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Er lancierte den E-Bike-Boom


Philippe Kohlbrenner, ein Tüftler aus dem Emmental, stürzte mit dem ersten
Flyer ab. Heute produziert er wieder E-Bikes.

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Manche Kunden schicken ihm Postkarten, andere schauen in der alten Mühle vorbei: Philippe
Kohlbrenner in seinem Reich in Häusernmoos. Bild: Nicole Philipp (6 Bilder)
Christof Gertsch
Das Magazin
@christofgertsch ABO+ 07:19

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In einer alten Mühle in Häusernmoos, tief in den Hügeln des Emmentals, befindet sich der
Sitz eines Familienbetriebs, dessen E-Bike-Modelle wegen des klobigen Akkus vielleicht
nicht so schön wie bei der Konkurrenz aussehen, dafür aber eine ganz besondere Eigenschaft
aufweisen: Mit nur einer Batterieladung kann man bis fast ans Mittelmeer fahren.

Von aussen deutet nichts auf die Firma hin, kein Wegweiser, keine Leuchtreklame. Und wenn
man die alte Mühle betritt, fühlt man sich auch nicht in einer Werkstatt, sondern in einem
Wohnzimmer: Küche und Esstisch nehmen den halben Raum ein, überall stehen Pflanzen.
Durch das grosse Fenster hinter der Werkbank sieht man den Garten, wo alles wächst, was es
zu Mittag gibt. Jeden Tag kocht ein anderer Angestellter.

Fünf, sechs Leute arbeiten hier, darunter das Inhaber-Ehepaar, dessen Sohn und der Freund
der Tochter. Philippe Kohlbrenner, 56 Jahre alt, mit Hemd und Gilet, sagt, sie könnten viel
mehr Elektrovelos verkaufen, sie bräuchten nur etwas Werbung zu machen. Doch das will er
gar nicht. «Nur nicht übers Ziel hinausschiessen», sagt er.

Die Idee kam ihm zu früh

Er weiss, wie es ist, wenn Träume in den Himmel wachsen: Sie fallen allzu schnell zurück auf
den Boden der Realität. Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass er schon einmal eine Firma
gründete, die BK Tech. Doch sie machte Pleite. Und das E-Bike, das er entwickelt hatte, trat
ohne ihn den Siegeszug an.

Inzwischen verkündet die Branche jedes Jahr neue Rekordzahlen, auch in der Schweiz. 2016
wuchs der E-Bike-Markt um 14,1 Prozent, 2017 um 16,3 Prozent, 2018 sogar um 26,9
Prozent. Für 2019 liegen die Zahlen noch nicht vor, man rechnet aber mit einer Steigerung im
hohen einstelligen Prozentbereich. Bereits jedes dritte verkaufte Velo ist ein Elektrovelo.

Kohlbrenners Problem war, dass er seine Idee zu früh hatte. Er stand am Ursprung des E--
Bike-Booms und erlebte das klassische First-Mover-Dilemma: Wer als Erster eine
Geschäftsidee hat, ist nicht unbedingt der Erfolgreichste – sondern häufig der Wegbereiter für
den Second Mover.

«Ich musste akzeptieren, dass ich fürs Velofahren nicht geschaffen bin.»Philippe Kohlbrenner
über seine Erfahrungen als Lehrling

Zwar reicht die Historie des Elektrovelos bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurück, doch 100
Jahre später war die Entwicklung noch immer kaum vorangeschritten. Es gab einfach keine
gute Lösung für die Speicherung von elektrischer Energie, wenn der Antrieb unabhängig von
Kabelnetzen funktionieren sollte. Stattdessen hatte sich der Benzinmotor durchgesetzt, auch
bei Zweirädern.

Philippe Kohlbrenner wollte weder Auto noch Töffli fahren. Es waren die frühen 90er-Jahre,
er lebte auf der Lueg und arbeitete nach Ausbildungen zum Werkzeugmacher und zum
Maurer bei einem Energietechnikunternehmen in Oberburg, wo er Solaranlagen plante. Jedes
Mal, wenn er auf dem Heimweg mit dem Velo den steilen Hügel hochfuhr, hoffte er, dass es
mit zunehmender Übung leichter würde. «Doch ich musste akzeptieren, dass ich fürs
Velofahren nicht geschaffen bin.»

Aber hatte er als Kind nicht Erfinder werden wollen? Im Schopf begann er zu tüfteln. Bald
präsentierte er seiner Familie sein umgebautes Coronado-Rad. Im Rahmendreieck steckte eine
Autobatterie, darunter war der Scheibenwischermotor eines Lastwagens montiert, der über ein
Zahnrad in die Kette griff. Starten liess sich der Motor über einen Kippschalter am Lenker,
ein herkömmliches Strommessgerät kontrollierte die Leistung.

Das war der «Rote Büffel», wie Kohlbrenner ihn nannte. «Keine Schönheit», sagt er heute,
«auch nicht besonders nützlich.» Wegen der ruppigen Fahrweise und der Batteriesäure, die
Löcher in seine Hosen frass, stellte er den Gebrauch des Büffels bald ein. «Das kann ich
besser!», dachte er.

Der Inbegriff eines E-Bikes

Auch anderswo auf der Welt entstanden in jener Zeit Vorläufer des E-Bikes, aber
Kohlbrenners Rolle war besonders prägend. Aus seinem Prototyp erwuchs bald
Wegweisendes: der Flyer, bis heute für viele der Inbegriff eines E-Bikes. Es war das weltweit
erste Elektrovelo, das im Agglomerationsverkehr tatsächlich eine Alternative zum Auto bot.
Ein Ungetüm mit einer 12,5-Kilo-Batterie, aber fähig zu Geschwindigkeiten von über 35
km/h.

Das war 1995, vor einem Vierteljahrhundert, das Gründungsjahr der BK Tech. Kohlbrenner
hatte sich mit zwei Freunden zusammengetan, einem Elektroingenieur und einem
Betriebswirt. Das Ziel: ein Elektrofahrrad mit dem Tretgefühl eines herkömmlichen Velos
entwickeln. Es herrschte Start-up-Groove: Die Belegschaft wuchs, die Motoren wurden in
aufwendiger Kleinstarbeit von Hand gefertigt, und für den Transport der in Frankreich
hergestellten Rahmen organisierte man bei einem Bauern einen Ladewagen.

Der erste Serientyp, der Flyer Classic, wurde auf Vorbestellung produziert, er verkaufte sich
über 600-mal. Ein Erfolg, der Riesenhoffnungen schürte. Auf einen bedeutenden
Jungunternehmerpreis folgte der Einstieg zweier Grossinvestoren, Phonak-Gründer Andy
Rihs und Swatch-Erfinder Ernst Thomke. 2 Millionen Franken kamen zusammen, die besten
Fachleute der ETH stiessen zur Firma, man dachte: Der Flyer würde zum Überflieger.
Doch etwas ganz anderes geschah. Ein Velo mit Elektromotor? Die Leute lachten. Als
Kohlbrenner und seine Mitstreiter merkten, dass sie vor Begeisterung nicht überlegt hatten,
wie man der potenziellen Käuferschaft die Vorzüge des Flyers erklärt, war es zu spät: hohe
Herstellungskosten, miserable Verkaufszahlen. Die Investoren verloren die Geduld, 2001 ging
die BK Tech in Konkurs.

Neustart mit älteren Kunden

Philippe Kohlbrenner, der selbst 70’000 Franken investiert hatte, wechselte in die Medizinal-
technik. Die Firma Biketec, die aus der BK-Tech-Konkursmasse auferstand, setzte ohne ihn
zum Durchbruch an: In den 2000er-Jahren wurde der Flyer zum gefragten Produkt. Auch weil
die neuen Verantwortlichen einen zentralen Fehler behoben: Sie machten E-Bikes nicht für
Jüngere, sondern für Seniorinnen und Pensionierte.

So richtig kam das E-Bike in den 2010er-Jahren in Fahrt, dank den Lithiumbatterien. Sie sind
leichter und bis zu zehnmal leistungsfähiger als die Akkus bei den Modellen aus
Kohlbrenners Anfängen. Da verspürte auch er wieder Lust, im Jahr 2011. Eine letzte Idee
hatte er noch, und bis zur Pensionierung im Anzug zur Arbeit gehen, wie es sein Arbeitgeber
von ihm erwartete, konnte er sich nicht vorstellen.

Nur wollte er sich diesmal nicht an das Gängelband von Investoren nehmen lassen, und mit
den Marktführern wollte er es auch nicht aufnehmen: Zu hoch, fand er, wäre der Kostendruck.
Darum die alte Mühle in Häusernmoos, diese Wohlfühloase, wie Kohlbrenner sagt: Weil er
dort jede Kundin und jeden Kunden persönlich beraten kann. Die Mehrheit stammt aus der
Region Bern, ins Ausland liefert er nicht.

Die Nachtschichten? Die Verluste? Das Scheitern? «Alles Vergangenheit.»

Doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim SpeedPed, seinem E-Bike,
um ein ausgereiftes Hightechprodukt handelt. «Alles selbst entwickelt!», sagt Kohlbrenner
stolz. 6000 Franken kostet es, ist teurer als viele Konkurrenzmodelle, dafür seien der kleinere
Motor und der grössere Akku deutlich leistungsfähiger. Kohlbrenner weiss von Kunden, die
damit bereits mehr als 100’000 Kilometer zurückgelegt haben. Andere fahren bis ans
Nordkap, 250 bis 300 Kilometer am Tag, oder durchqueren China. Sie schicken Postkarten,
manche schauen auf dem Heimweg auch gleich selbst in der alten Mühle vorbei.

Denkt Kohlbrenner heute an seine Zeit mit dem Flyer, ist er stolz. Die Nachtschichten? Die
Verluste? Das Scheitern? «Alles Vergangenheit», sagt er. Ihm reicht, dass sich seine Tüftelei
mit Verspätung auch für ihn noch ausbezahlt hat, zumindest ein ganz klein wenig. Und dass
sich gelegentlich wieder jemand an seine Rolle in der Erfolgsgeschichte des E-Bikes erinnert.

Erstellt: 12.03.2020, 07:16 Uhr

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