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NS 8 - 104-126 - Die Antiplatonische Experiment Ns... - R. Maurer PDF
NS 8 - 104-126 - Die Antiplatonische Experiment Ns... - R. Maurer PDF
1
Nachlaß der achtziger Jahre, GA IX, 190.
2
Nach K. Jaspers (Nietzsche, Berlin 1935, 36) hat Nietzsche von den großen Philosophen' jiur
Platon gründlicher gelesen, und zwar in verschiedenen Entwicklungsphasen.. Noch 1883
konnte er an Overbeck schreiben, er sei „starr vor Verwunderung, wie wenig er Platon
kenne".
3
Vgl. M. Heidegger im Anschluß an Nietzsche: „Durch die ganze Geschichte der Philosophie
hindurch bleibt Platons Denken in abgewandelten Gestalten maßgebend. Die Metaphysik ist
Platonismus" (Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 63). Davon offenbar unabhängig
schreibt A. N. Whitehead ganz ähnlich: „The safest general characterization of die European
philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato" (Process and
Reality, Cambridge 1929, 53). ,
4
JGB, Vorrede.
Das antiplatonische Experiment Nietzsches 105
$
„( · - .] daß wir nicht das geringste Recht haben, ein jenseits oder ein An~skh der Dinge anzu-
setzen t da* , göttlich-, das leibhafte Mofa! *aV (Nachlaß Herbst 1887, KG W VIII 2, 10 [ 192]),
* GA XIV. 327.
?
Hobbes: Leviadun, trad. Eudbtten Neawied/Berim 1966, 56.
* ebd., 122.
9
ebd.; vg|. 113 über „Wen* (value).
10
ebd„, 75.
ls
ebd. - im Original: **a pcrpcmall and rcsde$wr d&irc of JPower alter
« UB/DS, KTA 71, 42.
106 Rcinhan Klemens Maurer
samer, da auch der Täuschende die Täuschung für Wahrheit hält und sich
damit als Vollzugsorgan eines umgreifenden, wirklichkeitsmächtigen Prinzips
sieht. Er hat dann ein ungebrochenes und ein stärkeres Selbstbewußtsein als
im Fall der mehr oder minder bewußten Täuschung anderer.13 Meistens wird
wohl Ideologie so verstanden, daß Selbsttäuschung im Spiel sei. Herrschende
und Beherrschte stünden dann in einem umfassenden Zusammenhang von
falschem Bewußtsein, der — solange die Ideologie trägt - prinzipiell allen
Beteiligten vorspiegelt, daß es in ihrem Erkennen und Handeln nicht um
partikulare Interessen, sondern um ein Allgemeineres, Vorgegebenes gehe.
Das worum es geht, nennen sie Wahrheit und versuchen es theoretisch zu be-
gründen, während es praktisch folgenreich ist.
Ideologie als Selbsttäuschung ist demnach das Produkt eines Bewußt-
seins, das sich für autark hält, Gegenstände so wie sie an sich selbst sind, zu
erkennen. Zu diesen Gegenständen reiner Theorie soll auch das Gute an sich,
d. h. im vorgefundenen Sein liegende Werte und Nonnen, gehören, die dann
kraft der theoretischen Einsicht praktisch werden, indem sie unter anderem
dem Bereich der als chaotisch angesetzten Bedürfnisse, Instinkte, Triebe,
Interessen14 Maß und Ziel geben. Ideologiekritik basiert dagegen auf der
These, das Bewußtsein sei nicht autark, weder in seiner theoretischen
Funktion, noch in seiner praktischen Behandlung des Bereichs i. Im
einzelnen ist Ideologiekritik die Zurückführung von Bewußtseinsakten und
-produkten auf Bedingtheit durch Antriebe der Sphäre i. Ideologiekritik ist
also gleichfalls Produkt eines Bewußtseins (B 2), jedoch eines solchen, das für
sich selbst in Anspruch nimmt, eine Dimension mehr zu haben als das
Ideologien produzierende Bewußtsein B l. B 2 ist zusätzlich Reflexion seiner
Bedingtheit durch den Bereich i. Auch B l ist nach B2 durch i bedingt, weiß
es jedoch nicht oder will es nicht wahrhaberi: reflektiert entweder nicht
darauf oder unterschätzt die Bedingtheit.
„Ideologie" ist somit die pejorative Bezeichnung einer Bewußtseinsform
B l durch eine andere, nämlich B2, die sich als Kritik von B l konstituiert,
indem sie sich etwas darauf zugute hält, ihre eigene Bedingtheit zu kennen.
B2 beansprucht gegenüber B l eine Überlegenheit, die sich erstens daraus
herleitet, daß B2 eine Reflexionsdimension mehr hat, sozusagen auch
beachtet, was hinter seinem Rücken vorgeht. Zweitens jedoch soll diese
Überlegenheit in der Bescheidenheit liegen, sich im Gegensatz zu B l als nicht
autark, sondern als bedingt zu erfassen.
Obwohl nun Nietzsche mit dem Begriffspaar Ideologie — Ideologie-
kritik nicht arbeitet*5, ist dieser Dualismus der Sache nach zweifellos zentral
13
s. u. Anm. 83, S. 125. . .
14
Im folgenden wird abgekürzt vom Bereich i gesprochen.
15
In K. Schlechtas „Nietzsche-Index" (Darmstadt 1965, 165) ist „Ideologie" nur einmal recht
Das antiplatonische Experiment Nietzsches 107
für seine Theorie. Über mehrere Zwischenstufen (vor allem Bedingtheit durch
Sprache und Moral) versucht er immer wieder, Formen und Grundbegriffe
vermeintlich autarken Bewußtseins oder „reinen Geistes** auf eine Sphäre i
zurückzuführen. So werden im ersten Teil der Schrift »Jenseits von Gut und
Böse" die Grundbegriffe herkömmlicher Philosophie mit Vorurteilen in Ver-
bindung gebracht, die — über Zwischenstufen moralisch und sprachlich
bedingter Vorprägungen — aus „Instinkt-Tätigkeiten", „physiologischen
Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben" hervorgehen
sollen16. Diesen Reduktionsansatz teilt Nietzsche prinzipiell mit anderen
Ideologiekritikern, im 19. Jahrhunden vor allem mit Marx und Freud. Dabei
scheint Nietzsche letztlich von einer psychologisch-physiologisch zu er-
schließenden ersten Natur auszugehen, während Marx und Freud realistischer
eine geschichtlich-gesellschafdich immer schon überformte Natur des
Menschen zugrunde legen: der eine, indem er als bewußtseinsbedingende
Primärsphäre einen sozio-ökonomischen Basisprozeß der Geschichte ansetzt,
der andere, indem er frühkindliche Triebformungen und -Verformungen zu-
grunde legt.
Nach Nietzsche sind freilich jene menschlichen Instinkttätigkeiten und
physiologischen Forderungen nur eine spezifische Ausprägung einer Grund-
tendenz der Wirklichkeit, die er „Wille zur Macht" nennt. Nur wenn man
diesem Begriff nicht weiter nachfragt, erscheinen Nietzsches Reduktionen auf
Naturgegebenheit stellenweise im Vergleich zu Marxscher und Freudscher
Ideologiekritik zu einfach, nämlich primitiv biologistisch zu sein. Wenn man
dagegen mit Nietzsche — was im folgenden versucht werden soll — Natur
und überhaupt Wirklichkeit vom „Willen zur Macht" her begreift, dann
erscheint alle An aufklärerischer, emanzipadver Ideologiekritik einschließlich
Marx und Freud gegenüber seinem Ansatz unreflektiert, naiv, inkonsequent,
Nietzsche faßt das Problem Ideologiekritik so grundsätzlich und betreibt
diese Kritik so konsequent und extrem, daß man von ihm aus über andere
Ideologiekritiker urteilen muß: sie wissen nicht, was sie tun. Indem sie in der
Ausführung die Radikalität ihres Ansatzes nicht durchhalten, verschleiern
und verharmlosen sie die wahre Bedeutung des antiplatonischen Experiments
der Neuzeit. Freilich kommt auch Nietzsche, wie sich im folgenden zeigen
wird, nicht los vom Platonismus und seinem Währheitsbegriff, doch er weiß
darum: „auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Anümeta-
physiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein
jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der
Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich'
unspczifi^h in einer krimdien Wendung gegen „alle moderne Ideologie und Herden-
Wünvchbarkcit" belegt.
»· JOB Nr. 3; vgl. Nr, 20; vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, KGW VIII 3, 14 (142].
108 Reinhart Klcmcns Maurer
ist.. /<!7. Im Wissen um diese Problematik geht seine Philosophie noch eine
Rcflcxionsstufe über die gewöhnliche Ideologiekritik von Hobbes bis Freud
hinaus.
2. Wirklichkeit als Chaos von Machtquanten
Doch wie es nun auch mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer
totalen Abkehr vom Platonismus stehen mag, zunächst versucht Nietzsche,
sich einer (entplatonisierten) Wirklichkeit zu stellen, in der es in keinerlei
Hinsicht weder das Gute an sich gibt, noch einen reinen Geist, der es — wie
mangelhaft auch immer — erfassen und danach leben könnte. Eine solche
ideologiefrei erfaßte Wirklichkeit wäre, wie Nietzsche schon sehr früh er-
kennt, statt einer natürlichen und/oder göttlichen Weltordnung ein „Strudel
von Kräften"18. Diese Kräfte sind nicht „telpologisch" auf irgendein Ziel hin
geordnet, sondern haben nur die Tendenz, sich auszulassen19. „Leben selbst
ist Wille zur Macht"20, und nicht nur Leben, sondern Wirklichkeit über-
haupt ist die „tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von
Machtansprüchen"21. Die Wirklichkeit ist dynamisch das Wirken der vielen
Macht- oder Kraftquanten aufeinander, indem „jede Macht in jedem Augen-
blicke ihre letzte Konsequenz zieht"22. Der Wille zur Macht sei „das letzte
Faktum, zu dem wir hinunterkönnen"23; „das innerste Wesen des Seins" sei
„Wille zur Macht"24.
Dabei sind solche Ausdrücke wie „Wille" und „Wesen", die Nietzsche
aus der traditionellen Begriffssprache der Philosophie übernimmt, offenbar
nicht in ihrem traditionellen Sinn zu verstehen. Der Wille zur Macht ist kein
Wille, in dem ein bestimmtes Subjekt sich auf ein bestimmtes Ziel richtet.
Solche Subjektidentität ist in der Moderne problematisch geworden. Schon
wenn Schopenhauer sagt, der Wille sei „das ,An sich der Dinge'", ist nach
Nietzsche dieser Willen völlig leer: man hat „den Charakter des Willens weg-
gestrichen [. ..], indem man den Inhalt, das Wohin? herauss#&trahiert hat"25.
Und zu fragen: „Aber wer will Macht?"26 ist nach Nietzsche absurd. Einen
17
GM, Dritte Abh., Nr. 24; vgl. FW Nr. 344; vgl. Nachlaß, GA XIII, 9: „Man ist unbillig
gegen Descartes, wenn man seine Berufung auf Gottes Glaubwürdigkeit leichtfertig nennt. In
der Tat, nur bei der Annahme eines moralisch uns gleichartigen Gottes ist von vornherein die
»Wahrheit* etwas, das Erfolg verspricht und Sinn hat."
18
Wir Philologen, Nr. 181, KTA 71, 594.
19
JGB Nr. 13.
20
ebd.
21
JGB Nr. 22.
22
ebd.; vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, KGW VIII 3, 14 [81], [82].
23
Nachlaß; GA XIV, 327.
24
Nachlaß Frühjahr 1888, KGW VIII 3, 14 [80]; vgl. JGB Nr. 186.
2
* ebd., 14 [121].
26
ebd., 14 [80]. , '
Das antiphtOfflsche Experiment Nietzsches 109
Willen als die Äußerung eines festumrissenen Subjekts gibt es nach ihm nicht.
An der Stelle des vermuteten Subjekts sind nur MWillens-Punktationen, die
besündig ihre Macht mehren oder verlieren"27.
Die Wirklichkeit ist in dieser modernen Interpretation* die Nietzsche
aufnimmt und vollendet* ein Subjekt- und zielloses Chaos von Macht-
quanten. Während es an jener bereits angesprochenen frühen Stelle heißt; „In
dem großen Strudel von Kräften steht der Mensch und bildet sich ein, jener
Strudel sei vernünftig und habe einen vernünftigen Zweck: Irrtum!", löst sich
konsequenterweise dem späteren Nietzsche dieser Mensch als gegenüber-
stehendes Subjekt auf2*. Er ist Teil des großen Strudels, des Spiels von
„Kräften und Kraftwellen"* Das Subjekt, die Seelenmonade, das Ich ist auch
nur ein Philosophenvoruneil29. Im Nachlaß heißt es: „Diese Welt ist der
Wille zur Macht — und nichts außerdem} Und auch ihr selber seid dieser
Wille zur Macht - und nichts außerdem!**30
27
N'achkß November 1887-Marz 1888, KGW VIII 2, 11 [73]; vgl. F\V Nr. 127.
2B
„Die ganze Attitüde »Mensch gegen Weh% der Mensch als ,Weh-verneinendes* Prinzip, der
Mensch als Wertmaß der Dinge, ab Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine
Waagschalen legt und zu leicht befindet - die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser
Attitüde ist uns als solche zum Bewußtsein gekommen und verleidet — wir lachen schon,
wenn wir ^Mensch und Welt* nebeneinandergestellt finden, getrennt durch die sublime
Anmaßung des Wörtchens »undT* (FW Nr. 346). Nietzsche radikalisim den schon seit der
Antike bekannten, neuzeitlich verstärkt wieder aufgenommenen Subjektivismus, indem er ihn
auch kritisch gegen sich selbst kehrt* Wenn das Subjekt anfangs der Neuzeit sich vor allem
nach außen wendet, dort alles nach sich relativierend, wird es zunächst davon abgelenkt, sich
und seine Maßstäbe konsequenterweise auch in Frage zu stellen« Die festen Konturen, die es
(z. B. durch Kant) bei sich selbst bewußt oder unbewußt voraussetzt, sind Reste
oniologischcr oder theo-logischcr (z, B. bei Dc&cancs) Grundannahmen. Nachdem daher
Nietzsche den Verdacht artikuliert hat, alle logische Bestimmtheit zeuge nur von deren
„regulativen Wichtigkeit für uns*', stellt er dann auch dieses subjektive bzw, intcrsubjcktivc
Maß in Frage: „Gesetzt nämlich, daß nicht gerade der Mensch das 9Maß der Dinge4 ist. . ."
0GB Nr. 3). in dam Homo-mensura-Sitz des Protagoras steckt noch sehr viel ontologischer
Optimismus (dazu R. Maurer: Der Zusammenhang von Technik und Gerechtigkeit und »eine
metaphysische Grundlegung in Platons tPolitcia\ in: Philosoph, Jahrbuch 82, 1975;
259-284). Auf Grund de* neuzeitlichen Univertalzweifcls können wir nicht mehr sicher sein»
ob oder wieweit die Realität unser Maß annimmt.
29
z. B. JGB, Vorrede und Nr. 54; ähnlich an vielen Stellen des Nachlasses der achtziger Jahre,
* Nachlaß Jum~Juli >3$*> KGW VII J, JS |I2J.
110 Rcinhart Klcmens Maurer
bietet, eine Extrapolation des Ich-Begriffs und fällt mit diesem: „Wir haben
»Einheiten* nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß
es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von
unserem Jch'-Begriff, — unserem ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns
nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff ,Ding' gebildet"31.
Nach Abzug der ideologischen Zutaten blieben von der Wirklichkeit keine
Dinge übrig, „sondern dynamische Quantaj in einem Spannungsverhältniß
zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu
allen anderen Quanten besteht, in ihrem , Wirken* auf dieselben — der Wille
zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos"32.
Statt „Wille zur Macht" und „Pathos" würde man heute wohl weniger
anthropomorph, doch nur teilweise bedeutungsgleich „Funktion" sagen33.
Und vielleicht gelingt es ja nun dem systemtheoretischen Funktionalismus
(z. B. N. Luhmann), das alteuropäische Problfem der Einheit ganz aufzulösen
in Wiederholung des sophistischen Ansatzes, der nach Platon behauptet, daß
„nichts an und für sich eine Einheit ist, sondern immer nur wird für irgend
ein anderes"34. Bei Nietzsche freilich liegt neben anderen die Frage nahe, wie
es mit jenen Kraftquanten oder Willens-Eunktationen stehe, ob sie nicht
doch letzte Einheitselemente, Atome der Wirklichkeit seien. Merkwürdiger-
weise spricht er an der einen zitierten Stelle von „Kräften und Kraftwellen",
als wenn er schon die physikalischen Theorien über den Doppelaspekt
(Teilchen oder Wellen) der kleinsten Realitätselemente gekannt hätte. So
würde sich das Problem letzter Bauteilchen der Realität in Zweideutigkeit
auflösen. Bei den meisten Formulierungen der Quantentheorie Nietzsches
stellt sich jedoch die Frage, ob jene letzten Kraftquanten unteilbar und stabil
seien oder auch wieder wechselnde Koalitionen von instabilen Elementen.
Hier darf man anscheinend nicht weiterfragen, um nicht in einen unendlichen
Regreß zu geraten. Bei allen komplizierteren relativen Einheiten geht seine
Theorie jedenfalls davon aus, daß sie nur zeitweilige Koalitionen seien.
Die Existenz komplizierter, in sich gegliederter und gegensätzlicher, nur
mehr oder weniger stabiler Einheit nimmt Nietzsches Theorie nämlich
ausdrücklich an35. Ihr kommt es offenbar auf die Abwehr eines zu einfachen
Einheitsbegriffes an, zum Beispiel wenn es heißt: „Alle Einheit ist nur als
31
Nachlaß Frühjahr 1888, KGW VIII 3, 14 [79]; vgl. Nachlaß November 18'87-März 1888,
KGW VIII 2, 11 [73].
32
Nachlaß Frühjahr 1888, KGW VIII 3, 14 [79].
33
Neuerdings hat M. Funke versucht, Nietzsche als einen (defizienten) Funktionälisten zu
deuten („Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche", Stuttgart 1974).
34
Theaitetos 157 B.
35
Im Nachlaß des Jahres 1888 heißt es im Anschluß an die bereits zitierte Stelle über die
Absurdität der Frage „Aber wer will Macht?": „Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der
Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten . . ." (KGW VIII 3, 14 [80], 52). Das
Das antiplatonische Experiment Nietzsches 111
stützt die zentrale These von W. Müller-Lauters Buch „Nietzsche, Seine Philosophie der
Gegensätze und die Gegensatze setner Philosophie'* (Berlin 1971). Dennoch ist die Frage, „was
denn die unablässig sich wandelnden Organisationen von Willen zur Macht sowohl zu-
sammenbringe und in sich zusammenhalte wie auch zerfließen lasse'S nicht beantwortet,
wenn man mit Müller* Lauters Nietzsche-Interpretation feststellt: „es sind Gegensätze, die
alle Aggregation wie auch alle Disgregation ermöglichen, und zwar sowohl die Gegensätze, die
einer Organisation je immanent sind, als auch diejenigen, die ihr je , außen", von einer
anderen Organisation her, entgegentreten" (op. cit. 33). Die Gegensätze können ja wohl erst
dann schöpferisch wirken und neue, komplexere Einheiten hervorbringen, wenn erst einmal
Einheiten da sind, die dadurch, daß $ie sich auf sich beziehen, von anderen absetzen und so
Gegensätze erzeugen. Die Dialektik der Hegeischen „Logik", nicht nur in diesem Punkt an
Piaton anschließend, ist da einleuchtender,
Wenn man statt von (in sich und untereinander gegensätzlichen) Einheiten vom Gegen-
satz selber ausgeht, der allererst Einheiten erzeugen soll, dann ist der Gegensatz das erste und
letzte. Das angemessene philosophische DarstcUungsmtttel ist dann der Aphorismus, der den
Gegensatz punktucll feststellt, nicht aber die dialektisch-systematische Entwicklung. Daher
hat T. W. Adorno recht, wenn er bemerkt, Nietzsche bleibe beim Widerspruch stehen (z. B.
„Zur Metakritik der Erkenntnistheorie", Stuttgart 1956, 27).
Wenn er aber fortfahrt, es handle sich um einen Widerspruch, „aus dem die Sclbstrcflcktion
des Gedankens erst noch sich herausarbeiten müßte", dann hat er wohl Nietzsche unter*
schätzt und die realen Widersprüche bzw. Gegensätze, die dieser aufgreift. Nietzsches Philo-
sophie ist offenbar nicht in dem schiechten Sinne „idealistisch", daß er versucht, sich aus
Widersprüchen nur in Gedanken herauszuarbeiten. Nietzsche scheint einige wirklichkcits-
mächtigc Gegensätze erstmalig erkannt zu haben, die erst dann zu bewußten Antrieben einer
dialektischen Entwicklung in Theorie und Praxis werden können, wenn ihre Erkenntnis allge-
meiner geworden ist.
* Nachlaß Herbst I885-Herf>*t 1886t KGW VIII l, 2 {87J.
» JGB Nr. 12.
Dasjenige, was die Einheit erfaßt, wenn es sie auch nicht allein
konstituiert, ist nun aber das Bewußtsein oder der Geist — wie man es nennen
will. Worin liegt überhaupt das Antiplatonische der Konzeption Nietzsches,
wenn schließlich doch, wie sich zeigt, die Wirklichkeit nach ihr keine
„atomistische Anarchie" sein soll und wenn das menschliche Subjekt zwar
Teil des großen Strudels der Kräfte ist, jedoch ein relativ einheitlicher Teil,
sozusagen ein kleiner, in sich zentrierter und bewußt reflektierter Strudel?
Denn die Konzeption der Seele als einer pluralistischen Einheit und der
Vergleich mit dem politischen Gemeinwesen stammt offenbar direkt aus
Platons „Politeia" (Buch IV und IX). Zunächst scheint Nietzsche ja nicht nur
eine Umdrehung des Platonismus vornehmen zu wollen, sondern intendiert
sogar in der Negation des reinen Geistes und des Guten an sich eine dezidiert
antiplatonische Position. An die Stelle der vernünftigen Seele und ihrer
Teilhabe an einer umfassenden Wirklichkejtsvernunft scheint das Chaos
blinder Machtwillen als sich auslassender Kraftquanten zu treten. Scheitert
dieser Ansatz am Problem der Einheit, zumal der bewußten? Stößt hier die
Ideologiekritik auf einen Begriff, den sie nicht als ein Philosophenvorurteil
einfach beiseite schieben kann?
Zumindest ist der antiplatonische Ansatz an dieser Stelle zu Modifika-
tionen gezwungen, von denen zunächst offen bleiben muß, ob sie die
Substanz des Ansatzes selbst berühren. Im Blick auf Nietzsche von Anti-
platonismus zu sprechen, mag auch seine Berechtigung haben, doch sollte
man sich bei der Leib-Seele-Identitätsproblematik zunächst an seine eigene
Rede von „Umdrehung" halten. Platons Primat der Seele, des Geistes vor
dem Leibe soll offenbar umgedreht werden. Der Leib als ein Gesellschaftsbau
von Trieben soll maßgebend für die Identitätsproblematik sein. Die „große
Vernunft des Leibes" bedeutet dann anscheinend, daß im Leib die Triebe
trotz ihres je eigenen Machtwillens schon von sich aus auf Einheit tendieren,
und zwar nicht, weil sie eine prästabilierte Harmonie in sich hätten, doch
immerhin so, daß sie sich einem regierenden Machtwillen fügen. Und dieser
regierende und koordinierende Machtwillen ist offenbar wenigstens nicht
ohne Bewußtsein. Den Geist als Ursache der Koordination zu plurälistischer
Einheit lehnt Nietzsche ab42. Er verwendet jedoch das Wort „Geist" weiter
in Anführungszeichen, zum Beispiel indem er spricht von dem „befehleri-
schem Etwas, das vom Volke der ,Geist* genannt wird"43. Und «das Bewußt-
sein möchte er auf Beziehungen zur Außenwelt beschränkt wissen, sieht aber
andererseits die Notwendigkeit einer „obersten Instanz", einer Art von „lei-
tendem Comite", „wo die verschiedenen Hauptbegierden ihre Stimme und
42
Nachlaß Frühjahr 1888, KGW VIII 3, 14 [144].
43
JGB Nr. 230.
Das antiplatonische Experiment Nietzsches 113
44
NachbS November 1887-Mär* 1888, KGW VIII 2, U [145],
45
Nachlaß August-September 1885, KGW VII 3, 40 (21 ].
46
ebd.
47
Müller-Lauter schlägt vor, mit Heidegger von einer „Einstimmigkeit mit dem Wirklichen" zu
sprechen, die von der traditionellen Wahrheit ab „Übereinstimmung" (adaequatio) verstellt
worden m („Nsec&sche", op. cit, lOSf.), Es müßte dann eine von der gewöhnlichen
wtsvim^chaiilich-philosophischcn Vernunft verschiedene Sensibilität geben, die jenes un-
sichtbare Leben der vielen MachtwüJcn in ihrem Gegcn-und-miteinander-Spiel erfaßt. Nach
M alter* Lauter steht Nietzsche* Konzeption des Übermenschen in der Spannung zwischen
solcher Scnvibiliu: für den Perspektiven- und Machtwilien~Piurali$mus der Wirklichkeit
114 Reinhart Klemens Maurer
Leib ja auch nicht einen Gesellschaftsbau von Trieben oder Begierden oder
gar Kräften, sondern von Seelen (s. o.). Das heißt, die Kräfte, die in der
Primärsphäre i wirken, die Willen zur Macht, sind nicht blind und geistlos,
sondern können sich bereits zu sich und anderen ihresgleichen verhalten,
können gewissermaßen „denken". Wenn Nietzsche schreibt, daß „nichts
anderes als real »gegeben* ist als unsere Welt der Begierden und
Leidenschaften" und daß Denken „nur ein Verhalten dieser Triebe zuein-
ander" sei48, dann reduziert er also das Denken auf ein Geflecht von
Machtwillen, die das Bewußtsein bereits in sich haben, das ihnen nach dem
platonistischen (weniger nach dem Platonischen) Dualismus entgegensteht.
Dadurch ist es freilich ein anderes Bewußtsein, nicht mehr „reiner Geist".
Selbst die anorganische Natur „denkt" gewissermaßen. Wenn „Denken" hier
auch in Anführungszeichen steht, so kann Nietzsche doch in diesem Zu-
sammenhang vom „Denken" reden und schreiben: „,Denken* im primitiven
Zustande (vor-organisch) ist Gestalten-Durchsetzen, wie beim Crystalle"49.
Die Anführungszeichen, in denen bei Nietzsches Reduktionsversuchen
Worte wie „Geist", „Denken", „gegeben", „intelligibel" stehen, sie zeigen
eine gewisse Verlegenheit. Er möchte diese Worte aus der platonisch-
metaphysischen Tradition nicht gebrauchen, muß sie aber beibehalten, da ihm
für die Gegenposition, die ihm vorschwebt, die Worte fehlen. Das kann
einmal an unserer Sprache liegen, die durch jene Tradition geprägt ist, es
kann aber auch daran liegen, daß Nietzsche den „reinen" Geist des Platonis-
mus nur um den Preis auf die Primärsphäre i ideologiekritisch reduzieren
kann, daß dieser Bereich, also letztlich der Wille zur Macht, zumindest einige
der Funktionen zugesprochen bekommt, die gemäß dem Platonismus der
Geist (ohne Anführungszeichen) innehat. Die Sprachbedingtheit ist ohnehin
vorhanden, doch auch für die zweite Annahme spricht vieles. Die Welt als
Wille zur Macht ist tatsächlich „von innen gesehen, [. . .] auf ihren
» JGB Nr. 36
*l Vgl. Za 1. Teil, „Von den Hinterweltlem".
52
Das kommt in dem von R· Romberg verfaßten Teil des Artikels „Ideologie" in Band 4 des
„Historischen Wörterbuchs der Philosophie (ed. Ritter/Gründer, Basel/Stuttgart 1976, 164ff.)
sehr gut heraus, so wenn es heißt: „Marx* Ansatz schließt ein, daß Ideologie vor einer allge-
meinen, kritischen Instanz überführt werden kann. Sein eigenes Vorgehen changiert zwischen
einem radikal ideologiekritischen Verfahren und dem nicht aufgegebenen Anspruch
evidenter Allgemeinheit, der ihn noch mit den sonst kritisierten »Ideologen* verbindet."
Marxisten wie Lukacs und Horkheimer sehen dann deutlicher, daß ein „falsches
Bewußtsein", das seine Abhängigkeit von einer allgemeinen, „objektiven" Primärsphäre nicht
durchschaut, nur von einer positiven Theorie dieser Sphäre aus decouvriert werden kann. Es
müßte dann eine im Gegensatz zum „falschen Bewußtsein" wahre Erkenntnis geben, die
anders als die bloße Ideologiekritik auch Praxis anzuleiten vermag. Ihre Wahrheit liegt in
ihrer „Fortschrittlichkeit", und das heißt, daß diese Theorie angemessen sein soll einer
„objektiven" und daher wahrhaft allgemeinen Interessenlage der Menschen, die sich aus dem
jeweiligen Stand des fortschreitenden Geschichtsprozesses ergibt.
Diese An von „wahrer", d. h. zugleich praktisch normativer Geschichtstheorie
durchschaut Nietzsche als eine Form von Platonismus bzw. Ideologie und kritisiert sie an
Hegel, von dem aus sie ja umgeformt in den Marxismus eingegangen ist. Während die
„historischen Instinkte" zunächst „das Relative jeder Autorität" betonten, stellte die
Hegeische EntwtckJungs-Philosophie gerade die Htstorie in den Dienst des Bedürfnisses nach
unbedingten Autoritäten, indem sie die Geschichte selber „als die fortschreitende Selbst-
Offenbarung, Selbstübcrbietung der moralischen Ideen" deutete. (Nachlaß Ende 1886—Früh-
jahr 1887, KGW VIII t, 7 f4]: Die Metaphysiken vgh Nachlaß Herbst 1887, KGW VIII 2,9
[43].} Der Platonismus, das omofogisch verankerte Gutc-an-sich wäre damit lediglich
prozmual geworden.
Viel sagen ließe sich schließlich über den geläufigen Gegensatz Ideologie-Wissenschaft.
Ihm zufolge wäre die angeblich wertfreie Wissenschaft der Bereich einer vorurteilsfreien
Erfassung der Wirklichkeit, von dem her ideologische Verzerrungen kritisiert werden
könnten. Im Marxismus als sogenannter wissenschaftlicher Weltanschauung ist dieser
Standpunkt mit dem geschkhtsorvtologtschen verbunden.
Hier kann nur der kurze Hinweis gegeben werden, daß nach dem spaten Nietzsche (vgl.
imbcs. JGB und Nachlaß der achtziger Jahre) gerade die neuzeitliche Wissenschaft auf einer
bestimmten Moral und Wertschätzung und damit sdtließltch auf physiologischen Forderun»
116 Reinhart Klemens Maurer
gen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben beruht, nämlich des Herdendaseins der
„Gleichen", das in Richtung „letzter Mensch" tendiert (vgl. Za, Vorrede; Nr. 5). Dazu
einige Belege: „Das Begierden-Erdreich, aus dem die Logik herausgewachsen ist: Heerden-
Instinkt im Hintergrunde" (Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, KGW VIII l, 7 [41]) „es ist
der Masseninstinkt, der auch in der Erkenntnis waltet . . ." (GA XII, 44f.); . . . daß die
Wissenschaft im Bunde mit der Gleichheitsbewegung vorwärtsgeht" (GA XIV, 411).
Ein wirklich durchgeführter Versuch einer gesellschaftspolitisch^moralischen Relativierung
der modernen Wissenschaft liegt bisher nicht vor. Nietzsches diesbezügliche Andeutungen
weiter auszuführen, dürfte eine große und schwierige Aufgabe sein.
53
Politeia 339 Cff.; Gorgias 489 Eff.
Das antiplaconische Experiment Nietzsches 117
Interessen, die wir weder festlegen noch abbilden können, sondern treffen
müssen"54.
Solche Ausdrücke wie „einholen" und „treffen" bezeichnen die Ver-
legenheit, in welche die Ideologiekritik an diesem entscheidenden Punkt ihrer
Selbstreflexion gerät. Aus der Aporie, die sich aus der Bedingtheit der
Theorie der Bedingung ergibt, hilft auch nicht jener latente oder offene
Restplatonismus, der zum Beispiel bei Nietzsche darin liegt, daß die be-
dingende Primärsphäre als potentiell vernünftig, ja „geistig" angesetzt wird,
daß also Merkmale des reinen Geistes in sie hineingelegt werden. Für
Nietzsche haben wir diesen Vorgang herauspräpariert, für Marx und Freud
angedeutet. Denn diese Grundvernunft, die in der Primärsphäre zu relativen,
instabilen Einheitsbildungen führt, ist und bleibt partikulär. Sie ist nicht auf
ein vorgegebenes, allgemein verbindliches Gutes-an-sich gerichtet. Wird aber
auch das noch in die Bedingungssphäre hineingelegt wie in der Marxschen
und marxistischen Annahme allgemeiner und vernünftiger Interessen, dann
ist der Platonismus offenkundig, wie minimal im übrigen auch diese
allgemeinen Interessen bestimmt werden mögen. Damit aber würde die
Ideologiekritik nach ihren eigenen Maßstäben metaphysisch, ideologisch,
falsches Bewußtsein.
Bei aller Widersprüchlichkeit seiner aphoristischen Philosophie versucht
aber Nietzsche diesem Widerspruch offensichtlich zu entgehen. Konse-
quenterweise dürfte er aus der großen Vernunft des Leibes kein Programm
des „gemäß der Natur" Lebens entwickeln. Daß es trotzdem in seiner prakti-
schen Philosophie Ansätze dazu gibt, darüber wird zu reden sein. In seiner
theoretischen Philosophie jedoch lost er diesen stoischen Topos Ideologie-
kritisch auf. Nach der Natur kann man demnach nur leben, nachdem man
vorher seine Moral selbstbetriigerisch in sie hineingelegt hat, und das sei
„eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begibt
sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glau-
ben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, [. . .] Philosophie ist dieser
tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht"55.
Daß also der Wille zur Macht „geistig" und gar Philosophie sein kann,
ändert nichts daran, daß hier der Geist nur instrumenteil ist, nicht sich und
54
J. Habcnrm: Technik und Wissenschaft als »Ideologie', Frankfurt 1968, 160ff.; vgl. derselbe:
Erkenntnis und Imerci*e, Frankfurt 1973» 404; vgL R. K. Maurer: Jürgen Habcrmas* Auf-
hebung der Philosophie, Philosophische Rondschau, Beiheft Hf Tübingen 1977.
118 Reinhart Klemcns Maurer
seine Welt von einer höheren Warte aus in den Griff bekommt. Der Geist ist
nur, wie anfangs nach Hobbes dargelegt, das Instrument der Triebe und
Machtwillen. Die Philosophie ist nur eine besonders umfassende und damit
auf theoretische Weise (falls es dabei bleibt) besonders tyrannische Ausprä-
gung desselben, nach seiner jeweiligen Perspektive interpretierenden Macht-
willens, der prinzipiell die ganze Wirklichkeit bestimmt. „Jeder Trieb ist eine
Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen
übrigen Trieben aufzwingen möchte"56. Eine bestimmte Philosophie ist auch
nur Ausdruck solcher Triebe: „jeder Trieb ist herrschsüchtig und als solcher
versucht er zu philosophieren"57 — für diese These spricht der Umgang der
Philosophen miteinander! Der Machtwillen ist also nicht blind, sondern
interpretierend und kann so durch Herrschaft pluralistische Einheiten bilden,
doch tritt damit an die Stelle des zunächst vermuteten Chaos der Machtwillen
nun das Chaos der Interpretationen. Nicht „^Vermehrung des Bewußtseins*"
ist das Ziel, sondern „Steigerung der Macht, in welche Steigerung die
Nützlichkeit des Bewußtseins eingerechnet ist". Die Welt ist durchaus kein
vom Geist erfaßbarer und organisierbarer Organismus, sondern das Chaos,
bei dem „die Entwicklung der ,Geistigkeit' ein Mittel zur relativen Dauer der
Organisation" (der jeweiligen Einheitsbildung) ist58.
Nun kann man aber sagen, daß diese Interpretation der Wirklichkeit als
Wille zur Macht auch wieder bloß eine bei Nietzsche physiologisch,
psychologisch, ökonomisch, gesellschaftlich, moralisch, kulturell, sprachlich,
historisch bedingte Interpretation ist. Und Nie.tzsche war konsequent genug,
sich diesen Einwand selbst zu machen. Doch ist er ja nach seinem Ansatz gar
kein Einwand. Er schreibt: „Gesetzt, daß auch dies nur Interpretation ist
— und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so
besser. — "59 Das heißt: der universale Ideologieverdacht richtet sich auch
gegen sich selber; die konsequente Ideologiekritik hebt sich, um dem Plato-
nismus nach Möglichkeit zu entgehen, selber auf in einer Negation der
Negation, die jedoch nicht wie bei Hegel zu einer neuen Position führt. Bei
Nietzsche ist vielmehr die zweite Negation (die Selbstaufhebung der
Ideologiekritik, die wegen der in ihr enthaltenen platonistischen Reste nötig
wird) die Potenzierung der ersten.
Die zweite Negation sägt sozusagen auch noch den letzten Ast ab, auf
dem man sitzen könnte und von dem aus man Kritik betreiben'könnte: eine
Konsequenz im Negativen. Dagegen konnte Hegel — wohl auf Grund einer
theologischen Konservierung des alten ontologischen Optimismus — noch
56
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, KGW VIII l, 7 [60].
57
JGB Nr. 6.
58
Nachlaß November 1887-März 1888, KGW VIII 2, 11 [74].
59
JGB Nr. 22, .
Das antiplatonische Experiment Nietzsches 119
die Hoffnung haben, die Negation der Negation führe zu einer neuen
Position.
NietJ&sche potenziert die erste Negation durch eine zweite, weil die erste
eine bestimmte Negation ist und daher abhängig von einem als Seiendem
zugleich logisch Bestimmten. Generell ist sie Negation des Platonismus (der
Metaphysik, der Ontologie, der Phänomenologie). Und eben in dieser
Negation von etwas durch etwas anderes oder von etwas anderem aus
(nämlich der Primärsphäre i) ist das ontologisch gelichtete Etwas nach wie
vor vorausgesetzt. Darum muß die Negation weitergehen zum reinen, un-
bestimmten Nichts, das heißt erkenntnistheoretisch zu der gleichen
Gültigkeit von Wahrheit und Irrtum.
Bei Nietzsche tritt, wie der Marxist Holz schreibt, „eine metaphysische
Perversion zutage, die wirklich eine äußerste Grenze historischer Erfahrung
darstellt. Der sie, wie Nietzsche, an sich selbst erlebte, mußte daran zer-
brechen; wer sie am Fall Nietzsche erlebt, sollte das Gruseln lernen"60. Auch
Holz kann das Gruseln nur deshalb überwinden, weil er schließlich einsieht,
daß es sinnlos ist, gegen Nietzsche ideologiekritisch vorzugehen: „Der Ab-
gründigkeit dieses Blicks ins Bodenlose kommt eine ideologiekritische Methode
mit bewährtem Schematismus nicht bei"61. Da Nietzsche die Ideologiekritik
bis zur letzten Konsequenz treibt, ist im Vergleich zu ihm auch noch der
Marxismus eine Art von platonischer Metaphysik, bei der die Idee des
Guten, das Gute an sich, zum Basisprozeß der Geschichte geworden ist, aus
dessen Verlängerung in die Zukunft man praktische, ontologisch-eschato-
logisch fundierte Normen gewinnen kann62. Weil nun Holz Nietzsches Kon-
sequenz sieht, spricht er von seinem Standpunkt aus ganz richtig nicht von
einer ideologiekritischen, sondern von einer metaphysischen Perversion. Die
ideologiekritische Auflösung aller Positionen wird damit aus metaphysischen
Gründen verworfen, und zwar dürfte eine Metaphysik der Praxis zugrunde
liegen nach dem Motto: Es muß mindestens eine oder noch besser: nur eine
wahre Ideologie geben, damit vernünftige Orientierung im Handein möglich
ist.
Gerade diese Voraussetzung wird aber in Nietzsches theoretischer Philo-
sophie zerstört. Ihr gemäß ist das paradoxe Ergebnis konsequenter Ideologie-
und Wissenschaftskritik die Berechtigung nicht einer, sondern vieler
Ideologien als Interpretationen, die alle gleich wahr und gleich falsch sind.
Der Unterschied von Wahrheit und Schein oder Irrtum verblaßt als ein Philo-
sophenvorurteil unter anderen. Das antiplatonische Gedankenexperimerit
Nietzsches, das er durchführt, indem er die Emanzipationstendenzen der
Neuzeit zu Ende denkt, führt in folgendes Dilemma:
1. die These vom Perspektivismus der interpretierenden Machtwillen ist
eine Möglichkeit unter anderen,
2. sie beansprucht, die adäquate Interpretation der Interpretationen zu sein,
d. h. des Interpretationscharakters, aller Theorie, Praxis und Wirklich-
keit,63
Beide Thesen sind nach Nietzsches Qedankenexperiment gleich wahr,
obwohl sie einander widersprechen. Beide Thesen folgen aus derselben
antiplatonischen Absicht, die sich formulieren ließe in dem Satz: Es gibt
keinen reinen Geist, der Wahrheit in praktischer Absicht, also ein Gutes an
sich erkennen könnte. Wenn nämlich dieser beabsichtigte Gegenentwurf zum
Platonismus keinen Anspruch auf Unbedingtheit und Wahrheit macht — und
das darf er ja seiner eigenen Absicht nach nicht —, dann ist er nur Ideologie
unter Ideologien, dann muß er auch seinem Gegenpol, dem Platonismus, das
gleiche Recht einräumen, im Kampf der Ideologien mitzustreiten. Positions-
unabhängige, allgemeinverbindliche Kriterien der Entscheidung für die eine
oder die andere Position gibt es dann nicht. Der Perspektivismus beruft sich
auf Bedingtheiten, die er freilich nicht in den Griff bekommt, da er sich eine
Ontologie oder Phänomenologie der bedingenden Primärsphäre versagen
muß, und der Platonismus beruft sich auf eine Unbedingtheit (auf die Teilhabe
an dem wirklichkeitsmächtigen Bereich der Ideen, der das Bewußtsein nicht
bedingen, sondern begeisten soll), die der Perspektivismus als eine Bedingt-
heit nur verdeckende Illusion bestreitet.
Das Dilemma des Perspektivismus oder auch Pluralismus liegt also
daran, daß er entweder nur eine Position unter gleich berechtigten anderen
ist, oder zwar eine übergeordnete Position, die dann aber inhaltlich leer ist.
Denn wie konkret interpretiert wird, das zeigen ja allein die Einzelperspek-
tiven, nicht die generelle Perspektive des Perspektivismus.
Welche Seite des resultierenden Dilemmas man also betonen mag, s'ein
praktisches Ergebnis ist der Nihilismus. Die neuzeitliche Ideologiekritik,
wenn sie konsequent betrieben wird — und Nietzsches antiplatonisches
63
Vgl. K. Jaspers: Nietzsche, op. cit., insbes. 290ff.; W. Müller-Lauter: Nietzsches Lehre vom
Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3, 1974, 1-60, insbes. 41 ff.
Das antiplatonische Experiment Nietzsches 121
welche die Bedingungssphäre freilegt, und mit dem Bezug auf diese „wahre"
Wirklichkeit die angebliche Wahrheit einer platonischen Scheinwelt der Ideen
und der auf Gutes an sich gegründeten Moral zerstört, zeugt von einem
„,Willen zur Wahrheit'", der wie Nietzsche vermutet, „ein versteckter Wille
zum Tode" sein könnte68. „Jenseits von Gut und Böse" liegt ein gefährliches
Gebiet69. Die Frage drängt sich auf: „warum überhaupt Erkenntnis", wenn
diese Erkenntnis statt einer Natur, der gemäß man leben kann, die „andere
Natur", den „schrecklichen Grundtext homo natura" zutage fördert70.
Nietzsche sieht diese Gefahr und sieht die relative Berechtigung des
lebensförderlichen Scheins, der von den alten „Ideen" (z. B. „Gott", „un-
sterbliche Seele") sowie den modernen Ideen einer humanitären, altruisti-
schen Gleichheitsmoral ausgeht71. Er sieht aber auch die Gefahr, diesen
schrecklichen „Grundtext" und den aus ihm folgenden Nihilismus durch alte
und moderne Ideen nur zu übertünchen, padurch wird er nicht weniger
wirklich. Die praktische Seite seiner Theorie vergißt nicht, was die
theoretische herausgebracht hat: daß nämlich der Nihilismus soweit geht, daß
es keinen Grundtext gibt, an den man sich halten könnte. Der Grundtext ist
nur da in der Vielheit der Interpretationen durch die vielen, gegensätzlichen
Machtwillen. Habermas hat schon recht, wenn er sagt, es gäbe nach
Nietzsche „nur noch Interpretationen und keinen Text mehr"72. Die höchste
Form menschlichen Lebens ist nach Nietzsche diejenige, die nach dem
Motto: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker"73, sich bewußt in
diese nihilistische Wirklichkeit hineinstellt. Gerade die Wirkung der
schlimmen Wahrheit wäre im Endeffekt eine gute, lebensförderliche,
zumindest für das Leben, das stark genug ist oder wird, sie zu ertragen. Nach
seiner eigenen Deutung konzipiert sein „Zarathustra" eine Art Mensch,
welche die Realität konzipiert, „wie sie ist": sie ist stark genug dazu —, sie ist
ihr nicht entfremdet, [. . .] sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und
Fragwürdiges auch noch in sich"74 und weiß offenbar darum.
68
FW Nr. 344.
69 7
JGB Nr. 44. ° JGB Nr. 230.
71
JGB Nr. 10; vgl. Nr. 186; Nr. 202; Nr. 215; Nachlaß Frühjahr 1888, KGW VIII 3, 14 [137];
[138]; [140]. Die alten wie die modernen Ideen sind im Grunde platonistisch. Der Platonismus
als Annahme einer wahren Hinterwelt und eines damit verbundenen Guten an sich hat in der
Geschichte seine legitimierende Funktion gewechselt. Bei Platon rechtfertigte das Gute an
sich eine aristokratische Moral, später sollte dann das Gute im Sinne einer Gleichheits-,
Mitleids-, Herdentier-Moral an sich sein. Das Christentum ermöglichte nach Nietzsche diesen
Übergang, indem es aus dem aristokratisch bezogenen Platonismus Platons einen Platonismus
fürs Volk machte.
72
J. Habermas: Nachwort zu: Friedrich Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt
1968, 259; vgl. JGB Nr. 22; Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, KGW VlII l, 7 [60].
73
GD, Sprüche und Pfeile, Nr. 8; vgl. EH, Warum ich so weise bin, Nr. 2; Nachlaß Herbst
1887, KGW VIII 2, 10 [87]. ' ·
74
EH, Warum ich ein Schicksal bin, Nr. 5.
Das antiplatonische Experiment Nietzsches 123
75
JGB Nr. 10.
T
* NacWaß Frühjahr-Sommer 1888, KGW VIII 3, 16 [32],
" Nachlaß Frühjahr 1888, KGW VUI 3, 14 (134].
J
* ebd.. 14 [1Ü7J.
*" Nietzsche dehnt den Skeptizismus von Kants theoretischer Philosophie auch auf die
praktische aus, wenn er in offenbarer Anknüpfung an Kantsche Begrifflichkcit schreibt: „Alle
bisherigen Maralen betrachte ich ab aufgebaut auf Hypothesen über Erhaltungsmitte] eines
Typus, - aber die An des bisherigen Geistes war noch zu schwach und ihrer selber ungewiß,
um eine Hypothese als Hypothese zu fassen und doch als regulativisch zu nehmen, ~ es
bedurfte des Glaubens" (GA Xlli, 139).
124 Reinbart KJetnetis Maurer
einem Individuum gar nichts anderes übrig läßt, als eine bestimmte Perspek-
tive zu vertreten. Diese kann es jedoch erkennen, von anderen unterschieden
und mit ihnen — wertend — vergleichen. Nietzsche selber führt solche
Perspektivenvergleiche häufig durch und spricht damit im Zusammenhang
von „Rangordnung". Die Rangordnung müßte je nach Perspektive freilich
anders aussehen, und das je Eigene wird in der je subjektiven Rangordnung
den obersten Platz einnehmen.
Wenn Nietzsche jedoch hier von „höher" und „niedrig" spricht, und
Machtwillen, Moralen, Verhaltens- und Denkweisen klassifiziert, dann tritt
zwar der Gesichtspunkt auf, daß von anderen Perspektiven her anders
gewertet werden kann, aber einer naturhaften Grundschicht der Wirklichkeit,
zu der die granitene Verschiedenheit der Einstellungen und Machtwillen
gehört, kann offenbar entsprochen werden oder nicht (vor allem in der
Irreführung durch Ideologie). Außerdem können zwar allerlei Antriebe und
von ihnen beherrschte Personen „den Herrn spielen" wollen85. Doch ob sie
dieses Spiel auch beherrschen, ist eine andere Frage.
Der starke oder sich dafür haltende Machtwillen darf sich also in einer
Wirklichkeit, in welcher jederzeit Zu- oder Abnahme möglich ist, mit einer
geradezu platonisch wertenden Phänomenologie oder gar Ontologie der
Machtwillen Mut machen. Der schwächere Machtwillen könnte dement-
sprechend zur Bescheidenheit angehalten werden. Während durch den totalen
Perspektivenrelativismus von Nietzsches theoretischer Philosophie Rangord-
nungen ausgeschlossen werden, die nicht bloß,in wechselseitiger Beurteilung
perspektivisch sind, sollen in praktischer Hinsicht die Auslegungen und ihre
Perspektiven nicht beliebig und nicht gleichwertig sein.86 Der theoretische
Perspektivenrelativismus (zusammen mit der Lehre von der ewigen Wieder-
kunft) ist jedoch keineswegs nur ein Instrument zur Verunsicherung
schwacher Machtwillen, die durch Herdensolidarität stark werden wollen.
Jeder, auch der starke Machtwillen, sofern er nur etwas „Geist" in sich hat,
ist damit zu zersetzen.
Darf man nun sagen, Nietzsches anti-platonisches Gedankenexperiment
sei in dem Widerspruch zwischen seiner theoretischen und seiner praktischen
Philosophie gescheitert? Und falls es gescheitert ist, was bedeutet das für das
Experiment Neuzeit, dessen Konsequenzen es zieht? Darf man sein Scheitern
als einen indirekten Beweis für die Unentbehrlichkeit gewisser platonistischer
Voraussetzungen verstehen? Oder mußte es nur in der hier vorliegenden
Interpretation scheitern: auf Grund platonistischer Vorurteile des Verfassers?
85
JGB Nr. 198.
86
Vgl. Jaspers, op. cit., S. 297.