WILLKOMMEN!
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KUHN
Krystyna Kuhn
BITTERSÜßES
ODER SAURES
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Biografie
Andere Werke
5
Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt. Dass ich
eine Familie habe. Einen Vater, eine Schwester...
Erst seit Kurzem weiß ich: Ich (15 ) bin die älteste
Tochter meines Vaters. Laura (13 ) ist die Tochter von
meinem Vater und Stephanie. Jo (18 ) ist der Sohn
5 von Stephanie.
Ja, ist alles ein bisschen kompliziert.
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7
Laura steht vor mir und dreht sich im Kreis.
»Wie sehe ich aus?«
»Gut!«
Sie ist ein hübsches Mädchen mit blonden Haa-
5 ren. Ihre Augen sind groß und blau. Sie ähnelt Ste
phanie. Alles an ihr ist zart.
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Sie springt auf mein Bett.
»Papa musste eure Wohnung auflösen. Er hat ge
sagt, deine Mutter hat keine Miete mehr bezahlt.
Seit Wochen nicht. Und du hast gar nicht gewusst,
dass sie so krank war?« 5
»Nein! Nein! Das hast du mich schon hundert
Mal gefragt.«
Sie spielt an meinem alten Kassettenrekorder her
um, der auf dem Nachttisch steht.
»Sie haben das Zimmer extra neu für dich einge- 10
richtet.«
Laura dreht sich auf die Seite. Sie stützt den Kopf in 20
die Hände und betrachtet mich.
»Findest du es nicht aufregend, eine neue Schwe
ster und einen neuen Bruder zu haben? Na ja. Ein
Bruder ist einfach nicht dasselbe. Jo ist so ... «
»Was?«, frage ich. 25
»Anstrengend, sagt Mama. Weil Jo immer alles
besser weiß. Er steckt seine Nase in Sachen hinein,
die Miete, Geld, das man jeden Monat für eine Wohnung zahlt
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die ihn nichts angehen. Wirst du noch merken. Oh,
manchmal ist er so gemein!«
»Mein Bruder ist er ja nicht!«, antworte ich kühl.
10
»Aber die ist so cool! Bitte, bitte, darf ich sie heu
te Abend anziehen?«
»Nein, die gehört mir nicht.«
»Wem denn?«
»Einem Freund.«
»Aha.« Sie lacht kurz. »Sag mal, wer ist eigentlich
Kim? Eine Freundin?«
Dann lässt sie die Jacke einfach zu Boden fallen.
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Ich greife nach der Lederjacke, vergrabe mein Ge
sicht darin. Mein Herz klopft vor eSch
I sch
ße die Augen und lasse die Tränen einfach kommen.
Ich erinnere mich an alles.
Es war ein schrecklicher Tag! 5
13
In der U-Bahn sagt Conni die ganze Zeit kein einzi
ges Wort. Kim und ich sehen uns an. Sie braucht ei
nen Schnaps, denke ich. Hoffentlich hält sie durch.
Wir sind ja bald zu Hause.
5 Connis Augen sind feucht. Komisch!
Noch komischer ist es, als wir vor dem Wohnblock
stehen: Sie nimmt mir die Reisetasche ab! Ausgerech
net Conni! Sonst tragen ihr sogar die alten Omas die
Tasche mit den Flaschen hoch.
10 Weil sie es selbst nicht mehr kann.
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deinen Koffer schon gepackt. Deine Mutter ... «
Mehr kann sie nicht sagen. Sie nimmt noch einen
Schluck und putzt sich die Nase.
So habe ich erfahren, dass Mami tot ist.
Ich liege auf dem Bett und höre Kims Musik. Er hat
sie mir auf Kassette aufgenommen.
Papa hat mir einen iPod geschenkt. Ich habe aber
das Ding noch nie benutzt. Auch nicht den Laptop. 15
Ich bin noch nicht so weit.
15
Gut, dass er nicht versucht, mit mir zu reden.
Meistens sagt er sehr wenig. Dann wieder kommen
tiert er alles mit einem ironischen Grinsen.
Das stört auch Papa. Das habe ich schon ge-
5 merkt.
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Ein totaler Kontrast!
Er kümmert sich wirklich um mich. Er gibt sich viel
Mühe. Ich kann ihn auch ganz gut leiden!
Okay, aus Stephanie werde ich nicht klug. Sie ist
nervös. Aber das kann man verstehen. Sie hat erfahren,
dass ihr Mann schon ein Kind mit einer anderen Frau
hat. Und dieses Kind zieht nun einfach bei ihr ein.
Laura kann einen nerven - aber ich glaube, dass
sie mich mag.
Nur Jo - da weiß ich nicht recht.
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fast sicher, dass am anderen Ende jemand war.
Mein Blick fällt auf die Fotos auf der Kommode.
Da steht auch eins von mir, sehe ich plötzlich. Von
mir und Mami.
Ich drehe mich schnell weg. Mein Herz klopft 5
heftig.
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Ich muss endlich aufhören, so viel nachzuden
ken. Mein Leben ist nun hier. Hier, in diesem Haus,
mit meiner neuen Familie.
Ich werfe einen Blick in den Spiegel. Kaltes Was-
5 ser in das blasse Gesicht tut gut.
»Bleib ruhig, Lena! Nur nichts anmerken lassen!«
20
die Narbe
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Schockiert sitze ich da. Warum sagt er das. Er weiß
also Bescheid. Aber wer hat es ihm erzählt?
»Zeig doch mal die Narben.« Er schaut auf mei
nen Unterarm. Ich schaue auch, erst auf ihn, dann
5 auf meinen Arm. Die Narben leuchten noch rot.
Aber es ist vorbei. Es ist ganz bestimmt vorbei!
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ersten Mal ritzte. Es war so eine Art der Panik. Es
wiederholte sich ein paar Mal.
Ich war - so nennt man das wohl - traumatisiert.
Meine Mutter war tot.
Ich hatte kein Zuhause mehr. 5
Vielleicht musste ich jahrelang im Heim bleiben.
Ich vermisste auch Kim ganz schrecklich.
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Seitdem habe ich mich unter Kontrolle.
peitschen, hier, wenn Wind und Regen mit großer Kraft gegen etwas
schlagen
24
Lange sitze ich da. Bewege mich nicht. Starre hin
aus in die dunkle Nacht.
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Plötzlich ist er da. Plötzlich kommt er aus der
Dunkelheit.
Oder steht er schon lange hinter mir?
»Mann, hast du mich erschreckt!«
»Sorry, aber ich wohne hier.« Er hält seine Auto- 5
Schlüssel in der Hand.
»Fährst du weg?«
»Brauchst du einen Babysitter oder was?« Er lä
chelt.
»Quatsch!« io
»Dann ist ja gut.«
»Wo gehst du hin?«
»Ich hab was vor«, ruft er.
Ich sehe ihm nach. Sehe, wie er das Auto auf
schließt, wie er einsteigt. Wie er ohne ein weiteres 15
Wort losfährt.
Ich bleibe zurück, allein.
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Im Hörer rauscht es. Die Stimme ist weit weg.
»Anna-Lena?«
Ein Stich in meiner Brust. Die Stimme kenne ich
doch.
5 »Ja?«, flüstere ich.
»Anna-Lena?«
Immer wieder dieses Rauschen. Und dann: »Ich
hab dich so lieb!«
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Bei der Erinnerung wird mir schlecht.
Warum habe ich geglaubt, dass sie tot ist? Ich
habe sie doch nie tot gesehen. Warum bin ich nicht
auf die Idee gekommen, sie anzurufen?
Ich wähle ihre Nummer.
Warte.
Presse das Telefon fest ans Ohr. Nichts ist zu hö
ren. Nicht einmal ein Rauschen.
»Kim ...«
»Was denn?«
10 »Da war ein Anruf... und ich glaube ... ich glau
be, es war Mama!«
Kim sagt nichts.
Hat er mich verstanden?
»Lena, deine Mutter ist tot!«
15 »Ich weiß, dass sie tot ist. Aber es war ihre Stim
me. Sie hat meinen Namen gesagt. Kim, kannst du
kommen? Ich brauche deine Hilfe.«
»Mann, ist ganz schön weit bis zu dir raus ... «
Ein Knacken in der Leitung.
20 »Hallo? Kim? Bist du noch dran?«
Keine Antwort.
»Kim?«
Ist das Telefon tot? Hat der Wind ...? Oder hat je
mand die Leitung durchgeschnitten?
25 Nein, Kim hat aufgelegt.
Ich starre aus dem Fenster. Der Wind jagt die dunk-
30
len Wolken über den Himmel. Hört der Regen nie
mals auf?
Denk an etwas anderes, Lena!
Die Stille im Haus. Kann man Stille hören?
Von der Stille kann man verrückt werden. Und 5
offenbar bin ich auf dem besten Wege dorthin.
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Wer kann meine Gedanken lesen?
Wer ist im Haus?
Auf dem Boden ist jetzt ein roter Fleck. Mein Blut!
Bald ist der ganze Flur voller Blut. Blut aus meinem
Körper.
Ich zittere. Meine Zähne schlagen laut aufeinander.
Ich kann nichts tun.
*
34
Ich stoße die Tür ganz auf.
»Ich spreche das auf Tonband. Damit du meine
Stimme nicht vergisst.«
Mitten im Raum stehen die Pappkartons. Die Kar
tons mit meinen Sachen, die mein Vater aus der 5
Wohnung geholt hat.
Sie sind alle geöffnet.
Von der Tür her erkenne ich Dinge, Kleidungs
stücke aus meinem alten Leben. Da ist der Schal,
den Mami gestrickt hat. Da ein Foto von Kim und 10
mir. Und die vielen Kassetten.
Mami - sie hat mir nie Zettel geschrieben. Sie hat
mir immer auf Band gesprochen.
Ich starre auf den Kassettenrekorder.
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Der Blick des Mädchens fliegt über meine Schulter
in Richtung Tür.
Schnell drehe ich mich um.
Laura! Sie steht da, ein Handy in der Hand.
5 »Was macht ihr hier? Wer hat euch erlaubt, in
meinen Sachen ü«,
n
zsch
m
eru ? schreie ich
wütend.
Laura sagt kein Wort. Sie sieht ängstlich aus.
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ne spöttisch. »Mann, war das gruselig, oder, Laura?
Die Stimme einer toten Mutter am Telefon. Ich lach
mich tot!«
Und sie lacht laut. »Das ist das Beste, was ich er
lebt habe!«
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Laura hat also alles ihrer Freundin erzählt.
Dass Mami tot ist, ist hart. Aber ich bin auch wütend
auf sie. Immer noch. Warum hat sie mir nicht er
zählt, wie krank sie war? Warum habe ich nicht ge
sehen, wie schlecht es ihr ging? Nach der Chemo.
10 Von der Klassenfahrt aus habe ich zu Hause ange
rufen. Aber sie hat nicht abgenommen. Vielleicht ist
sie einkaufen, habe ich gedacht.
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39
»Wer ist das?«, fragt Laura.
»Lena, wo bist du? Geht es dir gut?«
Ich lasse das Messer fallen, laufe aus dem Zim
mer, die Treppe hinunter, durch den Flur.
5 Dann lande ich direkt in seinen Armen.
Arme, in denen ich mich sicher fühle.
Kim.
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»Ich wollte das nicht, ehrlich. Ich wollte das nicht.«
»Was denn? Hat es keinen Spaß gemacht?«, fragt
Jo.
»Nein!«
»Warum denn nicht?« 5
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»Ja«, sage ich mit fester Stimme, »oder was meinst
du, Laura?«
Mit ganz dünner Stimme murmelt sie: »Ja, alles in
Ordnung!«
***
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Sprachübungen
43
C. Jedes Wort an seinen Platz!
1 . hatte - ich - kein - mehr-Zuhause
2 . das - immer - klingelt - noch - Telefon
3 . auf - er - meinen - schaut - Unterarm
4 . ab - alle - fließen - meine - mir - Sorgen - von
5 . auf- Bett- dem - höre- ich - Kims -liege-
Musik - und
44
Fragen
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2 2 . Warum hatte ihre Mutter ihr keinen Brief ge
schrieben?
23. Was haben Laura und ihre Freundin gemacht?
24 . Warum haben sie das getan?
25 . Woher kennt Jo Kim?
26 . Weshalb weint Laura?
27. Warum verrät Lena nichts?
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