgleichheit, die hier durchaus im Sinne
rassischer Gleichheit aufgefaßt wird, kehrt earl Schmitts alter Gedanke wieder, eine
Demokratie müsse auf substantieller Homogenität oder Gleichartigkeit beruhen. Die
im nationalsozialistischen Sinne verstandene Artgleichheit ist die Substantialisierung
und Substanzfüllung jenes zunächst noch formalen Begriffs der Homogenität. Der
Begriff der Homogenität, der zunächst nur eine logische Voraussetzung angibt, wird
nun in spezifischer Weise verdinglicht. Was davon zu halten ist, beschreibt in an-
derem Zusammenhang Herbert Marcuse sehr treffend: "Das gesellschaftliche Ganze
als eigenständige und primäre Wirklichkeit vor den Individuen wird kraft seiner
puren Ganzheit auch schon zum eigenständigen und primären Wert ... Die Frage
wird nicht gestellt, ob nicht jede Ganzheit sich allererst auszuweisen hat vor den Indi-
viduen, inwiefern deren Möglichkeiten und Notwendigkeiten bei ihr aufgehoben
sind. Indem die Ganzheit statt an das Ende an den Anfang rückt, wird der zu dieser
Ganzheit führende Weg theoretischer und praktischer Kritik der Gesellschaft ab-
geschnitten. Die Ganzheit wird programmatisch mystifiziert." 590

Die Beseitigung der Wählerei


Das Führerprinzip, "durch das die Bewegung groß geworden ist", muß nun, nach
dem verfassungspolitischen Willen earl Schmitts, "sowohl in der staatlichen Verwal-
tung wie in den verschiedenen Gebieten der Selbstverwaltung sinngemäß durch-
geführt werden".591 Grundsätzlich darf kein wichtigeres Gebiet des öffentlichen Lebens
davon ausgenommen werden. Die organisatorische Durchführung des Führerprinzips
erfordert "zunächst negativ, daß alle der liberal-demokratischen Denkart wesens-
gemäßen Methoden entfallen".592 Von .diesem Postulat sind nun, wae gezeigt wer:den
soll, so g,ut wie alle Methoden und Einrichtungen betroffen, die den Rechtsstaat als
parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebungsstaat ausmachten.
"Die Wahl von unten mit sämtlichen Residuen bisheriger Wählerei hört auf." 593
Daß man, wie schon der Faschismus, "auf Wahlen verzichtet und den ganzen ,elezia-
nismo' haßt und verachtet, ist nicht etwa undemokratisch, sondern antiliberal und
entspringt der richtigen Erkenntnis, daß die ... Methoden geheimer Einzelwahl alles
Staatliche und Politische durch eine völlige Privatisierung gefährden, das Volk als
Einheit ganz aus der Offentlichkeit verdrängen (der Souverän verschwindet in der
Wahlzelle) und die staatliche Willensbildung zu einer Summierung geheimer und
privater Einzelwillen, d. h. in Wahrheit unkontrollierbarer Massenwünsche und -res-
sentiments herabwürdigen".594 Das Volk aber ist, so heißt es schon in earl Schmitts
Verfassungslehre, "ein Begriff, .Jer nur in der Sphäre der Offentlichkeit existent
wird ... Und zwar bewirkt das Volk die Offentlichkeit durch seine Anwesenheit. Nur
das anwesende, wirklich versammelte Volk ist Volk und stellt die Offentlichkeit
her." 595 Daraus ergibt sich für earl Schmitt ein Gegensatz zu den Methoden geheimer
Einzelwahl, wie sie in der parlamentarischen Demokratie üblich sind. Denn: "Erst
das wirklich versammelte Volk ist Volk und nur das wirklich versammelte Volk
kann das tun, was spezifisch zur Tätigkeit dieses Volkes gehört: es kann akklamieren,
589 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 42.
590 Herbert Marcuse, .,Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung", in: Zeitschrift
für Sozialforschung, hrsgg. von Max Horkheimer, 3. Jg. (1934), Paris, S. 163 f.
591 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 33.
592 A. a. 0" S. 35.
598 Ebda.
59' Schmitt, • Wesen und Werden ... " (Anm. 25), S. 111.
595 Schmitt, Verfassungs lehre (Anm. 21), S. 243.
Die Beseitigung der Wählerei 153

d. h. durch einfachen Zuruf seine Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken, Hoch


oder Nieder rufen, einem Führer oder einem Vorschlag zujubeln, den König oder
irgendeinen anderen hochleben lassen, oder durch Schweigen oder Murren die Akkla-
mation verweigern." 596 Im Gegensatz dazu aber ist die Methode geheimer Einzel-
abstimmung "nicht demokratisch, sondern ein Ausdruck des liberalen Individualis-
mus".597
Angesichts mißbräuchlicher Wahlbeeinflussungen mag, wie Carl Schmitt zugesteht,
die geheime Einzelwahl einen gewissen Sinn haben. Aber mit Demokratie hat sie
nichts zu tun. Carl Schmitt besteht darauf, daß die geheime Einzelabstimmung "prin-
zipiell zum Gedankenkreis des liberalen Individualismus gehört und dem politi-
schen Prinzip der Demokratie widerspricht. Denn die konsequente Durchführung
der geheimen Einzelwahl und Einzelabstimmung verwandelt den Staatsbürger, den
citoyen, also die spezifisch demokratische, d. h. politische Figur, in einen Privatmann,
der aus der Sphäre des Privaten heraus - mag dieses Private nun seine Religion oder
sein ökonomisches Interesse oder bei des in einem sein - eine Privatmeinung äußert
und seine Stimme abgibt. Geheime Einzelabstimmung bedeutet, daß der abstimmende
Staatsbürger im entscheidenden Augenblick isoliert wird. Die Versammlung des an-
wesenden Volkes und jede Akklamation ist auf diese Weise unmöglich geworden, die Ver-
bindung von versammeltem Volk und Abstimmung völlig zerissen. Das Volk wählt
und stimmt nicht mehr als Volk." 598 Die "noch so übereinstimmende Meinung von
Millionen Privatleuten ergibt keine öffentliche Meinung, das Ergebnis ist nur eine
Summe von Privatmeinungen. Auf diese Weise entsteht kein Gemeinwille, keine
volonte generale, sondern nur die Summe aller Einzel willen, eine volonte de tüus." 599
Die Methode der durch Wahlgeheimnis geschützten Wählerei hat also nach Deutung
Carl Schmitts eine "tatsächlich desintegrierende Wirkung",600 und es ist eigentlich nur
eine Illusion zu glauben, man könne sich dagegen schützen, "wenn man im Sinne
von R. Smends Integrationslehre eine Rechtspflicht des einzelnen Staatsbürgers kon-
struierte, bei der geheimen Stimmabgabe nicht sein privates Interesse, sondern das
Wohl des Ganzen im Auge zu haben".601
So ist es nach dem Willen Carl Schmitts im neuen Staat also nur demokratisch
konsequent, die Methoden der Wahl überhaupt fallen zu lassen und dafür zu plebis-
zitären Methoden überzugehen, die Wahl also "zur Antwort des Volkes auf einen
von der politischen Führung erhobenen Appell" 602 zu machen. Das gilt sowohl für die
Herstellung der politischen Repräsentation als auch für die Sanktion von Sachent-
scheidungen der Regierung. Angesichts der demokratischen Urgegebenheit, daß das
Volk nur akklamieren und Ja oder Nein sagen kann und "angesichts der unentrinn-
baren Abhängigkeit von Fragestellung und Vorschlagslisten" 603 meint Carl Schmitt,
"ist es eben politisch und infolgedessen auch demokratisch gedacht, Fragestellung und
Vorschlagslisten von der Regierung ausgehen zu lassen und nicht anonymen Cliquen
und Interessengruppen anheimzugeben, die sie in tiefstem Geheimnis fabrizieren und

596 A. a. 0., S. 243 f.


597 A. a. 0., S. 244.
598 A. a. 0., S. 245.
599 A. a. 0., S. 246.

600 Sd!mitt, "Wesen und Werden ... " (Anm. 25), S. 111.
601 Ebda.
602 Sd!mitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), 5.11.
603 Also dem Zusammenhang zwisd!en der Sad!entsd!eidung, die das Volk treffen soll, und der Akklamation
für die politisd!en Führungspersonen, die jene Entsd!eidung vorsd!lagen und durd!führen; die Sad!entsd!eidung ist
immer eine Entscheidung auch über die Personen, die sie vorschlagen und durchführen wollen, und umgekehrt die
plebiszitäre Legitimierung von Personen immer auch eine Entscheidung für eine bestimmte sachinhalt1iche Richtung
der Politik, in der diese vorangehen.
154 Die Option für den totalen Führerstaat

aus einem undurchsichtigen und unverantwortlichen Dunkel heraus einer teils partei-
mäßig organisierten, teils hilflos schwankenden Masse von geheim abstimmenden
Einzelnen unterbreiten." 604
Die Wahl im parlamentarisch-demokratischen Sinne, so muß man den verfas-
sungspolitischen Willen earl Schmitts verstehen, wird also abgeschafft. Mit ihr wird
auch die durch Wahl konstituierte Vertretungskörperschaft, das demokratische Parla-
ment, a!bgeschafft. Sofern ·es ,eine ähnLiche Institution noch g]bt, kommt sie nur auf
dem Wege der plebiszitären summarischen Zustimmung oder Ablehnung für eine
einzilg von der Regierung vorgelegte VorschLagsliste zu~tande. Auf die,se Vorschlags-
liste gelangt aber wiederum keiner durch demokratische Bestimmung von unten, son-
dern nur durch Auswahl von oben, durch eine von der Führung getroffene Auswahl.
Eine solche Körperschaft, die dann summarisch plebiszitär legitimiert wird, ist also
nichts anderes als eine plebiszitäre Zwischenschaltung zwischen Regierung und Volk
und ein bloß plebiszitäres Akklamationsorgan, das kein Recht der Gesetzesinitiative
besitzt und auch nicht gegen den Willen des Führers und Regierungschefs einberufen
werden kann.
Die plebiszitäre Sachentscheidung aber ist ebenfalls ausschließlich in die Hand der
Führung und Regierung gegeben. Volksentscheid und Volksgesetzgebungsverfahren
w,erden nämlich durch ein "VolksbefraglUugsrecht" 605 der Regierung ersetzt, so daß sie
nicht aus sich heraus zustande gebracht werden können. Hat die Regierung eine Sach-
befragung des Volkes vorgenommen, so heißt es bei earl Schmitt zwar, sie "erkennt
den Willen des Volkes, das sie befragt hat, als maßgebend an und betrachtet sich
dadurch als gebunden" .606 Sie hebt ein durch Volksbefragung zustande gekommenCIS
Gesetz nicht ·einfach wieder auf. Aber, so wird diese Auflage hei earl Schmitt wieder
illusorisch gemacht: "Etwas anderes ist es, wenn bei einer völlig veränderten Sach-
lage das Volksgesetz überhaupt nicht mehr zutrifft und sinnlos wird. Dann wäre es
Sache der politischen Führung, darüber zu entscheiden, in welcher Form eine not-
wendige Neuregelung vorgenommen werden muß." 607 Dafür stehen der politischen
Führung dann neue Volksbefragung oder Neubildung eines Reichtstages und Reichs-
tagsbeschluß oder aber einfaches Regierungsgesetz zur Verfügung. Die politische
Führung entscheidet also sowohl über die Notwendigkeit neuer Gesetze als auch über
die Form, in der sie gegeben werden sollen. Damit ist sie schlechtweg absolut.

Die Degradierung der Abstimmungskärperschaft


Die organisatorische Durchführung des Führerprinzips verlangt, nach earl Schmitt,
auch eine Beseitigung der "alten Abstimmungsprozeduren, mit .deren Hilfe eine ,ir'gend-
wie zusammenkoaIierte Mehrheit eine Minderheit majorisierte und aJus der Abstim-
mung ein Machmittel der überstimmung und der Niederstimmung machte" .608 Der-
gleichen darf im Einparteienstaat nicht mehr fortgesetzt oder wiederholt werden.
Wurde früher gezeigt, daß earl Schmitts Klage über etwaige Ungerechtigkeiten und
Vergewaltigungen im Mehrheitsverfahren sich stützte auf das logische Postulat eines
Mindestmaßes an Homogenität, so offenbart sich nun, daß der Mangel an Homogeni-
tät in der Abstimmungskörperschaft nach dem verfassungspolitischen Willen earl
Schmitts einfach dadurch beseitigt werden soll, daß eine zwangsweise Homogenisie-
rung durch Verbot abweichender Parteiungen herbeigeführt wird bzw. dadurch, daß
604 Schmitt, "Wesen und Werden ... " (Anm. 25), S. 111.
605 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 11.
606 Ebda.
607 Ebda.
608 A. a. 0., S. 35.
Die Beseitigung der Gewaltenteilung 155

die Abstimmungskörperschaft nicht gefragt wird. Das Verfahren der Willensbildung


durch Mehrheitsfeststellung nach vorausgegangenen Verhandlungen und Argumen-
tationen wird beseitigt zugunsten eines einfachen Akklamationsverfahrens, dem weder
Verhandlungen noch Argumentationen vorausgehen, sondern nur appellierende
Brandreden. Der Gegenstand solcher Verfahren sollen auch nicht mehr, wie bei parla-
mentarischen Abstimmungen, bestimmte, inhaltlich faßbare Gesetzesbeschlüsse, son-
dern bestenfalls allgemeine Richtungsbestimmungen sein, deren konkrete Durchfüh-
rung mit allen Konsequenzen in nicht mehr weiter kontrollierbarer Weise allein einer
allgemeinen und undeutlichen, faktisch grenzenlosen Ermächtigung für die Führung
überlassen wird, wobei diese Führung ihrerseits von den Akklamierenden vor allem
Treue und, unter dauernder Berufung auf die Treuepflichten, Disziplin, Gefolgschaft
und Gehorsam verlangt bzw. Widerstreben oder Kritik als "artfremde Zersetzung"
verfolgt und zur Unterwerfung zwingt. Der Führungs- und Gefolgschaftsanspruch
stützt sich, so darf man interpreti,eren, nicht auf die Vermögen der Einsicht, des Ver-
ständnisses, der Kompromißbereitschaft und der Kritikfestigkeit, sondern auf Gefühls-
appelle, Aufhetzung und hewisierte Treuepflichten, iim Widerstrebensfalle oder bei
Kritik aber auf Suggestion und Dml]gS1aliellung.

Die Beseitigung der Gewaltenteilung


Die Durchführung des Führerprinzips erfordert nach dem Willen Carl Schmitts wei-
terhin eine Beseitigung der Gewaltenteilungen zwischen Legislative und Exekutive,
Beschluß- und Ausführungsorganen. "Die Gesetzgebungsbefugnis der Reichsregierung
ist ein erstes, bahnbrechendes Beispiel dieser Aufhebung künstlicher Zerreißungen.
überall muß ,das System der Verantwortungsverteilung und -verschiebung durch die
klare Vel'antwortlichkeit des zu seinem Befehl sich bekennenden Führers, und ,die
Wahl ,durch Auswahl ersetzt wellden." 609
Der "unbedingte Vorrang der politischen Führung",610 der das "positiv geltende
Grundgesetz" 611 des neuen Staates ist, verlangt, so folgert Carl Schmitt, die Beseiti-
gung der Trennung von Legislative und Exekutive, verlangt, daß "die Regierung
ein echtes formelles Gesetzgebungsrecht hat ... , daß ferner alle Gesetzesinitiative
grundsätzlich Sache der Regierung ist". 612 Angewandt auf die konkreten Verhält-
nisse im Dritten Reich 1933 heißt das: "Infolgedessen gibt es wohl noch einen Appell
des Führers an den Reichstag und dadurch möglicherweise eintretende Fälle der
Reichsgesetzgebung. Dagegen versagt nicht nur tatsächlich, sondern auch staatsrecht-
lich jede Möglichkeit, gegen den Willen des Führers den Reichstag ... einzuberufen
und dort ein sog. Initiativgesetz einzubringen." 613
Diese Beseitigung der Gewaltenteilung von Gesetzgebung und Regierung scheint
Carl Schmitt nur die richtige Konsequenz aus einer allgemeinen Entwicklung zu sein.
Er schreibt: "Seit dem Weltkrieg sehen sich fast alle Staaten gezwungen, politische,
wirtschaftliche und finanzielle Anordnungen und Maßnahmen in ,vereinfachten' Ver-
fahren zu treffen, die eine schnelle Anpassung an die besonderen Schwierigkeiten der
wechselnden Lage ermöglichen." 614 Diese allgemeine Entwicklung des übergangs
zu legislativen Delegationen, zu vereinfachten Gesetzgebungsverfahren und zur über-
609 Ebda.
"0 A. a. 0., S. 10.
111 Ebda.
612 Ebda.

613 Ebda.
614 earl Schmitt, "Vergleichender überblick über die neu este Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen
Ermächtigungen; Legislative Delegationen" (1936), in: Positionen und Begriffe . .. (Anm. 15), S. 214 (zuerst
veröffentlicht in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. VI, 1936, S. 252-268).
156 Die Option für den totalen Führerstaat

antwortung von Gesetzgebungsbefugnissen, die sonst dem Parlament vorbehalten


waren, an die Regierung, muß zwar für die einzelnen Länder verschieden beurteilt
werden; es zeigt sich aber doch "der unüberbrückbare Gegensatz zwischen dem Ge-
setzesbegriff eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats und der durch die Ent-
wicklung der letzten Jahrzehnte notwendig gewordenen und trotz aller konstitu-
tionellen Bedenken sich durchsetzenden Regierungsgesetzgebung" .615
Der Zwang der Entwicklung erzeugt zwar verschiedene Zwischenformen, aber
die eigentliche Alternative ist nach Auffassung Carl Schmitts doch nur die zwischen
einem konsequenten parlamentarischen Gesetzgebungsstaat und einem konsequenten
Führerstaat, der die Gewaltenteilung aufhebt und zur Praxis der Regierungsgesetz-
gebung übergeht. Im konsequenten parlamentarischen Gesetzgebungsstaat ist eine
Delegation von Gesetzgebungsbefugnissen an die Regierung unzulässig. Das setzt
aber voraus, daß das Parlament selbst zur Erfüllung seiner Gesetzgebungsaufgaben
mehrheits- und handlungsfähig ist. Es setzt außerdem voraus, daß die der Regelung
bedürftigen Verhältnisse so geartet sind, daß sie auch durch Gesetze generellen Cha-
rakters erreicht zu werden vermögen, setzt also eine liberale bürgerliche Konkur-
renzgesellschaft voraus, in der die Interdependenz der gesellschaftlich-wirtschaftlich-
politischen Zusammenhänge noch nicht zu dicht geworden ist, so daß der Staat sich
als neutraler Staat auf relativ weite und allgemeine Regelungen beschränken kann
und nicht gezwungen ist, mit sehr ins einzelne gehenden und schnell folgenden Inter-
ventionen zu arbeiten. Beide Voraussetzungen sind aber durch die Entwicklung zum
organisierten Pluralismus der gesellschaftlichen Mächte, die auch das Parlament zu
ihrem Schauplatz machen und dadurch in seiner Beweglichkeit und Mehrheitsfähig-
keit behindern, sowie durch die Entwicklung zum totalen Staat, der andauernd und
:z.u sehr ins einzelne gehenden Interventionen gezwungen ist, beseitigt bzw. überholt
worden.
Angesichts dessen gibt es nach Darstellung Carl Schmitts übergangsformen und
übergangsartige Lehren, mit denen versucht wird, sich der Entwicklung der Verhält-
nisse anzupassen. Die eine Praxis, wie sie von der sog. altrechtlichen Lehre (Carl
Schmitt nennt die Namen Seydel, Laband, G. Jellinek, Meyer-Anschütz) vertreten
wurde, geht aus von einer grenzenlosen Ermächtigungsmöglichkeit für die Regierung,
sofern nur die Rangverschiedenheit zwischen ermächtigter Regierung und ermäch-
tigendem Parlament gewahrt bleibt, so daß das Parlament durch seine Aufhebungs-
befugnisse für Regierungsverordnungen wirksame Kontrollmöglichkeiten in der Hand
behält. Diese Lösung setzt aber immer noch ein nicht pluralisiertes Parlament voraus.
Die andere Praxis, vertreten von der sog. neuen Lehre der zwanziger Jahre (Carl
Schmitt nennt die Namen Triepel, Poetzsch-Heffter, Walz) geht aus von einer be-
grenzten Ermächtigungsmöglichkeit, so daß Ermächtigungen nur im Dienst bestimm-
ter Zwecke für bestimmte und klar abgegrenzte Sachgebiete erteilt werden können,
in deren Grenzen dann die selbständige Verordnungsbefugnis der Regierung be-
schränkt bleibt.
Der Zwang eines überganges zur Regierungsgesetzgebung ist aber, so folgert Carl
Schmitt, in beiden Fällen deutlich. "Kein Staat der Erde kann sich heute der Not-
wendigkeit einer ,vereinfachten' Gesetzgebung entziehen." 616 Carl Schmitt erblickt
dabei die Konsequenz dieser Entwicklung im übergang zur eigentlichen Regierungs-
gesetzgebung, die die alte Gewaltenteilung ganz überwunden hat. "Wer in der Denk-
weise eines gewaltenteilenden Konstitutionalismus verharrt, wird geneigt sein, von
einer bloßen Akzentverschiebung zu sprechen und bloße ,Tendenzen zur Stärkung der
Exekutive gegenüber der Legislative' ... festzustellen, mit deren Hilfe sich der Ge-
615 A. a. 0., S. 219.
0 .. A. a. 0., S. 227.
Die Beseitigung der Gewaltenteilung 157

setzesbegriff einer gewaltenteilenden Verfassung außerordentlichen Lagen anpaßt." 617


Diese Auffassung gilt earl Schmitt jedoch nur als eine Trübung jener eigentlichen
Verantwortlichkeit, die zur echten politischen Führung gehört, als ein "System der
Verantwortungsverteilung und -verschiebung".618 "Eine kühnere Deutung dagegen",
die sich earl Schmitt zu eigen macht, "sieht die Trennung von Legislative und Exe-
kutive bereits überwunden",619 überwunden auch die Verfassungsbegriffe von Locke
und Montesquieu; und findet den Anschluß an die "vorkonstitutionalistische über-
lieferung" ,620 an Thomas und Aristoteles, an die ratio gubernativa; sie vollzieht den
übergang zur eigentlichen Regierungsgesetzgebung nach der Formel "gouverner c'est
Iegiferer", und nach der überzeugung: "Dem Willen des Führers zu folgen, ist, wie
uns Heraklit gesagt hat, ebenfalls ein nomos." 621
So läuft also die Durchführung des Führerprinzips in earl Schmitts verfassungs-
politischer Konzeption auf eine Beseitigung des gewaltenteilenden Rechtsstaats und
auf die Konstituierung eines strikten Regierungsstaats hinaus, der sich nicht mehr
an einer Volksvertretung als Parlament, sondern nur noch in Plebisziten legitimiert.
An die Stelle der gesetzgebenden Körperschaften tritt dafür ein System von sog.
Führerräten. Der Führerrat "steht dem Führer mit Rat, Anregung und Gutachten
zur Seite; er unterstützt und fördert ihn, hält ihn mit der Gefolgschaft und dem
Volk in lebendiger Verbindung, aber er kann dem Führer keine Verantwortung ab-
nehmen. Er ist weder eine Organisation des Mißtrauens, der Kontrolle und der Ver-
antwortungsverschiebung, noch soll er einen innerlichen Dualismus (Volksvertretung
gegen Regierung, Gemeindevertretung gegen Gemeindevorstand) oder gar Pluralis-
mus darstellen und zum Ausdruck bringen. Daher darf der Führerrat nicht von außen
oder unten her gewählt, sondern er muß vom Führer ausgewählt werden, und zwar
nach bestimmten Auswahlgrundsätzen, die vor allem den Zusammenhang mit der
Staat- und Volktr.agenden Parteiorganisation im Auge behalten. Da!durch Wiird :llUch
eine weitgehende Berücksichtigung der besonderen lokalen und regionalen, wie auch
der fachlichen und ständischen Verhältnisse und Notwendigkeiten möglich. Führer
und Führerrat sind ebenso einfache, wie in ihrer konkreten Anwendung auf die ver-
schiedensten Lebensgebiete elastische Gestaltungsarten. " 622 Sie sind bei der Regierung
ebenso wie bei der Verwaltung oder in der ständischen Selbstverwaltung zu organi-
Sleren.
Es wird erkennbar, daß also auch der Begriff der Verantwortung in earl Schmitts
Sprachgebrauch eine andere Bedeutung erhält. Verantwortung ist nicht mehr zu
realisieren durch ein System von Vermittlungen, in dem durch eine institutionalisierte
Offenhaltung der Konkurrenz unter Machtprätendenten die Möglichkeit geschaffen
wird, die Träger von Herrschaftsbefugnissen zur Verantwortung vor freien, sich der
Absicht nach nur der Vernunft und ihren Einsichten unterwerfenden Bürgern zu
ziehen. Verantwortung ist nicht mehr etwas, das vor dem Willen des freien Volkes
und durch eine mit der institutionalisierten Konkurrenz von Machtprätendenten
gesetzte Kontrolle zu realisieren wäre, sondern Verantwortung löst sich auf in die
streng hierarchische Befehlsunterworfenheit des Gefolgsmannes gegenüber dem Füh-
rer. Sie löst sich anderseits auf in die, unter modernen Herrschaftsverhältnissen
völlig ineffektive, bloß fiktive Verantwortung des einzelnen obersten Führers vor
dem Gesamtvolk, dem gar keine Möglichkeiten eigener Willensbildung und eigener

617 Ebda.
618 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 35.
610 Schmitt, "Vergleichender Überblick ... " (Anm. 614), S. 227.
620 A. a. 0" S. 228.
621 Schmitt, "Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts" (Anm. 42), S. 251.
622 Schmitt, Staat, Bewegung, Volle (Anm. 38), 5.35 f.
158 Die Option für den totalen Führerstaat

Organisation offengelassen sind und das zudem Verantwortung zu fordern berech-


tigt ist nur in den Grenzen der beliebig interpretierbaren, nur von dem staat- und
volktragenden Führungskörper, also letztlich vom obersten Führer selbst zu inter-
pretierenden Artgleichheit. So löst sich Verantwortung auf in die Verantwortung des
Alleinherrschers vor der Geschichte, d. h. dem, was er unter Geschichtemachen ver-
steht. Der Begriff der Verantwortung wird, da alle zu seiner Effektivierung nötigen
organisatorischen Mittel wegfallen, zu einem leeren Wort und einer bloßen Propa-
gandafloskel. Verantwortung wird zu ihrem Gegenteil, zu einem Herrschaftsmittel.

Die Instrumentalisierung der Legalität


Infolge dieser Beseitigung der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung zwischen Legislative
und Exekutive, Parlament und Regierung, infolge deren Ersetzung durch ein durch-
gängiges Führungssystem, das sich auf die alles durchdringende Monopolpartei stützt
und den Staat ebenso zum bloßen Instrument der Führungsspitze macht wie das
Eigenleben des Volkes aus einer Sphäre der Freiheit in einen bloßen Spielraum poli-
tischer Duldung verwandelt, infolge dieser Veränderung aller öffentlichen Einrich-
tungen erhalten auch Gesetz und Legalität in earl Schmitts verfassungspolitischer
Konstruktion einen grundanderen Sinn. Die rechtsstaatlichen Unterscheidungen zwi-
schen formellem Gesetz = Parlamentsbeschluß und materiellem Gesetz = generelle
Rechtsnorm, sowie zwischen Rechtsnorm, die sich an alle Bürger wendet, und Ver-
waltungsanordnung, die sich an die, einem speziellen Gewaltverhältnis unterworfe-
nen, Beamten wendet, diese Unterscheidungen erscheinen jetzt als "in Wahrheit zwei
verschiedenartige, zusammenhanglose Vorstellungen von Recht und Gesetz, zwei
Normenadressaten, zwei Gesetzesbegriffe und daher auch zwei einander aufhebende
Arten von Recht" .623
Substantielles Recht und staatliche Gesetzlichkeit, Legitimität und Legalität, heißt
es bei earl Schmitt, seien in einen Gegensatz geraten, die Legalität habe ihre innere
Legitimität und die staatliche Gesetzlichkeit ihre substantielle Rechtlichkeit verloren.
Daher müssen Gesetz und Legalität "aus dem Zentrum des Gemeinwesens an eine
andere Stelle des politischen Lebens" 624 gerückt werden. "Je mehr die Legalität sich
formalisiert und mechanisiert, um so offenkundiger tritt sie in einen Gegensatz zum
inhaltlich guten Recht." 625 Folglich muß ,sie auf das beschränkt werden, was ihr nach
earl Schmitt zukommt, "sie erhält die ihr zukommende relative, weil instrumentale,
sekundäre Bedeutung; sie wird zum FunktionsmocLus des staatlichen Behördenappa-
rates. Ebensowenig wie der Snaa~sapparat mit der politi:schen Einheit des Volkes, ist
diese Legalität mit dem Recht des Volkes identisch. Zum Recht im substantiellen
Sinne gehört als Erstes Sicherstellung der politischen Einheit; nur auf der Grundlage
der unbestrittenen, und in diesem Sinne positiven, politischen Entscheidungen kann
sich dann in allen Gebieten des öffentlichen Lebens Recht in freiem und autonomem
Wachstum entfalten." 626 Mit anderen Worten: was substantielles Recht und kon-
krete Gerechtigkeit ist, wird im neuen Staat durch die politischen Freund-Feind-Ent-
scheidungen der Führung einer Artangleichungen herbeiführenden "staat- und volk-
tragenden Bewegung" bestimmt. Nach diesen autoritären Entscheidungen bestimmt
sich, was als Spielraum eigenwüchsigen Rechtes offengelassen wird und was sich als
Gesetz an die staatliche Heeres-, Verwaltungs- und Justiz organisation richtet. Gesetz
wird also zum Führerbefehl bzw. zur bloßen Funktionsnorm des Behördenapparats.
'" A. a. 0., S. 16.
'24 A. a. 0., S. 15.
8" Ebda.
626 Ebda.
Die Beseitigung des Föderalismus 159

Der Begriff des Gesetzes, der "in seinen sämtlichen Ausstrahlungen - Vorrang und
Vorbehalt des Gesetzes, Gleichheit vor dem Gesetz, Grundsatz der Gesetzmäßigkeit
der Verwaltungen - immer nur im staats- und verfassungsrechtlichen Gesamtzusam-
menhang aufgefaßt werden kann",627 bedeutet also für earl Schmitt jetzt "etwas
theoretisch und praktisch völlig Verschiedenartiges", wenn es sich um das Gesetz
"eines modernen Führerstaats handelt" .628
"Vorrang des Gesetzes" vor allen anderen Staatstätigkeiten in seinem rechtsstaat-
lichen Sinne entfällt jetzt und verwandelt sich, so offenbart nun die verfassungspoli-
tische Konstruktion earl Schmitts, in den Vorrang der substantielles Recht aus Art-
gleichheit beschwörenden politischen Entscheidungen der politischen Führung. "Vor-
behalt des Gesetzes" kann nicht mehr bedeuten, daß allein die Volksvertretung durch
ihre Beschlüsse in die Grundrechtssphäre der Bürger eingreifen darf, sondern wird
zum Vorbehalt des Führerbefehls, auf Grund der Treuepflichten seines Volkes näm-
lich, alles verlangen zu können bzw. auf Grund der Artgleichheit alles Artungleiche,
jeden Kritiker oder Opponenten als Volksfeind beseitigen zu können. "Gleichheit
vor dem Gesetz" wird zur Gleichheit vor dem Vorbehalt, daß die politische Füh-
rung es für notwendig erachtet, den legalen Funktionsmodus des instrumentalisierten
Staates zu durchbrechen; "Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" ist nicht mehr Gebun-
denheit der Verwaltung an den Willen einer Vertretung der von den Verwaltungs-
eingriffen betroffenen Bürger, sondern nur noch Gebundenheit der Verwaltung an
das, was die politische Führung ihr befiehlt, Gebundenheit an eine instrumentalisierte
Legalität, die ihr Funktionsmodus ist. Gesetze, die noch aus früherer Zeit weiter-
gelten und nicht durch die politische Führung neugesetzt oder aufgehoben sind, dür-
fen nur noch als "Funktionsnormen des staatlichen Behördenapparats, nicht mit dem
Geist und den Grundsätzen, die ihnen im alten Staat zugrunde l,agen",629 gelten.
Gesetz ist nur noch, was aus dem politischen Willen der Bewegung in den staatlichen
Behördenapparat umgeschaltet worden ist. Alle Ermessenshandhabung und jede kon-
krete Auslegung der staatlichen Funktionsnormen durch die Verwaltung und auch
das Richterturn aber hat sich grundsätzlich an den Weltanschauungs- und Programm-
prinzipien der "staat- und volktragenden Bewegung", der NS-Partei also, zu orien-
tieren.

Die Beseitigung des Föderalismus


Die Durchführung des Führerprinzips hat nach dem verfassungspolitischen Willen
earl Schmitts auch eine Neuregelung der Beziehungen zwischen Reich und Ländern
zur Folge. Die Länder werden jetzt "der politischen Führung von Unterführern des
Reichsführers unterstellt", 630 den Reichsstatthaltern, die den Führungsvorrang des
Reiches vor den Ländern sichern. "Sowohl der überlieferte monarchisch-dynastische
Bundesstaatsbegriff des 19. Jahrhunderts, wie auch der in der inneren Schwäche und
Korruption des Weimarer Systems entstandene pluralistische Parteienbundesstaat
sind dadurch überwunden." 631 Die Verbindung des Bundesgedankens mit dem Staats-
gedanken ist seit einem Jahrhundert "die eigentliche Gefahr der politischen Einheit
Deutschlands" .632 "Denn", so schreibt earl Schmitt, "in jeder bündischen Organi-
sation ist eine Garantie des territorialen und politischen status quo vorausgesetzt;

627 Sdunitt, "Der Rechtsstaat" (Anm. 41), S. 7.


628 Ebda.
629 earl Schmitt, "Nationalsozialismus und Rechtsstaat", in: Deutsche Verwaltung, ]g. 1933, S. 717.
630 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 18.
631 Ebda.
682 Ebda.
160 Die Option für den totalen Führerstaat

sie muß sowohl in einem Staatenbund wie in einem Bundesstaat gerade dem staat-
lichen Charakter des einzelnen Gliedstaates als einer politischen Einheit zugute
kommen und dadurch die staatliche Einheit des ganzen deutschen Volkes rela-
tivieren." 633
Es gehört zu den Paradoxien des Bundes, daß sein Zweck einerseits die Selbst-
erhaltung der den Bundesvertrag eingehenden Staaten ist, sie zur Erreichung dieses
Zweckes anderseits aber auf ihr Selbsthilferechtals das wesentliche Mittel der
Selbsterhaltung verzichten müssen. 634 Ein Bundesstaat oder Staatenbund ist daher
ganz darauf angewiesen, aus politisch so gleichartigen Staaten zu bestehen, daß
extreme Konfliktsfälle zwischen ihnen nicht auftreten. Allein ihre Homogenität
ermöglicht es den GliedstaJaten des Bundes, auf ihr jus belli und ihr Selbsthilferecht
zu verzichten, ohne ihren Willen zur Selbsterhaltung zu vermindern oder zu ver-
neinen. Die Möglichkeit der Feindschaft und des Krieges ist nur dadurch ausgeschlos-
sen, daß die Gliedstaaten durch solche Homogenität verbunden sind. Der Bestand
des Bundes ist nur dadurch gegeben, daß kein Gliedstaat einen Feind hat, der nicht
gleichzeitig auch der Feind des '~anzen Bundes ist und, vice versa, auch so behandelt
wird. Die unvermeidlichen Interventionen des Bundes in die inneren Angelegenheiten
der Gliedstaaten sind darauf angewiesen, daß die ohnehin bestehende Homogenität
sie in erträglichen Grenzen hält und nicht als Aufhebung des Selbstbestimmungsrech-
tes der Gliedstaaten erscheinen läßt.
Allgemein gesagt ermöglicht allein diese Homogenität, daß existentielle Konflikte
ausgeschlossen sind. Infolge "jener substanziellen Homogenität kann der entschei-
dende Konfliktsfall zwischen Bund und Gliedstaaten nicht eintreten, so daß weder
der Bund gegenüber dem Gliedstaat, noch der Gliedstaat gegenüber dem Bund den
Souverän spielt. Die Existenz des Bundes beruht vollständig darauf, daß dieser Kon-
flik'usfall seinsmäßig ausgeschlossen ist." 635 Das ist nun aber nach Ansicht Carl
Schmitts eine äußerst schwache Grundlage, die eigentlich nur in einer Umgehung des
Ernstfalles und in einem Augenschließen, einer Entscheidungslosigkeit gegenüber dem
Ernstfall besteht. Der Versuch der Weimarer Verfassung, die politische Gleichartigkeit
von Reich und Ländern in der Gemeinsamkeit der parlamentarisch-demokratischen
Regierungsform zu suchen, hat sich daher, so stellt es Carl Schmitt dar, "im Gegen-
teil als ein besonders geeignetes Werkzeug reichsgefährlicher Ungleichartigkeiten und
staatszerstörender Parteiungen erwiesen".636 Der Föderalismus wurde zum Verbün-
deten des Pluralismus. So konnte es geschehen, daß die politischen Parteien, die 1932
in Preußen, Bayern und Baden im Besitz der staatlichen Machtmittel waren, es für
ihr gutes Recht erklärten, "in offenem Gegensatz zur Reichsregierung die National-
sozialistische Partei für ,illegal', d. h. für staats- und verfassungsfeindlich zu erklären
und eine gewaltige deutsche Bewegung mit der von Moskau befehligten kommu-
nistischen Internationale auf eine Stufe zu stellen", 637 und daß daraufhin im Prozeß
gegen das Reich, nach der Entsetzung der geschäftsführenden preußischen Regierung
durch die Regiel'Ung Papen, vor dem Staatsgerichtshof die innenpolitische Treuepflicht
der Länder gegen das Reich, wie Carl Schmitt schreibt, "verneint und verhöhnt" 638
wurde.
Um derartiges in Zukunft zu verhüten, muß nach dem Willen Carl Schmitts außer
Zweifel gestellt werden, "daß die territorialen Gliederungen innerhalb des Reiches

on Ebda .
• " Vgl. Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 370 H.
m A. a. 0., S. 379.
'36 Schmitt, Das Reichsstatthaltergesetz (Anm. 36), S. 9.
037 A. a. 0., S. 7.

•" Ebda.
Das artgleiche Richtertum 161

unbedingt und vorbehaltlos der politischen Führung des Reiches unterworfen sind
und daß sie unter keinerlei Tarnung, vor allem nicht unter dem bisher höchst ge-
fährlichen Vorwand des ,unpolitischen Charakters' einer Angelegenheit, ein ,Recht
auf eigene Politik' beanspruchen können".639 Das gewährleistet das Reichsstatthalter-
gesetz, das nach Meinung Carl Schmitts, der an ihm mitgearbeitet hat, "die einzige
heute noch denkbare Möglichkeit" 640 darstellt, "mit staatlichen Befugnissen ausge-
stattete, in weitestem Maße selbständige deutsche Länder überhaupt zu erhalten und
weiterzuführen" .641 Das Reichsstatthaltergesetz schaltet Konfliktsmöglichkeiten, von
deren bloßem Ausbleiben der Bund lebte, jetzt von vornherein aus, "und zwar kraft
der politischen Entscheidungsgewalt des Reiches" .642 Es schaltet die Länder gleich. "Es
gibt also, vom politischen Konfliktsfall aus gesehen, nur einen deutschen Staat: das
Deutsche Reich, und nur eine politische Führung: die des verantwortlichen Reichs-
kanzlers." 643 Die Reichsstatthalter sind nicht bloß Exekutionskommissare des Aus-
nahmezustands, sondern eine dauernde und organische Einrichtung, "Unterführer
des Reichsführers" .644 Das Gesetz schaltet die Länder auch insofern gleich, als es ihre
parlamentarischen Regierungen beseitigt: Mißtrauensbeschlüsse gegen Landesregie-
rungen oder den Reichsstatthalter sind jetzt unmöglich, wie denn auch ein halbes
Jahr später am 30. Januar 1934 die Ländervolksvertretungen ganz beseitigt und die
Landesregierungen dem Reich direkt unterstellt wurden. Diese Gleichschaltung der
Länder ist also die organisatorische Konsequenz des Führerprinzips. Carl Schmitt
sagt dazu: "Politische Verantwortung und politische Ehrlichkeit sind jetzt wieder
möglich." 645

Das artgleiche Richtertum


Auch die Stellung des Richterturns wird von Carl Schmitt im neuen Staatswesen neu
bestimmt. Es bleibt unabhängig und gesetzesgebunden. Aber diese Unabhängigkeit und
diese Gesetzesgebundenheit, die der Stolz des Rechtsstaates waren, erhalten jetzt einen
anderen Sinn. Das Richterturn und die Rechtspflege sind nicht mehr die gegen jede
Willkür von seiten der Regierung oder des Parlaments gesicherte dritte unabhängige
Gewalt neben Legislative und Exekutive, sondern sie werden in der neuen drei-
gliedrigen Organisation der politischen Einheit dem Staat im apparativen Sinne zu-
geordnet. Diese Umbestimmung der richterlichen Stellung, die Carl Schmitt vornimmt,
hat bedeutende Folgen.
Zunächst einmal schließt sie jede unabhängige richterliche Kontrolle von Partei
und Staat ebenso wie eine allgemeine Gleichheit des Rechtsschutzes und schließlich
auch jedes materielle richterliche Prüfungs recht auf Verfassungsmäßigkeit von Ge-
setzen und Verordnungen aus. "Einmischungen der Gerichte in die Angelegenheiten
von Staat und Partei widersprechen der dreigliedrigen Staatskonstruktion ",646 schreibt
Carl Schmitt. Der Richter darf auch nicht etwa im Mantel des angeblich unpolitischen
Charakters "reiner Rechtsfragen" gegen den Staat oder gegen die staat- und volk-
tragende Bewegung entscheiden. Denn es gibt keine unpolitischen Rechte gegen den
Staat oder die Partei. "Was politisch oder unpolitisch ist, kann nur vom Politischen
839 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 19.
640 Schmitt, Das Reichsstatthaltergesetz (Anm. 36), S. 10.
'" Ebda.
'" A. a. 0., S. 11.
." Ebda.
, .. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 18.
645 earl Schmitt, "Reich - Staat - Bund. Antrittsvorlesung, gehalten an der Kölner Universität am 20. Juni
1933", in: Positionen und Begriffe . .. (Anm. 15), S. 198.
'16 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 21.
162 Die Option für den totalen Führerstaat

her bestimmt werden.« 647 So kann auch die rechtsstaatliche Körperschaftshaftung für
Amtsrnißbrauch nach dem Willen Carl Schmitts "nicht auf die Partei oder die SA
übertragen werden". 648 Außerdem soll die Möglichkeit der Konfliktserhebung bestehen,
50 daß die Angehörigen des staat- und volktragenden Führungskörpers der ordent-
lichen zivilen und öffentlichen Gerichtsbarkeit ent- und vor ein eigenes Parteigericht
gezogen werden können. - Das ist besonders interessant bei strafrechtlichen Fällen.
So besteht also, wenn man die Konsequenzen der verfassungspolitischen Konstruk-
tion Carl Schmitts ausdenkt, für keinen der Rechtszweige mehr eine durchgängige
Gleichheit, weder eine Gleichheit der gerichtlichen Zuständigkeiten für alle hergehöri-
gen Fälle; noch eine Gleichheit der Bürger vor allgemeinen, für alle Bürger gleich-
mäßig geltenden Gesetzen; noch eine Gleichheit des Rechtsschutzes, den allgemeine
Gesetze und nach ihnen Recht sprechende Gerichte den Bürgern des Rechtsstaates gegen
übergriffe, sei es von privater, sei es von amtlicher Seite, gewähren. Schließlich
kommt auch ein akzessorisches Gesetzesprüfungsrecht auf Verfassungsmäßigkeitnicht
mehr in Betracht. Denn erstens hat, wie Carl Schmitt nun konstruiert, die "Gesetz-
gebungsbefugnis der Reichsregierung verfassungsgesetzlichen Charakter; zweitens
handelt es sich bei diesen Regierungsgesetzen gleichzeitig um Akte einer Regierung,
die durch das Gesetzgebungsrecht den echten Begriff von ,Regierung' wiederherge-
stellt hat" 649 und drittens ist solche "Einmischung der Gerichte ... mit der neuen,
dreigliedrigen Gesamtstruktur der politischen Einheit ganz unvereinbar" .650
Aber die Veränderungen in der Stellung und Aufgabe der Justiz gehen noch wei-
ter. Richtertum und Rechtspflege werden den Grundsätzen des auf Artgleichheit be-
ruhenden totalen Führerstaats unterworfen. Von dort her werden jetzt Unabhängig-
keit und Gesetzesgebundenheit der Justiz neu interpretiert. Die Gesetzesgebunden-
heit schließt jetzt für die Auslegung aller bestimmten und unbestimmten Rechts-
begriffe eine Verpflichtung auf die nationalsozialistische Weltanschauung in sich.
Recht und Gesetz sind, wie earl Schmitt schreibt, immer "Recht und Gesetz eines
bestimmten Staatswesens" .651 Der Richter ist also nicht an ein überstaatliches oder
seinem Sinne nach die innerstaatliche Positivität in Richtung auf eine überstaatliche
allgemeine Sittlichkeit transzendierendes Recht und Gesetz gebunden, von denen her
er Recht auch gegen den politischen Willen der staat- und volktragenden Partei
sprechen könnte. Er kann vielmehr Recht stets nur gemäß den "in jedem Recht und
Gesetz enthaltenen politischen Entscheidungen" 652 sprechen. Diese in jedem Recht
und Gesetz enthaltenen politischen Entscheidungen sind jetzt aber nicht mehr die
Entscheidungen eines gesetzgebenden Parlaments, das aus demokratischen Wahlen
hervorgegangen ist; auch nicht mehr die Entscheidungen einer Regierung, die vom
Vertrauen des gewählten Parlaments abhängig ist; vor allem nicht die Entscheidun-
gen, die die Sitte eines demokratischen Gemeinwesens hervorgebracht hat, eines Ge-
meinwesens, welches die freie Bildung des Volkswillens, die unveräußerhchen Men-
schenrechte und die gegenseitige Achtung der politischen Gegner als seine höchsten
Werte hochhält. Recht und Gesetz sind jetzt nicht mehr ihrem Sinne nach gerechte
und vernünftige Normen, sondern Recht und Gesetz sind jetzt gleich dem politischen
Willen der alles durchdringenden "staat- und volktragenden " Monopolpartei, sind
die politischen Entscheidungen einer ihrer Absicht nach autoritären Führung; Recht
ist das, was die politische Führung für artgleich und artfremd erklärt und zum posi-
8<7 Schmitt, Fünf Leitsälze . .. (Anm. 35), Abschnitt 2.
'" Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 22 .
• " A. a. 0., S. 21.
... Ebda.
651 Schmitt, Fünf Leitsätze . •• (Anm. 35), Abschnitt 1.

'" Ebda.
Das artgleiche Richtertum 163

tiven Recht wie zur Entscheidungsgrundlage für den ltichter .durch Führerbefehl bzw.
Umschaltung des Führerbefehls in den "Funktionsmodus des Behörden- und Justiz-
apparats" bestimmt.
So ist die Justiz schon für die Auslegung und Anwendung aller inhaltlich bestimm-
ten und klar subsumierbaren Gesetze an das Gesetz im Sinne des umgeschalteten
Führerbefehls gebunden. Diese von Carl Schmitt empfohlene Verpflichtung auf den
politischen Willen der nationalsozialistischen Bewegung wird aber noch gewichtiger
angesichts der Bedeutung der unbestimmten Rechtsbegriffe. Die Geschwindigkeit der
gesellschaftlichen Entwicklung und die wachsende Verdichtung immer weiterreichen-
der Abhängigkeitsbeziehungen der Menschen haben auch Zahl und Art möglicher
zwischenmenschlicher Konfliktssituationen zu einer Vielfalt gesteigert, haben die
Bedingungszusammenhänge des menschlichen Verhaltens in einer Weise verwickelt,
daß die Bewertungen und Beurteilungen, die die jeweiligen Verhaltensfälle von seiten
der Sitte und des Rechtes erfahren, häufig sehr schwierig geworden und die Schemata,
die Sitte und Recht für alle typischen Lebenssituationen zur Verhaltensorientierung
und -regulation bereithalten, vergleichsweise arm, weitmaschig und unsicher gewor-
den sind. Diese Entwicklung hat im Rechtsleben einen auffälligen Bedeutungszuwachs
der unbestimmten Rechtsbegriffe und Generalklauseln wie etwa der Verweise an Treu
und Glauben, an gute Sitten, an die Berücksichtigung von Zumutbarkeiten, Wichti-
gen Gründen, Besonderen Notlagen, überwiegenden Interessen, Wohl der Allgemein-
heit, Offentliche Sicherheit und Ordnung usw. zur Folge. Solche unbestimmten Rechts-
begriffe, die keine klar subsumierbaren Tatbestände angeben, stellen die Behandlung
des einzelnen Falles weitgehend in das Ermessen des Richters, der hier durch die
Präzedenzwirkung seiner Entscheidungen in gewisser Weise eine rechtsschöpferische
Funktion erfüllt. Er trägt dabei die doppelte Verantwortung, einerseits in schnell sich
wandelnden Gesellschaftslagen die Kontinuität des Rechtes zu wahren, auf der die
Rechtssicherheit beruht, anderseits aber auch der sich still wandelnden Sitte, den
sich umgruppierenden Sittlichkeitsvorstellungen einer sich auf neue Verhältnisse ein-
stellenden Gesellschaft nachzukommen. Die Formalisierung und Rationalisierung des
Rechtes sind unter solchen Umständen Unentbehrlichkeiten, weil sie den Halt der
Rechtssicherheit und zugleich die Brücke zu neu sich herausbildenden Sitten bilden.
Der Wahrung formeller Rechtssicherheit kommt unter solchen Bedingungen eine be-
sondere Gewichtigkeit zu, ebenso, um der Rechtswahrung willen, der Unabhängigkeit
des Richterturns. Dem entspricht es sehr richtig, daß im parlamentarisch-demokrati-
schen Rechtsstaat die Justiz als dritte Gewalt angesehen wird und das Richtertum in
Ausübung seiner rechtsschöpferischen Tätigkeiten für alle unbestimmten Rechtsbe-
griffe an allgemein menschliche, moralische und ethische Grundsätze sowie an die
Grundsätze und den Geist eines Rechtsstaates verwiesen wird, der die Menschen-
rechte, die Unantastbarkeit der freien Person, die Gerechtigkeit der Vernunft und die
Humanität über alles stellt.
Carl Schmitt erkennt wohl diese Zusammenhänge, radikalisiert sie aber, um das
Richterturn noch weiter aus der formellen Gesetzesgebundenheit freizubekommen und
in die Bindungen einer neuen Art des Rechtsdenkens, in die Bindungen eines natio-
nalsozialistischen Ordnungsdenkens zu überführen, dessen leitende Wertvorstellungen
sich aus den Grundsätzen von Führerturn und Artgleichheit ergeben. Er erklärt daher
die Bindung des Richters an ein Gesetz zu einer theoretisch und praktisch unhaltbar
gewordenen Fiktion: "Das Gesetz kann die Berechenblrkeit und Sicherheit, die für
das rechtsstaatliche Denken zur Definition des Gesetzes gehört, überhaupt nicht mehr
aufbringen." 653 Das immer weitere Vordringen der Generalklauseln und unbestimm-

•., Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), 5.43.


164 Die Option für den totalen Führerstaat

ten Rechtsbegriffe habe die Rechtstheorie und -praxis vor die ernstliche erkenntnis-
theoretische Frage geführt, "wie weit ein Wort oder ein Begriff des Gesetzgebers die
gesetzesanwendenden Menschen überhaupt in einer wirklich berechenbaren Weise
binden kann. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß jedes Wort und jeder Begriff
sofort strittig, unsicher, unbestimmt und schwankend wird, wenn in einer schwan-
kenden Situation verschieden geartete Geister und Interessen sich seiner bemäch-
tigen." 654 50 betrachtet, gebe "es heute überhaupt nur noch ,unbestimmte' Rechtsbe-
griffe" .655 Die "Fiktion und Illus,ion eines alle Fälle und alle Situationen im voraus
tatbestandsmäßig und subsumierbar erfassenden Gesetzes" 656 lasse sich nicht wieder
neu beleben, und die gesamte Gesetzesanwendung stehe somit zwischen Scylla und
Charybdis: "Der Weg vorwärts scheint ins Uferlose zu führen und sich immer weiter
vom festen Boden der Rechtssicherheit und Gesetzesgebundenheit ... zu entfernen";
der Weg zurüdt aber wäre der Weg in "einen als sinnlos erkannten, geschichtlich
längst überwundenen formalistischen Gesetzesaberglauben ".657
Aus dieser radikalisierenden Darstellung Carl Schmitts ergibt sich dann nur noch
ein Ausweg. Die ohnehin fiktiv gewordene Bindung an das Gesetz wird ganz auf-
gegeben und zwar zugunsten einer Bindung an die "Artgleichheit" und zugunsten
einer Verpflichtung auf die Grundsätze eines nationalsozialistischen, Führertum und
Artgleichheit zu höchsten Werten kürenden "Ordnungsdenkens". Wenn die "mechani-
sche und automatische Bindung des Richters an vorher bestimmte Normierungen nicht
möglich ist" ,658 ohne Bindungen aber "alle Sicherungen und Freiheiten, jede richter-
liche Unabhängigkeit und vor allem auch jenes ,Schöpfertum' nur Anarchie und eine
besonders schlimme Quelle politischer Gefahren" 659 wären, so hängt, wie Carl
Schmitt schreibt, "eben alles von der Art und dem Typus unserer Richter und Be-
amten ab".660 "Wir suchen eine Bindung, die zuverlässiger, lebendiger und tiefer ist
als die trügerische Bindung an die verdrehbaren Buchstaben von tausend Gesetzes-
paragraphen. Wo anders könnte sie liegen als in uns selbst und unserer eigenen
Art?" 661 Da alles Recht das Recht eines bestimmten Volkes ist, gilt es Carl Schmitt
somit für "eine erkenntnistheoretische Wahrheit, daß nur derjenige imstande ist,
Tatsachen richtig zu sehen, Aussagen richtig zu hören, Worte richtig zu verstehen
und Eindrücke von Menschen und Dingen richtig zu bewerten, der in einer seins-
mäßigen, artbestimmten Weise an der rechtsschöpferischen Gemeinschaft teil hat und
existenziell ihr zugehört. Bis in die tiefsten, unbewußtesten Regungen des Gemütes,
aber auch bis in die kleinste Gehirnfaser hinein, steht der Mensch in der Wirklichkeit
dieser Volks- und Rassenzugehörigkeit. " 662 Dem Artfremden entgeht selbst die Fähig-
keit zur Objektivität.
So wird also die substantielle und existentielle Artgleichheit einer Volks- und Rasse-
zugehörigkeit zur Bindung und zum Richtmaß richterlicher Entscheidungen. Der
Richter wird nach dem Willen earl 5chmitts jetzt verpflichtet, "alle unbestimmten
Begriffe, alle Generalklauseln ... unbedingt und vorbehaltlos im nationalsozialisti-
schen Sinne anzuwenden". 663 "Für die Anwendung und Handhabung der General-
klauseln durch den Richter, Anwalt, Rechtspfleger oder Rechtslehrer sind die Grund-
.. , Ebda.
S" A. a. 0., S. 44.
S,S Ebda.
857 Ebda.
S.8 Ebda.
s" A. a. 0., S. 46.
s" A. a. 0., S. 44.
'SI A. a. 0., S. 46.
OG' A. a. 0., S. 45 .
• 83 Schmitt, .Nationalsozialismus und Rechtsstaat" (Anm. 629), S. 717.
Das artgleiche Richtertum 165

sätze des Nationalsozialismus unmittelbar und ausschließlich maßgebend." 664 Denn,


das ist Carl Schmitts Begründung, die "herrschenden Wertanschauungen und -auf-
fassungen eines Volkes prägen sich stets in den Anschauungen und Auffassungen
einer bestimmten führenden und maßgebenden Gruppe oder Bewegung aus".665 Alles
Rechtsleben ist also der politischen Führung der "staat- und volk tragenden Partei"
unterworfen und gebunden an die Grundsätze eines totalen Führerstaates, der, der
herrschenden Ideologie gem~iß, die Rechte eines bestimmten Volkes und einer be-
stimmten Rasse über die Menschenrechte, sowie die rassisch-völkische Artgleichheit
und - ebenso heroisierte wie leere - Vorstellungen von "Führerverantwortung" und
"Gefolgschaftstreue" über die Unantastbarkeit der freien menschlichen Person stellt.
Das Rechtsleben wird so nach dem Willen Carl Schmitts an die Grundsätze eines
Staatswesens gebunden, dessen Monopolpartei gemäß ihren Vorstellungen von ras-
sischer und völkischer Artgleichheit "den Mut [hat], Ungleiches ungleich zu behan-
deln" und in den Konsequenzen solcher Haltung auch noch "eigentliches Recht"
sieht. 666 Das ist Carl Schmitts vielleicht unfreiwillige, aber ideologisch konsequente
Blankovollmacht für alle Verfolgungen von Juden, Bibelforschern, bekennenden Chri-
sten, Sozialisten usw., die der Nationalsozialismus später unternahm.
Die unmittelbare Anwendung seiner Neubestimmung des Richterturns lieferte
earl Schmitt in der Rechtfertigung für Hitlers Aktionen in der Röhm-Affäre. Da
heißt es dann, noch in der heutigen Lage, am Beginn eines neuen Reiches, müsse der
Zusammenbruch von 1918 eine Warnung sein. In Adolf Hitler habe sich "alle sitt-
liche Empörung über die Schande eines solchen Zusammenbruchs" angesammelt und sei
"in ihm zur treibenden Kraft einer politischen Tat geworden". "Alle Erfahrungen
und Warnungen der Geschichte des deutschen Unglücks" seien in ihm lebendig. Die
meisten Menschen fürchteten sich heute" vor der Härte solcher Warnungen und flüch-
ten lieber in eine ausweichende und ausgleichende Oberflächlichkeit". Der Führer
aber mache "Ernst mit den Warnungen". Das gebe ihm "das Recht und die Kraft,
einen neuen Staat und eine neue Ordnung zu begründen". Der "wahre Führer" sei
aber "immer auch Richter". Die "richterliche Tat des Führers" dürfe daher nicht aus
der "Rechtsblindheit des liberalen Gesetzesdenkens" in eine "indemnitätsbedürftige
Maßnahme des Belagerungszustands" umgedeutet werden. Der Grundsatz vom Vor-
rang der politischen Führung würde sonst in eine bloße "juristisch belanglose Floskel
und der Dank, den der Reichstag im Namen des deutschen Volkes dem Führer aus-
gesprochen hat, in eine Indemnität oder gar einen Freispruch verdreht". Das Richter-
turn des Führers entspringe "derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes
entspringt ... , dem Lebensrecht des Volkes". Jedes staatliche Gesetz und jedes richter-
liche Urteil enthalte daher "nur soviel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt".
Alles übrige sei "kein Recht, sondern ein ,positives Zwangsnormengeflecht', dessen
ein geschickter Verbrecher spottet". Es gehöre zu einer geschichtlich überwundenen
und artfremden "liberal-individualistischen Haltung", den Sinn richterlicher Unab-
hängigkeit im Schutz der gesetzlich anerkannten Rechte des Staatsbürgers gegen mög-
liche Willkür einer ihm abgeneigten Regierung zu sehen. Wenn sich gleichwohl schon
im liberalen Rechtsstaat durchgesetzt habe, daß bei Gefahr oder großem Schaden für
den Staat die Regierung jede Justizsache zur Regierungssache erklären könne, so
"muß das, was sonst für einen ,Regierungsakt' rechtens ist, in unvergleichlich höherem
Maße für eine Tat gelten, durch die der Führer sein höchstes Führerturn und Richter-
turn bewährt hat." Dabei gehöre zum höchsten Richterturn des Führers, daß er Inhalt

'" Schmitt, Fünf Leitsätze . .• (Anm. 35), Abschnitt 4.


665 Ebda.
666 Schmitt, .Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts" (Anm. 42), 5.251 f.
166 Die Option für den totalen Führerstaat

und Umfang seines Vorgehens selbst bestimmte. (Hier erfüllt der Führer also alle
Qualitäten, die für die Fülle der Staatsgewalt, für den Souveränitätsfall der Dik-
tatur, für die Souveränität und für die Bestimmung des Ausnahmezustands von
earl Schmitt herausgearbeitet worden waren.) Allerdings seien »mit der Führerhand-
lung in keinem Zusammenhang stehende, vom Führer nicht ermächtigte ,Sonder-
aktionen' ... um so schlimmeres Unrecht, je höher und reiner das Recht des Führers
ist". Der Führer sei im übrigen noch in "spezifischer Weise zum höchsten Richter ge-
worden" durch die besondere Qualifikation des Verbrechens, das ein Treubruch
innerhalb der Partei war, die als staattragende Organisation so gewaltige Aufgaben
hat, daß daran "nicht weniger als das Schicksal der politischen Einheit des deutschen
Volkes selbst" hänge. Der neue Staat habe "die Kraft und den Willen, Freund und
Feind zu unterscheiden", und man solle sich angesichts dessen nicht durch die rechts-
staatlichen Einreden der Feindpropaganda beirren lassen. 667

Der Rechtsstaat Adolf Hitlers


earl Schmitt schreibt über die Grundsätze des nationalsozialistischen Rechtes, die
Vorstellungen von Führertum und Artgleichheit: »Ich sehe meine Aufgabe vor allem
darin, die zu erwartende Gefahr von Entstellungen durch eingewurzelte Denkge-
wohnheiten hier fernzuhalten. "668 "Das, worauf es allein ankommt, ist, eine geistige
Unterwerfung unter fremdes, nicht nationalsozialistisches Rechtsdenken zu verhin-
dern." 669 Zu diesem Zwecke wird nun von earl Schmitt auch der Begriff des Rechts-
staates selbst relativiert und neu interpretiert, damit nicht "falsche Kriterien" an den
nationalsozialistischen Staat angelegt werden. earl Schmitt konstruiert, in der Restau-
rationszeit 1820 bis 1850 sei der Rechtsstaat ein spezifischer Gegenbegriff gegen den
Versuch gewesen, wieder "die Totalität des Staates aus der Totalität der Religion eines
christlichen Volkes zu gewinnen".67o Nach der Jahrhundertmitte habe er den spezi-
fischen Versuch bezeichnet, die besitz- und bildungsbürgerliche Gesellschaft in den
monarchischen Militär- und Beamtenstaat zu integrieren. Schließlich sei er formali-
siert und neutralisiert worden, als er unter die Herrschaft eines ,artfremden' positi-
v,istischen Geistes geriet. Im ganzen sei er also ein politisch-polemischer Begriff,der
je in wechselnden Situationen etwas anderes bezeichnete.
"Das Wort ,Rechtsstaat' ", schreibt earl Schmitt, "kann so viel Verschiedenes be-
deuten wie das Wort ,Recht' selbst und außerdem noch so viel Verschiedenes wie die
mit dem Worte ,Staat' angedeuteten Organisationen. Es gibt einen feudalen, einen
ständischen, einen bürgerlichen, einen nationalen, einen sozialen, ferner einen natur-
rechtlichen, vernunftrechtlichen, historisch-rechtlichen Rechtsstaat." 671 Die verschie-
denen Konkretisierungen lassen sich auf die dahinterstehenden Ideologien relati-
vieren und haben keine sachliche Berechtigung außerhalb politischer Polemik. Zuletzt
jedenfalls sei der Rechtsbegriff von normativistisch-positivistischen Vorstellungen
okkupiert gewesen. Das Ergebnis dieser Okkupation aber sei, daß der "Rechtsstaat
als ein nicht inhaltlich, sondern nur formell, nicht substantiell, sondern nur funk-
tionell bestimmter Modus ... sich den verschiedenartigsten Gerechtigkeitsvorstel-
lungen als ein Instrument ihrer Durchführung und Verwirklichung" 672 angeboten
habe. Dadurch wurden materieller und formeller Begriff auseinandergerissen, »Recht

667 Alle Zitate dieses Absatzes: Schmitt, .Der Führer schützt das Recht" (Anm. 40), S. 199-203.
668 Schmitt, .Der Neubau ... (Anm. 42), S. 250 f.
..9 Schmitt, .Nationalsozialismus und Rechtsstaat" (Anm. 629), S. 717.
670 A. a. 0., S. 714.
671 Schmitt, Legalität. " (Anm. 34), S. 19.
67' Schmitt, .Der Rechtsstaat" (Anm. 41), S. 6.
Der Rechtsstaat Adolf Ritlers 167

und Staat im Endergebnis auswechselbare Formen für die durch Weltanschauung,


Sittlichkeit und Gerechtigkeit bezeichneten Inhalte".673 Durch diese Formalisierung
und Entsubstantialisierung zum "indiffereflten Gesetzesstaat" ,674 worin der oberste
Wille nicht Rex, sondern Lex heißt, sei aber der Rechtsstaat "ein Gegenbegriff zum
Gerechtigkeitsstaat" ,675 "ein spezifischer Gegenbegriff gegen jede Art von Führer-
staat" 676 und in der Sache ein Unrechtsstaat geworden. "Lex steht gegen Rex und
Dux." 677
Also sei, so folgert Carl Schmitt aus seiner Konstruktion, dieser Rechtsstaatsbegriff
mit seinen Implikationen ein gefährlicher Feind des neuen nationalsozialistischen
Staates geworden. Demgegenüber müsse daher festgehalten und herausgestellt wer-
den, daß der nationalsozialistische Staat in der Sache ein substantieller Rechtsstaat
sei, daß also der Rechtsstaatsbegriff vom Nationalsozialismus her neu bestimmt wer-
den müsse; daß die überlieferten liberalistisch-individualistisch rechtsstaatlichen For-
derungen, gleichviel ob es sich um verfassungsrechtliche, verwaltungsrechtliche oder
strafrechtliche Forderungen und Grundwertvorstellungen handelt, für den Führerstaat
"unwahr" seien und nur nach Maßgabe der führerstaatlichen Grundsätze gelten
könnten. "Der nationalsozialistische Staat ist ein gerechter Staat... Wer heute das
Wort Rechtsstaat gebraucht, wird also genau sagen müssen, was er darunter ver-
steht... Sonst besteht die Gefahr eines politischen Mißbrauchs." 678 Der national-
sozialistische Staat, wenn auf ihn der Titel Rechtsstaat angewandt werden soll, heißt
daher nach dem Vorschlag Carl Schmitts am besten "der deutsche Rechtsstaat Adolf
Hitlers" .679
Was aber nun die Substanz dieses "deutschen Rechtsstaates" ist, wird im selben
Nationalsozialistischen Handbuch für Recht und Gesetzgebung, hrsgg. von Dr. Hans
Frank, in dem dieser Satz earl Schmitts zu lesen ist, recht deutlich gemacht. Die Sub-
stanzwerte, die Ziur Rechtserneuerung gebracht werden sollen, sind: Staat, Rasse,
Boden, Arbeit, Ehre, Wehrkraft, arteigene Kultur. Die Gesetzgebung der Jahre 1933
bis 1934 hat sie denn auch konkretisiert: Ermächtigungsgesetz, Gleichschaltung der
Länder mit dem Reich, Verbot der Neubildung von Parteien, Einheit von Partei und
Staat, Vereinigung von Reichspräsident- und Kanzlerschaft, Vereidigung auf den
Führer, Reinigung des Beamtentums und der Anwaltschaft von Artfremden, Rasse-
schutzgesetzgebung, Strafgesetzgebung zur Sicherung der nationalen Ehre USW. 680

678 Ebda .
• " Ebda.
'75 Ebda.
67' Schmitt, .Nationalsozialismus und Rechtsstaat" (Anm. 629), S. 715.
677 Ebda.
678 Schmitt, Fünf Leitsätze . .. (Anm. 35), Abschnitt 5.
679 Schmitt, .Der Rechtsstaat" (Anm. 41), S. 10.
6SO Es darf hier angemerkt werden, daß diese eindeutige Option für das Dritte Reich earl Schmitt nimt vor
Kritik bewahrt hat. Otto Koellreutter, Volk und Staat in der Weltanschauung des Nationalsozialismus, Berlin 1935,
hat z. B. earl Schmitt eines a-völkischen reinen Staatsdenkens bezichtigt, wobei er sich gerade auf Schmitts Staat, Be-
wegung, Volk (Anm. 38) bezog. In: Vom Sinn und Wesen der nationalen Revolution (Recht und Staat in Geschichte
und Gegenwart, Nr. 101), Tübingen 1931, warf Koellreutter Smmitt vor, er habe in seiner Smrift über Legalität
und Legitimität . .. (Anm. 34) den Versuch gemacht, .die liberalen Rechtspositionen aus dem Zusammenbruch des
Parteienstaates zu retten" (5. 27), indem er im Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung eine zweite Verfassung
erblickte. Koellreutter polemisiert außerdem gegen earl Schmitts angeblich nom formale, im nationalsozialistisch-
weltanschaulichen Sinne unerfüllte Begriffsbestimmung des Politismen. Vgl. außerdem Otto Koellreutter, Volk
und Staat in der Verfassungskrise. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Verfassungslehre Carl Schmitts,
Berlin 1933. Demgegenüber hat dann u. a. H. J. Held, Volk, Recht und Staat im Lichte deutscher Rechtserneuerung.
Staats- und rechtswissenschaftliches Denken der deutschen Gegenwart, Berlin 1935, versumt, earl Smmitt wiederum
für den Nationalsozialismus zu interpretieren.
Zweites Kapitel

DIE IDEOLOGIE IN DER KATEGORIENBILDUNG

Diese verfassungspolitische Konzeption des dreigliedrigen Führerstaats, mit der earl


Schmitt das nationalsozialistische Dritte Reich rechtfertigt, ist es also, in der sich alle
Kritik earl Smmitts an der parlamentarischen Demokratie und an der Weimarer
Republik zu einer konkreten politischen Option verdichtet. Die Option für den
totalen Führerstaat ist die Konsequenz aus der Kritik an der Weimarer Republik.
Damit stellt sim zugleich heraus, was die letztlich leitende Vorstellung war, aus der
earl Schmitts Kritik ihre radikalen Züge erhielt. Es tritt zutage, warum er jene
positiven Entwicklungschancen verkannte, die oben für die Form parlamen-
tarisch-parteienstaatlicher Demokratie unter den Bedingungen der modernen organi-
sierten Massengesellschaft andeutend herauszuarbeiten versumt wurden. Und es wird
deutlich, warum earl Schmitt die größeren Gefahren der organisierten Massengesell-
schaft, die Gefahren des Totalitarismus, warum er den Folge- und Wesenszusammen-
hang zwischen anarchischen und totalitären Tendenzen nicht sehen wollte, warum er
im Gegenteil das totalitäre Regime des Nationalsozialismus sogar zu rechtfertigen
versuchte und zum Gegenstand seiner Option machte. Von dieser Option für den
totalen Führerstaat her lassen sim nun auch verschiedene andere der von earl Schmitt
während der zwanziger Jahre entwickelten staatsphilosophisch~n Lehren und verfas-
sungstheoretischen Begriffe aufschlüsseln. Es läßt sich zeigen, welche Momente an
ihnen auf die spätere Apologie des totalen Führerstaats hinführen und in welchen
Momenten die Option für den autoritären "Regierungsstaat" bereits angelegt ist,
welche Momente sich also als ideologische Komponenten erweisen. Das gleiche gilt
auch für die Geschichtsdeutungen earl Schmitts. Zuerst seien hier einige wesentliche
verfassungstheoretische Lehren und BegriffsbilduIlJgen earl Schmitts des näheren
untersucht.

Rechtsstaatlichkeit und konsequente politische Form


earl Schmitt unterscheidet in seiner Verfassungslehre die rechtsstaatlichen Elemente
der modernen Verfassungen von ihren politischen Elementen. Diese Unterscheidung
ist nicht nur eine äußerliche Unterscheidung zum Zwecke genauerer Analyse, sondern
sie enthält zugleich ein politisch-philosophisches Werturteil bzw. ein ideologismes
Programm. Sie tritt aum bereits in früheren Veröffentlichungen auf und wird in
einer durchaus polemischen Weise durchgeführt.
So relativiert earl Schmitt in seiner Untersuchung über Die geistesgeschichtliche
Lage des heutigen Parlamentarismus diesen auf den Liberalismus des 19. Jahrhunderts
und stellt der liberal-parlamentarischen Bewegung eine massendemokratische Bewe-
gung entgegen, zu deren politisch-philosophischen Prinzipien Diktatur kein Wider-
spruch ist. Nur der Antimonarchismus vereinte Liberalismus und Demokratie. "Heute
aber, nam dem gemeinsamen Siege, tritt der Gegensatz zutage und kann der Unter-
schied von liberal-parlamentarischen und massendemokratischen Ideen nicht länger
Rechtsstaatlichkeit und konsequente politische Form 169

unbeachtet bleiben." 681 Die Zielsetzungen und Methoden des Liberalismus: Parla-
mentarismus, Gewaltenteilung, geheime Wahl, Kontrolle der Staatsgewalt usw.,
mochten eine Zeitlang mit denen der demokratischen Bewegung zusammenfallen.
Von der Konsequenz der demokratischen Ideen werden sie nach Carl Schmitt ver-
neint. Denn, so meint Carl Schmitt, der "Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch
acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein ebensogut und
noch besser demokratisch geäußert werden, als durch den statistischen Apparat ... Je
stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß
Demokratie etwas anderes ist als ein Regierungssystem geheimer Abstimmungen.
Vor einer nicht nur im technischen, sondern auch im vitalen Sinne unmittelbaren
Demokratie erscheint das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als
eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und cäsaristische Methoden nicht
nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare J\.ußerungen
demokratischer Substanz und Kraft sein können." 682
Die wesentlich anti parlamentarischen und antiliberalistischen Bewegungen des Bol-
schewismus und Faschismus erscheinen Carl Schmitt daher durchaus nicht als auch anti-
demokratische Bewegungen. Er schreibt: "Auch wenn der Bolschewismus unterdrückt
und der Fascismus ferngehaIten wird, ist deshalb die Kritik des heutigen Parlamen-
tarismus nicht im geringsten überwunden. Denn sie ist nicht als Folge des Auftretens
dieser beiden Gegner entstanden; sie war vor ihnen da und würde nach ihnen fort-
dauern." 683 Die offene Krise der parlamentarischen Demokratie scheint ihm viel-
mehr "den Konsequenzen der modernen Massendemokratie und im letzten Grunde
dem Gegensatz eines von moralischem Pathos getragenen liberalen Individualismus
und eines von wesentlich politischen Idealen beherrschten demokratischen Staats-
gefühls" 684 zu entspringen. Ein Jahrhundert geschichtlicher Verbindungen und ge-
meinsamen Kampfes gegen den fürstlichen Absolutismus habe die Erkenntnis dieses
Gegensatzes aufgehalten. "Heute aber tritt seine Entfaltung täglich stärker hervor
und läßt sich durch keinen weltläufigen Sprachgebrauch mehr verhindern. Es ist der
in seiner Tiefe unüberwindliche Gegensatz von liberalem Einzelmensch-Bewußtsein
und demokratischer Homogenität." 685
So deutet sich Carl Schmitt also Liberalismus und Demokratie als innere Gegen-
sätze. Relativiert er den Parlamentarismus auf den Liberalismus und erkennt er in
Cäsarismus und Diktatur die eigentlichen Gegensätze zum liberalen Parlamentarismus,
so erscheint ihm umgekehrt auch Demokratie als Gegensatz. zum liberal-rechtsstaat-
lichen Parlamentarismus und dafür vereinbar mit Diktatur. Der tiefere Gegensatz,
aus dem earl Schmitt in seinen Deutungen solche Entgegensetzungen entwickelt, ist
der von Rechtsstaat und konsequenter politischer Form, der Gegensatz von humani-
tärer Moral und politischer Existenz. Im Vordergrund steht der Gegensatz von
Rechtsstaatlichkeit und konsequent politischer Form, der immer wiederkehrt.
Die konsequente politische Form gewinnt Inhalt, Einheit und Substanz nach Carl
Schmitts Meinung stets von der Grenzmöglichkeit des Krieges her. Der Begriff des
Politischen 686 ist zunächst formal bestimmt als die bloße Dimension der Grenzmög-
keiten menschlichen Zu- und Gegeneinanders, als die intensivste Verbindung oder
Trennung, in der es um Tod und Leben geht, um Bereitschaft zum Opfer des eigenen
und zur Tötung fremden Lebens. So gefaßt, liegt der Begriff des Politischen in der

6S1 Schmitt, Die geis!esgeschichtliche Lage . .. (Anm. 9), S. 6.


682 A. a, 0., S. 22 i.
688 A. a. 0" S. 23.
'" Ebda.
'85 Ebda.
'86 Schmitt. Der Begriff des Politischen (Anm. 20).
170 Die Ideologie in der Kategorienbildung

Unterscheidung von Freund und Feind. Die Urgegebenheit menschlichen Seins, die,
wie Carl Schmitt meint, ihre besondere Verwandtschaft hat zur religiösen und meta-
physischen Dimension von Urschuld und Erbsünde,087 bedingt in der konkreten ge-
schichtlichen Wirklichkeit, daß der Einzelmensch nicht unmittelbar der Menschheit
gegenübersteht, die Menschheit nicht das Insgesamt der einzelnen und der einzelne
nicht unmittelbar das Glied der Menschheit ist, sondern daß es gewisse, an der Grenz-
möglichkeit orientierte Gruppierungen gibt; Gruppierungen, in denen nach innen
Befriedung durch Relativierung aller anderen Gegensätzlichkeiten herbeigeführt
ist und die nach außen durch Wappnung für den Krieg als Einheiten in Erscheinung
treten und sich von anderen Einheiten abgrenzen. Dabei bewIrkt die Abgrenzung
gegen den möglichen äußeren Feind die innere Befriedung. Die mögliche Feindschaft
konstituiert also die wirkliche Freundschaft. Menschliche Gruppierungen werden poli-
tisch, sobald sie sich an den Grenzmöglichkeiten menschlichen Zu- und Gegenein-
anders orientieren und mit dem " Ernstfall "688 des existentiellen Konfliktes rechnen,
des Kampfes auf Leben und Tod und um Sein oder Nichtsein, der die Bereitschaft
zum Sterben und Töten verlangt. Freundschaft ist also konstituiert durch die gegen-
seitige Inpflichtnahme, füreinander zu sterben, Feindschaft durch die gegenseitige
Bereitschaft, einander zu töten. Formell betrachtet kann jedes Motiv menschlicher
Gruppierung und Absonderung zum äußersten Intensitätsgrad und damit vor die
Grenzmöglichkeiten von Freundschaft und Feindschaft führen. 689 Moralische und kon-
fessionelle können so gut wie ökonomische und nationale Gemeinsamkeiten oder
Gegensätze den Grad des Politischen erreichen und zur Konstituierung politischer,
Freund und Feind unterscheidender Einheiten führen. In der konkreten geschicht-
lichen Wirklichkeit aber ist es nach Carl Schmitt die je besondere, aus je besonderen
Ursprüngen herstammende Seinsart der Völker, die die Grenzen letzter seinsmäßiger
Fremdheit unter ihnen zieht und aus deren Substanz die letzten Maßstäbe für die
Unterscheidung von Freund und Feind hervorgehen. Durch die seinsmäßige Zu-
gehörigkeit zu seinem Volk, in dessen Ursprungszusammenhang er hineingeborell
wird und in dessen Geschichtlichkeit er aufwächst und lebt, ist der einzelne der
politischen Offentlichkeit seines Volkes existentiell, im Ernstfall durch Beanspruchung
seiner Bereitschaft zum Sterben und Töten, verbunden. Durch sie ist er aJuch von der
politischen Offentlichkeit eines fremden Volkes existentiell ausgeschlossen und von
dessen einzelnen Angehörigen im letzten getrennt. Im Ernstfall wird auch der private
Freund im fremden Volk zum öffentlichen Feind des eigenen Volkes. "Der Feind ist
in einem besonders intensiven Sinne existentiell ein Anderer und Fremder, mit dem
im extremen Falle existentielle Konflikte möglich sind. Derartige Konflikte können
weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch
eines ,unbeteiligten' und deshalb ,unparteiischen' ,Dritten' entschieden werden." 690
Gegenüber dieser existentiellen Verwurzelung im substantiellen Sein des je beson-
deren Volkes stellen die Begriffe des einzelnen und der Menschheit bloße Abstrak-
tionen und Fiktionen dar. Die seinsmäßig substantiellen Verbundenheiten und Fremd-
heiten ermöglichen auch die Unterscheidung von Feind und Verbrecher. Denn Feind
ist immer nur eine "Gesamtheit von Menschen" und als solche stets nur "öffentlicher
Feind",691 dessen Seins art eine Verneinung der eigenen Seinsart darstellen mag, die
nötigenfalls mit physischer Gewalt abzuwehren ist, der deshalb aber nicht zum Gegen-
stand privaten Hasses zu werden und auch nicht als ehrloser Verbrecher erniedrigt
687 A. a. 0., S. 45.
688 A. a. 0., S. 21.
.89 A. a. 0., S. 20 •
• 90 A. a. 0., S. 8.
6'1 A. a. 0., S. 10.
Rechtsstaatlichkeit und konsequente politische Form 171

und verfolgt zu werden braucht. Der Verbrecher aber ist der individuelle Rechts-
brecher der innerstaatlichen Rechtsordnung eines politisch geeinten Volkes, kein
öffentlicher Feind, sondern als privater Ausbrecher aus der eigenen Seinsart Gegen-
stand innerstaatlich-öffentlicher Rechtsverfolgung.
Die konsequent politische Form gewinnt also Inhalt, Einheit und Substanz durch
die je besondere Seinsart eines Volkes, aus der hier die Unterscheidung von Freund
und Feind getroffen und die Gruppierung in Rücksicht auf den Ernstfall gebildet
wird. Dadurch ist sie stets eine Größe existentiellen Willens und niemals nur ein
bloßes Normengebilde. Sie ist substantielle Form eines wirklichen Volkes und seiner
öffentlichkeit. Daher ist die politische Einheit, gleichviel, auf welchen Wegen sie
erreicht und gehalten wird, stets dem privaten einzelnen transzendent und auch als
Summe oder Produkt des privaten Willens aller einzelnen einer Bevölkerung oder
Bevölkerungsgruppe nicht zu fassen. Hieraus ergibt sich, daß in den Augen Carl
Schmitts politisches Denken und Verhalten niemals von den Belangen der Einzel-
menschen her zu begreifen sind und das Politische eine Dimension darstellt, innerhalb
deren jedes einzelmenschliche Freiheitsverlangen nur als antipolitisches Privatinteresse
und bestenfalls als geduldet erscheinen kann. Von dort her erscheint dann Rechts-
staatlichkeit, das im r. Teil dieser Arbeit geschilderte Rechtsstaatsideal und das Stre-
ben zu ihm im Denken Carl Schmitts als ein Gegensatz zum politischen Sein und zur
konsequenten politischen Form. Das Rechtsstaatsdenken stellt sich als eine Entstel-
lung und Selbstentfremdung politischen Denkens, die an der Menschenfreiheit orien-
tierte Rechtsstaatspraxis als Abfall von der politischen Konsequenz, als politische
Seinsverfehlung und Antipolitik dar. Die politische Wirklichkeit, ihre konkreten
Gestaltungen und ihre verschiedenen Bewegungen werden so von Carl Schmitt in
politische und antipolitische Elemente auseinandergelegt und die als antipolitisch
designierten Elemente zur politischen Verurteilung angeboten. So kommt es, daß
Carl Schmitts polemische Entgegensetzung von humanitärer Moralisierung der Politik
und substantiellem politischem Existieren sich auch in seiner" Verfassungslehre des
bürgerlichen Rechtsstaats" niederschlägt, und zwar zunächst einmal schon im Verfas-
sungsbegriff selbst.
Verfassung wird bestimmt als "Gesamt-Entscheidung über Art und Form der poli-
tischen Einheit",692 als die "bewußte Entscheidung, welche die politische Einheit durch
den Träger der verfassunggebenden Gewalt für sich selber trifft und sich selber gibt". 693
Die Entgegensetzung von Politik und rechts staatlicher Antipolitik, in der Carl
Schmitts spätere Option für den totalen Staat angelegt ist, gibt sich in diesem Ver-
fassungsbegriff dadurch zu erkennen, daß Carl Schmitt sagt: "Eine Verfassung beruht
nicht auf einer Norm, deren Richtigkeit der Grund ihrer Geltung wäre. Sie beruht
auf einer aus politischem Sein hervorgegangenen politischen Entscheidung über die
Art und Form des eigenen Seins." 694 Sie geht aus konkretem politischem Willen her-
vor, und das Wort Wille "bezeichnet - im Gegensatz zu jeder Abhängigkeit von einer
normativen oder abstrakten Richtigkeit - das wesentlich Existenzielle dieses Geltungs-
grundes" .695 Die Verfassung ist für Carl Schmitts Auffassung auch unbedürftig jeder
besonderen Legitimierung oder höheren Rechtfertigung: "Sie bedarf keiner Recht-
fertigung an einer ethischen oder juristischen Norm, sondern hat ihren Sinn in der
politischen Existenz. Eine Norm wäre gar nicht imstande, hier irgend etwas zu be-
gründen. Die besondere Art politischer Existenz braucht und kann sich nicht legiti-

6" Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 20.


6.3 A. a. 0., S. 21.
694 A. a. 0., S. 76.
'.5 Ebda.
172 Die Ideologie in der Kategorienbildung

mieren." 696 Carl Sdtmitts Definitionen und Charakterisierungen sind zwar aus einer
Wendung gegen einen abstrakten Normpositivismus zu begreifen, demgegenüber auf
die Unabdingbarkeit konkret existierenden Willens für das Verständnis aller verfas-
sungstheoretisdten Begriffe hingewiesen werden soll. Sie ist jedodt selbst ideologie-
verdädttig, um so mehr, als sie mit der unaufgelösten Entgegensetzung von Norma-
tivität und Existentialität arbeitet und die Normativität einfach der Existentialität
unter- und einordnet. Dadurdt aber wird Wesen und Funktion des Redtts in der
politisdten Wirklidtkeit verfehlt und verkannt, daß, wie Karl Larenz gezeigt hat,
"der politisdte Zustand im Staat als ein durdt das Redtt vermittelter gedadtt werden
muß".697
Carl Sdtmitts polemisdte Engegensetzung von humanitärer Moralisierung der Poli-
tik und substantiellem politischem Existieren sdtlägt sidt weiterhin nieder in seiner
Untersdteidung von antipolitisdt redttsstaatlidten und substantiell konsequent politi-
sdten Elementen, von entpolitisierter Normativität und konkret politisdter Existen-
tialität. Audt darauf hat Larenz in Entgegnung zu Carl Sdtmitt in der angeführten
Bespredtung ridttig hingewiesen: "Audt der sog. redttsstaatlidte Bestandteil der Ver-
fassung beruht. " auf bestimmten politisdten Entsdteidungen. Andererseits handelt
es sidt bei dem sog. politisdten Bestandteile der Verfassung nidtt nur um eine Willens-
äußerung des Verfassungsgesetzgebers, sondern um Rechtsnormen. Der Untersdtied
der beiden Verfassungsbestandteile betrifft also nur die Funktion, die politisdte Ten-
denz, nidtt aber die Art ihrer Geltung." 698 Der Untersdtied zwisdten den beiden von
Carl Sdtmitt entgegengesetzten Verfassungsbestandteilen ist in Wahrheit nur relativ,
da der Aufbau des Staats weder der einen noch der anderen entraten kann. Beide
beruhen in Wahrheit auf politischen Entscheidungen, und beide beansprudten recht-
lidte Geltung. "Die Idee des Redttsstaats darf nidtt in Gegensatz zu dem politisdten
Staats begriff gestellt werden, sie ist vielmehr der Ausdruck für die dialektisdt zu
verstehende Einheit der Redttsidee und der Staatsidee" , 699 wie Larenz in Orientierung
an der Hegelsdten Philosophie schreibt.
Inhaltlidt aber ergibt sidt aus Carl Sdtmitts Entgegensetzung der redttsstaatlidten
und der politischen Prinzipien wiederum etwas, worin sich die Option für den tota-
len Staat zurechtlegt. Es können jetzt nadt Carl Sdtmitt z. B. die Grundsätze und
Zielsetzungen allgemeiner Menschenfreiheit und allgemeiner Menschengleichheit nicht
als politische Grundsätze und Zielsetzungen, sondern im Gegenteil politische Grund-
sätze und Zielsetzungen nur als Durchführungsprinzipien für Unfreiheit und Un-
gleichheit, d. h. Freiheit nur als Herrschaft über die Unfreien und Gleichheit nur als
Ausschließung der Ungleidten verstanden werden. "Zu dem Worte ,Freiheit' ist zu sa-
gen", schreibt Carl Sdtmitt, "daß Freiheit im Sinne einer individuellen, jedem einzelnen
Mensdten von Natur zustehenden Freiheit ein liberales Prinzip ist. Sie kommt nur
für den redttsstaatlidten Bestandteil der modernen Verfassung, nidtt aber als politi-
sdtes Formprinzip in Betracht. "700 "Die Gleidtheit alles dessen, ,was Menschenantlitz
trägt', vermag weder einen Staat, noch eine Staatsform, nodt eine Regierungsform zu
begründen. Aus ihr lassen sidt keine spezifisdten Untersdteidungen und Abgrenzun-
gen, sondern nur Aufhebungen von Untersdteidungen und Grenzen entnehmen; auf
ihr können keine besonders gearteten Institutionen konstituiert werden, und sie kann
nur dazu beitragen, Unterscheidungen und Institutionen, die keine Kraft mehr in

696 A. a. 0., S. 87.


697 Karl Larenz, Besprechung von earl Smmitts Verfassungslehre in: Blätter für deutsche Philosophie, Berlin
1931/32, S. 159 H.
698 A. a. 0., S. 162.

6" Ebda.
70' Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 225.
Rechtsstaatlichkeit und konsequente politische Form 173

sich haben, aufzulösen und zu beseitigen." 701 "Jede wirkliche Demokratie" beruht
auf substantieller Gleichartigkeit, "darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern,
mit unvermeidlicher Konsequenz, das Ungleiche nicht gleich behandelt wird. Zur
Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweiten - nötigenfalls -
die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen." 702
In earl Schmitts Entgegensetzung von rechts staatlichen und politischen Elementen
kommt also seine Option für den totalen Staat, in dem die Grundsätze der Men-
schenfreiheit und der Gewaltenteilung nicht mehr gelten, zum Ausdruck; seine pole-
misch-ideologische Wendung gegen alles, was zum Ideengut der aus der Aufklärung
hervorgewachsenen liberalen Bewegung gehört, einschließlich dessen, was die ideolo-
gische Funktion dieses Gedankengutes der zunächst nur besitz- und bildungsbürger-
lichen liberalen Bewegung transzendiert und einschließlich alles dessen, was politisch
immer noch als verbindliche Idee angesehen werden kann, die in einer sozialen Demo-
kratie zur Erfüllung zu bringen wäre. "Durch den Liberalismus des letzten Jahr-
hunderts", schreibt earl Schmitt, "sind alle politischen Vorstellungen in einer eigen-
artigen und systematischen Weise verändert und denaturiert worden." 703 "Die Libe-
ralen aller Länder haben nicht weniger Politik getrieben als andere Menschen." 704
"Insbesondere haben sie SIch dort, wo die politische Lage es nahelegte, mit den ganz
antiliberalen, vielmehr wesentlich politischen und zum nationalen und totalen Staat
drängenden Kräften der Demokratie verbunden." 70S Aber die Politik der Liberalen
entsprang einer Antipolitik. Die" Verneinung des Politischen, die in jedem konsequen-
ten Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer politischen Praxis des Miß-
trauens gegen alle denkbaren politischen Mächte und Staatsformen, niemals aber zu
einer eigenen politischen Theorie von Staat und Politik. Es gibt infolgedessen ...
immer nur eine liberale Kritik der Politik." 700 Das liberale Denken, so stellt earl
Schmitt es dar, umgeht oder ignoriert "in systematischer Weise Staat und Politik und
bewegt sich statt dessen in einer typischen, immer wiederkehrenden Polarität von
zwei entgegengesetzten Sphären, nämlich von Ethik und Wirtschaft, Geist und Ge-
~chäft, Bildung und Besitz". i07 Es polemisiert gegen Staat und Politik mit dem Vor-
wurf der Gewalt und stellt so der Politik seinen metaphysischen Fortschrittsglauben
an die intellektuelle und moralische Vervollkommnung der Menschheit entgegen. Es
läßt von Staat und Politik nur noch gelten, was zur Sicherung der Bedingungen der
Freiheit und zur Beseitigung von Störungen der Freiheit dienen kann. "So kommt es
zu einem ganzen System entmilitarisierter und entpolitisierter Begriffe... Der Be-
griff des ,Rechts'-( d. h. Privatrechts-)Staates dient als Hebel, um den Staat zum
Werkzeug der ,unpolitischen Gesellschaft' zu machen ... Rein ethisches Pathos und
rein materialistisch-ökonomische Sachlichkeit verbinden sich in jeder typisch liberalen
Außerung und geben jedem politischen Begriff ein verändertes Gesicht. So wird der
politische Begriff des Krieges im liberalen Denken auf der wirtschaftlichen Seite zur
Konkurrenz, auf der anderen, ,geistigen' Seite zur Diskussion; an die Stelle einer
klaren Unterscheidung der bei den Status ,Krieg' und ,Frieden' tritt die Dynamik
ewiger Konkurrenz und Diskussion, ein ewiger Wettkampf, der aber niemals ,blutig'
und niemals ,feindselig' werden darf. Der Staat wird zur Gesellschaft, und zwar auf
der einen, ethisch-geistigen Seite zu einer ideologisch-humanitären Vorstellung von

701 A. a. 0., S. 226.


702 Schmitt, Die geistesgeschichtliehe Lage . •.. (Anm. 9), S. 13 f.
703 Schmitt, Der Begriff . .• (Anm. 20), S. 49.
70. A. a. 0., S. 50.
705 Ebda.
706 Ebda.
707 A. a. 0., S. 51.
174 Die Ideologie in der Kategorienbildung

der ,Menschheit'; auf der anderen zur ökonomisch-technischen Einheit eines gesetz-
mäßig sich selbst steuernden Produktions- und Verkehrssystems. Aus dem in der
Situation des Kampfes gegebenen, völlig selbstverständlichen Willen, den Feind ab-
zuwehren, wird ein ,soziales Ideal' oder Programm, eine Tendenz oder eine wirt-
schaftliche Kalkulation. Aus dem politisch geeinten Volk wird auf der einen Seite ein
kulturell interessiertes Publikum, auf der anderen teils ein Betriebs- und Arbeiter-
personal, teils eine Masse von Konsumenten. Aus Herrschaft und Macht wird an dem
geistigen Pol Propaganda und Massensuggestion, an dem wirtschaftlichen Pol ,Kon-
trolle'." 708 Alle diese das eigentlich Politische denaturalisierenden Ideen des liberalen
19. Jahrhunderts bilden in der Auffassung earl Schmitts "das ganze geistige Arsenal
dieses mit Illusion und Betrug angefüllten Säkulums" .709
An earl Schmitts Entgegensetzungen von Politik und Antipolitik, liberaler Rechts-
staatlichkeit und konsequenter politischer Form ist also unverkennbar bereits die
Option für den autoritären, antiliberalen und im freiheitlichen Sinne auch antidemo-
kratischen totalen Staat angelegt und ideologisch wirksam. Das gleiche läßt sich für
die Begriffe Identität und Repräsentation zeigen, die earl Schmitt als Prinzipien
politischer Form konstruiert.

Identität und Repräsentation


earl Schmitt bestimmt den Staat als: "Status eines Volkes, und zwar der Status poli-
tischer Einheit. Staatsform ist die besondere Art der Gestaltung dieser Einheit. Sub-
jekt jeder Begriffsbestimmung des Staates ist das Volk. Staat ist ein Zustand, und
zwar der Zustand eines Volkes." 710 Dann aber meint er, das Volk könne diesen Zu-
stand politischer Einheit auf zwei verschiedene Weisen erreichen und halten. Diese
beiden Weisen werden durch das Repräsentationsprinzip und durch das Identitäts-
prinzip angegeben, die beiden politischen Gestaltungs- und einander polar entgegen-
gesetzten Formprinzipien, auf die sich "alle Unterscheidungen echter Staatsformen,
welcher Art sie auch sein mögen", 7ll zurückführen lassen. Die Verwirklichung des
Repräsentationsprinzips führt im konsequentesten Fall zur absoluten Monarchie, die
des Identitätsprinzips zur absoluten Demokratie.
Als Identitätsstaat will earl Schmitt also einen Staat dann verstanden wissen,
wenn sein Volk den Zustand politischer Einheit "schon in seiner unmittelbaren Ge-
gebenheit" 712 erreicht und hält. "Dann ist es als realgegenwärt,ige Größe in seiner
unmittelbaren Identität mit sich selbst eine politische Einheit." 713 Hingegen ist ein
Repräsentationsstaat dort gegeben, wo ein Volk den Zustand politischer Einheit erst
durch Vermittlung von regierenden Menschen erreicht und hält, die die politische
Einheit repräsentieren, d. h. darstellen. Der Sinn dieser Unterscheidung zwischen
Identitäts- und Repräsentationsprinzip ist etwas dunkel. Eine genauere Betrachtung
zeigt auch, daß sie im Grunde in eines zusammenfällt, nämlich in die Vorstellung
absoluter Gewalt.7 14

70s A. a. 0., 5. 52 f.
709 A. a. 0., 5. 56.
710 5chmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), 5. 205.
m Ebda.
112 Ebda.
713 Ebda.
7101 Radbrum, "Parteienstaat ...
CI (Anm. 512), weist darauf hin, daß earl Schmitts Repräsentationsgedanke
.. die personifizierte Integration, die Darstellung der unsichtbaren Einheit des Staats in sichtbaren Personen" be-
deutet. Die so verstandene Repräsentation sei eine antidemokratisme Möglichkeit. Darin aber "enthüllt sich der
politische Nutzwert des Repräsentationsgedankens, wie seine politische Werbekraft darauf beruht, daß er auch
in nichtdemokratischen Veriassungsiormen eine Repräsentation des Volkes nachzuweisen versucht· (5. 97). Die
Identität und Repräsentation 175

Zunächst einmal werden Identität und Repräsentation überall gefunden. "In der
Wirklichkeit des politischen Lebens gibt es ebensowenig einen Staat, der auf alle
Strukturelemente des Prinzips der Identität, wie einen Staat, der auf alle Struktur-
elemente der Repräsentation verzichten könnte." 715 Denn es gibt keinen Staat ohne
Volk, das als wirklich vorhandene Größe wirklich anwesend, präsent sein muß.
Anderseits aber kann die politische Einheit des Volkes niemals in realer Identität
präsent sein, sondern muß immer durch Menschen persönlich repräsentiert werden.
Diese Unentbehrlichkeit zeigt für die Identität folgende Überlegung: Im Zustand
politischer Einheit kann sich die Vielheit der Menschen, die das Volk ausmachen, nur
durch ihr irgendwie mit Hilfe einer Ordnung und spezifischer Anordnungsorgane
organisiertes Zusammenwirken befinden. Die Einheit jeder gesellschaftlichen und also
auch politischen Bildung besteht immer nur als ein planmäßig oder planlos, aber
effektiv organisiertes Handlungsgefüge, als eine Akteinheit, in der die Vielen zur
Einheit der Aktion verbunden werden. 716 Wenn also politische Einheit nicht bloß ein
leeres Wort sein soll, so muß sie im Verhalten wirklich vorhandener Menschen liegen.
Auch Regierung ist nur solange und soweit Regierung, wie ihr Fügsamkeit und Be-
folgung entsprechen. "Das Formprinzip der Repräsentation kann niemals rein und
absolut, d. h. unter Ignorierung des immer irgendwie vorhandenen und anwesenden
Volkes durchgeführt werden." 717 Die politische Einheit kann von niemandem reprä-
sentiert werden, wenn sie nicht die politische Einheit eines Zusammenwirkens von
natürlich vorhandenen Menschen ist.
Entsprechendes zeigt eine andere Überlegung für die Repräsentation. Wenn in
einer unmittelbaren Demokratie alle Staatsbürger sich auf einem Platze versammeln,
so entsteht vielleicht der Eindruck, das Volk handele hier in seiner unmittelbaren
Identität und Präsenz. "In Wahrheit handeln äußerstenfalls nur alle erwachsenen
Angehörigen des Volkes und nur in dem Augenblick, in welchem sie als Gemeinde
oder als Heer versammelt sind. Aber auch alle aktiven Staatsbürger zusammengenom-
men sind nicht als Summe die politische Einheit des Volkes, sondern repräsentieren
die politische Einheit, die über eine räumlich zusammengebrachte Versammlung und
über den Augenblick der Versammlung erhaben ist." 718 Außerdem ist der einzelne
Staatsbürger nicht als natürliche und Privatperson, sondern als citoyen anwesend.
Diese Überlegungen aber, so logisch und unzweifelhaft sie sind, zeigen in Wahrheit
gar nichts, was von Bedeutung für die Unterscheidung von Staatsformen wäre. Sie
gelten allgemein für unterschiedslos jede Staatsform. earl Schmitts Unterscheidung
von Identität und Repräsentation bedeutet also nicht diesen Unterschied zwischen
Präsenz und Repräsentation, sondern etwas anderes. Es könnte nun scheinen, als
wolle earl Schmitts Unterscheidung die bei den Pole von herrschaftlicher Autokratie
und genossenschaftlicher Demokratie, also den Unterschied in der Machtvollkommen-
heit, den Unterschied von verantwortlicher magistratischer und nichtverantwortlicher
bzw. nur selbstverantwortlicher souveräner Repräsentation treffen. 719 So spricht er
Kamoffront solcher Beeriffsbildungcn richtet sich nach Erkenntnis Radbruchs gegen den Parteienstaat und bestärkt
das ~och aus dem Obrigkeitsstaat überlieferte schlechte Gewissen, mit dem man alles betrachte, was zum Gezänk
der Paneien gehö;-t.
715 Schmitt, Verfassungslehr~ (Anm. 21), S. 20j.
'16 Vgl. dazu den soziologischen Staatsbegriff Hermann Hellers, Staatslehre (Anm. 460).
717 Schmitt, Ver/ass:mgslehre (Anm. 21), S. 2eg.

71' A. a. 0., S. 206.


n9 Diesen Unterschied hat Hermann Heller herausgearbeitet. Er unterscheidet die immer gegebene soziologische
Bindung des Regierenden an den Regierten~ die darin besteht, daß oboedientia facit imperantem, von der sozial-
ethischen Bindung, die auch in dieser oder jener Weise immer besteht; und von der eigentlich rechtlichen Bindung,
die in der souvt:rän reoräsentierenden Autokratie eben nicht besteht, dafür aber in der Demokratie jede Re-
präsentation zur ausschließlich magistratischen~ vom Volkswillen abhängigen und ihm verantwortlichen Repräsen-
tation macht. Vgl. Hennann Heller, Die Sowveränität, Berlin - Leipzig 1927.
176 Die Ideologie in der Kategorienbildung

davon, daß Durchführung des Identitätsprinzips "Tendenz zu dem Minimum von


Regierung" 720 bzw. Repräsentation "ein Maximum von Regierung" 721 bedeutet. Im
Grenzfall würde sich dann eine Regierung erübrigen, weil alle im wesentlichen das
gleiche wollen, bzw. würde mit einem Minimum an Identität auszukommen sein,
weil die Verschiedenartigkeit heterogener konfessioneller, nationaler oder klassen-
mäßiger Gruppen durch eine starke Regierung zur Einheit zusammengebracht wird.
Diese Grenzfälle bedeuten dann allerdings für die Wirklichkeit zugleich die Gefahr,
daß ein Maximum an Identität nur fingiert wird, während in der Wirklichkeit nur
ein Minimum an Regierung vorhanden ist, bzw. daß ein Maximum an Regierung
nur fingiert und das Volk ignoriert wird, während in der Wirklichkeit nur ein Mini-
mum an Identität und Regierung vorhanden ist. Aber auch diese Entgegensetzungen
sind in der Unterscheidung earl Schmitts nicht gemeint.
Vielmehr sieht earl Schmitt in der Unterscheidung der bei den Formprinzipien nicht
einen sachlichen Unterschied der Machtvollkommenheit, die im einen Falle in die
magistratische Verantwortung vor dem Volke gebunden, im anderen Falle aber
souveräne Selbstverantwortung ist, sondern er versteht seine Unterscheidung als
Gegensatz in der Verteilung personaler Qualitäten politischer Existenz. Das als poli-
tische Einheit existierende, im Zustand politischer Einheit befindliche Volk hat in
jedem Falle, so schreibt er, "gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zu-
sammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art
Sein".722 Repräsentation bedeutet daher, daß "Größe, Hoheit, Majestät, Ruhm,
Würde und Ehre" 723 dieses gesteigerten Zustandes politischer Existenz sich bei der
Regierung, die ihn herstellt, versammeln, so daß die öffentlichen Regierungspersonen
und Machtträger sich durch ihre persönliche, dem Volke unzugängliche, höhere, aus
der Offentlichkeit der politischen Existenz herkommende Würde vom gewöhnlichen
Volke unterscheiden. Die Regierenden unterscheiden sich qualitativ als bessere Ober-
schicht von der Unterschicht und besitzen eine Autorität aus besonderem, ihnen vor-
behaltenem Sein. Wohingegen Identität bedeutet, daß das Volk durch seine natürlich
gegebene oder geschichtlich gewordene Homogenität im Sinne substantieller, also z. B.
nationaler Gleichartigkeit bzw. "Artgleichheit" "kraft eigenen politischen Bewußt-
seins und nationalen Willens die Fähigkeit hat, Freund und Feind zu unterscheiden" 724
und so unmittelbar den Zustand politischer Einheit zu erreichen und zu halten, wo-
durch sich Hoheit und Ruhm des zur politischen Existenz gesteigerten Seins auf alle
verteilen und die Regierenden sich von den Regierten in dieser Hinsicht durch keinen
qualitativen Seinsabstand unterscheiden. Die Regierenden unterscheiden sich nur in
der Sache, durch ihre Machtvollkommenheiten, vom Volk, besitzen ihre Autorität
aber nur aus der substantiellen Gleichartigkeit des Volkes, die das Vertrauen des
Volkes zu ihnen begründet.
earl Schmitts Unterscheidung von Identitäts- und Repräsentationsprinzip läuft
also darauf hinaus, daß in einem Fall alle am Ruhm und an den Pflichten der ge-
steigerten Art politischer Existenz teilhaben, im anderen Falle aber nur an den
Pflichten, während der Ruhm sich allf die Herrschenden konzentriert. Das ist offen-
sichtlich eine Unterscheidung, die in der Sphäre der Ideologie verbleibt. In der Sache
nämlich besteht, so wie earl Schnütt die Begriffe bildet, gar kein Unterschied zwi-
schen konsequentem Identitätsstaat und konsequentem Repräsentationsstaat. "Denn
die Verschiedenheit von Regieren und Regiertwerden, Befehlen und Gehorchen bleibt
720 Schmitt, Verjassungslehre (Anm. 21), S. 214.
721 A. a. 0.) S. 215.
m A. a. 0., S. 210.
723 Ebda.
726 A. a. 0., S. 214.
Identität und Repräsentation 177

bestehen, solange überhaupt regiert und befohlen wird, d. h. solange [auch] der demo-
kratische Staat als Staat vorhanden ist" 725 und das Volk nicht "aus dem Zustand
politischer Existenz in den unterpolitischen Zustand zurücksinkt". 726 Die Verschieden-
heit von Regierenden und Regierten, der Abstand ihrer Machtvollkommenheiten
kann nach Meinung Carl Schmitts in der Demokratie, dem Identitätsstaat, "sogar im
Vergleich zu anderen Staatsformen in der Sache ungeheuer verstärkt und gesteigert
werden, sofern nur die Personen, die regieren und befehlen, in der substanziellen
Gleichartigkeit des Volkes verbleiben". 727 Ihre Herrschaft kann "strenger und härter,
ihre Regierung entschiedener sein als die irgendeines patriarchalischen Monarchen
oder einer vorsichtigen Oligarchie". 728 "Nach Eigenschaften wie Milde oder Härte,
Rücksichtslosigkeit oder Humanität kann man eine politische Form überhaupt nicht
bestimmen." 729 Es ist erst auf die Wirkung der liberalen, rechtsstaatlichen Bestrebun-
gen zurückzuführen, wenn die Macht des Staates systematisch durch Kontrollen und
Hemmungen gemildert und abgeschwächt wird. Nach Carl Schmitts Auffassung von
Demokratie ist ihr "als politischer Form ... diese Tendenz nicht wesentlich, vielleicht
sogar fremd" .730
So gibt es also in der Sache gemäß Carl Schmitts Begriffsbildung keinen Unter-
schied zwischen konsequentem Repräsentationsstaat und konsequentem Identitätsstaat,
weder im Abstand der Machtvollkommenheiten zwischen Herrschenden und Beherrsch-
ten, noch in der effektivierbaren Verantwortlichkeit der Machtträger, die in jedem
Falle Autokraten sind, gleichviel ob sie sich als Herren aus höherem Sein oder
als artgleiche Volksgenossen gerieren. Sie sind in jedem Falle Inhaber unbeschränkter
Gewalt. Das ist von besonderem Interesse auch für die Bestimmung, die Carl Schmitt
der Demokratie gibt. Hatte sich bereits gezeigt, daß er Demokratie aus einem Gegen-
satz zu Rechtsstaat und Liberalismus versteht, so stellt sich nun heraus, daß sie auch
in der Sache keinen Unterschied zur Autokratie kennt. Er definiert Demokratie als
"Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden
und Gehorchenden".731 Da~ bedeutet zunächst die geschilderte ideologische Homogmi-
tät. Hinter dieser aber steht die Vereinbarkeit von Demokratie und Diktatur. So schreibt
er: "Wenn aus praktischen und technischen Gründen statt des Volkes Vertrauensleute
des Volkes entscheiden, kann ja auch im Namen desselben Volkes ein einziger Ver-
trauensmann entscheiden, und die Argumentation würde, ohne aufzuhören demo-
kratisch zu sein, einen anti parlamentarischen Cäsarismus rechtfertigen." 732 "Der
Wille des Volkes ist natürlich immer identisch mit dem Willen des Volkes, ob nun
aus dem Ja oder Nein von Millionen abgegebenen Stimmzetteln eine Entscheidung
abgegeben wird, oder ob ein einzelner Mensch auch ohne Abstimmung den Willen
des Volkes hat, oder das Volk auf irgendeine Weise ,akklamiert'." 733 "Es scheint
also das Schicksal der Demokratie zu sein, sich im Problem der Willensbildung selbst
aufzuheben." 734 Die allein praktische Frage betrifft die Identifikation: "nämlich die
Frage, wer über die Mittel verfügt, um den Willen des Volkes zu bilden: militärische
und politische Gewalt, Propaganda, Herrschaft über öffentliche Meinung durch
Presse, Parteiorganisationen, Versammlungen, Volksbildung, Schule. Insbesondere
723 A. a. 0., S. 236.
m A. a. 0., S. 215.
727 A. a. 0., S. 236.
728 Ebda.

729 Ebda.
730 A. a. 0., S. 237.
731 A. a. 0., S. 234.
m Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . •. (Anm. 9), S. 42.
733 A. a. 0., S. 36.
734 A. a. 0., S. 37.
178 Die Ideologie in der Kategorienbildung

kann die politische Macht den Willen des Volkes, aus dem sie hervorgehen soll, selbst
erst bilden." 735 "Diktatur ist ebensowenig der entscheidende Gegensatz zu Demo-
kratie wie Demokratie der zu Diktatur." 730
Carl Schmitt bildet also einen Demokratiebegriff, der durch seinen ausdrücklichen
antiliberalistischen Charakter zur Rechtfertigung dessen wird, was man Stimmungs-
demokratie genannt hat. Er findet das Wesen der Demokratie nicht im steten Kom-
promiß zwischen Minderheiten und Mehrheiten, sondern ganz rousseauistisch in einer
cäsaristisch geführten Herrschaft der Mehrheit oder sogar Herrschaft der Interpreta-
toren des unfaßbaren pouvoir constituant, und zwar in der Weise, daß die jeweils
vergewaltigte Minderheit sich eben "über ihren wahren Willen geirrt habe". 737

Souveränitätsvorstellungen
Dieses Zusammenfallen aller effektiven Unterschiede in der Vorstellung konsequenter
politischer Form, deren Erfüllung - es darf hier wiederholt werden - dann unter den
Bedingungen der modernen Gesellschaft im totalen Führerstaat gefunden wird, zei-
gen auch Carl Schmitts Lehren von Souveränität und Diktatur. Er bestimmt als
Souverän den, der über den Ausnahmezustand herrscht. "Souverän ist, wer über den
Ausnahmezustand entscheidet." 738
Zunächst könnte erwartet werden, daß sich die Unterscheidung der beiden poli-
tischen Formprinzipien von demokratischer Identität und aristokratisch-monarchischer
Repräsentation auch auf die Bildung des Souveränitätsbegriffes auswirkt. Ob das
Volk überwiegend schon in seiner Unmittelbarkeit eine politisch aktionsfähige Ein-
heit darstellt oder überwiegend erst durch die sie herstellende Regierung, danach könnte
sich richten, wer der Träger der verfassunggebenden Gewalt ist, wer die bewußte und
ausdrückliche Gesamtentscheidung über die politische Existenzform des Volkes trifft,
und wer also als Träger der obersten konstituierenden Gewalt das Subjekt der
Souveränität ist. Aber Carl Schmitt bestimmt die Souveränität anders.
Werden mit der Verfassung als der Grundentscheidung über Art und Form der
politischen Einheit die verschiedenen Gewalten und Machtbefugnisse innerhalb der
politischen Einheit rechtlich geordnet, so besitzt doch der Staat als Ganzes eine Ge-
walt, die allen rechtlichen, angefangen bei den verfassungsmäßigen Regelungen und
Normierungen überlegen bleibt. Carl Schmitt meint, daß "die rechtliche Regelung
immer nur den berechenbaren Inhalt der Ausübung, niemals die substantielle Fülle
der Gewalt selbst" 739 ergreift. Das bedeutet umgekehrt, daß die Fülle der staatlichen
Gewalt dort zum Vorschein kommen muß, wo eine rechtliche Regelung durchbrochen
wird oder ein rechtlich überhaupt nicht geregelter Fall zur politischen Entscheidung
ansteht. Die Fähigkeit zur Entscheidung über diesen Ausnahmefall der Rechtsordnung
aber ist die Souveränität. Die Souveränität ist die Substanz der staatlichen Allmacht,
die Substanz einer durchdringenden und maßgebenden, weil über die Freund-Feind-
Gruppierung als die äußerste, möglicherweise auf Tod und Leben gehende Gruppie-
rung entscheidenden Gewalt. Diese Souveränität des Staates ist als solche prinzipiell
unbegrenzt und unbegrenzbar, und sie ist auch in rechtlich sicher geordneten, normalen
Zuständen latent immer vorhanden. Demnach kann Carl Schmitt definieren: "Sou-
verän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." 740
m A. a. 0., S. 37 i.
aa A. a. 0., S. 41.
i3i Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 25. Vgl. auch zum rousseauistischen und totalitären Demokratiebegriff
die Arbeit "on j. 1. Talmon, The Origin, oi Totalitarian Democracy, London 1952.
a' Schmitt, Politi,che Theologie (Anm. 7), 5.11.
... Schmitt, Die Diktatur (Anm. 6), S. 194.
m Schmitt, Politi,che Theologie (Anm.7), 5.11.
Souveränitätsvorstellungen 179

Souveränität wird gewöhnlich als höchste, nicht abgeleitete und rechtlich unab-
hängige Macht definiert. Eine solche Definition aber läßt sich nach Auffassung earl
Schmitts »auf die verschiedensten politisch-soziologischen Komplexe anwenden und
in den Dienst der verschiedensten politischen Interessen stellen" .741 Sie bezeichnet
nicht in adäquater Weise die Wirklichkeit, sondern »ist unendlich vieldeutig und daher
in der Praxis je nach der Situation außerordentlich brauchbar oder gänzlich wert-
los" .742 Außerdem verwendet sie den Superlativ »höchste Macht" so, als ob sich in
der vom Kausalgesetz beherrschten Wirklichkeit ein einzelner Faktor als unumstöß-
lich feste Größe herausgreifen ließe. »Eine unwiderstehliche, mit naturgesetzlicher
Notwendigkeit funktionierende, höchste, d. h. größte Macht gibt es in der politischen
Wirklichkeit nicht; die Macht beweist nichts für das Recht." 743 Den einfachen Grund
dafür findet earl Schmitt am klarsten bei Jean Jacques Rousseau formuliert: "Auch
der Stärkste ist nie stark genug, um immer Herr zu sein, wenn er nicht die Gewalt
in Recht und den Gehorsam in Pflicht verwandelt ... La force est une puissance
physique ... le pistole que le brigant tient est aussi une puissance." 744 Das Grund-
Problem ist daher nicht in der Tautologie einer »höchsten Macht", sondern in der
Verbindung von faktisch und rechtlich höchster Macht zu suchen. Außerdem sollte
die Frage nach der Souveränität nicht aus bloß theoretischem Interesse gestellt wer-
den. »Um einen Begriff an sich wird im allgemeinen nicht gestritten werden, am
wenigsten in der Geschichte der Souveränität. Man streitet um die konkrete Anwen-
dung, und das bedeutet darüber, wer im Konfliktsfall entscheidet, worin das öffent-
liche oder staatliche Interesse, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, le salut
publique usw. besteht." 745 Die Frage nach der Souveränität wird also erst als Frage
nach ihrem Subjekt und in einer Situation äußerster Not aktuell, dann, wenn die
Existenz der politischen Einheit selbst gefährdet ist.
Die Entscheidung über den Ausnahmezustand aber ist eine Entscheidung im her-
vorragenden Sinne. Der Ausnahmezustand ist nämlich der Fall, der in der normal
geltenden Rechtsordnung nicht schon im voraus tatbestandsmäßig umschrieben werden
konnte. Eine "generelle Norm, wie sie der normal geltende Rechtssatz darstellt, kann
eine absolute Ausnahme niemals erfassen und daher auch die Entscheidung, daß ein
echter Ausnahmefall gegeben ist, nicht restlos begründen".7 46 Nun ist nicht jede außer-
gewöhnliche Befugnis und nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme schon Aus-
nahmezustand. Zum Ausnahmezustand gehört vielmehr nach Darstellung earl
Schmitts eine unbegrenzte und in Voraussetzung wie Inhalt notwendig unbegrenz-
bare Befugnis, die Fähigkeit, die gesamte bestehende Ordnung suspendieren zu kön-
nen. Die Frage ist, wer für jenen Fall zuständig sein soll, für den in der normal gel-
tenden Rechtsordnung keine Zuständigkeit vorgesehen ist, für den Fall der Total-
gefährdung der politischen und Rechtsordnung selbst. Der Souverän nun »entscheidet
sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen
soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung
und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung
in toto suspendiert werden kann." 747 Er entscheidet über die verfassungsmäßig nicht
geregelten Befugnisse und hat die Vermutung der unbegrenzten Macht für sich, die
nach earl Schmitt die Substanz der Staatsgewalt ist.
141 earl Smmitt, .Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politisme Theologie", in: Hauptprobleme Jer Sozio-

logie. Erinnerungsgabe für Max Weber, hrsgg. von Melmior Palyi, Münmen-Leipzig 1923, S. 13.
142 EbJa.
743 EbJa.
1" lean lacques Rousseau, Contrat Social, I, 3.
H' Smmitt, .Soziologie des Souveränitätsbegriffs' (Anm. 741), S. 5.
1" EbJa.
141 A. a. 0., S. 6.
180 Die Ideologie in der Kategorienbildung

Ist einmal der extreme Notsvand, der extremus necessitatis casus eingetreten, so
bleibt nach Auffassung Carl Schmitts der Staat bestehen, während das Recht zurück-
tritt. Sofern nicht die politische Einheit ganz zerfällt und alles in Anarchie versinkt,
besteht immer noch eine Ordnung, allerdings keine Rechtsordnung mehr. Aber die
"Existenz des Staates bewahrt hier eine zweifellose überlegenheit über die Geltung
der Rechtsnorm".748 Der Staat suspendiert das Recht, und die Elemente des Begriffs
Rechtsordnung treten gleichsam auseinander; die durch die politische Entscheidungs-
gewalt garantierte Ordnung zeigt, daß sie mehr ist als das nur normal geltende Recht,
von dem sie vielmehr vorausgesetzt wird. "Jede generelle Norm verlangt eine nor-
male Gestaltung der Lebensverhältnisse, auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung
finden soll und die sie ihrer normativen Regelung unterwirft. Die Norm braucht ein
homogenes Medium ... Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre. Die
Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine
normale Situation geschaffen werden, und Souverän ist derjenige, der definitiv
darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht ... Der Souverän
schafft und garantiert die Situation als ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol
dieser letzten Entscheidung." 749 "Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staat-
lichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm,
und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist, daß sie, um Recht zu
schaffen, nicht Recht zu haben braucht." 750 Souveränität ist somit für Carl Schmitt
die Substanz der staatlichen Allmacht, die prinzipiell unbegrenzt ist. Ihr Kriterium
ist die Entscheidung über den Ausnahmezustand. Und wer "den Ausnahmezustand
beherrscht, beherrscht ... den Staat, denn er entscheidet darüber, wann dieser Zu-
stand eintreten soll, und darüber, was alsdann nach Lage der Sache erforderlich ist" .751
Es ist also offenbar, daß auch der Unterschied von Volkssouveränität und Fürsten-
souveränität/52 wie er zunächst nach der Entgegensetzung von Identitäts- und Re-
präsentationsprinzip konstruierbar erscheinen mochte, in der Begriffsbildung Carl
Schmitts in eins zusammenfällt. Auch die politische Einheit ist demgemäß für Carl
Schmitt immer "die maßgebende Einheit, total und souverän".753 Total ist sie, weil
"jede Angelegenheit potentiell politisch sein und deshalb von der politischen Entschei-
dung betroffen werden kann" und weil "der Mensch in der politischen Teilnahme
ganz und existentiell erfaßt wird. Die Politik ist das Schicksal." 754 "Souverän ist die
politische Einheit in dem Sinne, daß die Entscheidung über den maßgebenden Fall,
auch wenn das der Ausnahmefall ist, begriffsnotwendig bei ihr steht." 755 Die politische
Einheit ist die höchste und intensivste Einheit, von der her folglich auch über die
intensivste Unterscheidung, die nach Freund und Feind, bestimmt wird. Durch die
sich hierbei mit Rücksicht auf den Ernstfall des Konfliktes ergebende "Macht über
das physische Leben der Menschen erhebt sich die politische Gemeinschaft über jede
andere Art von Gemeinschaft und Gesellschaft" .756
In voller Gleichgültigkeit gegen den wesentlichen Unterschied von demokratischen
und autokratischen Staaten bildet Carl Schmitt so den Begriff des Staates. Die
Unterschiede der politischen Formen erscheinen bloß als vordergründige Unterschiede.
748 A. a. 0., S. 9.
749 Ebda.
750 A. a. 0., S. 10.
751 Schmitt, Die Diktatur (Anm. 6), S. 18.
752 Friedrich, Der Verfassung"taat. .• (Anm. 470), weist darauf hin, daß es einen spezifischen Zusammenhang
zwischen dem anti konstitutionellen Absolutismus und dem Souveränitätsbegriff gibt; vgl. S. 17 ff.
m Schmitt, Dtr Begriff des Politischen (Anm. 20), S. 21.
75' Ebda.
755 A. a. 0., S. 22.
1&1 A. a. 0., S. 30.
Das Wesen der Diktatur 181

"Die politische Einheit ist höchste Einheit, nicht, weil sie allmächtig diktiert oder
alle anderen Einheiten nivelliert, sondern weil sie entscheidet und innerhalb ihrer
selbst alle anderen gegensätzlichen Gruppierungen daran hindern kann, sich bis zur
extremen Feindschaft (d. h. bis zum Bürgerkrieg) zu dissoziieren. Da, wo sie ist, kön-
nen die sozialen Konflikte der Individuen und sozialen Gruppen entschieden werden,
so daß eine Ordnung d. h. eine normale Situation besteht. Die intensivste Einheit
ist entweder da oder nicht da; sie kann sich auflösen, dann entfällt die normale
Ordnung. Aber unentrinnbar ist sie immer Einheit, denn es gibt keine Pluralität der
normalen Situationen, und unvermeidlich geht von ihr, solange sie überhaupt da ist,
die Entscheidung aus." 757 Die Leistung des Staates be~teht also nach earl Schmitt
"darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung
herbeizuführen, ,Ruhe, Sicherheit und Ordnung' herzustellen und dadurch die normale
Situation zu schaffen",158 "in welcher überhaupt erst moralische und rechtliche Nor-
men gelten können".759 "Diese Notwendigkeit innerstaatlicher Befriedung führt in
kritischen Situationen dazu, daß der Staat als politische Einheit von sich aus, solange
er besteht, auch den ,inneren Feind' bestimmt. In allen Staaten gibt es deshalb ...
Arten ... der innerstaatlichen Feinderklärung. Das ist entweder die Herstellung der
Gleichartigkeit und der politischen Einheit oder ... das Zeichen des Bürgerkrieges." 760
Entsprechend kann auch die Freiheit der einzelnen und Gruppen innerhalb der poli-
tischen Einheit nur in grundsätzlich durch das Politische eingeschränkter Weise aner-
kannt werden. Sie ist zunächst die Freiheit eines Volkes, und zu dieser darf die private
Freiheit nicht im Widerspruch stehen.

Das Wesen der Diktatur


Zeigt sich also für den Souveränitäts- und Staatsbegriff earl Schmitts, daß, gemäß
seiner Option für die konsequente politische Form, alle Unterschiede in eins zusam-
menfallen, so zeigt sich ein gleiches auch für den Begriff der Diktatur, die earl
Schmitt als den kritischen Fall der Rechtsverwirklichung und als Souveränitätsfall
ansieht.
Diese Souveränität wurde von earl Schmitt bestimmt als die Vereinigung von
rechtlich und faktisch höchster Macht, als Substanz und Fülle der Staatsgewalt, prin-
zipiell jeder möglichen rechtlichen Beschränkung überlegen und wenigstens latent
immer vorhanden. Die kritische Situation, in der die Souveränität notwendig zum
Vorschein kommen muß, war der Ausnahmezustand, der extreme Staatsnotstand, in
dem die Existenz der politischen Einheit selbst auf dem Spiele steht. Demgemäß
wurde als Kriterium angegeben: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand sowie
über die Mittel zu seiner Beseitigung entscheidet. Das gleiche Kriterium gibt nun
auch die Diktatur zu erkennen. Auch für den Diktator trifft nach Auffassung earl
Schmitts zu, daß er aus der Fülle der Staatsgewalt handelt. Souveränität und Dikta-
turgewalt sind eng miteinander verwandt, weshalb denn auch die Erörterungen des
Souveränitätsproblems alsbald und immer wieder auf das der Diktatur führen.
Während nun aber der Ausnahmezustand für die Souveränität nur die Gelegen-
heit und den kritischen Fall ihres aktuellen Hervortretens bedeutet und es nicht so
ist, als gäbe es einen Souverän nur im Ausnahmezustand, gilt dies ausdrücklich für
die Diktatur; es gibt Diktatur nach Auffassung earl Schmitts nur im und als Aus-
nahmezustand. Diktatur ist "der Idee nach ein übergang" und soll daher "nur aus-
757 Schmitt, .Staatsethik .•. " (Anm. 31), S. 36.
7" Schmitt, Der Begriff des Politischen (Anm. 20), S. 29.
m Schmitt, .Staatsethik ... " (Anm. 31), S. 32.
7•• Schmitt, Der Begriff des Politischen (Anm. 20), S. 29.
182 Die Ideologie in der Kategorienbildung

nahmsweise und unter dem Zwang der Verhältnisse eintreten". Sie ist "notwendig
,Ausnahmezustand' ".761 Souveränität gibt es immer, sie wird im Ausnahmezustand
nur aktuell. Diktatur gibt es nur als Ausnahme- und übergangssituation. Zunächst
aber haben Souverän und Diktator ein Gemeinsames im absoluten Charakter ihrer
Entscheidungsgewalt. Sie sind beide legibus solutus, der Souverän allem Recht und
Gesetz überlegen, der Diktator für eine rein zweckorientierte Aktion von rechtlichen
und gesetzlichen Beschränkungen entbunden.
Die Diktatur setzt nach Darstellung Carl Schmitts immer Situationen voraus, in
denen eine ganze politische, Rechts- und Verfassungsordnung in Frage steht, Situa-
tionen also, die in einem gründlichen Sinne öffentliche Notsimationen sind. In solchen
Situationen vermag die Ordnung nur noch garantiert zu werden durch eine schlecht-
hin grenzenlose Gewalt, deren erstes Gebot ungeachtet aller sonstigen sittlichen oder
rechtlichen Rücksichten ist, sich durchzusetzen. "Hier wird das Interesse an einem zu
bewirkenden Erfolg so groß, daß rechtliche Hindernisse, die der Erreichung des
Erfolgs im Wege stehen, gegebenenfalls ... beseitigt werden können. Im Interesse des
durch die Aktion des Diktators zu erreichenden Zwecks erhält der Diktator eine Voll-
macht, deren wesentliche Bedeutung in der Aufhebung von Rechtsschranken und in
der Befugnis zu dem nach Lage der Sache notwendigen Eingriffe in Rechte Dritter
besteht." 762 Daher ist die Machtausübung des Diktators keine ordentlich-amtliche Ge-
setzesanwendung, sondern eine rein zweckorientierte Aktion.
Die Diktatur bedarf im Unterschied zur Souveränität stets einer doppelten Recht-
fertigung, einer inhaltlichen und einer formalen. Die inhaltliche Rechtfertigung liegt
in der Aufgabe, eine für richtig anerkannte Verfassungsordnung, politische und Rechts-
ordnung herzustellen, und zwar durch Beseitigung eines konkreten Gegners, der sie
unmöglich macht. Die Diktatur bleibt also stets "funktionell abhängig von der Vor-
stellung einer richtigen Verfassung".763 Jede Diktatur beseitigt während ihrer Dauer
zwar Rechtsschranken und negiert also ein bestehendes Recht. Das besagt jedoch nicht
eine bloß zufällige Verneinung von beliebigen Normen. Vielmehr liegt für Carl
Schmitt die "innere Dialektik des Begriffs ... darin, daß gerade die Norm negiert
wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklich-
keit gesichert werden soll".764 Die Diktatur bleibt gebunden an eine für richtig an-
erkannte Ordnung, die nur in einer bestehenden Notlage nicht effektiv ist und die
herbeizuführen daher die Aufgabe ist, für die in der gegebenen Notsituation die
Diktatur notwendig wird. "Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem
einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg,
die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger
Despotismus." 765
Zugleich ist die Diktatur, "wie die Notwehrhandlung, immer nicht nur Aktion,
sondern auch Gegenaktion. Sie setzt demnach voraus, daß der Gegner sich nicht an
die Rechtsnormen hält, die der Diktator als Rerutsgrund für maßgebend an-
erkennt."766 Was der Aktion ihren präzisen Inhalt gibt, ist die "Vorstellung eines
konkreten Gegners, dessen Beseitigung das nächst umschriebene Ziel der Aktion sein
muß".7 67 "Die Aktion des Diktators soll einen Zustand schaffen, in dem das Recht
verwirklicht werden kann." 769 Die als Rechtsgrund verbindlichen Normvorstellun-
781 Schmitt, Die Diktatur (Anm.6), S. VI.
76Z A. a. 0., S. 39.
163 A. a. 0., S. 145.
, •• A. a. 0., S. VIII.
76. Ebda.
7.' A. a. 0., S. 136.
,., A. 11. 0., S. 135.
768 A. a. 0., S. 137.
Das Wesen der Diktatur 183

gen des Diktators sind "aber natürlich nicht ... sachtechnische Mittel seiner Aktion" .769
Darin besteht gerade der absolute Charakter seiner Machtausübung. Es sind nicht
Rechtsnormen, deren sich der Diktator zur Verwirklichung seiner Aufgabe bei seiner
Aktion bedient, sondern Maßnahmen. Zum Begriff der Maßnahme gehört, "daß das
Vorgehen in seinem Inhalt durch eine konkret gegebene Sachlage bestimmt und ganz
von einem sachlichen Zweck beherrscht ist, so daß es nach Lage der Sache von Fall
zu Fall verschiedenen Inhalt und keine eigentliche Rechtsform hat. Sein Maß ist nicht
eine im voraus bestimmte generelle Entscheidungsnorm ... Die Eigenart der Maß-
nahrne ... besteht in ihrer Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage. Die Maß-
nahme ist also ihrem Begriff nach durchaus beherrscht von der clausula rebus sie
stantibus." 770
Die formale Rechtfertigung, deren die Diktatur bedarf, liegt in der Ermächtigung
durch eine höchste Autorität. "Die Rechtfertigung der Diktatur, die darin liegt, daß
sie das Recht zwar ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen, hat ... wohl inhalt-
liche Bedeutung, ist aber noch keine formale Ableitung und daher keine Rechtferti-
gung im Rechtssinne, denn der noch so gute wirkliche oder vorgebliche Zweck kann
keinen Rechtsbruch begründen, und die Herbeiführung eines den Prinzipien norma-
tiver Richtigkeit entsprechenden Zustands verleiht noch keine rechtliche Autorität.
Das formale Merkmal liegt in der Ermächtigung einer höchsten Autorität, die recht-
lich imstande ist, das Recht aufzuheben und eine Diktatur zu autorisieren, d. h. eine
konkrete Ausnahme zu gestatten, deren Inhalt im Vergleich zu dem anderen Fall
einer konkreten Ausnahme, der Begnadigung, ungeheuerlich ist." 771 Carl Schmitt
definiert die Diktatur als "unbedingte Aktionskommission".772 Im Unterschied zur
Souveränität, mit der sie den Unbedingtheitscharakter teilt, ist die Diktatur immer
Kommission, ein Auftragsverhältnis, und setzt daher eine höhere Autorität voraus.
Es wirkt sich aber wiederum auf den Charakter der Diktatur aus, wie geartet diese
höhere Autorität ist.
Wenn die politische Einheit, um deren Normalzustand willen die Diktatur not-
wendig wurde, wesentlich nach dem Repräsentationsprinzip organisiert ist, ist die
gesuchte höhere Autorität nicht schwer auszumachen. Der höchste Repräsentant der
politischen Einheit ist hier zugleich der Souverän, der, nachdem er über den Ausnahme-
zustand entschieden hat, den Diktator als seinen Aktionskommissar beruft und ihm
die Ermächtigung gibt, ohne Rücksicht auf bestehende Rechte den Notzustand zu
beseitigen und die vom Souverän für normal erklärte Ordnung herzustellen. Die
Diktatur ist dann lediglich ein Regierungsproblem und stellt eine Form der Macht-
ausübung in Notzeiten dar, die sich "prinzipiell nicht von dem Einverständnis oder
der Einsicht des Adressaten abhängig macht und seine Zustimmung nicht abwartet" .773
Der Souverän macht also von außerordentlichen Herrschaftsrechten Gebrauch, indem
er Aktionskommissare mit absoluter Vollmacht entsendet. Die Verhältnisse sind
insofern klar, als Diktator und Souverän nicht verwechselt werden können. Der
Diktator bleibt Kommissar des Souveräns, seine Vollmacht erlischt nach Durchführung
seines Auftrages und hat am Willen des Souveräns ihre Grenzen.
Schwieriger liegen die Dinge, wenn die politische Einheit, um deren Verfassung
willen die Diktatur notwendig wurde, wesentlich auf das Prinzip der Identität ge-
gründet ist. Dann gibt es eine verfassunggebende Gewalt, als deren Träger und Sub-
jekt das Volk gilt. Unter diesen Umständen aber kann die Diktatur zum Souveräni-
7'9 A . •. 0., S. 136.
770 Schmitt, Die Diktatur deJ Reichspräsidenten . .. (Anm. 12), S. 97.
771 Schmitt, Die Diktatur (Anm. 6), S. IX.
m A. a. 0., S. 146.
173 A. a. 0., S. 13.
184 Die Ideologie in der Kategorienbildung

tätsproblem werden. Denn einerseits wird für das Volk als das Subjekt der verfas-
sunggebenden Gewalt in Anspruch genommen, daß alle Staatsgewalt von ihm aus-
geht, es also die unbeschränkte Fülle der Staatsgewalt besitzt. Anderseits aber
kann das Volk seiner Vielköpfigkeit wegen doch nicht selbst die Entscheidung über
den Ausnahmezustand treffen. Außerdem, und das ist noch wichtiger, ist das" Volk
als Träger der verfassunggebenden Gewalt ... keine feste, organisierte Instanz".774
Sein Wille ist daher inhaltlich nicht leicht mit Bestimmtheit zu erkennen, er ist viel-
mehr in weitem Ausmaß von einer Interpretation abhängig und wird bis zu einem
gewissen Grade immer erst durch Repräsentation überhaupt formiert. Da weiterhin
die verfassunggebende Gewalt immer vor, über und neben der positiven Verfassung
bestehenbleibt, muß dieser Wille sogar bis zu einem gewissen Grade unbestimmt
bleiben, weil er unerschöpflich ist "und immer fähig, neue Formen der politischen
Existenz zu finden".775 "Der Wille kann unklar sein, er muß es sogar sein, wenn der
pouvoir constituant wirklich unkonstituierbar ist." 776 Somit ist es also nach dem
Identitätsprinzip nicht wie nach dem Repräsentationsprinzip möglich, eine deutliche
Grenze zwischen dem Willen des Inhabers der plenitudo potestatis und der Vollmacht
des Diktators zu ziehen. Wenn der Wille, an dem die Vollmacht des Diktators ihre
Grenzen hat, nicht klar ist, muß die Diktatur zum Souveränitätsproblem werden.
Denn dann entsteht die Frage, inwieweit es nicht der Diktator ist, der in der Inter-
pretation des Volkswillens über diesen selbst entscheidet.
Ungeachtet aber des Zusammenhangs mit den Staatsformprinzipien, genauer ge-
sagt, auch innerhalb der Staatsform des Identitätsprinzips ist der Charakter der
Diktatur verschieden, je nachdem wie die dem Diktator formal übergeordnete Auto-
rität geartet ist. Der Gedankengang führt wiederum, nur von einer anderen Seite, auf
das Souveränitätsproblem der Diktatur. Es handelt sich jetzt darum, ob die Diktatur
sich für die als richtig anerkannte Verfassung auf eine bestehende oder auf eine erst
herbeizuführende Ordnung beruft. Und es handelt sich darum, ob der Notstand, der
die Diktatur notwendig machte, durch einen Aufruhr oder durch eine Revolution
hervorgerufen wurde. Carl Schmitt unterscheidet zwischen kommissarischer und sou-
veräner Diktatur.
"Die kommissarische Diktatur hebt die Verfassung in concreto auf, um dieselbe
Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen." 777 Es handelt sich um in Not-
zei ten zulässige Verfassungsdurchbrechungen und Verfassungssuspensionen. "Die Ver-
fassung kann suspendiert werden, ohne aufzuhören zu gelten, weil die Suspension
nur eine konkrete Ausnahme bedeutet." 778 "Es werden also nicht etwa die Gesetze
aufgehoben, auf welchen jene Rechte Dritter (in die einzugreifen der Diktator die
Vollmacht hat) beruhen, sondern es darf nur im konkreten Fall ohne Rücksicht auf
die Rechte gehandelt werden, wenn das nach Lage der Sache zur Durchführung der
Aktion erforderlich ist. Es wird auch nicht positiv ein Gesetz erlassen, welches jene
Eingriffe als Zuständigkeit des Diktators tatbestandsmäßig generell umschreibt, viel-
mehr werden ,Ausnahmen nach Lage der Sache' zugelassen, ein Begriff, der einer
generellen Regelung durch Gesetz logisch widerspricht.« 779 So kann auch ein be-
stimmtes Territorium, ein bestimmter Zeitabschnitt, ein bestimmter Personenkreis,
ohne aufzuhören, innerhalb des Staates zu sein, doch wie ein nicht zum Staat Gehö-
riges behandelt werden, nämlich rechtlos.

77C Schmitt, Verfassungs/ehre (Anm. 21), S. 83.


175 Ebda.
118 Schmitt, Di. Diktatur (Anm. 6), S. 143.
777 A. a. 0., S. 136.
778 A. a. 0., S. 137.
771 A. a. 0., S. 39.
Das Wesen der Diktatur 185

Die "souveräne Diktatur" hingegen sieht "in der gesamten bestehenden Ordnung
den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen will. Sie suspendiert nicht eine
bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen
Rechtes, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermög-
lichen, die sie als die wahre ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende,
sondern auf eine herbeizuführende Verfassung." 780 Auch diese Art der Diktatur ist
nach Carl Schmitt "eine wirkliche Kommission ... Sie appelliert an das immer vor-
handene Volk, das jederzeit in Aktion treten und dadurch auch rechtlich unmittelbare
Bedeutung haben kann." 781 Aber diese Diktaturgewalt gilt Carl Schmitt für sou-
verän insofern, als sie in der positiven Verfassung keinen Titel und also auch keine
Schranke ihrer Vollmacht hat. Die Vollmacht des Diktators geht so weit, daß er auch
die Verfassung beseitigen und vernichten kann und dazu unmittelbar aus dem pouvoir
constituant des Volkes autorisiert ist. Der Diktator ist also einerseits Kommissar und
anderseits doch souverän. "Die Eigenart des pouvoir constituant ermöglicht eine
solche Abhängigkeit, weil es wegen des Charakters dieses pouvoir als eines nicht
konstituierten und niemals konstituierbaren denkbar ist, daß der Inhaber der staat-
lichen Gewalt sich selbst abhängig macht, ohne daß die Gewalt, von der er sich ab-
hängig macht, konstituierter Souverän wird." 782 "Ein ,Minimum von Verfassung' ist
immer noch da, solange der pouvoir constituant anerkannt ist. Aber weil für dieses
selbe Volk erst die äußeren Bedingungen geschaffen werden sollen, damit seine kon-
stituierende Gewalt aktuell werden kann, ist der an sich problematische Inhalt des
konstituierenden Willens bei der Sachlage, durch die jene Diktatur gerechtfertigt
wird, der eigenen Voraussetzung nach aktuell nicht vorhanden. Daher ist diese dikta-
torische Macht souverän, aber nur als ,übergang' und, wegen dieser Abhängigkeit von
der zu erfüllenden Aufgabe, in einem ganz anderen Sinne als der absolute Monarch
oder eine souveräne Aristokratie." 783 Während also "die kommissarische Diktatur
von einem konstituierten Organ autorisiert wird und in der bestehenden Verfassung
einen Titel hat, ist die souveräne nur quoad exercitium und unmittelbar aus dem
formlosen pouvoir constituant abgeleitet" .784 "Der kommissarische Diktator ist der
unbedingte Aktionskommissar eines pouvoir constitue, die souveräne Diktatur die
unbedingte Aktionskommission eines pouvoir constituant." 785
Zusammenfassend darf also gesagt werden, daß für Carl Schmitt Diktatur erstens
im Interesse einer wiedereinzusetzenden oder erst herbeizuführenden rechtlichen,
politischen und Verfassungsordnung geübt wird. Sie richtet sich zweitens stets gegen
einen konkreten Gegner dieser für richtig anerkannten Ordnung. Drittens gilt sie
immer nur für eine übergangszeit. Viertens steht sie im Auftrag einer höchsten,
entweder schon konstituierten oder stets konstituierend, dafür aber formlos bleiben-
den Autorität, die auch aller positiven Rechtsordnung noch überlegen ist. Fünftens
wird sie mit rein zweckorientierten Maßnahmen ohne rechtliche Rücksichten aus-
geübt. Sie ist also Gewaltherrschaft und ein Zustand der Rechtlosigkeit in jedem
Fall, aber wegen der Abhängigkeit von der Vorstellung einer richtigen Verfassung
und von einem konkret zu beseitigenden Gegner kein Despotismus und kein Dauer-
zustand.
Immerhin zeigt Carl Schmitts Begriff der Diktatur, daß in ihr die kommissarische
und die souveräne Diktatur letztlich zusammenfallen wie Diktaturgewalt und Sou-
780 A. a. 0., S. 137.
781 A. a. 0., S. 145.
782 A. a. 0., S. 138.
783 A. a. 0., S. 145 f.
784 A. a. 0., S. 145.
m A. a. 0., S. 146.
186 Die Ideologie in der Kategorienbildung

veränität letztlich zusammenfallen: in der Fülle unbedingter Staatsgewalt. Das Kri-


terium der Souveränität ist die Entscheidung über den Ausnahmezustand. Die im
Ausnahmezustand wirkende Gewalt ist die Diktaturgewalt. Die Möglichkeit der
rechtlich unbeschränkten und unbeschränkbaren, rein zweckorientierten diktatorischen
Aktion ist es also, die das Kriterium der Souveränität bildet. In der Sache fallen also
Souverän und Diktatur zusammen. Im konsequenten Repräsentationsstaat der abso-
luten Monarchie ist die Diktaturgewalt kein Problem. Der Souverän ist selbst der
Diktator, der seine Kommissare entsendet, um unwiderstehlich zu setzen, was Ord-
nung ist. Umgekehrt ist im konsequenten Identitätsstaat der Diktator der Souverän.
Auch wenn es formell als der Souverän gilt, kann das Volk doch nicht das Kriterium
der Souveränität erfüllen, es kann in seiner Vielköpfigkeit nicht über den Ausnahme-
zustand entscheiden. Ob außerdem derjenige, der über den Ausnahmezustand ent-
scheidet, das Volk als pouvoir constituant oder als pouvoir constitue betrachtet und
sich demgemäß als kommissarischer oder souveräner Diktator geriert, hängt einzig
von seinem Willen ab.
Ob etwas Aufruhr oder Revolution ist, entscheidet sich schließlich erst am Erfolg
der Aktion des Diktators. Er kann den Tatbestand, der den Ausnahmezustand be-
gründet, als Aufruhr betrachten, sich aLs kommissarischen Diknator des pouvoir
constitue verstehen und ihn zu beseitigen versuchen, indem er den Aufruhr nieder-
schlägt. Er kann diesen Tatbestand aber auch als Revolution betrachten, sich als
souveränen Diktator des pouvoir constituant verstehen und ihn zu beenden versuchen,
indem er der Revolution zum Siege, dem Volkswillen zum Erfolg und einer neuen
Ordnung zum Werden verhilft. Ob der schließliche Sieger kommissarischer oder
souveräner Diktator ist, hängt also allein vom Erfolg der Aktion ab. Es zeigt sich
somit, ,daß auch in Carl Schmitts Diktaturtheorie die Unterschei.dungen letztlich in
eins zusammenfallen. Seine Option für die konsequente politische Form setzt sich in
allen diesen Begriffsbildungen durch, wie diese umgekehrt ihre letzte Evidenz auch
nur aus dieser Option erhalten.
Gemäß solchen Begriffsbildungen von Staat, Souveränität, Diktatur, Repräsen-
tation und Identität ergibt es sich denn auch, daß in earl Schmitts Vorstellungen von
Demokratie Demokratie und Diktatur miteinander vereinbar sind. Der demokratische
Führer kann den Willen, aus dem er hervorgeht und auf dessen Vertrauen er beruht,
selbst erst hervorbringen. 786 Die absolute Demokratie, wie Carl Schmitt sie versteht,
verwirklicht sich also im Cäsarismus bzw. seinen Spielarten von Bonapartismus und
"Führertum" im nationalsozialisti'ichen Sinne. So kann es nicht wundernehmen, daß
Carl Schmitt im totalen Führerstaat, wie ihn das Dritte Reich verwirklichte, die
Erfüllung des konsequenten Identitätsstaats sieht.

786 Vgl. o. IV. Teil, Zweites Kapitel.


Drittes Kapitel

DIE IDEOLOGIE IN DER GESCHICHTSDEUTUNG

Konnte versuchsweise für den Begriff des Politischen, den Begriff der Verfassung,
earl Schmitts politische Formprinzipien der Identität und Repräsentation, für die
Begriffe der Souveränität und der Diktatur gezeigt werden, wo sich ihre ideologischen
Komponenten erkennen lassen und inwiefern interpretiert werden darf, daß sich in
ihnen die Option für die konsequente, die Rechtsstaatlichkeit verneinende, politische
Form, d. h. die Apologie für den totalen Führerstaat zurechtlegt, so kann entsprechen-
des auch inden Geschichtsdeutungen earl Schmitts ausgemacht werden, in denen sich
eine Option für den autoritären Regierungsstaat begründet.

Historisch-soziologische Relativierung des parlamentarischen Systems


Die Option für die konsequente politische Form, deren Erfüllung unter den gesell-
schaftlichen Bedingungen des 20. Jahrhunderts der totale Führerstaat ist, diese Option
leitet überall earl Schmitts Interpretion der Geschichtszusammenhänge. Das soll jetzt
zu zeigen versucht werden.
Zu Beginn dieser Arbeit, im I. Teil, waren die rechtsstaatliche Idee, daß nicht Men-
schen und Obrigkeiten herrschen, sondern allein vernünftige Gesetze gelten sollten,
sowie das Modell des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates dargestellt worden, wie
earl Schmitt sie glaubte begreifen zu müssen. earl Schmitt, und das ist hier bedeu-
tungsvoll, relativiert nun aber die Legitimität und Funktionalität des parlamentari-
schen Systems, und zwar auf eine bestimmte einmalige und schon vergangene histori-
sche Situation, auf bestimmte gesellschaftliche und politische Konstellationen des
19. Jahrhunderts. Er relativiert auch die Rechtsstaatsidee auf die Ideologie des bürger-
lichen Liberalismus. Durch diese Relativierung wird die Möglichkeit, daß für die
gegenwärtige Gesellschaft des 20. Jahrhunderts das parlamentarisch-demokratische
System noch funktionell und legitim sein könnte, abgeleugnet.
Das parlamentarische System ist in den Augen earl Schmitts "keine selbständige
politische Form, weder eine besondere Staatsform noch eine besondere Regierung!s-
form".787 Es erscheint ihm vielmehr als eine auf Verhinderung jeder strikten Souverä-
nität und auf Neutralisierung jeder Staatsgewalt angelegte Deformation konsequen-
ter politischer Formen. Es entspringt keinem der beiden politischen Formprinzipien,
denn es entspricht weder einer konsequenten Durchführung des Repräsentationsprin-
zips, noch ist es eine Folgerung oder Anwendung des demokratischen Prinzips .der
Identität. Sondern es gehört zum System des bürgerlichen Rechtsstaats, ist dessen
eigentliches Regierungssystem und besitzt nur zu ihm einen spezifischen Zusammen-
hang. Das parlamentarische System entspringt also im Grunde nicht einem politischen,
sondern dem liberalen, d. h. nach earl Schmitt, einem antipolitischen Willen. Es ent-
hält zwar politische Formelernente, aber nur, um sie gegeneinander auszubalancieren
und eines mit dem anderen zu hemmen. Daher kann keines dieser politischen Form-
787 Schmitt, Verjassungslehre (Anm. 21), S. 305.
188 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

elemente aus sich heraus zum Tragen kommen, so ·daß das ganze System letztlich doch
nur im Dienste der liberalen, die politischen Formen auflösenden Interessen steht. Das
parlamentarische System entspricht so der Eigenart des bürgerlichen Verfassungsideals,
die darin liegt, "daß eine Organisation des Staates unter einem gegenüber der Staats-
gewalt kritischen und negativen Gesichtspunkt - Schutz des Bürgers gegen Mißbrauch
der Staatsgewalt - unternommen wird. Weniger der Staat selbst als die Mittel und
Methoden seiner Kontrolle werden organisiert; es werden Sicherungen gegen staatliche
übergriffe geschaffen und Hemmungen in der Ausübung staatlicher Macht herbeizu-
führen gesucht." 788
Das parlamentarische System erscheint also nach Darstellung Carl Schmitts als ein
System "labilen Gleichgewichts politischer Formen, in welchem Gesichtspunkte der
Identität wie der Repräsentation, monarchische, aristokratische wie demokratische
Strukturelernente nebeneinander verwertet werden" .789 Es beruht auf einer eigentüm-
lichen Vermischung verschiedener und sogar entgegengesetzter politischer Form-
elemente, die sich gegenseitig relativieren und balancieren sollen. Darin wird in den
Augen Carl Schmitts deutlich, daß das parlamentarische System letztlich liberalen
Interessen und nicht einem politischen Willen entspricht.
Das parlamentarische System des bürgerlichen Rechtsstaats hat während des 19.
Jahrhunderts in fast allen europäischen Ländern den Namen "Repräsentativsystem"
oder "Repräsentativverfassung" erhalten. Schon Kant hatte ·diesen Ausdruck ver-
wandt. 790 Das Parlament gilt in dieser Ideen welt demnach als eine Repräsentation des
ganzen politisch geeinten Volkes, der Nation. Und dieser repräsentative Charakter
der Volksvertretung wird, wie Carl Schmitt interpretiert, mit Nachdruck vorgebracht,
solange noch eine Monarchie besteht und also der Monarch den Anspruch erhebt, der
Repräsentant der politischen Einheit zu sein. Das Parlament stellt sich auf diese
Weise als eine repräsentierende Elite, als eine aristokratische Versammlung mit reprä-
sentativem Charakter dar. Für die Legislative im parlamentarischen System des bür-
gerlichen Rechtsstaats kommen also aristokratische Gedanken zur Anwendung. Dazu
tritt in manchen Ländern noch die ebenfalls aristokratisch gemeinte Einrichtung eines
Oberhauses oder Senats, so daß in der Legislative dann zwei Kammern die Nation
repräsentieren. Wenn Carl Schmitt seine Unterscheidung zweier politischer Form-
prinzipien - Identität und Repräsentation - auf den Parlamentarismus anwendet, so
stellt sich ihm dieser im ersten Anblid>. als eine besondere Art von Repräsentation dar.
"Die Herrschaft des Parlaments ist ein Fall von Aristokratie (oder, in der entarteten
Gestalt: Oligarchie)." 791
Die Aristokratie ist schon in sich eine gemischte Staatsform, weil sLe gleichsam zwi-
schen Monarchie und Demokratie steht. Daher wird sie in der Lehre von der gemisch-
ten Staatsform auch gern als ein Mittleres zwischen zwei Extremen und als eine Form
der Mäßigung empfohlen. Die Aristokratie beruht im Gegensatz zur unmittelbaren
Identität der Demokratie auf einer Repräsentation. Zugleich aber nimmt sie auch dem
Personalismus, zu dem das Repräsentationsprinzip immer hindrängt, seine extreme
Konsequenz, denn sie läßt die absorbierende Repräsentation durch einen einzigen
Menschen, durch den absoluten Monarchen, nicht zu, sondern verteilt sie auf eine
Mehrheit von Personen. Gleichwohl bleibt sie doch Repräsentation und damit im
eigentlichen Gegensatz zur Demokratie. Die sogenannte "repräsentative Demokratie"
erscheint Carl Schmitt daher nicht als eine Unterart der Demokratie, sondern als eine
788 A. a. 0., S. 41.
78. A. a. 0., S. 305.
710 Immanuel Kant, .Metaphysisdte Anfangsgründe der Redttslehre", Zweiter Teil, 1. Abschnitt, in: lmmanuel
Kanu Werke, hrsgg. von Ernst Cassirer, Bd. VII, Berlin 1922, S. 149.
781 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 218.
Historisch-soziologische Relativierung des parlamentarischen Systems 189

typische Misch- und Kompromißform. "Das Repräsentative enthält nämlich gerade


das Nichtdemokratische an dieser ,Demokratie'." 792
Selbst wenn aber das Parlament eine ursprünglich aristokratische Versammlung ist
und somit im parlamentarischen System der aristokratische Repräsentationsgedanke
zur Anwendung kommt, so wird doch keineswegs eine restlose Aristokratie durch-
geführt. Die für die bürgerlich-rechtsstaatliche Verfassung charakteristische Mischung
und Relativierung der politischen Formprinzipien bleibt bestehen. "Das Aristokrati-
sche ist hier nur ein Formelement neben anderen, das parlamentarische System
keint' eigene politische Form, sondern eine Balancierung entgegengesetzter Formen ...
zum Zweck der Gewaltenunterscheidung" .1 93 Für die Exekutive, d. h. die Regierung,
werden im parlamentarischen System monarchische Organisationsformen benutzt, ein
König oder ein Staatspräsident, um im Dienste der Gewaltenbalancierung die Re-
gierung gegenüber dem Parlament zu stärken. "Ein Staatshaupt, als Chef der Exeku-
tive, gehört notwendig zu diesem ganzen System und wird vielfach sogar auch gegen-
über dem Parlament als ein Repräsentant ,des Volkes eigens konstruiert, so daß selbst
in Republiken demokratischen Prinzips der Dualismus der konstitutionellen Monarchie
(König und Parlament als die beiden Repräsentanten der Nation) wieder erscheint." 794
Schließlich werden demokratische Organisationsformen benutzt. Das nicht repräsen-
tierte Volk ist nicht nur Wählerschaft, sondern besitzt auch eine unmittelbare Ent-
scheidungsgewalt. Auf diese wird zurückgegangen, wenn dem unmittelbaren Volks-
entscheid etwa sachliche Fragen vorgelegt werden oder wenn bei einem Konflikt
zwischen Regierung und Parlament dem Volk die Entscheidung des Konflikts über-
tragen wird. Dadurch erscheint dann das Volk gegenüber Parlament und Regierung
als der höhere Dritte und als der Träger einer Balance zwischen beiden. Daraus folgert
Carl Schmitt: "Es kommen also sämtliche Formelemente zusammen, aber relativiert
und balanciert, und diese Verbindung und Mischung ist für die moderne bürgerlich-
rechtstaatliche Verfassung und ihr parlamentarisches System das Wesentliche." 795
Das labile Balancierungsgleichgewicht, das auf diese Weise im parlamentarischen
System erreicht wird, kommt in besonderer Weise den politischen Tendenzen des
liberalen Bürgertums und dem bürgerlichen Rechtsstaat entgegen. Dadurch wird näm-
lich jeder Absolutismus ausgeschlossen, handle es sich nun um den der Monarchie oder
um den der Demokratie oder um den des Parlaments selbst. Als das Bürgertum in
Europa um seinen Rechtsstaat kämpfte, bevorzugte es keines der beLden politischen
Formprinzipien, sondern wandte sich, wie earl Schmitt deutet, "gegen jede Art des
staatlidlen Absolutismus und daher in gleicher Weise gegen eine absolute Demokratie
wie gegen eine absolute Monarchie, gegen extreme Identität wie gegen extreme Re-
präsentation".796 Das Bürgertum war eigentlich nur an der Verwirklichung seiner
liberalen Forderungen nach Freiheit, Rechtssicherheit und Privateigentum interessiert.
Da die politische Situation es jedoch dazu zwang, gegen die alten politischen Gewal-
ten selbst politische Mittel einsetzen zu müssen, gestaltete sich in seinen politischen
Forderungen als Ziel seiner Bewegung das parlamentarische System. Dieses System ist
die eigentlich politische Forderung des liberalen Bürgertums. Es ist in den Augen
Carl Schmitts aber keine ursprünglich politische Forderung, sondern eine politische
Forderung nur im abgeleiteten Sinne, nur aus der Antiposition zum echt politischen
monarchischen Absolutismus. Es erscheint Carl Schmitt daher "durchaus folgerichtig,
wenn gerade dieses System als ein weiteres, zu den andern Kennzeichen einer red1t-
792 Ebda.
793 A. a. 0., S. 220.
". Ebda.
m Ebda.
7•• A. a. 0., S. 216.
190 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

staatlichen Organisation hinzukommendes Erfor·dernis eines ,freien' Staates aufgefaßt


wird" .797 Vom Standpunkt bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit erscheint das parlamen-
tarische System in der Tat als die fast einzige Form voller politischer Freiheit und als
ein bewundernswertes System. "Erst die gegenseitige Balancierung aller politischen
Form-Elemente vollendet nämlich den rechtstaatlichen Bestandteil der modernen Ver-
fassung und schützt ihn, soweit es nur möglich ist, vor den Folgen und Anwendung.-
möglichkeiten, die ihn, aus dem politischen Bestandteil her, ständig bedrohen. Die
Einheitlichkeit dieses politischen Bestandteils wird aufgelöst, und den einzelnen, aus-
balancierten und gemischten Form-Elementen ist die Möglichkeit eines politischen Ab-
solutismus genommen. "798
Das parlamentarische System ist also nach Darstellung earl Schmitts vor allem
Ausdruck und Mittel für die Interessenten einer bürgerlichen Rechtsstaatlichkeit. Es er-
scheint als das politische System des bürgerlichen Rechtsstaats. Der maßgebliche Ge-
sichtspunkt seiner Gestaltung bleibt nach Auffassung earl Schmitts die Gewaltentei-
lung zwischen Legislative = Parlament und Exekutive = Regierung, die beide gegen-
einander balanciert sind, nachdem sie zuvor getrennt wurden. Dem parlamentarischen
System entspricht daher im Vorbildsfalle nach Meinung earl Schmitts nicht die sog.
parlamentarische, d. h. vom Vertrauen des Parlaments abhängige Regierung. Die Re-
gierung hat vielmehr im parlamentarischen System, jedenfalls in dessen echter Form,
vom Parlament unabhängig zu sein, und zwar schon, um als Exekutive eindeutig han-
deln zu können, an statt an das ewige Diskutieren des Parlaments gebunden und da-
durch gehemmt zu sein. Zwischen Parlament und Regierung soll ein balanciertes Gleich-
gewicht bestehen. Das Wesen des echten Parlamentarismus liegt "gerade darin, daß
die Exekutive nicht das untergeordnete Instrument des Parlamentswillens ist, sondern
ein Gleichgewicht zwischen beiden Gewalten besteht" ,799 das durch Auflösungsbefugnis
der Regierung und Möglichkeit der Herbeiführung eines Volksentscheids bewirkt wer-
den mag. earl Schmitt schließt sich in dieser Richtung der Theorie von Robert Redslob
an. 800 Daher erscheint ihm denn auch das Bürgerkönigtum in Frankreich als das klas-
sische Stadium des Parlamentarismus und des bürgerlichen Rechtsstaats, da hier durch
die Fortexistenz des Königtums eine solche Balancierung mit dem Parlament gegeben
und doch der Hauptzweck, die Gewaltenteilung und Machteinschränkung des König-
tums, erreicht war.
Gleichwohl leidet, wie earl Schmitt es gemäß seiner Option für die konsequente
politische Form deutet, das parlamentarische System an dem gleichen Grundmangel,
der der rechtsstaatlichen Idee überhaupt eignet. Es will, wie er schreibt, "die letzte,
unabwendbare, pditische Entscheidung und Konsequenz der politischen Formprinzi-
pien umgehen" .801 Das parlamentarische System entspringt der bürgerlich-liberalen Vor-
stellungswelt, und das ist für earl Schmitt: dem innerlich unmöglichen Versuch, der
absolutistischen Konsequenz der politischen Formen ausweichen zu wollen. Das parla-
mentarische System entspricht darin genau der Zwischenstellung, die ,das liberale
Bürgertum im 19. Jahrhundert einnimmt.
Das liberale Bürgertum stand im 19. Jahrhundert zwischen absoluter Monarchie
und nachdrängender proletarischer Demokratie. Einerseits besaß die monarchische
Regierung im 19. Jahrhundert noch eine selbständige Macht, die sich auf Heer und
Beamtentum gründete und die erst durch die bürgerlichen Revolutionen gezwungen
197 A. a. 0., S. 305 f.
79. A. a. 0., S. 306.
"9 A. a. 0., S. 304.
BO. Robert Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form. Ein Vergleich.
Studie über die Ver;assungen von England, Belgien, Ungarn, Schweden und Frankreich, Tübingen 1918.
B" Schmitt, Ver;assungslehre (Anm. 21), S. 305.
Historisch-soziologische Relativierung des parlamentarischen Systems 191

werden mußte, ihre Herrschaft zu beschränken. Und selbst nachdem diese Revolutio-
nen zu einem gewissen Erfolg geführt hatten, mußte sich das Bürgertum weiter gegen
das monarchische Prinzip verwahren, hatte es die Restauration der alten Einrichtun-
gen zu befürchten - Carl Schmitt denkt hier vor allem an die Entwicklung in Deutsch-
land und Frankreich. Anderseits aber war das Bürgertum nicht mehr, wie noch in der
Französischen Revolution von 1789, mit dem Volk identisch. Damals konnte sich
der dritte Stand als die Nation fühlen, erschien das Bürgertum als das Volk, "weil es
der Gegensatz zur Aristokratie und zu den Privilegierten war" .802 Inzwischen aber
war das Bürgertum zu einer durch Bildung und Besitz ausgezeichneten und im Staat
einflußreichen Klasse geworden. Es gehörte jetzt selbst unter die Privilegierten und
konnte sich also nicht länger mehr mit dem Volk identifizieren. So wurde das Pro-
letariat, d. h. die nichtbesitzende und vom produzierten Mehrwert ausgeschlossene
Bevölkerungsschicht, zum Volk. "Gegenüber der besitzenden Klassen erscheint es
[das Proletariat] daher in einem besonders intensiven Sinne als Volk." 803 nie Vor-
stellung von "Demokratie wird zu einer proletarischen Demokratie und beseitigt den
Liberalismus des besitzenden und gebildeten Bürgertums" .804 Das Bürgertum wendet
sich daher um seiner eigenen Interessen willen auch gegen die radikale demokratische
Bewegung. Die liberalen Theoretiker betonen, wie Carl Schmitt bemerkt, immer wie-
der, daß insbesondere die Souveränität des Volkes ihre Grenzen haben müsse und daß
auch in der Demokratie die Grundsätze der Grundrechte und der Gewaltenteilung
nicht verletzt werden dürfen. Als Zeugen für diesen antidemokratischen Vorbehalt
der bürgerlichen Bewegung führt Carl Schmitt Benjamin Constant (mit einer aller-
dings wenig überzeugenden Stelle) an,805 Guizot (der die konsequent durchgeführte
Demokratie Anarchie und Chaos nennt), Tocqueville (der von den Gefahren des de-
mokratischen Despotismus und der egalitären Tyrannei redet) sowie J. St. Mill (der
die Gedanken- und Diskussionsfreiheit gegen die Souveränität und die souveränen
Beschlüsse des Volkes verteidigt).
Die Zwischenstellung des liberalen Bürgertums zwischen Monarchie und radikaler
Demokratie, die von vielen Beobachtern, u. a. F. J. Stahl, K. Marx, L. v. Stein bemerkt
wurde, beschreibt Carl Schmitt wie folgt: "Das kritische Jahr 1848 hatte die Lage sehr
auffällig gezeigt: gegenüber den politischen Ansprüchen einer starken Monarchie
machte das Bürgertum die Rechte des Parlaments, d. h. der Volksvertretung, also
demokratische Forderungen geltend; gegenüber einer proletarischen Demokratie suchte
es Schutz bei einer starken monarchischen Regierung, um bürgerliche Freiheit und
Privateigentum zu retten. Gegenüber Monarchie und Aristokratie berief es sich auf die
Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, gegenüber einer kleinbürgerlichen oder proleta-
rischen Massendemokratie auf die Heiligkeit des Privateigentums und einen recht-
staatlichen Gesetzesbegriff. " 806
Das parlamentarische System mit seinen Mischungen, Relativierungen und Balan-
eierungen verschiedener politischer Formelemente, so scheint es Carl Schmitt, ent-
spricht also genau dieser politischen Zwischenstellung des Bürgertums. Es steht im
Dienst der bürgerlich-rechtsstaatlichen Prinzipien und soll das Bürgertum in den Staat
integrieren oder umgekehrt den Staat in die bürgerliche Gesellschaft.
Das ganze System ist aber, in der Vorstellung Carl Schmitts, der hier charakteristi-
scherweise die ganze Institutionenordnung moderner politischer Kultur relativiert,
nur dadurch ermöglicht und getragen, daß das Bürgertum gebildet und besitzend ist.
80! A. a. 0" S. 243.
8.. Ebda.
8" Ebda.
'0; A. a. 0 .. S. 201.
8.. A. a. 0., S. 309.
192 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

Wenn diese beiden Vüraussetzungen, Bildung und Besitz, geschichtlich nicht mehr
zusammentreffen und auseinanderfallen, »entfällt die kunstvülle Künstruktiün eines
labilen Gleichgewichts und der Mischung pülitischer Fürmen" .807 Das parlamentarische
System gilt earl Schmitt also. nur als eine bestimmte Integratiünsmethüde und als in
düppelter Weise geschichtlich und gesellschaftlich bedingt. Es integriert nur das be-
sitzende und gebildete Bürgertum und dieses nur inden im 19. Jahrhundert nüch
bestehenden münarchischen Regierungsstaat.
Die unersetzliche Vüraussetzung des Parlamentarismus ist nach Deutung earl
Schmitts die Existenz eines besitzenden und vür allem gebildeten Bürgertums. Die
Vüraussetzung scheint für die innere Lügik des Parlamentarismus geradezu sinnge-
bend. »Die Bildung ist eine persönliche Qualität und deshalb fähig, in dem System
einer Repräsentatiün verwendet zu werden. Das bürgerliche Parlament des 19. Jahr-
hunderts ist seiner Idee nach eine Versammlung gebildeter Menschen, welche Bildung
und Vernunft repräsentieren, und zwar die Bildung und Vernunft der ganzen Na-
tiün." BOB Auch der Begriff der Natiün, meint earl Schmitt, ist ursprünglich ein Bil-
dungsbegriff. Ein völlig bildungslüses Vülk wäre auch ühne geschichtliches Bewußt-
sein, und ein geschichtslüses Vülk könnte nicht Natiün sein. Das Parlament erscheint
als eine allgemeine Natiünalrepräsentatiün, wie der Freiherr vüm Stein sagte. Zum
Zeugnis dafür, daß die Vertreter des bürgerlichen Rechtsstaatsgedankens und der
Rechte des Parlaments sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein über
die Unabdingbarkeit dieses Bildungserfürdernisses im klaren gewesen seien, führt
earl Schmitt Zitate aus Bluntschli, Hegel, Gneist, Waitz, Guizot und Renan an. Später
allerdings sei das Wissen und Bewußtsein um den Repräsentatiünsbegriff und seine
Implikatiünen verfallen.
Es sind immer nur die gebildeten und besitzenden Klassen, die die Grundlage des par-
lamentarischen Systems bilden können und die mit Hilfe des Parlaments in den Staat
einbezügen werden süllen. earl Schmitt zitiert sich verschiedene liberale Theüretiker,
um seine Auffassung zu bekräftigen, daß der Parlamentarismus ein ganz an eine be-
stimmte historische Epüche und an die Existenz eines gebildeten und besitzenden Bür-
gertums gebundenes System und darauf relativ sei. Man ging "immer davün aus, daß
nur die gemäßigten ... Parteien als Träger eines echten Parlamentarismus in Betracht
kümmen" .809 "In der Mitte zwischen dem Vülk, d. h. den Methoden einer unmittelbaren
Demükratie, und der Regierung, d. h. einer auf Militär und Beamtenturn gestützten
Staatsgewalt, beruht die überlegenheit des bürgerlichen Parlamentes darauf, daß es
der Platz einer vernünftigen Diskussiün ist. Der münarchische Absülutismus ist blüße
Macht und Befehl, Willkür und Despütismus; die unmittelbare Demükratie ist die
Herrschaft einer vün Leidenschaften und Interessen getriebenen Masse, sie ist, wie der
Liberale Burke sagt und der Liberale Bluntschli mit lebhafter Zustimmung zitiert ... ,
,das schamlüseste Ding auf der Welt'. Zwischen bei den und über bei den steht als die
wahre Mitte das in öffentlicher Diskussiün die vernünftige Wahrheit und die gerechte
Nürm findende Parlament. Die Diskussiün ist das Humane, Friedfertige, Fürtschritt-
liche, der Gegensatz zu jeder Art Diktatur und Gewalt. Daß im Wege einer ratiünalen
Diskussiün alle denkbaren Gegensätze und Künflikte friedlich und gerecht beigelegt
werden können, daß man über alles reden und mit sich reden lassen kann, ist die welt-
anschauungsmäßige Grundlage dieses liberalen Parlamentarismus." BIO
Die Funktiünalitäts- und Legitimitätsvüraussetzungen des parlamentarischen Sy-
stems bestehen nach Meinung earl Schmitts also. nur sülange, wie es ein ß,esitzbürger-
8.7 A. a. 0., S. 310.
8.8 A. a. 0., S. 310 f.
8 •• A. a. 0., S. 308.
810 A. a. 0., S. 315.
Historisch-soziologische Relativierung des parlamentarischen Systems 193

turn gibt, welches zugleich gebildet ist. Denn nur die Bildung ist eine repräsentations-
fähige Qualität. "Der Besitz ist keine Qualität, die repräsentiert werden kann." 811
Treten Besitz und Bildung auseinander, so geht ,der repräsentative Charakter des
Parlaments verloren. "In dem Maße, in welchem das Bürgertum den politischen Kampf
nur noch unter dem Gesichtspunkt seines wirtschaftlichen Interesses führte und der
Glaube an einen repräsentativen Charakter verschwand, konnte es s,ich auch damit
begnügen, den politischen Einfluß, den es brauchte, mit Hilfe seiner wirtschaftlichen
Macht durchzusetzen und sich im übrigen mit den verschiedensten Regierungen abfin-
den: mit Bonapartismus, konstitutioneller Monarchie ,deutschen Stiles und demokra-
tischer Republik, sofern nur das Privateigentum nicht bedroht und der Einfluß der
wirtschaftlichen Interessen auf die Zusammensetzung der Volksvertretung nicht ge-
fährdet war." 812
Ist also das parlamentarische System in seiner Eigentümlichkeit, seiner Legitimität
und Funktionalität, in der Geschichtsdeutung Garl Schmitts relativ auf die bestimmte
historisch-soziologische Konstellation der Existenz einer Besitz und Bildung vereini-
genden bürgerlichen Gesellschaft, so erscheint es in dieser Geschichtsdeutung Carl
Schmitts ebenfalls als relativ auf die bestimmte historisch-politische Konstellation der
Existenz einer immer noch als eigene, auf Beamtenturn und Heer gestützte Macht
fortbestehenden Monarchie. Es konnte, meint Carl Schmitt, nur in der dualistischen
Struktur eines Gegenüber von Staat und Gesellschaft fungibel sein.
Die "Gesellschaft" war im wesentlichen ein polemischer Begriff und eine Gegen-
vorstellung gegen den noch bestehenden monarchischen Militär- und Beamtenstaat und
umfaßte alles, was nicht zu diesem Staat gehörte. Dieser Staat seinerseits war noch
"stark genug, um sich den übrigen sozialen Kräften selbständig gegenüberzustellen
und dadurch die Gruppierung von sich aus zu bestimmen".813 Das heißt: der Staat
war es, der das Schwergewicht in ,der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit auf sei-
ner Seite hatte. Die Gesamtstruktur war primär immer noch durch die Staatlichkeit
bestimmt. Die Beschränkungen, die der Staatsgewalt von ,der Gesellschaft, die sich zu
emanzipieren strebte, auferlegt wurden, waren nur Beschränkungen und bewirkten
nicht eine gänzliche Unterwerfung des Staates unt;er die Gesellschaft. Dadurch, daß
der Staat in diesem Sinne noch "stark genug" war, ergibt sich nach Auffassung Carl
Schmitts, "daß alle die zahlreichen Verschiedenheiten innerhalb der ,staatsfreien' Ge-
sellschaft - konfessionelle, kulturelle, wirtschaftliche Gegensätze - von ihm aus, und
nötigenfalls durch den gemeinsamen Gegensatz gegen ihn, relativiert wurden und die
Zusammenfassung zur ,Gesellschaft' nicht hinderten".814 Nach Auffassung Carl
Schmitts bedurften diese innergesellschaftlichen Gegensätze also der Relativierung
durch einen noch starken Staat und hätten ohne diesen Widerpart ,die Einheit der
Gesellschaft zersprengt. In dieser dualistischen Struktur war die politische Einheit ein
Regierungsstaat - durch die monarchisch unabhängige Regierung - und ein Gesetz-
gebungsstaat - durch das legislative bürgerliche Parlament - zu gleicher Zeit. Der
monarchische Staat war nicht mehr "absolut und nicht so stark, daß er alles Nicht-
Staatliche bedeutungslos gemacht hätte", so daß man "einen religions- und weltanscha;u-
ungslosen, sogar völlig agnostischen Staat für möglich halten und eine staatsfreie Wirt-
schaft wie einen wirtschaftsfreien Staat konstruieren" konnte. "Der bestimmende
Beziiehungspunkt bIieb jedoch der Staat, weil dieser in konkreter Deutlichkeit und
Untersche~dbarkeit vor Augen stand." 815

811 A. a. 0., S. 311.


812 A. a. 0., S. 312.
813 Schmitt, Der Hüter . .. (Anm.33), 5.73.
814 Ebda.
815 Ebda.
194 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

Diesem Staat stand ,die bürgerliche Gesellschaft gegenüber, und seine Gewalt suchte
sie in ihrem Interesse zu beschränken. Diesem Ziel dienten alle liberaldemokratischen
Institutionen ,des bürgerlichen Verfassungs- und Rechtsstaats. Das Parlament als Trä-
ger der Tendenz zum Gesetzgebungsstaat insbesondere war, wie earl Schmitt dar-
stellt, "laIs der Schauplatz gedacht, auf dem die Gesellschaft erschien und dem Staat
gegenübertrat. Hier sollte sie sich in den Staat (oder der Staat sich in sie) hineininte-
grieren".816 Das Parlament erscheint als der eigentliche Garant der Verfassung und
als ein zweiter Repräsentant der politischen Einheit neben dem König. Der Kampf
zwischen bürgerlichem Parlament und monarchischer Regierung geht dann vor allem
um die Abgrenzung von parlamentarischem Gesetzgebungs- und königlichem Verord-
nungsrecht.
Aber earl Schmitt sieht die Funktionalität dieses Systems wiederum abhängig
vom monarchischen Gegenspieler: Die Stellung der gesetzgebenden Körperschaft als
zweiter Repräsentant "war nur in einer bestimmten Situation möglich. Es ist dabei
nämlich immer vorausgesetzt, daß das Parlament, die gesetzgebende Versammlung,
als Vertreter des Volks oder der Gesellschaft - beides, Volk und Gesellschaft, kann
solange identifiziert werden, als beides noch der Regierung und dem Staat entgegen-
gestellt wird - einen von ihm unabhängigen, starken monarchischen Beamtenstaat als
Partner des Verfassungspakts vor sich sieht. Das Parlament, soweit es Volksvertretung
ist, wird hier wm wahren Hüter und Garanten der Verfassung, weil der Vertrags-
gegner, die Regierung, nur widerwillig den Vertrag geschlossen hat. Die Regierung
verdient daher Mißtrauen." 817
Unter der Bedingung der Existenz einer noch immer starken Monarchie konnte,
so deutet earl Schmitt, auch die Monopolisierung der Gesetzgebung durch das Parla-
ment erträglich sein. Aber eben nur unter ,dieser Bedingung, nur unter der Bedingung,
daß der parlamentarische Gesetzgehungsstaat noch nicht vollendet war. "Das Gesetz-
gebungsverfahren enthielt mit seinen komplizierten Hemmungen und Gegengewich-
ten - Zweikammersystem der Legislative, unabhängige, auf Heer und Beamtenturn
gestützte königliche Regierung, königliche Sanktionen des Gesetzesbeschlusses, bundes-
staatliche Kontrollen und Balancen - genügend starke Garantien der Mäßigung und
einen genügend sicheren Schutz für Freiheit und Eigentum gegen Willkür und Miß-
brauch .der Gesetzesform. In einem solchen Staatswesen ist auch ein rein formaler, von
jedem Inhalt unabhängiger Gesetzesbegriff denkbar und erträglich." 818
In dem gleichen Augenblick aber, in dem sein Sieg vollständig zu sein schien, wurde
das Parlament, die gesetzgebende Körperschaft, der Träger und Mittelpunkt des Ge-
setzgebungsstaats, "ein in sich selbst widerspruchsvolles, die eigenen Voraussetzungen
und die Voraussetzungen seines Sieges verleugnendes Gebilde. Seine bisherige Stellung
und überlegenheit, sein Expansionsdrang gegenüber der Regierung, sein Auftreten im
Namen des Volkes, alles das setzte eine Unterscheidung von Staat und Gesellschaft
voraus, die nach dem Sieg des Parlaments jedenfalls in dieser Form nicht mehr weiter-
bestand. Seine Einheit, sogar seine Identität mit sich selbst, war bisher durch den
innenpolitischen Gegenspieler, den früheren monarchischen Militär- und Beamtenstaat,
bestimmt. Als dieser entfiel, brach das Parlament sozusagen in sich auseinander." 819
Mit der überwindung des monarchischen Militär- und Beamtenstaats verlor das Par-
lament die Funktion, Repräsentant und Schauplatz der Gesellschaft gegenüber dem
Staat zu sein, und hätte nun selbst und allein der Ort sein sollen, di,e letzte und oberste
Instanz, in der sich die Gesellschaft von sich aus zur politischen Einheit integrierte.
8 •• A. a. 0., S. 74.
8.7 A. a. 0., S. 77 f.
8'8 Schmitt, Legalität . .• (Anm. 34), S. 23.
8 •• Schmitt, Der Hüter . •• (Anm. 33), S. 82.
Historisch-soziologische Relativierung des parlamentarischen Systems 195

Es stellt sich aber, wie Carl Schmitt deutet, heraus, daß die Gesellschaft, als sie ihre
völlige politische Emanzipation erlangte, im gleichen Augenblick auch schon unfähig
zu einer eigenen und selbständigen politischen Integration war. Es zeigt sich darin für
Carl Schmitt, daß die Gesellschaft, und das Parlament als ihr oberstes Organ, nur
durch den alten Staat und seine Träger und Methoden zusammengehalten waren. Mit
der Vollendung ,des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats wird dieser zum Opfer
der pluralistischen Kräfte und das Parlament zum Schauplatz des pluralistischen
Systems,820 Dem Parlament, das vormals das zweite Zentrum der politisch-gesellschaft-
lichen Gesamtordnung war und zum einzigen ernsthaften Machtkonkurrenten nur die
unabhängige Regierung hatte, sind in Gestalt der Parteien und Verbände andere
Machtkonkurrenten erwachsen und gegenübergetreten, die es in dem gleichen Moment,
da es den Sieg über die vormals unabhängige Regierung davontrug, aus dem damit
gerade gewonnenen Zentrum der Gesamtordnung verdrängten und es in ihre eigenen
Machtbezirke, in Fraktionen und Ausschüsse, aufteilten.
Das Parlament, das der Idee nach, mit der es seinen Kampf gegen die unabhängige
Regierung rechtfertigte, der Träger und Mittelpunkt eines Gesetzgebungsstaats, das
oberste Organ der politischen Selbstintegration der Gesellschaft sein sollte, gab diese
erstrebte Funktion nach Meinung Carl Schmitts gerade in dem Augenblick an die in-
direkten gesellschaftlichen Gewalten ab, da es sie hätte übernehmen sollen. Also hingen
gemäß Carl Schmitts Option für die reine und konsequente politische Form und
gemäß der von dorther begründeten Absicht, das parlamentarisch-demokratische System
auf eine bestimmte historische Situation zu relativieren, die Legitimität wie die Funk-
tionalität des Parlamentarismus von der Existenz einer noch eigenkräftigen Monarchie
ab und entfielen mit dieser.
Diese Bedingtheit meint Carl Schmitt auch in anderer Hinsicht für die Repräsen-
tationsfähigkeit des Parlaments konstatieren zu müssen. Die liberale Forderung eines
repräsentativen Systems richtete sich gegen den absoluten Monarchen. Ihm, der als
alleiniger Repräsentant der politischen Einheit auftrat, stellte sich das Parlament als
zweiter Repräsentant gegenüber. Aber, so schreibt Carl Schmitt: "Als ,Repräsentant
des Volkes' (obwohl es in Wahrheit nur eine Repräsentation der politischen Einheit des
Volkes als des Ganzen geben kann), aus Wahlen des Volkes hervorgegangen, sprach
und handelte dieses Parlament gegenüber dem König nur im Namen des Volkes, reprä-
sentierte also die politische Einheit nicht kraft eigener Existenz und nicht in voller Un-
abhängigkeit, wenn <luch dem Volke gegenüber daran festgehalten wurde, daß das Par-
lament ,unabhängiger' Repräsentant ist. Das war offenbar eine labile Zwischenstellung
und nur ein übergang. Je mehr der Gegenspieler, die monarchische Repräsentation,
entfiel, um so mehr entfiel auch die Repräsentation des Parlamentes." 821 Das ist eine
für seine Beurteilung des parlamentarischen Systems des bürgerlichen Rechtsstaats wich-
tige Behauptung Carl Schmitts. Der aristokratische und repräsentative Charakter des
Parlaments schwindet hin, indem die Monarchie ihre Macht verliert. Nachdem der
monarchische Gegenspieler überwunden ist, gelingt es dem Parlament nicht, nun aus
sich selbst und aus eigener existentieller Kraft dem Volke gegenüber zu repräsentieren.
Die ehemaligen Repräsentanten werden zu bloßen Exponenten von Wählerinteressen
und zu Agenten von Interessengruppen; die Wahl erhält den umgekehrten Rich-
tungscharakter von oben nach unten, so daß die Gewählten bloß als die bestellten
Interessenvertreter und Agenten erscheinen.
Das parlamentarische System ist also nach Darstellung Carl Schmitts nur möglich,
solange es eine bürgerliche Gesellschaft gibt, die Besitz und Bildung vereinigt, und
solange es zugleich noch einen monarchischen Staat gibt, dem gegenüber das Parlament
820 Vgl. dazu o. II. Teil, Erstes Kapitel, insbes. Abschnitt "Die Auflösung des Staats in den Pluralismus·.
821 Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 219.
196 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

als zweiter Repräsentant der politischen Einheit und als Forum der Gesellschaft ge-
genüber dem Staat auftreten kann. So ist das parlamentarische System in der Deutung
Carl Schmitts also nur eine Zwischen- und übergangsform zwischen konsequenten
politischen Formen, nimmt nur die gleiche Zwischenstellung ein wie das Bürgertum
selbst. Gegenüber der absoluten Monarchieerschemt es als etwas Demokratisches, ge-
genüber ,der absoluten Demokratie erscheint es als etwas Repräsentatives. Es erscheint
aber eben nur als etwas Demokratisches, und es erscheint auch nur als etwas Reprä-
sentatives.
In W,ahrheit aber stellt es für Garl Schmitt überhaJupt keine politische Form dar,
sondern ,einen Abfall von der Entwicklung konsequenter politischer Formen, eine,
politisch betrachtet, schwächliche und nur sehr vorübergehend funktionsfähige
Mis,chform. Es ist das System des bÜl'gerlichen Rechtsstaats und das Produkt
der bürgerlichen Ideologie, »die überall eine Vielheit schafft, um in einem System von
Vermittlungen ein aus immanenter Dynamik sich ergebendes Gleichgewicht an die
Stelle einer absoluten Einheit zu setzen",822 einer Ideologie, in ,der nach Carl Schmitt
die Wahrheit »zu einer bloßen Funktion eines ewigen Wettbewerbs der Meinungen
wird", was der Wahrheit gegenüber »den Verzicht auf ein ,definitives Resultat" 823
bedeutet. Das parlamentarische System ist nach Ansicht Carl Schmitts das organisa-
torische Mittel, um das bürgerlich-rechtsstaatliche Verfassungsideal durchzusetzen. Das
aber läuft darauf hinaus, das Politische überhaupt beseitigen zu wollen. "Das Bestre-
ben des bürgerlichen Rechtsstaates geht ... ,dahin, das Poliuische zmückzudrängen, alle
Außerungen des staatlichen Lebens in einer Reihe von Normierungen zu begrenzen
und alle staatliche Tätigkeit in Kompetenzen, d. h. genau umschriebene, prinzipiell
begrenzte Zuständigkeiten zu verwandeln." 824
Der bürgerliche Rechtsstaat geht von der Vorstellung ,aus, »die gesamte Ausübung
aller staatlichen Gewalt restlos in geschriebenen Gesetzen erfassen und umgrenzen zu
können, so daß kein politisches Handeln irgendeines Subjekts - sei es der absolute
Monarch oder das politisch zum Selbstbewußtsein gekommene Volk -, keine Souverä-
nität mehr möglich ist, sondern verschiedenartige Fiktionen aufgestellt werden müs-
sen: daß es überhaupt keine Souveränität mehr gebe, oder, was das gleiche ist, daß
,die ,Vertassung', genauer: die yerfas~ungsgesetzlichen Normierungen, souverän seien
USW.".825 SO haben denn auch während der Restaurationszeit und unter der Juli-
monarchie in Frankreich die Vertreter des bürgerlichen Liberalismus wie Royer-Col-
lard, Guizot und auch Tocqueville, die Verfassung als »souverän" bezeichnet oder
wenigstens von einer "Souveränität der Vernunft" gesprochen, »Souveränität der
Gerechtigkeit" und ähnlichen Abstrakta. earl Schmitt kommentiert dazu: "Diese
merkwürdige Personifizierung eines geschriebenen Gesetzes hatte den Sinn, das Gesetz
mit seinen Garantien der bürgerlichen Freiheit und des Privateigentums über jede poli-
tische Macht zu erheben. Auf diese Weise war die eigentlich politische Frage, ob der
Fürst oder das Volk souverän sei, umgangen; die Antwort lautete einfach: weder der
Fürst noch das Volk, 'sondern ,die Verfa;s,sung' ist souverän ... Das ist .die typische Ant-
wort der Liberalen des bürgerlichen ~echtstaates, für welche sowohl die Monarchie
wie die Demokratie im Interesse der bürgerlichen Freiheit und des Privateigentums
beschränkt wird." 826
Die rechtsstaatlichen Freiheitsideale sind also in den Augen Carl Schmitts von vorn-
herein antipolitisch. Ursprünglich vielleicht noch von einem echten Normativismus
"2 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage . .. (Anm. 9), S. 51.
.23 A. a. 0., S. 46 .
Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 41.
.2.
• 24
A. a. 0., S. 107 f.
.21 A. a. 0., S. 7 f.
Historisch-soziologische Relativierung des parlamentarischen Systems 197

getragen, erweisen sie sich doch alsbald als die bloße Ideologie der bürgerlichen Eman-
zipationsbewegung und scheinen Carl Schmitt in der Konsequenz verhängnisvoll, weil
sie Dlur zur Neutralisierungder Staatsgewalt und damit letztlich zur Auflösung und
Zerstörung aller Ordnung überhaupt führen.
Es ist deutlich zu erkennen, wie sich gemäß Carl Schmitts Option für die konse-
quente politische Form, als deren Erfüllung dann der totale Führerstaat erscheint,
auch sein Geschichtsbild gliedert: Das Wirken ,der bürgerlichen Bewegung, die sich
auf demokratische Kräfte stützt, führt im Ergebnis zur Neutralisierung der Staats-
gewalt überhaupt. Es gelingt ihr vorerst, die Monarchie zu beschränken. Diese muß
also ihre konsequente politische Form aufgeben und büßt mehr oder minder an exi-
stentieller politischer Kraft ein. Sie wird einesteils legitimistisch und traditionalistisch.
Ihre Wiedererrichtung oder ihr Fortbestehen nach der Französischen Revolution be-
deutet dann nur noch eine Restauration des innenpolitischen status quo. Mit der Be-
rufung auf Legitimität aber gibt die Monarchie bereits ihren repräsentativen Charak-
ter auf, denn in der Zeit ihrer echten politischen Existenz war die Monarchie eben
absolut, legibus solutus, und hatt,e Legitimität nicht nötig. Carl Schmitt schreibt: "We,il
die politische Kraft zu lebendigen Formen der Repräsentation fehlte, suchte man sich
normativ zu sichern und übertrug wesentlich privatrechtliche Begriffe (Besitz, Eigen-
tum, Familie, Erbrecht) auf das politische Leben. Was von ·dem Formprinzip der Mon-
archie noch geschichtlich lebendig war, lag nicht in der Legitimität. Das Beispiel der
politisch stärksten Monarchie, des preußischen Königtums, ist hier deutlich genug.
Eine nichts wie ,legitime' Monarchie ist schon deshalb politisch und geschichtlich
tot." 827 Andernteils aber, dort, wo d~e Monarchie noch geschichtlich lebendig und
existentiell-politisch kräftig blieb, wurde sie doch jedenfalls zurückgedrängt.
Das zeigt sich für Carl Schmitt an mehreren Kennzeichen. So etwa daran, daß die
Monarchie nach der Französischen Revolution einen ursprünglich ganz antimonarchi-
schen Begriff wie den ·der verfassunggebenden Gewalt zu übernehmen und zur eigenen
Stützung auszuwerten suchte. Die Vorstellung einer verfassunggebenden Gewalt war
nach der Ablösung von den christlich-theologischen Vorstellungen des Mittelalters
- in denen jede irdische Gewalt bereits eine "constituta" war, weil eine "potestas con-
stitutiva" einzig Gott besitzt - als eine ausgesprochen demokratische und immanente
politische Vorstellung 3JUfgekommen. Der pouvoir constituant, wie ihn Sieyes benannt
hat, ist der pouvoir des Volkes. Es war also nach dem Urteil Carl Schmitts "im Grunde
eine bloße Defensive und nur als äußerliche Antithese möglich,die demokratische Lehre
von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes unverändert auf die Monarchie ... zu
übertragen" ,828
An sich kann es innerhalb jeder politischen Einheit "nur einen Träger der verfas-
sunggebenden Gewalt geben ... : entweder erläßt der Fürst auf der Grundlage des
monarchischen Prinzips aus der Fülle seiner Staatsgewalt eine Verfassung - oder die
Verfassung beruht auf einem Akt der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, d. h.
auf dem demokratischen Prinzip" .829 Ein Dualismus zweier Repräsentanten der politi-
schen Einheit und zweier Subjekte verfassunggebender Gewalt war nach Meinung
Carl Schmitts höchstens als hinausgeschobene Entscheidung und nur als dilatorischer
Formelkompromiß oder als Verschleierung und alles dies nur in ruhigen Zeiten mög-
lich. "Jeder echte Konflikt offenbart das einfache Entweder-Oder ·der einander aus-
schließenden politischen Formprinzipien. "830 In den politisch starken Monarchien
wurden denn auch die Konstitutionen <liuf der Grundl3ige des monarchischen Prinzips
827 A. a. 0., S. 212.
828 A. a. 0., S. 81.
829 A. a. 0., S. 53 f.
"0 A. a. 0., S. 54.
198 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

gegeben, sie wurden "oktroyiert" und in der Mitwirkung der Volksvertretung bei der
Textierung der Verfassungsgesetze eine verfassunggebende Gewalt des Volkes keines-
wegs anerkannt.
Trotzdem lag, wie earl Schmitt darstellt, in dieser Mitwirkung der Volksvertretung
immer schon das Eingeständnis einer Schwäche der Monarchie, die diese politischen
Ansprüche der Volksvertretung eben nicht mehr negieren konnte. Folglich ergab sich
der genannte Dualismus zweier Repräsentanten der politischen Einheit, so scheint es
earl Schmitt, als Zwischenzustand einer aufgeschobenen Entscheidung. Zumal die Ver-
fassung der ,deutschen konstitutionellen Monarchie, wie sie sich nach der Revolution
von 1848 ergab, enthielt sowohl das monarchische Prinzip als auch eine rechts-
staatliche Beschränkung der königlichen Gewalt und damit den Dualismus zweier
Repräsentanten. Der deutsche konstitutionelle Monarch blieb zwar immer noch .im Be-
sitz einer auch rechtlich unbegrenzten Fülle der Staatsgewalt, der gegenüber die von
ihm oktroyierte Verfassung der Volksvertretung nur begrenzte Zuständigkeiten ge-
währte, und er erwies sich in der Konfliktsituation auch noch als der Souverän, aber
er war aus dem Vordergrund des politischen Lebens doch verdrängt, und zwar durch
den Konstitutionalismus, der selbst einem an sich antipolitischen Interesse entsprang,
seines Antiabsolutismus wegen aber, der in der gegebenen historischen Situation als
Antimonarchismus in Erscheinung treten mußte, doch wenigstens demokratisch viru-
lent und jedenfalls mit der demokratischen Bewegung verbündet war. Im ganzen lag
im Zugeständnis einer Verfassung, auch wenn die Monarchie sie als aus der verfas-
sunggebenden Gewalt des Monarchen gegeben verstanden wissen wollte, bereits das
Eingeständnis der inneren Schwäche der Monarchie im 19. Jahrhundert und die An-
erkennung eines zweiten Repräsentanten.
So zeigt sich also wieder, daß Carl Schmitt gemäß seiner Option für die konsequente
politische Form alle Erfolge der konstitutionellen Bewegung gegenüber der ihrer In-
tention nach immer noch absolutistischen Monarchie als bloße Entstellungen, Entfrem-
dungen und Lähmungen erscheinen. Vor allem aber gibt er auch in anderer Richtung
ein Bild, demgemäß bürgerlicher Konstitutionalismus und Parlamentarismus sich dem
konsequenten Identitätsstaat in .den Weg stellen. Das möchte noch begreiflich erschei-
nen, wenn man unter Demokratie eine Staatsform versteht, die ihrer Idee nach jene
Hoffnungen erfüllen will, .die die Aufklärung erweckte und die die liberale bürgerliche,
minoritätsdemokratische Bewegung auf ihre eigenen Kreise zu beschränken suchte, die
Hoffnungen nämlich auf eine allgemeine Emanzipation der Menschen und eine ver-
nünftige Ordnung ihres freien Zusammenlebens. earl Schmitt aber hat einen dem
Rechtsstaatsgedanken entgegengesetzten, diktatorisch-cäsaristischen Demokratiebe-
griff, wie oben zu zeigen versucht wurde.

Der Parlamentarismus als Mittel der Neutralisierung des Politischen


W:ar es nach Auffassung earl Schmitts auf das Wirken der antipolitischen liberal-rechts-
staatlichen bürgerlichen Bewegung zurückzuführen, daß die konsequente Form des
Repräsentationsstaats zerstört wurde, so geht es nun wiederum zu Lasten der neutrali-
sierenden Kräfte, daß auch der Weg zur Gewinnung des konsequenten Identitätsstaats
verstellt wurde. Das parlamentarische System als das System des bürgerlichen Rechts-
staats und relativ auf die Zwischenstellung des Bürgertums zwischen Monarchie und
Demokratie steht nach Meinung Carl Schmitts im Widerspruch nicht nur zur konse-
quenten politischen Form des Repräsentationsstaats, sondern auch im Widerspruch
zur konsequenten politischen Form des Identitätsstaats. Erstens aus dem gleichen
Grunde, weshalb es auch dem konsequenten Repräsentationsprinzip zuwider ist:
weder konsequente Repräsentation noch konsequente Identität kennen eine Gewalten-
Der Parlamentarismus als Mittel der Neutralisierung des Politischen 199

teilung; die eigentlichen politischen Formprinzipien bedeuten wesentlich Einheit


und nicht Unterscheidung und Teilung.831 Zweitens entspricht das parlamentarische
System demokratischen Vorstellungen darin nicht, daß überhaupt noch ein Parlament
außer der Regierung für notwendig erachtet wir,d. Nach Auffassung Carl Schmitts ist
es konsequenter demokratisch, wenn die Regierung in unmittelbarer Beziehung zum
Volke steht, ohne daß noch eine besondere Volksvertretungdazwischengeschaltet ist.
Es möchte, so stellt Carl Schmitt dar, zunächst als demokratisch erscheinen, eine
sog. parlamentarische Regierung zu fordern, d. h. eine vom Vertrauen des Parlaments
abhängige und dem Parlament verantwortliche Regierung. Diese Unterordnung der
Regierung unter das Parlament, in der die Regierung zu einem Instrument des Parla-
mentswillens wird, erscheint aber nur, wie Carl Schmitt meint, aus historisch-zeit-
bedingten Gründen als eine demokratische Forderung. Das Postulat einer parlamen-
tarischen Regierung wirkt nämlich nur aus der Antiposition des bürgerlichen Parla-
ments gegen die monarchische Regierung als demokratisch. Solange der Dualismus
der konstitutionellen Monarchie besteht, solange also das Parlament als von den
Staatsbürgern gewählte Repräsentation des Volkes dem König als dem anderen Re-
präsentanten gegenübersteht, solange kann es als eine demokratische Konsequenz
erscheinen, die Unterordnung der königlichen Regierung unter das Parlament zu
verlangen. Die Forderung einer sog. parlamentarischen Regierung nimmt daher schein-
bar den Charakter einer demokratischen Forderung an. "Demokratie und Parlamen-
oarismus werden aus einer solchen politi!schen Lage heraus gleichgestellt und miteinan-
der verwechselt. Die Repräsentation des politisch geeinten Volkes durch eine gewählte
Körperschaft ist neben der Repräsentation der politischen Einheit durch einen erblichen
Monarchen anscheinend etwas Demokratisches, und der eigentliche, prinzipielle Gegen-
satz - Repräsentation und Identität - wird nicht bewußt." 832
Eine parlamentarische Regierung aber könnte nach Meinung Carl Schmitts gar nicht
demokratisch sein. Denn mit der For,derung der parlamentarisch abhängigen Re-
gierung wird ja in Wahrheit immer noch die Notwendigkeit eines Parlaments über-
haupt vorausgesetzt und die Möglichkeit einer unmittelbaren Beziehung der Regierung
zum Volk, wie es eigentlich demokratischen Vorstellungen nach Meinung Carl
Schmitts entsprechen müßte, zumindest übersehen. Man meint, eine Gleichsetzung von
Volksvertretung und Volk vornehmen zu können; so scheint es, als sei die dem Parla-
ment verantwortliche Regierung damit auch dem Volk verantwortlich, als sei die
Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments gleichbedeutend mit der
Abhängigkeit vom V ertra uen des Valkes. "Der ganze Gedankengang", so schreibt
Carl Schnütt, "setzt in Wahrheit vomus, .daß die Regierung keine unmittelbare Be-
ziehung zu den stimmberechtigten Bürgern hat und diese Beziehung ausschließlich
durch das Parlament vermittelt wird. Der Gedankengang entfällt notwendigerweise,
wenn die Regierung nicht mehr in einem antidemokratischen Sinne königliche Re-
gierung ist und wenn sie unabhängig vom Parlament einen unmittelbaren Zusammen-
hang mit dem Volke hat oder herstellen kann, sich 'also unmittelbar auf das Vertrauen
der stimmberechtigten Staatsbürger beruft." 833 Außerdem aber war die antimonarchi-
sche Gleichsetzung von Volk und VolksvertretlUng überha;upt nur in frühbürgerlichen
Zeiten möglich, als nämlich das Bürgertum sich noch widerspruchslos mit dem ganzen
Volk identifizieren konnte. Nachdem aber diese Identität von Bürgertum und ganzem
Volk zerfallen war, nachdem eine kleinbürgerliche und proletarische Bewegung sich
hinter dem alten Bürgertum erhob, waren parlamentarische Regierung und über-
windung des Dualismus in einer Parlamentsherrschaft gar nicht mehr im eigentlich
831 Vgl. a. a. 0., S. 213.
832 A. a. 0., S. 265.
833 Ebda.
200 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

bürgerlichen Interesse. Die Forderung danach erklärt sich also nach Meinung Carl
Schmitts nur aus zeitbedingtem Antimonarchismus.
Solange der Kampf gegen eine monarchisch absolutistische Regierung die politischen
Auseinandersetzungen beherrscht, mag es, so meint Carl Schmitt, demokratischem
Denken einleuchtend erscheinen, daß ,die Regierung der Volksvertretung unterworfen
werden muß. Dabei entsteht die Vorstellung eines doppelten über- und Unterord-
nungsverhältnisses: Die Regierung ist von der Volksvertretung, dem Parlament, ab-
hängig, und dieses vom Volk, den stimmberechtigten Bürgern. Dieser Aufbau erscheint
dann verbreiteten Vorstellungen als ein System von Ausschüssen. Das Parlament ist
Ausschuß, vel"hältnismäßiger Auszug des Volkes, und ,die parlamentarische Regierung
ein entsprechender Ausschuß der Volksvertretung. "Die staatliche Organisation er-
scheint als ein Ausschußsystem von drei Stufen: Volk, Volksvertretung, Regierung." 834
earl Schmitt verurteilt aber diese Vorstellung nachdrücklich. Sie scheine nur konse-
quent demokratisch. "Sie vernichtet aber den Gedanken einer Repräsentation und
mittelbar die politische Einheit überhaupt." 835 Denn es gibt nach earl Schmitts Auf-
fassung eben keine politische Einhe,it ohne Repräsentation; ohne Repräsentation
und also ein Minimum an unabhängi~er Entscheidungsfähigkeit der Herrschenden
vermag keine politische Einheit aus der Vielheit der Einzel- und Gruppenwillen inte-
griert zu werden.
Ist also nach Auffassung earl Schmitts die Unteror,dnung der Regierung unter das
Parlament weder demokratisch noch eigentlich dem parlamentarischen System des
bürgerlichen Interesses entsprechend, so gilt ihm umgekehrt die Unterordnung des
Parlaments unter die Regierung, wie sie am deutlichsten im Premiersystem zum Aus-
druck kommt, noch am ehesten für demokratisch - wenn überhaupt ein Parlament
geduldet wel'lden soll. Im Falle der Unterordnung des Parlamentes unter die Regierung
ist aber ,das Parlament zum bloßen Ausdruck der öffentlichen Meinung geworden,
bzw. zu einem Interessentenausschuß, und hat seinen Repräsentationscharakter ganz
verloren. Ein System, das mit einem so der Regierung untergeordneten Parlament
funktionieren soll, setzt aber nach Meinung earl Schmitts eine starke nationale Homo-
genität des Volkes und demgemäß nur relativ unterschiedene Parteien, außerdem
Führerparteien, voraus, wie ihm eine Analyse ,des englischen Beispiels zeigt. Ohne
diese Voraussetzung funktioniert das System nicht, wenn nicht überhaupt ein solches
zwischengeschaltetes Parlament üherflüssig ist, weil Demokratie, wie earl Schmitt sie
versteht, konsequenter ohne Parlament oder sogar anti parlamentarisch durch eine
cäsaristische Regierung zu verwirklichen ist, welche direkt an das Volk appelliert.
Das Zentralglied des parlamentarischen Systems ist das Parlament. Mit ihm steht
und fällt das ganze System. Die Institution des Parlaments ist aber nicht aus dem
demokratischen Prinzip verständlich, sondern nur, wie earl Schmitt meint, aus dem
Liberalismus des gehildeten Besitzbürgertums. Die Prinzipien des Parlamentarismus
sind daher: aristokratische Repräsentation und öffentliche Diskussion. Wenn diese
nicht mehr erfüllt sind, entfällt das ganze System. Sie waren aber, wie earl Schmitt
es deutet, nur erfüllt, solange es ein gebildetes Bürgertum gab und einen Rest von
monarchischer Repräsentation, in Konkurrenz zu der nun auch die Volksvertretung
repräsentativ sein wollte. Als diese Bedingungen entfielen, verfiel auch ,das parlamen-
tarische System. Das Parlament wurde einerseits Interessenvertretung und mußte,
wie earl Schmitt meint, anderseits der Bewegung zum konsequenten Identitätsstaat
erliegen. Auch der Gedanke einer Führerauslese aber, einer Schule politischer Eliten,
mit dem man den Parlamentarismus jetzt neu zu hegründen suchte, rechtfertigt in den
Augen earl Schmitts "kein Parlament von einigen hundert Parteifunktionären, son-
834 A, a. 0., S. 266.
835 A. a. 0" S. 267.
Die geschichtliche Deutung des zweiten Reiches 201

dern führt dazu, eine unmittelbar vom Vertrauen der Massen g,etragene politische
Führung und Leitung zu suchen. Gelingt es, eine 'solche Führung zu tinden, so ist eine
neue, kraftvolle Repräsentation geschaffen. Das ist dann aber eine Repräsentation
gegen das Parlament, dessen überlieferter Anspruch, eine Repräsentation zu sein,
dami t erledigt wäre." 836
Das parlamentarische System ist nach Meinung earl Schmitts also weder eine kon-
sequente Verwirklichung des Identitäts- noch eine des Repräsentationsprinzips, son-
dern ein Mischsystem. Nachdem ihm, earl Schmitt, das einmal feststeht - und es
ergibt sich aus seiner Option für die konsequente politische Form -, kann er natürlich
aus der historischen Entwicklung nichts Bestimmtes mehr entnehmen. Er findet nur
eine Fülle schwankender und widersprüchlicher Gestalten, wenn er die Entwicklung
in England und Frankreich und in Deutschland betrachtet. Im Grunde, folgert er,
ist das parlamentarische System doch nur eine Deformation und Neutralisierung der
konsequenten politischen Form. Es steht im Dienste der Gewaltenbalancierung und
der bürgerlichen Rechtsstaatlichkeit und ist damit nur ein Ausdruck der Zwischen-
stellung, der nur sehr vorübergehend möglichen und erträglichen Zwischenstellung des
Bürgertums zwischen konsequenten politischen Formen. Im Effekt wird also durch das
Wirken der liberaldemokratischen bürgerlichen Bewegung und durch das Mischsystem
des bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaats das Volk als der Träger der politi-
schen Einheit nur um die politische Führung überhaupt gebracht, weil der Regierung,
gleichviel ob sie noch monarchische Regierung eines fortlebenden Repräsentations-
staates oder schon die Führerregierungdes konsequenten Identitätsstaats ist, die Mög-
lichkeit genommen wird, sich unmittelbar an das Volk zu wenden und "mit dem
Volk" zu "handeln".
Die Deutung, die earl Schmitt gemäß diesen Vorstellungen dem Staatsgefüge des
zweiten Reiches gibt, und die Erklärung, die er für den Zusammenbruch des zweiten
Reiches sucht, liegen auf der Linie der bisher entwickelten Vorstellungen.

Die geschichtliche Deutung des zweiten Reiches


Die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert war wesentlich bestimmt durch die Nieder-
lagen und schließlich die Resignation ,der bürgerlichen politischen Bewegung. Obwohl
der liberal-demokratische Enthusiasmus des Bürgertums recht beträchtlich war, war
es der Revolution von 1848 nicht gelungen, die nationale Einigung zu einem deut-
schen Reich auf li:beral...demokratisch.er Grundlage zJUstande zu bringen. Diesem Miß-
erfolg entsprach ,die Machtbehauptung der alten Gewalten, der Fortbestand einer der
Entwicklung der bürgerlich-wirtschaftlichen Interessen durchaus hinderlichen Vielheit
deutscher Klein- und Mittelstaaten und der Fortbestand einer dynastisch-monarchi-
schen Ordnung inden gewichtigsten unter ihnen wie Preußen. Die konstitutionellen
Verfassungen, ,die der Revolution ihre Entstehung verdankten, waren ,durchaus ein
halber Erfolg. Und auch dieser halbe Erfolg war zumal in Preußen höchst scheinbarer
und vorläufiger Art. Die alte absolute Gewalt des Monarchen über den Staat war nur
scheinbar durch die Konstitution eingeschränkt, in Wahrheit aber nur hinter die
Oberfläche zurückgetreten und kam bei ,den ersten ernsten Konflikten wieder zum
Vorschein, wie der preußische Verfassungskonflikt bewies.
Das Werk Bismarcks, die deutsche Einheit auf dem Wege über die Dynastien zu-
stande zu bringen, hatte für die innerdeutsche Entwicklung die, wie sich später erwies,
unheilvolle Wirkung, die ursprünglich liberal ... demokratische bürgerliche Bewegung in
eine national-liberale Bewegung umzubiegen. Das deutsche Bürgertum, das aus sich

886 A. a. 0., S. 314 f.


202 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

heraus die nationale Einigung nicht zustande zu bringen vermocht hatte, ließ sich jetzt
vom Glanz der Erfolge Bismarcks überwältigen. Es wandte seine Interessen der Nut-
zung der gebotenen wirtschaftlichen Chancen zu und gab sich politisch zufrieden, nach-
dem die nationale Einigung erreicht war. Diese politische Resignation fiel ihm um so
leichter, als unterdes mit der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in ,der Ge-
sellschaft eine neue Kraft in Gestalt des städtischen Proletal1iats herangewachsen war,
das politisch auf eine radikale Demokratie drängte. Die Furcht vor dem Sozialismus
der Arbeiterschaft drängte das liberale Bürgertum von der Sache der Demokratie ab
und ließ es nunmehr im monarchischen Staat die Garantie seiner bürgerlichen Inter-
essen suchen. Das Ergebnis dieser Entwicklung war die national-liberale Partei, die
Ziur treuen Stütze des »zweiten Reiches" wurde, bis 'sie schließlich ganz an Bedeutung
verlor, siich aufsplitterte und gute Teile ihrer Wähler nach links und rechts verlor. Die
Abdankung ,der bürgerlichen Bewegung von einer selbstbewußten Politik spiegelte sich
in der Anerkennung des Bismarckschen Satzes, daß eine gute Verwaltung die beste
Innenpolitik sei.
Die Gestalt des zweiten Reiches war also wesentlich durch ,diese Resignation der
bürgerlichen Bewegung und ihren Verzicht auf die ursprünglichen demokratischen
Ideale zugunsten eines politischen Konformismus um der liberal-kapitalistischen
Nutzenmaximierung willen bestimmt. Die in der Akzeptierung des monarchischen
Staats gesuchte Abwehr der von einer sozialistischen Arbeiterschaft getragenen demo-
kratischen Ansprüche vermochte jedoch ,die innenpolitischen Spannungen und Probleme
keineswegs zu lösen, verhinderte vielmehr die Zusammenfassung der demokratischen
Kräfte und bestärkte die autokratische politische Ordnung. Der bürgerliche Liberalis-
mus entfremdete sich seiner demokratischen Potenz und verwandelte durch sein anti-
sozialistisches Bündnis mit den konservativen Kräften !des monarchischen Staats den
Konstitutionalismus selbst in ein antidemokratisches Instrument. So wurde die kon-
stitutionelle Monarchie zum eigentlichen Gegensatz gegen die parlamentarische Demo-
kr:atie, deren politischer Wegbereiter in der allgemeinen gesellschaftlichen Entwick-
lung das liberal-demokratische Bürgertum hätte sein können. Die konstitutionelle
Monarchie des zweiten Reiches beruhte politisch~gesellschaftlich auf einem Bündnis
zwischen Grundadel, Industriebürgertum, Beamtenturn und Heer.
Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches sind also vor allem zu sehen
in der politischen Selbstentfremdung und Resignation der bürgerlichen Bewegung,
deren Resultat nichts anderes als der Zusammenbruch der von dieser Selbstmediatisie-
rungder liberalen Bewegung lebenden autokratischen Ordnung war. Es ist die Nieder-
la,ge des Bürgers, ,die in der Niederlage des Soldaten 1918 schließlich besiegelt wird.
Das Staatsgefüge ,des zweiten Reiches ist charakterisiert durch die politische Selbst-
entfremdung der liberalen Bewegung von ihrer demokratischen Potenz, durch den
Verzicht des Bürgers gegenüber dem Soldaten. Als der Soldat dann 1918 im Felde
unterlag, brach das zweite Reich zusammen und trat seine Erbschaft an die Republik
ab. Die Begründung der Weimarer Republik lag daher nicht so sehr im Sieg der demo-
kratischen Kräfte über den autoritären Staat, sondern in dessen militärischer Nieder-
lage, die er nun der Republik überantwortete. 837 Carl Schmitt aber gibt eine Dar-
stellung vom Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, die in der For-
mel gipfelt: »Der Sieg des Bürgers über den SoIdaten."
Bezeichnenderweise gibt Carl Schmitt diese Darstellung im Bewußtsein und mit der
Absicht, eine Verschleierung zu entfernen und ,die eigentliche Struktur der Wirklichkeit
bloßzulegen. Er will das Geschichtsbild und damit die politischen Konzeptionen jener
Bewegung zerstören, die sich den Rechtsstaat zum Ziel gesetzt hatte und für die als
837 Vgl. dazu die Darstellungen von Bracher, Die Auflösung . •. (Anm. 494), und Rosenberg, Entstehung und
Geschichte . .• (Anm. 494).
Die geschichtliche Deutung des zweiten Reiches 203

oberster Wert die Freiheit des einzelnen galt. Das hervortretende Charakteristikum
in Carl Schmitts Interpretation des zwe,jren Reiches ist daher ihr polemischer Anti-
liberalismus. "Im Geschichtsbild des liberalen Jahrhunderts verlief die Entwicklungs-
linie der Menschheit vom militärischen zum ,industriellen Typus, vom Krieg zum
Frieden, von der Politik zur Wirtschaft, von der Anstalt zur Genossenschaft, vom
Absolutismus zur Demokratie ... Geistig oder V'ielmehr - um das adäquate Wort zu
gebrauchen - ideologisch erfaßte die liberale Bewegung, trotz des Mißerfolges ihrer
Revolution von 1848 und trotz ihrer eigenen Vorbehalte, mit größter Selbstverständ-
lichkeit auch in Deutschland alle Gebiete des öffentlichen Lebens." 838 Die liberale
Bewegung hatte den großen politischen Vorteil für sich, im Besitz eines wesentlichen
und politisch umkämpften Begriffes zu sein, des Begriffs der Verfassung. "Unver-
sehens unterschob sich überall, selbst in den Darlegungen der preußischen Regierung,
dem Wort ,Verfassung' ein liberalrechtstaatlicher Sinn." 839 So wurde der Liberal[s-
mus zur Staatsphilosophie der gebildeten Klassen. "Die ganze liberale Litanei von
Rechtsstaat gegen Polizeistaat, Volks staat gegen Obrigkeitsstaat, Genossenschaft gegen
Anstalt, Verfassung gegen Diktatur, Geist und Bildung gegen Militarismus", schreibt
earl Schmitt, "setzte ihre Sprech- und Denkweise in den verschiedensten Schichten
des geistigen und gesellschaftlichen Lebens durch. Sie drang auch in die juristische
Bildung der Beamten ein und beherrschte die geistige Atmosphäre." 840
Dieser liberale Konsuitutionalismus hat nach Auffassung earl Schmitts die politische
Form der deutschen Monarchie letzten Endes zerstört und die Staatsgewalt überhaupt
neutralisiert. Darum sieht sich earl Schmitt veranlaßt, die Hauptbegriffe und das
Geschichtsbild des liberalen Rechtsstaatsdenkens zu zerstören. Darum bringt er Rechts-
staatlichkeit und Politik in einen Gegensatz zueinander und optiert in der Geschichts-
deutung für alles, was nur irgendwie im Gegensatz zum Liberalismus steht. Seine
Deutung vollzieht sich mit Hilfe einer radikalen Polarisierung von Politik und Anti-
politik. Die Mannigfaltigkeit der historischen Wirklichkeit wird so lange zusammen-
gerafft, bis sie sich in die große und einfache Alternative von Politik und Antipolitik
einordnet.
Als Wesen des zweiten Reiches seit 1871 wird dementsprechend von earl Schmitt
eine dualistische Struktur herausgehoben, die schon den preußischen Staat seit 1850
zerspalten hatte, des preußischen Staates, .der, "europäisch-konkret gesprochen ...
nach der ,demission de la France' an der Reihe war, der Idee des Staates die letzte
geschichtliche Aufgabe und Verwirklichungsform zu verschaffen". 841 "Regierung und
Parlament, Staat und Gesellschaft, Heer und Wirtschaft, Soldat und Bürger", 842
staatlich-militärische und gesellschaftlich-bürgerliche Führung standen in einem "töd-
lichen Widerstreit". 843 Die Verfassungsvereinbarungen erst des Norddeutschen Bundes
von 1867 und dann des Deutschen Reiches von 1871 waren, wie earl Schmitt es sieht,
"Scheinkompromisse" zwischen preußischer Militärmonarchie und liberal-bürgerlicher
Bewegung und deckten den Widerspruch nur eben zu. Das preußische Heer blieb der
Kern des Reiches, der Staat im Staate. Das Beamtenturn blieb in seiner Gesinnung
zwar königstreu, aber war doch bereits an den legalen Verfassungsstaat verpflichtet
und hatte "die Fähigkeit verloren, die staatstragende Schicht der politischen Einheit
des deutschen Volkes zu sein". 8<\4 Und auch die Soldaten versuchte die öffentlich-
838 Schmitt, Staatsgefüge . •. (Anm. 43), S. 16.
839 A. a. 0., S. 17.
840 A. a. 0., S. 18.
841 earl Schmitt, .Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahrhunderts", in: Schmollers jahr-
buch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 64. Jg. (1940), S. 645.
842 Schmitt, Staatsgefüge . .. (Anm. 43), S. 7.

8" A. a. 0., S. 9.
844 A. a. 0., S. 12.
204 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

rechtliche Theorie in zivile Beamte zu verwandeln, um sie ,dergestalt in das bürgerliche


Verfaslsungssystem einzubeziehen. Doch der Dualismus blieb bestehen. Weder ",däe
vermittelnde Stellung des staatsrechtlich gesicherten Beamtentums noch parteimäßige
ZwischenbiLdungen, wie National-Liberale und Freikonservative, vermochten den
Gegensatz zu überbrücken". "Denn", so schr,eibt earl Schmitt, "Soldat und liberaler
Bürger, preußisches Heer und bürgerliche Gesellschaft sind Gegensätze zugleich
der Weltanschauung, der geistigen und sittlichen Bildung, des Rechtsdenkens und vor
allem auch der fundamentalen Ausgangspunkte für die staatliche Struktur und Orga-
nisation ... Ein vom deutschen Soldaten heT aufgebauter Führerstaat kann mit einem
vom liberalen Bürger her konstruierten Rechtstaat keinen echten Kompromiß schlie-
ßen. Es handelte sich ... um den unendlich tiefgreifenden Widerstreit wesensverschie-
dener Menschentypen." 845 Es handelte sich für earl Schmitt um den "Gegensatz von
Bildung und Besitz gegen Blut und Boden". 846
Obwohl der preußische Soldatenstaat sich tapfer wehrte und ,den Fahneneid auf
den Landesherrn statt auf die Verfassung durchsetzte, fernerhin die militärische Kom-
mandogewalt von dem konstitutionellen Erfordernis der ministeriellen Gegenzeich-
nung frei machte und so die A:rmee' davor schützte, ein Parlamentsheer zu werden,
stand er während ,des ganzen Jahrhunderts doch in ,der geistigen und politischen
Defensive gegen den vordringenden Liberalismus. Diesen inneren Widerspruch zwi-
schen preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Konstitutionalismus machte der
preußische Verfassungskonflikt von 1862-1866 wie das pathognomische Moment
einer Krankheitsentwicklungdeutlich.
earl Schmitt mißt ,dieser Zeit eine eminente Bedeutung zu. Das Jahr 1866 ist für
ihn das "für das folgende halbe J ahrhundertausschlaggebende Jahr" .847 Der Konflikt
"endet nur scheinbar mit einem Kompromiß. Die kön1gliche Regierung führte die Heeres-
l'eform gegen den Willen des Landtags durch und gewann zwei Kriege, aber nach
dem Siege suchte sie bei dem Parlament um nachträgliche Anerkennung, Genehmi-
gung und Entlastung, um ,Indemnität' nach und erhielt sie." 848 Die folgende Zeit
eines scheinbar grenzenlosen wirtschaftlichen Aufschwungs und ,der geistige Rausch,
in ,dem sie erlebt wurde, mochte zunächst ,die Scheinbarkeit dieses Kompromisses ver-
decken. In Wahrheit war der Konflikt durch die Bitte um Indemnität nur auf spä-
tere Zeit vertagt. Es war beim status qua geblieben, und das monarchische Prinzip
hatte sich erhalten. Auch war das Bürgertum - verführt durch die Erfolge der Bis-
marckschen Politik, die das brachte, was das bürgerliche Parlament von s,ich aus nicht
zu erreichen inder Lage war, und die daher den Monarchen als den echteren Reprä-
sentanten der nationalen Einheit als das Parlament erscheinen ließ - zufrieden mit
dieser Bitte um Indemnität, die Bismarck so darstellte, als habe sie der König groß-
mütig gewährt, und die er mit den Worten kommentierte: "in verbis simus faciles".
Aber der weitere VerlaJuf der innenpolitischen Entwicklung zeigte, wie earl
Schmitt es sieht, "daß die Logik des liberalen Konstitutionalismus den Mächten eines
pluralistischen Parteienstaates, insbesondere dem politischen Zentrumskatholizismus
und der Sozialdemokratie, zugute kam".849 Der Verfassungsbegriff des 19. Jahrhun-
derts war eben der liberale Verfassungsbegriffder bürgerlichen Volksvertretung, die
den "Ge[st der Zeit" auf ihrer Seite hatte. "Ihm hatte die königliche Regierung durch
ihre Bitte um Indemnität das geistig!e Kampffeld überlassen." 850 Der Kompromiß

845 A. a. 0" S. 13
846 A. a. 0" S. 14.
'" A. a. 0" S. 36.
848 A. a, 0., S. 10.
". A. a. 0., S. 22.
850 A. a. 0., S. 19.
Die geschichtliche Deutung des zweiten Reiches 205

war auf Kosten des Soldatenstaates geschlossen worden, auch wenn für ihn sein schnel-
ler militärischer Sieg und sein außenpolitischer Erfolg gesprochen hatten. "Verfassung"
bedeutete "vor allem eine Verneinung der Grundlagen und Auswirkungen des preu-
ßischen Soldatenstaates" .851 Das bürgerliche Parlament stand unter einer zusätzlichen
Bedrängnis, insofern jedes Entgegenkommen gegen die militärischen Forderungen der
Regierung es "den billigen Trümpfen der ,Links'-Parteien" auslieferte, "die die Logik
des bürgerlichen Verfassungsstaates auf ihrer Seite hatten" .852 Und so kam es zu einem
Aufschub des Konfliktes, aber keine konsequente und tragfähige Sta;atsordnung zu-
stande.
Die Folge des innerl:ichen Dualismus im zweiten Reich aber war nach Auffassung
Carl Schmitts, daß das Volk ohne politische Führung blieb und der Staat ohne Re-
gierung. Der bürgerliche Konstitutionalismus und die liberal-rechtsstaatliche Anti-
politik verhinderten auch die Einordnung des Arbeiters in das zweite Reich. "Obwohl
er [der Arbeiter] alle soldatischen Eigenschaften des Deutschen besaß, unterstellte er
sich fremder Führung. Er wurde dadurch zum Werkzeug .der eigentlichen Nutznießer
des Liberalen Konstitutionalismus, nämlich der zentrumskatholischen und internatio-
nalen marxistischen Politik in deren Kampf gegen Bismarcks preußisch-deutsches
Reich." 853 Das Repräsentativsystem des liberalen Verfassungsstaates setzt das Par-
lament als die ihrer Tendenz nach einzige und wesentLiche Vertretung des Volks-
willens ein und schließt damit jede andere unmittelbare Beziehung der Regierung zum
Volk oder eine unmittelbare Führung des Volkes durch die Regierung als verfassungs-
widrig aus. So wird aber, nach Deutung Carl Schmitts, der Volkswille nur mediati-
siert. Die Neuwahlen nach den Reichstagsauflösungen 1887, 1893 und 1906 bewiesen
ihm, ".daß die Mehrheit des deutschen Volkes stets bereit war, auf die Seite .des deut-
schen Soldatenstaates" 854 und hinter ihren König ZJU treten. "Aber das System einer
parlamentarischen Parteienherrschaft ... verhinderte die politische Auswirkung des
Volkswillens und stellte eine Mehrzahl wohlorganisierter Parteien wie eine feste
M<l!uer zwischen den politischen Willen der Regierung und ,den Willen eines durch
eben diese Parteien zerrissenen und parzellierten Volkes. Der K<l!iser und König war
verfassungsmäßig der ,militärische' im Gegensatz ZJum ,politischen' Führer." 855 Er
war nur der oberste Kriegsherr, und das bedeutete, .daß er außer der militärischen
Kommandogewalt bloß eine potestas indirecta besaß und also keine echte Regierungs-
möglichkeit. Das ist inden Augen Carl Schmitts aber die widerspf1Uchsvolle Doppel-
rolle, einerseits nicht-verantwortlicher Monarch zu sein, weil für jeden Regierungsakt
verfassungsgemäß die Gegenzeichnung einesd<l!durch verantwortlichen Ministers ge-
fordert wurde, und anderseits als Ider alleinige höchste Führer des Heeres an keine
ministerieHe Gegenzeichnung gebunden, insofern jeder verfassungsmäßigen Verant-
wortung überlegen zu sein. In dieser Doppelrolle wiederholt sich für Carl Schmitt nur
der innere Zwiespalt von preußischer Militärmonarchie und bürgerlichem Verfas-
sungsstaat. "Das bürgerlich-rechtstaatliche Verfa~sung~denken zwang jeden, der kon-
stitutionell korrekt sein wollte, zu solchen tödlichen, die Totalität ,des Politischen auf-
spaltenden Zerreißungen ... des Politischen gegen das Militärische." 856
Das Heer wurde auf diese We~se geistig immer mehr isoliert, wurde zu einem
Fremdkörper und einem bloß technischen Instrument für den Ausnahmefall der ultima
ratio. Es verlor seinen Charakter als "Bildungsschule der Nation" und wurde zum

851 Ebda.
852 Ebda.
853 A. a, 0" S. 14.
8" A. a. 0" S. 23.
855 Ebda.
856 Ebda.
206 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

Verzicht gezwungen, "gegenüber dem ganzen deutschen Volk den totalen Führungs-
anspruch zu erheben, der zu jeder politischen Führung und Entscheidung gehört". 857
Nach der Gründung des Deutschen Reiches dehnte sich die innere Problematik Preu-
ßens auch auf dieses aus. Die Betonung des Unterschieds zwischen "konstitutioneller"
und "parlamentarischer" Regierung war nach Darstellung earl Schmitts irreführend,
weil dieser Unterschied nur ein höchst relativer war gegenüber der fundamentalen
Alternative von Fürsten- oder Volkssouveränität, dynastischem oder demokratischem
Prinzip. Diese Fundamentalentscheidung blieb offen, und die konstitutionelle Mon-
archie diente nur als Verschleierung der "inneren Widersprüche eines bürgerlich-legiti-
mistischen Kompromisses". 858 Ebenso vetldeckte der "Bundesstaat", als den sich das
zweite Reich gerierte, nur den Widerspruch zwischen dynastischem Fürstenbund und
nationalem Einheitsstaat. Nur dem staatsmännischen Geschick Bismarcks gelang es,
die widerstrebenden Kräfte fortwährend zu balancieren und gegeneinander aus-
zuspielen. "Die dynastische Solidarität der Bundesfürsten, die staatliche Kraft Preu-
ßens und die nationale Homogenität des deutschen Volkes waren auf diese Weise in
den Dienst der politischen Einheit Deutschlands gestellt." 859 Sobald aber Bismarck
von der politischen Führung zurücktreten mußte, ging jede Führung und Regierung
überhaupt verloren, und das System begann auseinanderzufallen, weil das politische
Gefüge des Reiches" vorläufig noch ein Regime, noch nicht eine Institution war" .860
Die liberale "Konstitution" ließ keine klare Regierung zu, und wenn man keine klare
Regierung hatte, hatte man in Wahrheit auch keine Verfassung im Sinne earl Schmitts.
"Man kann ohne übertreibung sagen, daß ein solches Staatsgefüge keine Regierung,
sondern überhaupt nur Nebenregierungen kennt." 861
Das Parlament, dem der Reichskanzler verfassungs gemäß verantwortlich war und
das mit dem anerkannten Budgetrecht die Möglichkeit hatte, die politische Führung an
sich zu ziehen, denn "das Politische ist das Totale, und die Totalität läßt sich von der
wirtschaftlichen und finanziellen Se'ite her ebensogut und ebenso logisch durchsetzen
wie vom Militärischen her", 862 dieses Parlament beraubte, "jeder staatspolitischen
völkischen Logik", 863 wie earl Schmitt schreibt, und allen eindringlichen Vorstellungen
des großen Generalstabs entgegen, die Militärpolitik der Regierung ihrer Kraft. Von
Vorlage zu Vorlage verstärkten sich die budgetrechtlichen Hemmungen und Vor-
wände nicht nur zu außenpolitischen Hindernissen, sondern zogen auch die höchsten
Reichsorgane inden innerstaatlichen Streit hinein. In der Beurteilung earl Schmitts
heißt dieser Kampf des Parlaments gegen die Militärpolitikder Regierung: "Die
natürliche Ordnung eines wirklichen Staatswesens wurde dadurch gestört, daß die ver-
schiedenen Behörden ihre Entschlüsse nicht nur unter dem Gesichtspunkt des natür-
lichen Gegensatzes zu anderen Ressorts, sondern unter Vorwegnahme der Gesichts-
punkte des innerpolitischen Feindes fassen mußten." 864
earl Schmitt gesteht zu, ·daß Kollisionen und Differenzen zwischen Heeresführung
und Zivilregierung in allen Staaten auftreten. Für die deutsche Verfassungswirklich-
keit meint er aber, diese Konflikte haben "immer wieder bis zum Grunde, nämlich
bis zu dem ungelösten Konflikt von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem
Verfassungsstaat", vorstoß·en "und sich deshalb in einer St,aat und Volk zerstörenden

B51 Ebda.
B5' A. a. 0., S.24.
B59 A. a. 0., S.25.
,"0 A. a. 0., S. 26.
861 Ebda.
862 A. a. 0., S. 29.
863 A. a. 0., S. 31.
'"4 A. a. 0., S. 33.
Die geschichtliche Deutung des zweiten Reiches 207

Weise auswirken" 865 müssen. Nach glücklichen Kriegserfolgen mochte sich vorüber-
gehend eine politische Führung ergeben. Für die "sachgemäße Vorbereitung eines ge-
fahrvollen Weltkrieges" 866 fehlte aber die feste Voraussetzung eines gesicherten
Staatsgefüges. "Heute läßt sich erkennen", schreibt earl Schmitt, "daß die Vorberei-
tung auf eine ... ,totale Mobilmachung' ... ebenfalls total sein mußte." 867 Die militä-
rischen und außenpolitischen Belastungen des Weltkrieges mußten innerstaatlich dann
dem Parlament immer neue Argumente für seine Machtansprüche zuspielen und damit
die heiden Bestandteile des dualistischen Staatsgefüges immer weiter auseinandertrei-
ben, bis es zu einem "weltanschaulichen und totalen Gegensatz von Regierung und
Volk und schließlich zu dem tödlichen Gegensatz von Heer und Heimat, SoIdat und
Arbeiter" kam. "Daran", das ist die Schlußfolgerung earl Schmitts, wie sie sich
konsequent aus seinem Ansatz ergibt, "ist Deutschland zusammengebrochen." 868
Drei Augenblicke inder Geschichte des letzten Jahrhunderts sind es nach Auffassung
earl Schmitts, die unheilvoll entscheidend für das Schicksal Deutschlands wurden
und seine kriegerischen und staatlichen Leistungen "beispielloser Größe" "um ihren
geschichtlichen Lohn" 869 brachten. Der erste Augenblick war das Jahr 1866, da der
preußische Soldatenstaat sich mit der Bitte um Indemnität geistig und innenpolitisch
dem Denken des bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaats unterwarf. Der zweite
Augenblick war die Reichstagsrede des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg vom
4. August 1914, in der earl Schmitt eine Unterwerfung unter das geistige Kriegsziel
des Feindes sieht, ein subalternes Bestreben, auf das Ausland einen guten Eindruck zu
machen und den Feind durch "Objektivität" und geistiges Nachgeben zu beschwich-
tigen. earl Schmitt hat dafür Ausdrücke wie "bedientenhafte Angst" und "kindische
Notstandsjurisprudenz" . 870 Und der dritte entscheidende Augenblick liegt am Kriegs-
ende, da man offen auf den preußischen Soldatenstaat verzichtete und eine "ver-
fassungsmäßig sanktionierte Unterwerfung unter die Staats- und Rechtsideale eines
eben dadurch siegreichen, erbarmungslosen Feindes" zugab. "Die Logik der geistigen
Unterwerfung vollendete sich in einer widerstandslosen politischen Knechtschaft." 871
Der Zwang der politischen Weltlage, meint earl Schmitt, hatte es nicht zugelassen,
daß die inneren Gegensätze des zweiten Reiches sich organisch auswachsen und aus-
gleichen konnten. Deshalb gab es für den preußischen Soldatenstaat nur drei denk-
bare Konsequenzen: "Entweder die klare, revolutionäre Entscheidung durch den vol-
len innerpolitischen Sieg des einen Gegenspielers über den anderen, des Soldaten über
den Bürger oder des Bürgers über den Soldaten; oder ein Herabsinken Deutschlands
... zum geschichtlichen Rang eines von außerdeutschen Bündnissystemen getragenen
Mittelstaates und Verzicht auf die deutsche Großmacht und ihren geschichtlichen Auf-
trag; oder endlich drittens heroischer Untergang in vollem Bewußtsein des verlorenen
Postens ... Während sich das Bürgertum seit dem Jahre 1917 und namentlich in der
Weimarer Verfassung auf eine tmurige posthume Art von Erfüllung seiner ,Verfas-
sungsansprüche' eingelassen hat, war es der Ruhm des Soldatenstaates und eine
Gewähr für die Wiederauferstehung Deutschlands, daß er den heroischen Weg ge-
gangen ist." 872
Dieser Wiederaufstieg Deutschlands vollzieht sich dann mit der nationalsozialisti-
schen Machtergreifung. Verfassungsgeschichtlich konstruiert earl Schmitt die Zeit von
'"' A. a. 0., S. 38.
,"6 A. a. 0., S. 32.
867 Ebda.
868 A. a. 0., S. 40.
869 A. a. 0., S. 41.
870 A. a. 0., S. 42.
871 Ebda.
872 A. a. 0., S. 37.
208 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

Bismarcks Entlassung 1890 bis zur Machtergreifung 1933 als einen einzigen Ab-
schnitt, als das Zwischenreich, währenddessen "die l~beral..,demokratische Flut uns über-
schüttete und die Juristenhirne vergiftete", 873 der freimaurerische 874 Konstitutiona-
lismus und der "Positivismus des Juden LaJband" 875 herrschten. Erst seit 1933 ist da:s
deutsche Volk und das deutsche Rechtsdenken für earl Schmitt wieder zu sich selbst
gekommen,876 die Tr:adition des ,deutschen SoMatenstaates wiederaufgenommen. Im
Zwischenreich von Weimar w,ar der parlamentar,ische Gesetzgebungsstaat, wie earl
Schmitt Salgt, "ein etwas komplizierter Albsolutismus, der unbegrenzte Gehorsams-
anspruch ,aber eine offene Vel1gewaltigung und Ider ehrliche Verzicht auf das Wider-
standsrecht eine unverantwortliche Dummheit" .877 Mit der Wendung zum totalen
Führerstaat jedoch wird dem Volke eine neue, vertrauensberechtigte Führung wieder-
gegeben, deren universelle Ermächtigung einen unwiderstehlichen Gefolgschafts-
anspruch begründet. Das Ermächtigungsgesetz, das Gesetz zur Behebung der Not
von Volk und Reich, gilt für earl Schmitt ,daher als die neue Verfassung ,des neuen
Reiches, so daß die Weimarer Verfassung in Geist und Organisation beseitigt ist.
Der Akt der Ermächtigung aber wird von earl Schmitt als der Akt interpretiert,
in dem das alte System "sich in aller Form gemäß seiner eigenen Legalität selber auf-
gibt und sein Siegel unter sein eigenes Ende setzt" .878

Der Weg vom absoluten über den neutralen zum totalen Staat
Im ganzen ergibt sich also folgendes Geschichtsbild earl Schmitts. Die Apologie für
den totalen Führerstaat ist nur die Konsequenz aus der im Denken earl Schmitts von
vornherein gegebenen Option für die konsequente politische Form. Diese vorgängige
Option für die konsequente politische Form läßt alle Bestrebungen zur Herstellung
eines Rechtsstaats als antipolitische Bestrebungen erscheinen. earl Schmitt konstruiert
für die Geschichte ,der Neuzeit auf dem europäischen Kontinent einen dialektischen
Entwicklungsgang, der "in drei Stadien verläuft: vom ,absoluten Staat des 17. und
18 . Jahrhunderts üher den netltralen Staat des liberalen 19. J alhrhundertszum totalen
Staat der Identität von Staat und Gesellschaft" .879 Dieser Weg ist zUlgleich der Weg
vom konsequenten Repräsentlationsstaat über ,den bürgrerlichen Rechtsstaat lJUffi kon-
sequenten Identitätsstaat. Die mittlere Stufe dieses Weges ,erscheint immer nur als
bloße Zwischenstuf,e, als innerlich unhalobare und inkonsequente übergangserschei-
nung. Darunter fallen alle Formen der konstitutionellen, der parlamentarisch.en
Monarchie, ,auch der konstilJutLoneHen und der parlamentarischen Demokratie, das
ganze Sysllem des P:arlamentarismll's und der rechtsstaatlich-liberalen Demokratie.
Als konsequente politische Formen stehen sich vor und nach der Zwischen- und
übergangszeit der Staat des Repräsentationsprinzips und ·der Staat des Identitäts-
prinzips gegenüber. Der Staat des Repräsentationsprinzips ist ,die absolute Monarchie.
Das V,erdienst ,der ,absoluten Fürsten war es, die feudalständische Anarchie des aus-
gehenden Mittelalters beseitilgt und den modernen Staat als politische Einheit des
Volkes hergestellt zu haben. Der absolute Monarch ist der Repräsentant der politi-

87S Schmitt, .Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts" (Anm. 42), S. 247.
87. Vgl. Carl Schmitt, .über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte", in: Positionen und Begriffe . ..
(Anm.15), S. 229 (zuerst veröffentlicht in: Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht, 3. Jg., 1936, S.10-15).
875 A. a. 0., S. 233. Vgl. auch Carl Schmitt, .Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen
Geist", in: Deutsche Juristenzeitung, Bd. 41 (1936).
878 Schmitt, .Nationalsozialismus und Rechtsstaat" (Anm. 629), S. 717.
877 Schmitt, Legalität . .. (Anm. 34), S. 24.
878 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Anm. 38), S. 8.
87. Schmitt, Der Hüter . .. (Anm. 33), S. 79.
Der Weg vom absoluten über den neutralen zum totalen Staat 209

schen Einheit, die überhaupt erst durch ihn und seine Repräsentation besteht und als
politische Einheit handlungsfähig ist. Als konsequente politische Form bedarf der
Repräsentationsstaat einer absoluten Monarchie keiner weiteren Begründung oder
Rechtfertigung. Er stellt vielmehr die strikte Verwirklichung der Souveränität dar.
Denn der Souverän, der absolute Monarch, ist es, der die maßgeHiche politische Ent-
scheidung nach innen wie nach außen fällt und dadurch überhaupt erst konstituiert,
was in der politischen Einheit als Recht und Ondnung im menschlichen Zusammenleben
gilt. Der Monarch des konsequenten Repräsentationsstaats besitzt, eben als der Sou-
verän, eine unwiderstehliche Gewalt; er ist legibus solutus, und die Fülle seiner politi-
schen Gewalt ist grenzenlos.
Gegen diese absolute Monarchie des konsequenten Repräsentationsprinzips erhebt
sich in der Franzö~ischen Revolution eine Gegenbewe~ung, die vom Bürgertum ge-
tragen wird. Die Fmnzösische Revolution hat die doppelte BedeutJung, einerseits den
Auftritt der demokratischen - auf den Staat des konsequenten Identitätsprinzips
zielenden - Bewe§ung und anderseits den Auftritt der liberalen - auf den bürger-
lichen antiabsolutistischen Rechts'staat zielenden - Bewegung dar:lJUsteUen. Die liberale
und die demokratische Bewegung erscheinen in dieser historischen Situation noch als
eine einzige Bewegung. In Wahrheit aber sind sie, nach Auffassung earl Schmitts,
nur zwei gegenden monarchischen Absolutismus verbündete Bewegungen, die ver-
schiedenen Richtungen folgen und im Laufe der Entwicklung nicht nur auseinander,
sondern sogar einander entgegentreten. Die demokratische Bewegung zielt ihrem
Sinne nach wiederum auf eine konsequente politische Form, die Staatsform des Identi-
tätsprinzips; sie zielt bereits auf den totalen Staat.
Im totalen Identitätsstaat ist das Volk bereits unmittelbar, durch seine subst'antielle
Gleichartigkeit und sein Bewußtsein eigener politischer Handlungsfähigkeit eine po-
litische Einheit. Als konsequent politische Form bedarf der Identitätsstaat der totalen
Demokratie ·ebenfalls keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung. Er ist wie der
konsequente Repräsentationsstaateine existentielle Form und ,durch seine Existenz
gerechtfertigt. Er stellt abermals eine strikte Verwirklichung der Souveränität dar.
Denn das souveräne Volk ist es, aus dessen unmittelbarer Gewalt die maßgeblichen
politischen Entscheidungen nach innen und außen gefällt werden und durch dessen
substantielle Gleichartigkeit bestimmt ist, was in der politischen Einheit als Recht und
Ordnung im menschlichen Zusammenleben gilt. Die Fülle der Gewalt des unmittelbar
präsenten homogenen Volkes ist unwiderstehIich und grenzenlos.
Die historische Zwischenstufe zwischen der absoluten Monarchie des Repräsenta-
tionsstJaats und der totalen Demokratie des Identitätsstaats ist der neutrale Staat, der
bürgerliche Rechtsstaat mitsamt seinem Liberalistischen parlamentari!schen System, die
konstitutionell beschränkte Monarchie und die auf das liberale Bürgertum beschränkte
Demokratie. Diese ZWiischenformen der bürgerlichen Monarchie bzw.der bürger-
lichen Demokratie entsprangen keinem konsequent politischen Willen, sondern einem
liberalen und antipolitischen Willen, die bürgerliche Gesellschaft überhaupt vom Staat
zu emanzipieren und für die bürgerlichen indiv1dualistischen und ökonomischen Frei-
heiten, wie persönliche Freiheit, Privateigentum, Freiheit von Vertrag, Handel und
Gewerbe, einen vor EingJ:1iffen der Hoheitsgewalten geschützten staatsfreien Raum
zu gewinnen. Das Ziel der liberalen Bewegung ist nur die Zerstörung der konsequen-
ten politischen Form, die Neutralisierung jeder Staatsgewalt überhaupt, gleichviel ob
sie die konsequente Gewalt des Identitätsstaats oder die des Repräsentationsstaats ist.
Das Ziel ist ein Rechtsstaat, der nichts als der Diener der vor- und überstaatlichen
liberalen Menschenfreiheit bzw. der bürgerlichen Gesellschaft ist, zu deren Ideologie
diese Vorstellung einer prinzipiell unbegrenzten vor- und überstaatlichen Menschen-
freiheit gehört und ,die daher jede politische Gewalt in Normierungen zu beschränken
210 Die Ideologie in der Geschichtsdeutung

sucht. Der Konstitutionalismus, ,der das Programm der liberalen Bewegung ist, richtet
sich gegen ·den Absolutismus, der in der gegebenen historischen Situation als absolute
Monarchie in Erscheinung trat. Da die liberale Bewegung aber zur Zerstörung des
monarchischen Absolutismus selbst einer politischen Kraft bedurfte, stützte sie sich
auf die politische Kraft der demokratischen Bewegung, um die Gewalt der Monarchie
ihren rechtsstaatlichen Beschränkungen unterwerfen zu können. Sie hatte hingegen
kein Interessedaran, die ihrerseits wiederum aibsoluve Gewalt der demokratischen Be-
wegung, ·die auf den totalen Identitätsstaat zielte, zur Vollendung kommer, zu lassen.
Insofern ist die liberale Bewegung in ,den Augen Carl Schmitts nur scheinbar und nur
wegen der historischen Konstellation eine zugleich demokratische Bewegung.
Die Geschichte des 19. Jahrhunderts, genauer, ,der Zeit zwischen dem Sturz des
absoluten Königtums und der Errichtung des totalen Staats, erscheint für Carl Schmitt
also bestimmt durch das Wirken ,der neutralisierenden, antipolitischen Kräfte. Die
liberale bürgerliche Bewegung, die sich im Kampf gegen die Monarchie zwar auf die
politische Kraft der demokratischen Bewegung stützt, sie aber zugleich auch zu ver-
schneiden sucht, neutralisiert die Monarchie und verstellt zugleich die Chance, mit
den antiliberalen Kräften der Demokratie zu einer neuen konsequenten politischen
Form zu gelangen.
Carl Schmitts Geschichtsbild ist nur zu begreifen, wenn man sich vor Augen hält,
daß es ihm auf die Wiederherstellung der konsequenten politischen Form und die
Beseitigung der liberal-rechts staatlichen Neutralisierungen ankommt. Ob die konse-
quente politische Form die Gestalt des absoluten Repräsentationsstaats oder die Ge-
stalt des totalen Identitätsstaats hat, ist allein eine Frage der gesellschaftlichen Ent-
wicklungsstufe. Es kann unter den Bedingungen der hochindustrialisierten und kom-
pliziert interdependenten Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht die Funktions-
fähigkeit einer absoluten Monarchie erwartet werden, wie sie der vorwiegend agrari-
schen, relativ wenig interdependenten und auch an Menschenzahl weitaus weniger
dichten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts entsprach. Aber der totale Identitätsstaat
ist für das 20. Jahrhundert nichts anderes als für das 18. Jahrhundert der absolute
Repräsentationsstaat. Inder Begriffshildung earl Schmitts sind Monarchie und Demo-
kratie keine eigentlich entgegengesetzten Begriffe. Denn er meint mit Monarchie nicht
die legitimistische, sich religiös, patriarchalisch, historisch oder dynastisch begrün-
dende Monarchie,880 sondern nur den Staat mit absoluter Staatsgewalt. Und er meint
auch mit Demokratie nicht die sich aus einer radikalen Idee von Menschenfreiheit und
Vernunft begründende Demokratie, die für alle Menschen die Hoffnungen erfüllen
möchte, welche die Aufklärung und die von ihr ausgelöste Emanzipationsbewegung in
die Welt brachten, die aber die bürgerliche Liberaldemokratie nur auf das Besitz-
bürgertum beschränken wollte; sondern er meint mit Demokratie wiederum den
Staat mit absoluter Gewalt, der sich unter den Bedingungen der gegenwärtigen Ge-
sellschaft schließlich im totalen Staat der Prinzipien von Führertum und Artgleichheit
erfüllt.
So endet also Carl Schmitts durchgängig verfolgbare Option für ·die konsequente
politische Form in einer Apologie für den totalen Führerstaat des nationalsozialisti-
schen Dritten Reiches. Es enthüllen sich damit die ideologischen Komponenten aller
rationalen Kritik, die Carl Schmitt an den politisch-gesellschaftlichen Zuständen der
Gegenwart übte, und es enthüllen sich die ideologischen Komponenten in seiner Ge-
schichtsphilosophie. Es stellt sich heraus, daß das Gedankengut earl Schmitts, das hier
betrachtet wurde, 'durchformt ist von der inzwischen in harten Erfahrungen als falsch
erwiesenen Alternative zwischen anarchischer Freiheit und autoritärer Ordnung.

880 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 21), S. 283 H.


SCHLUSSWORT

Der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung war die Frage nach den ideologi-
schen Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts. Es wur,de der Ver-
such unternommen, das Verhältnis von Aufklärung und Ideologie, von rationaler
Kritik und ideologischer Apologie im Gedankengut Carl Schmitts zu bestimmen. Die
Methode, der ,die Untersuchung folgte, bestand ,darin, daß die Beziehungen rund Ent-
sprechungen "erfolgt wurden, die sich zwischen den zeitkritischen Analysen, theoreti-
schen Begriffsbildungen, geschichtlichen Deutungen und verfassungspolitischen Optio-
nen Carl Schmitts auffinden la"ssen. Dabei wurde von der erkenntnistheoretischen
Einsicht ausgegangen, daß alle objektorientierte Erkenntnis von apriorischen Ver-
ständniskategorien geleitet ist, in denen sich in empirisch unentscheidbarer Weise,
aus der Empirie weder zu begründen noch eigentlich zu widerlegen, ,das klritischdiagno-
stizierende Bewußtsein gliedert. Es wurde von ,der weiteren Einsicht ausgegangen,
daß dieses Verständnis-a priori in allen Sozialwissenschaften rund in allen philoso-
phisch orientierten, d. h. aufs ganze gehenden Gedanken über den Menschen und
seine gesellschaftlich-politische Welt, wertenden Charakter hat, daß das Verständnis-
apriori in Gestalt bestimmter inhaltlicher Optionen ,das Denken und Erkennen durch-
formt. Da"durch kommt es, daß sich rationale und ideologische Momente im konkreten
Denken und Urteilen gegenseitig durchdringen, um im Fortgang der Geschichte dann
vordem rückblickenden Bewußtsein eben als rationale und ideologische Komponenten
ause,inanderzutreten.
Von diesen erkenntnistheoretischen Einsichten ausgehend, nahm ,die Untersuchung
folgenden Verlauf. Es wurde nach den in Betracht kommenden Schriften Carl Schmitts
zuerst das Modell des Rechtsstaates rekonstruiert, ,das sich aus ,den Implikationen der
kritischen Diagnosen Carl Schmitts ergibt. Es wurden also im ersten Teil der vorliegen-
den Arbeit die Bedingungen der Legitimität und Funktionalität eines parlamentarischen
Gesetzgebungsstaats zusammengestellt, die Carl Schmitt als Maßstähe seiner kriti-
schen Gegenwartsanalysen verwendet. Dabei wurde versucht hervorzuheben, daß
schon in dieser Bildung ,der Maßstäbe sich der Radikalismus der später mit ihnen ge-
übten Kritik bemerkbar macht, daß sie nur vordergründig Maßstäbe einer unabhän-
gigen Kritik sind, ihnen im Grunde aber von vornherein die Absicht anhaftet, dem
Nachweis der Illegitimität und Disfunktionalität parlamentarischer Demokratie im
20. Jahrhundert zu dienen, daß ihr ideologisches Moment also darin liegt, Extrapola-
tionen und Zweckkonstruktionen eines Klageanwalts zu sein, der in jedem Fall die
Aburteilung seines Gegners erreichen will.
Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wurde der Versuch unternommen, in
allen Nuancierungen Carl Schmitts polemisch-kritische Diagnose der politischen Ge-
genwartslage, insbesondere der Weimarer Republik, darzustellen. Dabei wurde ver-
sucht, deutlich zu machen, daß sich im Denken und Urteilen Carl Schmitts der Zu-
stand der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik als ein hoffnungs-
und auswegloser Entartungszustand darstellt, für den Carl Schmitt vor allem dem
212 Schlußwort

Phänomen des sogenannten Pluralismus die Schuld aufbür,det und demgegenüber ihm
auch alle Abhilfe- und Gegenbewegungen als untauglich oder bloß halbtauglich er-
scheinen. Carl Schmitts Kritik und Diagnos,e enthielten zweifellos viele Momente
echter Aufklärung und viele berechtigte Einwendungen. Aber im ganzen trat Carl
Schmitts Kritik als transzendente Kritik in Erscheinung. Sie wurde nicht um der par-
lamentarischen Demokratie und nicht um der rechtsstaatlich-demokratischen Grund-
wertol1dnung der Weimarer Republik willen geübt, sondern um der Begründung und
Rechtfertigung eines entgegengesetzten, autor,itären Systems willen. Dieser transzen-
dente Charakter seiner Kritik wur.de an den verfassungspolitischen Tendenzen seiner
Argumentation erkennbar zu machen versucht. Das ideologische Moment in der po-
lemisch-kritischen Diagnose Carl Schmitts wurde also in diesem transzendenten
Charakter seiner Kritik und in dem r~dikalisierenden, gleichsam apokalyptischen
Charakter seiner Diagnosen auszumachen versucht.
Der dritte 'teil der vorli'egenden Arbeit bemühte sich, einige Argumente zu liefern,
an denen sich die Subjektivität der kritischen Darstellungen Carl Schmitts deutlicher
erweisen sollte. Es wurde in Ansätzen versucht, ein Bild von der Wirklichkeit der
organisierten Massengesellschaft der Gegenwart zu konstruieren, in dem der funk-
tionelle und positive Sinn, auch .die positiven Chancen der beobachtbaren Fortbildun-
gen und Strukturwandlungen in den politischen Einrichtungen der Gesellschaft er-
kennbar werden sollten. Dadurch sollten .die rationalen Momente in den Diagnosen
Carl Schmitts ins wahre Licht gerückt und auf der anderen Seite die Unbegründbarkeit
und bloße Subjektivität .der ideologischen Momente in Carl Schmitts Darstellungen
deutlicher faßbar gemacht w,er,den. Es sollte gezeigt wer.den, daß die Grenzen der
Legitimität und Funktionalität einer parlamentarisch-parteienstaatlichen Demokratie
unter den Bedingungen der modernen organisierten Massengesellschaft anders ge-
zogen wel1den müssen, als Carl Schmitt es tat.
Nach dieser Einschaltung wurde im vierten Teil schließlich versucht, die eigentliche
politische Option Carl Schmitts ,darzustellen, die als oberste verstänrdnisleitende kate-
goriale Vorstellung und als Maßstab seiner politischen Werturteile Kritik und
Diagnose Carl Schmitts anführte. In earl Schmitts Option für den totalen Führer-
staat und in seiner Apologie für das nationalsozialistische Dritte Reich wurde der
Schlüssel gefunden, mit Hilfe dessen sich die ideologischen Momente in seiner sonst
rational-kritischen Diagnose aufschließen. Es wur.de Carl Schmitts verfassungspoli-
tische Konzeption emer dr.eigliedrigen politischen Einheit nach den Prinzipien von
Führertum und Artgleichheit w;iedergegeben und in ihr die Erfüllung seiner im Ge-
wande radikaler Kritik einhergehenden Hoffnungen auf die revolutionäre Wand-
lung des politischen Systems gefunden. So dann wurde herauszuarbeiten versucht, wie
sich diese Option für ·den totalen Führerstaat bereits in den früheren verf,assungs-
theoretischen Begriffsbildungen Carl Schmitts und endlich in seinen politisch-philoso-
phisch wertenden Geschichtsdeutungen zurechtlegt bzw. begründet.
Carl Schmitts Option für den totalen Fühl1erstaat erwei'st sich als eine am Ende un-
kritische und daher nur ideologisiertem Bewußtsein evidente politische Erwartung.
Bot der Zustand des parlamentarisch-parteienstaatlichen Systems der Demokratie in
der Weim<lirer Republik zweifellos Viiele Gelegenheiten für Kritik, 510 bot dieses dif-
ferenzierte polätische Syst'em in seiner Vielfältigkeit doch immer noch größere Garan-
tien und bessere Chancen für die Verwirklichung von Vernunft und substantiellem
Recht als .das von Carl Schmitt konz,ipierte totalitäre System. Denn in diesem war jede
politische Einrichtung ausschließlich auf der Vertrauenswürdigkeit der obersten poli-
tiJschen Führungsinstanz aufgebaut. Alle Garantien von Recht und Vernunft wurden
in das Vertrauen auf die unkontrolliJerbare Führung verlegt, alle Vorkehrungen gegen
möglichen Mißbrauch sogar beseitigt. Nur ideologisiertem Bewußtsein aber konnte
Schlußwort 213

entgehen, daß in einem solchen System des totalen Führerstaats die gegebene Hetero-
genität des deutschen Volkes nicht überwunden, sondern nur unterdrückt und die
rechtliche Möglichkeit der gleichen Chance nur ganz verschlossen werden konnte; daß
an die Stelle der Praxis verfestigter, aber gleichwohl noch offener und zumindest
sich gegenseitig balancierender Parteienkämpfe nur ,die Praxis der Cliquenkämpfe
und Stabsintrigen innerhalb der ol'densmäßigen Organisation treten konnte; daß idie
Praxis ,der Plebiszite nur zum verantwortungslosen und betrügerischen Spiel mit dem
Volkswillen führen und die Demokratie zum terrorist;ischen Mißbrauch des sogenann-
ten pouvoir constituant werden mußte; daß die Praxis der Regierungsgesetzgebung
in solchem System zur reinen, höchstens zwecktechnische Rücksicht nehmenden Will-
kür und zum Gegenteil von Vernunft und Gerechtigkeit wel'lden mußte; ,daß schließ-
lich die Homogenisierung nach der Fiktion eines artgleichen Volkes nur in der Besei-
tigung aller bisher errungenen politischen Kultur und in der Vernichtung der Freiheit,
in Barbarei endigen konnte.
Der tiefere Gegensatz, der sich in earl Schmitts Kritik und Lehre zu erkennen gibt
und aus dem Carl Schmitt jene Entgegensetzungen hervorbi1det, mit denen seine eigen-
tümliche Deutung der politischen Situation der Zeit jeweils arbeitet, ist der Gegensatz
von Aufklärung und Gegenaufklärung. Er kehrt in earl Schmitts Entgegensetzungen
immer wieder: Rechtsstaat und konsequente polinische Form, Liberalrsmus und Demo-
kratie, Anarchie und Autorität, humanitäre Moral und Freund-Feind-unterscheidende
Politik, substanzlose Legalität und existentielle Legitimität, leerer Positivismus und
konkrete Ordnung. Dieser Gegensatz läßt sich interpretieren als der antibürgerliche
Gegensatz gegen die Ideologie einer automomistischen Fortschrittserwartung, ,der je-
doch, selbst ideologisch, sich als bloße Gegenaufklärung qualifiziert, insofern er ein
bloßer Widerspruch ist. earl Schmitts Widerspruch gegen die Ideologie der Emanzipa-
tion und Aufklärung hat die Struktur einer apokalyptischen Ursprungsromantik und
ist insofern bloße Verneinung und Rückwendung, ermöglicht aber keine Aufhebung
der SeIbstentfremdung des Menschen inder noch unbewälügten Gesellschaft des
20. Jahrhunderts.
Geht man mit Paul Tillich 881 von der philosophisch-anthropologischen Einsicht aus,
daß der Mensch "im Unterschied von der Natur ein in sich gedoppeltes Wesen" ist,
"das Sein, das in sich zuselbstbewußtem Sein g,edoppelt ist" ,882 so stellt sich ,der Mensch
als ein Wesen dar, das einerseits ursprungsgebunden ist und sich auch ursprungsgebun-
den weig,d. h. gebunden in Gegebenheiten, aus denen er stammt, in denen er sich vor-
findet und in die er zurückgerufen wird. Anderseits stellt sich der Mensch in seinem
Sein und Bewugusein als ein Wesen dar, das losgelöst und aus ,dieser Ursprungsbedingt-
heit freigesetzt ist. In seinem Sein ist der Kreislauf des bloß Seienden durchbro-
ehen, durch ihn kann etwas grundsätzlich Neues geschehen. Der Mensch steht unter
der Forderung, "daß durch ihn unbedingt Neues werden soll" 883 und daß sich durch
ihn das Sein in der Gerechtigkeit erfüllen soll. Von dieser Einsicht ausgehend, folgert
Tillich, daß das "ursprungsmythische Bewußtsein die Wurzel alles konservativen und
romantischen Denkens" 884 und Verhaltens in der Politik, hingegen die "Brechung des
Ursprungsmythos durch die unbedingte Forderung ... die Wurzel des liberalen, de-
mokratischen und sozialistischen Denkens" 885 und Verhaltens in der Politik sei. Til-
881 Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung (Schriften zur Zeit, hrssg. vun August Rathmann), Offenbach
am Main 1948 (Neudruck,!. Aufl. 1932). Diese Schrift stellt einen immer noch aktuellen und hervorragenden Ver-
such dar, in politisch-philosophierender Betrachtung den Zusammenhang von Aufklärung und Gegenaufklärung,
bürgerlichem Liberalismus, demokratischem Sozialismus und politischer Romantik darzustellen.
882 A. a. 0., S. 17.

883 A. a. 0., S. 19.


884 A. a. 0., S. 18.
885 A. a. 0., S. 19.
214 Schlußwort

lich konstruiert die anthropologische Spannung zwischen Ursprung und Forderung,


Bedingtheit und Unbedingtheit geschichtsphilosophisch. Danach erscheint ,die antik-
heidnische Welt in ihrem Denken ebenso wie in ihrem gesellschaftlich-politischen Sein
als ,die Welt des Ursprungsmythos, eines menschlichen Bedingtheitsbewußtseins, das
tragisch vor ,der Unfreiheit und Ungerechtigkeit ,des für heilig g,ehaltenen Seins
l'esigniert. Der Bruch mit diesem Ursprungsmythos erfolgt zumerstenmal im jüdischen
Prophetismus, dessen weltgeschichtliche Aufgabe in der Freisetzung menschlichen Un-
bedingtheitsbewußtseins liegt. Der Mensch erfährt die unbedingte Forderung ,der Ge-
rechtigkeit und durchbricht mit der auf die unbedingte Verheißung gerichteten End-
erwartung den Kreislauf heilig-tr<ligischen Seins, um in ,der Zeit, die vom Ursprung
auf die Erfüllung der Bestimmung gerichtet rst, eine geschichtliche Existenz zu begin-
nen. Ein zweiter Bruch mit dem Ursprungsmythos erfolgt in der Aufklärung. Er ist
radikaler als der des Prophetismus, insofern er zur Verabsolutierung menschlich'en
Autonomiebewußtseins führt. Es werden alle Ursprungsdimensionen verdrängt, das
Seiende verliert seine Heiligkeit und Mächtigkeit und wird zum Ding in der Macht
des Menschen. Ebenso verlier,en aber auch Forderung und Verheißung der Gerechtig-
keit ihre Mächtigkeit und lösen sich einerseits ,in einen ideologischen Harmonieglau-
ben, andeJ:1seits in die Feme einer unendlichen Zeit ,des Fortschritts auf. Wie im Ur-
sprungsmythos die Freiheit, wü,d nun in der Autonomitätsideologie die Gerechtigkeit
verfehlt. Wie dort die Bindung wegen der Resignation vor der Ungerechtigkeit ,des
Seins unfrei war, ,so ist hier nun Freiheit wegen der Erwartung der Gerechtigkeit der
Zeit ungebunden. Der Mensch, ,der im Ursprungsmythos seine Bestimmung noch nicht
gefunden hatte, hat sich nun in der Autonomitätsideologie seiner Bestimmung ent-
fremdet, seiner Bestimmung nämlich, in Sein und Zeit die Freiheit zur Erfüllung in
der Gerechtigkeit zu bringen.
In der "radikalen Auflösung aller ursprünglichen Gegebenheiten, Bindungen und
Gestalten in rational zu bewältigende Elemente", im "weltgeschichtlichen Angriff auf
Ursprungsmythos und Ursprongsbindung in allen Teilen der Erde" 886 sieht Tillich
das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre Radikalität zerbricht jedoch an sich
selbst, die Autonomie "gerät in eine Entleerung, deren negativer Charakter ,der beste
Nährboden für neues Aufbrechen positiven Heidentums" 887 und für einen Rückfall
in den Ursprongsmythos ist. Denn die Kräfte ,des Ursprungsmyrhos bestehen und
wirken fort. Sie können ,aufgehoben im dialektischen Sinne, aber nicht ausgerottet
wel'den. Der Versuch zu ihrer Ausrottung führt nur zu Ver,drängung, Nihilismus und
schließlich Rückfall in ,den Ursprungsmythos. Die verabsolutierte Autonomie setzt
nur die Kräfte der geistigen und gesellschaftlichen Gegellbewegung frei, die den ge-
brochenen Ursprungsmythos zurückzugewinnen suchen. Von hier aus begreift Tillich
die Möglichkeit ,der Gegenaufklärung, die er politische Romantik nennt und deren
inneren Widerspruch er ebenso deutlich heraushebt wie ,den inneren Widerspruch und
das Zerbrechen des radikalen Emanzipationsprinzips. "Die politische Romantik ist ...
die Gegenbewegung gegen Prophetie und Aufklärung auf ,dem Boden einer Geistes-
und Gesellschaftslage, die durch Prophetie und Aufklärung bestimmt ist." 888
Es erscheint möglich, mit diesen Kategorien auch Garl Schmitt zu hegr,eifen. Denn
richtiges und f.alsches Bewußtsein ,in Garl Schmitts Lehren ol'dnen sich aufschlußreich
dem Sinn und W,rderspruch dessen ein, was Tillich als konservative und revolutionä,re
Formen der politischen RomamtJik und Gegenaufklärung zu analysieren sucht. Garl
Schmitts Wendung gegen ,die humanitäre Moral des Liberalismus entspricht einer
Wendung gegen das bürgerliche Prinzip ,der Autonomie und gegen die raJdikale Bre-
88. A. a. 0., S. 49.
607 A. a. 0., S. 33.
888 A. a. 0., S. 34.
Schlußwort 215

chung aller Ursprungskräfte. earl Schmitts Begriffe von Fiihrertum, von Artgleich-
heit, eigentlicher Politik, existentiell politischer Ol'dnUDJg und Bindung an substantielle
Homogenität, entsprechen ,der Rückwendung zu ,den Ursprungskräften und lassen den
inneren Widerspruch erkennen, ,der die politische Romantik charakterisiert: ,das Prin-
zip ,der Aufklärung zurücknehmen anstatt aufnehmen zu wollen und doch auf dem
Boden einer von ihm geprägten Geistes- und Gesellschaftslage zu stehen. earl Schmitts
Kritik und Lehre läßt Elemente richtigen Bewußtseins erkennen, wo sie sich gegen die
entsubstantialisierenden Folgen eines radikalen Autonomieglaubens und gegen das
entleerte rationalistische System wenden. Sie zeigen aber überall dort die Elemente
des falschen Bewußtseins politischer Romantik, wo die Kritik apokalyptische Züge an-
nimmt und die Option sich auf die strikte Verneinung des bürgerlichen PI1inzips bzw.
auf politische Formen richtet, in denen das bürgerliche Prinzip strikt zurückgenom-
men anstatt aufgehoben ist. Die ideologischen Komponenten in ,der politischen Philo-
sophie earl Schmitts erweisen sich an dem inneren \Vr~derspruch, an dem sie gemeinsam
mit aller bloßen Gegenaufklärung und politischen Komantik kranken: vom Boden
und mit ,den Mitteln einer rationalisierten, ursprungsgebrochenen, emanzipierten Ge-
sellschaft her die ul1sprungsmythischen Bindungen eines unerfüllten und verheißungs-
losen, heilig-tragischen Seins zurück gewinnen zu wollen. earl Schmitt verfällt gegen-
aufklärerischer Ideologie, wo seine politische Kritik und seine politische Option sich an
der bloßen Zurücknahme anstatt an der Aufhebung des aufklärerischen Rationalismus
orientieren. Er verfehlt infolge des Wirkens seiner ideologischen Optionen den Weg
der theoretischen und praktischen Kritik, der an Anarchie und Totalitarismus vorbei
zur geordneten Freiheit führen könnte. So krankt sein Denken an der falschen Alter-
native von Anarchie und Autorität und verfehlt jene Richtung auf einen Zustand ge-
ordneter Freiheit, in dem allein Freiheit und Gerechtigkeit sich gegenseitig erfüllen
können.
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-, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft. Vortrag, Tübingen 1950
-, Donaso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation. Vier Aufsätze, Köln 1950
-, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945-47, Köln 1950
-, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950
SCHRIFTEN DES INSTITUTS FÜR POLITISCHE WISSENSCHAFT

Bisher erschienen

Band 1: Wahlkampf und Machtverschiebung


Geschichte und Analyse der Berliner Wahlen vom 3. Dezember 1950. Von Stephanie Münke.
Mitarbeit, Redaktion und Einleitung: A. R. L. Gurland.
(Duncker u. Humblat, Berlin)

Band 2: Faktoren der Machtbildung


Wissenschaftliche Studien zur Politik. Mit Beiträgen von K. D. Bracher, Martin Drath, Otto
Heinrich von der Gablentz, A. R. L. Gurland, Ernst Richert.
(Duncker u. H umblat, Bertin)

Band 3: Totalitäre Erziehung


Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutsmlands. Von M. G. Lange. Mit einer Einleitung
von A. R. L. Gurland.
(Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen)

Band 4: Die Auflösung der Weimarer Republik


Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Von Karl Dietrich Bracher.
Mit einer Einleitung von Hans Herzfeld.
(Ring-Verlag, Villingen, Schwarzw.)

Band 5: Wis's·enschaft im totalitären Staat


Die Wissenschaft der Sowjetischen Besatzungszone auf dem Weg zum "Stalinismus". Von
M. G. Lange. Mit einem Vorwort von Orto Stammer.
(Ring-Verlag, Villingen, Schwarzw.)

Band 6: Parteien in der Bundesrepublik


Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953. Mit Beiträ~en
von Max Gustav Lange, Gerhard Schulz, Klaus Schütz, Arnold Bauer, Rudolf Holzgräber,
Martin Virmow. Mit einer Einleitung von Sigmund Neumann.
(Ring-Verlag, Villingen, Schwarzw.)

Band 7: Wähler und Gewählte


Eine Untersuchung der Bundestagswahlen 1953. Von Wolfgang Hirsch-Weber und Klaus Schütz.
Unter Mitarbeit von Peter Schran, Martin Vitchow u. a. Mit einem Vorwort von Otto
Stammer.
(Verlag Franz Vahlen, Berlin und Frank/urt)

Band 8: Der Funktionär in der Einheitspartei


Kaderpolitik und Bürokratisierung in der SED. Von Joachim Schultz. Mit einer Einleitung
von Otto Stammet.
(Ring-Verlag, Villingen, Schwarzw.)

Band 9: Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland


Studien über die "Sozialistische Reichspartei" (SRP). Von Otto Büsch und Peter Furth. Mit
einer Einleitung von Eugen Fischer-Baling.
(Verlag Franz Vahlen, Berlin und Frank/urt)

Band 10: Agitation und Propaganda


Das System der publizistischen Massenführung in der Sowjetzone. Von Ernst Richert, in Zu-
sammenarbeit mit Carola Stern und Peter Dietrich. Mit einer Einleitung von Otto Stammet.
(Verlag Franz Vahlen, Ber/in und Frankfurt)
Band 11: Macht ohne Mandat
Der Staatsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Von Ernst Richert.
Mit einer Einleitung von Martin Drath.
(Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen)

In Vorbereitung befinden sich beim Westdeutschen Verlag

Band 13: Gewerkschaften in der deutschen Politik


Von Wolfgang Hirsch-Weber

Band 14: Die nationalsozialistische Machtergreifung


Von Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz

Band 15: Reichswehr und Politik


Von Wolfgang Sauer

Bestellungen 'Wollen Sie bille an die angegebenen Verlage richten

INSTITUT FüR POLITISCHE WISSENSCHAFT AN DER FREIEN UNIVERSITÄT


BERLIN
BERLIN-DAHLEM . GELFERTSTRASSE 11

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