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Der Körper in
der Postmoderne
Zwischen Entkörperlichung
und Körperwahn
Der Körper in der Postmoderne
Minas Dimitriou · Susanne Ring-Dimitriou
(Hrsg.)
Springer VS
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Inhaltsverzeichnis
V
VI Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
Univ. -Prof. Dr. Günter Amesberger ist Professor für Sportpsychologie und -päd-
agogik sowie Leiter des Interfakultären Fachbereichs Sport‐ & Bewegungswissen-
schaft/USI der Universität Salzburg und des ULG Handlungsorientierte Personal-,
Team- und Organisationsentwicklung nach IOA®. Seine Forschungsschwerpunkte
sind u. a. psychologische Diagnostik und Beratung im Leistungssport, Exekutive
VII
VIII Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Univ. -Prof. Dr. Hannes Winner ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der
Universität Salzburg, wissenschaftlicher Konsulent am Österreichischen Insti-
tut für Wirtschaftsforschung und Research Fellow am Centre for Business Taxa-
tion an der Oxford University. Forschungsschwerpunkte: Finanzwissenschaft,
Gesundheitsökonomik und angewandte Ökonometrie.
Zur Einführung: Der postmoderne
Körper als ambivalenter Topos
Minas Dimitriou
1 Einleitung
Im Rahmen des sozialen Wandels erlebt der Körper in den letzten Dekaden
eine bemerkenswerte gesellschaftliche Aufwertung („body turn“, Gugutzer
2006). Sowohl die Individualisierung und Singularisierung (Reckwitz 2017)
als zentrale Kristallisationspunkte postmoderner Identität sowie der gestiegene
Wohlstand und die Verbreitung der Konsumkultur, als auch die rasante medien-
technologische Entwicklung, die Inszenierung und Eventisierung des Alltags
und die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin führen zur intensiven wissen-
schaftlichen Auseinandersetzung mit dem Körper als soziales Gebilde. Parallel
dazu entwickelt sich der Körper durch Body Art, verschiedene Körpertherapien,
die Etablierung eines sport- und fitnessorientierten Lebensstils (Cederström
und Spicer 2016), das Altern der Gesellschaft und auch die Entwicklung von
Optimierungstechniken (Duttweiler und Passoth 2016) sowie rasanten Gesund-
heitsmoden zu einem Gegenstand des öffentlichen Diskurses und nimmt dadurch
einen immer größer werdenden Stellenwert in der Gesellschaft ein (Gugutzer
et al. 2017).
Gegenstand des vorliegenden Sammelbandes ist der Körper aus unter-
schiedlichen Perspektiven in einem bestimmten epochalen, ideologischen und
stilistischen Rahmen, nämlich in der Postmoderne. Letztgenannter „Passepartout-
begriff“ (Eco 2003, S. 77) stellt als heterogenes Paradigma vielfältiger Theo-
rien zweifelsohne ein komplexes und umkämpftes Terrain dar. Die Diskussion
M. Dimitriou (*)
Universität Salzburg, Hallein/Rif, Österreich
E-Mail: minas.dimitriou@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 1
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_1
2 M. Dimitriou
Dabei rücken Körperkulturen, wie Fitness und Wellness sowie deren ästheti-
scher, gesundheitsorientierter und performativer Rahmen in den Vordergrund
des Interesses. Die Analyse zeigt, dass während Fitness, Wellness und andere
Körperstrategien einen erheblichen Beitrag zur Visualisierung von gesund-
heitsnormativen Idealen leisten, avanciert der Körper in der postmodernen und
singularisierten Gesellschaft zu einer gestaltbaren Instanz und permanenten
Kultivierungsfläche von Affekten und Sehnsüchten.
Nicole Haitzinger beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Titel „Entblö-
ßungen: Postmoderne Tanzkörper in zeitgenössischer Perspektivierung“ mit
der Modellierung von Körperlichkeit anhand von Anna Halprins Freilichtbühne
„Dance Deck“ und der dort 1957 aufgeführten Performance The Branch und
Simone Fortis performativer Skulptur Huddle (1961). Die Autorin weist in Ihrem
Beitrag darauf hin, dass Entblößungen in der gegenwärtigen Perspektivierung von
postmoderner Körperlichkeit in einem erweiternden Sinn verstanden werden kön-
nen, nämlich als bloße Körper, die sich wiederholt anders konstruieren und für
das Publikum Bedeutungsoffenheit generieren.
Der biologische Körper im Alterungsprozess ist Gegenstand der Arbeit von
Günter Lepperdinger. Ausgehend von der Tatsache, dass die Keimbahn nicht
altert, geht der Autor der Frage nach den biologischen Besonderheiten, die es
ermöglichen, die Vielzahl der körperlichen Alterungsprozesse zu umgehen. In sei-
ner Schlussfolgerung betont Lepperdinger, dass wenn technische Entwicklungen
auf verschiedenen Gebieten einsetzbar sind, um Alterungsmechanismen effizi-
ent einzuschränken, bislang unumkehrbare Schäden zu eliminieren und darüber
hinaus Alterungsproblemen vorzubeugen und biologische Informationsinhalte zu
verändern, sodass Reparatur, Resistenz und Resilienz zielgerichtet optimiert wer-
den kann, scheint es in greifbarer Nähe, dass die Lebenserwartung des Menschen
optimierbar oder auch die maximale Lebensspanne verlängerbar ist.
Im Fokus des anschließenden Beitrages „Dekonstruktion und Rekombination –
Der Künstlerkörper in den 1990er Jahren“ steht die Auseinandersetzung mit
künstlerischen Positionen, welche die Verfasstheit des Menschen und diverse
Vorstellungen von Körperbildern unter dem zentralen Aspekt von Selbst-
inszenierung und Selbstbefragung erörtern. Diese von Ulrike Reinert vorgelegte
Arbeit beschäftigt sich konkret mit dem Werk von Künstlerinnen und Künstler
wie Orlan, Sherman, Ray oder auch Stelarc, deren künstlerische Arbeit sich als
Teil einer postmodernen Suchbewegung hinsichtlich Fragestellungen zur eigenen
Standortbestimmung wie auch zur geschlechtlichen Identität erweist.
Hans-Joachim Sander behandelt in seinem Beitrag „Von der Askese bis zum
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8 M. Dimitriou
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Körper als Domäne impliziten und
emotionalen Ausdrucks sportlichen
Handelns
Günter Amesberger
Zusammenfassung
Die Wechselwirkungen psychischer und körperlicher Phänomene treten im
Bewegen besonders deutlich hervor. Bereits Merleau-Ponty (Phenomeno-
logy of perception, Routledge, London, 1945) betont in seinem anthropo-
logischen Konzept der Leiblichkeit u. a. die Bedeutung des Leibes als Mittler
zur Welt, ein Gedanke der von Grupe (Bewegung, Spiel und Leistung im
Sport: Grundthemen der Sportanthropologie, Hofmann, Schorndorf, 1982) in
der anthropologischen Sportpädagogik fortgeführt wurde. Hingegen wird in
sportpsychologischen Kontexten zumeist kognitiven Aspekten in der Hand-
lungsregulation zentrale Bedeutung beigemessen. Leiberleben und Emotionen
werden eher als Nebenfaktoren betrachtet, manchmal sogar eher als störend
(Vorstartangst, „choking under pressure“, …) eingestuft oder im Sinne der
„individual zone of optimal functioning“ (Hanin, Handbook of Sport Psycho-
logy 3:22–41, 2007) funktional für die Leistungsoptimierung eingesetzt. In die-
sem Beitrag wird der These nachgegangen, dass die geringe Aufmerksamkeit
auf das (phänomenologische) Wesen des körperlich-emotionalen Ausdrucks als
Widerspiegelung des aktuellen in der Welt seins die differenzierten interaktio-
nalen Phänomene etwa zwischen Sportler/innen und Trainer/innen und deren
Wirkung in den Hintergrund treten lässt. Es wird diskutiert, wie emotionale und
implizite Prozesse das Körpererleben und Handeln regulieren und wie damit
in unterschiedlichen Kontexten umgegangen wird. Dazu werden einerseits
Selbsterfahrungsprozesse, wie sie im Rahmen körper-psychotherapeutischer
G. Amesberger (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: guenter.amesberger@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 11
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_2
12 G. Amesberger
Schlüsselwörter
Sportpsychologische Beratung · Körperwahrnehmung · Leiberleben ·
Interventionen · Emotionsregulation · Tiefenstrukturen von Emotionen
Der Blick auf den Körper in der Psychologie und Psychotherapie fällt sehr viel-
perspektivisch aus. Arbeitet man die Extreme heraus, so stehen auf der einen
Seite Aspekte der kognitiven/gedanklichen „Analyse“ des Körpers, die sich in
körperbezogenen Einstellungen wiederfinden. Als Beispiel hierfür können Fragen
zum Körperkonzept genannt werden: „Ich bin mit meinem Körper ganz zufrie-
den.“; „Ich würde gerne einige Teile meines Körpers austauschen.“; „Mein Kör-
per ist anfällig für alle möglichen Krankheiten.“ Dimensionen körperbezogener
Einstellungen sind beispielsweise „Selbstakzeptanz des Körpers“, „Zufriedenheit
mit dem Aussehen“, „körperliche Effizienz“ etc. (Brähler et al. 2000; Deusinger
1998; Mrazek 1983). Auf der anderen Seite wird Körper als existenzielles Phä-
nomen thematisiert. Aus dieser Perspektive wird Leib als beseelter Körper, als
das, was eine Person ausmacht, in all ihren Erlebnisformen von Gesundheit,
Beweglichkeit, Schmerz, Lust, Sehnsucht, … gesehen. Körper ist dann existen-
zielle Zurückgeworfenheit und Voraussetzungshaftigkeit allen Seins (Reichel und
Petzold 2011).
Petzold (2012) verortet die Leiblichkeit in den fünf Säulen der Identität:
1.3 Körperwahrnehmung
Sowohl in der Körpertherapie als auch im Sport kommt dem Üben, dem wieder-
holen gleicher Abläufe hohe Bedeutung zu. Dennoch werden grundlegend ver-
schiedene Ziele verfolgt.
Körper als Domäne impliziten und emotionalen Ausdrucks … 15
„Bioenergetische „Übungen“ verstehe ich nicht als Anleitungen zur richtigen Hal-
tung, Atmung oder Bewegung, sondern als Anhaltspunkte für das Seelische, als
basale Anregungsbedingungen dafür, dass sich die Wirklichkeit des Patienten
herausbilden und dass sie prozedural verstanden und operativ bearbeitet werden
kann“ (Heisterkamp 2008, S. 11).
1.6 Konfliktzentriert-aufdeckend
darfst du nicht an deinen Körper denken, da musst du einfach durch und es ist
einfach wichtig, so schnell wie möglich wieder dabei zu sein, sonst bist du weg
vom Fenster.“
Dies verdeutlicht zum einen die Zerrissenheit in der sich der Sportler befindet:
Der Körper ist sein Kapital ganz im Sinne des „Körper Habens“ (Plessner 1970).
In der ständigen Konfrontation mit dem Körper wird das Leiberleben und das
Leib sein vertieft, vieles davon auf impliziter Ebene. Letztlich ist der Sportler
auch in der Lage, Gefühle und Leiberleben abzuspalten/zu dissoziieren, indem
man „… nicht an den Körper denken …“ darf. Wie sehr dieses „Ausschalten“
des Leiberlebens kognitiv gesteuert ist, bzw. implizit quasi automatisch in ent-
sprechend extremen Situationen abläuft, ist nach meiner Erfahrung in der
Beratung von Leistungssportler/inne/n sehr verschieden und von Persönlich-
keitsmerkmalen und der Bereitschaft, sich auf diese Erfahrungen einzulassen
abhängig.
• Stress und Angst mit dem Focus „choking“ oder „cluch under pressure“ (Bau-
meister 1984; Weinberg und Gould 2011)
• Flow (Csikszentmihalyi 1985)
• „Individual zone of optimal functioning“ (Hanin 2000)
• Der Versuch einer Integration auf einer Oberflächen- und Tiefenstrukturebene
der Emotionsregulation anhand eines Fallbeispiels.
20 G. Amesberger
Die Themen Stress und Angst spielen in der Sportpsychologie eine tragende
Rolle, vor allem in der englischsprachigen Literatur (Weinberg und Gould 2011).
In Fortführung dieser Forschungsrichtung ist die Thematik „choking and clutch
under pressure“ von zentralem Interesse geworden. „Choking“ beschreibt dabei
das Phänomen des Leistungsabfalls, „clutch“ hingegen der Leistungssteigerung in
Drucksituationen. Damit eng verknüpft ist der Begriff der „Emotionsregulation“.
Damit werden Emotionen nicht wie in der Psychotherapie als existenzielle
Lebensäußerung im Sinne ihrer Bedeutung für das Sein der Person betrachtet.
Vielmehr wird die funktionelle Bedeutung der Emotion für die Leistungser-
bringung in den Mittelpunkt gerückt. Verkürzt gesagt versucht man, im Sinne der
Leistungserbringung dysfunktionale Emotionen zu reduzieren und funktionale
zu optimieren. Stanley et al. (2012, S. 159) stellen fest, dass in der Vorbereitung
auf einen Wettlauf folgende Strategien angewendet werden: „Content analysis of
responses identified 28 categories of emotion regulation strategy, with the most
popular being goal setting (23 %), distraction (12 %), recall of past performance
accomplishments (12 %), and anticipated pleasant emotions after running
(10 %).“ Eine Untersuchung von Balk et al. (2013) zeigt, dass Ablenkung (dis-
traction) die Leistung unter Druck verbessert. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen
Hill et al. (2013).
Neben den Bewältigungsstrategien scheinen auch Persönlichkeitsmerk-
male clutch und choking zu beeinflussen. Unter einem state-spezifischen Ansatz
konnten Geukes et al. (2013) zeigen, dass es die situativen Bedingungen der
Leistungserbringung sind, die Persönlichkeitsmerkmale wirksam machen. Eine
hohe Ausprägung der Persönlichkeitsdisposition Selbstaufmerksamkeit beein-
flusst die Leistung unter jener Bedingung negativ, in der die Versuchspersonen
meinen, die zu erbringende Leistung sei ein wesentlicher Hinweis auf ihr Talent –
umgekehrt formuliert: wenn sie befürchten, dass eine niedrige Leistung sie im
Selbstbild ihrer Fähigkeiten gefährdet. Auf der anderen Seite bringen Personen,
die von ihrer Persönlichkeit her stark auf Selbstpräsentation ausgerichtet sind,
die sich also öffentlich durch ihre Leistungen präsentieren und in ein gutes Licht
rücken wollen, tatsächlich in entsprechenden öffentlichen Drucksituationen bes-
sere Leistungen als in druckfreien Situationen. Insbesondere bei komplexeren
Aufgaben reduziert vermutlich Selbstaufmerksamkeit die prozedurale Kapazität
(Beilock und Carr 2001).
Körper als Domäne impliziten und emotionalen Ausdrucks … 21
orstartzustand jedoch nicht nur „gut“ oder „schlecht“ im Sinne der nach-
V
folgenden sportlichen Leistung sein kann, sondern mit dem sportlichen Handeln
tiefgründiger in Beziehung steht, zeigen Ansätze, die das IZOF-Modell unter dem
Aspekt der Sportverletzungen untersuchten. Diese liefern Hinweise, dass ein posi-
tiv-funktionaler emotionaler Vorstartzustand nicht unbedingt eine gute Wettkampf-
leistung nach sich ziehen muss, sondern auch die Verletzungswahrscheinlichkeit
erhöht (Würth und Hanin 2005). Dies könnte wiederum so gedeutet werden, dass
die Körperaufmerksamkeit durch ein rein funktionales Emotionstraining wenig
sensibilisiert wird.
sinken (ist bis dahin systematisch angestiegen). Nach der Sitzung unter anderem
darauf angesprochen, wie die Vorstellung des Gegners ‚X‘ war, meinte der Sport-
ler „ja, kein Thema, völlig problemlos“. Nach einem längeren Gespräch konnte
Folgendes herausgearbeitet werden: Das erste Muster des Sportlers ist Abwehr
und Widerstand. Es ist für ihn klar, dass der Trainer das so sieht, aber der habe
ja (zumindest diesbezüglich) keine Ahnung. Damit wird auch die Meinung des
Trainers und der Trainer selbst stark abgewertet. Auch in dem Sinne: „Statt mir
klare Tipps und Hinweise zu geben, kommt er mit solchem Zeug daher.“ (Neben-
bemerkung: Insgesamt ist die Beziehung zum Trainer intensiv, aber ambivalent.)
Der Sportler selbst sieht darin zunächst kein Problem. „So etwas darf einem ja
nichts ausmachen“. Das sind im Sport ganz typische Formulierungen, an denen
deutlich wird, dass sich die Person nicht an der eigenen Wahrnehmung und am
eigenen Empfinden und Erleben orientiert, sondern an den Sollensansprüchen für
eine entsprechende sportliche Leistung: „Ein guter Sportler darf sich nicht stö-
ren lassen.“ Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass der Sportler
mit der Situation und der damit verbundenen Emotionalität kämpft. Den Sport-
ler ärgert furchtbar, dass er immer mit diesem Thema konfrontiert wird. Und
letztlich ist „natürlich“ etwas dran. Er will es nur nicht vom Trainer präsentiert
bekommen. Der Trainer passt in diesen Aspekten gut zu dem Muster, das der
Sportler seitens seines Vaters kennt, und gegen das er sich wehren muss. Dahinter
steckt einiges an Wut und Angst. Diese Mischung aus Wut und Angst macht deut-
lich, dass es bei genauerer Beschreibung des körperlich-emotionalen Erlebens
wesentlich um Scham geht: In der Wettkampfsituation dem Gegner unterlegen zu
sein, Schwäche zu zeigen, beschämt gegenüber dem Trainer (Vater). Statt Stolz
beim Trainer (jetzt geht es primär wirklich um den Vater) auszulösen, fürchtet er
von diesem verachtet zu werden (Ausgrenzung, nicht dazu gehören).
Im Unterschied zu den zumeist ausschließlich auf die emotionale Regula-
tion des Sportlers/der Sportlerin bezogen sportpsychologischen Techniken wird
hier sichtbar, dass Emotionen immer in sozialen Systemen reguliert werden.
Indem Botschaften an den Sportler herangetragen werden, ist er gefordert, seine
Emotionen interpersonal zu regulieren; und da emotionale Erfahrungen zu (oft
eingeschränkten) Handlungsmustern führen, ist auch eine entsprechende intra-
personale Regulation der Emotionalität gefordert. Oerter und Montada (2008)
beschreiben differenziert, wie Emotionen durch entsprechende Anlässe ausgelöst
werden, beispielsweise Stolz durch die Wahrnehmung eigener Tüchtigkeit. Dies
löst ein Gefühl der Zugehörigkeit aus (intrapersonalen Regulation). Bei signi-
fikanten Anderen (Eltern, Freundeskreis) führt diese Interaktion beispielsweise
zu Selbsterhöhung. Im sozialpsychologischen Kontext wird dies dann auch mit
„basking in reflected glory“ beschrieben (Wann et al. 1995). Die entsprechenden
Körper als Domäne impliziten und emotionalen Ausdrucks … 25
3 Schlussbetrachtung
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Der Körper zwischen Adipositas und
Essstörungen
Zusammenfassung
Stellt man sich ein Kontinuum der äußeren Gestalt des Körpers von dicken zu
dünnen Menschen vor, so ist diese eindimensionale Vorstellung nur rein met-
risch zutreffend. Eher passt das Bild von Körpern, das von unterschiedlichen
Betrachtern geschaffen wird, zu einer Landschaft bestehend aus verschiedenen
Formationen, die komplexen Entstehungs- und Veränderungsmechanismen
in der Postmoderne unterliegen und oft tief eingegrabene Leidenswege auf-
weisen. Zudem überlagern sich die Bilder, da ein Teil der Menschen mit einem
wesentlich überhöhten Fettanteil auch Vollbilder von Essstörungen aufweisen.
Schlüsselwörter
Essstörungen · Schönheitsideal · Überflussgesellschaft
E. Ardelt-Gattinger (*) · N. Steger
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: elisabeth.ardelt@sbg.ac.at
N. Steger
E-Mail: Nadine.steger@stud.sbg.ac.at
S. Ring-Dimitriou
Universität Salzburg, Hallein/Rif, Österreich
E-Mail: susanne.ring@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 29
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_3
30 E. Ardelt-Gattinger et al.
1 Adipositas
Adipositas wird von der WHO seit 1997 als chronische Krankheit (W.H.O. 2002)
anerkannt. Der Anteil adipöser Menschen betrug 2004 bereits 315 Mio. und weist
immer noch steigende Tendenz auf (Holler 2012). Medizinisch wird Adipositas
über ein metrisches Maß, den sogenannten Body Mass Index (BMI in kg/m2),
erfasst. Demnach gelten als krankhaft übergewichtig (adipös) mit dem Risiko
massiver Begleiterkrankungen Menschen mit einem BMI ab 30 kg/m2 und als
„morbid adipös“ jene mit einem BMI ab 40 kg/m2.
Verglichen mit Personen mit körperlichen Behinderungen oder mit Normal-
gewichtigen mit hohem Morbiditäts- bzw. Mortalitätsrisiko, trifft ein Mensch
in einem adipösen Körper nicht auf Empathie. Adipöse Menschen schreiben
sich die ‚Schuld‘ an diesem Körper, mit dem sie so unglücklich sind, selbst zu.
Mit dem gleichen Unwissen und Unverständnis reagiert die ebenfalls durch das
dünne Schönheitsideal geprägte Umgebung auf adipöse Personen. Bereits Kinder
ab drei Jahren wurden wegen ihres Körperumfangs gehänselt (Latner und Stun-
kard 2003). Ihre Lebensqualität ist schlechter als jene an Krebs erkrankter Kin-
der (Warschburger 2015). Ähnliches gilt für Erwachsene, mit bisweilen massiven
Konsequenzen für Lebensqualität, Partnerwahl, Beruf und soziale Netze (Legen-
bauer et al. 2007). Sie werden nicht nur gemobbt und gemieden, sondern als
unkontrollierter, fauler, unbegabter und vor allem willensschwächer eingeschätzt.
Keine Studie konnte diese Vorurteile stützen, aber viele die Auswirkungen der
Ablehnung und Stigmatisierung belegen (Hansson et al. 2009). Unsympathisch
dargestellte Menschen werden häufig von Karikaturisten dick gezeichnet, auch
wenn sie dies tatsächlich nicht sind. Auch die in den letzten Jahren publizierten
Artikel über die mit Adipositas assoziierten Leiden und Gesundheitsgefahren
führten keine Änderung herbei, sondern verstärkten die vorhandenen Vorurteile in
negativer Richtung (Saguy et al. 2014).
In Beratungen und Therapien wird Essen von den Betroffenen weniger als
genussreiche Sättigung, sondern vielmehr als Befriedigung eines nicht steuer-
baren Essensdrangs beschrieben (Mela 2006). In den seit 2000 durchgeführten
neurophysiologischen Studien (Volkow et al. 2008) konnte ein eindeutiger
Zusammenhang von Adipositas und Sucht nachgewiesen werden.
Der Körper zwischen Adipositas und Essstörungen 31
2 Essstörungen
Hat die starke Verbreitung des dünnen Schönheitsideals auf Adipositas eher
indirekte Folgen, die die zu Übergewicht neigenden Menschen in die Falle der
Diäten treibt, so ist die Norm des möglichst schlanken Model-Körpers zugleich
ein Symptom und direkter Auslöser (Langer und Wimmer-Puchinger 2009) von
Essstörungen aller Grade. Aus der Internalisierung dieses Ideals und der fehlen-
den Körperzufriedenheit resultiert eine Perversion lebenserhaltender Mechanis-
men von Hunger und Sättigung, eine Entfremdung des spontanen Essensgenusses
und die Instrumentalisierung normaler Bewegungsfreude.
Zur folgenden Darstellung des wissenschaftlichen Forschungsstandes wird ein
weiterer Abschnitt der Selbstsicht der Betroffenen in Internetforen hinzugefügt.
Die Grundaussagen der beiden Quellen weichen inhaltlich nicht voneinander ab,
da Definitionen ja auf empirischen Fakten beruhen. Sie weisen aber kognitive und
sprachliche Variationen auf, die die betroffenen Menschen nicht nur als Objekte
der Forschung sichtbar machen, sondern auch ihre ganz eigene Stimme hören las-
sen, die unser Verstehen erweitert.
Der Körper zwischen Adipositas und Essstörungen 33
Man ging lange davon aus, dass alle genannten Phänomene im etwa gleichen
Altersabschnitt wie die Vollbilder auftreten, d. h. frühestens ab 12 Jahren (Fis-
her et al. 2001). Der Höhepunkt der Inzidenz wird bei Anorexie zwischen 14
und 17 Jahren, bei Bulimie bei 16 bis 20 und bei BED bei ungefähr 16 (Hamm-
erle et al. 2016) bis 20 (Hölling und Schlack 2007) Jahren angegeben. Tat-
sächlich wird bereits im Kindergartenalter das dünne Schönheitsideal einer
Barbiepuppe schön gefunden. Befragt, welche von fünf nach Körperumfang
gestaffelten Silhouetten aber DIE ‚Schönste‘ sei, wird noch nicht die Dünnste,
sondern die Normalgewichtige gewählt (vgl. Brettschneider et al. 2006). Ab dem
achten Lebensjahr wählen Mädchen auf einer nach Geschlecht differenzierten
Skala aber bereits die dünnste Figur, Jungen hingegen den Normalgewichtigen
(Ardelt-Gattinger et al. 2016). Letzteres bleibt stabil bis zum 18. Lebensjahr und
spiegelt die Tatsache wider, dass Jungen und Männer zunehmend das Ideal des
muskulös-wohlgeformten Körpers verfolgen (Berger et al. 2005). Beunruhigend
ist, dass bereits einzelne 8-jährige „bulimisches Probierverhalten“ angaben, d. h.
Erbrechen nach Essensmengen herbeiführten, die nicht für die Kriterien einer
Binge Attacke (wesentlich mehr als bei einer normalen Mahlzeit gegessen wird)
ausreichen, sondern lediglich als überflüssig oder ungünstig (z. B. ein Butterbrot
zu viel) für die Wunschfigur angesehen wurden (Ardelt-Gattinger et al. 2016).
Grundbedürfnis gestört ist, mit bis zu 17 % aller Vorformen und des Vollbilds
z. B. bei Anorexie erschreckend hoch ist.
Betrachtet man die Störungen im Einzelnen, so ist der Einfluss des Schön-
heitsideals noch vorhanden, die Ursachen sind aber multifaktoriell. Der Ein-
fluss von aggressiver Lebensmittelwerbung und des Schönheitsideals wird in der
postmodernen Welt nicht geleugnet, jedoch die damit assoziierten gefährlichen
Folgen, die Verbesserung der Symptome oder gar Heilung bleibt in der Ver-
antwortung des Individuums.
allem Schäden der Mundschleimhaut und der Zähne, die bisweilen zur Nahrungs-
verweigerung führen. Die Diagnose ist Ärzten wenig bekannt, was häufig zu
unnötigen Untersuchungen führt (Rommel et al. 2010). Ein klinisches Interview
und Beobachtungsprotokolle liefern erste Hinweise, die durch Manometrie, eine
Druckmessung im oberen Magentrakt, erhärtet werden können (O’Brien et al.
1995).
Auf einschlägigen Foren und Blogs werden im Internet nicht nur abgemagerte
Körper verherrlicht und als erstrebenswert dargestellt, sondern zugleich Ess-
störungen als Lebenseinstellung und -stil propagiert. Eine erschreckend große
Anzahl an Pro-Ana-Websites (Pro-Ana = Pro-Anorexie) animiert zu radikalen, ja
sogar lebensbedrohlichen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion und gibt Tipps und
Tricks zur Ausübung und Verheimlichung derartiger Verhaltensweisen.
Sehr hoch im Kurs stehen außerdem „Thinspirations“, sprich Inspirationen
zum dünn werden und bleiben, meist in Form von Fotos von Menschen in einem
fortgeschrittenen Stadium der Magersucht, die als Vorbilder dienen sollen.
Besonders erschreckend sind Texte mit Namen wie „Anas Gebote“ und „Anas
Psalmen“, die Betroffene quasi religiös an der Krankheit festhalten lassen und
Gesunde zum Ausprobieren und Nachahmen verleiten. Darüber hinaus wird zu
Herausforderungen und Wettkämpfen aufgerufen, die zeigen sollen, wer die strik-
testen Regeln im Hinblick auf Nahrungsverzicht und exzessive Sportausübung
einhalten kann, wem es möglich ist, am längsten zu fasten, oder wer über eine
definierte Zeitspanne hinweg am meisten Gewicht verliert. Vielfach werden Tage-
bücher erstellt, mit deren Hilfe die minimalen Essensmengen dokumentiert und
die progressive Abmagerung des eigenen Körpers festgehalten werden. (Internet-
adressen aus ethischen Gründen bei den Autorinnen).
Die Darstellungen der Betroffenen spiegeln freilich paradoxerweise wiederum
die medial vermittelten gesellschaftlichen Werte wider: Leistungsgesellschaft und
Wettbewerb. Sie zeigen aber auch die Stärken der betroffenen Menschen, die auf
ungeheurer Willenskraft, Kontrollfähigkeit und Genauigkeit bis hin zur klinisch
relevanten Zwanghaftigkeit beruhen. Aber auch letztere ist in vielen Berufen,
wenn schon nicht notwendig, so doch günstig und wird gesellschaftlich honoriert.
von Muskeln ‚unauffällig‘ auch im sozialen Kontext wie etwa bei Gesprächen,
Schnipsen mit den Fingern unter der Schulbank u. ä. verbrauchen kann.(Internet-
adressen aus ethischen Gründen bei den Autorinnen).
Im Schutze der Anonymität tauschen sich so tausende Gleichgesinnte tag-
täglich über derartige Themen aus und bestätigen sich in ihren krankhaften Ver-
haltensweisen, sodass nicht nur Einsicht erschwert wird, sondern auch Risiken
und Konsequenzen verkannt oder gar geleugnet werden.
Die Opfer sind jene, die die Mittel und Grenzen der geforderten Norm über-
schreiten. Auch für sie sind die Medien wichtig, insbesondere die Foren des
Internet. Wer begreift schon die Kraft der ungeheuren Selbstbeherrschung der
fastenden AnorektikerInnen? Wer kann die Überwindung aller Schamgrenzen
bei Einkauf und Erbrechen, die tausend Versuche dem Fressanfall zu widerstehen
und die Scham zu scheitern bei jenen, die Bulimie und Binge Eating Disorder
haben, wirklich nachvollziehen? Die Foren bieten Möglichkeiten zum Austausch,
aber auch zu Verdrängung und Rationalisierung des eigenen Verhaltens und seiner
Krankheitswertigkeit. Was bislang der Forschung dient, nämlich Informations-
gewinnung durch Teilnahme an Gruppendiskussionen im Netz (Ullrich und
Schiek 2014), könnte beispielsweise für Prävention überdacht werden. Mit wel-
cher Methode immer, die Medien sind der erste Ort zur Heilung dessen beizu-
tragen, was sie mit verschulden.
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Jugendkörper im Netz.
Erziehungswissenschaftliche
Perspektiven auf Jugendliche und ihre
fotografischen Selbstdarstellungen
in digitalen sozialen Netzwerken
Zusammenfassung
Der Beitrag fokussiert aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive,
wie Jugendliche sich mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen
an die Gestaltung von Körper und Selbst auseinandersetzen. Es wird der
These nachgegangen, dass es sich hierbei um (jugendliche) (Selbst–)Bildungs-
prozesse handelt. Im Beitrag werden Konzepte der Subjektivierung, des Kör-
pers und des Leibes fruchtbar gemacht, um unterschiedliche Spannungsfelder
jugendlicher Selbstdarstellungsarbeit, Auseinandersetzungen mit Gesellschaft
und Körperbildern und darin eingelagerte (Selbst-)Bildungspotenziale heraus-
zuarbeiten. Mithin setzt der Beitrag einen Kontrapunkt zu weit verbreiteter
Kritik jugendlicher Selbstdarstellungen in digitalen sozialen Netzwerken, die
deren gesellschaftliche Bedingtheit und die diffizilen Bewältigungsleistungen
weitestgehend ignoriert.
Schlüsselwörter
Jugend · Körper · Leib · Internet · Soziale Netzwerke · Bildung · Sozialraum ·
Identität · Selbstbildung
B. Bütow (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: birgit.buetow@sbg.ac.at
C. Schär
Institut für Erziehungswissenschaft, Zürich, Schweiz
E-Mail: clarissa.schaer@ife.uzh.ch
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 51
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_4
52 B. Bütow und C. Schär
1 Einleitung
als Junge werden in solchen Sozialräumen als distinktives Wissen durch Prakti-
ken des Dazugehörens geradezu beiläufig entwickelt, evaluiert, revidiert oder
auch sanktioniert. Im Spannungsfeld von Integration und Anerkennung in die
Gruppe der Gleichaltrigen einerseits, und der Anforderung, eigene Wege und
Zuschreibungen zu finden andererseits, entstehen so Widersprüche, die bio-
grafisch zu bewältigen sind (Bütow et al. 2013). Somit wird deutlich, dass
biografische Bewältigungsmuster in ihren sozialräumlichen Bezügen zu ver-
stehen und zu fassen sind: digitale soziale Netzwerke bilden für Jugendliche in
der Gegenwart daher solche und zudem höchst bedeutsame Sozialräume (vgl.
Kap. 3). Diese sind jedoch nicht ohne ihre gesellschaftlichen Einbindungen und
normierenden Muster zu verstehen, denn Jugendliche greifen explizit darauf
zurück. Ob und inwieweit sie darin kritisch-reflexiv sein können, ist nicht nur
eine Frage der biografischen, insbesondere familiären und bildungsbezogenen
Ressourcen, sondern auch der Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Normative,
auch wenn diese diffus erscheinen.
Sozialräumliche und biografische Bildungsprozesse haben immer auch körper-
lich-affektive Dimensionen, die insbesondere bei Jugendlichen besondere Heraus-
forderungen darstellen (Bütow et al. 2013; King 2011). Die Auseinandersetzung,
Inszenierung und Gestaltung des sich in dieser Lebensspanne immens ver-
ändernden Körpers, den damit einhergehenden sozialen Rollenübergängen sowie
den neuen Erfahrungen im Kontext des sexuellen Begehrens ist in der Adoleszenz
ein zentraler Bestandteil der biografischen Identitätsarbeit (Alkemeyer 2009).
Die körperlich-leibliche Dimension von (Selbst-)Bildung drängt sich daher
bei der Subjektperspektive des Aufwachsens von Jugendlichen geradezu auf: Der
sich verändernde Körper und damit einhergehende Gefühlslagen müssen neu ver-
standen werden, in sozialen Interaktionen mit Anderen artikuliert und behauptet
werden, um einen (weitgehend) selbstbestimmten körperlich-leiblichen Umgang
entwickeln zu können (King 2011). Dies sind komplexe Herausforderungen, die
nicht immer sprachlich bewältigt werden können, sondern oft auf der nichtsprach-
lichen, d. h. affektiven bzw. körperlichen Ebene symbolisch bearbeitet werden.
den Prozess, in dem sich Individuen in eine soziale Ordnung der Lesbarkeit ein-
fügen, sich mit vorgegebenen Subjektformen – wie Frau, Femme Fatale, Hetero,
Homo, Sportler oder Italienerin – auseinandersetzen (Villa 2010). Dabei müs-
sen Individuen die mit den jeweiligen Subjektformen verbundenen Erwartungen
öffentlich darstellen – d. h. sie müssen bestimmten Schönheits–, Attraktivitäts-
oder Leistungsimperativen und -vorstellungen entsprechen – um sich hierüber
als Subjekte herzustellen.
Gleichzeitig wird mit einer subjektivierungstheoretischen Perspektive aber
auch das Scheitern an Subjektivierung beschreibbar (Villa 2010). Insofern Sub-
jektivierungsprozesse – die Verkörperung von Subjektformen – einer Aufführung
bedürfen, ist ihnen das Potenzial zu Abweichung inhärent (Butler 2001). Ein
Potenzial, das sich leibtheoretisch2 mit dem Mimesis-Konzept von Gebauer und
Wulf (1992) erklären lässt. In der Bezugnahme auf vorgängige Subjektformen,
im Imitieren und Nachahmen von Körperdarstellungen, Haltungen und Gesten,
können sich Individuen immer nur anähnlichen. Aufgrund der Einzigartigkeit
jeder Situation und v. a. jedes Körpers sind Individuen nicht dazu fähig, Subjekt-
formen eins zu eins zu reproduzieren (Alkemeyer und Villa 2010). Somit voll-
zieht sich immer eine individuelle Umarbeitung der vorgängigen Subjektformen,
die zu Veränderungen und Überschreitungen ebendieser führt (Schär i. E.). Das
können kleine, kaum bemerkbare Veränderungen sein. Dies zeigt sich in den foto-
grafischen Selbstdarstellungen Jugendlicher z. B. darin, dass manche Fotografien
irritierende Momente aufweisen. Die erotisch-aufreizende Pose wird von einem
unsicheren Blick begleitet oder die aggressiv-herrische Rapper-Pose von einem
harmlosen Bubigesicht konterkariert. Das können aber auch Veränderungen
weitreichenderer Art sein. Wie es sich beispielsweise in digitalen sozialen Netz-
werken im Phänomen des Duckface nachzeichnen lässt: Das Scheitern einer
schmollmündig-erotischen Darstellung mit geschürzten Lippen, die durch den
Vergleich mit einem Entengesicht bzw. einem Entenschnabel der Lächerlichkeit
preisgegeben wird.
Trotzdem ist von reflexions- und kritikfähigen Individuen auszugehen, die
sich mehr oder minder bewusst zu Subjektformen verhalten, diese verändern und
2Gemäß Plessner (2003) beschreibt der Leib im Unterschied zum materiellen und inten-
tional form- und veränderbaren Körper den (affektiv) spür-, erleb- und erfahrbaren Kör-
per (Plessner 2003). Über den Leib wird einerseits die Welt sinnlich-affektiv erfahren,
andererseits verbirgt sich im leiblichen Zur-Welt-Sein eine Eigensinnigkeit, die bewusstem
Handeln vorgelagert ist und die – wie noch auszuführen sei wird – das Verhältnis von Indi-
viduum und Gesellschaft beeinflusst.
Jugendkörper im Netz. Erziehungswissenschaftliche … 57
5 Schlussfolgerungen
In Bezug auf die eingangs aufgeworfenen Fragen konnte der Beitrag zeigen, dass
Jugendliche mit ihren fotografischen Selbstdarstellungen in digitalen sozialen
Netzwerken nicht nur – wie vielfach kritisiert und problematisiert – hegemoniale,
3Dabei sind mit utopischen Körperentwürfen nicht nur diejenigen gemeint, die mittels eines
Bildbearbeitungsprogrammes die Körpergrenzen transzendieren, sondern auch jene, die
Ungeahntes des eigenen Körpers und der eigenen Darstellung(-smöglichkeiten) sichtbar
werden lassen.
Jugendkörper im Netz. Erziehungswissenschaftliche … 59
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Der postmoderne Körper im
Wandel: Sport, Fitness und Wellness
zwischen Gesundheitsorientierung,
performativem Zwang und
Optimierungslogik
Minas Dimitriou
Zusammenfassung
Ziel des Beitrages ist es, das Beziehungsgeflecht zwischen den Erscheinungs-
formen und Artikulationslinien des Körpers sowie den gesellschaftlichen
Anforderungen in der Postmoderne zu analysieren. Dabei handelt es sich
um die Betrachtung des Körpers sowohl als Objekt der Selbstoptimierung,
als Fitnessdomäne und als Mittel zur Gesundheitserhaltung, Medium der
Selbstdarstellung und -inszenierung. Während Fitness, Wellness und andere
Körperstrategien einen erheblichen Beitrag zur Visualisierung von gesund-
heitsnormativen Idealen leisten, avanciert der Körper in der postmodernen und
singularisierten Gesellschaft zu einer gestaltbaren Instanz und permanenten
Kultivierungsfläche von Affekten und Sehnsüchten.
Schlüsselwörter
Körper · Fitness · Wellness · Postmoderne · Singularisierung · Performativität ·
Medien · Soziale Netzwerke
M. Dimitriou (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: minas.dimitriou@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 63
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_5
64 M. Dimitriou
1 Einleitung
Mit dem Topos „Wiederkehr des Körpers“ (Kamper und Wulf 1982) lässt sich eine
rapide Entwicklung beschreiben, die in den letzten Dekaden von zunehmender
Körperthematisierung geprägt ist. Infolge dieses Prozesses kam es nicht nur zur
sichtbaren Körperaufwertung (Bette 2005), sondern auch zum Aufstieg des Körpers
als einen der wichtigsten Bestandteile der Lebenswelt (Gugutzer et al. 2017). Dabei
avancieren Sport- und Fitnesskulturen sowohl als Bestimmungsorte des Körpers,
als auch zum Gegenstand des postmodernen Lebensstils.
Die interdependente Beziehung zwischen Sport und Körper wird in den unter-
schiedlichen Erscheinungsformen gesellschaftlicher Strukturen und individueller
Handlungen ersichtlich.
So z. B. wird der Sport nicht nur als ein „körperzentriertes Sozialsystem“
(Caysa 2003, S. 13) und als „soziales Handlungsfeld, für das der Körper von
konstitutiver Bedeutung ist“ (Gugutzer 2017, S. 300) definiert, sondern er fun-
giert auch als eine Fläche zur „[…] Präsentation des Körpers und der körper-
lichen Leistung, von Stärke, Ausdauer und Aggressivität, aber auch von
Schönheit und Eleganz“ (Pfister 2004, S. 63). Diese Annäherung betrachtet den
Sport nicht nur als Leistungsschau im quantifizierbaren Sinne, sondern hebt auch
seinen performativen Charakter hervor. Außerdem stellt der mit dem Körper aus-
getragene Wettkampf ein wichtiges Charakteristikum des Sports dar (Elias und
Dunning 2003). Ähnlich betrachtet Bourdieu den Sport als Welt des Wettkampfs,
der „eingebettet in ein umfängliches Feld von Auseinandersetzungen [ist], die die
Definition des legitimen Körpers und des legitimen Umgangs mit dem Körper
zum Gegenstand haben“ (Bourdieu 1985, S. 580). Letztgenannte Positionen kor-
respondieren mit der Betrachtungsweise von Thiel et al. (2013), der der Körper
als Funktionsgegenstand im Wettkampfsport verortet. Basierend auf phänomeno-
logischen Ansätzen versteht Wetzel (2014) unter Sport die leiblich-soziale Praxis,
[die] das Individuum lernt, sich selber zu spüren und sich in ein schwingendes
Resonanzverhältnis mit sich selbst zu versetzen.
Der Sport kann für Gebauer (2002) herangezogen werden, um den mensch-
lichen Körper als „Subjekt der Moderne“ zu deuten. Während letztgenannter
Autor körperliche Bewegung als zentrale Vermittlerin zwischen Mensch und
Welt begreift, bietet der Sport günstige Voraussetzungen für die Disziplinierung,
die Funktionalisierung des Körpers und für die Konstruktion von Geschlechter-
körpern (Wedemeyer-Kolwe 2010).
Als übergeordneter Topos kann der Sport gleichzeitig sowohl als eigen-
ständiges Funktionssystem als auch als soziale Situation interpretiert werden,
Der postmoderne Körper im Wandel: Sport, Fitness und Wellness … 65
Im Wandel des Sports und der Bewegung zeigt sich der Körper als
Kristallisationsfläche philosophischer Theorien, politischer Machtansprüche,
erzieherischer Modelle und Schönheitsideale. In der griechischen Antike spielte
der Körper im Rahmen der Gymnastik, d. h. „die Kunst der nackt ausgeübten
Leibesübungen“ (Röthig und Prohl 2003, S. 236), eine wichtige Rolle bei der
Verkörperung des Bildungsideals der ‚Kalokagathia‘ – welches die „harmonische
Einheit, die Balance körperlicher und geistiger Kräfte sowie sittlich-moralischer
Werte“ (Krüger 2004, S. 89) bezeichnete. Mit dem Aufkommen des Christentums
im Mittelalter erlebte der Körper als „abscheuliches Gewand der Seele“ (Papst
Gregor der Große zitiert nach Le Goff und Truong 2007, S. 11) eine sukzessive
Abwertung. Zu dieser Zeit stellte der Mönch als Asket das gesellschaftliche Ideal-
bild dar, das mit Verachtung und Erniedrigung des Körpers in Verbindung stand.
Während das weibliche Schönheitsvorbild im Mittelalter noch eine zierliche,
schlanke und flachbrüstige Gestalt darstellte, wurden die Frauen in der Kunst
der Renaissance üppiger mit ausladenden Rundungen präsentiert. Bei Männern
wurde ähnlich ein großer, schwellender Körper als schön empfunden. Mit diesem
Ideal wurde Macht, Sinnesfreude und Prunk zum Ausdruck gebracht (Le Goff
und Truong 2007).
Der postmoderne Körper im Wandel: Sport, Fitness und Wellness … 67
Mann der Welt gekrönt wurde und als Bestsellerautor und Broadway-Star eine
unglaubliche Popularität erlangte (Sicks 2008). Sandow verkörperte „the ideal
image of the strong, muscular, yet lean man“ (Müllner 2014, S. 1899). Er ent-
wickelte und vermarktete ein Krafttrainingsprogramm und gilt als einer der Pio-
niere des modernen Bodybuildings.
Bis gegen Ende der 1920er Jahre kristallisierten sich im Rahmen eines kom-
plexen soziokulturellen Transformationsprozesses (z. B. Aufkommen der Sport-
bewegung, Aufstieg des Bürgertums u. a.) typische Körperideale heraus. Während
die Frauenidealkörper sportlich, knabenhaft sowie schlank waren und betonten
sogar das Androgyne, präsentierte sich männliche Körper als „sportlich schlank“
oder als „stark muskulös / soldatisch, herkulisch“ (Penz 2001, S. 92). Letzteres
Ideal des Männerkörpers „wird wenig später durch den Typus des gestählten
faschistischen Soldatenkämpfers ersetzt werden […] Auch die Frauen werden
spätestens nach 1933 mit dem faschistischen Idealkörper vom Typus Mutter und
Gebärerin konfrontiert werden“ (Müllner 2012, S. 6).
Nach dem zweiten Weltkrieg hatte das ideale Frauenbild breite Hüften zum
Gebären und pralle Brüste zum Stillen, wobei Beleibtheit in Zeiten von knap-
pen materiellen Ressourcen ein Kennzeichen für Wohlstand, Gesundheit und
Attraktivität für beide Geschlechter darstellte. Zeitgleich konzertierte sich die
wissenschaftliche Disziplin der Anthropometrie intensiver auf die Setzung von
Körpernormen, die gesellschaftlich konstruierte Standards reproduzieren und
Grenzen zwischen Norm und Abweichung hervorheben. Dieses umfangreiche
Datenmaterial war nicht nur für die (fordistische) Massenproduktion von Klei-
dung, sondern auch für Versicherungsgesellschaften relevant (Jauqeline und
Swedlund 1995). Letztere „errechneten aus den Angaben ihrer Versicherten
Größe/Gewichtstabellen (Height/Weight Charts), die das Gewicht mit der höchs-
ten Lebenserwartung definieren sollten, das auch als Idealgewicht bezeichnet
wurde“ (Schorb 2015). Federführend für diese Berechnungen war seit den 1940er
Jahren der US-amerikanische Versicherungsmathematiker Louis Dublin, der die
These unterstützt hat, dass Übergewicht nicht nur in kausaler Beziehung für chro-
nische Krankheiten, sondern auch für eine verringerte Lebenserwartung steht
(Basham et al. 2006). Obwohl die Kalkulation des extrem niedrig ermessenen
Gewichts mit der höchsten Lebenserwartung fehlerhaft war (Campos 2005),
blieben diese Größe/Gewichtstabellen bis in die 1980er Jahren als Basis zur
Bestimmung des Idealgewichts in Anwendung (Schorb 2015). Mit dem Struktur-
wandel der Öffentlichkeit, etwa durch Zunahme von (Körper)Bilddarstellungen in
der Fotografie, im Film und bald im Fernsehen (Ende der 1950er Jahre) erfolgte
eine rapide Verbreitung von Schönheitsidealen (z. B. Schauspielerinnen wie Eve-
lyn West, Jayne Mansfield oder Marilyn Monroe), mit denen sich die Menschen
identifizieren konnten (Penz 1995).
Der postmoderne Körper im Wandel: Sport, Fitness und Wellness … 69
Allerdings kann die Arbeit am Körper – um ihn schön, fit und gesund zu hal-
ten oder ihn „nicht einzurosten“ (Bauman 1997, S. 184) – obsessive Konturen
und gefährliche Züge annehmen, wenn man Fälle von Essstörungen und Sport-
sucht in Betracht zieht. Martin (2002) definierte den Körper als komplexes Sys-
tem, das aufgrund seiner Limitierung und Temporarität permanent vor der Gefahr
eines „katastrophalen Zusammenbruchs“ (S. 38) steht. Um diesem Umstand
vorzubeugen, könnte der ständige Wechsel zwischen verschiedenen Bewegungs-
kulturen und -praxen (z. B. Sport, Training, Fitness etc.) als „flexible Speziali-
sierung“ wirken. Da „Flexibilität zum Wunschobjekt für fast jede Persönlichkeit,
jeden Körper oder jede Organisation wird“ (S. 50), avanciert der Körper zum
idealen „Trainingscamp“ (Martin 2002, S. 43).
Ausgehend von der Prämisse, dass der Körper in der (Post)Moderne vor-
wiegend als „Gegenstand der Gestaltung“ (Hitzler 2002), als „Instrument und
Ressource“ (Rosa 2016, S. 165) und als das „Ergebnis individueller Lebens-
führung“ (Zillien et al. 2015, S. 82) wahrgenommen wird, gewinnt die intensive
Selbsterkundung an Relevanz. Dabei bemüht sich der Mensch um (körperliche)
Perfektion und ästhetische Vollkommenheit als unausweichlicher Prozess des
„In-Form-Kommens“ (Sloterdijk 2009, S. 50). Im anthropotechnischen Kontext
offenbart sich „der Körper als subjektive [permanent zu examinierende] Arbeits-
fläche“ (Benkel 2012, S. 57), der oft durch die digitale Übermittlung und den
Austausch von Leistungsdaten einen performativen Rahmen darstellt (Zillien
et al. 2015).
Im Zuge einer voranschreitenden „Quantifizierung des Sozialen“ (Mau 2017,
S. 16) oder einer durch Digitalisierung verstärkten Tendenz zur „datafication
of everything“ (Mayer-Schonberger und Cukier 2013, S. 94) findet die zahlen-
basierte Darstellung sozialer Praktiken in allen Bereichen des Lebens statt. Die-
ser Prozess schlägt in Form von omnipräsenten numerischen Repräsentationen
wie „genetic sequences, social media interactions, health records, phone logs,
government records, and other digital traces left by people“ (Boyd und Crawford
2012, S. 663) nieder, wobei der digitalen Selbstbeobachtung eine zentrale Rolle
zukommt. Parallel dazu führt die mittels digitaler Selbstvermessung wachsende
Quantifizierung des Körpers im Alltag zur Etablierung einer Logik des Ver-
gleichs und ferner der narrativen Selbstthematisierung (vgl. Duttweiler und Pass-
oth 2016). Somit tragen Normwerte, Indizes, Kalkulationen und Visualisierungen
dem „Messregime“ (Manhart 2008, S. 217) für körperliche Charakteristika Rech-
nung, und „legen so Orientierungsgrößen für soziale Praktiken fest“ (Zillien et al.
2015, S. 81).
Diese Entwicklung korrespondiert mit den von Foucault formulierten Prak-
tiken zu Technologien des Selbst „mit denen Menschen nicht nur die Regeln
Der postmoderne Körper im Wandel: Sport, Fitness und Wellness … 75
3https://ec.europa.eu/sport/news/2018/new-eurobarometer-sport-and-physical-activity_en.
Neben den fußballerischen Fähigkeiten von David Beckham waren es tief grei-
fende Veränderungen in seinem Privatleben, die eine wichtige Rolle bei seinem
Wandel zum „twenty-first-century celebrity par excellence“ (Cashmore 2004,
S. 13) spielten. Denn die Liaison zwischen ihm und der Popsängerin Victoria
Adams bedeutete den Beginn „eine[r] Symbiose aus Sport- und Popmetier [und]
eröffnete dem Unterhaltungsjournalismus ungeahnte Möglichkeiten“ (Lessinger
2006, S. 263).
In den 2000er Jahren avancierte David Beckham zur ultimativen Life-
style-Ikone und „captivates a global audience that includes young females who
have no obvious interest in sport, gay men from whom Beckham has aquired
almost fetishist properties (his hairstyle, accessories and clothes are assigned sta-
tus as gay symbols), working class kids who proclaim their nationalism through
their champion and countless other groups who have become enamoured by him“
(Cashmore 2004, S. 6). Während sich David Beckham mit zahlreichen Tätowie-
rungen und stilistischen Neuerungen zum Trendsetter der Modeszene entwickelte,
sorgt Victoria Beckham häufig aufgrund ihrer extravaganten Erscheinung und
ihrer Magersucht (Victoria Beckham – „Haut, Knochen und Silikon“ titelte die
Boulevardzeitung Blick vom 06.06.2006) für mediale Schlagzeilen. Das hier
erkennbare Amalgam aus Extravaganz, Image, Look und Erotik schafft günstige
Vorrausetzungen für die Konstruktion von medialen Bildern, die „als Projektio-
nen auf dem Bildschirm der Imagination der Zuschauer / innen“ (Gebauer 2006,
S. 45) wahrgenommen werden.
Ausgehend von postmodernen Ansätzen, in denen die kritische Auseinander-
setzung mit der Konsumgesellschaft und Werbewirtschaft (Varcoe und Kilminster
2014) eine wichtige Rolle spielt, lässt sich in diesen medialen Erscheinungs-
formen eine Doppelstruktur bezüglich der Artikulation des Körpers erkennen:
Einerseits projizieren die performativ inszenierten Körper der Protagonisten auf
gesellschaftlicher Ebene die Sehnsucht nach einem glamourösen Lebensent-
wurf und andererseits tritt der Konsumkörper als Handlungsoption auf. Ziel der
erwähnten Marketingstrategie ist sowohl die Darstellung eines Körperideals, das
durch die mediale Inszenierung nachvollzierbar erscheint, als auch das Hervor-
bringen eines flexiblen Körpers, der durch Konsum diverser Produkte (Kosmetik,
Bekleidung etc.) und Dienstleistungen (Tätowierungen, Schönheitsoperationen
etc.) frei gestaltbar ist.
Verkörperte David Beckham den metrosexuellen Mann-Typus, so kristal-
lisierte sich in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ein neues Ideal heraus,
nämlich der Spornosexuelle, der eine „more extreme, sex- and body-obsessed
version“ (Simpson 2014) des Metrosexuellen darstellt. Bei dieser Verbindung
zwischen dem Sport und der Tendenz zur „Pornografisierung der Gesellschaft“
78 M. Dimitriou
Fotos von Männern zu überwiegendem Teil die körperliche Leistung zum Aus-
druck bringen (ebenfalls als streng „männliches Stereotyp“) (Hartmann-Tews und
Rulofs 2007, S. 143). Darüber hinaus werden Männer in ihrer sportlichen Aus-
übung gezeigt, während dessen Frauen ästhetisch, erotisch bzw. posierend in
ihrem Sportumfeld abgelichtet werden (Rulofs und Hartmann-Tews 2017). Dieser
Interpretationsrahmen korrespondiert mit den gängigen sozialen Assoziationen
von Stereotypen für Männer, wie Aktivität, Stärke, Leistungsfähigkeit, Durch-
setzungsvermögen, Rationalität, Aggressivität und/oder Dominanz (Schöndorfer
2012) und für Frauen, wie Passivität, Schwäche, Emotionalität, Einfühlsamkeit,
Weichherzigkeit, Verträumtheit und/oder Unterwürfigkeit (Six-Materna 2008).
Bei der Annahme, dass Sport auch als soziale Praxis wahrgenommen wird,
werden Sportler und Sportlerinnen verstärkt als „handelndes Subjekt, Ursache
oder Mittelpunkt eines Ereignisses“ (Schierl und Bertling 2007, S. 157) von den
Massenmedien dargestellt. Somit eröffnet sich für die medienaffinen Sportakteure
ein neues lukratives Betätigungsfeld für Werbeaktivitäten. Im Rahmen einer fort-
geschrittenen gegenseitigen Abhängigkeit der Werbewirtschaft mit den Medien-
logiken „repräsentiert der Mensch in der Werbung den heutigen Körperkult, er
ist auffallend schön, attraktiv, körperbetont, jung, sportlich, dynamisch, gesund,
wohlhabend, intelligent und kreativ“ (Buschmann 2005, S. 57).
Mit dem Aufkommen und Bedeutungszuwachs der Internetkommunikation
in den 2000er Jahren gab es für Sportlerinnen und Sportler die Möglichkeit auf
deren persönlichen Websites sich selbst zu präsentieren. So analysierte Pauli
(2009) die Selbstdarstellung von Frauen und Männer und stellte fest, dass wäh-
rend im Text Leistungs- und Persönlichkeitsaspekte an Relevanz gewinnen, kam
es bei den Fotogalerien der Sportlerinnen öfter zur Darstellung des Körpers in
sexualisierten Situationen. Diese Entwicklungstendenz wird allerdings in den im
Rahmen der Digitalisierung verbreiteten sozialen Netzwerken nur bedingt fort-
gesetzt (Beck und Capt 2017). Wie eine Untersuchung von Facebook-Profilen
(Trützsch 2011) zeigte, präsentieren Sportler und vor allem Sportlerinnen nur
vereinzelt ihren Körper in sexualisierten Positionen. In diesem Kontext stellt die
Analyse der Facebook Seite der amerikanischen Tennisspielerin Serena Williams
ein aufschlussreiches Beispiel dar (Dimitriou und Kastner 2014). Die promi-
nente Sportlerin versucht nicht durch inszenierte zweideutige Körperposen, son-
dern durch athletisches „verkörpertes Handeln“ (Schilling 1999) Öffentlichkeit
zu generieren. Sowohl die sportspezifischen, als auch die privaten Darstellungen
von Serena Williams werden für den Auftritt in den sozialen Medien mit dem Ziel
auswählt, eine dynamische, selbstbewusste (im Sinne eines Empowerment) und
für die zahlreichen Fans eine vertrauensvolle Frau zu präsentieren. Diese Stra-
tegie der gezielten „Entprivatisierung“ (Trützsch 2011) setzt einen thematischen
80 M. Dimitriou
5 Fazit
Der Beitrag setzte sich mit den postmodernen Erscheinungsformen und Arti-
kulationen des Körpers am Beispiel von Sport- und Fitnesskulturen sowie
Bewegungspraxen auseinander. Ausgegangen von der Annahme, dass die post-
moderne Gesellschaft durch die soziale Logik des Besonderen und nicht mehr
des Allgemeinen (Singularisierung, Reckwitz 2017) gekennzeichnet ist, rückten
im Rahmen des Ausdifferenzierungsprozesses von Sport- und Bewegungspraxen
die kulturhistorischen Zuschreibungen auf den Körper in den Vordergrund. Dabei
zeigte sich, dass der Körper von strukturellen Settings (Instrumentalisierung,
Funktionalisierung), kulturellen Leitbildern (Religion) und ästhetischen Normen
(Schönheitsideale) beeinflusst wurde, wobei die hier referierte Betrachtungs-
weise den Körper als Produkt der Gesellschaft (Gugutzer 2017) analysiert hat.
In diesem Kontext lassen sich auch zeitstrukturelle Übergänge erkennen: vom
funktionalen und rationalen Körper der Moderne zum individuellen, flexiblen,
prozessorientierten Körper der Postmoderne. Dieser Entwicklungszusammenhang
wird deutlich bei der Betrachtung des Körpers als Objekt sowohl von Fitness-
und Wellnesskulturen als auch von Selbststeigerung.
Aufgrund der Tatsache, dass die individuelle Körperarbeit „das Erscheinungs-
bild des Körpers zum Ergebnis von Handlungen macht“ (Schwanitz 1988,
S. 573), fungiert ein fitter und schlanker Körper als Wirkungsfläche selbstver-
antwortlicher Fürsorge und ferner als ideales Gesundheitsobjekt. Abgesehen
Der postmoderne Körper im Wandel: Sport, Fitness und Wellness … 83
davon wird dieser Körper zum „physisch sichtbaren Ausweis von Flexibilitäts-
geist“ (Opitz 2010, S. 143). Gleichwohl lässt sich hier eine funktionelle Ver-
mengung zwischen Fitness und Wellness unter dem gesellschaftlichen Megatrend
‚Gesundheit‘ feststellen. Aus dieser strukturellen Kopplung entsteht eine neue
Interaktionsebene, die sich an wirkmächtigen ästhetischen, gesundheits- und
leistungsbezogenen Normen orientiert und Einfluss auf die genuinen Charakte-
ristika der ursprünglichen Systeme (Fitness, Wellness) nimmt. Während Fitness
nicht mehr als ‚Zustand‘ oder ‚Status‘ der Gesundheit, sondern als lebenslanger
Prozess verstanden wird, entspricht Wellness den Anforderungen zur Maximie-
rung des Wohlbefindens, allerdings oft gemessen und beurteilt mit quantita-
tiven Kriterien (Siehe Wellness-Syndrom). So z. B. passte der amerikanische
traditionsreiche Konzern Weight Watchers seine Marketingstrategie an gesund-
heitsorientierten Trends („This is our mission: We inspire healthy habits for real
life […] To create a world where wellness is accessible to all, not just the few”)4
an, wobei der Fokus nicht mehr ausschließlich auf dem Erreichen des Ideal-
gewichts, sondern auf Wellness und Lebensstil liegt.
Die postmodernen Ansätze zu Fitness und Wellness leisten einen erheblichen
Beitrag zur Stabilisierung bzw. Verstärkung des Trends zur Gesundheitsver-
besserung. Außerdem prägen individualisierte Bewegungspraxen und gezielte
Leistungs- und Gesundheitskonzepte eine offensichtlich gewordene techno-
logische Durchdringung des Körpers und charakterisieren den gesellschaftlichen
Wandel hin zu einer Kultur der „Steigerungsoptimierung“ (Rosa 2016, S. 179).
Unter der Prämisse, dass der „Mensch als gestaltbarer Körper“ (Wetz 2008,
S. 12) betrachtet werden kann, stellt Selbstoptimierung – im Zuge einer weit-
verbreiteten „Upgrade-Kultur“ (Spreen 2015) – das erste Gebot der Zeit dar, im
Sinne einer „Geistesverfassung […], in der es ständig darum geht, das nächste
Level zu erreichen, die nächste Version seines Selbst: Erst Ich 2.0, dann Ich 3.0,
irgendwann Ich 4.7, Ende offen“ (Schnurr 2016, S. 14).
Die mediale Inszenierung und Selbstdarstellung des Körpers wurden auch
in dieser Arbeit thematisiert, wobei der Körper als Produzent von Gesellschaft
(Gugutzer 2017) betrachtet wurde. Während der mediale Körper im professio-
nellen Sport als kommerzielle Projektionsbühne für ausgefallene Lebensstile
inszeniert wird, avanciert er in den Alltagskommunikationen in den sozialen
Netzwerken als Träger sozialer Interaktionen (Vormbusch und Kappler 2018).
Setzt man in diesem Kontext voraus, dass die soziale Wirklichkeit aus sozialem
Handeln resultiert und soziales Handeln immer körperlich ist (Körperhandeln),
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Entblößungen: Postmoderne
Tanzkörper in zeitgenössischer
Perspektivierung
Nicole Haitzinger
Zusammenfassung
Terpsichore in Sneakers (1980), die Muse des Tanzes in Turnschuhen,
oder Democracy’s Body (1983), der Körper der Demokratie, so lauten die
richtungsweisenden Titel der Anfang der 1980er-Jahre verfassten Standard-
publikationen von Sally Banes zum Postmodern Dance. Darin werden
wesentliche Aspekte zur Modellierung von postmoderner Körperlichkeit in
den amerikanischen 1960er und 1970er-Jahren aufgeschlüsselt. Beinahe vier
Dekaden später scheint eine Re-Perspektivierung der Postmoderne im Tanz
nicht nur möglich, sondern wegen der Dringlichkeit von Annotationen der
Geschichtsschreibung geboten. Diese Erweiterung geht von zwei (provisori-
schen) Schlüsselmetaphern des gegenwärtigen Diskurses aus: nämlich Trans-
kulturalität und Transmedialität. Beiden unterliegt die Migration von Körpern
und/oder Formen zwischen verschiedenen Kulturen, Künsten beziehungsweise
Medien. In diesem Artikel werden diese zwei Aspekte in der Modellierung
von Körperlichkeit und in den Performances während der Hochzeit der ‚west-
lichen‘ (amerikanisch-europäisch) dominierten Postmoderne herausgearbeitet
und zwar exemplarisch anhand von Anna Halprins Freilichtbühne Dance Deck
und der dort 1957 aufgeführten Performance The Branch und Simone Fortis
performativer Skulptur Huddle (1961).
N. Haitzinger (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: Nicole.Haitzinger@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 93
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_6
94 N. Haitzinger
Schlüsselwörter
Postmodern Dance · Körperlichkeit · Transkulturalität · Transmedialität ·
Postmoderne Spiritualität · Anna Halprin · Simone Forti
Wie die meisten epochalen oder stilistischen Zuordnungen wird der Begriff „post-
modern“ im Tanz erst retrospektiv gesetzt. Postmodern Dance galt zunächst
als historisches Phänomen. Er wird später jedoch zur Rubrik vielschichtiger
Strukturen und Erscheinungsformen des Tanzes nach der Moderne erklärt. Ers-
tens handelt es sich um eine künstlerische Strömung, die sich mit Beginn der
1960er-Jahren formiert und sich dezidiert und programmatisch von der Moderne
abgrenzt. Zweitens – und im scheinbaren Widerspruch dazu – werden manche
der modernistischen Ideen aufgegriffen (Daly 1992). „The culture of postmodern
dance was/is Pop, pragmatic, conceptual, gregarious, flagrant“ (Deborah Hay,
zitiert nach Daly 1992, S. 57).
Wegen seines Facettenreichtums widerspricht der Postmodern Dance zwar
einer eindeutigen Klassifizierung, zugleich verbindet die künstlerischen Projekte
eine Subvertierung von vermeintlich stabilen Instanzen in Kunst und Gesell-
schaft. Dezidiert grenzen sich die bekanntesten Vertreterinnen und Vertreter vom
Judson Dance Theatre Anfang der 1960er-Jahre vom Primat eines literarischen
oder gefühlsaufgeladenen Tanzes ab. Für diese Phase des Postmodern Dance ist
eine enge Verflechtung von Tanz und Politik, spezifischer die Artikulation von
Protest gegen den Vietnamkrieg mit dem Medium des Körpers zu konstatieren.
Die motorischen Aktionen per se, eine skelettierte Vorstellung von Choreografie
und die energetisch-dynamischen Qualitäten der Bewegung von Körper/Objekten
in Raum und Zeit brachten radikal andere künstlerische Arbeiten hervor, die alter-
native ästhetische Wahrnehmungen und Erfahrungen herausforderten.
In Abgrenzung zum sogenannten Modern Dance, in den USA beispielsweise
von Martha Graham repräsentiert, entwirft man in den 1960er-Jahren ein Gegen-
modell, das jedoch noch von dem starken Modernebezug zeugt und profitiert.
Es ist eine Abkehr von den vermeintlichen Paradigmen des Modernen Tanzes zu
attestieren – anzumerken dabei ist allerdings die dabei vorgenommene Stereo-
typisierung und Simplifizierung der Moderne –, zugleich werden modernistische
Ideen integriert. Die Aktionen und Performances der postmodernen Tänzer und
Tänzerinnen weisen wenig konkrete stilistische Gemeinsamkeiten auf, vielmehr
Entblößungen: Postmoderne Tanzkörper … 95
sind alle an der Enthäutung eines zuordenbaren Stils, beeinflusst von der Ame-
rikanischen Moderne in Malerei und Architektur, interessiert. Teilweise ist eine
Anschlussfähigkeit an die literarische oder philosophische Postmoderne gegeben,
beispielsweise an die Theorien von Francois Lyotard zum Ende der großen Erzäh-
lungen in La condition postmoderne (1979), zu Frederic Jamesons Postmoder-
nism (1984), einer Theoretisierung der Postmoderne als Pastiche, oder zu Michel
Foucaults richtungsweisenden Studien Folie et déraison (1961) und Les mots et
les choses (1966).
Als signifikant und richtungsweisend für Struktur und Ästhetik der Postmoderne
im Tanz gelten die dance concerts einer Gruppe junger ChoreografInnen, nament-
lich von Simone Forti, Yvonne Rainer, Steve Paxton, Trisha Brown, in der Jud-
son Church im New Yorker Greenwich Village der 1960er-Jahre. Daraus ging
das Judson Dance Theatre (1962–1964) hervor. Die meisten Künstler/innen die-
ser losen Vereinigung kamen aus Merce Cunninghams Studio und tanzten in sei-
ner Kompanie. Ähnlich wie Cunningham, doch noch radikaler, suchen sie nach
zeitentsprechenden Inszenierungen ihrer Bewegungsforschungen und einer per-
formativen Ausstellung des Tänzerkörpers als Material. Beeinflusst vom Kom-
ponisten John Cage, Lebenspartner von Merce Cunningham, und dem New
Yorker Living Theatre forcieren sie eine Demokratisierung des künstlerischen
Kompositionsprozesses, in dem alle Beteiligten im Kollektiv und gleichwertig
an der Hervorbringung eines künstlerischen Ereignisses arbeiteten. Den Auf-
führungen gehen experimentelle Versuchsanordnungen im Studio voraus, in
künstlerischen Recherchen testet man die Grenzen des Möglichen und (Re)
Präsentationsformen aus. Eine Facette allerdings scheint in der Diskursivierung
und Etablierung eines minimalistischen Kanons vernachlässigt, die Deborah Hay
wie Yvonne Rainer betonen, nämlich die populärkulturellen Versatzstücke, die in
die künstlerischen Projekte integriert waren:
„All those discrepancies – at least in my `60s and early `70 output – between
theory and practice. The theory may have cleared baby and bathwater off the
decks, but even The Mind is a Muscle included a professional juggler and music
from the popular idiom: Dimitri Tiomkin, Jefferson Airplane, Frank Sinatra et al!
All this in 1968 at the height of the minimalistic canon“ (Yvonne Rainer, zitiert
nach Daly 1992, S. 64).
96 N. Haitzinger
Anna Halprin gilt in der neuesten Forschung als eine der wichtigsten Ver-
treterinnen des Postmodern Dance in den USA. Sie geriet jedoch, da sie nicht in
New York City beim Judson Dance Theatre vertreten war, sondern in Kalifornien
98 N. Haitzinger
11942/1934 lehren an der Harvard School of Design in Cambridge, dort studierte Lawrence
Halprin, emigrierte Mitglieder des Weimarer Bauhauses wie Moholy-Nagy, Wassily Kan-
dinsky oder Walter Gropius.
Entblößungen: Postmoderne Tanzkörper … 99
2„My first dance experience was seeing (my grandfather) pray, when I was four years old.
He was a Hassidic Jew who would pray by singing, jumping up and down, and flinging his
arms in the air. He had a long white beard and I thought he was GOD, and that GOD was a
dancer“ (Halprin und Schechner 1989, S. 68).
3Vgl. beispielsweise (Halprin 1975, 1989) und (Halprin und Schechner 1989).
100 N. Haitzinger
Beim Dance Deck handelt es sich um Rotholzboden, der auf einer Pfahl-
konstruktion auf einen steilen Abhang gesetzt ist. Am Gefälle des Hügels
ist ein kleines Auditorium angebaut. Die landschaftlichen und natürlichen
Gegebenheiten, die Wälder am Fuße des Mount Tamalpais, definieren das
Dance Deck. Anna und Lawrence Halprin artikulieren ein programmatisches
Konzept für verschiedene Typen von Bewegungen, die mit diesem Raum kor-
respondierten:
„1. General area used for strong, large, active locomotor movement. 2. A plat-
form; where distance is required and a space removed to set off movement where
the emphasis is on design. 3. A quiet place, also for exists and entrances. 4. Also
for entrances and waits, a sunken area having dramatic possibilities. 5. Orchestra,
or dance platform. 5. Area for direct contact with audience. 7. Elevated levels,
although basically a seating area, can be effectively used as a stage set for dance“
(Halprin und Halprin 1956).
Die dort existierenden hohen Bäume definierten die Form, ebenso wie die
Aussicht auf die Bucht Teil der Konstruktion dieser Freilichtbühne war. In die-
sem Sinne ist das Dance Deck der organischen Architektur zuordenbar. Funktio-
nal ist es als Bühne für den Tanz bestimmt. Orte für Auftritte und Abtritte sind
ebenso definiert wie eine „Orchestra“, wie eine Stätte für den unmittelbaren Kon-
takt mit dem Publikum. Der artifizielle (Natur-)Raum bringt in der Vorstellung
der Halprins spezifische Bewegungstypen hervor, hier sind hauptsächlich große,
dynamische und aktive Körperbewegungen genannt. Außerdem bewegt sich nicht
nur der tanzende Körper, sondern die Bewegung ist in der Natur über die sinn-
lich-ästhetische Wahrnehmung als Wind in den Bäumen, als Veränderung der
Lichtintensität während des Tages, als Regentropfen, die auf den Boden fallen, in
den vorbeiziehenden Wolken oder Vogelschwärmen zu erfahren.
„[…] the deck was designed specifically for movement experience. The space
itself is alive and kinetic – It is changeable – it invites movement – challenging it
by its own sense of movement […] Dance here is only one of many moving ele-
ments“ (Halprin und Halprin 1956, S. 23).
Der hier profilierte und modellierte postmoderne Tänzerkörper ist anderen
Bedingungen ausgesetzt: außerhalb der spezifisch kodierten Studioräume und
Theaterbühnen werden über die herausgeforderte Intensivierung der multi-sen-
sorischen und kinästhetischen Wahrnehmung auf in einer organisch angelegten
Ordnung des Raums und ohne die tradierten Referenzpunkte (Front) andere
Bewegungs- und Tanzkonzepte generiert. Bei The Branch (1957), erarbeitet und
aufgeführt gemeinsam mit Simone Forti, handelt es sich nicht um die Idee, einen
Entblößungen: Postmoderne Tanzkörper … 101
Simone Forti wurde 1935 in eine säkulare jüdische Familie in Florenz/Italien, der
Vater Besitzer einer toskanischen Wollspinnerei, in dritter Generation geboren.
Sie emigrierten 1939 wegen des bedrohlicher werdenden Antisemitismus und der
repressiven Gesetze der faschistischen italienischen Regierung gegen Juden in
die USA und bauten sich an der Westküste eine neue Existenz auf. Forti gilt als
eine der Hauptfiguren des amerikanischen Postmodern Dance. Sie heiratet 1955
den Maler Robert Morris, beginnt in San Francisco bei Anna Halprin eine Tanz-
ausbildung nach Graham-Technik zu absolvieren, nimmt anschließend früh an
den täglichen Workshops (1955–1959) am Dance Deck teil, trainiert später nach
4„My concern is form in nature – like the structure of a plant, not in its outer appearance,
but in its internal growth process. […] This form I speak of is a spontaneous naturalistic
phenomenon. Not paralleling nature, but in its manner of operation“ (Halprin, A. (1960).
Talk by Anna Halprin for Dance Deck Program with Lamont Young. [Interview].)
5Vgl. (Halprin 1987).
102 N. Haitzinger
6„Es waren daher äußere Einflüsse (Gutai, Muybridge), die mir dabei halfen, ein Behältnis
zu schaffen, mit dem ich diese sehr persönlichen Bedürfnisse ausdrücken oder befriedigen
konnte“ (Breitwieser 2014, S. 29).
Entblößungen: Postmoderne Tanzkörper … 103
3 Synopse
Doch kommen wir abschließend zum Beginn, genauer zu dem Titel dieses Bei-
trages, zurück. Der nackte Körper in seiner szenischen und performativen Prä-
senz ist nur ein Aspekt des Postmodern Dance, wenn auch in den 1960er-Jahren
ein wichtiger (auf den ich jedoch hier weniger eingegangen bin). Entblößun-
gen möchten in der vorgeschlagenen gegenwärtigen Perspektivierung von post-
moderner Körperlichkeit in einem erweiternden Sinn verstanden werden, nämlich
als bloße Körper, die sich wiederholt anders konstruieren und für das Publikum
Bedeutungsoffenheit generieren. Körper, in deren Vorstellung (im doppelten
Sinn) keine grundsätzliche Trennung zwischen Körper und Denken existiert,
überraschend spirituelle Körper, die zwischen Kulturen und Künsten migrieren.
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Warum ist die Keimbahn des Menschen
auch in einem alten Körper jung?
Günter Lepperdinger
Zusammenfassung
Der menschliche Körper altert. Seine Lebensspanne ist nie unendlich. Nur
durch ständige Fortpflanzung können Arten erhalten werden. Keimzellen ver-
schmelzen und bilden junge Körper. Aufbau, Funktionsweisen und Langlebig-
keit hängen nicht vom jeweiligen Alter der Keimzellen ab. Warum, obwohl
vergleichbar in jeglicher Hinsicht mit Körperzellen, altert die Keimbahn nicht?
Welche biologischen Besonderheiten ermöglichen es die Vielzahl der körper-
lichen Alterungsprozesse zu umgehen? Könnten wir uns dieser Mechanis-
men bedienen, um auch unsere Körper unsterblich zu machen? Leistet solches
Denken einem zeitgeistigen Körperwahn Vorschub?
Schlüsselwörter
Biologische Alterung · Sterblichkeit · Langlebigkeit · Fortpflanzung · Natürliche
Selektion · Sexuelle Selektion · Krankheitsresistenz · Gentherapie · Prävention ·
Unsterblichkeit
G. Lepperdinger (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: guenter.lepperdinger@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 107
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_7
108 G. Lepperdinger
Komplexe Systeme altern. Altern kennt vor allem den bitteren Beigeschmack des
Todes. Nach Benjamin Gompertz (1825) erhöht sich die Sterbewahrscheinlichkeit
mit dem Erreichen des Erwachsenenalters exponentiell. Beim Mensch verdoppelt
sich die Sterbewahrscheinlicht in der Regel circa alle acht Jahre (Gompertz
1825). Diese Maßzahl ist somit auch ein Richtwert für den fortschreitenden Pro-
zess des Alterns, der langsam beginnend, aufgrund der ständigen Verdopplung –
also exponentiell vom ersten Tage an – lebenslang beschleunigt wird.
Basierend auf unserem modernen Selbstverständnis nicht nur unsere gesamte
Welt immer vollständiger rational zu durchdringen, sondern auch den Körper des
Menschen zu beherrschen, um ewige Jugend zu realisieren, ist mittlerweile Teil
eines postmodernen Diskurses und der damit verbundenen Kritik (Spindler 2012).
Es ist richtig, dass es Lebensformen gibt, die eine besonders lange Lebensspanne
haben. Die Qualle Turritopsis dohrnii gilt als bislang einzig bekannter unsterb-
licher höherer tierischer Organismus, da das erwachsenes Tier ab und an wieder
Stadien der Embryonalentwicklung durchläuft und sich somit zyklisch erneuert
(Bavestrello et al. 1992; Piraino et al. 1996). Daraus lässt sich schließen, dass bio-
logische Organismen, so sie nicht willkürlich zu Tode kommen, unendlich lange
leben können. Wenn solches funktioniert, ergibt sich unweigerlich die Frage:
warum altert eigentlich der Mensch und warum stirbt er?
Nach den Gesetzen der Physik ist denkbar, dass auch biologische Körper,
wie der menschliche, sehr lange existieren können. In einer technisch hoch ent-
wickelten Gesellschaft darf man auch annehmen, dass bei Vorhandensein von
allen wichtigen Ressourcen, wie Nahrung, Schutz, medizinischer Versorgung
etc., die ein Überleben zu allen gegebenen Zeitpunkten tatsächlich ermög-
lichen, der Wunschgedanke aufkeimt, ein besonders langes, um nicht zu sagen,
ein unendliches Leben realisieren zu können. Der Wunsch ergibt sich auch aus
dem Umstand, dass sich die Lebenserwartung von 60-jährigen Menschen um das
Jahr 2000, verglichen mit jenen, die um 1990 lebten, stark erhöht hat: die zusätz-
lichen Lebensjahre einer 60-Jährigen lag 1900 statistisch bei 13,4 Jahren und
stieg bis 2000 auf 24. Bei Männern gab es einen Zuwachs an zusätzlichen Jahren
von 13 auf 20 Jahre1. Dieser Umstand lässt vermuten, dass sich während dieses
modernen Zeitraums – aus welchen Gründen auch immer – eine deutliche Ver-
langsamung des körperlichen Alterns realisieren ließ. Daraus leitet sich nun auch
1www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/sterbe-
die berechtigte Frage ab, ob diese Entwicklung weiter anhält, und noch drängen-
der, ob nicht eine wesentlich größere Verlängerung der Lebenserwartung mithilfe
moderner Mittel realisiert werden kann.
2 Biologische Informationssysteme
Materie kann sehr stabile Formen annehmen. Die Wissenschaft beschäftigt sich
eingehend mit der Selbstorganisation der Materie und hat dazu viele Gesetzmä-
ßigkeiten aufgedeckt. Die bislang bekannten Konzepte sind aber nicht ganz ein-
fach auf biologische Systeme übertragbar (Mingers 1994). Ein wichtiger Zustand
in der Biologie ist, dass der Körper auch als Vehikel für und zum Ausdruck von
Information dient. Zusätzlich darf für das System wesentliche Information nicht
verloren gehen, und Programme, die sich mit den vorhandenen Informationen
gestalten lassen, werden dauernden Bewährungsproben ausgesetzt. Sie müssen
diese erfolgreich bestehen, sonst stirbt das System. Daraus ergibt sich eine wich-
tige erste Beziehung: es soll so viel wie möglich Information bewahrt bleiben,
jedoch soll „Fehlinformation“ auch ausgemustert werden können.
Mithilfe von Programmen, die als Anleitung für den Bau eines neuen Kör-
pers dienen, können räumliche Muster ausgebildet werden. Funktionelle Struk-
turen wachsen und werden mit sensorischen Leistungen ausgestattet. Die dafür
verantwortlichen aber auch die erworbenen Informationen sind somit ein wich-
tiger Bestandteil des Informationspools. Wenn ein Individuum herangewachsen
und ausgebildet ist, müssen diese Entwicklungsprogramme nicht notwendiger-
weise weiterhin verwendet werden. Wenn genügend Ressourcen vorhanden
sind, sollte es ja reichen, wenn in kontrolliertem Maße Energie zum Überleben
des Individuums aufgebracht wird. Sollte das reproduzierte Individuum gut mit
dieser Situation zurande kommen, hat es den Eignungstest bestanden, und der
damit verbundene Informationsgehalt wurde nicht nur gesichert, sondern konnte
auch vervielfältigt werden. Ein solcher Organismus und die dafür verantwortliche
Information sind somit potentiell unsterblich (s. Abb. 1).
Programme, die für die strukturelle Ausformung einer autonomen Lebens-
form und somit auch für das Überleben eines Individuums wichtig sind, wie
Stoffwechsel, Sensorik, oder Reproduktion, greifen auf Informationen zurück,
die die Gestaltung dieser Programme ermöglicht. Die individuelle Konstellation
der Information erlaubt es eine bestimmte Gestalt mit spezifischen Eigenschaften
hervorzubringen, die sich, in einen bestimmten Kontext gebracht, bewähren
müssen. Ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste biologische Resultat eines
110 G. Lepperdinger
Informationsverarbeitungsprozesses ist die Erhaltung der Art und somit auch die
Erhaltung der Information.
Bei mehr oder weniger willkürlich auftretenden Änderung von Lebens-
umständen kann es der Zufall wollen, dass sich ein eingeschlichener Fehler im
Informationspool auch als günstig erweist, weil dieser das Überleben und die Ver-
vielfältigung der Nachkommen dieses Individuums favorisiert. Ein solcher, rein
auf Zufall passierender Zustand und die damit verbundene Entwicklungsmöglich-
keit sind aber nur bedingt effizient, um zielgerichtete Lebensformen hervorzu-
bringen und eine mögliche Weiterentwicklung mit zielstrebiger Anpassung zu
begünstigen (Fisher 1930).
Um diese Problemstellung zu lösen, hat die Natur eine weitere Strategie ent-
wickelt. Die Information wird verdoppelt. Obwohl mit großem Aufwand ver-
bunden, ist dieser Zustand günstiger, da der Organismus nicht nur für die Phasen
der Entwicklung und des Wachstums sondern auch für alltägliche Überlebens-
strategien aus zwei Informationspools wählen. Neben der Auswahl der vermeint-
lich besser geeigneten Information ergibt sich ein weiterer Überlebensvorteil.
Sollte ein Teil des ersten Informationspools kaputtgehen, steht der zweite immer
noch zur Verfügung. Der Organismus muss nicht notwendigerweise unter-
gehen. Ein weiterer, viel wesentlicher Vorteil besteht jedoch darin, dass sich nun
geschlechtliche Reproduktion realisieren lässt. Dabei wird die eine Hälfte der
verdoppelten Information mit der eines anderen Individuums neu in Verbindung
gebracht. Die Reduktion der zunächst verdoppelten Information auf einen neuen
Warum ist die Keimbahn des Menschen … 111
Abb. 2 Information und Verjüngung der Art durch (sexuelle) Fortpflanzung. (Eigene Dar-
stellung)
3 Lebensgeschichten
Jeder Körper – egal wie dauerhaft er angelegt ist – kann vernichtet werden.
Jeder noch so kleine willkürliche Akt der Zerstörung, sei es ein Unfall, ein gie-
riger Fressfeind oder die Unwirtlichkeit seiner Umgebung würden die Informa-
tion dieses Systems unwiederbringlich zerstören. Schafft man es jedoch vorher
eine exakte Kopie anzufertigen, ist die Information besser besichert. Daher ver-
doppeln, wie oben beschrieben, einfache selbsterhaltende Systeme Information
und bilden einen zweiten unabhängig agierenden Körper, der diese Information
aufnimmt (Stearns 2000). Die dafür aufzuwendende Energie und Materie muss
zusätzlich zur Energie für die Aufrechterhaltung der normalen Körperfunktionen
durch Stoffwechselaktivität aufgebracht werden. Der zusätzliche Aufwand
belastet somit den Körper. Der Bau von komplexen Strukturen ist fast immer
mit Fehlern verbunden. Allein die für das Wachstum notwendigen chemischen
Reaktionen ergeben bei ungünstigen Verläufen oft mehrere Produkte, oder
aggressiv wirkende Zwischenverbindungen, die fast alle biogene Moleküle ver-
ändern können, die zum Bau des Körpers dienen. Die fehlerfreie Herstellung
Warum ist die Keimbahn des Menschen … 113
es wird alles d arangesetzt, ihre Integrität so gut als möglich für einen optimalen
Zeitpunkt der Fortpflanzung zu bewahren. Sie sollen jung bleiben. Die dafür not-
wendige Energie und Kontrolle müssen jedoch entsprechend aufgebracht wer-
den, denn nicht immer gelingt es, fehlerfreie Eizellen bereits zustellen, da die
Rate von genetischen Defekten auch in Eizellen mit dem Alter der Frau steigt
(Hook 1981).
Männliche Keimzellen entsprechen einem anderem Extrem: sie werden in
großen Mengen ständig neu gebildet. Demnach gilt, dass diese nicht alt sind;
sie werden nicht lange gespeichert, sondern nach der Bildung abgegeben, um
wieder neue produzieren zu können. Sollten sich Fehler ergeben, sind einzelne
Keimzellen weniger funktionsfähig. Diese fallen aber auch in der Masse nicht
ins Gewicht, solange genügend Fehlerfreie vorhanden sind, die nach erfolg-
reicher Verschmelzung den mütterlichen Informationspool verdoppeln und diese
gemeinsamen Inhalte eine erfolgreiche Entwicklung und Reifung des neuen
Individuums ermöglichen. Die Alterung des männlichen Organismus kann dazu
führen, dass weniger Keimzellen gebildet werden, davon auch möglicherweise
mehr fehlerhaft sind, aber wie gesagt, nur solche zur Verschmelzung kommen,
die funktionstüchtig sind. Das nach er Verschmelzung eingeleitete Wachstum und
die Bildung eines neuen Organismus sind nun wiederum Zielscheiben der natür-
lichen Selektion. Die Informationsinhalte werden geprüft inwieweit sie unter
den gegebenen Umständen geeignet sind, wiederum einen fortpflanzungsfähigen
Organismus zu bilden. Werden bereits während der Frühentwicklung Fehler
offensichtlich, ist der Keim nicht überlebensfähig, stirbt während des Wachstums,
wird nicht reproduktionsfähig und die Fehler in diesem speziellen Informations-
pool werden nicht weitergegeben.
Die Bildung von Keimzellen und die Verbindung von Keimzellen garan-
tiert die Kontinuität der Generationsabfolge. Sie ist die wichtigste Aufgabe der
Keimbahn als Beitrag für die Arterhaltung. Dieser wichtigen Position wird auch
Stellung getragen, indem Aufwendungen für Wartung und Instandhalten der
Keimbahn besonders aufmerksam und genau gemacht und überprüft werden. Die
dafür notwendige Stoffwechselenergie geht dem Körper verloren (Wells 2003).
Unvollständige Reparatur und Wartung lässt den Körper aber altern (Stipp 2011).
Daraus ergeben sich folgende Überlegungen: Wenn es der Keimbahn gelingt,
durch besondere Maßnahmen Alterungsphänomenen auszuweichen, sollte das
nicht auch für andere Teile des Körpers machbar sein? Könnten nicht die dem
zugrunde liegenden Mechanismen dazu verwendet werden, Körper unsterblich zu
machen (Wright et al. 1996; Tilly und Sinclair 2013; Jones 2007)?
116 G. Lepperdinger
somit auch in Eckpunkten anfällig für Schäden, die sich über die Zeit akkumulie-
ren. Wenn viele Schäden im Informationspool angesammelt sind, entsteht Krebs,
wenn viele Nervenzellen abgestorben sind, werden kognitive Ausfälle evident,
wenn viel Knochen- und Muskelmasse abgebaut ist, wird der Körper gebrechlich.
Struktur und Funktion eines Körpers können zusammen mit seinem Stoff-
wechsel an die Lebensbedingungen optimiert werden, und so das Überleben auch
unter widrigen Umständen erlauben. Ein widerstandsfähiger Körper muss aber
nicht unbedingt langlebig sein. Jedoch ohne optimierten Stoffwechsel und opti-
mal an den Lebensraum angepassten Struktur-Funktionsprozesse können sich die
entsprechenden Resistenzen und Widerstandsprogramme nicht weiterentwickeln.
Dazu müssen lebenslange Wartung und Instandhaltung sowie Schutz vor Fehl-
funktionen im System verankert werden. Diese übergeordneten Mechanismen
schützen vor Krankheiten. Durch Implementierung solcher präventiv wirkenden
Mechanismen erfahren Körper eine weitere Optimierung.
Kann ein System akkumulierenden Schadensproblemen vorbeugen, die von
allgegenwärtigen Schadensquellen herrühren, bzw. darüber hinaus Programme
entwickeln, die Krankheiten unterdrücken? Können Organismen auch unter rea-
len Umständen lange leben? Biologische Systeme können versuchen sich zum
einen genetisch anzupassen oder aber auch soziale und intelligente Strategien
entwickeln, die Langlebigkeit forcieren. Aus weitreichenden genetisch epidemio-
logischen, biomedizinischen und pharmakologischen Studien wird immer kla-
rer, dass es wirksame Mechanismen und Maßnahmen gibt, die uns in die Lage
versetzen können, die Lebenspanne positiv zu beeinflussen (Kauwe und Goate
2016; Franceschi et al. 2017; López-Otín et al. 2016; Hansen und Kennedy 2016;
Kennedy und Pennypacker 2014).
Der Mensch hat Erkenntnisse für seine kulturelle Entwicklung genützt. Damit
unterliegt er nun schon seit langer Zeit nicht nur einer biologischen, sondern
auch einer „technisch-kulturellen“ Evolution. Dabei sind nicht nur die kollekti-
ven Leistungen ausschlaggebend. Individuelle Lebensgeschichten können einen
bemerkenswerten Beitrag zur Langlebigkeit von Einzelnen und Kleingruppen
beitragen. Dabei können Intelligenz, Ernährungs- und Bewegungsverhalten sowie
der sozioökonomische Status eine entscheidende Rolle spielen. wieFür eine
gesunde Langlebigkeit sind vielerlei genetische Elemente bekannt: die Art und
Weise wie das Erbgut und der gesamte Körper durch Nahrung positiv beeinflusst
werden, aber auch die Hoffnung, dass Medikamente entwickelt werden können,
die vorbeugend spezifische Alterungsmechanismen modulieren, um so insgesamt
eine gesunde Langlebigkeit zu bewirken.
118 G. Lepperdinger
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Dekonstruktion und
Rekombination – Der Künstlerkörper
in den 1990er Jahren
Ulrike Reinert
Zusammenfassung
Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung und Digitalisierung haben
sich im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte die Parameter in Politik, Wirt-
schaft und im Sozialen grundlegend neu konstituiert. Ebenso wandeln sich
die Mediennutzung und das Wesen der Kommunikation. Diese Veränderungen
werden zum Auslöser einer umfangreichen Diskurskultur in der sogenannten
Postmoderne, an der auch die Bildende Kunst regen Anteil hat. So lässt sich
in den 1990er Jahren eine auffällige Häufung von künstlerischen Positionen
beobachten, welche die Verfasstheit des Menschen und diverse Vorstellungen
von Körperbildern unter dem zentralen Aspekt von Selbstinszenierung und
Selbstbefragung erörtern. Künstlerinnen und Künstler beginnen sowohl im
Rahmen einer entsprechenden neuen künstlerischen Praxis, in Video- oder
computergenerierten Arbeiten, aber auch in der Anwendung traditionel-
ler Medien wie Plastik und Fotografie, eine intensive Befragung nach der
menschlichen Identität und zu geschlechtsspezifischen Rollenbildern.
Schlüsselwörter
Diversität · Geschlechteridentität · Individualisierung · Körperdiskurs ·
Modifikation · Rollenbilder · Selbstinszenierung
U. Reinert (*)
UBR-ArtConsult Kunstvermittlung, Salzburg, Österreich
E-Mail: info@ubr-artconsult.com
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 123
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_8
124 U. Reinert
1 Einführung
Von jenem Moment an, als sich der Mensch gestaltend auszudrücken beginnt,
nimmt die Darstellungen des menschlichen Körpers eine zentrale Position ein.
Dabei erhofft man sich mithilfe diverser Körperbilder in verschiedenen Kulturen
auch einen Erkenntnisgewinn zum Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft, denn
in der Art wie bestimmte Aspekte des Körperlichen zum Ausdruck gebracht wer-
den, spiegelt sich die soziologische, historische, wie auch geistesgeschichtliche
Entwicklung der jeweiligen Epochen. Entsprechend vielgestaltig erweist sich das
Bild vom Menschen im Kontext der Kunstgeschichte.
Befasst man sich mit dem Zeitraum der sogenannten Postmoderne, so lässt
sich vor allem im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine auffällige Häufung
von künstlerischen Positionen beobachten, welche diverse Vorstellungen von
Körperbildern in den unterschiedlichsten Medien unter dem zentralen Aspekt von
Selbstinszenierung und Selbstbefragung erörtern. Was könnte der Grund hierfür
sein?
Mit der fortschreitenden Digitalisierung, der Nutzung digitaler Geräte und des
Internets, öffnen sich virtuelle Räume für neue Wirklichkeitserfahrungen in einer
parallelen Realität. Dazuhin verändert sich in Verbindung mit den neuen Medien
das Wesen der Kommunikation. Die schnellen, kurzen Nachrichten und die Flut
privater Fotos in den sozialen Netzwerken, auf twitter, facebook, flickr und Co.
setzten neue Standards der sozialen Interaktion. Dies alles beeinflusst die Vor-
stellung vom menschlichen Körper und führt mehr und mehr zu einer Körper-
erfahrung, welche innerhalb eines Referenzsystems zwischen dem Realen und
dem Virtuellen stattfindet. Am Ende des 20. Jahrhunderts steht eine Technologie
zur Verfügung, zu der sich der menschliche Körper in einem noch ungeklärten
Verhältnis befindet: der Computer ist zwar ein Werkzeug, aber der Körper ist
(noch) kein Computer. Die moderne Wissenschaft versucht ein Ende dieses Schis-
mas herbeizuführen, indem man die Rechner mithilfe künstlicher Intelligenz
vermenschlicht und umgekehrt den Körper zur Schnittstelle erklärt, oder wie es
der Medientheoretiker Arthur Kroker (1996, S. 13) ausdrückte, zum Hyper-
Text-Körper. Dieser „(…) ist der Vorläufer einer neuen Welt, die sich aus Multi-
media-Politik, fraktaler Wirtschaft, Intercept-Persönlichkeiten und ‚kybernetisch‘
vernetzten Beziehungen zusammensetzt.“
Durch die Hardware erfährt der Körper also eine prothetische Erweiterung
und durch die Vernetzung und Verlinkung mit dem World Wide Web einen
Aktionsradius von globaler Reichweite. Die Konsequenz ist eine zunehmende
Bedeutungslosigkeit komplexer körperlicher Abläufe und Handlungen, zugunsten
Dekonstruktion und Rekombination – Der Künstlerkörper … 125
1So der Titel eines 1933 von André Malraux veröffentlichten Romans auf dessen Begriff-
lichkeiten in den 1990ern vermehrt verwiesen wird.
Dekonstruktion und Rekombination – Der Künstlerkörper … 127
2017.
128 U. Reinert
beschäftigt mit teils grotesken sexuellen Praktiken. Erweisen sich die Filmstills als
Verweissystem auf die Bilder produzierende Maschinerie Hollywoods, so demons-
trieren die Sex-Pictures die Beschäftigung der Künstlerin mit den standardisierten
Filmen und der professionalisierten Sexualität der Pornoindustrie. Ein voyeuristi-
sches Moment ist diesen Fotografien Shermans inhärent, der Bild-Betrachter wird
zum Beobachter, welcher sich den Inszenierungen nicht zu entziehen vermag,
denn einer Möglichkeit zur Distanznahme wird taktisch entgegengewirkt, indem
die Kamera und damit auch der Blick des Betrachters unbarmherzig nahe heran-
zoomt. Sherman rückt so unnachgiebig und im großen Format den sexuellen Akt
sinnbildhaft in die Nähe eines Postulats von Effizienz und von bedingungslosem
Erfolg in der postmodernen Leistungsgesellschaft.
Zusammengeschoben, zerstückelt und drapiert, bekommt der Puppenkörper
als Statthalter der menschlichen Gestalt, die Funktion eines Repräsentanten für
vielfältigen Verlust. Sei es die Einheit eines (geschlechtlichen) Leibes, sei es das
Verschwinden eines sinnhaften und längerfristig haltbaren Selbstentwurfes, oder
sei es der Verlust von Empathie und menschlicher Nähe in einer zunehmend bin-
dungs- und beziehungsunfähigen Gesellschaft. Ganz in der Art, wie sie auch in
der zeitgenössischen Literatur portraitiert wird, etwa in Bret Easton Ellis’ 1991
erschienen Roman „American Psycho“. Nahezu zeitgleich arbeiten die Künstlerin
und der Autor an der Bestandsaufnahme einer amerikanischen Gegenwart, welche
Gefühlskälte, sexuelle Gewaltorgien und maximales Gewinnstreben zum Kenn-
zeichen hat.
ihr Äußeres signifikant, vor allem im Bereich des Gesichts. Entgegen der sonst
üblichen Praxis, derartige Operationen diskret und ohne mediale Aufmerksam-
keit durchführen zu lassen, macht Orlan ihre Unternehmungen öffentlich erfahr-
bar. 1993 wird ihre 7. Operation als Performance mit dem Titel „Omnipresence“
weltweit an 15 verschiedenen Orten in Echtzeit ausgestrahlt und konnte unter
anderem im Centre Pompidou in Paris über Bildschirme mitverfolgt werden. Die
Museumsbesucher wurden so zu unmittelbaren Zeugen des operativen Eingriffes.
Eine Live-Schaltung ermöglichte die interaktive Beteiligung, wobei das Publi-
kum Fragen an die Künstlerin stellen konnte, welche diese während der laufenden
Operation beantwortete. Lange bevor derartige Formate die Fernsehlandschaft
beherrschen, macht Orlan in dieser künstlerischen Variante des Reality-TV das
Intime und Private als exhibitionistische Geste öffentlich. Der private Raum als
Rückzugsort erscheint aufgrund der invasiven Allgegenwart der technologischen
Möglichkeiten zur Überwachung und Beobachtung zunehmend als Trugbild und
Konstrukt der Selbsttäuschung.
Abgesehen von dieser Korrosion der Grenzen zwischen dem privaten und
dem öffentlichen Raum geht es der Französin in ihren Aktionen auch um die
Frage nach genderspezifischen Parametern und den Idealen weiblicher Schön-
heit. Wodurch werden diese bestimmt und wie mächtig ist der gesellschaftliche
Zwang sich einem Ideal zu unterwerfen? Die Recherche der Künstlerin nach ent-
sprechenden Vorlagen und Modellen bewegt sich zunächst im naheliegenden Feld
historischer Vorbilder der Kunstgeschichte. Hier wird ein Idealtypus des Weib-
lichen über Jahrhunderte von der Antike bis in die Neuzeit hinein entwickelt und
erfährt so seine bis heute gültige Kanonisierung. Die Wahl für die Vorgaben zu
den operativen Veränderungen fällt bei Orlan daher auf weltbekannte Musterbei-
spiele archetypischer Schönheit: auf die Stirn von Leonardo da Vincis Mona Lisa,
die Lippen von François Bouchers Europa und das Kinn von Botticellis Venus.
Das Gesicht der Künstlerin verwandelt sich so schrittweise, von Operation zu
Operation, in ein ästhetisches Komposit, ein Patchwork diverser, im allgemeinen
Konsens als schön empfundener, Körperpartien. Diese Modifikationen erzeugen
jedoch nicht, wie etwa zu erwarten gewesen wäre, ein Mehr an Schönheit, viel-
mehr gereichen sie zum Nachweis für das vergebliche Streben danach. Die ver-
meintliche, absolute Perfektion wird entlarvt als illusorischer Entwurf. Dabei
ist der Künstlerin der immanente Einfluss der modernen Medien und der Unter-
haltungsindustrie auf die Konstruktionen des Weiblichen durchaus bewusst: „(…)
wir sind nicht frei. Es gibt immer noch brutale Diktate. Das sieht man an den Vor-
bildern, die uns in der Mode, in Filmen und in Videospielen präsentiert w erden.
Dekonstruktion und Rekombination – Der Künstlerkörper … 131
Überall zeigt man einen bestimmten Typus von Frauen mit einer bestimmten Hal-
tung und einem bestimmten Körper“ (Meister 2013, S. 80).
Am Ende geht es Orlan um Selbstbestimmtheit. Die Künstlerin klagt, jenseits
der landläufigen, durch die Medien und das Internet distribuierten Idealtypen,
das Recht zum Selbstentwurf ein: „(…)bei all meinen Arbeiten geht es darum,
Besonderheit zu schaffen und Einzigartigkeit anzuerkennen, das Ziel ist von den
Vorgaben abzuweichen, die Andersartigkeit anderer zu respektieren und seine
eigene Herzustellen. (…) es ist die Idee, sich selbst zu erfinden, sich neu zu for-
men“ (Meister 2013, S. 79).
4 Körpermodifikationen: Stelarc
Geht es im Werk von Orlan noch darum, den Körper individuell und den eigenen
Vorstellung entsprechend zu gestalten, so fordert der in Australien lebende Künst-
ler Stelarc (geboren 1946 in Limassol) kurzerhand eine radikale Überwindung
des biologisch Gegeben: „(…) auf dem Terrain der Cyberkomplexität, in der wir
heute leben, könnten die Unzulänglichkeiten des egogesteuerten biologischen
Körpers sowie die Tatsache, daß dieser mittlerweile rettungslos veraltet ist,
nicht deutlicher zutage treten“ (Stelarc 1997, S. 152). Für Stelarc, einen Grenz-
gänger zwischen Kunst, Technologie und Wissenschaft, stellt die rückhaltlose
Anwendung technologischer Neuerungen in Verbindung mit dem menschlichen
Körper eine nächsthöhere evolutionäre Stufe dar.
Der Körper wird von ihm als limitiert empfunden, daher sieht der Künstler
und Performer im Herstellen einer Synthese von Technologie und Fleisch, im
Leib als Schnittstelle, eine konsequente Fortentwicklung der humanen Biologie.
Seine Vision, die uns Stelarc in teils spektakulären Aktionen vor Augen führt, ist
jene des technologischen Körpers, des Cyborgs, der Mensch-Maschine.
Für „Ear on Arm“ (1976–1988)5 lässt sich der Künstler ein Implantat aus bio-
kompatiblem Polyethylenmaterial in Form eines menschlichen Ohres in seinen
linken Unterarm einsetzen. Wobei ein integrierter Sender und Empfänger das
künstliche Ohr tatsächlich zu einem funktionstüchtigen Sinnesorgan werden lässt
hineingesprochene Laute können durch die Verknüpfung mit einem Rechner und
dem Internet akustisch dargestellt werden. Das Diktat zur Selbstoptimierung,
einer der Grundzüge der postmodernen Gesellschaft, erweist sich bei Stelarc als
ohne erkennbare E kstase. Wohl legt der stoische Gesichtsausdruck der Figu-
ren ein pflichtschuldiges Abmühen in der Sache nahe, doch es ist eine mecha-
nisierte Form der Sexualität ohne Lustgewinn. Der autoerotische und egomane
Liebesakt wird motorisch vollzogen, der Protagonist erfährt keine kathartische
Erlösung, das Subjekt agiert im closed cicuit, gefangen in der Endlosschleife.
Das selbstreferenzielle Moment dieser Figurengruppe wird zum Spiegel eines
postmodernen Lebensgefühls und dient als Verweis auf die zunehmende Verein-
samung des Individuums in einer narzisstischen und ichsüchtigen Gesellschaft.
6 Resümee
Betrachtet man die Kunst der 1990er Jahre, so erweisen sich heute etliche
Aspekte der damaligen Zeit als vorausschauend und absolut zeitgemäß. Im
zweiten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende wird unsere Welt mehr denn je
durch die Folgeerscheinungen der globalisierten Wirtschaft und der Digitalisie-
rung bestimmt. Künstlerinnen und Künstler wie Orlan, Sherman, Ray oder auch
Stelarc reflektieren in ihrem Werk bereits früh damit einhergehende Themen-
felder wie Diversität, Individualität und den zunehmenden Körperkult. Deren
künstlerische Arbeit erweist sich als Teil einer postmodernen Suchbewegung
hinsichtlich Fragestellungen zur eigenen Standortbestimmung wie auch zur
geschlechtlichen Identität. Auffallend häufig dient dabei der Künstlerkörper selbst
als Material und Ressource. Hier gereicht der menschliche Leib offenbar zum
naheliegenden und verfügbaren Referenzsystem des Realen angesichts einer digi-
talen und zunehmend künstlich generierbaren Lebenswelt.
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Von der Askese bis zum
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im postmodernen Körper
Hans-Joachim Sander
Zusammenfassung
Die Körperdiskurse der Gegenwart haben eine lange Vorlaufzeit, in der sich
auch christliche Traditionen finden. Vor allem die Askese aus der Spätantike
spielt eine wichtige Rolle, weil sie einen speziellen, aber auch besonderen Nach-
druck auf die Lust mit dem Körper legt. Die Disziplinierung der Lust führt zu
ihrer Steigerung. Diese Körpererfahrung wird mit gesellschaftlichem Aufstieg
verbunden, was sich durch die Jahrhunderte erhält und sich besonders in der
Nachmoderne der Gegenwart niederschlägt. Das erzeugt sowohl den Geständ-
nis- wie den Orgasmuszwang, denen Menschen heute nicht ausweichen können.
Schlüsselwörter
Askese · Aufstieg · Orgasmuszwang · Geständnis
Der heutige US-Präsident Donald Trump hatte während des Wahlkampfes das
Publikum wissen lassen, wie groß sein erigierter Penis vorzustellen sei. Er befand
sich damals noch in der Phase, die Republikanische Partei zu kapern, und musste
sich Anwürfen erwehren, in Sachen Frauen bloß zu prahlen. Immerhin war der
Mann damals bereits fast siebzig und langjährig verheiratet. Das wollte Donald
Trump in einer Kandidatendebatte im März 2016 nicht auf sich sitzen lassen,
schließlich kandidierte er als Mann, der in jeder Hinsicht von unbestreitbaren
Qualitäten sei.
H.-J. Sander (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: Hans-Joachim.SANDER@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 137
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_9
138 H.-J. Sander
Das Beispiel ist natürlich mehr als schräg, aber an Trumps unverschämten Ein-
lassungen zeigt sich, dass Sexualität leider nichts Persönliches ist. Sie ist etwas
Öffentliches. Sie taugt nicht für Offenbarungen, wohl aber für Enthüllungen. Sie
erreicht uns von außen, nicht von innen. Öffentliche Enthüllungen, die von außen
kommen und nicht im eigenen Inneren ansetzen, gehören in die kulturellen Prak-
tiken der Postmoderne. Sie sind aufklärend und abklärend zugleich, also zugleich
modern und eine Distanzierung von Moderne. Zu diesem Moment, Größen zu ver-
binden, die unpassend zueinander sind, gehört der peinliche Wahlkampfschlager
von Donald Trump. Der damals noch künftige Präsident hatte begriffen, dass sich
an so etwas Macht entscheiden kann. Man versteht das besser, wenn man sich das
Gegenteil vor Augen hält. Was wäre wohl passiert, wenn damals einer seiner Geg-
ner hätte sagen können: „Der Trump ist doch ein Eunuch!“ Seine Wahlchancen
wären gegen Null gegangen. Eunuchen sind heutzutage nicht wählbar.
Sexualität ist eine öffentliche Ressource und darum ist der Körper auch eine
derart öffentliche Angelegenheit. Der Körper ist nichts Privates mehr. Er gehört
nicht uns, sondern ist unsere primäre Performance in der Öffentlichkeit. Das geht
offenbar bis in die privatesten Orte hinein. Warum ist das so? Ich vermute, weil
Sexualität mit etwas zu verbinden ist, was Menschen in diesen Zeiten heimsucht:
Relativierung. Die Erfahrungen vor allem des Körpers in der globalisierten Zivi-
lisation sind relativierend. Wir erfahren ständig etwas, was uns über den Kopf
zu wachsen drohen; das geht über den Körper weit hinaus, aber er ist dafür sehr
signifikant. Der Körper ist schließlich der erste und unmittelbare Ort, an dem wir
solche Relativierungen erfahren. Schließlich gehen wir irgendwann mit ihm auch
unter. Deshalb kommt Sexualität nicht über die innere Person, sondern über die
äußere Öffentlichkeit an einen Menschen heran. Wer von ihr etwas wissen will,
muss sich in Relativierungen begeben, weil sie dort stattfindet. Ohne positive Ein-
stellung zur Relativierung kann man mit Sexualität nicht hinreichend adäquat
hantieren. Wer sich nicht relativieren lässt, kommt mit der Sexualität nicht
zurecht. Wer sich aber relativieren lässt, kann sie nutzen.
Es sind vor allem zwei Zeichen der Zeit, die das belegen: der Geständnis-
zwang von Sexualität für den privaten Gebrauch und den Orgasmuszwang für
ihren gesellschaftlichen Gebrauch. Mit beiden Relativierungen muss ich mich als
Theologe befassen; denn Orgasmus- und Geständniszwang sind christliche Erb-
stücke. Das ist alles andere als selbsterklärend.
Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke … 139
Relativität ist ja eine Eigenschaft von Raum und Zeit. Sexualität hilft uns
natürlich nicht physikalisch mit der Zeit; wir bewegen uns nicht schneller
dadurch. Aber Sexualität hilft uns gesellschaftlich und existenziell, mit der
Relativität von Zeit und Raum zu Recht zu kommen. Sexualität findet in einer
kreativen Weise statt, und das prägt Erinnerung und Zukunftsprojekte. Das erste
versteht sich von selbst. Auf das zweite haben sich die Kirche und die Christinnen
und Christen seit der Spätantike eingelassen, aber es ist recht komplex.
Auf zwei Arten lässt sich Zukunft mit Sexualität gestalten. Die erste Art ist
gesellschaftlicher Art und bedeutet, Kinder zu zeugen, also Nachkommenschaft
zu sichern. Kinder sind ein gesellschaftliches Projekt und in der Moderne sind sie
sogar ein staatliches Projekt. Es gibt Bevölkerungspolitik und sie wird von Wahl
zu Wahl ausgefeilter, weil sie von vielen für wichtig erachtet wird. Damit lässt
sich bis zu einem gewissen Grad auch die bedrängende existenzielle Relativität
bewältigen. Mit eigenen Kindern geht man in die nächste Generation, auch wenn
man sie selbst gar nicht erlebt oder nur sehr verkürzt erlebt. Wir schlagen zwar
nicht dem Tod ein Schnippchen, aber dem Verschwinden im Tod. Auf das hat sich
die neuzeitliche Kirche beschränkt, weshalb sich die traditionelle Sexualmoral
überwiegend über den Geschlechtsverkehr äußert, der zur Zeugung führt. Man
kann Sexualität natürlich für Nachkommenschaft nutzen, also über sich hinaus in
die Zukunft zu weisen.
Das ist aber eigentlich das große Thema des spätantiken Judentums und nicht
des Christentums (vgl. Farley 2015, S. 43–73 und Holzem 2008, S. 65–145).
Nach der Trennung zwischen Juden und Christen, über deren genauen Verlauf wir
immer noch zu wenig informiert sind und die erst im vierten Jahrhundert wirklich
abgeschlossen ist, ergibt sich folgendes Bild: Das Judentum setzt auf Familie, um
zu überleben. Das ist die beherrschende Position der rabbinischen, also ganz auf
die Synagoge ausgerichteten Religionsgemeinschaft. Familie ist hier bis heute
ganz elementar; die Mutter hat deshalb im Judentum auch diese unendlich wich-
tige, geradezu beherrschende Stellung. In den USA ist sie seit dem Zweiten Welt-
krieg geradezu eine „Metonymie von Gemeinschaft“ (Josh Lambert, vgl. Mothers
2017, S. 169–184). Juden und Jüdinnen nutzen Sexualität, um als Gottes Volk in
die Zukunft zu gehen. Das Judentum benötigt deshalb auch gar keine Mission,
Kinder im eigenen Familienverband reichen völlig (Greenspoon 2016, S. 3–110).
Diese Familienstrategie passte sehr gut in die antike Zivilisation. Im römi-
schen Imperium war es ganz wichtig, dass die Männer zeugungsfähig waren.
Das Imperium benötigte Kinder und nur virile Männer galten als echte Männer.
Darum war Homosexualität unter Männern mehr als verpönt und Kinderlosig-
keit so sehr ein Sakrileg, dass es jeder verstand, wenn man sich deshalb schei-
den ließ. Der Familienverband im wirtschaftliche-politischen Sinn war staatlich
140 H.-J. Sander
sehr wichtig und der pater familias an seiner Spitze so etwas wie das Rollen-
vorbild der Augusteischen Restauration des Imperiums. Da ging es nicht um leib-
liche Kinder, sondern um rechtliche Kinder. Adoptionen und Verweigerung der
Anerkennung einer Vaterschaft waren darum völlig normale Verhaltensweisen. Es
ging um die Familia, nicht um die leibliche Nachkommenschaft (Marquardt 2015,
S. 1–194; Bettini 1992; Dixon 2004).
Kinder waren dagegen in dieser Zeit nicht der bestimmende christliche Weg,
weder solche aus sexuell gelebtem Familienideal noch aus Adoptionen. Das
klingt komisch, ist doch die Kirche heute so sehr auf Familie aus. Aber das hat
sich erst im Verlauf der Neuzeit entwickelt, was viel mit der Konfessionalisie-
rung nach der Reformation zu tun hat. Mit dem ursprünglichen christlichen Glau-
ben hat das aber wenig zu tun. Der eigentliche ursprünglich christliche Weg war
anders als Nachkommenschaft zu zeugen. Er war das Martyrium. Das war die
Missionsstrategie der alten Kirche, um zu überleben (Baumeister 2009; Rodrí-
guez 2017, bes. S. 83–123; Christian martyrdom 2017; Cobb 2017). Kinder
waren dagegen bestenfalls nebensächlich, eigentlich sogar hinderlich. Die Chris-
ten setzten nicht auf Nachkommenschaft wie das Judentum, sondern auf Mission,
also Erwachsenenbekehrung. ChristInnen müssen also andere überzeugen, eigene
Kinder reichen nicht aus.
Seit dem 4. Jahrhundert gilt darum Jungfräulichkeit unter Christen allem ande-
ren Gebrauch von Sexualität überlegen (vgl. Burgsmüller 2005). Selbst ein ver-
heirateter Autor und Vater wie Gregor von Nyssa vertritt diese Position. Dieser
Diskurs ist die Grundlage für Keuschheitsgelübde und Zölibatstradition in
Mönchtum und Priesteramt und befeuert die Marienverehrung zu einem tragen-
den Pfeiler christlicher Spiritualität weit über die Antike hinaus (Vogels 2013;
Warner 2013). Das andere christliche Projekt zur Sexualität ist existenzieller Art.
Auch bei ihm geht es darum, mit Sexualität der Relativierung durch Zeit und
Raum etwas entgegen zu setzen. Dieses Projekt bedeutet Lust, also orgiastische
Erfahrungen, mit anderen Worten: Erlebnisse, mit denen man buchstäblich aus
der Zeit herausfällt und ihren Ablauf wenigstens für den Moment überschreitet,
in dem sich Erfüllung körperlich einstellt. Das geht zwar auch mit anderen Grö-
ßen als mit Sexualität, etwa mit wissenschaftlichen Entdeckungen, die man als
Sternstunden des eigenen Lebens erfährt. Aber es geht eben am einfachsten mit
Sexualität. Der Grund liegt im Körper; wir fahren mit der Sexualität den Körper
Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke … 141
so richtig hoch, wenn er in Lust gerät und uns außer uns geraten lässt. Das Pro-
jekt ist der Orgasmus – in ihm überschreiten wir die Zerrissenheit der Gegenwart
auf eine Kontinuität von Erfahrung hin, die nicht relativ ist. Das lässt sich körper-
lich und kulturell vielfach ausbauen. Wir nennen das dann Erotik.
Nach George Bataille ist Erotik der Tanz des Lebens mit dem Tod. „De l’ér-
otisme, il est possible de dire qu’il est l’approbation de la vie jusque dans la mort.
A proprement parler, ce n’est pas une définition, mais je pense que cette formule
donne le sens de l’érotisme mieux qu’une autre“ (Bataille 1957, S. 17). Wir sprin-
gen aus der Zeit heraus wie im Tod – aber sind dennoch am Leben und zwar am
kontinuierlichen Leben. Im Französischen heißt der Orgasmus entsprechend
auch ‚der kleine Tod‘. Und manche suchen in der buchstäblichen Nähe zum Tod
die Steigerung der Lust. Lust verheißt Ewigkeit und in den Momenten der Lust
erhaschen wir sie sogar. Das ist keine Illusion, sondern Relativierung des eige-
nen Selbst, des eigenen Körpers, der eigenen Intimität in einer überaus kreativen
Form. Erotik überschreitet jede Relativierung, wenn sie wie am Rand des Ereig-
nishorizonts zu einem schwarzen Loch mit dem Tod regelrecht ein galaktisches
Abenteuer tanzt. „L’érotisme a, d’une matière fondamentale, le sens de la mort.
Celui que saisit un instant la valeur de l’érotisme aperçoit vite que cette valeur est
celle de la mort. C’est une valeur peut-être, mais la solitude l’étouffe“ (Bataille
1957, S. 289).
Erotik entsteht also nicht durch die erotische Praxis; das ist bloß sexuelles Ver-
gnügen. Erotik tanzt mit dem Tod und daraus entsteht Lebenselixier pur. Dieser
Tanz kann eben aus der totalen Verweigerung der erotischen Praxis bestehen, er
muss sich lediglich der Überschreitung in den Tod annähern. Daher bekamen
die spätantiken Christen und Christinnen die Lust am Leben aus einem anderen
Modus als dem Geschlechtsverkehr. Schließlich lässt sich gerade Lust erreichen,
wenn man auf sie verzichtet. Diese Lust gibt es neben der positiven Form –Orgas-
mus – auch in negativer Form – Askese. Der Verzicht auf die körperlichen Lüste,
also das sexuelle Diätprogramm, ist äußerst lustvoll, wenn es mit dem Tod tanzt.
Askese ist daher auch ganz und gar nicht antikörperlich, sondern sogar eine
sehr gesteigerte Form von Biomacht, also von Ermächtigung durch körperliche
Disziplinierung. Sie ist ebenso voller kreativer Lebensenergie wie der positive
Gebrauch.
Sie lässt sich zugleich ausgesprochen körperlich vollziehen. Das ist die Jung-
fräulichkeit. Das hat nichts mit der Lebensphase vor der Pubertät zu tun, also
der kindlichen Unberührtheit. Wenn man das identifiziert, dann folgt man einer
fürchterlichen pädophilen Verirrung, Gewalt für Liebe zu halten. Askese ist viel-
mehr pure Lebenslust im Modus des Verzichts. Askese ist für Christen und –
sehr wichtig! – auch für Christinnen der Spätantike Martyrium, also die höchste
142 H.-J. Sander
Form des Glaubens, die man sich denken kann. Es bedeutet Christusnachfolge
pur. Sie wird im Verlauf des vierten Jahrhunderts zu der Glaubensform schlecht-
hin. Asketen gehen in Scharen in die Wüste, Ehepaare verzichten ganz auf Sex,
junge Frauen lassen sich nicht mehr verheiraten. Kinder zu gebären galt für sie
als schwacher Glauben. Sie nähern sich Christus dabei so sehr an, dass sie sei-
nen Sieg über die verhasste dekadente Welt des spätantiken Imperiums körperlich
herbeilitten. „Durch den Verzicht auf alle sexuelle Aktivität konnte der mensch-
liche Körper am Sieg Christi teilhaben: Er konnte das Unerbittliche abwenden.
[…] War die Ehe zu Ende gegangen, so würde das gewaltige Gewebe der orga-
nisierten Gesellschaft wie eine Sandburg zusammenfallen, weggespült von der
‚Meeresflut des Messias‘“ (Brown 1994, S. 46).
In der Spätantike galt es deshalb als Zeichen von schwachem Glauben, Kin-
der zu bekommen. Wer verheiratet war und Kinder bekam, war gefährdet, dem
Martyrium auszuweichen und stellte zudem dem verhassten Imperium auch noch
Menschen zur Verfügung. Wer Kinder wollte, zeugte, gebar, belegte lediglich,
dass sie oder er einen schwachen Glauben hatte, sogar einen ganz schwachen.
„So unterschob beispielsweise eine ebenfalls in Syrien Anfang des dritten Jahr-
hunderts entstandene Erzählung der Taten des Apostels Thomas Jesus selbst eine
radikale Kritik von Ehe, Sexualität und Familie: ‚Erkennt, daß, wenn ihr euch von
diesem schmutzigen Verkehr befreit, ihr heilige Tempel (…) werdet.‘ Vor Kindern
warnte der unbekannte Autor: Sie seien meistens von bösen Geistern besessen,
‚mondsüchtig oder halb dürr oder gebrechlich oder taub oder gelähmt oder sprach-
los oder dumm‘. Und gesunde Kinder begingen Ehebruch, Mord oder Diebstahl und
betrübten dadurch ihre Eltern. Den Unverheirateten riet der Autor, so zu bleiben;
den Verheirateten, sich dem Ehepartner zu verweigern, etwa nach folgendem Mus-
ter: ‚Sie aber schrie: ‚Hinfort hast du keinen Platz bei mir, denn mein Herr Jesus, der
mit mir ist und in mir ruht, ist besser als du (Markschies 2012, S. 162)“.
Dabei kommt es zu einer eigenartigen Form von Entdeckung, die geradezu eine
christliche Zivilisationsleistung für das Abendland ist. Entdeckt wird die weib-
liche Lust, also auch Frauen einen Orgasmus haben. Denn in der damals herr-
schenden hellenistischen Kultur hatten nur Männer Lust und auch nur Männer
hatten Lust zu haben. Die Lust gehörte dem römischen Mann, die Frau war nur
Objekt für seine Lust. Und im Fall von Homosexualität hatte nur der penetrie-
rende erwachsene Mann Lust, der penetrierte Jüngling war in der Rolle der Frau
und bestenfalls pädagogisch weiter zu bringen. Wenn jemandem wie Caesar
nachgesagt wurde, als Jungpolitiker mit dem hellenistischen Herrscher Bithy-
niens, Nikodemus IV., ein homosexuelles Verhältnis gehabt zu haben, dann scha-
dete ihm das politisch.
Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke … 143
Die Form von Jungfräulichkeit, die Leiden erfährt, weil sie Lust negieren muss,
sprengt die Grenzen der patriarchalen hellenistischen Zivilisation, weil sie den eige-
nen Körper äußerst erotisch erfährt. Sie macht souverän und gerade nicht abhängig
vom Lustgebrauch durch andere. Das führt zu den Wüstenvätern, die ständig die
Dämonen der Lust niederringen, aber sie führt auch den Märtyrerinnen wie Thekla
und anderen, die mit äußerster narrativer Unabhängigkeit der Ehe und den Männern
entsagen. Später am Ende der Spätantike führt das direkt in die christliche Kultur
der Mönche und Nonnen. Ein lustloses Kloster ist daher das schlimmste, was Mön-
chen und Nonnen passieren kann. An einem solchen Ort lässt sich keine Keuschheit
leben, also den Körper mit Lustverzicht kultivieren. Die Spiritualität der Jungfräu-
lichkeit bedeutet eine Steigerung der Lust im negativen Gebrauch.
Daran wiederum entwickelt sich eine weitere Lust. Die Asketen und Asketin-
nen wollen primär und über allem anderen aufsteigen. Der asketische Gebrauch
des Körpers bedeutet eine Sexualität des Aufstiegs. Es ist erregend, über alle
144 H.-J. Sander
anderen hinweg hinaufzusteigen. Das ist die große Erfindung der antiken Chris-
ten und Christinnen. Ihre Erfindung ist bis heute in der Zivilisation bestimmend.
Wir nutzen Sexualität, um nach oben zu kommen; sie ist immer gut genug, um
nicht noch mehr abzusteigen, als man es wirtschaftlich, kulturell oder politisch
bereits hinnehmen muss. Wenigstens in Sachen Sex lässt sich dann zeigen, dass
man mehr zu bieten hat als das, was eine(n) nach unten zieht. Sexualität ist bis
heute ein Gebrauch des Körpers, um gesellschaftlich aufzusteigen. Das ist die
Grammatik der herrschenden Biopolitik. Die Logiken dieses Gebrauchs können
historisch wechseln, aber die Grammatik bleibt strukturell über die Zeiten hin-
weg gleich.
Lustvolle Askese hat jedoch eine markante Konsequenz, die sich bis heute
auf breiter Front auswirkt. Dieser negative Gebrauch körperlicher Lüste ver-
langt nach einer Erfahrung der Askese, die sich nicht im privaten Gebrauch
erschöpfen kann. Er verlangt nach einem Bekenntnis des Glaubens, das im
Modus des Geständnisses vollzogen wird – also im Modus einer Wahrheit, in
der das betroffene Subjekt Zeugnis von den Defiziten ablegt, die es noch vom
wahren Martyrium trennen. Vor allem das lateinische Christentum nutzt diesen
Zusammenhang und gibt ihm wie ein Gen an die europäisch-westliche Zivilisa-
tion weiter. Es ist kein Zufall, dass das lateinische confessio sowohl Bekennt-
nis wie Geständnis bedeutet. Seit den Confessiones des Augustus wird diese
Doppelung weidlich nutzt. Es ist das öffentliche Bekenntnis zu eigenen Ver-
fehlungen.
Augustinus bekennt in den Confessiones seine Sünden, die insbesondere im
körperlichen Gebrauch von Lüsten vollzogen werden. Das führt ihn zum körper-
lichen Erfahren Gottes – er sei ihm „innerer als mein Innerstes und höher noch
als mein Höchstes – interior intimo meo et superior summo meo.“ (Augustinus,
Confessiones 3,6.11 – Augustinus 1980, S. 114 f.) Das ist keine verquere Lust an
der eigenen Sünde, also Masochismus, sondern Sehnsucht nach Erlösung aus der
concupiscentia, der Gier. In dieser Begierde ist der Gebrauch der Lust immer nur
positiv möglich.
Verquer ist dann seine Theorie, dass eine Erbsünde mit dem Geschlechtsakt
weitergegeben wird, weil das aus dem öffentlichen Gebrauch der Askese eine pri-
vate Misanthropie des eigenen Körpers macht. Verquer ist auch die Begierde auf
den Verzicht, also die Sucht nach dem Verzicht; denn auch hier wird Lust nicht
negativ, sondern bloß positiv gebraucht. Askese ist dagegen eine öffentliche Dis-
ziplinierung des Körpers und diese verlangt nach Geständnis. Das Geständnis
ist aber eine Lust an der Last, die höchst positiv relativierend ist. Sie entmytho-
logisiert Sexualität.
Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke … 145
Sexualität ist seit der Spätantike mit dem Willen verbunden, die Wahrheit wissen
zu wollen. Das ist nicht irgendwie ‚die Wahrheit‘ im metaphysischen oder reli-
giösen Sinn. Darauf lässt sich dieses Wissen nicht einschränken. Es breitet sich
bis auf den heutigen Tag immer weiter aus, weil es eine Ermächtigungsressource
darstellt, die für alle möglichen Zugriffsweisen auf Subjektivierungen genutzt
werden kann. In der Gegenwart reicht dieser Wille zur Wahrheit in die intims-
ten Bereiche des menschlichen Subjektes hinein, wo man jemandem „inner-
licher wird als sie/es sich selbst innerlich sein kann“. Wir folgen deshalb einem
Geständniszwang, der sich Sexualität greift und auf andere Lebensrealitäten über-
springt.
Michel Foucault hat ihn entdeckt und zu analysieren versucht: „Die Wirkun-
gen des Geständnisses sind breit gestreut: in der Justiz, in der Medizin, in der
Pädagogik, in den Familien – wie in den Liebesbeziehungen, im Alltagsleben wie
in den feierlichen Riten gesteht man seine Verbrechen, gesteht man seine Sünden,
gesteht man seine Gedanken und Begehren, gesteht man seine Vergangenheit und
Träume, gesteht man seine Kindheit, gesteht man seine Krankheiten und Leiden
[…] Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.“ (Foucault 1998,
S. 76 f.). Ständig müssen Menschen über Sexualität reden und sich Orte für diese
Disziplinierung schaffen.
Der Beichtstuhl in der katholischen Kirche ist ein klassischer Ort dafür
gewesen (Anuth und Odenthal 2014). Hier wird Sexualität in Wissen trans-
formiert, das wiederum mit Taktiken und Regimes von Disziplin verbunden wer-
den kann, die historisch ansetzen. Ein solcher Ort des Geständnisses zeigt, dass
Sexualität keine Invariante ist, deren Unterdrückungsmechanismen lediglich im
Lauf der Zeit wechseln. Vielmehr ist sie historisch diskursiviert und verbindet
drei Stränge von Selbstverhältnissen miteinander: „die Ausbildung der Wissens-
arten, die sich auf sie beziehen; die Machtsysteme, die ihre Praxis regeln, und
die Formen, in denen die Individuen sich als Subjekte dieser Sexualität erkennen
können und müssen.“ (Foucault 1994, S. 660) Gegenwärtige Formen dessen
sind die Talkshow, das Talkradio, die Enthüllungspressekonferenz (Bauer 2008;
Bublitz 2014; Grobe 2017). Seitdem die Psychoanalyse, die Talkshow, der Porno-
kanal im Kabelfernsehen, die Clips für streaming-Nutzer und – Donald Trump
sei Dank – nun auch endlich der Wahlkampf zur Verfügung stehen, um sexuelle
Problemlagen und Begierden zu besprechen, bespielen, bestreiten, ist der Beicht-
stuhl kulturell nicht mehr so wichtig. Im katholischen Milieu früherer Zeiten
146 H.-J. Sander
konnten alle, und insbesondere Frauen etwas gefahrlos aussprechen, was sie sonst
nie zu sagen gewagt hätten, weil es enorme soziale Konsequenzen gehabt hätte.
Keine Scham verlangte hier Verschweigen.
Beichtstühle sind wesentlich kultivierter als jeder Stammtisch; es geht nicht
um Prahlen, sondern um Formen der Subjektivierung, denen nicht auszuweichen
ist. Ihre gesellschaftliche Funktion ist nicht so anders gewesen wie die der eroti-
schen Hochliteratur, was natürlich nicht der ursprünglichen kirchlichen Absicht
hinter dem Beichtstuhl entspricht, einem Sakrament einen geschützten Raum zu
geben. Gleichwohl konnte hier etwas explizit werden, was sonst unter keinen
Umständen zu sagen gewesen wäre. Man muss sich daher auch nicht wundern,
dass die Beichte wie jene Literatur zurückgegangen sind. Das hat nichts mit feh-
lendem Sündenbewusstsein oder fehlendem Publikum zu tun. Es gibt einfach ein
so breites Angebot an Möglichkeiten für das Geständnis, dass man sich zu diesen
heimlich-verschämten Praktiken nicht mehr aufschwingen muss. Sie ist längst aus
dem religiösen Bereich in die weite Welt säkularer Möglichkeiten ausgewandert
(vgl. Taylor 2009). Man muss sich gar nicht mehr anstrengen und heilige Scham-
grenzen überwinden; es genügt, Massenkultur zu konsumieren. Sie geht einher
mit einer kulturellen Diversifizierung, die keinen Distinktionsgewinn durch eli-
täre Kultur mehr ermöglicht. Es geht heute nichts über ein öffentliches Geständ-
nis vom sexuellen Gebrauch des Körpers. Das schaut nach Lust pur aus, die
äußerst massentauglich ist.
Aufgrund des Geständniszwanges ist Sexualität ein öffentliches Gut, kein inti-
mer Gebrauch des Körpers. Man sieht es daran, dass wir von jemandem, sobald
die Person prominent geworden ist, wissen wollen, mit wem er oder sie was hat,
und Personen unserer näheren Umgebung fortlaufend darauf screenen, ob sie was
mit der oder dem haben. Hier ist das vereinnahmende ‚wir‘ angebracht; niemand
entgeht dieser Kontaktzone. Ein Beispiel: Anfang 2016 ist der öffentliche Intel-
lektuelle Roger Willemsen gestorben. Er war ein Junggeselle und wusste um die
Stichworte, die am meisten mit seinem Namen in den Suchmaschinen verbunden
wurden: verheiratet, schwul, Partner, Partnerin, bisexuell. Man will wissen, mit
wem jemand Sexualität gebraucht, sobald die Person sich uns öffentlich auf-
drängt. Und man will es selbst von körperlich sehr wenig attraktiven Politikern
oder Wirtschaftskapitänen wissen, nicht nur von Schauspielerinnen und Schau-
spieler, Super-Dupa-Sängerinnen und Sänger oder wem sonst attraktiven Men-
schen. Das ist der Geständniszwang, der Menschen mittlerweile dazu bringt, bis
ins hohe Alter attraktive Körper vorzuhalten. Das hat uns im Griff, ob wir nun
wollen oder nicht. Menschen taxieren einen Menschen sofort auf den Körper hin.
Unser Leben unterliegt biopolitischen Strategien (Lemke 2016). Daraus folgt,
dass Menschen mit Sexualität gerade nicht erreichen können, was die sexuelle
Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke … 147
„Die Moral der Pflicht, die sich auf den Gegensatz von Vergnügen und Gutem stützt,
Lust und Angenehmes generell unter Verdacht stellt, zur Angst vorm Genießen und
einer Beziehung zum Körper führt, die ganz aus ‚Scheu‘, ‚Scham‘ und ‚Zurück-
haltung‘ besteht und jede Befriedigung verbotener Impulse mit Schuldgefühlen
begleitet, stellt die neue ethische Avantgarde eine Moral der Pflicht zum Genuß
gegenüber, die dazu führt, daß jede Unfähigkeit sich zu ‚amüsieren‘, to have fun
oder, wie man heute mit leichten inneren Beben zu sagen liebt, ‚zu genießen‘, als
Misserfolg empfunden wird, der das Selbstwertgefühl bedroht, so daß aus G
ründen,
148 H.-J. Sander
die sich weniger ethisch als wissenschaftlich geben, Genuß nicht nur erlaubt, son-
dern geradezu vorgeschrieben ist. […] Wie ihr Einsatz des psychoanalytischen
Jargons zeigt, stellt die modernistische Moral eine psychologische Vulgata dar, die
unter dem Mantel der Analyse Moral predigt, und wie der Stellenwert bezeugt, den
sie Eriksons ‚Utopie der vollen Wechselseitigkeit im Orgasmus‘ zuweist, verwandelt
sie, dem alten positivistischen Traum folgend, eine scheinbar positiv gegebene Defi-
nition des Normalen in Normalitätszwang, begründen den Orgasmuszwang auf den
Ergebnissen einer angeblichen Sittenwissenschaft à la Kinsey und führt damit die
unerbittlich rationelle Buchführung des do ut des in das Gebiet des sexuellen Aus-
tauschs ein, aus dem die Mehrzahl der Gesellschaften eines der letzten Refugien des
kollektiven Verkennens macht“ (Bourdieu 1987, S. 576–578).
An diesem Punkt offenbart sich eine Erklärung, warum die Kirche geradezu
machtlos im Verhältnis zum Gebrauch von Sexualität geworden ist. Sie kann
den Menschen, die ihre Mitgliedschaft in der Kirche halten, in aller Regel nicht
mehr als etwas anbieten, wodurch man aufsteigt. Das gilt aber nicht deshalb, weil
ihre Vorstellungen vormodern wären. Vielmehr hat die Kirche bisher keinen hin-
reichenden Zugang zu diesem doppelten Zwang gefunden, dem Menschen in der
Postmoderne unterliegen, eine erfüllte Sexualität gestehend vorweisen zu müssen
oder Abstiege hinzunehmen. Das gleiche lässt sich daher von der Kirche sagen:
Ihre Sexualmoral erfährt dadurch einen Abstieg, dass sie weder den Geständnis-
noch den Orgasmuszwang nicht hinreichend erfasst. Ihre Fokussierung auf Moral
ist von beidem schlichtweg unbedarft. Sie ist daher in dieser Hinsicht ganz der
Moderne verhaftet und will kohärentes, selbstentschiedenes Verhalten erzeugen.
Aber wie bei anderen gesellschaftlich neuralgischen Fragen auch, taugt Sexualität
nicht zur Selbstbestätigung, sondern nur zur Analyse von Disziplinarmechanis-
men, denen in der Postmoderne nicht auszuweichen ist. Die merkwürdige Gleich-
Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke … 149
zeitigkeit, dass es sowohl eine öffentliche Not mit der Sexualität für heutige
Menschen wie für die Kirche gibt, kommt daher nicht von ungefähr. Sie ist eine
Signatur der postmodernen Gegenwart.
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Rechtliche Grenzen im Umgang
mit dem menschlichen Körper.
Vom Folterverbot über die
Knabenbeschneidung zu Pornografie
und Datenschutz
Kurt Schmoller
Zusammenfassung
Die (straf-)rechtlichen Grenzen im Umgang mit dem menschlichen Körper
werden anhand heute aktueller Bereiche diskutiert, wie z. B. Rettungsfolter,
Zwangssterilisation, Knabenbeschneidung, Sterbehilfe, Organtransplantation,
sexuelle Belästigung, Pornografie, Bildnis- und Datenschutz. Als Tendenz
zeigt sich, dass dem Schutz des menschlichen Körpers in der Rechtsordnung
eine zunehmende Bedeutung beigemessen wird, gleichzeitig aber auch der
autonomen Entscheidung über den eigenen Körper eine höhere Bedeutung
zukommt als früher. Der Gedanke der Pietät i. S. einer Ehrfurcht vor dem
menschlichen Körper, wird hingegen i. d. R. nicht mehr als ausreichend
angesehen, um ein rechtliches Verbot zu begründen.
Schlüsselwörter
Bildnisschutz · Datenschutz · Euthanasie · Folter · Genitalbeschneidung ·
Kinderpornografie · Knabenbeschneidung · Mitwirkung am Selbstmord ·
Organtransplantation · „Po-grapschen“ · Pornografie · Rettungsfolter ·
Sexuelle Belästigung · Sterbehilfe · Sterilisation geistig Behinderter ·
Zwangssterilisation
K. Schmoller (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: Kurt.SCHMOLLER@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 151
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_10
152 K. Schmoller
1 Zur Themenstellung
Das vorgegebene – äußerst weite – Thema, nämlich die Rolle des menschlichen
Körpers im Recht bzw. in den Rechtswissenschaften, muss in diesem Rahmen
auf die zentrale rechtliche Frage beschränkt werden, welche Verhaltensweisen in
Bezug auf den menschlichen Körper verboten sind. Eine weitere Beschränkung
ergibt sich daraus, dass das Thema einem Strafrechtslehrer anvertraut wurde.
Denn der Umgang mit dem menschlichen Körper ist etwa auch im Zivil-, Arbeits-
oder Verwaltungsrecht geregelt. Allerdings sprechen tatsächlich gute Gründe
dafür, primär einen strafrechtlichen Fokus zu wählen. Denn gerade das Strafrecht
ist ein maßgeblicher Indikator für fundamentale Verhaltensregeln, also Regeln,
deren Verletzung das Zusammenleben in grober Weise stört. Nur gravierende
Rechtsverletzungen fallen in die Zuständigkeit der Strafgerichte.
Rechtliche Grenzen des Umgangs mit dem menschlichen Körper sind viel-
fältig. Ein zentraler Bereich betrifft Handlungen, die sich physisch gegen den
menschlichen Körper richten, bis hin zu einer Tötung, aber etwa auch einem
Missbrauch als Sexualobjekt. Angriffe gegen den menschlichen Körper können
zudem noch nach dem Tod erfolgen, etwa als Leichenschändung. Darüber hinaus
zählt zum Umgang mit dem menschlichen Körper dessen Abbildung. Fragen nach
den (straf-)rechtlichen Grenzen stellen sich insoweit etwa im Bereich der Porno-
grafie oder des heimlichen Fotografierens einer Person sowie beim Umgang mit
Daten über den menschlichen Körper.
Aus diesem umfassenden Rahmen werden im Folgenden acht ausgewählte
Bereiche angesprochen, die in der letzten Zeit Gegenstand juristischer, zum Teil
auch öffentlicher Diskussion waren. Die Darstellung ist dabei primär an der
österreichischen Rechtslage orientiert, bezieht aber auch rechtsvergleichende
Gesichtspunkte mit ein.
2 Entwicklungstendenzen
Rechnung zu tragen.1 Zuvor war zunehmend kritisiert worden, dass die Relation
zwischen den Strafdrohungen für Körperverletzungs- und Vermögensdelikte nicht
mehr der aktuellen gesellschaftlichen Wertung entspreche.2 Exzessiv zeigt sich der
erhöhte Schutz des menschlichen Körpers im Sexualstrafrecht, in dem die Straf-
drohungen seit Jahrzehnten – in mehreren Etappen – überproportional angehoben
wurden, sodass in diesem Bereich heute auch die höchste Dichte der Androhung
einer lebenslangen Freiheitsstrafe anzutreffen ist.3
Innerhalb jener Bereiche, in denen es um den Schutz des menschlichen Kör-
pers geht, besteht die Tendenz, der Autonomie des Menschen in Bezug auf die
Verfügung über den eigenen Körper eine steigende Bedeutung zuzuerkennen. Die
Respektierung autonomer Entscheidungen führte insoweit zu einem Rückzug des
Strafrechts, etwa im Bereich der sexuellen Selbstverwirklichung oder in weiten
Bereichen der Pornografie, aber auch in Bezug auf die eigene Lebensbeendigung
(etwa Patientenverfügung, Hilfe zur Selbsttötung). Dagegen wird der rechtliche
Schutz in Bereichen, in denen keine autonome Entscheidung vorliegt, tenden-
ziell verschärft, etwa bezüglich sexueller Handlungen an Kindern oder geistig
beeinträchtigten Personen, Kinderpornografie, Zwangssterilisation bei geistiger
Behinderung oder einer sexuellen Belästigung.
Demgegenüber spielt der Gedanke der Pietät, also einer gewissen Ehrfurcht
vor dem menschlichen Körper, eine immer geringere Rolle. Ein Schutz des
menschlichen Körpers allein um der Pietät Willen findet heute nur noch wenig
Anklang; dies zeigt sich wiederum im Bereich der Sexualdelikte, aber etwa auch
bei der Regelung der Organtransplantation. Auch in der aktuellen Sterbehilfe-Dis-
kussion reicht ein Verweis auf die Pietät (z. B. Ehrfurcht vor der Einmaligkeit
jedes menschlichen Lebens) als Argument nicht aus.
3 Ausgewählte Bereiche
S. 121 ff.).
3Grafl/Schmoller (2015, S. 113 ff.).
154 K. Schmoller
3.1 Folterverbot
Die massivste Beeinträchtigung des menschlichen Körpers ist wohl jene durch
Folter. Deshalb nimmt das Folterverbot unter den Grundrechten einen zen-
tralen Platz ein und wurde seit dem Zweiten Weltkrieg in einer Reihe von
internationalen Abkommen abgesichert. Gemäß Art. 3 der Europäischen
Menschenrechtskonvention 1950 darf niemand „der Folter oder unmenschlicher
oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“. Weitere inso-
fern bedeutende Rechtsakte sind die UN-Antifolterkonvention 1984 sowie Art. 4
der EU-Grundrechtecharta 2004. Zur Verdeutlichung wurde in Österreich im Jahr
2012 ein eigener Straftatbestand der „Folter“ durch Amtsträger in § 312a StGB
eingefügt.
Bei dieser Rechtslage verwundert es, dass in den letzten 15 Jahren gerade
in Deutschland die Diskussion wieder aufgeflammt ist, ob nicht in bestimmten
Fällen die Anwendung von Folter doch gerechtfertigt sein könne. Den Anlass
bildete ein spektakulärer Kriminalfall im Jahr 2002. Der Student Magnus Gäf-
gen war dringend verdächtig, den 11-jährigen Jakob von Metzler zur Erlangung
eines Lösegelds entführt zu haben. Nachdem er sich in der Haft mehrere Tage
lang geweigert hatte, den Aufenthalt des entführten Kindes preiszugeben, bestand
die Sorge, dass das allein gelassene Entführungsopfer in Lebensgefahr geraten
könne. Aus Angst um das Leben des Kindes ordnete der zuständige Polizei-
vizepräsident Wolfgang Daschner an, dass dem mutmaßlichen Entführer die
Zufügung größter Schmerzen (also Folter) angedroht werden soll, falls er weiter-
hin den Aufenthaltsort des Kindes verschweige. Magnus Gäfgen ließ sich ein-
schüchtern und verriet den Ort, an dem man allerdings nur die Leiche des Kindes
fand, das der Entführer bereits unmittelbar nach der Entführung getötet hatte.4
Bei der juristischen Aufarbeitung dieses Falls wurde zum Teil die Meinung
vertreten, dass „Rettungsfolter“ (bzw. deren Androhung) in Extremfällen zur
Lebensrettung zulässig sein könne, unter Umständen sogar eine Pflicht dazu
bestehe.5 Jedoch erscheint es selbst angesichts eines so tragischen Geschehens
wie jenes um Jakob von Metzler wichtig, dass sich diese Ansicht nicht durch-
gesetzt hat. Das Folterverbot verlangt absolute Beachtung, wenn der Rechtsstaat
sich nicht selbst aufgeben will.6 Dies wurde auch von den Gerichten bestätigt:
3.2 Zwangssterilisation
Als Beispiel für den rechtlichen Umgang mit dem Körper geistig beeinträchtigter
Personen sei hier die Thematik der Zwangssterilisation (d. h. ohne wirksame Ein-
willigung der betreffenden Person) angesprochen. Dabei geht es um die Frage,
2012 von einem deutschen Zivilgericht – ungeachtet seiner Verbüßung einer lebenslangen
Freiheitsstrafe – eine Entschädigung für die erlittene Folterandrohung in der Höhe von
3000 EUR zugesprochen erhielt.
156 K. Schmoller
10Z. B.Bernat (1997).
11Mit dem Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001 wurde diese Regelung zunächst in
§ 282 Abs. 3 ABGB erlassen, nach dem Sachwalterschaftsrechts-Änderungsgesetz 2006
war sie in § 284 ABGB und seit dem 2. Erwachsenenschutz-Gesetz 2017 ist sie in § 255
ABGB enthalten.
12Neufassung des Außerstreitgesetzes, BGBl I 111/2003, und 2. Erwachsenenschutz-Gesetz,
BGBl I 59/2017.
Rechtliche Grenzen im Umgang mit dem menschlichen … 157
3.3 Knabenbeschneidung
Als Beispiel für den Schutz der körperlichen Integrität von Kindern kann die
aktuelle Diskussion um die rechtliche Beurteilung der Knabenbeschneidung
(i. S. der kulturell weitverbreiteten Vorhautentfernung im Kindesalter) angeführt
werden. Während die ebenfalls in Teilen der Welt praktizierte weibliche Genital-
beschneidung, bei der zentrale Teile des äußeren Geschlechtsorgans entfernt wer-
den, internationalrechtlich geächtet ist, wird die rituelle Knabenbeschneidung
weltweit i. d. R. akzeptiert.
13Z. B. Stabentheiner (2015, Rn. 2); Kletečka (2015, Kap. I.4.9); Huter (2008, S. 166).
158 K. Schmoller
Als ein Schritt gegen die weibliche Genitalbeschneidung wurde im Jahr 2001
in § 90 Abs. 3 StGB die Regelung eingefügt, dass „in eine Verstümmelung oder
sonstige Verletzung der Genitalien, die geeignet ist, eine nachhaltige Beein-
trächtigung des sexuellen Empfindens herbeizuführen“, nicht wirksam ein-
gewilligt werden kann; eine solche Beschneidung wäre deshalb selbst auf den
ausdrücklichen Wunsch einer voll einsichtsfähigen Frau hin strafbar. Die männ-
liche Vorhautbeschneidung unterfällt dieser Beschränkung dagegen nach all-
gemeiner Ansicht nicht; daher können einsichtsfähige männliche Personen in
ihre eigene Beschneidung rechtswirksam einwilligen. Seit etwa zehn Jahren
wird aber die Frage diskutiert, ob diese Einwilligung auch von anderen Perso-
nen für ein noch nicht entscheidungsfähiges Kind wirksam erteilt werden kann.
Dagegen wird geltend gemacht, dass es sich immerhin um eine nicht unwesent-
liche und irreversible Körperverletzung handelt, die medizinisch nicht indiziert ist
und nicht messbar im gesundheitlichen Interesse des Kindes liegt. Auch bei einer
Abwägung mit der Religionsausübungsfreiheit der Eltern müsse der Schutz der
körperlichen Integrität des Kindes vorgehen, weil Religionsausübung allgemein
nicht dazu berechtige, andere Personen zu verletzen.
Nachdem diese Überlegungen zunächst im juristischen Schrifttum angestellt
worden waren,14 entschied im Jahr 2012 überraschend das Landesgericht Köln
(auf eine Anklage der Staatsanwaltschaft hin), dass eine nicht medizinisch indi-
zierte Knabenbeschneidung bei einem Kleinkind den Straftatbestand der Körper-
verletzung erfülle15 (zu einer Bestrafung kam es im konkreten Fall nur deshalb
nicht, weil das Gericht dem Täter zugestand, dass er das Verbot angesichts der
bis dahin unbeanstandeten Praxis nicht kennen konnte und deshalb infolge eines
unvermeidbaren Verbotsirrtums schuldlos handelte; für künftige Fälle würde der
Einwand eines unvermeidbaren Verbotsirrtums allerdings nicht mehr gelten). Eine
Konsequenz dieses Urteils des Landesgerichts Köln wäre freilich, dass dann auch
andere nicht medizinisch indizierte Körperverletzungen eines Kindes nicht ein-
willigungsfähig wären. Dem wird man z. B. in Bezug auf Tätowierungen oder
Piercings im Gesicht wohl zustimmen. Ebenso wäre aber etwa auch das bei
Kleinkindern verbreitete Durchstechen der Ohrläppchen für Ohrringe ungeachtet
des diesbezüglichen Wunsches der Eltern strafbar (und zwar auch für die Eltern
selbst als Beteiligte).
In Deutschland hat die Politik auf das Urteil des Landesgerichts Köln reagiert,
indem der Gesetzgeber in § 1631d deutsches BGB die Einwilligung der Eltern in
3.4 Sterbehilfe/Euthanasie
Die Grenzen der rechtlichen Verfügungsmöglichkeit über den eigenen Körper zei-
gen sich anhand der Diskussion um die Zulässigkeit von Sterbehilfe/Euthanasie
(i. S. der Lebensbeendigung schwer leidender Patienten auf deren Wunsch hin).
Ausgangspunkt ist, dass nach allgemeiner Ansicht eine Tötung auch dann
strafbar ist, wenn der Getötete zugestimmt, ja sogar um sie gebeten hat. Das
Leben ist insofern ein indisponibles Rechtsgut. Allein im Fall eines „ernstlichen
und eindringlichen Verlangens“ der Tötung ist die Strafdrohung gemäß § 77
StGB herabgesetzt. In Österreich und den meisten anderen Rechtsordnungen
ist darüber hinaus auch eine Mitwirkung am Selbstmord strafbar (§ 78 StGB).
Wo eine Mitwirkung am Selbstmord nicht oder nicht generell strafbar ist, etwa
in Deutschland, wird i. d. R. die Auffassung vertreten, dass sie zumindest nicht
erlaubt sei und deshalb andere rechtliche Konsequenzen als eine Strafe nach sich
ziehen könne, z. B. ein Verbot der ärztlichen Berufsausübung.18
22Jeweils mit weiteren Nachweisen Schmoller (2010, S. 14); Schmoller (2000, S. 361).
3.5 Organtransplantation
Als Beispiel für den rechtlichen Umgang mit dem toten menschlichen Körper
sei die Problematik der Organentnahme bei frisch Verstorbenen zum Zweck der
Transplantation angesprochen. Unter strafrechtlichen Gesichtspunkten stellt
sich dabei die Frage, ob die Organentnahme durch den Transplantationszweck
gerechtfertigt ist oder aber den Straftatbestand der Störung der Totenruhe nach
§ 190 StGB erfüllt.
In diesem Bereich ist bemerkenswert, dass das sonst eher konservative Öster-
reich schon vergleichsweise früh eine liberale Regelung getroffen hat. Im Jahr
3.6 „Po-Grapschen“
Als Beispiel für die Frage, inwieweit der menschliche Körper als Bestandteil
der persönlichen Intimsphäre rechtlich geschützt wird, lässt sich der Bereich der
„sexuellen Belästigung“ anführen. Erste rechtliche Regelungen betrafen allein
dienstrechtliche Konsequenzen bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.29
Im Jahr 2004 wurde erstmals ein Straftatbestand der sexuellen Belästigung in
27BGBl 273/1982.
28Vgl. §§ 3, 4 deutsches Transplantationsgesetz; Nationaler Ethikrat (2007, S. 24 ff.);
Breyer et al. (2006, S. 33 ff.); Laufs/Katzenmeier/Lipp (2015, Rn. 2 und 20 ff.).
29Vgl. z. B. Schmoller (2005, S. 617 f.).
Rechtliche Grenzen im Umgang mit dem menschlichen … 163
3.7 Pornografie
32311 ME 18. GP.
während später auch die Darstellung der Genitalien oder der Schamgegend
Minderjähriger (ohne sexuelle Handlung) einbezogen wurde (§ 207a Abs. 4 Z 3
lit. b StGB). Drittens wurde die ursprünglich primäre Schutzrichtung der Ver-
hinderung von Kinderrealpornografie (wodurch vor allem unmündige Darsteller
geschützt werden sollten) letztlich auf virtuelle Pornografie, also auch auf allein
computer-animierte Darstellungen, erweitert (§ 207a Abs. 4 Z 4 StGB). Schließ-
lich ist heute neben dem Besitz kinderpornografischen Materials auch schon der
bloße Zugriff auf entsprechende Internetseiten (ohne elektronische Speicherung)
strafbar (§ 207a Abs. 3a StGB).
An dieser Entwicklung wurde wiederholt kritisiert, dass die Strafvorschrift
nun zu weit ausgedehnt ist, weil etwa auch der Fall erfasst wäre, dass eine
17-Jährige pornografische Aufnahmen ihres eigenen Körpers herstellt bzw. ihrem
Freund zukommen lässt (obwohl z. B. der Beischlaf einer 17-Jährigen mit ihrem
Freund legal ist). Diese Kritik hat dazu geführt, dass der Gesetzgeber letztlich
wieder Ausnahmen von der Strafbarkeit einführen musste und diese mit dem
Strafrechtsänderungsgesetz 2015 und der Strafgesetznovelle 2017 erweitert hat:
Demnach sollen aus der Strafbarkeit insbesondere Fälle ausgenommen werden,
in denen die minderjährige Person pornografische Aufnahmen von sich selbst her-
stellt, besitzt oder weitergibt oder in denen jemand von einer solchen Person mit
deren Einverständnis pornografisches Material herstellt oder (nur) zum persön-
lichen Gebrauch besitzt (§ 207a Abs. 5 und 6 StGB).
Nicht nur im Bereich der Pornografie, auch darüber hinaus stellt sich die Frage
nach der Zulässigkeit der Abbildung des Körpers durch Bild- oder Videoauf-
nahmen, insbesondere bei heimlichen Aufnahmen im privaten Bereich sowie der
Weitergabe oder Veröffentlichung solcher Aufnahmen.
Obwohl bei bestimmten Arten von Aufnahmen die Intimsphäre in hohem Maß
beeinträchtigt sein kann, überrascht, dass es in Österreich bisher keine spezifische
Strafvorschrift gegen das heimliche Fotografieren oder Filmen im Privatbereich
bzw. die Weitergabe solcher Aufnahmen gibt. Dies verwundert auch deshalb, weil
eine entsprechende Strafvorschrift in Bezug auf die unerlaubte Tonaufnahme des
gesprochenen Worts bzw. deren Verbreitung seit langem existiert. In Deutsch-
land wurde eine eigene Strafvorschrift gegen unerlaubte Bildaufnahmen im Jahr
2004 eingeführt (§ 201a deutsches StGB). In Österreich wurde zwar im Jahr 2009
166 K. Schmoller
4 Ausblick
Gewiss konnten im Vorstehenden nur sehr begrenzte Ausschnitte der Rolle des
menschlichen Körpers in der Rechtsordnung angesprochen werden. Dabei hat
sich ein Grundkonsens hinsichtlich der hohen Schutzwürdigkeit des mensch-
lichen Körpers gezeigt; auch konnten einzelne Entwicklungstendenzen belegt
werden. Es verbleiben jedoch weiterhin gesellschaftlich und zum Teil ebenso
juristisch umstrittene Grenzbereiche; diesbezüglich ist die künftige Entwicklung
abzuwarten.
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Zu jung, um alt zu sein? Visiotype der
Best Ager in Journalismus und Werbung
Zusammenfassung
Die Forschung zu Alter und Altern differenziert sich aus. Auch in der
Kommunikationswissenschaft sind verschiedene Forschungsschwerpunkte
etwa in der Repräsentations- und Mediennutzungsforschung auszumachen.
Insbesondere die Forschung zu medialen Altersbildern und -stereotypen hat
zugenommen, wobei Altersbilder sowohl sprachlich als auch visuell ver-
mittelt werden können. Der vorliegende Beitrag widmet sich Visualisierungen
der sogenannten Best Ager sowohl in Anzeigen, die in Printmedien geschaltet
werden, als auch in Pressefotos, die redaktionelle Beiträge zum Thema Alter
illustrieren. Identifiziert wurden verschiedenen Bildtypen und thematische
Zusammenhänge, auf die häufig in Journalismus und Werbung zurückgegriffen
wird, wenn es um die Repräsentation und gezielte Ansprache Junger Alter bzw.
euphemistisch Best Ager genannten 55–70-Jährigen geht. In engem Zusammen-
hang mit dem Aufkommen der Sozialfigur der Jungen Alten steht dabei die Dis-
kussion über Arbeit am Körper und Schönheitshandeln in der Postmoderne.
Schlüsselwörter
Medien · Journalismus · Werbung · Junge Alte · Best Ager · Visuelle Kommu
nikation · Altersstereotype · Visiotype · Bildtypen · Körperhandeln
M. Thiele (*) · H. Atteneder
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: martina.thiele@sbg.ac.at
H. Atteneder
E-Mail: helena.atteneder@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 169
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_11
170 M. Thiele und H. Atteneder
die politische und die Medienagenda. Und es tauchte bedingt durch Vorruhe-
standsregelungen und eine insgesamt besserer Gesundheitsvorsorge eine neue
Sozialfigur auf: die Jungen Alten, von der Werbung euphemistisch als Best Ager
und Silver Generation bezeichnet.1 Gemeint ist damit die Altersgruppe der
55- bis 70-Jährigen (van Dyk und Lessenich 2009), die bis dahin eher nicht als
werberelevante Zielgruppe gesehen wurde.
Sozialwissenschaftliche und auch kommunikationswissenschaftliche Studien
zu Jungen Alten gibt es inzwischen einige (Burgert und Koch 2008; Derra 2012;
van Dyk und Lessenich 2009). Wir haben 2013 mittels Inhaltsanalyse deutscher
und österreichischer Printmedien erhoben, welche Altersstereotypen verwendet
werden und ob es neben traditionellen Altersstereotypen auch bereits stereotype
Repräsentationen Junger Alter gibt. Die Häufigkeit ihres Vorkommens – sie lagen
anteilsmäßig gleichauf mit traditionellen Altersstereotypen – hat uns zunächst
überrascht. Wir haben die Ergebnisse unter Berücksichtigung politökonomischer
Kontexte und konkret der Debatte über die Anhebung des Renteneintrittsalters
betrachtet. Deutlich wurde, dass die Bilder und Berichte über aktive, fitte und in
jeder Hinsicht jung gebliebene ältere Menschen den Diskurs über die Folgen des
demografischen Wandels prägen (Thiele et al. 2013).
Ein Zusammenhang, den wir genauer und das heißt hier qualitativ untersuchen
möchten, ist der zwischen der Visualisierung und Stereotypisierung Junger Alter
in den Medien. Wir erweitern damit die Fragen, ob es bereits stereotype Präsenta-
tionen Junger Alter gibt und wie häufig sie sind, um die Frage nach den Varianten
dieses spezifischen Visiotyps.
Bevor wir aber das Untersuchungsdesign erläutern und unsere Ergebnisse
vorstellen, sind einige Bemerkungen zur Analyse von Medienbildern und Alters-
stereotypen bzw. -visiotypen in den Medien angebracht.
Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung hat der visual turn auch die deutsch-
sprachige Kommunikationswissenschaft erreicht. Im Jahr 2000 gründet sich inner-
halb der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
1Die Begriffe Junge Alte und Best Ager werden hier beide zur Benennung der Altersgruppe
der 55- bis 70-Jährigen verwendet. Doch ist Junge Alte der in wissenschaftlichen Kontexten
benutzte Begriff, Best Ager eine Marketing-Kreation. Beide Begriffe werden hier immer
groß geschrieben und kursiv gesetzt.
172 M. Thiele und H. Atteneder
(DGPuK) die Fachgruppe Visuelle Kommunikation mit dem erklärten Ziel, „dem
Anikonismus in Publizistik-, Kommunikations- und Medienwissenschaft ent-
gegenzutreten“ (Webseite der Fachgruppe Visuelle Kommunikation 2017). Seit-
dem sind zahlreiche Publikationen, zumeist Tagungsbände, aber auch Monografien
und Fachzeitschriftenaufsätze erschienen, die sich mit der Relevanz von Medien-
bildern in einer mediatisierten Gesellschaft befassen. Theoretisch wie empirisch
hat die Visuelle Kommunikationsforschung (Müller 2003, 2007; Lobinger 2012)
bedeutende Fortschritte vorzuweisen, was sich u. a. an der begrifflichen Fassung
von Medienbildern und ihrer Analyse erkennen lässt.
So werden als Kennzeichen von Medienbildern ihre Materialität, ihr Gebun-
densein an ein Trägermedium, ihre (massen-)mediale Verbreitung, ihre Ein-
bettung in intra- und intermediale Produktions- und Rezeptionskontexte,
ihre Multicodalität und Multimodalität genannt. Medienbilder sind Teil des
Kommunikationsprozesses. Je nach Schwerpunkt der Analyse können neben
den Bildinhalten, Produktions- und Rezeptionskontexte stärkere Berück-
sichtigung finden. Diese wiederum lassen sich in künstlerische, kommerzielle,
journalistische, wissenschaftliche, politische, private (Kappas und Müller 2006)
unterscheiden, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass Kontexte, in denen Bilder
ursprünglich entstanden sind, sich verändern, etwa wenn Werbebilder in Kunst-
ausstellungen gezeigt werden. Als eine Methode zur Analyse von Bildern hat
sich die Bildtypenanalyse (Grittmann und Amann 2009) etabliert. Dabei wer-
den zunehmend auch Rezeptions- und Wirkungsperspektiven (Gerth 2012) ein-
bezogen.
In engem Zusammenhang mit Medienbildern stehen Stereotype. Walter Lipp-
mann, der durch sein Werk Public Opinion von 1922 entscheidend dazu bei-
getragen hat, den aus der Druckersprache stammenden Fachbegriff zu einem
gesellschaftspolitisch und sozialwissenschaftlich relevanten Terminus werden zu
lassen, definierte Stereotype als „pictures in our head“ (Lippmann 1945, S. 3).
Stereotype sind aber nicht nur kognitive Schemata oder wie Mitchell (2008) in
seiner Auseinandersetzung mit dem Bild-Begriff schreibt „geistige“ Bilder, son-
dern ebenfalls konkrete, materielle (Sprach-)Bilder in den Medien, die sowohl im
Text als eben auch durch ein einzelnes Bild (Foto, Karikatur) oder eine Bildfolge
(Comic, Filmsequenz) vermittelt werden. Sie sind perzeptuelle wie materielle,
individuell wie sozial reproduzierte, sprachlich fassbare Bilder. Entscheidend ist
die auffallend häufige Wiederholung bestimmter Bildinhalte und -kompositionen,
Settings und Zeitpunkte. Mediale Altersstereotype geben uns dementsprechend
immer wieder dasselbe und auf wenige Merkmale beschränkte Bild vom Alter zu
sehen.
Zu jung, um alt zu sein? Visiotype der Best Ager … 173
Ein erstes wichtiges Ergebnis der Studie lautet, dass ältere Menschen rein quan-
titativ in Printmedien und dort vor allem in redaktionellen Beiträgen durchaus
präsent sind. Schließlich sind diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht
sitzen, ganz überwiegend älter als 55 Jahre. 2015 und 2016 fanden sich in den
untersuchten Zeitungen und Zeitschriften zahlreiche Bilder von Hillary Clinton,
Angela Merkel, Donald Trump, Werner Faymann und 2016, bedingt durch die
anstehende Wahl des/der österreichischen BundespräsidentIn, Bilder der Kandi-
dat/innen Andreas Khol, Irmgard Griss oder Alexander van der Bellen – alle älter
als 65 Jahre. Doch spielte in den dazugehörigen Beiträgen das Thema Alter größ-
tenteils keine Rolle. Diese Bilder älterer, prominenter Spitzenpolitiker/innen oder
Unternehmer/innen wurden dann für unsere Untersuchung nicht berücksichtigt.
In die Stichprobe gelangten damit nur visuelle Repräsentationen älterer Men-
schen, wenn zugleich das Thema Alter angesprochen war. So bestand die Stich-
probe aus insgesamt 117 Bildern, die redaktionelle Beiträge (69) oder Leserbriefe
(2), in denen es (auch) ums Thema Alter(n) geht, illustrieren, und 46 Anzeigen,
die mit Jungen Alten für Produkte und Dienstleistungen werben.
Identifiziert werden konnten sieben (I-VII) Bildtypen, wobei einschränkend
vorauszuschicken ist, dass bei der Typenbildung inhaltliche und kontextuelle
Gemeinsamkeiten im Vordergrund standen, während die individuellen Besonder-
heiten des Einzelbildes z. T. vernachlässigt wurden. Für die Illustrierung hier
wurden bewusst auch unterschiedliche Bildmotive innerhalb eines Bildtyps
zusammengestellt wie gleich das erste Beispiel belegt.
Zu jung, um alt zu sein? Visiotype der Best Ager … 175
4.2
Junge Alte beugen vor
4.3
Junge Alte als glückliche Paare
Junge Alte sind nicht allein. Sie treten bevorzugt paarweise auf oder eingebunden
in soziale, vor allem familiäre Strukturen. Die Paardarstellungen sind unter
Berücksichtigung von Positionierung im Raum, Größenverhältnisse, Blick-
richtungen, Beschützergesten, Berührungen höchst konventionell. Sie stützen das
„kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984, S. 83),
blenden andere als heterosexuelle Lebensformen und auch das Single-Sein im
Alter aus (Abb. 3).
Abb. 3 Junge Alte als glückliche Paare. (Krone, 24.03.2016; Krone 31.03.2015)
Zu jung, um alt zu sein? Visiotype der Best Ager … 177
4.4
Junge Alte in Bewegung
Auffällig ist, dass die jungen Alten häufig draußen, unterwegs und in Bewegung
gezeigt werden. Sie sitzen nicht etwa passiv im Lehnstuhl, sondern reisen, trei-
ben Sport, sind aktiv und übernehmen dadurch eine Vorbildfunktion. Der
Appellcharakter wird insbesondere in den redaktionelle Beiträge zum Thema
Gesundheit illustrierenden Bildern sehr deutlich, wie das Beispiel aus der Kronen
Zeitung (s. Abb. 4) belegt.
4.5
Junge Alte und das liebe Geld
Finanzielle Vorsorge und Geldanlage sind Themen, bei denen Junge Alte Seriosi-
tät und Verlässlichkeit verkörpern. Ihnen kann man in Geldangelegenheiten ver-
trauen. Sie verfügen über Erfahrung, die sie an die nachfolgenden Generationen
weitergeben. Wenn aber die angeblich sicheren Geldanlagen doch nicht für ein
Leben in Luxus sorgen sollten, bleiben immer noch Casinos, Lotterien, Glücks-
spiel. Die berechtigte Sorge vor Altersarmut wird hier weggelacht. Zu sehen sind
Junge Alte als Gewinner/innen (Abb. 5).
4.6
Junge Alte und Arbeit
Doch anders als die Werbung verheißt, müssen nicht wenige ältere Menschen
auch im Alter noch Geld verdienen, weil ihre Renten nicht reichen. Ein Bild-
typus, der stark vertreten war und deutlich häufiger bei redaktionellen Beiträgen
als in Anzeigen vorkam, ist der, der Junge Alte im Zusammenhang mit Arbeit
178 M. Thiele und H. Atteneder
Abb. 5 Junge Alte und das liebe Geld. (Standard, 26./27.03.2016; Standard, 29.03.2016)
zeigt. Diese Darstellungen variieren. Zu sehen sind zum einen ältere Menschen
bei der Arbeit, die jüngeren etwas erklären. Hier wird auf visueller wie auf tex-
tueller Ebene die Berufserfahrung Älterer positiv dargestellt. Häufig lächeln
die Gezeigten und es finden sich in den Texten dazu passend Aussagen über die
Erfüllung, die Berufstätigkeit bedeutet, und das Glück, auch dann noch weiter
zu arbeiten, wenn eigentlich schon das Pensionsalter erreicht ist. Zum anderen
wird aber auch thematisiert, dass die Arbeitslosigkeit unter älteren Arbeitnehmer/
innen überdurchschnittlich hoch ist. Bebildert werden solche Beiträge durch Info-
grafiken, auch durch Karikaturen, vor allem aber Darstellungen, die Ältere im
Bewerbungsgespräch oder bei der Weiterbildung zeigen (s. Abb. 6).
4.7
Junge Alte und neue Medien
Zur Weiterbildung bzw. dem lebenslangen Lernen gehört, sich mit Digitalisie-
rung und sogenannten neuen Medien auseinander zu setzen. In den untersuchten
Printmedien finden sich zahlreiche Beiträge und Bilder, die Junge Alte mit neu-
ester Technik zeigen (s. Abb. 7). Die Botschaft ist eindeutig. Wer nicht zum
alten Eisen gehören will, muss über ein Smartphone, Tablet, mindestens PC mit
Zu jung, um alt zu sein? Visiotype der Best Ager … 179
Abb. 6 Junge Alte und Arbeit. (SN, 02.03.2016; SN, 05.03.2015; Krone, 21.03.2015)
Abb. 7 Junge Alte und Neue Medien. (Krone, 07.03.2015; Krone, 27.03.2016)
5 Kritische Reflexion
Die hier vorgestellten Bildtypen basieren wie zu Beginn des Abschnitts erwähnt
vor allem auf kontextuellen Gemeinsamkeiten. Bildtypen abstrahieren und fas-
sen die wesentlichen Aussagen, die durch bestimmte Bilder getroffen werden,
zusammen. Im Einzelnen können sich die zu einem Typus zusammengefassten
Bilder und Bildmotive daher durchaus unterscheiden.
180 M. Thiele und H. Atteneder
Was alle in die Stichprobe gelangten Bilder eint ist, dass sie eine bestimmte
Altersgruppe zeigen, nämlich Junge Alte. Sie treten jedoch in unterschiedlichen
Kontexten auf. So ist bei Typ I der Status (Prominenz, Showbusiness) einend, bei
Typ II das mit einem Produkt oder einer Lebensweise verbundene Versprechen
von Jugendlichkeit, bei Typ III die Darstellung Junger Alter als Paar, bei Typ IV
die Darstellung Junger Alter draußen, außer Haus und in Bewegung, bei Typ V
die Frage nach der finanziellen Situation, bei Typ VI die nach Erwerbsarbeit im
hohen Alter, bei Typ VII die des Umgangs mit Medien. Damit ist lediglich eine
erste, recht grobe Typisierung nach Kontexten und z. T. Bildinhalten gelungen.
Innerhalb dieser Bildtypen wären nun noch einmal Unterscheidungen und Grup-
pierungen denkbar, wobei Kriterien wie Größenverhältnisse, Nähe und Distanz,
Platzierung im Raum, Symbole, etc. aber auch weitere mit Alter verbundene
soziale Kategorien wie Geschlecht, Körperlichkeit, Ethnie und Klasse berück-
sichtigt werden müssten.
Denn der Vielzahl und Verwobenheit sozialer Kategorien wird sowohl in
Journalismus und Werbung als auch in der Alter(n)sforschung bislang wenig
Rechnung getragen, obwohl bereits seit den 1970er Jahren auf den „double
standard of aging“ (Sontag 1972) und die „Feminisierung des Alters“ (Nieder-
franke 1999, S. 10; Blitzko-Hoener und Weiser 2012, S. 120) hingewiesen
wurde. Mike Featherstone und Andrew Wernick betonten in der Einleitung zu
Images of Aging (1995) die Wichtigkeit der vernachlässigten Kategorie Körper
und beklagten ein Theoriedefizit in der Alter(n)sforschung: „It is true to say that
aging is about the body, yet in the study of aging we often lose sight of the lived
body. Previous works have tended to concentrate on a gruesome cartography of
aging infirmities, or on policy developments. The result of this has been to make
gerontology and the study of aging data rich and theory poor“ (Featherstone und
Wernick 1995).
Die Liste der zu wenig beachteten und mit Alter verschränkten sozialen Kate-
gorien ist lang. Zu nennen wären neben Geschlecht und Körper, Gesundheit,
sexuelle Orientierung, Ethnizität und – gerade auch im Hinblick auf die Ent-
deckung der Best Ager als werberelevante Zielgruppe – Beruf, Bildung, Klasse
und Einkommen. So sollte die Forschung zu Alter und speziell auch zu media-
len Repräsentationen von Alter einen theoretischen Schub durch intersektionale
Ansätze (Winker und Degele 2009) erhalten und Alter tatsächlich als „perspekti-
visches Konstrukt, dessen jeweiliger Definitionsbereich außerordentlich flexibel
ist, und durch situative Faktoren bestimmt wird“ (Thimm 2000, S. 16) begriffen
werden.
Zu jung, um alt zu sein? Visiotype der Best Ager … 181
6 Fazit
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Gesundheit, Lebensstil und Subjektives
Wohlbefinden aus ökonomischer
Perspektive
Hannes Winner
Zusammenfassung
Der Zusammenhang zwischen dem Lebensstil, Gesundheit und Glück betrifft
eine genuin ökonomische Fragestellung und ist auch gesundheitspolitisch von
hoher Relevanz. Der vorliegende Beitrag thematisiert diesen Zusammenhang
aus theoretischer und empirischer Perspektive. Der Lebensstil wird auf das
Bewegungsverhalten eingeschränkt. Theoretisch lässt sich zeigen, dass Bewe-
gung direkt oder indirekt den Nutzen eines Individuums und damit das sub-
jektive Wohlbefinden beeinflusst. Neben diesem Wirkungsmechanismus lassen
sich auch andere Zusammenhänge ableiten, welche aus empirischer Sicht zur
Konsequenz haben, dass eine eindeutige Kausalität zwischen dem Lebensstil
und dem subjektiven Wohlbefinden kaum nachweisbar ist. Der Beitrag dis-
kutiert die damit verbundenen Probleme und Möglichkeiten für die weitere
empirische Forschung.
Schlüsselwörter
Lebensstil · Bewegung · Gesundheit · Subjektives Wohlbefinden · Nutzen ·
Kausalität · Identifikation
H. Winner (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: hannes.winner@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 185
M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_12
186 H. Winner
1 Einleitung
„Der Sinn des Lebens besteht darin, glücklich zu sein.“ Viele Menschen würden
diese Meinung teilen. Weitaus stärker dürften die Ansichten in der Frage ausei-
nandergehen, welche Faktoren – etwa Gesundheit, Beruf oder Familie – für die
persönliche Lebenszufriedenheit ausschlaggebend sind und welche Bedeutung
dabei materielle Werte wie Einkommen oder Vermögen einnehmen (Lazear
2011). Ebenso umstritten dürfte sein, ob tatsächlich „jeder seines Glückes
Schmied“ ist und ob das subjektive Wohlbefinden sich durch eine Änderung von
Lebensgewohnheiten beeinflussen lässt.1
Im Folgenden wird aus einer ökonomischen Perspektive der Zusammenhang
zwischen subjektivem Wohlbefinden (SWB), Gesundheit und Lebensstil beleuch-
tet. Ökonomisch ist diese Thematik aus zwei Gründen von Interesse: Erstens ver-
steht sich die Ökonomik als Wissenschaft, die individuelles Verhalten zu erklären
versucht und, darauf aufbauend, Aussagen über die gesellschaftliche Wohlfahrt
im Sinne des Lebensstandards ihrer Gesellschaftsmitglieder trifft. Persönliches
und gemeinschaftliches Wohlbefinden sind damit genuin ökonomische Erkennt-
nisinteressen. Sie gehen weit über den Konsum von Gütern hinaus, worin man die
postmoderne Komponente des persönlichen Glücksgefühls sehen mag. Zweitens
zielen gesellschaftliche Maßnahmen („Eingriffe“) häufig auf Veränderungen von
Lebensgewohnheiten. Neben den Standardinstrumenten der Verbote (z. B. Rauch-
verbot) und Steuern (z. B. Alkoholabgaben) reicht etwa in der Gesundheitspoli-
tik das Spektrum von Eingriffen von Selbstbehalten in der Krankenversicherung
über die unentgeltliche Bereitstellung von Vorsorgeuntersuchungen bis zu (pri-
vaten und staatlichen) „Stubsern“ („Nudges“), welche ein gesundheitsbewusstes
Verhalten fördern sollen (Thaler und Sunstein 2008). Derartige Eingriffe können
beträchtliche Wohlfahrtswirkungen zur Folge haben. Eine fundierte Kenntnis über
Ausmaß und Richtung von Wirkungszusammenhängen ist daher eine unerlässli-
che Grundlage einer effizienten Wirtschafts-, in diesem Fall Gesundheitspolitik.
Der vorliegende Beitrag zeigt in einem ersten Schritt, wie sich der Einfluss des
Lebensstils auf Gesundheit und SWB konsistent aus der ökonomischen Theorie
ableiten lässt (Abschn. 2). Aus Gründen der Überschaubarkeit wird der Lebensstil
auf das Bewegungsverhalten eingeschränkt,2 andere Lebensgewohnheiten, welche
z. B. in der Ernährung, dem Schlafverhalten oder dem Alkohol- bzw. Nikotinkon-
sum zum Ausdruck kommen, bleiben ausgeklammert. Im zweiten Schritt wird die
empirische Evidenz zu den Zusammenhängen zwischen Bewegung, Gesundheit
und SWB präsentiert (Abschn. 3). Angesichts des beträchtlichen Literaturum-
fangs, insbesondere zu den Gesundheitseffekten der Bewegung, beschränkt sich
die Auswahl der Beiträge auf gesundheitsökonomische Studien. Anhand dieser
wird anschließend ein Identifikationsproblem diskutiert, welches sich stellt, wenn
nicht nur Korrelationen, sondern auch (und vor allem) kausale Wirkungszusam-
menhänge interessieren (Abschn. 3). Eine Zusammenfassung mit schlussfolgern-
den Bemerkungen schließt den Beitrag.
2 Theoretischer Hintergrund
Der Einfluss des Lebensstils auf die Gesundheit und das subjektive SWB lässt
sich ökonomisch anhand eines Modells analysieren, in dem ein rational handeln-
des Individuum den Nutzen aus dem Konsum von Gütern maximiert. Rationali-
tät setzt voraus, dass die Präferenzen eines Individuums vollständig, transitiv und
monoton sind. Vollständigkeit bedeutet, dass ein Individuum alle Güterbündel
bewerten und vergleichen kann. Transitivität stellt entscheidungslogisches Han-
deln sicher: Falls eine Alternative A gegenüber einer Alternative B bevorzugt
wird, und diese wiederum einer Alternative C, so muss gelten, dass A gegenüber
C präferiert wird. Monotone Präferenzen implizieren, dass eine größere einer
kleineren Menge an Gütern vorgezogen wird (d. h. „mehr ist besser als weniger“).
Der Begriff des Gutes ist weit gefasst, d. h. nicht nur materielle, sondern auch
immaterielle Bedürfnisse wie Gesundheit, Freizeit oder Fairness gehen in den
Nutzen ein. Im Nutzen kommen persönliche Wertvorstellungen des Individuums
zum Ausdruck. Im Kontext des vorliegenden Beitrags kann können die Begriffe
des Nutzens und des SBW synonym verwendet werden.3
um die Annahme von fixen und variablen Kosten der sportlichen Betätigung. Ein
Beispiel für fixe Kosten wären Einschreibgebühren bei einem Laufwettbewerb,
während Ausgaben für die Ausrüstung variable Kosten darstellen. Mit der Unter-
scheidung zwischen fixen und variablen Kosten ist es möglich, zwei Entschei-
dungen zu separieren: die Entscheidung, einer sportlichen Tätigkeit nachzugehen
(Ja/Nein-Entscheidung, sog. extensiver Rand) und jene, welche das Ausmaß der
Bewegung bestimmt (intensiver Rand). Ein Ergebnis des Modells ist, dass die
Entscheidung am extensiven Rand positiv und die Entscheidung am intensiven
Rand negativ vom Einkommen bestimmt werden. Eine Ausnahme bilden Meltzer
und Jena (2010), die auf den investiven Charakter der Bewegung fokussieren und
in Bezug auf die Bewegungsintensität (intensiver Rand) ein gegenteiliges Ergeb-
nis finden.
Downward et al. (2009) fokussieren auf die Haushaltsproduktion, um Netz-
werkeffekte des Bewegungsverhaltens zu untersuchen. Die individuelle Entschei-
dung zur sportlichen Aktivität hängt demnach von der Haushaltsorganisation und
vom Nachfrageverhalten der anderen Haushaltsmitglieder ab. Die Autoren zeigen,
dass die individuelle Bewegungsentscheidung wesentlich vom sozialen Umfeld,
d. h. den Entscheidungen der anderen Haushaltsmitglieder bestimmt wird. Dies
ließe sich mit den Kosten der sportlichen Betätigung begründen, die umso gerin-
ger sind, je mehr Haushaltsmitglieder ceteris paribus einer sportlichen Betätigung
nachgehen (z. B. könnten Informations- oder Transportkosten sinken oder inner-
halb der Familie sportspezifisches Wissen leichter weitergegeben werden). Eine
alternative Erklärung wären Peergruppen-Effekte, wonach der individuelle Nut-
zen der gemeinsamen sportlichen Betätigung größer ist als die Summe der Nut-
zen einer isolierten Wahrnehmung der sportlichen Aktivität. Diese Interpretation
scheint durch empirische Studien bestätigt, die zeigen, dass soziale Netzwerke
einen maßgebenden Einfluss auf die Nachfrage nach sportlichen Aktivitäten aus-
üben (eine Übersicht über diese Literatur geben Cabane und Lechner 2015).
Neben den bislang beschriebenen Modelltypen existieren Theorien aus der
verhaltensorientierten Ökonomik, welche die Annahme rationaler Individuen
aufgeben. Entscheidungen am extensiven und intensiven Rand des Bewegungs-
verhaltens werden in dieser Literatur nicht durch die Opportunitätskosten der
Freizeit, sondern durch das soziale Umfeld erklärt (Downward 2007). Beiden
Theoriesträngen gemeinsam ist hingegen die Betonung von sozio-ökonomischen
Faktoren wie Bildung, Alter oder Geschlecht.
190 H. Winner
3 Empirische Evidenz
Die ökonomische Literatur, die sich empirisch mit dem direkten Zusammen-
hang zwischen Bewegung und SWB beschäftigt, ist relativ jung. Huang und
Humphreys (2012) zeigen unter Nutzung eines Datensatzes von 1,5 Mio. Perso-
nen aus den USA einen positiven Zusammenhang zwischen Bewegung und SWB,
der durch einen verbesserten Gesundheitsstatus moderiert wird und bei Männern
stärker als bei Frauen ausgeprägt ist. Die Kontrollvariablen inkludieren persön-
liche Charakteristika wie Geschlecht, Alter, Bildungs- und Berufsstand oder die
ethnische Zugehörigkeit der Befragten. Ruseski et al. (2014) beziehen sich auf
Befragungsdaten der Stadt Rheinberg am Niederrhein und finden ebenfalls signi-
fikant positive Effekte der Bewegung auf das SWB. Rasciute und Downward
(2010) greifen auf Befragungsdaten aus dem Vereinigten Königreich zurück, dif-
ferenzieren in ihrer Analyse aber zwischen der Motivation und Art der körperli-
chen Betätigung (Radfahren, Wandern und andere Tätigkeiten). Ihre Ergebnisse
legen nahe, dass Bewegung, die aus Gründen der Erholung und der Verbesserung
des Gesundheitszustandes getätigt wird, positive Effekte auf das SWB induziert.
Im Gegensatz dazu verschlechtert Radfahren das SWB insbesondere dann, wenn
es durch das Motiv begründet wird, die Wegstrecke zwischen Wohn- und Arbeits-
platz zurückzulegen. Die Autoren erklären dies mit Verkehrsrisiken, die mit dieser
Art der Fortbewegung verbunden sind.
In den meisten Studien wird Bewegung als Indikatorvariable operationalisiert,
die einen Wert von Eins annimmt, wenn innerhalb eines bestimmten Zeitraumes
einer sportlichen Betätigung nachgegangen wird (andernfalls Null). Wicker und
5Weniger berücksichtigt werden spezifische Beiträge aus der Medizin, der Psychologie,
Soziologie oder den Sportwissenschaften. Einen umfassenden Überblick über diese Litera-
tur geben Warburton et al. (2010) oder Reiner et al. (2013).
192 H. Winner
Zu den Effekten der Bewegung auf den Gesundheitsstatus liegt eine umfangrei-
che Literatur aus der Medizin, den Sportwissenschaften und der Gesundheitsöko-
nomik vor. Der sportlichen Aktivität werden dabei durchwegs positive Effekte
zugeschrieben. Dies trifft auf den allgemeinen Gesundheitszustand (gemessen
im Körpergewicht, Blutdruck oder Blutzuckerwerten), aber auch auf spezifische
Krankheitsbilder wie Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes (Typ 2), Asthma
oder Alzheimer bzw. Demenz zu (Reiner et al. 2013, Sarma et al. 2014, McLeod
und Ruseski 2015). Hinzu kommen präventive Wirkungen der körperlichen Betä-
tigung (Sari 2011, 2013).
Am stärksten treten gesundheitsfördernde Effekte bei Patientinnen zutage,
welche sich wenig körperlich betätigen. Je höher demnach die Bewegungsinten-
sität ist, desto weniger scheinen die Vorteile der sportlichen Aktivität zu wirken
(Sari 2009, 2013; Humphreys et al. 2014). Dieser Befund scheint auf abneh-
mende Grenzerträge der Bewegung hinzuweisen, was im Einklang mit der ökono-
mischen Theorie steht.
Empirische Arbeiten, die den indirekten Nutzen der Bewegung betonen, implizie-
ren einen systematischen Wirkungszusammenhang zwischen dem Gesundheits-
zustand und dem SWB. Dieser Effekt ist in der empirischen Literatur umfassend
belegt (Angner et al. 2009; Breslin et al. 2013), insbesondere für Übergewicht und
SWB (Blaine et al. 2007). Neben dieser Literatur existieren aktuellere Beiträge,
welche die Richtung der Kausalität umkehren und der Frage nachgehen, ob der
Gesundheitszustand systematisch durch das SWB beeinflusst wird. Lawrence
et al. (2015) untersuchen anhand einer Befragung aus den Vereinigten Staaten zwi-
schen 1978 und 2002 den Zusammenhang zwischen dem SWB und der Mortalität
(33.000 Befragte, wovon im Beobachtungszeitraum etwa 9000 Personen verstor-
ben sind). Die Autoren kontrollieren u. a. auf den Familien- und Beschäftigungs-
status, Einkommen oder Ausbildung und finden einen signifikant positiven Effekt
Gesundheit, Lebensstil und Subjektives Wohlbefinden aus … 193
des SWB auf die Mortalität (Veenhoven 2008 gibt einen Überblick über frühere
Beiträge). Liu et al. (2016) nutzen eine groß angelegte Befragung von Brust-
krebspatientinnen im Vereinigten Königreich zwischen 1996 und 2001 (1,3 Mio.
Frauen), bei der auch das SBW abgefragt wurde. Die Autoren können die Ergeb-
nisse von Lawrence et al. (2015) nicht bestätigen und finden insignifikante Effekte
des SWB auf Mortalität. Zwar besteht im Rohdatensatz ein Zusammenhang zwi-
schen SWB und Gesundheit. Dieser verschwindet aber, sobald auf das individuelle
Krankheitsbild, persönliche Charakteristika und dem Lebensstil (Rauchen, Body-
Mass-Index und Bewegung) kontrolliert wird.
Die Gemeinsamkeit der in den Abschn. 3.1 bis 3.3 präsentierten Literatur besteht
darin, dass – je nach empirischem Modell – die zu erklärende Größe (SWB oder
Gesundheit) eine lineare Funktion einer interessierenden Variable (Bewegungs-
verhalten oder Gesundheit) und weiterer Kontrollvariablen darstellt. Die zu inte-
ressierende Variable erhält dadurch eine ceteris paribus Interpretation, was unter
bestimmten Voraussetzungen einen Kausalzusammenhang impliziert (Angrist und
Pischke 2009, S. 51 ff.). Eine Voraussetzung ist etwa, dass das empirische Modell
saturiert in dem Sinne ist, als keine wichtigen Erklärungsgrößen fehlen (omitted
variables). Fehlende Variablen sollten darüber hinaus nicht simultan die abhän-
gige und zu interessierende Variable beeinflussen (Störfaktor oder confounder).
Weiters sollten keine wie die in Abschn. 3.3 beschriebenen umgekehrten Kausali-
täten auftreten. Eine spezifische Form einer umgekehrten Kausalität könnte auch
darin bestehen, dass Individuen mit höherem SWB sich systematisch in sportli-
che Aktivitäten selektieren (Stubbe et al. 2007). Alles in allem deutet die in den
Abschn. 3.1 bis 3.3 aufgezeigte Evidenz auf wechselseitige Beziehungen zwi-
schen Bewegung, Gesundheit und SWB hin, sodass standardmäßige Regressio-
nen zu verzerrten Schätzergebnissen führen und die ermittelten Zusammenhänge
kausal nicht interpretierbar sind.
Die empirische Literatur hält jedoch Verfahren bereit, die es erlauben, selbst
dann kausale Beziehungen zu identifizieren, wenn die o. g. Bedingungen nicht
erfüllt sind.6 Eine Lösungsmöglichkeit besteht beispielsweise in randomisierten
6Der Teilbereich der empirischen Wirtschaftsforschung (Ökonometrie), der sich mit der
Identifikation von Kausalzusammenhängen beschäftigt, wird als Programmevaluierung
bezeichnet.
194 H. Winner
7Stubbe et al. (2007) verwenden Informationen von Zwillingen aus den Niederlanden im
Alter zwischen 18 und 65 Jahren und vergleichen innerhalb dieser Gruppe Personen, die
Sport betreiben mit jenen, die keine körperliche Betätigung ausüben. Damit sind sie in der
Lage, auf persönliche Charakteristika weitgehend zu kontrollieren. Allerdings erfolgt die
Zuweisung des Treatments nicht per Zufall, sodass die Studie kein echtes randomisiertes
Experiment darstellt.
Gesundheit, Lebensstil und Subjektives Wohlbefinden aus … 195
und die Antwort auf die Frage, wie wichtig körperliche Betätigung ist. Die Autoren
können zeigen, dass diese Variablen signifikant mit dem individuellen Bewegungs-
verhalten korreliert sind (erste Voraussetzung für die Validität des IV-Schätzers).
Die zweite Voraussetzung des IV-Schätzers (Unkorreliertheit der Erreichbarkeits-
variable mit dem SWB) lässt sich hingegen nicht testen, sondern nur anhand von
Plausibilitätsannahmen argumentieren. Diese sind aber im Falle der Erreichbarkeit
hinterfragungswürdig, weil eine gut ausgebaute Sportinfrastruktur die Wohnent-
scheidung determinieren und somit ein Selektionsproblem vorliegen könnte. Damit
wäre der IV-Schätzer nicht länger verzerrungsfrei. Vielversprechender erscheint der
Ansatz, das soziale Umfeld als Instrument zu verwenden, was sich stärker durch die
in Abschn. 3 diskutierte verhaltensorientierte Literatur motivieren ließe. Demnach
wird die individuelle Entscheidung zur Ausübung einer sportlichen Betätigung vom
Bewegungsverhalten der anderen Haushaltsmitglieder bestimmt (Dzien et al. 2017).
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