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Jost Müller

Mythen der Rechten


Die Mythen der Rechten sind über zwei Jahrhun-
derte hin im wesentlichen gleich geblieben. Be-
reits zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters sind
Nation, Volk und Kultur als ideologische Begriffe
in das konservative Arsenal der Gegenrevolution
eingewandert. Die Rekonstruktion des Konser-
vativismus in der Gegenwart hat diese Mythen
erneut in Kurs gebracht. Heute signalisiert die
Ausdehnung nationaler, ethnischer und kulturel-
ler Wir-Anrufungen nicht nur in der konservati-
ven Politik und Publizistik die Richtung, in der
sich der bundesrepublikanische Massenkonsens
formieren soll.
In dem vorliegenden Band analysiert Jost Müller
historische und theoretische Aspekte dieser
konservativen Formierung sowie die ideologi-
Nation, Ethnie, Kultur
schen Konzepte der »Neuen Rechten« und kriti-
siert die vorherrschenden Theorien über Rassis-
mus und Ethnizität.
Mythen der Rechten
Jost Müller
ISBN: 3-89408-037-X

Edition ID-Archiv
Edition ID-Archiv
Jost Müller
Mythen der Rechten

Edition ID-Archiv
Berlin – Amsterdam
Jost Müller
Mythen der Rechten
Nation, Ethnie, Kultur

Edition ID-Archiv
Berlin – Amsterdam
Inhalt

Vorwort 7

Rechtes Denken und linke Intellektuelle 15


Rechtes Denken als semantisches Verwirrspiel 16
Magisches Sprechen und Mythos der Nation 21
Jost Müller Gegenwehr der linken Intellektuellen 24
Mythen der Rechten Zauberwort Kultur 33
Nation, Ethnie, Kultur Zur Geschichte der Kulturideologie in Deutschland
Fundierung des bürgerlichen Kulturalismus 35
Nationalkultur, Kulturstaat und Militarismus 39
Edition ID-Archiv Faschistische Kulturpropaganda 41
Postfach 360 205 Kultureller Antifaschismus 44
10972 Berlin Restaurative Kultur des Konservativismus 48
Hegemoniales Projekt: Kulturgesellschaft 51
ISBN: 3-89408-037-X
Oktober 1995 Ein Mythos, ein Staat, ein Volk 63
Zur Theorie der Nationform des Politischen
Titel
Eva Meier
Nationaler Mythos 63
Nationalstaat 67
Gestaltung Konstruktion des Volks als Nation 72
seb, Hamburg Kritik des Nationalismus 75

Druck Theorien über Rassismus und Ethnizität 83


Winddruck, Siegen Ideologien, Diskurse, Formationen
Xenophobie und Heterophobie 86
Buchhandelsauslieferungen Ideologische Rassenkonstruktion 91
BRD: Rotation Vertrieb Ethnizität als Interdiskurs:
Schweiz: Pinkus Genossenschaft Kulturalismus und Biologismus 100
Österreich: Herder Auslieferung Antisemitismus 114
Niederlande: Papieren Tijger
Rassismus und Nationalismus der »Neuen Rechten« 139 Vorwort
in der Bundesrepublik
Die Aktualisierung der »Konservativen Revolution« im
Kontext des Neorassismus
Metapher »Konservative Revolution« 142
Ethnopluralistischer und etatistischer Nationalismus 145
Faschismus und Demokratie 157
Perspektivenwechsel in der Faschismusanalyse 158 Die Mythen der Rechten sind über zwei Jahrhunderte hin
Methodische Auswege 160 im wesentlichen gleich geblieben. Einst kämpferische Paro-
Repräsentation und Gewalt 165 len, die gegen das Gottesgnadentum selbstherrlicher Für-
Involution parlamentarischer Demokratie 167 sten und die scheinbar allmächtige Organisation des Klerus
Brüche im Faschisierungsprozeß 172 gerichtet waren, sind Nation, Volk und Kultur bereits zu Be-
Dynamik der Faschisierung im NS-Regime 175 ginn des bürgerlichen Zeitalters in das ideologische Arsenal
der konservativen Gegenrevolution eingewandert. Auch
wenn sich die Darstellungs- und Ausdrucksformen geändert
haben, ihre grundlegende politisch-ideologische Bedeutung
haben diese Mythen seither beibehalten. Das Bürgertum
hatte seinen Kampf um soziale Emanzipation leidlich ausge-
fochten und erklärte ihn schnell für beendet. Das kapitalisti-
sche Wirtschaftssubjekt vermochte sich ausreichend Gel-
tung zu verschaffen und erschrak über das, was es losgetre-
ten hatte. Die Revolution wurde ihm zum Greuel. Schon in
den revolutionären Kämpfen war der Dritte Stand regel-
mäßig in soziale Gruppen zerfallen, deren Ziele einander
kaum zu vermitteln waren. Der Enthusiasmus, der die bür-
gerlichen Intellektuellen noch angesichts der Französischen
Revolution beseelt hatte, schien verflogen. Doch er warf
sich von nun an auf die ideologische Herrschaftssicherung
der neuen Klasse. Die Aufstände des städtischen Pöbels, die
proletarischen Emeuten gegen die Einrichtung der Fabrik-
anlagen aber mußten gewaltsam niedergehalten werden,
sollten die Alltagsgeschäfte ungestört abgewickelt werden
können. Die industrielle Bourgeoisie selbst hatte sich einen
machtvollen sozialen Antipoden geschaffen, der kaum Ruhe
geben wollte und sie zur Negation der eigenen politischen
Freiheitsrechte trieb. Die Philosophie der Gegenrevolution
erfuhr einen historischen Funktionswandel, in dem das Bür-
gertum vom Objekt, das im Namen der alten feudalen und

7
klerikalen Ordnung bekämpft wurde, zu ihrem Subjekt hungsrecht der Volksgemeinschaft«, forderte etwa die rech-
avancierte. An die Stelle der Forderung nach einer neuen te Sozialdemokratie 1921 in dem Abschnitt »Kultur- und
Konstitution und der egalitären Idee der Volkssouveränität Schulpolitik« des Görlitzer Programms, und im Wahlhand-
traten – vor allem in Deutschland – organisch-ganzheitliche buch der nationalliberalen Deutschen Volkspartei von 1924
und identitäre Konzeptionen von Nation und Volk sowie wird die »Idee der Volksgemeinschaft« als »Kampfziel« und
kulturell-elitäre Doktrinen zur Selbstvergewisserung des »oberstes Gesetz« der Partei verkündet. Unter der Hege-
Herrschaftsanspruchs der bürgerlichen Klasse. Ohnehin war monie des Konservativismus ging es in der Folge darum, ob
die neue Gesellschaft nicht eine Gesellschaft von Eigentü- der gegenrevolutionäre Mythos der Volksgemeinschaft sozi-
mern, wie sie den staatsphilosophischen Konstruktionen seit alpartnerschaftlich oder völkisch zu begründen sei. Das
dem 17. Jahrhundert zugrunde lag. Die mythischen Erzäh- Bündnis aus Konservativen und Faschisten hat diesen Streit
lungen vom Naturzustand, der durch einen Gesellschafts- schließlich entschieden.
vertrag zu verlassen sei, wurden durch die gegenrevolu- Aber noch nachdem die Nazis den Begriff rassistisch und
tionären Mythen abgelöst, die die klassengespaltene Gesell- antisemitisch aufgeladen hatten, findet er sich 1945 erneut
schaft, die sozialen Interessengegensätze und Konkurrenz- in dem an der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo anno
beziehungen im vorgesellschaftlichen Raum bannen sollten. von 1931 orientierten ersten Programmentwurf der Kölner
Daher rührt die Intransingenz, mit der Konservative CDU: »Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe sollen eine
noch heute auf Ursprung, Tradition und Gemeinschaft insi- neue Volksgemeinschaft beschirmen, die die gottgegebene
stieren. Ihre Berufung auf familiäre, ethnische und nationale Freiheit des einzelnen und die Ansprüche der Gemeinschaft
Gemeinschaften zielt dabei keineswegs auf eine Rückkehr zu mit den Forderungen des Gemeinwohls zu verbinden weiß.«
vergangenen Gesellschaftszuständen, sondern dient als Rich- Unmittelbar nach dem Scheitern ihres Zusammengehens
tungsvorgabe in den sozialen Auseinandersetzungen um die mit den Nazis zeigten sich die Konservativen erneut offen
institutionelle Ausgestaltung der bestehenden Gesellschafts- für die sozialpartnerschaftliche Variante. Mehr noch, der
ordnung. Die Mythen der Rechten, Nation, Ethnie und Kul- Begriff Volksgemeinschaft verschwand aus der politischen
tur, sind jedoch nicht auf die konservative Ideologie be- Lexik und Programmatik der staatstragenden Parteien in
schränkt. Die konservative Hegemonie äußert sich vielmehr der Bundesrepublik. Statt dessen umhüllten in der Folge
darin, daß sich diese Mythen ausweiten und verallgemei- technokratische Konzepte wie etwa das CDU-Modell der
nern, indem alle politischen und sozialen Konflikte national, »formierten Gesellschaft« oder das sozialdemokratische
ethnisch und kulturell überformt werden. Das beste Beispiel »Modell Deutschland«, jeweils sekundiert von dem juridi-
hierfür gibt im 20. Jahrhundert der Mythos der Volksge- schen Terminus technicus der »freiheitlichen demokrati-
meinschaft. In der konservativen Entgegensetzung von Ge- schen Grundordnung« (fdGO), das auf die bürgerlichen
sellschaft und Gemeinschaft fundiert, bildet der Topos Freiheitsrechte zurückgehende bundesdeutsche Grundge-
Volksgemeinschaft nicht nur den völkischen Kampfbegriff setz von 1949.
der Nationalkonservativen und Faschisten in der Weimarer Die vehemente Diskreditierung, die sie durch die Pro-
Republik, nicht nur den mobilisierenden Propaganda-Be- testbewegung der sechziger und siebziger Jahre erfuhr,
griff des nazistischen Rassismus und Antisemitismus, son- schien die »Idee der Volksgemeinschaft« endgültig ins La-
dern zugleich den zentralen Konsensbegriff, den die aus der ger der krypto-faschistischen und faschistischen Organisa-
Kriegskoalition von 1914 hervorgegangenen politischen tionen absinken zu lassen. Die Rekonstruktion des Konser-
Kräfte insgesamt gegen die proletarische Erhebung nach vativismus in den achtziger Jahren hat sie, allerdings ohne
dem Ersten Weltkrieg durchgesetzt haben. »Oberstes Erzie- explizite Nennung, auch unter den Regierungsparteien wie-

8 9
der in Kurs gebracht. Die Propaganda einer »geistig-mora- wieder sicherer und gewisser werden. Bei allem Respekt für
lischen Erneuerung« durch die erste Kohl-Regierung, die die Freiheits- und Rechtsordnung unseres wohlgelungenen
Debatte um die »deutsche Identität«, der »Historikerstreit« und bewährten Grundgesetzes: Ein Verfassungstext allein
gehören ebenso in diesen Kontext wie die Aufkündigung des kann nicht ausreichen, um nicht nur im Verstand, sondern
sozialstaatlichen Klassenkompromisses von seiten der Herr- auch in den Herzen der Menschen jene Gemeinschaft zu stif-
schenden und die rassistischen Bedrohungsszenarien, die ten, die notwendig ist, auch schwierige Zeiten zu meistern.«
über die gesamten achtziger Jahre die angestrebte und zu Dem bestehenden politischen System soll eine vermeintliche
Beginn der neunziger Jahre realisierte Novellierung des kollektive Substanz vorgelagert werden, der in Krisensitua-
Ausländergesetzes und die De-facto-Abschaffung des Asyl- tionen eine höhere Priorität als der »Freiheits- und Rechts-
rechts begleiteten. Der Prozeß der Renationalisierung setzt ordnung« einzuräumen sei. Die Nation als »Schutz- und
allerdings schon Ende der siebziger Jahre ein. Bereits auf der Schicksalsgemeinschaft« zu sehen, wie Schäuble will, ist hier
Kultusministerkonferenz vom 23.11.1978 wurde in dem Be- nur der erste Schritt. Die Ausdehnung nationaler, ethnischer
schluß »Die deutsche Frage im Unterricht« festgelegt, daß und kultureller Wir-Anrufungen in der konservativen Politik
es »Aufgabe der Schule« sei, »das Bewußtsein von der Ein- und Publizistik signalisiert die Richtung, in der sich der Mas-
heit der deutschen Nation und ihrem Anspruch auf Selbst- senkonsens der Berliner Republik formieren soll.
bestimmung in Frieden und Freiheit in der Jugend wachzu- In diesem Rahmen sind auch die Positionen der »Neuen
halten«. Hierzu solle der Unterricht zeigen, daß die »west- Rechten« zu verorten. Das anfänglich mit dem Verlag ver-
europäische Einigung kein Ersatz für die Wiederherstellung einbarte Buchprojekt zur Ideologie der »Neuen Rechten«
der Einheit Deutschlands sein« könne. An anderer Stelle wurde jedoch zugunsten des vorliegenden Bandes fallen ge-
heißt es: »Am Ende der Grundschule sollen die Kinder wis- lassen. Sowohl die Arbeit an dem geplanten Buch als auch
sen, daß Deutschland ein geteiltes Land und Berlin seine al- die Diskussionen mit antinationalen, antifaschistischen und
te Hauptstadt ist.« Nationalerziehung ist, wie dieser Be- antirassistischen Gruppen, die sich an die von mir in den
schluß deutlich macht, keine Angelegenheit allein des 19. vergangenen zwei Jahren gehaltenen Vorträge und Referate
Jahrhunderts. Zwar soll die »Behandlung der deutschen zu diesem Thema in verschiedenen Städten anschlossen, ha-
Frage im Unterricht« hier nicht zu einer »Wiedervereini- ben mich davon überzeugt, daß der für eine solche Darstel-
gungslehre« führen, aber ein »gesamtdeutsches Bewußt- lung gewählte monographische Rahmen zu eng gesteckt wä-
sein« ist auf Weisung der damaligen Kultusminister den re, um einer politischen Aufwertung der neurechten Zirkel
Schülerinnen und Schülern schon in der Grundschule anzu- zu entgehen. Sicherlich können bestimmte ideologische
trainieren. Das Dokument zeigt, daß der Prozeß der Rena- Elemente benannt werden, die bei nahezu allen Protagoni-
tionalisierung einen mindestens zehnjährigen Vorlauf hatte, sten der »Neuen Rechten« auftauchen: an erster Stelle der
durch den sich die Wahrnehmung des Zusammenbruchs der Nationalismus, dann völkische, rassistische und antisemiti-
Ostblockstaaten in der Bundesrepublik schließlich auf den sche Ideologeme, eine gewisse mythisierende Germanophi-
nationalpolitisch motivierten Anschluß der DDR fixierte. lie und schließlich die antiliberalistische und antimarxisti-
Der Begriff Volksgemeinschaft wird, wie etwa der sche Ausrichtung sowie die strikte Gegnerschaft zum Femi-
CDU/CSU-Franktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble ein- nismus. Doch diese Elemente ergeben noch keineswegs eine
gesteht, auch gegenwärtig lieber umschifft: »Auch wenn wir hinreichend spezifiziernde Charakteristik, um von einer ge-
Deutschen uns am Ende dieses Jahrhunderts schwertun, uns nuinen Ideologie der »Neuen Rechten« zu sprechen. Es
über unsere gemeinsamen Grundlagen zu verständigen: Wir handelt sich vielmehr um einzelne Bestandteile eines ideolo-
müssen uns des Gefühls nationaler Zusammengehörigkeit gischen Konglomerats, das in unterschiedlichen histori-

10 11
schen und aktuellen Kontexten vorkonstruiert ist und in ei- * Vgl. Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich. 3. Auflage
nem ideologischen Feld zwischen Faschismus und Konser- 1931, S. 167. Der Begriff war weiter verbreitet, so veröffentlichte
vativismus angesiedelt ist, das von dem kulturpessimisti- der völkische Autor und Propagandist einer Ethnopolitik, Max
Hildebert Boehm, im Februar 1931 einen Aufsatz unter dem Titel
schen Elitismus des deutschen Bildungsbürgertums im aus-
»Gedanken zur Metapolitik des Sprachenkampfes«; vgl. Deutsche
gehenden 19. Jahrhundert bis zu Bestandteilen der NS-Mas-
Rundschau, 57. Jg. 1931, Heft 5, S. 117 – 122.
senpropaganda reicht und letztlich die nun schon seit zwan-
zig Jahren durch die Medienlandschaft der Bundesrepublik
geisternde Bezeichnung »Neue Rechte« in nichts rechtferti-
gen könnte. Vor allem sind diese Elemente den Konzeptio-
nen der rechten Intellektuellen in der Weimarer Republik
entnommen, und hier bereits findet sich auch der Begriff
Metapolitik, der der »Neuen Rechten« in der Bundesrepu-
blik, in Anlehnung an die französische intellektuelle Rechte
um Alain de Benoist, nicht selten als Bezeichung einer auf
das publizistische Vorfeld politischer Parteien angelegten
Strategie dient. Schon Arthur Moeller van den Bruck, eine
wichtige Integrationsfigur der rechten Intellektuellenszene
in der Weimarer Republik, hatte diesen zur Unterscheidung
zwischen Konservativen und Reaktionären verwendet, um
sich von den wilhelministischen Traditionen abzusetzen*.
Heute fungieren die Ideologen der »Neuen Rechten«, die
sich als intellektuelle Reserve sehen und sich großspreche-
risch als kommende politische Führungselite der Bundesre-
publik präsentieren, bisher vor allem als Verstärker der in
der Bundesrepublik vorherrschenden konservativen Ten-
denz zu einer autoritär verfaßten parlamentarischen Demo-
kratie.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes untersuchen hi-
storische und theoretische Aspekte dieser konservativen
Formierung. Gestützt auf Theorien des kritischen Marxis-
mus, vor allem auf die Ideologietheorie von Louis Althusser,
die Ideologiekritik von Theodor W. Adorno, Max Horkhei-
mer und Herbert Marcuse sowie auf neuere Ansätze der ma-
terialistischen Staatstheorie und der Theorien über Rassis-
mus konzentrieren sich die Analysen und Thesen auf die
theoretische Bestimmung von Kontinuitäten und Diskonti-
nuitäten politisch-ideologischer Prozesse und diskursiver
Anordnungen.

12 13
Rechtes Denken
und linke Intellektuelle

Wer einen Blick in die bundesdeutsche Lokalgeschichte der


linken Intellektuellen wirft, kann in Zweifel darüber gera-
ten, ob den eigenen Augen noch zu trauen sei. Einige Jahre
versetze man sich zurück und schlage das Frankfurter Me-
tropolen-Magazin Pflasterstrand auf, Nummer 279/280, Sei-
te 28, wo zu lesen steht: »Ich vermag mir eine erstrebens-
werte Gesellschaft ohne politische, kulturelle und auch so-
ziale Gegensätze nicht mehr vorzustellen. Es käme vielmehr
gerade auf die Kultivierung dieser Gegensätzlichkeiten an.
Das bedeutet zum Beispiel politisch, sich intelligente Geg-
ner zu wünschen – bis hin zu den Faschisten.«1
Der Autor ist kein Kabarettist, keiner von jener Sorte der
Frankfurter Altspontis, die bei dem Gedanken an faschisti-
sche Intellektuelle in undogmatische Reminiszenzen an ihre
Carl Schmitt-, Ernst Jünger- oder Martin Heidegger-Lek-
türen verfallen. Gerd Koenen war 1973 Mitbegründer des
Kommunistischen Bundes Westdeutschland und dann Re-
dakteur der Kommunistischen Volkszeitung, die ihren Leserin-
nen und Lesern solche intellektuellen Sperenzien mit der
pflichtmäßigen Lektüre von Marx, Lenin, Stalin und Mao
auszutreiben versuchte und ihnen die harte Realität ökono-
mischer Fakten auf der Weltkarte der proletarischen Revo-
lution präsentierte. Nach der Verabschiedung vom ML-
dogmatischen Kommunismus und Klassenkampf in den achtzi-
ger Jahren und mit dem Plädoyer für eine sorgsame Hege
und Pflege der kulturellen und sozialen Gegensätze wollte
der 68er-Intellektuelle – wie zum Beweis seines Damasku-
serlebnisses – dem neuen politischen Bekenntnis das I-Tüp-
felchen aufsetzen. Undogmatisch, wie er nunmehr gewor-
den war, scheint Koenen der Hautgout rechten Denkens so
penetrant in der Nase gekitzelt zu haben, daß er den

15
Wunsch nach einem kultivierten Gespräch mit einem intel- heißt es etwa in der konservativ-faschistischen Monatszeit-
ligenten Faschisten öffentlich ausplaudern mußte. schrift Die Tat vom Januar 1933, bedeute »kein Programm,
Das lokale Beispiel sollte nicht überbewertet werden; in- sondern eine Haltung: die konkrete, nicht analytische Hal-
teressant ist allein, was es signalisiert. Es zeigt die Selbst- tung gegenüber dem Leben überhaupt, die staatsmännische,
überschätzung eines linken Intellektuellen, der sich dem nicht parteiliche Haltung gegenüber Staat und Politik; es ist
Kult der Querdenkerei verschrieben hat, ohne die eigenen der rechte Flügel aller Parteien, den es zu aktivieren gilt«.2
Voraussetzungen, geschweige denn den Zustand der eigenen An dieser Strategie orientiert sich die sogenannte »Neue
Überlegungen zu reflektieren. Statt dessen teilt er mit, was Rechte« auch heute noch. Sie versucht, die politische Be-
er sich nicht mehr vorstellen kann, ganz so, als wäre es von deutung von nationalistischen Sozialdemokraten, der Hai-
öffentlichem Belang, die erste Sitzung einer Selbsterfah- der-Anhänger in der FDP und des Deutschland-Forums in
rungsgruppe für 68er-Intellektuelle zu dokumentieren. der CDU/CSU hervorzuheben und dem eigenen Denken
Das Desaster setzt da ein, wo sich intellektueller Nar- eine über die durch kleine Gruppen und Intellektuellenzir-
zißmus mit geschwätziger Criss-Cross-Plauderei, Arroganz kel charakterisierten christlich-konservativen, nationalkon-
mit Ignoranz paart. Denn es war schiere Dummheit, die servativen und nationalrevolutionären Traditionslinien hin-
»Waffen der Kritik« (Marx) zu strecken, die kritische Analy- ausgehende »gesellschaftliche Brisanz«3 zuzuschreiben. Die
se der sozialen und politischen Verhältnisse gegen deren Strategie der neurechten Intellektuellen zielt auf das ideolo-
Rechtfertigung und Kultivierung einzutauschen und dabei gische Vorfeld politischer Parteien, wobei die Parteien je-
auch noch die ideologischen Konsequenzen der konservati- nem Vorfeld »als parlamentarischer Arm unterzuordnen«4
ven Wende in den achtziger Jahren zu mißachten. Im Wind- seien.
schatten des erstarkenden Konservativismus, der Debatten Bereits Ende der siebziger Jahren hatte Alain de Benoist,
um die »deutsche Identität«, des Historikerstreits und einer führender Protagonist der »Neuen Rechten« in Frankreich,
Carl-Schmitt-Renaissance in der BRD – bereits Jahre vor den postmodern klingenden Begriff »Metapolitik« lanciert,
dem Anschluß der DDR – haben sogenannte neurechte In- um diese Strategie indirekter politischer Einflußnahme zu
tellektuelle ihre politisch-diskursiven Strategien entwickeln bezeichnen. In der modernen Gesellschaft, so die zugrunde-
können. Nationalismus, Geschichtsrevisionismus und Anti- liegende These, sei »keine Übernahme der politischen
liberalismus bilden das Terrain rechten Denkens, auf dem Macht möglich ohne vorhergehende Übernahme der kultu-
diese Intellektuellen nach dem Vorbild der Weimarer Rech- rellen Macht«. Daher hätten die rechten Intellektuellen eine
ten konservative und faschistische Elemente erneut zu mi- »langwierige bodenbereitende ideologische Arbeit« in An-
schen versuchen. Linke Intellektuelle sollten diese Strate- griff zu nehmen, durch die die »Neue Rechte« es schaffen
gien offen legen, statt mit ihrer vermeintlichen Intelligenz müsse, »gleichzeitig die Rechte und die Linke zu sein«.5 Es
zu prahlen. Bei dieser Tätigkeit besteht nämlich weder An- geht der »Neuen Rechten« folglich darum, einen konserva-
laß, rechtes Denken in seinen Wirkungen zu bagatellisieren, tiv-faschistischen Konsens innerhalb der Gesellschaft zu
noch, es zu dramatisieren. etablieren, der es ihr erlauben würde, eine nationalistische
Linke zu konstruieren und das Terrain ideologischer Aus-
Rechtes Denken als semantisches Verwirrspiel einandersetzungen auf das des rechten Denkens zu verschie-
In der Auseinandersetzung mit rechten Intellektuellen sollte ben. Sie will so die Definitionsmacht darüber erlangen, was
man nicht dem Irrtum erliegen, rechtes Denken müsse aus als rechts und was als links zu gelten hat.
einem bestimmten System kohärenter Begriffe oder sub- Diese »Metapolitik«, die »ideologische Arbeit« der neu-
stantieller Ideen bestehen. »Echter Konservatismus«, so rechten Intellektuellen, bewirkt ein semantisches Verwirr-

16 17
spiel, das unter den Bedingungen der hegemonialen Instabi- Das kapitalistische Wirtschaftssubjekt seinerseits mochte
lität der bürgerlichen Gesellschaft eine ideologische Krise sich – gleichgültig im übrigen, ob es dem Liberalismus an-
befördert, wie Jean Pierre Faye in seiner Studie Totalitäre hing oder nicht – der liberalen Freiheitsrechte in seinem
Sprachen bezogen auf die konservativen und faschistischen Wirkungskreis gerne bedienen. Es war aber meist ebenso
Intellektuellen in der Weimarer Republik und den histori- bereit, für Protektionismus statt Freihandel, für Arbeitshäu-
schen Faschisierungsprozeß verdeutlicht hat.6 Der Hinweis ser statt Arbeitsmarkt, für Diktatur statt Demokratie, für
auf Fayes Studie ist weniger abwegig, als es auf den ersten Zensur und Koalitionsverbot statt Presse- und Organisa-
Blick aufgrund der jeweils unterschiedlichen historischen tionsfreiheit, für Nationalismus statt Kosmopolitismus ein-
Konjunkturen und spezifischen sozialen Konstellationen er- zutreten, sobald sich jemand anschickte, an der bürgerlichen
scheinen mag. Wie bereits angedeutet, verfolgt die »Neue Macht partizipieren, sie beschneiden oder gar umstürzen zu
Rechte« eine Strategie, die sich aus den entsprechenden In- wollen. Auch heute widerstreiten die neoliberalistische Of-
tellektuellenzirkeln der Weimarer Republik herleitet, und fensive und der Ausbau des repressiven Staatsapparats einan-
sie versucht zudem, unter der Metapher »Konservative Re- der nicht, sondern ergänzen sich eher in der Tendenz zu ei-
volution« zentrale Ideologeme und vorkonstruierte Aussa- nem autoritären Etatismus. Und darin wie auch in der Funk-
gen aus diesem Kontext zu aktualisieren. tion, den sie konstituierenden Herrschaftsprozeß zu ver-
Dies gilt etwa für den traditionellen »Kampf gegen den decken, sind sich Liberalismus und neurechter Antiliberalis-
Liberalismus« der Weimarer Rechten. Insbesondere mit Be- mus weit näher, als ihre Protagonisten in aller Regel wahr-
zug auf Carl Schmitt wird der »Liberalismus als konsequen- haben wollen. Linke Intellektuelle demgegenüber zielten in
tes, umfassendes, metaphysisches System«7 dämonisiert. ihrer Kritik am Liberalismus bisher auf das in Krisensitua-
Der so verallgemeinerte und enthistorisierte Begriff des Li- tionen durch seine sozialen Grenzen bestimmte Umschla-
beralismus läßt die soziale und ökonomische Struktur, die gen in solche autoritären Lösungsstrategien.9
kapitalistische Konkurrenz, das Kommando des Kapitals Gegenwärtig warten die Intellektuellen der »Neuen
über die sich betätigende Arbeitskraft und die historische Rechten« nur darauf, daß die veränderten Verwertungsbe-
Ablösung der Manufaktur durch die große Industrie, nicht dingungen des Kapitals eine gewaltsame Anpassung des po-
mehr erkennen; er bringt mit einem Wort die Gesellschafts- litischen Systems nach sich ziehen, in der die von ihnen be-
form zum Verschwinden, der die liberale Ideologie ihre Ent- vorzugten autoritär-staatlichen Maßnahmen zur Geltung
stehung verdankte. Das semantische Verwirrspiel um den gebracht werden.
zum »Hauptfeind« stilisierten Liberalismus dient folglich Allerdings geschieht dieses Warten nicht heimlich und
dazu, den Begriff aus seinen sozialen Bezügen zu lösen, um schweigend, sondern öffentlich und beredt, wie die Parolen
ihn in jeden erdenklichen politischen Kontext stellen zu von den »Plebisziten als Weg aus dem Parteienstaat« und
können.8 Seine Verschiebung auf die politische Metaphysik die Forderungen nach einer »Entflechtung von Exekutive
ermöglicht es der »Neuen Rechten«, ihm alles zu subsumie- und Legislative« zur »Rekonstruktion des Staates« zeigen.
ren, was sie in ihrem »ideenpolitischen Kampf« als konfor- Sie entsprechen dem faschistischen Verständnis politischer
mistisch zu denunzieren beabsichtigt: Feminismus und Konsensbildung, daß nämlich, wie Vilfredo Pareto und
»Wodka-Cola-Kultur«, »Alternativ-Bourgeoisie« und Fern- Robert Michels, zwei Ahnherren faschistischer Soziologie,
sehen, Marxismus und Fast food, Dadaismus und Abtrei- meinten, »zum Regieren Zustimmung der Mehrheit, nicht
bung, überhaupt die ganze »permissive Gesellschaft des We- Mitwirkung der Mehrheit«, ein »oft nur schweigender, oft
stens« samt des ihr angeblich so willfährigen, schwachen aber auch sehr lauter und greifbarer, wenn auch statistisch
Staats. nicht faßbarer Konsens« nötig sei, Konsensbildung also in

18 19
Form der Akklamation statt der parlamentarischen Wahl tellektuellen zugleich der »kulturellen Erneuerung« und der
oder gar der selbsttätigen Organisierung.10 »Wahrung kultureller Einheit«, der »Potentialität einer kul-
Die diskursive Strategie der Entwendung, Umdeutung turellen Revolution« und der Wiederherstellung von »Ari-
und Aneignung bestimmter Begriffe, um sie negativ oder stokratien des Geistes« das Wort reden.13 Solche gegensätz-
positiv zu gewichten, kann an einer Reihe von Texten der lichen Redeweisen sind im Diskurs der »Neuen Rechten«
neurechten Intellektuellen beobachtet werden. Ich be- möglich, weil es ihr nicht um eine konsistente Theorie der
schränke mich hier auf einige Hinweise, um diese Strategie Gesellschaft geht, sondern um jene eingangs zitierte »nicht
zu verdeutlichen. So bezeichnet etwa der von Antonio analytische Haltung gegenüber dem Leben überhaupt«, um
Gramsci zur Unterscheidung zwischen der Revolution in Magie und Mythos.
Rußland und ihrem Scheitern in Deutschland und in Italien
nach dem Ersten Weltkrieg konzipierte Begriff der »kultu- Magisches Sprechen und Mythos der Nation
rellen Hegemonie« der Bourgeoisie in den westlichen kapi- In der Bundesrepublik ist Botho Strauß zu einem intellektu-
talistischen Staaten im Diskurs der »Neuen Rechten« nicht ellen Katalysator der Verschmelzung von Konservativismus
mehr als eine »Befehls- und Ausgabestelle für die Werte und und Faschismus geworden. Dem bundesdeutschen Feuille-
Ideen«, deren »direktiver und suggestiver Charakter nicht ton galt er in den vergangenen zwei Jahrzehnten als der
als solcher erkennbar« werde.11 Diese Reduktion des Hege- wichtigste Dramatiker deutscher Zunge, weil er in verzwick-
monie-Konzeptes auf die Vorstellung einer kulturellen ten Figurenkonstellationen und szenischen Stationen die de-
Macht- und Schaltzentrale verwischt gerade den von goutanten Gebärden jener sozialen Schicht nachzustellen
Gramsci aufgezeigten Unterschied zwischen dem autokrati- verstand, in der sich aufsteigendes Kleinbürgertum und ab-
schen Staat mit schwach entwickelter bürgerlicher Gesell- steigende Bourgeoisie vermählen, also jener sozialen
schaft und dem kapitalistischen Staat, der durch eine Reihe Schicht, in der sich auch morbide Theaterkritiker und alerte
hegemonialer Apparate und Organisationen innerhalb einer Theaterbesucher treffen, um krampfhaft an einer abgewirt-
ausdifferenzierten bürgerlichen Zivilgesellschaft gestützt schafteten Institution bürgerlichen Lebens festzuhalten.
und reproduziert wird. Strauß selbst hat sie aufgewertet, das hat seinen Erfolg aus-
Das Verwirrspiel hat einen doppelten Sinn. Zum einen gemacht. Er konnte seinem Publikum weismachen, daß es
baut die »Neue Rechte« die vermeintliche »kulturelle He- sich ebenso wichtig zu nehmen habe wie die bürgerliche
gemonie« der linken Intellektuellen nach 1968 zu einem Po- Klasse im zurückliegenden Fin de siècle. So ist er zum Seis-
panz auf, um den Eindruck zu erwecken, er halte alle Fäden mographen eines bundesdeutschen Bildungskleinbürger-
kultureller Macht in der Hand und sie selbst sei die einzig tums geworden, dem in aller Regel auch die Zöglinge der
reale Gegenmacht. Zum anderen suchen die neurechten In- »Neuen Rechten« entsprungen sind, die ihn heute mit Vor-
tellektuellen sich unter Berufung auf Gramsci als innovative liebe zitieren.
Gesellschaftstheoretiker auszuweisen, meinen aber doch nur Schon 1981 ist es Strauß gelungen, das intellektuelle
die dezisionistische Staatslehre von Carl Schmitt, der im Ja- Selbstverständnis seiner Klientel auf die einfältige, aber ein-
nuar 1933 den faschistischen »stato totalitario« für seine prägsame Formel zu bringen: »Ohne Dialektik denken wir
Kontrolle lobte, die er über Rundfunk und Film als den auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!«14 Sein
»neuen Machtmitteln« der »Massenbeeinflussung« und Spiegel-Essay vom Februar 1993 darf als Beleg dafür gelten,
»Massensuggestion« ausübte, um die »staatsfeindlichen daß sich der Autor selbst beim Wort genommen hat.
Kräfte« auszuschalten.12 »Rechts sein«, so verkündet Strauß hier, bedeute einen »Akt
Das Verwirrspiel ist komplett, wenn die neurechten In- der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart,

20 21
die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter partikuläre, nicht-historische Weise« der Gegenwart von
Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von Vergangenheit), über den Elitismus (Sprache als »eine aus
mythischer Zeit rauben und ausmerzen will.« Links dagegen Werken gebrochene« und als »eine aus erhöhtem Bewußt-
nenne man sich, »weil man, voller Aufklärungshochmut, sei- sein hervorgegangene«) und über den ethnopluralistischen
ne Politik auf den Beweis der Machtlosigkeit von magischen Nationalismus und differentiellen Rassismus (Sprache als
Ordnungsvorstellungen begründet«.15 Vermutlich hat die »Eigenerinnerung«, als Differenz von »Muttersprache« und
Rede von den magischen Ordnungsvorstellungen dem Au- »fremder« Sprache) einfließen läßt.
tor die ungrammatische Form aufgezwungen. Daß die Linke Den neurechten Intellektuellen allerdings genügt diese
ihre Politik mit einem Beweis begründet, kann der rechte elitäre Selbstversicherung einer sprachlich-kulturellen Iden-
Dichter nicht sagen, weil es in seinen Ohren wie eine Legi- tität nicht; das magische Sprechen soll umschlagen in die fa-
timation klänge; daß die Linke ihre Politik auf einen Beweis schistische Tat.18 Dies unterscheidet die konservativ-faschi-
gründet, ist ihm andererseits zu profan und unbedeutend, stischen Intellektuellen von den konservativen: sie teilen die
während die Vorsilbe »be-«, deren Grundbedeutung »mit Einschätzung des Verfalls der Kultur, als deren Indiz eine in
etwas versehen« lautet, hier nur das Wort des Dichters mit ihren mythischen Beständen bedrohte Sprache angesehen
der nötigen Tiefgründigkeit versehen soll. Der Bruch, den wird, aber sie drängen darauf, den Mythos als Mittel der Po-
der Lapsus produziert, zeigt, wie magisches Sprechen funk- litik zu restituieren. Sie verstehen den Mythos nicht als resi-
tioniert: »Bestandsstücke der empirischen Sprache werden duale Form, sondern mit Georges Sorel, dem Essayisten des
in ihrer Starrheit manipuliert, als wären sie solche einer revolutionären Syndikalismus in der französischen Dritten
wahren und geoffenbarten«.16 Republik, als »Mittel einer Wirkung auf die Gegenwart«; der
Botho Strauß versammelt in seinem Essay alle Elemente Mythos ist nach Sorel eine »Ordnung von Bildern«, ein
der konservativen Zivilisationskritik, die in Deutschland tra- »Gesamtbild«, das der Mobilisierung und Formierung der
ditionell zur undialektischen Dichotomisierung von Kultur Massen dient.19 Während sich für den revolutionären Syndi-
und Zivilisation, von Mythos und Aufklärung, von Seele und kalisten der Mythos auf die Idee vom Generalstreik als der
Technik gerinnt. Er ist ein elitärer Traditionalist, sein Ver- Entscheidungsschlacht im »sozialen Krieg« konzentriert,
hältnis zur Politik aber bleibt kontemplativ. Wenn er vom erfährt er in der faschistischen Rezeption eine Verschiebung
»Akt der Auflehnung« spricht, so meint er nicht politische auf die Nation. Wichtiger als Sorels Interpretation des My-
Aktivität, sondern diese »Auflehnung« bewegt sich noch thos ist daher für die »Neue Rechte« deren Kommentierung
ganz im Rahmen der magischen Sprachvorstellung. »Nur durch Carl Schmitt geworden. Schmitt schreibt 1923 mit
Sprache selbst«, notiert er in der Aphorismensammlung Be- Blick vor allem auf die italienischen Faschisten: »Sprache,
ginnlosigkeit von 1992, »kann auf sinnliche, partikuläre, Tradition, Bewußtsein gemeinsamer Kultur, Bewußtsein ei-
nicht-historische Weise Vergangenheit, Zeitenstaub enthal- ner Schicksalsgemeinschaft, eine Empfindlichkeit für das
ten, Sprache, die ihrer Herkunft nach eine aus Werken ge- Verschiedensein an sich – alles das bewegt sich heute eher in
brochene Sprache ist, also eine aus erhöhtem Bewußtsein der Richtung zu nationalen als zu Klassengegensätzen«.20
hervorgegangene, die neues erhöhtes Bewußtsein schafft. Diese Fassung des »nationalen Mythos« suchen die neu-
Dies macht vielleicht den tieferen Sinn von Muttersprache rechten Intellektuellen zu aktualisieren, um Konservativis-
aus. In einer fremden trägt einen die Eigenerinnerung der mus und Faschismus zu verklammern. In mythischen Erzäh-
Sprache nicht.«17 Strauß liefert der »Neuen Rechten« damit lungen, die etwa als »unsystematische Betrachtungen über
eine Aussagenkette, die sie in den Diskurs über die mythi- einen Nationalcharakter« präsentiert werden, knüpfen sie
sche Konstruktion der Geschichte (Sprache als »sinnliche, an die konservative Geschichtsschreibung an, um von den

22 23
»zahllosen Anfängen«, welche die Bildung der deutschen subkulturellen Unternehmungen, in Parteien und Kirchen
Nation seit Otto dem Großen 962 angeblich gemacht habe, wie in allen staatlichen Institutionen aus. Konstitutiv für die-
auf den »Rückruf in die Geschichte«, auf den Neuanfang zu se gesellschaftliche Funktion der Intellektuellen ist die Tren-
kommen, der nun bevorstehe.21 Zu diesem Zweck propagie- nung von manueller und intellektueller Arbeit, die nicht em-
ren sie den rassistischen »Kulturkrieg« für die Herstellung pirisch-naturalistisch aufzufassen ist, sondern in einem verti-
einer »volklichen Homogenität« im Innern und die Auflö- kal und horizontal ausdifferenzierten System gesellschaftli-
sung der sogenannten Westbindung nach außen. Dabei ge- cher Arbeitsteilung besteht, das sich im institutionellen Auf-
hen nicht alle konservativ-faschistischen Intellektuellen so- bau der Staatsapparate materialisiert.
weit, die Konservativen aufzufordern, sich um der »Wieder- Für die kritischen Intellektuellen besitzt diese Verbin-
geburt der Nation« willen »zu opfern, indem sie sich end- dung von intellektueller Tätigkeit und Staat zentrale Bedeu-
lich als Konservative abschaffen, um als Nationalrevolu- tung. Denn erst die Kritik dieser Teilung von Hand- und
tionäre wieder aufzuerstehen«.22 Aber alle Versuche, den Kopfarbeit mit ihrer Hierarchie von ausführenden, planen-
»nationalen Mythos« wiederherzustellen, zielen genau auf den und dirigierenden Funktionen, der Angriff auf die orga-
diese Aufforderung. nisatorische Kompetenz der Intellektuellen, die sie als Funk-
Die politische Funktion des Mythos von der »nationalen tionäre des Staates besitzen, bringt sie selbst in Bewegung,
Wiedergeburt« besteht darin, der Legalordnung der Bun- kann sie aus dem Zirkel ihrer Konkurrenz um staatliche
desrepublik eine legitimierende ideologische Instanz vorzu- Machtpositionen herausholen. Hierbei können zwei grund-
schalten, die dem faschistischen Projekt einer Umdeutung legende Modelle unterschieden werden, in denen linke In-
des Demokratiebegriffs in ein autoritäres Repräsentations- tellektuelle ihre Rolle bisher thematisiert haben. In beiden
modell von »Führung« und »Volk« entspräche. Die mythi- Fällen wird dabei auf eine soziale Kraft rekurriert, die das
schen Erzählungen, in denen Herrschergenealogien in eine umkämpfte Terrain letztlich bestimmt, wobei Art und Aus-
Volksgenealogie umgemünzt werden, sollen den ideologi- maß der Kämpfe allerdings historisch verschieden sind.
schen Kitt liefern, der die politisch aktive Elite mit den for- Das erste Modell entspricht dem Typus des universellen In-
mierten Massen verbindet. tellektuellen, wie ihn vor allem Jean-Paul Sartre mit Blick auf
den Schriftsteller charakterisiert hat. Nach Sartre sind die
Gegenwehr der linken Intellektuellen kritischen Intellektuellen »das monströse Produkt einer
Der Versuch kritischer Intellektueller, dem rechten Denken, monströsen Gesellschaft«, da sie in sich den Widerspruch
dem semantischen Verwirrspiel und der Restituierung des zwischen der partikularen Ideologie der herrschenden Klas-
Mythos als Mittel der Politik entgegenzutreten, muß die Re- se und dem universalen Geltungsanspruch ihrer Wissens-
flexion ihrer eigenen gesellschaftlichen Funktion einbezie- techniken tragen. Als Techniker des Wissens sind sie
hen. In der kapitalistischen Gesellschaftsformation betäti- zunächst Funktionäre der herrschenden Klasse, und erst die
gen sich die Intellektuellen in aller Regel als Funktionäre permanente selbstkritische Bearbeitung ihres Widerspruchs
der herrschenden Klasse und des Staats. Nach Gramsci ha- macht sie zu Intellektuellen. Allerdings ergreifen die univer-
ben sie die Funktion, die gesellschaftliche Hegemonie dieser sellen Intellektuellen das Wort ohne Mandat einer gesell-
Klasse und ihre staatliche Herrschaft zu organisieren. Ent- schaftlichen Gruppe, ohne den von einer Autorität zugewie-
sprechend seinem erweiterten Begriffs vom Intellektuellen senen Status. Sie haben sich der Hörigkeit gegenüber der
führen sie ihre organisierende Tätigkeit in allen gesell- herrschenden Klasse entwunden, um von nun an daraufhin
schaftlichen Bereichen, in sogenannten privaten Organisa- zu arbeiten, »daß eines Tages eine soziale Universalität
tionen und öffentlichen Einrichtungen, in kulturellen wie möglich wird, in der alle Menschen wahrhaft frei, gleich und

24 25
brüderlich sind«, um ihren »Widerspruch für alle zu leben die lokalen Auseinandersetzungen um gesellschaftliche In-
und ihn durch Radikalität für alle zu überwinden«. So be- stitutionen, die sie als Techniker des Wissens bestimmen.
haupten die universellen Intellektuellen zwar ihre Autono- Daher sieht Foucault nicht zuletzt die Universitäten und die
mie; indem die Universalität jedoch nicht abstrakt prokla- Schulen der siebziger Jahre als »bevorzugte Kreuzungs-
miert, sondern an einem singularen Faktum demonstriert punkte«, durch die sich »Querverbindungen von Wissen zu
werden soll, bedürfen sie des Rückbezugs auf ein histori- Wissen, von einem Ort der Politisierung zum anderen her-
sches Subjekt, auf die »Bewegung der arbeitenden Klassen«. stellen« lassen, während mit dem Niedergang des großen
Die Strategie der Universalisierung – der intellektuelle Schriftstellers, mit dem »Verschwinden des Autors« auch
Kampf gegen das Besondere und das Partikulare – soll dabei die »Schwelle der Schrift als sakralisierendes Kennzeichen
an ein symptomatisches Ereignis anknüpfen, das, so Sartre, des Intellektuellen« verschwinde.24
als konzentrierter Ausdruck der historischen Entwicklung Beide Modelle stehen nicht nur für gegensätzliche Stra-
angesehen werden muß.23 Als ein solches historisches Ereig- tegien der kritischen Intellektuellen, sondern sie verweisen
nis galt vielen europäischen Intellektuellen in den sechziger zugleich auf einen grundsätzlichen Funktionswandel, der
Jahren der Vietnamkrieg, der ihnen zugleich exemplarisch sich nicht allein in der Entgegensetzung von Schriftsteller
für die Kriegsführung der Hegemonialmacht USA und den und Universitätsprofessor erschöpft. Der Anspruch auf eine
imperialistischen Krieg in der sogenannten Nachkriegszeit durch die Arbeiterklasse verbürgte Universalität der Intel-
war wie für die Universalität des sozialen Kampfs, für die lektuellen wurde in den siebziger Jahren durch einen intel-
Idee der Weltrevolution, die im Befreiungskrieg des vietna- lektuellen Partikularismus abgelöst, der sich auf die soge-
mesischen FNL fixierbar schien. nannten neuen sozialen Bewegungen, vor allem auf die
Das zweite Modell liefert den Typus des spezifischen Intel- Ökologiebewegung und die Frauenbewegung, bezog. Für
lektuellen, den Michel Foucault in bewußter Abgrenzung zu kritische Intellektuelle rückten soziale Machtverhältnisse,
Sartre beschrieben hat. Die spezifischen Intellektuellen blei- deren Zentrum nicht die soziale Klasse bildet, somit über-
ben Techniker des Wissens, deren Politisierung sich nicht an haupt erst in den Blick. Die hochfliegenden Erwartungen an
dem Widerspruch zwischen der Partikularität der herr- die Universalität des sozialen Kampfs waren zerstoben, wo-
schenden Ideologie und der Universalität des Wahrheitsan- von im übrigen die gegenwärtigen Debatten über Rassismus
spruchs entzündet, sondern an der partikularen Wahrheit, und Sexismus noch theoretisch profitieren. Der spezialisti-
die Ergebnis ihrer Tätigkeit ist, jedoch darüber hinaus allge- sche Praktizismus, der dann nicht selten auch von linken In-
meine Konsequenzen hat. Sie machen sich somit allerdings tellektuellen vertreten wurde, bewirkte allerdings keines-
nicht zu Repräsentanten des Exemplarischen und Allgemei- wegs, daß die Trennung zwischen den sozialen Bewegungen
nen; vielmehr lassen sie ihre »spezifische Position in der mit ihren kollektiven Wissensformen und den Experten
Ordnung des Wissens wirksam werden«. Im Bruch mit der oder Expertinnen, die das Monopol auf das institutionali-
herrschenden Klasse rekurrieren sie gerade auf das »spezifi- sierte und verschriftlichte Wissen haben und die Regeln sei-
sche Wissen«, dessen Träger sie waren oder sind. Die spezi- ner Distribution beherrschen, beseitigt wurde. Spätestens in
fischen Intellektuellen verfolgen eine Strategie der Partiku- den achtziger Jahren zerschellte Foucaults Hoffnung auf ei-
larisierung, die es ihnen erlaubt, bestimmte Positionen zu nen »Aufstand der unterworfenen Wissensarten« an der
besetzen, um von dort Machtwirkungen zu entfalten, die die »Usurpation der kollektiven Intellektualität durch profes-
herrschende Verbindung von Macht und Wahrheit transfor- sionelle Intellektuelle«25, die den Weg zur selektiven Ver-
mieren sollen. Aber auch sie können diese Machtwirkungen staatlichung dieser Wissensarten geebnet haben. Das De-
nur im Rückbezug auf soziale Kämpfe entfalten, nämlich auf saster zahlreicher 68er-Intellektueller, aus dem ich einlei-

26 27
tend ein lokales Beispiel zitiert habe, findet in diesem Funk- wollen. Dabei aber hilft kein philosophischer Universalis-
tionswandel der kritischen Intellektuellen eher eine Begrün- mus, sondern die Universalität der Aktion. Der Kampf ge-
dung als in gängigen Verratsthesen. Sofern sie nämlich die- gen rechtes Denken wird nicht in erster Linie auf philoso-
sen Wandel mitvollzogen haben, bleiben sie einer schemati- phischem Terrain ausgetragen, sondern indem die Kette der
schen Entgegensetzung von Universalität und Partikularität Handlungen und staatlichen Maßnahmen unterbrochen
verhaftet. Weder das Modell des universellen noch das des wird, die die Ausbreitung von Rassismus und Nationalismus
spezifischen Intellektuellen ist jedoch der gegenwärtigen Si- befördert hat.
tuation angemessen.
Angesichts der Parzellierung der Tätigkeitsbereiche kri- Anmerkungen
tischer Intellektueller, der Zergliederung in politische und 1 Gerd Koenen: Die totalitäre Versuchung. Resumée einer revolu-
kulturelle Szenen und Subszenen, kann es aktuell nur darum tionären Dienstreise, die 1968 begann und endlich ziviles Gelände
gehen, die partikularen Strategien, die dieser Situation ent- erreicht hat. In: Pflasterstrand. Metropolen-Magazin, Nr. 279/280,
23.1.-5.3. 1988, S. 26ff.
springen, mit einer universalen Strategie zu verbinden, die
keine Rückversicherung in einem mystifizierten historischen 2 Anonymus: Die Erneuerung der konservativen Welt. In: Die Tat.
Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit. 24.
Subjekt mehr besitzt. Eine solche Strategie gegen Rassismus
Jg. 1933, Heft 10, S. 908
und Nationalismus zu entwickeln, kann folglich nicht be-
3 Roland Bubik: Der Standort des Jungen Konservatismus. In: Junge
deuten, sich in den bewußtseinsphilosophischen Horizont
Freiheit. Deutsche Zeitung für Politik und Kultur. 7. Jg. 1992, Nr.
der universellen Intellektuellen zu stellen. Noch zielt sie auf 12– 1 (Dez./Jan. 1992/93), S. 13 (= JF, 12 – 1/92 – 93, S. 13)
eine Konkurrenz um Machtpositionen für Staatsfunktionä- 4 Dieter Stein: Niederwerfung der Konservativen. In: JF, 4/92, S. 2
re, wie sie sich aus dem abgezirkelten Bereich der eigenen 5 Alain de Benoist: Aus rechter Sicht. Bd.1. Tübingen 1983, S. 29;
Tätigkeit ergeben könnte. Linke Intellektuelle können sich ders.: Aus rechter Sicht. Bd. 2. Tübingen 1984, S. 385; ders.: Kulturre-
weder in sogenannte geistige Auseinandersetzungen und volution von rechts. Krefeld 1985, S.46; und auch: Junges Forum, Nr. 1
Debatten mit der »Neuen Rechten« ziehen lassen noch in – 2/1984, das unter dem Titel »Metapolitik – Was ist das?« u.a. die
den Streit um die Modalitäten herrschender Politik eintre- Beiträge »Was ist die Neue Rechte« von Alain de Benoist und »Das
ten. Das heißt auch, kritische Intellektuelle müssen, wie Metapolitische Konzept des Alain de Benoist« von Piet Tommissen
Walter Benjamin forderte, »arbeiten unter der Kontrolle enthält.
der Öffentlichkeit, nicht führen«.26 6 Jean Pierre Faye: Totalitäre Sprachen. Kritik der narrativen Vernunft.
Hierzu gehört es, daß linke Intellektuelle auf dem durch- Kritik der narrativen Ökonomie. 2 Bde. Frankfurt a. M., Berlin,
schnittenen Terrain ihrer Tätigkeit polarisierend wirken, in- Wien 1977; ders.: Theorie der Erzählung. Einführung in die »tota-
dem sie ihr »spezielles Wissen« gegen das rechte Denken litären Sprachen«. Frankfurt a. M. 1977; zum Begriff »Faschisie-
rungsprozeß« vgl. Nicos Poulantzas: Faschismus und Diktatur. Die
wenden, um so das semantische Verwirrspiel als faschistische
Kommunistische Internationale und der Faschismus. München
Diskursstrategie transparent zu machen, dem magischen 1973. Insbesondere unter theoretischen und methodischen Ge-
Sprechen ein Ende zu setzen und die mythischen Erzählun- sichtspunkten sind diese zugegebenermaßen nicht leicht lesbaren
gen zu zerstören. Es geht also darum, die partikularen Stra- Bücher der beiden Autoren aufschlußreich, zumal wenn sie einander
tegien politisch in Funktion zu setzen, um zu verdeutlichen, ergänzend gelesen werden.
wie die Kette der Handlungen, die Brandstiftungen und 7 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentaris-
Morde, die Restriktionen der Administration, mit der Serie mus. 6. Aufl., Nachdr. der 2. Auflage von 1926. Berlin 1986, S. 45
von Aussagen der rechten Intellektuellen zusammentrifft, 8 Dies hat Hans Zehrer der »Neuen Rechten« bereits in seinem Tat-
welche einen rassistischen »Kulturkrieg« heraufbeschwören Artikel unter dem Titel »Rechts oder Links?« vom Oktober 1931

28 29
vorgemacht. Zehrer verzeichnet die »liberalistische Revolution von gut, daß die ›Neue Rechte‹ gleich doppelt gewinnt: Sich auf den
1918«, den Bolschewismus als »Liberalismus mit marxistischen Vor- Kommunisten Gramsci berufen, heißt sich selber von jedem ideolo-
zeichen« und warnt vor dem »liberalen Konservatismus« und vor gischen Verdacht befreien und gleichzeitig Gramsci ins Zwielicht
der NSDAP, die sich »zu liberalisieren« beginne. Zehrers fixe Idee bringen (›weil er der Rechten Munition liefert‹).« (Lothar Baier: Ei-
war der Liberalismus als totalitäres System, das seine Gegner assimi- ne Kultur für den totalen Staat. Frankreichs »Neue Rechte« (II). In:
liert, indem es alles »liberalisiert«. Vgl. Hans Zehrer: Rechts oder Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. 35. Jg. 1980,
Links? In: Die Tat. Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit. Heft 9, S. 42.) Zur Gramsci-Rezeption der »Neuen Rechten« in
23. Jg. 1931, Heft 7, S. 505ff. Frankreich vgl. auch Alex Demirović: Kulturelle Hegemonie von
9 Vgl. etwa Herbert Marcuse: Der Kampf gegen den Liberalismus in rechts. Antonio Gramsci – gesehen von der nouvelle droite. In: Die
der totalitären Staatsauffassung. In: Zeitschrift für Sozialforschung. 3. Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. 37. Jg. 1990, S. 352ff.
Jg. 1934, Heft 2, S. 161ff. 12 Carl Schmitt: Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland
10 Siehe Robert Michels: Der Aufstieg des Faschismus in Italien (1924) (Januar 1933). In: Ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Wei-
und Grundsätzliches zum Problem der Demokratie (1928); beide in: mar-Genf-Versailles 1923 – 1939. Unveränd. Nachdruck der 1. Aufl.
ders.: Masse, Führer, Intellektuelle. Politisch-soziologische Aufsätze von 1940. Berlin 1988, S. 185 – 190, hier: S. 186
1906 – 1933. Hrsg. v. Joachim Milles. Frankfurt a. M., New York 13 Vgl. die »Kulturdebatte« in der Zeitung Junge Freiheit; JF, 9/92, S.
1987, S. 265 – 297, hier: S. 283, und S. 182 – 187, hier: S. 185. Zur 11; 10/92, S. 24; 12 – 1/1992 – 93, S.13; 3/1993, S. 12 u. 13. Siehe
Aktualisierung im Diskurs der »Neuen Rechten« vgl. etwa Klaus auch neuerdings Siegfried Jäger: Die Debatte um den Kulturbegriff
Kunze: Plebiszite als Weg aus dem Parteienstaat. In: JF, 10/92, S. 23 in der Jungen Freiheit. In: Helmut Kellershohn (Hg.): Das Plagiat.
und Rolf Schlierer: Staat und Parteien müssen getrennt werden. In: Der Völkische Nationalismus der Jungen Freiheit. Duisburg 1994, S.
JF, 4/93, S. 11. 153 – 180.
11 Alain de Benoist: Kulturrevolution von rechts, a.a.O., S. 46 u. 50. Be- 14 Botho Strauß: Paare, Passanten (1981). München 1984, S.115
noists Texte werden häufig ohne Hinweis auf den Autor zitiert, als 15 Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel 6/93, S. 204
handele es sich um Aussagen von Gramsci; vgl. etwa Andreas Molau: 16 Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideo-
Kampf um einen neuen Kulturbegriff. In: JF, 9/92, S. 11. Hier findet logie. Frankfurt/M. 1964, S. 10
sich als Konklusion folgendes Konglomerat: »Für die Bedeutung ei-
17 Botho Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie.
nes neuen ›Kulturkampfes‹ ist nicht zuletzt der italienische Kommu-
München 1992, S. 78
nist Antonio Gramsci heranzuziehen, der im Gegensatz zu Marx der
18 Siehe Angelika Willig: Das Geräusch des Toastkauens. Botho
Ansicht war, daß sich der Staat nicht bloß auf den politischen Appa-
Strauß: »Beginnlosigkeit«. In: JF, 10/92, S. 15 u. 16. Dort heißt es
rat reduzieren lasse. Eine Schlüsselposition käme der Kultur zu, die
bezogen auf den Faschismus als Konstruktion aus Mythos und Tech-
dem Staat eine ideologische Hegemonie sichere, aus der wiederum
nik: »Es ist kein Ereignis, keine Ankunft, keine Wende und auch
eine spontane Zustimmung der Mehrheit zu einer bestimmten Auf-
kein ›mystischer Augenblick‹, sondern eine Tat. Davor scheut je-
fassung der Dinge resultiere. Dies würde eine bestimmte Werteska-
mand wie Strauß noch zurück. Er sieht ein, daß es einen neuen Ein-
la konstituieren. Die Kultur soll demnach gleichsam Befehls- und
satz gilt, und verlangt dafür die alten Sicherheiten.« Vgl. auch Hol-
Ausgabestelle für Ideen und Werte sein.« Die Bestimmungen pur-
ger Tegtmeyer: Die alte Schlachtordnung. Botho Strauß und das
zeln munter durcheinander; da der »neue Rechte« keinen Begriff
Wehgeschrei der Feuilletons. In: JF, 4/93, S. 12
von Gesellschaft, schon gar nicht von herrschender Klasse hat, ver-
schiebt sich Gramscis Begriff der »kulturellen Hegemonie« kurzer 19 Georges Sorel: Über die Gewalt. Frankfurt a. M. 1981, S. 143 u. 145
Hand auf den Staat. Bereits 1980 hat Lothar Baier festgestellt: 20 Carl Schmitt: Die politische Theorie des Mythus (1923). In: Ders.:
»Wenn Benoist immer wieder hervorhebt, daß die Theorie der ›kul- Positionen und Begriffe, a.a.O., S. 9 – 18, hier: S. 16f.; ders.: Die geistes-
turellen Macht‹ von Antonio Gramsci entwickelt wurde, verrät er geschichtliche Lage, a.a.O., S. 88
weniger über die wahre Herkunft der ›neuen rechten‹ Strategie, als 21 Vgl. Karlheinz Weißmann: Rückruf in die Geschichte. Die deutsche
daß er zu erkennen gibt, wie sie funktioniert. Und sie funktioniert so Herausforderung. Berlin, Frankfurt/M. 1992, S. 138ff. Zur Kritik

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der Konstruktion des Nationalen vgl. Ludi Lodovico: Wem das Zauberwort Kultur
Posthorn bläst – zur Konstruktion und Konjunktur des Nationalen.
In: Prokla 87 (Juni 1992), S. 189ff. Zur Geschichte der Kulturideologie
22 Günter Maschke: Sterbender Konservativismus und Wiedergeburt in Deutschland
der Nation. In: Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwi-
schen Kunst und Wissenschaft I. München 1987, S. 359 – 371, hier:
S. 371. Zum »Kulturkrieg« heißt es etwa in »Es entsteht eine neue
Kultur« von Stefan Ulbrich (JF, 10/92, S.24), daß Kultur »vor allem
eine geregelte Form des zwischenmenschlichen und gesellschaftli-
chen Krieges« sei. Ulbrich will in Jüngerscher Kriegerpose die mul- Kaum ein zweites Wort in der politisch-sozialen Sprache be-
tikulturelle Gesellschaft überstehen: »Der kriegerischen Haltung sitzt eine ähnliche Anziehungskraft wie das der Kultur. Sein
der Neuen Rechten kommt die Herausforderung der multikulturel- Zauber rührt vermutlich daher, daß die Bezeichnung Kultur
len Gesellschaft daher gerade recht.« Stefan Ulbrich: Verdammt auf allen Ebenen des Wissens, im Alltagsgespräch wie im
viele Thesen ... Warum Multikulturalismus ein Konzept der Neuen wissenschaftlichen Diskurs, zugleich angesiedelt ist. Das
Rechten ist. In: Ders. (Hrsg.): Multikultopia. Gedanken zur multi-
Wort suggeriert eine Erklärung für Phänomene und Verhal-
kulturellen Gesellschaft. Vilsbiburg 1991, S. 299 – 346, hier: S. 342f.
Vgl. auch das »Kulturkrieg«-Konzept bei Pierre Krebs und dem
tensweisen, ohne allerdings scharf umrissene Bestimmungen
Kasseler »Thule-Seminar«; so bereits Pierre Krebs: Die europäische zu liefern. Es hat statt dessen eine Reihe von unterschiedli-
Wiedergeburt. Aufruf zur Selbstbesinnung. Tübingen 1982. chen Bedeutungen und taucht, vom Kulturbeutel bis zur
23 Zitate alle aus Jean-Paul Sartre: Plädoyer für die Intellektuellen Subkultur, von der Kulturpflanze bis zum TV-Kulturkanal,
(1965). In: Ders.: Mai ’68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze in vielfältigen Kombinationen auf.
2. Reinbek 1975, S. 9 – 64. Angesichts dieser Polyvalenz der Bedeutung soll den
24 Zitate alle aus Michel Foucault: Wahrheit und Macht (1977). In: zahlreichen Versuchen, den Kulturbegriff inhaltlich zu defi-
Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. nieren1, hier kein weiterer hinzugefügt werden. Aber auch
Berlin 1978, S. 21 – 54, insb. S. 44ff. Vgl. auch ders.: Historisches die Bestimmung seiner funktionellen Seite wirft erhebliche
Wissen der Kämpfe und Macht (1976). In: Ebd., S. 55ff. Schwierigkeiten auf, da der Terminus sich auf allen Feldern
25 Alex Demirović: Führung und Rekrutierung. Die Geburt des Intel- der politisch-sozialen Sprache anscheinend umstandslos ge-
lektuellen und die Organisation der Kultur. In: Walter Prigge nerieren läßt, wie etwa die Komposita Kulturvolk, Kulturna-
(Hrsg.): Städtische Intellektuelle. Urbane Milieus im 20. Jahrhundert. tion, Kulturstaat und Kulturgesellschaft oder auch Kultur-
Frankfurt a. M. 1992, S. 47 – 77, hier: S. 66
kampf, Kultursozialismus, Kulturfaschismus, Kulturreakti-
26 Als 1930 Bertolt Brecht und Walter Benjamin ein Zeitungsprojekt
on, Kulturbolschewismus und Kulturrevolution zeigen. Ob-
unter dem Titel »Krise und Kritik« entwarfen, gerieten sie in Streit
gleich diese Aufzählung leicht fortzusetzen wäre, handelt es
über die Funktion der Intellektuellen, an die diese Zeitschrift sich
richten sollte. Brecht forderte, so heißt es im Protokoll der Diskussi- sich bei dem Zauberwort Kultur nicht um eine leere Wor-
on: »Man braucht eine Führerstellung, wenn man Funktion ausüben thülse oder um einen beliebigen Modebegriff.
will.« Benjamin lehnte das hingegen ab: »Kein Intellektueller darf Dem Kulturbegriff kommt innerhalb der bürgerlichen
heute aufs Katheder steigen und Anspruch erheben, sondern muß Gesellschaft vielmehr eine besondere legitimatorische Funk-
arbeiten unter der Kontrolle der Oeffentlichkeit, nicht führen.« Zit. tion und Bedeutung zu, die auf den Kampf um die ideologi-
nach Erdmut Wizisla: »Krise und Kritik« (1930/31). Walter Benja- sche Herrschaft des Bürgertums gegen Kirche und Gottes-
min und das Zeitschriftenprojekt. In: Michael Opitz/ders. (Hrsg.): gnadentum zurückgeht. Die Durchsetzung der bürgerlichen
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin. Kulturideologie hat ihn schließlich zu einem festen Bestand-
Leipzig 1992, S. 270 – 302, hier: S. 286.
teil jenes begrifflichen Instrumentariums gemacht, in dem

32 33
noch heute die gesellschaftlichen Beziehungen reflektiert schichtlichen Darstellung immer um die ideologischen For-
und das Selbstbewußtsein sozialer Gruppen zum Ausdruck men, in denen die Menschen ihr Selbstbewußtsein ausbilden
gebracht wird. In solcher Selbstdarstellung allerdings bleibt und ihre Konflikte austragen. Die häufige Verwendung des
das traditionelle Kulturverständnis zumeist weitgehend un- Begriffs Kultur deutet einen integrativen, auch interdiszi-
angetastet; zumal, wenn das Bewußtsein verloren geht, daß plinären Ansatz an, verdeckt dabei jedoch lediglich die
der Kampf um die Bedeutung von Kultur zugleich ein Lücke, die zwischen der historischen Beschreibung der so-
Kampf gegen die bestehende Kultur ist und an dessen Stelle zialen und der ideologischen Prozesse klafft. Mehr noch, in-
die »Kulturliebe« tritt, wie Max Horkheimer sie an den dem die Kulturgeschichte die Sozialgeschichte verdrängt hat
Konzepten des neuhumanistisch-ethischen Sozialismus in- und als Folge der konservativen Wende der achtziger Jahre
nerhalb der deutschen Sozialdemokratie kritisiert hat2, wird in das explizit antimarxistische Programm des Neohistoris-
das kulturelle Selbstbewußtsein zur Affirmation des herr- mus eingeliedert wurde, ist sie zur Apologie des Kulturalis-
schenden Kulturalismus. mus und unter den Auspizien der ideologischen Renationali-
Nicht zuletzt die Renaissance kulturgeschichtlicher Be- sierung zur Restauration seiner deutschen Traditionen ver-
trachtungen in der bundesrepublikanischen Historiographie kommen.
der achtziger Jahre kann als Indiz eines neuen Kulturalismus
angesehen werden. Ohne Zweifel ist diese Renaissance auch Fundierung des bürgerlichen Kulturalismus:
die Reaktion auf Defizite einer Sozialgeschichtsschreibung, Kant, Schiller, Herder
die den historischen Prozeß auf sozioökonomische Struktu- Die gegenwärtigen Formen des Kulturalismus stehen unver-
ren reduzierte, hinter denen nicht selten die sozialen Akteu- kennbar in der Tradition der bürgerlichen Kulturideologie,
re zu verschwinden drohten. Noch 1986 hat etwa der Sozial- wie sie bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert entworfen
historiker Jürgen Kocka mit Bezug auf die Forschungen des wurde. Hier geht der Kulturbegriff in die politisch-soziale
englischen Historikers Edward P. Thompson eine mögliche Sprache ein, indem er sich aus der Entgegensetzung von »zi-
Perspektive formuliert, um diese Verkürzungen zu umge- vilisiert« und »primitiv« einerseits und von »kultiviert« und
hen: »Wenn es gelingt, marxistische Grundpositionen mit »barbarisch« andererseits entwickelte, welche die Überwin-
kulturgeschichtlichen Interessen zu verknüpfen und gleich- dung des vermeintlichen Naturzustandes signalisieren sollte,
zeitig sozialökomischen Determinismus zu vermeiden, ist wie sie die Staatsphilosophie von Hobbes bis Rousseau vor-
die Chance zur fruchtbaren Verbindung von Sozialgeschich- gegeben hatte.
te und Kulturgeschichte besonders groß.«3 Allerdings ist ein In der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt-
hinreichendes theoretisch-methodisches Konzept noch bürgerlicher Absicht von 1784 formuliert Kant in Anspielung
nicht gefunden, daß die Geschichte der sozialen Klassen und auf Rousseaus Ablehnung und Kritik der absolutistischen
ihrer Kämpfe mit der Geschichte kultureller Bestrebungen »Zivilisation« einen moralphilosophisch begründeten Kul-
zu verbinden in der Lage wäre, ohne selbst im Historizismus turbegriff: »Wir sind im hohen Grade durch Kunst und
und Empirismus befangen zu bleiben. Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert, bis zum Überlä-
Kulturgeschichte soll Auskunft geben über Wissensar- stigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständig-
ten, Kommunikationsprozesse und Deutungsmuster, über keit. Aber, uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt
Bräuche, Feste und Symbole, über Mentalitäten, Religionen noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur
und Künste wie über die Organisationen, Institutionen und Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das
Apparate, in denen sie geregelt werden. In Begriffen der Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständig-
Marxschen Theorie gefaßt, geht es also in der kulturge- keit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus.«4

34 35
In dieser Unterscheidung von Kultur und Zivilisation führt, in dem allein das »Ideal der Gleichheit« sich realisie-
wird die integrative Funktion des Kulturbegriffs deutlich. ren lasse (27. Brief).6
Kant verbindet Kunst, Wissenschaft und Moral zu einem Neben der Unterscheidung zwischen Kultur und Zivili-
sich gegenüber staatlichen und ökonomischen Instanzen ab- sation, dem Programm der Veredelung und dem Elitismus
hebenden Kulturalismus. Es handelt sich allerdings nicht entsteht zur gleichen Zeit ein weiteres kulturalistisches Pro-
um einen holistischen Begriff. Vielmehr ist er klassifikato- gramm, das den herrschenden Kulturbegriff vorgeprägt hat.
risch unterschieden vom Begriff der Zivilisation, der unmit- Es handelt sich um Herders spekulative Konzeption einer
telbar auf die gesellschaftliche Lebenspraxis angewendet ist. Geschichtsschreibung, die Volk, Nation, Sprache und Kul-
Auch nimmt der Gegensatz hier noch nicht die spätere, ver- tur in einen assoziativen und historisch fiktiven Zusammen-
einfachende Form der Unvereinbarkeit an, wie etwa in der hang bringt, um von der Natur zur Humanität aufzusteigen.
Kulturmorphologie Oswald Spenglers.5 Zivilisation und Die zentrale Metapher für eine geschichtlich sich vollenden-
Kultur bleiben aufeinander bezogen, wenngleich Kant sei- de Humanität ist bei Herder die »Kette« der nationalen
nen Vorbehalt gegen die Zivilisierung nicht verbergen kann. Kulturen, in der sich die Geschichte der Menschheit – in
Denn die Idee der Moralität enthält in der Kantschen Vor- durch Aufstieg und Niedergang bestimmte Kulturkreise zer-
stellung das Versprechen auf einen nicht vereinseitigten ge- legbar – darstelle.
sellschaftlichen Fortschritt, der sich auf dem Weg von der Symptomatisch für dieses historiographische Programm
Natur durch die Zivilisation zur Kultur realisieren lassen ist folgende Stelle aus Herders umfangreicher Schrift Ideen
werde. zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, die zwischen
Vor dem Hintergrund dieser Konzeption unternimmt 1784 und 1791 publiziert wurde: »Die Kultur eines Volkes
Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des ist die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar ange-
Menschen von 1795 den Versuch einer praktischen Bestim- nehm, aber hinfällig offenbaret. Wie der Mensch, der auf die
mung des Kulturbegriffs. »Aufgabe der Kultur« sei es, »den Welt kommt, nichts weiß – er muß, was er wissen will, ler-
Menschen auch schon in seinem bloß physischen Leben der nen – so lernt ein rohes Volk durch Übung für sich und
Form zu unterwerfen und ihn, so weit das Reich der Schön- durch Umgang mit anderen.«7 Neben der Kulturverfallsthe-
heit nur immer reichen kann, ästhetisch zu machen, weil nur se, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den
aus dem ästhetischen nicht aber aus dem physischen Zustand zahlreichen Dekadenz-Diagnosen wieder auftaucht, ist vor
der moralische sich entwickeln kann« (23. Brief). In der allem diese Analogiebildung kennzeichnend für seinen Be-
Wendung von der klassifikatorischen zur praktischen Be- griff einer nationalen Kultur, denn Herder behandelt Natio-
stimmung wird hier der Kulturalismus zum Programm der nen als Individualitäten. Er spricht vom »Körper der Nati-
»Veredelung« des Bestehenden. Die bürgerlichen Bestre- on«, »in dessen sämtlichen Gliedern nur eine gemeinschaft-
bungen nach Emanzipation sind auf das »Reich des schönen liche Seele lebet«.8 In der Kultur soll sich diese Seele als
Scheins« umgelenkt. Das »politische Problem«, so begrün- Volksseele manifestieren und objektivieren. Die Mystifikati-
det Schiller seine Verurteilung der Französischen Revoluti- on der Seele verschiebt den Kulturbegriff jedoch von der
on, muß »durch das ästhetische den Weg nehmen ..., weil es klassifikatorischen wie der praktischen Bestimmung eines
die Schönheit ist, durch die man zu der Freiheit wandert« autonomen sozialen Bereichs auf eine kontemplative, vor al-
(2. Brief). Es bleibt jedoch zunächst »einigen wenigen auser- lem aber einfühlende Praxis, die sich das Bildungsbürgertum
lesenen Zirkeln« vorbehalten, sich auf diese Wanderschaft später zu eigen machen konnte, ohne den Anspruch auf Uni-
zu machen. Das praktische Verständnis der Kultur als auto- versalität und Ubiquität der Kulturgüter aufzugeben. Her-
nomer Sphäre hat zu einem kulturalistischen Elitismus ge- bert Marcuse hat diese Verschiebung mit Bezug auf Herders

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Geschichtsphilosophie treffend so charakterisiert: »In ihrer Die Elemente erscheinen heterogen, sie bestehen vorerst
Eigenschaft universaler Einfühlung entwertet die Seele die nebeneinander. Wie könnten etwa auch ästhetischer Elitis-
Unterscheidung des Richtigen und des Falschen, Guten und mus und Kultur des Volkes zusammenpassen?
Schlechten, Vernünftigen und Unvernünftigen, welche
durch die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Nationalkultur, Kulturstaat und Militarismus
Hinblick auf die erreichbaren Möglichkeiten der materiellen Zunächst handelt es sich um Entwürfe von konzeptiven In-
Daseinsgestaltung gegeben werden kann.«9 tellektuellen einer neuen Klasse, die die höfische Kultur
Herder nun machte es sich in diesem Sinne zur Aufgabe, bekämpfen. Ihre Konzeptionen enthalten unterschiedliche
die Existenz einer deutschen Volksseele zu belegen und Do- kategoriale Bestimmungen und schließen unterschiedliche
kumente deutscher Sprache kontinuitätsstiftend zu präsen- historische und praktische Konsequenzen ein. Allerdings be-
tieren; er startete eine Initiative nach der anderen, um seine sitzt bereits in den aufgezeigten Bestimmungen der Kultur-
Zeitgenossen von der Existenz einer spezifischen Kultur und begriff die Funktion, die tatsächlichen politischen wie sozia-
Literatur des deutschen Volkes zu überzeugen. Mit dem Ziel len Konsequenzen des Aufstiegs der neuen Klasse, der Bour-
einer Abgrenzung von der höfischen Kultur verwirft er de- geoisie, nämlich die Durchsetzung der kapitalistischen als
ren »Gallicomanie« noch zu einem Zeitpunkt, als die Fran- der dominanten Produktionsweise und die Einrichtung von
zösische Revolution die Macht der Aristokratie bereits un- bürgerlicher Republik und staatsbürgerlichen Rechten, in
tergraben hatte. In seinen Briefen zu Beförderung der Huma- kulturelle Formen zu bringen. Die Historisierung von Kul-
nität, zwischen 1793 und 1797 verfaßt, pocht er auf eine Ab- tur und Literatur, die sich ausgehend von Herders Mystifi-
lehnung Frankreichs, in der das Postulat eines lernenden kation der Seelenkräfte um die Nation als Zentrum kristalli-
»Umgangs mit anderen« völlig verschwunden ist, und sierte11, lieferte den Anstoß für die im 19. Jahrhundert vehe-
schreibt: »Wenn Sprache das Organ unsrer Seelenkräfte, das ment einsetzende Suche nach einem Ursprung der deut-
Mittel unsrer innersten Bildung und Erziehung ist, so kön- schen Sprache wie für die Konstruktion einer kulturellen
nen wir nicht anders als in der Sprache unsres Volkes und Identität, die durch die deutsche Frühromantik, durch No-
Landes gut erzogen werden; eine sogenannte französische valis, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Wilhelm von
Erziehung ... in Deutschland muß deutsche Gemüter not- Humboldt, Jakob und Wilhelm Grimm viel nachhaltiger auf
wendig mißbilden und irreführen«.10 die deutsche Kulturideologie gewirkt hat als durch die volks-
Zusammenfassend lassen sich drei Elemente der im tümelnden Nationalisten Ernst Moritz Arndt und Friedrich
Kontext des sogenannten deutschen Idealismus, nicht zu- Ludwig Jahn.
letzt in Entgegensetzung zur Kultur des Adels wie zur Fran- Die heterogenen Konzeptionen werden im entstehenden
zösischen Revolution entstandenen Kulturideologie hervor- bürgerlichen Vereinswesen und auch an den neuhumanisti-
heben: schen Universitäten des 19. Jahrhunderts weitergetragen,
1. die Abhebung der Kultur von der materiellen Lebens- ausgearbeitet und verbreitet. Im Prozeß der Nationalisie-
praxis, die sich in der Unterscheidung von Kultur und Zivi- rung verschmelzen sie zu der herrschenden Kulturideologie,
lisation ausgedrückt hat; die das Bürgertum nach dem Scheitern der Revolution von
2. das Programm einer praktischen Kultur, die auf eine 1848 mit dem politisch dominanten preußisch-junkerlichen
ästhetische Veredelung der bestehenden gesellschaftlichen Staat versöhnte. Bereits 1849 heißt es in dem »Entwurf zu
Verhältnisse gerichtet ist; einem Gesetz über die Organisation der Kunstangelegen-
3. das Programm einer Nationalkultur, die als Ausdruck heiten« in Preußen: »In Betracht des wohltätigen Einflusses,
der Seelenkräfte eines Volkes aufgefaßt wird. welchen die Kultur auf die Läuterung der Sitte und der all-

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gemeinen Bildung des Volkes auszuüben vermag, erkennt volk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven,
der Staat die Pflege der Kunst als Nationalbedürfnis an.«12 eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Schol-
Insbesondere nach der Reichsgründung von 1871 wird der le.«14 Hier nun kommt der sinn- und identitätsstiftende Ef-
hierin sich manifestierende Anspruch des preußischen Staats fekt des nationalen Kulturbegriffs deutlich zum Ausdruck:
als eines »Kulturstaats« zur zentralen Legitimationsformel »Kultur« zur Veredelung – in der Nennung der Namen
für die Universitätsprofessoren.13 Sie sehen sich als Reprä- Goethe, Beethoven und Kant repräsentiert – und »Kultur«
sentanten der nationalen Kultur und als Hüter des »Kultur- als produktive und reproduktive Tätigkeit in den Metaphern
staats«; sie wenden den Kulturbegriff gegen die unteren von »Herd« und »Scholle« werden im Begriff »Kulturvolk«
Klassen, die sie zur »amorphen Masse« machen, wie gegen verschmolzen und rassistisch artikuliert. Brüderlichkeit als
die schwach entwickelten demokratischen Institutionen. militaristische Kameraderie, so dachten sie sich die deutsch-
Beides sehen sie als Ausdruck der gehaßten und verächtlich nationale Überwindung der Ideen von 1789.
gemachten westlichen Zivilisation, die der angeblich ver- Die »Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst« ha-
edelnden Wirkung deutscher Kultur widerspreche. ben sich jedoch getäuscht: Ihr mit bildungsbürgerlichen wie
Dieses kulturalistische Selbstverständnis hat sich dann romantisierenden Reminiszenzen geladener Kulturbegriff
während des Ersten Weltkriegs in der Kriegsrhetorik der machte ihnen die gesellschaftliche Entwicklung seit der
»deutschen Gelehrten«, die sich vornehmlich gegen das Reichsgründung, den Kapitalismus der großen Industrie
Frankreich der Dritten Republik richtete, niedergeschlagen. und das politische Erstarken der Arbeiterbewegung in Ge-
So etwa in folgenden Formulierungen aus einem »Aufruf an stalt der Sozialdemokratie, schließlich aber auch die erstmals
die Kulturwelt« von 1915, den, um nur einige der »Vertreter technisch wie auch durch die Form der Massenheere be-
deutscher Wissenschaft und Kunst« zu nennen, Peter Beh- stimmte Kriegsführung selbst unbegreiflich. Die Volksge-
rens, Paul Ehrlich, Rudolf Eucken, Gerhart Hauptmann, meinschaft, die sie mit Goethe, Beethoven, Kant und mit
Max Liebermann, Friedrich Naumann, Max Planck, Max »Herd und Scholle« beschworen, zerbrach nicht nur an der
Reinhardt, Wilhelm Röntgen, Gustav von Schmoller, Karl militärischen Niederlage, sondern auch an der revolu-
Voßler und Wilhelm Wundt unterzeichnet haben: »Sich als tionären proletarischen Rätebewegung, die die im Reichstag
Verteidiger der europäischen Zivilisation zu gebärden, ha- vertretenen Parteien einschließlich der Mehrheitssozialde-
ben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und mokratie niederzuhalten beabsichtigten. Mit dem Zusam-
Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schau- menbruch des wilhelministischen Staats geriet auch die Kul-
spiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu turideologie der »deutschen Gelehrten« in eine Krise.
hetzen. Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unsern soge-
nannten Militarismus kein Kampf gegen unsre Kultur ist, Faschistische Kulturpropaganda
wie unsre Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deut- Von grundlegender Bedeutung ist die Transformation des
schen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Kulturbegriffs, die sich in der Folge durch die Übertragung
Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutz ist er aus ihr hervorge- des Kulturalismus auf die Massen vollzog. Zwar deutet sie
gangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzü- sich in dem oben zitierten Aufruf von 1915 bereits an, wurde
gen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer aber erst in der Krise der Weimarer Republik von den Nazis
und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert effektiviert. Auch dem kulturellen Wir des NS-Volksge-
heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bil- meinschafts- und Rassendiskurses sind die Elemente der
dung, des Standes und der Partei. ... Glaubt uns! Glaubt, daß bürgerlichen Kulturideologie, die Mystifikation der Seelen-
wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kultur- kräfte und die ästhetische Veredelung, eingegliedert. »Ras-

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senseele« ist in diesem Sinne das Schlüsselwort in Alfred nationalen Sache, in einem Pflichtgefühl, das zum unum-
Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts.15 stößlichen Prinzip erhoben wird: Wir alle sind mehr oder
Gegen den Klassenkampf gewendet, hat etwa Hitler in weniger Romantiker einer neuen deutschen Geltung vor uns
seiner Rede zum 1. Mai 1933 auf ähnliche Weise eine »völ- selbst und vor der Welt! Das Reich dröhnender Motoren,
kische Verbundenheit« konstruiert, indem er die »Volkssee- himmelstürmender technischer Erfindungen, grandioser in-
le« quasi deutet und ihr zuschreibt: »Das Volk fühlt unbe- dustrieller Schöpfungen, weiter, fast unerschlossener Räu-
wußt in seinem Inneren, daß jene Feiern marxistischer Art in me, die wir für unser Volkstum besiedeln müssen, – das ist
Widerspruch standen zur Zeit der Frühlingswende. Es woll- das Reich unserer Romantik!«18 Die Metapher der »stähler-
te nicht Haß, es wollte nicht Kampf, es wollte Erhebung!« nen Romantik« in dieser Sequenz einer Rede, die der Ger-
Hitler beginnt seine Rede mit der romantisierenden Remi- manist Goebbels am 9. Juli 1943 vor Studenten an der Uni-
niszenz: »Und heute können wir wieder mit dem alten versität Heidelberg hielt, um, wie er einleitend sagte, »zum
Volkslied singen: Der Mai ist gekommen. Unseres Volkes geistigen Deutschland zu sprechen«, ersetzt die romantisie-
Erwachen ist da.« Am Ende seiner Rede verspricht er öffent- renden Reminiszenzen, die noch die Kulturkriegspropagan-
liche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie etwa das »Pro- da im Ersten Weltkrieg charakterisierten. An die Stelle von
gramm unseres Straßenneubaus«, um mit der Beschwörung »Herd und Scholle« sind »himmelstürmende technische
des »ewigen Kampfes« gegen die feindliche Welt und dem Erfindungen« und »grandiose industrielle Schöpfungen«
Appell an die Opferbereitschaft zu schließen.16 In der Ver- getreten, um den erneuten ›Griff nach der Weltmacht‹ zu il-
schiebung vom kulturellen zum nationalen Wir wird die tra- lustrieren. Die »stählerne Romantik« ist jedoch nicht nur
ditionelle Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation ab- die Metapher für das traditionelle militaristische Programm
gelöst durch deren mobilisierende Integration, wobei sich nationalstaatlicher Expansion, sondern auch für den »Volks-
der Bogen vom Mailied bis zum Straßenbau oder auch von und Rassekrieg« (Goebbels), den die Nazis vor allem in Ost-
antikisierendem Klassizismus bis zur Begeisterung für die europa führten; sie steht zugleich für die rassistische Segre-
Motorisierung der Welt spannen konnte. Bereits in Hitlers gations- und Vernichtungspraxis, die sie betrieben, um ihre
Mein Kampf (1925/1927) finden sich synthetisierende For- »arische Kulturmission« zu erfüllen.
mulierungen im Kontext des rassistischen Kulturalismus, Auch im aktuellen Diskurs der »Neuen Rechten« ist die-
wenn Hitler den »menschlichen Fortschritt« als kulturelle se Metapher aufzufinden. Wer ihre Texte aufmerksam liest,
Mission »arischer Völker« darstellt und der Verbindung aus wird ihren Beteuerungen, sich vom Nazismus völlig gelöst
»hellenischem Geist und germanischer Technik« eine welt- zu haben, ohnehin mit Skepsis begegnen. Die Goebbels’sche
beherrschende Rolle zuweist.17 Herrschaftsutopie erweist sich jedenfalls als inhärenter Be-
Die klassizistischen wie die romantisierenden Elemente standteil ihres vermeintlich kulturrevolutionären Pro-
der NS-Propaganda sind der Kulturideologie des Bildungs- gramms. In der Aufsatzsammlung Kulturrevolution von rechts
bürgertums entnommen und mit technizistischen Herr- etwa kennzeichnet Alain de Benoist, Chefdenker der Nou-
schaftsutopien verknüpft. Das signifikanteste Beispiel dieser velle Droite in Frankreich, die neurechte Zielsetzung da-
Verknüpfung liefert schließlich Goebbels: »Jede Zeit hat ih- durch, daß der faschistische »Mensch der Zukunft« eine
re Romantik, das heißt: ihre poetische Vorstellung vom Le- »Romantik aus Stahl praktizieren«19 werde. Tatsächlich ru-
ben, auch die unsere. Diese ist härter und grausamer als die fen die faschistischen Protagonisten in der Gegenwart nicht
vergangene, aber romantisch ist sie wie diese. Die stählerne mehr zum »Rassekrieg«, sondern zum »Kulturkrieg« auf.
Romantik unserer Zeit manifestiert sich in berauschenden Und zur eigenen Ermutigung behaupten sie, der »kriegeri-
Leistungen und in einem rastlosen Dienst an einer großen schen Haltung der Neuen Rechten« komme die »Heraus-

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forderung der multikulturellen Gesellschaft daher gerade zu sammeln, zugleich ging es um die Vorbereitung der
recht«, denn Kultur bedeute »vor allem eine geregelte Form Volksfrontpolitik für Frankreich und für eine geplante deut-
des zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Krie- sche Exilregierung, insbesondere um einen Konsens linker
ges«.20 Hier nun scheint der Kulturbegriff etwas von seiner Intellektueller im Vorfeld politischer Initiativen.22 Bereits
ersten bürgerlichen Bestimmung als Kampfbegriff zurück- die Tagesordnungspunkte verweisen auf diesen politischen
zuerhalten. Doch den Propagandisten des faschistischen Zusammenhang: Neben den enger auf die schriftstellerische
Kulturkriegs geht es nicht mehr um ein – wie auch immer Tätigkeit bezogenen Fragestellungen wie »Rolle des Schrift-
beschränktes – Derivat bürgerlicher Autonomie, sondern stellers in der Gesellschaft« und »Probleme des Schaffens«,
um Kultur als Substrat nationaler Ordnung, das sie mit der in deren Rahmen nicht selten auch Stellung zu einer mögli-
Bezeichnung kulturelle Identität belegen. Enthielt der chen Volksfrontpolitik genommen wurde, dominierten die
frühere bürgerliche Kulturbegriff noch das Versprechen Themen »Das Kulturerbe«, »Das Individuum«, »Humanis-
künftiger Freiheit des Individuums, so ist der faschistische mus«, »Nation und Kultur« und selbstverständlich das
Kulturbegriff die schiere Apologie der historischen Trans- Oberthema »Verteidigung der Kultur«.23
formationen, in denen sich das bürgerliche Kulturverständ- Vergleicht man den Arbeitsplan mit dem tatsächlichen
nis nationalisierte und verstaatlichte, so daß es zum Gefäng- Verlauf des Kongresses, so wird deutlich, daß die Themen-
nis individueller Freiheit und sozialer Emanzipation wurde. stellungen zum Verhältnis von kulturellem Kampf und ge-
sellschaftlichen Klassen und zum Verhältnis von literarischer
Kultureller Antifaschismus Produktion und politisch-gesellschaftlicher Entwicklung ge-
Die ideologische Transformation des bürgerlichen Kultura- strichen oder an den Rand gedrängt wurden, während über-
lismus in der faschistischen Kulturpropaganda hat nach der proportional viele Schriftsteller zum Thema »Nation und
Niederlage der parteiförmig organisierten Arbeiterbewe- Kultur« das Wort ergriffen haben. Der thematischen Ver-
gung und der linken Intellektuellen in der Staatskrise von schiebung entspricht die Ausgrenzung der künstlerischen
1930 bis 1933 auch in der antifaschistischen Politik nachge- Avantgarde und der proletarisch-revolutionären Literatur.
wirkt. An einer Stelle seiner Quaderni del carcere hat der ita- Vorherrschend ist in den Redebeiträgen der Rückbezug auf
lienische Kommunist Antonio Gramsci einen Begründungs- den bürgerlichen Kulturalismus, eine »Rückkehr zum ver-
ansatz hierfür geliefert. Seiner Beobachtung zufolge ist die bürgten Kanon«, in der, wie Albrecht Betz feststellt, die
Herrschaft einer Partei totalitären Typs durch die Prädomi- »Sehnsucht nach Harmonie und Sicherheit«, der »ver-
nanz der kulturellen Funktionen gegenüber der Politik und klärende, antikisierende Heroismus« sowie die »traditionel-
den politischen Fraktionierungen gekennzeichnet, so daß al- le Spaltung zwischen Dichter und Publikum« zum Ausdruck
le politischen Fragen sich in kulturelle Formen kleiden und gebracht wurde, welche »ihr politisches Pendant im Verhält-
als solche unlösbar werden.21 Ein Beispiel, daß diese Kultu- nis von Führer und Masse« findet.24
ralisierung nicht nur für den faschistischen Staat gelten Die meisten Redebeiträge sind durch politisch-ideologi-
kann, den Gramsci als dessen Gefangener und unter dem sche Auffassungen bestimmt, die anzeigen, daß die Intellek-
Eindruck der Lektüre faschistischer Zeitschriften vor Augen tuellen im Umfeld der kommunistischen Parteien zuvor be-
hatte, sondern auch die politischen Formen der Opposition kräftigte Positionen aufgegeben haben. Für die Artikulation
betrifft, lieferte der Internationale Schriftstellerkongreß zur sozialer Konflikte und politischer Differenzen ist kein Raum
Verteidigung der Kultur vom 21. bis 25. Juni 1935 in Paris. mehr geblieben. Unter Berufung auf Geist, Vernunft, Hu-
Die Bedeutung dieses Kongresses bestand nicht nur dar- manität und Kultur sollte der Kampf gegen den Faschismus
in, die antifaschistische Opposition im kulturellen Bereich organisiert werden, so daß sich die Gegenbegriffe Ungeist,

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Unvernunft, Inhumanität und Barbarei ganz unwillkürlich die »Befreiung« der Kulturnation Deutschland, ohne die hi-
zu dessen Kennzeichnung einstellten. Unter dem Signum storische Herausbildung der faschistischen Identifikation
»Kultur gegen Barbarei« stehen die politischen Aussagen von Kultur und Nation auch nur zur Kenntnis zu nehmen
nahezu aller Rednerinnen und Redner. Dies mag auf den er- und zu diskutieren.
sten Blick nicht verwunderlich scheinen, da es sich zumeist Dieser Tendenz stellen sich nur wenige entgegen. Unter
um Schriftstellerinnen und Schriftsteller handelt, die, wie den französischen Schriftstellern sind es in erster Linie die
André Gide sagt, »nur von Kultur und Literatur sprechen« Surrealisten um André Breton, die sich weigern, die bürger-
wollen. Die wenigsten äußerten sich aber als solche. liche Kultur Frankreichs unbesehen zu verteidigen, und auf
Der kommunistische Schriftsteller Erich Weinert etwa dem internationalen Charakter der sozialen und poetischen
beginnt seine kurze Rede mit den Sätzen: »Dieser Kongreß Revolution beharren. Zu diesen Ausnahmen gehörte aber
steht im Zeichen der Verteidigung der Kultur. Die Kultur auch Robert Musil, der in seiner Rede die strikte Trennung
verteidigen heißt, ihre Widersacher und Verfälscher aus der von Kultur und Politik auf der Grundlage eines »übernatio-
Welt schaffen. Aber ihre Feinde sind identisch mit den Fein- nalen«, durch die künstlerische Individualität geprägten
den der Erkenntnis, des Menschenrechts und der Gesittung. Kulturbegriffs anvisierte. Vom politischen Standpunkt eines
Unsere kulturellen Feinde sind gleich unseren politischen an Max Stirner orientierten radikalen Individualismus aus
Feinden. Daher heißt Verteidigung der Kultur Vernichtung hat etwa der holländische Essayist Menno ter Braak die Be-
der Feinde der gesellschaftlichen Entwicklung, also Ver- griffe Geist und Freiheit als Instrumente des antifaschisti-
nichtung des Faschismus als der brutalsten Form der Reakti- schen Kampfes attackiert, um gegen die verpflichtenden,
on.« Zwischen Politik und Kultur wird hier nicht unter- doktrinären Konzepte einen dynamischen Freiheitbegriff zu
schieden; spezifische Formen des kulturellen Kampfes setzen, der »kein Absolutum, sondern eine Aktualität« und
ließen sich so nicht mehr bestimmen. daher »immer Oppostion« bedeute.25
Das kämpferische Pathos kann die defensive Haltung Von anderer Seite schließlich versuchte Bertolt Brecht,
nicht verbergen, die das Kongreßmotto dem Agitprop- die Entgegensetzung von Kultur und Barbarei als unzuläng-
Dichter des »Roten Wedding« von 1929 (»Und was wir liches Mittel der antifaschistischen Politik zu kennzeichnen.
spielen, ist Dynamit / Unterm Hintern der Bourgeoisie«) Brechts Intervention auf dem Kongreß zielte darauf, die ge-
vorgegeben hatte. An die Stelle der Klassenkampf-Rhetorik sellschaftlichen Bedingungen des Faschismus, die »Wurzel
sind sang- und klanglos die Topoi Erkenntnis, Menschen- der Übel« zur Sprache zu bringen. Daher forderte er die In-
recht und Gesittung getreten, denen die aggressiven Töne tellektuellen in seiner kurzen Rede auf, von den Eigentums-
merkwürdig widerstreiten. Anders als in Weinerts ungelen- verhältnissen zu sprechen. Er appelliert an sie, den Klassen-
ker Rede nimmt sich die Idealisierung der Vergangenheit kampf als soziale Bedingung der Faschisierung wie der anti-
und die Rechtfertigung bürgerlicher Ideale in den Beiträgen faschistischen Politik zu sehen. Das Signum »Kultur gegen
der kommunistischen Intellektuellen Johannes R. Becher Barbarei« habe keine organisierende Kraft, da sowohl das
und Anna Seghers aus, die den Begriff Vaterlandsliebe anti- Barbarische als auch das Kulturelle etwas von Menschen
faschistisch redefiniert und zur Plattform der Volksfront- Produziertes und sozial Organisiertes sei.26 Sicherlich ist
politik gemacht sehen wollten. Unter Berufung auf Goethe, Brechts Argumentation durch einen Ökonomismus gekenn-
Hölderlin, Kleist und andere schwelgen sie in Vorstellungen zeichnet, der die politischen Gewaltverhältnisse im faschisti-
einer besseren deutschen Nation; es geht ihnen um die Inbe- schen Staat mechanisch in die ökonomischen Eigentumsver-
sitznahme eines nationalen Kulturerbes, das die Faschisten hältnisse übersetzt. Doch diese Grobschlächtigkeit des Ar-
in ihren Augen widerrechtlich okkupiert hielten. Ihr Ziel ist guments ist nicht der Grund für das Scheitern seiner Inter-

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vention, zumal dieser Ökonomismus von vielen der anwe- Theorie, daß sich infolge der monopolkapitalistischen Ver-
senden kommunistischen Intellektuellen geteilt wurde. Der gesellschaftung nicht demokratische, sondern autoritäre
Grund liegt vielmehr darin, daß Brecht sich der Tendenz wi- Verhaltenweisen durchsetzten. Die Integration von Kultur
dersetzte, die antifaschistische Politik im bürgerlichen Kul- und Zivilisation, die in der faschistischen Kulturpropaganda
turalismus zu fundieren. So gesehen, dokumentiert umge- visiert war, ist Teil einer weitreichenden Tendenz zur Affir-
kehrt sein Scheitern die ideologische Prädominanz des Kul- mation der sich auf den massiven Herrschaftskomplex aus
turellen in der antifaschistischen Volksfrontpolitik. Staat, Kapital und Massenkultur stützenden Autorität; sie
hat durch das Angebot bürokratisch verwalteter und waren-
Restaurative Kultur des Konservativismus förmig produzierter Kulturgüter nach Marcuse jene »Span-
Kritische Marxisten haben den historischen Funktionswan- nung zwischen ›Sollen‹ und ›Sein‹, Aktuellem und Potenti-
del des Kulturbegriffs bereits früh analysiert, allerdings un- ellem, Gegenwart und Zukunft, Notwendigkeit und Frei-
terschiedlich eingeschätzt. In seinen umfangreichen Studien heit« liquidiert, in der sich, noch in Kultur als abgezirkeltem
zur historischen Semantik von Kultur in England seit dem Reservatbereich, eine Opposition und die Absage an die be-
ausgehenden 18. Jahrhundert, von Edmund Burke bis stehende Gesellschaftsordnung entfaltet habe: »Das Ergeb-
George Orwell, etwa hat Raymond Williams eine sukzessive nis: die autonomen, kritischen Kulturgehalte werden päd-
Ausweitung des Begriffs festgestellt: von der Bezeichnung agogisch, erbaulich, zu etwas Entspannendem – ein Vehikel
für die Gesamtheit des intellektuellen und moralischen Ver- der Anpassung.«29
mögens bezogen auf die Idee menschlicher Vervollkomm- Mit Blick auf die nachfaschistische Bundesrepublik stell-
nung über die Bezeichnung für den allgemeinen Stand der te Adorno bereits 1950 eine »kulturelle Renaissance« fest,
geistigen Entwicklung einer Gesamtgesellschaft bis hin zur die jedoch »etwas von dem gefährlichen und zweideutigen
Bezeichnung der ganzen, materiell wie geistig bestimmten Trost der Geborgenheit im Provinziellen«30 habe. Im Ver-
Lebensweise, die alle sozialen Tätigkeitsbereiche und gesell- gleich zur Exilstation USA mußten trotz aller Bemühungen
schaftlichen Klassen einbeziehe. Er sieht in dieser Verschie- der Nazis die Zustände im Nachkriegsdeutschland, insbe-
bung des Begriffs von der privilegierten Bildung zur ganzen sondere die der kulturindustriellen Entwicklung, zurückge-
Lebensweise eine Demokratisierung der Kultur, die es für blieben erscheinen. Diese Ungleichzeitigkeit machte sich
eine Theorie der Massenkultur zu nutzen gelte.27 nicht zuletzt in der Tendenz der Konservativen geltend, die
Im Gegensatz zu Williams’ optimistischer Beurteilung den traditionellen Kulturalismus des deutschen Bürgertums
sahen Adorno, Horkheimer und auch Marcuse in der Aus- mitsamt seiner scheinheiligen Trennung von Kultur und Zi-
weitung des Kulturbegriffs den Verlust der kritischen Funk- vilisation, dem Kulturelitismus und den Mystifikationen der
tion, die Kultur gegenüber der bürgerlichen Lebenspraxis Seelenkräfte zu restaurieren beabsichtigten. Die restaurative
erfüllt habe. »Selbst die Nazis«, notiert Horkheimer, »wit- Tendenz gab vor, man könne noch einmal dort beginnen, wo
terten die Gefahr, die der Kultur droht, wenn sie von den sich das kulturelle Leben des bürgerlichen Wirtschaftssub-
vereinheitlichenden Mechanismen der organisierten sozia- jekts als heile, zumindest versöhnte Welt darstellen ließ, um
len Kontrolle erfaßt wird. Man kann sogar soweit gehen zu die eigenen Destruktivkräfte zu bannen. Über den Kreis der
mutmaßen, daß die bereits im Begriff der Kultur, der nicht Kulturkonservativen hinaus wollte man sich gerne darüber
viel älter ist als das Industriezeitalter, angelegte Einheit die täuschen, daß die Bildungspfade von Goethes Wilhelm Mei-
geistige Substanz dessen, was als Kultur bezeichnet wird, be- ster, wo nicht verschüttet, längst ausgetrampelt waren, und
drohen könnte.«28 Gerade die Massenkultur des 20. Jahr- spielte so der politischen Gerontokratie unter Adenauer in
hunderts zeige, so die Analysen im Rahmen der Kritischen die Hände. »Bildung heute«, so charakterisiert Adorno die

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konservative Hegemonie, »hat nicht zum geringsten die Wiederkehr stabiler Gesellschaftszustände prognostizierte,
Funktion, das geschehene Grauen und die eigene Verant- war er bestrebt, den Konservativen die »Angst vor der Tech-
wortung vergessen zu machen und zu verdrängen. Als iso- nik« zu nehmen. Von Anbeginn fungiere die Technik als Er-
lierter Daseinsbereich, bar einer genauen Beziehung zur ge- satz für das Organische, indem sie die defizitäre Organ- und
sellschaftlichen Wirklichkeit, taugt Kultur dazu, den Rück- Instinktausstattung des Menschen kompensiere. Analog den
fall in die Barbarei zu vertuschen. Darin setzt sich der Ver- »uralten Institutionen« und »strengen professionellen Kör-
such des Nationalsozialismus fort, über die Totenstarre der perschaften«, Familie, Staat, Recht, Kunst und Religion, die
Herrschaft zu betrügen. ... Solange Hitler herrschte, gelang im traditionellen konservativen Denken Autorität und Herr-
es ihm nicht, dem Volk die Produkte seiner Kulturvögte an- schaft verbürgten, schreibt Gehlen der ihrer sozialen Di-
ders als auf dem Wege des Zwangskonsums zuzuleiten. mensionen entkleideten Technik die zentrale Funktion einer
Heute aber, da kein solcher Zwang mehr ausgeübt wird, Entlastung zu, die das Individuum durch Eingliederung in
übernimmt man freiwillig ein ganzes Lager von Begriffen die technifizierte Welt erfahre.32
und Bildern aus dem autoritären Bereich. Gewiß ist seine Die Ausweitung des Kulturbegriffs im technokratischen
Beziehung zur Diktatur durchschnitten. Ihrer inneren ge- Konservativismus kann als Versuch verstanden werden, die
schichtlichen Voraussetzung nach aber sind jene Begriffe konservative Klientel in die Affirmation der fordistischen
und Bilder gekettet an die Vorstellung der Unvermeidlich- Gesellschaft mit ihren kompakten Industriekomplexen, der
keit und Rechtmäßigkeit von Herrschaft und Not.«31 hochdifferenzierten Arbeitsteilung und dem institutionali-
Mochten die historischen Reminiszenzen den konserva- sierten Klassenkompromiß einzuüben, nachdem die Ver-
tiven Honoratioren als probates Mittel erscheinen, um sich schweißung des deutschen Konservativismus mit dem Na-
aus den Trümmern davonzustehlen, die ihr Bündnis mit den zismus offenkundig gescheitert war. Stellt sich nach dieser
Nazis hinterlassen hatte, so war ihr verklärender, bildungs- Seite die Integration der Technik in das kulturalistische
bürgerlicher Kulturbegriff völlig untauglich für den tech- Menschenbild bei Gehlen als Initiative zur Erneuerung des
nisch-infrastrukturellen Wiederaufbau und die kapitalisti- Konservativismus dar, so bleibt sie im Beharren auf institu-
sche Restrukturierung der Gesellschaft. Die konservative tioneller Sicherheit und Stabilität den autoritär-staatlichen
Restauration des Kulturalismus blieb allerdings auch nicht Konzeptionen verbunden. »Zurück zur Kultur!« lautet die
bei dem provinziellen Charakter der unmittelbaren Nach- zentrale Parole von Gehlens Institutionalismus, denn der
kriegszeit stehen. Auf dem Schleichweg der philosophischen »Fortschritt der Zivilisation« schleife »Traditionen, Rechte
Anthropologie wird die im traditionellen Kulturkonservati- und Institutionen« und führe zu einer Renaturalisierung des
vismus als seelenlos verpönte Technik in den menschlichen Menschen; sein Verhalten werde »entformt, affektbestimmt,
Kulturhaushalt reintegriert. triebhaft, unberechenbar, unzuverlässig«.33 In der den Kon-
Der Mensch als »Mängelwesen« unterliege, so etwa Ar- servativen traditionell umtreibenden Furcht vor dem »Cha-
nold Gehlen, im Unterschied zum instinktgepanzerten Tier os« wird so schließlich die dementierte Trennung von Kul-
aufgrund seiner angeborenen »Weltoffenheit« einer »Reiz- tur und Zivilisation erneut hypostasiert.
überflutung«, die er durch kulturelle Regularien als seine
»zweite Natur« zu beherrschen suche. Insofern Gehlen nun Hegemoniales Projekt: Kulturgesellschaft
der »bekannten Unterscheidung von Kultur und Zivilisati- Der technokratische Konservativismus war – wie auch die
on« beziehungsweise der »Antithese Technik und Kultur« faschistische Kulturpropaganda – bestrebt, Kultur als Pro-
nicht beitreten mochte, vielmehr für das »technische Zeital- krustesbett individueller und sozialer Befreiung zu etablie-
ter« nach einer Phase explosionsartiger Entwicklung die ren. Wo dagegen »die konstitutionelle Plastizität der

50 51
menschlichen Antriebe, die Variabilität der Handlungen und transgressive Wirkung der Wünsche, an den Kampf um die
die Unerschöpflichkeit der Dingansichten zur Geltung« Stadt und den Übergang des Alltäglichen zum erweiterten
komme, werde, so Gehlen, die Gesellschaft instabil.34 Ge- Fest. Die Gründe hierfür liegen vielleicht darin, daß Le-
nau dies entsprach dem Ansinnen der Kulturrevolutionäre febvre den Begriff zu sehr strapaziert, ihm als Gegenbegriff
in den sechziger Jahren. Im Rekurs auf die Schriften des jun- zur Institution zu viel aufbürdet und ihn in der Perspektive
gen Marx, auf seine Forderung nach Verwirklichung der einer totalen Revolution überfrachtet, so daß er selbst ihn als
Philosophie und auf sein Postulat über die Aufhebung des Kampfbegriff entwertet hat. Sicherlich aber sind die Gründe
Privateigentums als die »vollständige Emanzipation aller darin zu suchen, daß sich die kulturrevolutionären Impulse
menschlichen Sinne und Eigenschaften«35, war der herr- zu rasch abgeschwächt haben. Auch wenn man in Rechnung
schende Kulturalismus, in Form der kulturindustriellen stellt, daß solche Impulse ohnehin eher diskontinuierlich
»Massenware« wie in Form der kulturelitären »Spitzenpro- auftreten und sich die historische Kontinuität fest im Griff
dukte«, als Staatsideologie zu denunzieren.36 der Herrschenden befindet38, ist über das Scheitern der kul-
Doch im Unterschied zu Marx sah man die kapitalisti- turrevolutionären Bestrebungen noch nicht alles gesagt. Es
sche Gesellschaftsformation nicht mehr im Ökonomischen lassen sich – zumindest im Blick auf die Entwicklung in der
dominiert, sondern im Alltäglichen, das den rationalisieren- Bundesrepublik – drei Momente nennen, die auch auf seiten
den und planenden Institutionen, den Ideologien und dar- der Linken diesen Bestrebungen entgegengewirkt und so
unter vor allem denjenigen unterstellt sei, die mit dem Be- den Prozeß befördert haben, in dem der Kulturalismus jenes
griff der Kultur etikettiert werden. Ausgehend von dieser Terrain zurückgewinnen konnte, das sich die Protestbewe-
Einschätzung sollte die revolutionäre Veränderung der All- gung der sechziger Jahre freigeräumt hatte. Man sollte sich
täglichkeit im Sexualleben, in der urbanen Gesellschaft und daher nicht scheuen, diese Momente als das zu bezeichnen,
in der Trennung von Alltag und Fest ihre ersten Angriffs- was sie in ihren Wirkungen waren: Konzepte der kulturellen
flächen finden. Die Revolution müsse total und permanent Gegenrevolution.
sein, so faßte 1967 etwa Henri Lefebvre, der marxistische Das erste Moment betrifft die radikale Linke der siebzi-
Theoretiker des Alltagslebens und radikale Kritiker des ger Jahre. Es handelt sich hierbei um die Entmischung von
Ökonomismus und Politizismus in Frankreich, die kulturre- kulturrevolutionärem Impuls und politischer Aktion im Zu-
volutionären Bestrebungen zusammen, denn die Revolution ge der theoretischen, marxistisch-leninistischen Dogmati-
verändere »das Leben, nicht nur den Staat oder die Eigen- sierung und des praktischen Aufbaus rigider Partei- und Or-
tumsverhältnisse«. Die anvisierte Kulturrevolution könne ganisationsstrukturen, wie sie etwa Peter Brückner bereits
dabei nicht auf kulturelle Ziele im herkömmlichen Sinn be- früh analysiert und kritisiert hat. In dem Anfang der siebzi-
schränkt bleiben, sie habe vielmehr einen praktischen Sinn ger Jahre programmatisch verkündeten Übergang der Pro-
und orientiere auf eine »Kultur, die keine Institution sein testbewegung von bürgerlich-radikalen zu sozialistischen
soll, sondern Lebensstil«.37 Organisationsformen wurde die Kritik der alltäglichen Le-
Aus heutiger Sicht mutet es verwunderlich an, dem Be- bensweise ebenso wie die der bürgerlichen Ästhetik durch
griff des Lebensstils eine revolutionäre Bedeutung beizule- die Positivität eines vermeintlich proletarischen Stand-
gen, gehört doch die Rede von der Pluralisierung der Le- punkts ersetzt. Einher ging damit eine kulturelle Retraditio-
bensstile mittlerweile zum Standardrepertoire einer positivi- nalisierung, die den Mustern parteikommunistischer Agit-
stischen Kultursoziologie, die auf der Ebene der Wissens- prop und proletarisch-revolutionärer Literatur aus den
produktion der Kulturalisierung sozialer Verhältnisse Vor- zwanziger und dreißiger Jahren folgte und sich bei Wieder-
schub leistet. Lebensstil heute erinnert kaum noch an die herstellung (klein)bürgerlicher Moralvorstellungen und

52 53
Disziplinanforderungen in der klassenkämpferischen Phrase jeden kulturrevolutionären Versuch obsolet erscheinen ließ.
erschöpfte.39 Das Ziel der Kulturrevolution, der Angriff auf die Alltäg-
Das zweite Moment der kulturellen Gegenrevolution lichkeit, verkam dabei unter der Hand zur Anerkennung des
liegt in der sozialdemokratischen Hegemonie innerhalb der segmentierten szeneverhafteten Alltags, in dem Lebensstil
bundesrepublikanischen Linken begründet. Sie läßt sich in in der verdinglichten Hülle von Accessoires lediglich signa-
der Parole von der »Demokratisierung der Kultur« zusam- lisiert wurde und sich die postmodernisierte Linke nicht sel-
menfassen, die auf eine »Teilhabe der bisher Nichtprivile- ten zur Reservearmee der kulturindustriellen Branchen de-
gierten« am bürgerlichen Kulturbetrieb, auf deren Partizi- gradiert sehen konnte.
pation sowohl »am Produkt der künstlerischen Arbeit« als Allerdings nicht allein im Diskurs des Postmodernismus
auch »am Prozeß der Entwicklung von Kunst und Kultur« avancierte der Kulturbegriff zur Schlüsselkategorie der Ab-
zielte.40 Mit diesem Anspruch verband sich in der sozialde- wehr kulturrevolutionärer Bestrebungen. Hatte man hier
mokratischen Perspektive, der Tradition des Kultursozialis- den Universalsignifikanten der Politik freudig dekonstru-
mus der Weimarer Republik verhaftet, eine Reinstitutionali- iert, so stellte sich bald heraus, daß an seine Stelle der der
sierung sogenannter Kulturbedürfnisse der Bevölkerung, die Kultur getreten war. Denn zumindest in der Bundesrepublik
einem wachsenden Anteil an Freizeit entsprechend durch erhielt der Begriff der Kultur eine zentrale Funktion in der
die kommunale Kulturpolitik beziehungsweise die gewerk- politisch-ideologischen Auseinandersetzung um das Projekt
schaftliche Kulturarbeit befriedigt werden sollten. Das nationaler Hegemonie. Von allen im Bundestag vertretenen
Kennzeichen der sozialdemokratisch verwalteten Kultur Parteien wurde die Ablösung der Industriegesellschaft, die
blieb dabei die affirmative Trennung von Arbeitszeit und an das keynesianische Modell des sozialpartnerschaftlichen
Freizeit, so daß sich der partizipatorische Anspruch auf die Ausgleichs und des sozialstaatlichen Kompromisses gebun-
Teilhabe an den sedimentierten Kulturgütern und den längst den war, durch die sogenannte Kulturgesellschaft propa-
depravierten Kulturinstitutionen des bürgerlichen Lebens giert. In schneller Folge beschlossen die verschiedenen Bun-
wie Theater, Museum, Oper und Operette reduzierte. destagsparteien »Kulturpolitische Programme«, in denen
Das dritte Moment schließlich bezieht sich auf die diesem Übergang Rechnung getragen werden sollte. Die
künstlerische Subkultur der siebziger Jahre und ist zugleich CDU forderte in ihrem 1986 verabschiedeten »Zukunfts-
als Reaktion auf die Konzepte der politischen Linken zu ver- manifest«: »Mehr Sinnerfüllung in einer farbigen Kulturge-
stehen. Gemeint ist hier der Diskurs des Postmodernismus, sellschaft«. Die CSU warnte in ihrem Programm davor, daß
in dem die Trennung von politischer und künstlerischer Op- »in der Art einer schleichenden Kulturrevolution eine De-
position ihre Legitimation gefunden hatte. Fredric Jameson stabilisierung unserer politischen Ordnung« drohe, falls sich
etwa beschreibt die Postmoderne als »ungeheure Expansion Politiker nicht der Kunst und Kultur in »Verantwortung für
der Kultur in alle Lebensbereiche«, wodurch sich die Un- die Schöpfung« annähmen. Die FDP machte es sich zur
fähigkeit begründe, theoretisch wie praktisch eine kritische Parteiaufgabe, »kulturelle Aspekte als ein Gestaltungsprin-
Distanz zu den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zip wirksam werden« zu lassen. Im »Irseer Entwurf« zu
herzustellen.41 Tatsächlich vollzieht sich in diesem Diskurs ihrem Parteiprogramm nannten die Sozialdemokraten eine
eine liberale Entwertung vormals kulturrevolutionärer Im- »Wirtschaft, die sich als Teil der Kulturgesellschaft versteht
pulse: Während linke Politik in der Folge als biedere und verhält«, als ihr Ziel und behaupteten, daß die »deut-
Pädagogisierung verworfen wurde, schien die kapitalistische sche Kultur vor mehr als tausend Jahren als Teil der gemein-
Gesellschaftsformation eine schier grenzenlose kulturelle samen Kultur europäischer Völker entstanden« sei. Neben
Absorptions- und Differenzierungsfähigkeit zu besitzen, die der »Sinnerfüllung« ist Kultur als »Beitrag zur Identitätsfin-

54 55
dung« der zentrale Topos, der die Funktion des Kulturbe- »Kultur der Arbeit«, »Kulturstaat« und nicht zuletzt durch
griffs im politischen Diskurs charakterisiert und auf die hier die Hervorhebung »deutscher Kultur« werden schließlich
dargestellten nationalen Traditionen zurückverweist.42 alle sozialen Konflikte als kulturelle Differenzen artikuliert,
Mit Bezug auf den wissenschaftlichen Diskurs als Indika- um sie der direkten politischen Auseinandersetzung zu ent-
tor der Transformation der Kulturideologie kann darüber ziehen. Der kulturalistische Holismus soll alle sozialen und
hinaus im Rahmen der Neudefinition der Geisteswissen- politischen Gegensätze übertrumpfen. Die neue Kulturge-
schaft eine Konzeption gefunden werden, worin die konser- sellschaft liefert die imaginäre Form ihrer Lösung, so lange
vative Hegemonie seit der Durchsetzung des technokrati- zumindest, wie der Zauber ungebrochen bleibt, mit dem der
schen Konservativismus zum Ausdruck kommt, indem der Kulturalismus die Formen der Vergesellschaftung umhüllt.
Kulturbegriff in Anlehnung an Gehlens Kulturalismus die
Form eines neuen Holismus angenommen hat. In der Denk-
schrift Geisteswissenschaften heute etwa, die auf Anregung des
Wissenschaftsrates und der Westdeutschen Rektorenkonfe- Anmerkungen
renz mit Mitteln des Bundesministeriums für Forschung 1 Vgl. Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hrsg.): Naturplan und Ver-
und Technologie an der Universität Konstanz in den achtzi- fallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur. Frankfurt a. M.
ger Jahren gefördert und 1991 publiziert wurde, heißt es 1984; dies. (Hrsg.): Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert.
Frankfurt a. M. 1990; Franz Steinbacher: Kultur. Begriff, Theorie,
entsprechend, daß die Geisteswissenschaften »ihre Optik ...
Funktion. Suttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976; zur Tradition des
auf das kulturelle Ganze, auf Kultur als Inbegriff der
Kulturbegriffs in Deutschland vgl. neuerdings Georg Bollenbeck:
menschlichen Arbeit und der Lebensformen, naturwissen- Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmu-
schaftliche und andere Entwicklungen eingeschlossen, auf sters. Frankfurt a. M., Leipzig 1994.
die kulturelle Form der Welt«43 richten sollten. Statt also im 2 Max Horkheimer: Die Philosophie der absoluten Konzentration
Sinne kritischer Theorie die philosophischen, religiösen, (1938). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 4. Frankfurt a. M.
ästhetischen, literarischen und künstlerischen Formen in 1988, S. 295 – 307, hier: S. 299
ihren Produktionsbedingungen und ihren ideologischen Ef- 3 Jürgen Kocka: Sozialgeschichte. Begriff, Entwicklung, Probleme. 2.,
fekten zu analysieren, orientiert dieses holistische Verständ- erw. Auflage, Göttingen 1986, S. 157f. Vgl. auch: Edward P.
nis von Kultur auf eine Wissenschaft, die die gesellschaftli- Thompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bände.
che Arbeitsteilung und die sich aus ihr ergebenden Herr- Frankfurt a. M. 1987; ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökono-
schaftsverhältnisse kurzerhand eskamotiert und so dem mie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahr-
Herrschaftsprojekt Kulturgesellschaft sekundiert. hunderts. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980.
»Mit dieser Integration der Kultur in die Gesellschaft«, 4 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbür-
so stellte bereits Marcuse fest, »tendiert die Gesellschaft da- gerlicher Absicht (1784). In: Immanuel Kant Werkausgabe, Bd. XI,
hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1977, S. 31 – 50, hier:
zu, selbst dort totalitär zu werden, wo sie demokratische
S. 44
Formen und Institutionen bewahrt.«44 Die gegenwärtige
5 Vgl. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer
Veränderung des herrschenden Kulturbegriffs deutet offen- Morphologie der Weltgeschichte. München 1972. Zur Dichotomi-
kundig in die von Marcuse aufgezeigte Richtung. Man kann sierung von Kultur und Zivilisation vgl. zusammenfassend: Institut
hier von einer Verdrängung des Sozialen durch das Kultu- für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Do-
relle und von einer Kulturalisierung der Politik sprechen. kumenten. Frankfurt a. M. 1956, S. 85 – 92.
Anhand einer kulturalistischen Nomenklatur der politisch- 6 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in
sozialen Sprache mit Begriffen wie »Wirtschaft als Kultur«, einer Reihe von Briefen (1795). In: Schillers Sämtliche Werke. Säku-

56 57
lar-Ausgabe. Zwölfter Band, Zweiter Teil hrsg. v. Oskar Walzel. 18 Helmut Heiber (Hrsg.): Goebbels Reden. Band 2: 1939 – 1945. Düssel-
Stuttgart, Berlin 1905 dorf 1971, S. 253. Die Metapher »stählerne Romantik« gehört zu
7 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der den mehrfach von Goebbels verwendeten rhetorischen Figuren, vgl.
Menschheit (1784 – 1791). Nach der von Bernhard Suphan herausge- etwa auch seine Rede zur Eröffnung der Reichskulturkammer am
gebenen historisch-kritischen Ausgabe. Wiesbaden 1985, S. 361 (13. 15.11.1933, in: Helmut Heiber (Hrsg.): Goebbels Reden. Band 1:
Buch, VII. Abschnitt) 1932 – 1939. Düsseldorf 1971, S. 131 – 141, hier: S. 137, oder auch
8 Johann Gottfried Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für auf den italienischen Faschismus gemünzt in: Joseph Goebbels: Der
den Allgemeingeist Deutschlands (1787). In: Herders Werke in fünf Faschismus und seine praktischen Ergebnisse (1934). Auszüge in:
Bänden. Dritter Band. Berlin, Weimar 1969, S. 359 – 376, hier: S. Ernst Nolte (Hrsg.): Theorien über den Faschismus. 6. Auflage. König-
361 stein/Ts. 1986, S. 314 – 319, hier: S. 319
9 Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur. In: 19 Alain de Benoist: Kulturrevolution von rechts. Krefeld 1985, S. 37
Zeitschrift für Sozialforschung, 6. Jahrgang 1937, Heft 1, S. 54 – 94, 20 Stefan Ulbrich: Es entsteht eine neue Kultur. In: Junge Freiheit
hier: S. 75 10/1992, S. 24; ders.: Verdammt viele Thesen ... Warum Multikultu-
10 Johann Gottfried Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität ralismus ein Konzept der Neuen Rechten ist. In: Ders. (Hrsg.): Mul-
(1793 – 1797) In: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, 2 Bände. Ber- tikultopia. Gedanken zur multikulturellen Gesellschaft. Vilsbiburg
lin, Weimar 1971, hier: 2. Band, S. 161 (Neunte Sammlung, 111. 1991, S. 299 – 346, hier: S. 342f. Zum »Kulturkrieg« vgl. außerdem
Folge der Gallicomanie für Deutschland) bereits die Publikationen des Kasseler »Thule-Seminar« in den
achtziger Jahren, u.a. Pierre Krebs: Die europäische Wiedergeburt.
11 Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte.
Aufruf zur Selbstbesinnung. Tübingen 1982.
Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschrei-
bung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 21 Vgl. Antonio Gramsci: Quaderni del carcere. Edizione critica dell’
1989, S. 95ff. Istituto Gramsci. Torino 1975, S. 1939
12 Zit. n. Karla Fohrbeck/Andreas Wiesand: Von der Industriegesellschaft 22 Zur politischen Bedeutung des Kongresses vgl. Ursula Langkau-
zur Kulturgesellschaft? Kulturpolitische Entwicklungen in der Bun- Alex: Volksfront für Deutschland? Band 1: Vorgeschichte und Grün-
desrepublik Deutschland. München 1989, S. 2. dung des »Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volks-
front«. 1933 – 1936. Frankfurt a. M. 1977 und Arno Münster: Anti-
13 Vgl. Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen
faschismus, Volksfront und Literatur. Zur Geschichte der »Vereinigung
Mandarine 1890 – 1933. Stuttgart 1983.
revolutionärer Schriftsteller und Künstler« (AEAR) in Frankreich.
14 Zit. n. Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Re-
Hamburg, Berlin 1977; zur Funktion des Schriftstellerkongresses als
formbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 1987, S. 206f.
»antifaschistische Sammlungsbewegung in der Kultursphäre« vgl.
15 Vgl. Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wer- Albrecht Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im
tung der seelisch-geistigen Gestaltungskräfte unserer Zeit. 11. Auf- Frankreich der 30er Jahre. München 1986.
lage. München 1943, insb. S. 697. Hier gibt Rosenberg vier »lebens-
23 Vgl. die allerdings lückenhafte Dokumentation: Paris 1935. Erster
gesetzliche Gliederungen« der »Lebenstotalität« an: »1. Rassen-
Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur.
seele, 2. Volkstum, 3. Persönlichkeit, 4. Kulturkreis«.
Reden und Dokumente. Herausgegeben von der Akademie der Wis-
16 Hitlers Rede zum 1. Mai 1933 dokumentiert in: Projekt Ideologie- senschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Ber-
Theorie: Faschismus und Ideologie 1. Berlin 1980, S. 134ff.; vgl. darin lin 1982. Die folgenden Zitate aus den Reden sind, soweit kein an-
auch Manfred Behrens: Ideologische Anordnung und Präsentation derer Nachweis erfolgt, diesem Band entnommen.
der Volksgemeinschaft am 1. Mai 1933 und Herbert Bosch: Ideolo-
24 Albrecht Betz: Exil und Engagement, a.a.O., S. 110
gische Transformationsarbeit in Hitlers Rede zum 1. Mai 1933, S.
25 In dem oben zitierten Dokumentenband Paris 1935 ist die Rede
81ff. und 107ff.
Menno ter Braaks lediglich referiert; zu dessen Position vgl. auch
17 Vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Un-
Menno ter Braak: Geist und Freiheit. In: Die Sammlung. 1. Jahrgang
gekürzte Ausgabe. München 1935, S. 318.
1934, Heft 8, S. 393ff.

58 59
26 Neben seiner Rede von 1935 wie auch der Rede auf dem II. Schrift- Massenkultur und Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer:
stellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, der im Juli 1937 in Va- Theodor W. Adorno: Das Schema der Massenkultur. Kulturindu-
lencia, Madrid und Paris stattfand, hat Brecht, teils in Form frag- strie [Fortsetzung] (1942). In: Ders.: Gesammelte Schriften 3. Frank-
mentarischer Notizen, teils in thesenartiger Form, weitere Reflexio- furt a. M. 1984; ders.: Résumé über Kulturindustrie (1963). In:
nen zum Kulturbegriff, zur Kritik der linken Intellektuellen und Ders.: Gesammelte Schriften 10.I. Frankfurt a. M. 1977; Max Hork-
zum antifaschistischen Kampf angestellt. Die entsprechenden Texte heimer: Neue Kunst und Massenkultur (1941). In: Ders.: Gesammel-
finden sich in: Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner te Schriften, Band 4. Frankfurt a. M. 1988.
und Frankfurter Ausgabe. Band 22: Schriften 1933 – 1942, Berlin, 30 Theodor W. Adorno: Auferstehung der Kultur in Deutschland?
Weimar, Frankfurt a. M. 1993. An einer Stelle heißt es in dem Frag- (1950) In: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt
ment »Das Proletariat ist nicht in einer weißen Weste geboren« a. M. 1971, S. 20 – 32, hier: S. 23
(1934): »Die Basis unserer Einstellung zur Kultur ist der Enteig- 31 Ebenda, S. 28f.
nungsprozeß, der im Materiellen vor sich geht. Die Übernahme
32 Vgl. Arnold Gehlen: Anthropologische und sozialpsychologische Untersu-
durch uns hat den Charakter einer entscheidenden Veränderung.
chungen. Reinbek 1986; ders.: Der Mensch. Seine Natur und seine
Nicht nur der Besitzer ändert sich hier, auch das Besitztum. Und das
Stellung in der Welt, 9. Auflage. Wiesbaden 1972 (Erstausgabe
ist ein verwickelter Prozeß. Was von der Kultur also verteidigen wir?
1940). Zur Kritik vgl. Hansmartin Kuhn: Der lange Marsch in den Fa-
Die Antwort muß heißen: jene Elemente, welche die Eigentumsver-
schismus. Zur Theorie der Institutionen in der bürgerlichen Gesell-
hältnisse beseitigen müssen, um bestehenzubleiben.« (S. 64) Hier
schaft. Berlin 1974.
deutet sich Brechts Konzeption an, sie ist weniger ökonomistisch als
33 Arnold Gehlen: Untersuchungen, a.a.O., S. 59
die Rede von 1935 vermuten läßt. Es handelt sich um eine Dialektik
der konkreten Situation. Programmatisch mit Bezug auf die literari- 34 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnis-
sche Produktion formuliert, faßt Brecht seine Auffassung etwa auch se und Aussagen, 5. Auflage. Wiesbaden 1986, S. 21
am Ende des Aufsatzes »Weite und Vielfalt der realistischen 35 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einlei-
Schreibweise« (1938) zusammen, die als Beitrag zur Realismus-De- tung, in: MEW 1, S. 378 – 391; ders.: Ökonomisch-philosophische
batte unter den exilierten Schriftstellern und Schriftstellerinnen Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW 40, S. 465 – 588, hier: S.
konzipiert war: »Über literarische Formen muß man die Realität be- 540
fragen, nicht die Ästhetik, auch nicht die des Realismus. Die Wahr- 36 Vgl. Henri Lefebvre: Das Alltagsleben in der modernen Welt. Frankfurt
heit kann auf viele Arten verschwiegen und auf viele Arten gesagt a. M. 1972, S. 137
werden. Wir leiten unsere Ästhetik, wie unsere Sittlichkeit, von den 37 Ebenda, S. 275. Lefebvre gewinnt seine Theorie u.a. in Auseinander-
Bedürfnissen unseres Kampfes ab.« (S. 433) setzung mit den Situationisten: »Hinter den erscheinenden Moden,
27 Raymond Williams: Culture and Society 1780 – 1950. Third Edition. die einander an der tändelhaften Oberfläche der kontemplierten
Harmondsworth 1963 (dt.: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. pseudozyklischen Zeit vernichten und wiederzusammensetzen, be-
Studien zur historischen Semantik von »Kultur«. München 1972) steht der große Stil der Epoche stets in dem, was durch die offensicht-
28 Max Horkheimer: [Deutschlands Erneuerung nach dem Krieg und liche und geheime Notwendigkeit der Revolution orientiert wird.«
die Funktion der Kultur]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 12. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Hamburg 1980, S. 91.
Frankfurt a. M. 1985, S. 184 – 194, hier: S. 194 38 Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.:
29 Herbert Marcuse: Bemerkungen zur Neubestimmung der Kultur Gesammelte Schriften, Band I.2, Frankfurt a. M. 1974, S. 691 – 704
(1965). In: Ders.: Schriften 8. Aufsätze und Vorlesungen 1948 – 1969. 39 Vgl. Peter Brückner: Kritik an der Linken. Zur Situation der Linken
Frankfurt a. M. 1984, S. 115 – 135, hier: S. 122. Neben dem Kapitel in der BRD. Köln 1973; siehe auch die Aufsätze »Nachruf auf die
»Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug« (Max Horkhei- Kommunebewegung« (1972), »Politisch-psychologische Anmer-
mer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische kungen zur Roten-Armee-Fraktion« (1973) und »Paradoxien der
Fragmente, 1944/47. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Protestbewegung« (1973/74) alle in: Ders.: Zerstörung des Gehorsams.
Band 5. Frankfurt a. M. 1987) vgl. auch die folgenden Aufsätze zum Aufsätze zur politischen Psychologie. Berlin 1983.

60 61
40 Hilmar Hoffmann: Zum Verhältnis von öffentlicher und gewerk- Ein Mythos, ein Staat, ein Volk
schaftlicher Kulturarbeit. In: Karl-Heinz Götze (Red.): Massen/Kul-
tur/Politik. Berlin 1978, S. 87 – 98, hier: S. 90; vgl. auch: Hilmar Zur Theorie der Nationform des Politischen
Hoffmann: Kultur für alle. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1981
41 Fredric Jameson: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapi-
talismus. In: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Postmoder-
ne. Zeichen kulturellen Wandels. Reinbek 1986, S. 45 – 102, hier: S.
95f.
42 Zur Debatte um die Kulturgesellschaft und zu den kulturpolitischen Nationaler Mythos
Parteiprogrammen vgl. Karla Fohrbeck/Andreas Wiesand: Von der
Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft? A.a.O., insb. S. 141ff. Die Mythen, aus denen sich die Nationalismen speisen, sind
43 Wolfgang Frühwald u.a.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denk-
keine atavistischen Formen, sondern vor allem moderne Le-
schrift. Frankfurt a. M. 1991, S. 41 genden und Erzählungen, historistische Erfindungen des 19.
44 Herbert Marcuse: Bemerkungen zur Neubestimmung der Kultur, Jahrhunderts. Den kapitalistischen Wirtschaftssubjekten
a.a.O., S. 117 dienten sie feierabends und -tags der Versicherung einer
Gemeinschaft, die sie in ihren alltäglichen Konkurrenzbe-
ziehungen zu entbehren schienen. Der Stoff, aus dem ihre
Retrospektionen gewebt waren, ist dabei ebenso anheimelnd
wie kriegerisch, privat-sentimental wie öffentlich-monu-
mental. Das deutsche Bürgertum hatte den Lindenbaum für
die romantisch-biedermeierliche Seele und das Hermanns-
denkmal mit dem drohend gegen Frankreich gerichteten
Schwert. Bereits 1838 wurde bei Detmold der Grundstein
für dieses erst 37 Jahre später dann von Kaiser Wilhelm I.
eingeweihte Monstrum gelegt, das den nationalen Ur-
spungsmythos der Deutschen verkörpern sollte, das Bild ei-
ner Schlacht, von der nicht einmal gewiß ist, ob sie tatsäch-
lich im Teutoburger Wald stattfand, und das ihres Siegers,
der fälschlicherweise Hermann der Cherusker genannt wur-
de. Die Legende des Arminius wird seit Martin Luther, der
»in von hertzen lib« gewonnen hatte, und Ulrich von Hut-
ten immer wieder aus dürftigen antiken Quellen nacherzählt
und ausgeschmückt und wiedererzählt, von dem Barock-
dichter Lohenstein, von Klopstock, Kleist und Grabbe, bis
sie sich als historische Wahrheit im deutschen Bürgertum
festgesetzt hatte.1 Heine dagegen spottete im Wintermärchen
über den »edlen Recken« samt »seinen blonden Horden«,
ironisierte den Teutoburger Wald als »klassischen Morast«:
»Die deutsche Nationalität, die siegte in diesem Drecke.«2
Aber auch Engels hat die nationale Legende in seiner Urge-

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schichte der Deutschen weiterverbreitet und gemeint, »daß die in allen Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts finden.
Deutschen hier, am Anfang ihrer Geschichte, entschieden Sie stellen eine gemeinsame »Abstammung« her. In seiner
Glück«3 gehabt hätten. So fischen nicht selten auch marxi- Revolutionsschrift Qu’est-ce que le Tiers-état? von 1789 etwa
stische Lehrbücher und Einführungen – gestützt auf zwei- hat Sieyès sie für eine von der »fränkischen« Aristokratie
felhafte Aussagen über die »Unabhängigkeit Deutschlands« »gereinigte Nation« dargestellt, die »nur aus Abkömmlin-
(Engels) im Jahr 9 n. Chr. – im »klassischen Morast«, um am gen der Gallier und Römer zusammengesetzt«5 sei. Ebenso
Faden der deutschen Nationalgeschichte mitzuspinnen. hat Fichte sie in seinen Reden an die deutsche Nation von
Im nationalen Mythos verdichten sich die Legenden und 1807/08 mit der Behauptung eines deutschen »Urvolks«6
Erzählungen zu einem historischen Bild, das unmittelbar seinem Programm einer Nationalerziehung unterlegt. Im
und unwillkürlich eine politische Funktion erfüllen soll. Der genealogischen Mythos stehen Nationalismus und Rassis-
revolutionäre Syndikalist Georges Sorel hat zu Beginn die- mus, wie Léon Poliakov am Beispiel des »arischen Mythos«
ses Jahrhunderts die Funktion des modernen Mythos zu de- verdeutlicht hat, in wechselseitiger Beziehung, sind beide so
finieren versucht. Der Mythos ist ihm zufolge eine »Ord- amalgamiert, daß eine rassistische Ausgrenzung gesellschaft-
nung von Bildern«, ein »Gesamtbild«, das – rational unwi- licher Gruppen installiert werden kann.7
derlegbar – den jeweiligen Gesinnungen ein »Höchstmaß an Der zweite Modus kann als demokratischer oder plebis-
Spannkraft« verleihe. Sorel verstand seine Definition als zitärer Mythos der Nation charakterisiert werden. Der na-
Beitrag zur Revitalisierung der Marxschen Revolutionstheo- tionale Einschluß stellt sich hier nicht über das Bild der Ver-
rie, als Konsequenz, die aus Erstarrung und Krise des öko- wandtschaft her, sondern über eine gemeinsame Wil-
nomistischen Marxismus um die Jahrhundertwende zu zie- lensäußerung, die juristisch dem »ius soli« entspricht. Er-
hen sei. In diesem Sinne wollte er den proletarischen Gene- nest Renan hat in der programmatischen Rede Qu’est-ce
ralstreik als einen sozialen Mythos verstanden wissen, der qu’une nation? von 1882, dem in der Bundesrepublik seit
die Nation spalte, das Proletariat von den übrigen Klassen 1990 wohl meist zitierten Text nationalistischer Literatur,
absondere und die »Revolution en bloc« gebe.4 Formell hat diesen Modus des nationalen Mythos hervorgehoben, indem
er damit allerdings zugleich die Definition des Antipoden er ihn in dem Bild des »täglichen Plebiszit«8 faßte. Er findet
geliefert, des nationalen Mythos, der die sozialen Spaltun- sich allerdings bereits in Rousseaus Du contrat social vorkon-
gen der Nation überwölbt, die Teile zusammenführt und die struiert, worin die »eigentliche Verfassung des Staates« auf
Nation »en bloc« gegen andere Nationen richtet. Nationali- die »Macht der Gewohnheit« zurückgeführt wird, die »we-
sten und Faschisten haben sich seine Mythos-Definition zu der in Erz noch in Marmor, sondern in die Herzen der Bür-
eigen gemacht und im Bild der »nationalen Wiedergeburt« ger eingegraben« sei und »von Tag zu Tag neue Kraft« ge-
oder der »nationalen Erneuerung« mobilisierend eingesetzt. winne.9 Für Renan nun ist die Nation »eine große Solidar-
Grundsätzlich lassen sich zwei Typen, oder besser: zwei gemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man
Modi des nationalen Mythos innerhalb der kapitalistischen gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen ge-
Gesellschaftsformationen unterscheiden. Der erste Modus willt ist«; eine Solidargemeinschaft, deren Bildung histori-
kann als genealogischer Mythos bezeichnet werden, der das sche Legenden voraussetze, in denen die nationalen Greuel-
Bild einer ursprünglichen Verwandtschaft der Gesellschafts- taten vergessen gemacht werden; eine Solidargemeinschaft
mitglieder hervorruft, indem dynastisch bestimmte Erbfol- schließlich, die »sich in der Gegenwart in einem greifbaren
gen national umgemünzt und auf die soziale Kategorie Faktum« zusammenfassen lasse, nämlich in dem »deutlich
»Volk« übertragen werden. Solche Volksgenealogien, wie ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzu-
sie im »ius sanguinis« rechtlich kodifiziert sind, lassen sich setzen«.10 Damit rekurriert Renan auf die identitätsbildende

64 65
Funktion des demokratischen Mythos, in dem die imaginäre indiziert demnach die soziale Macht der modernen Mythen.
Gemeinschaft des Volkes sich als Einheit der Nation spie- In Analogie dazu läßt sich der nationale Mythos zugleich als
gelt. Er macht jedoch keine Angaben zur staatlichen Institu- eine bestimmte Ordnung von historischen Bildern im Sinne
tionalisierung dieser Willensgemeinschaft, also über den Sorels und als bestimmte Vorstellung einer territorialen
Nationalstaat, in dem die historische und territoriale Um- Gliederung fassen, in denen sowohl die Konstruktions- als
grenzung der »nationalen Gemeinschaft« materialisiert ist. auch die Ausbreitungsbedingungen der Nationform ver-
Auch gibt er keine Auskunft über die soziale Zusammenset- deckt und unkenntlich gemacht sind.
zung dieser Solidargemeinschaft, die historisch ebenso als
Ein- wie als Ausschlußverfahren gewirkt hat, über die Tatsa- Nationalstaat
che also, daß die Repräsentation in der parlamentarischen In der neueren kritisch-materialistischen Gesellschaftstheo-
Demokratie zunächst auf die »nationale Gemeinschaft« von rie wird die »Institution Staat« weder schlicht als Agentur
»weißen erwachsenen männlichen Eigentümern« beschränkt der herrschenden Klasse noch als der »ideelle Gesamtkapita-
war und sich erst in Folge sozialer Kämpfe sukzessive erwei- list«13 verstanden, sondern als eine komplexe Struktur, in der
tert hat. sich legitimatorische wie repressive Beziehungen zwischen
Beide Modi des nationalen Mythos implizieren mithin allen gesellschaftlichen Klassen und ihren Fraktionen kristal-
Formen der sozialen Ausschließung, die über das Bild der lisieren. Allerdings sind diese Beziehungen bestimmt durch
verwandtschaftlichen beziehungsweise solidargemeinschaft- die sozialen Konflikte und Kämpfe, die »Institution Staat«
lichen Homogenität zu legitimieren versucht werden. Ohne selbst bildet ein Terrain, auf dem sie ausgetragen werden. In
die Berücksichtigung der sozialen Herrschaftsverhältnisse dieser Hinsicht steht der kapitalistische Staat den gesell-
allerdings kann nicht verstanden werden, wie der nationale schaftlichen Klassen nicht in äußerlicher Relation gegenü-
Mythos die Verwandtschaft oder den »Wunsch, das gemein- ber; er ist weder das politische Instrument der herrschenden
same Leben fortzusetzen«, produziert, wie beide Varianten Klasse oder einer ihrer Fraktionen, wie er grundsätzlich in
die Individuen zur »freiwilligen Unterwerfung«11 unter die der parteikommunistischen Staatstheorie aufgefaßt wurde,
nationale Ideologie bewegen und sie zur Anerkennung der noch ein politisches Subjekt mit einer klassenneutralen
Nation vergattern, gar zur Bereitschaft treiben, für das Va- Schiedsrichterfunktion, wie er sich zumeist in den Köpfen
terland zu töten oder sich töten zu lassen. sozialdemokratischer Theoretiker darstellte.
Roland Barthes hat in seinem Buch Mythen des Alltags Insofern die »Institution Staat« Produkt wie Terrain von
den modernen Mythos als ein »sekundäres semiologisches Klassenkämpfen und sozialen Konflikten ist, führt schließ-
System« bestimmt, das die Artikulationen der realen gesell- lich jede Vorstellung eines monolithischen Staatswesens in
schaftlichen Beziehungen zum »Rohstoff« enthistorisieren- die Irre.
der, entpolitisierender und sozial anonymisierender Aussa- In seinem strukturellen Aufbau ist der kapitalistische
gen macht und ihnen einen imperativen und interpellatori- Staat nicht eine Institution, sondern ein Ensemble verschie-
schen Charakter verleiht.12 Für Barthes ist das zentrale Mo- dener Apparate und Institutionen, die in einem funktionalen
ment des Mythos die Entnennung sozialer Herrschaft, etwa Verhältnis zu den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen
das Verschwinden der gesellschaftlichen Klassenbeziehun- und ihren Fraktionen stehen. Der Staatstheorie von Nicos
gen in der politisch-sozialen Sprache, das sich entlang ver- Poulantzas zufolge ist der kapitalistische Staat durch seine
schiedener Verbreitungslinien vollzieht und gegenwärtig bis institutionelle Materialität und funktionale Ausdifferenzie-
in die Sprache der Linken, ihre Theoriebildung und politi- rung in allen gesellschaftlichen Beziehungen präsent, so daß
sche Praxis Auswirkungen zeigt. Vor allem ihre Ausdehnung die Unterscheidungen, die etwa zwischen privatem und öf-

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fentlichem Bereich innerhalb der kapitalistischen Gesell- ben wird, die aber im Hinblick auf die erweiterte Reproduk-
schaftsformationen oder zwischen ökonomischem und poli- tion endlos ist.
tischem Raum im Sinne der marxistischen Basis-Überbau- Die historische Koinzidenz der Durchsetzung der kapi-
Topik getroffen werden, nicht nur konstitutiv für den kapita- talistischen Produktionsweise mit der Etablierung der Na-
listischen Staat sind, sondern ebenso durch ihn konstituiert tionform des Staats, die Engels zu der historizistischen Aus-
werden.14 sage verführt hat, daß »seit dem Ausgang des Mittelalters die
Bezogen auf die Nationform des kapitalistischen Staats Geschichte auf die Konstituierung Europas aus großen Na-
kommt dieses doppelte Konstitutionsverhältnis in der Um- tionalstaaten«16 hingearbeitet habe, ist nur vor dem Hinter-
wälzung der Raum- und Zeitordnungen zum Tragen. Durch grund der neuen Raum- und Zeitordnungen verstehbar.
die arbeitsteilige Kooperation, die nach Marx die »Grund- Sind daher der serielle Raum und die serielle Zeit als konsti-
form der kapitalistischen Produktionsweise«15 bildet, wer- tutive Momente des Nationalstaats anzusehen, so gilt umge-
den die verschiedenen zur Herstellung eines Produkts erfor- kehrt auch, daß der entstehende Nationalstaat die »Auflö-
derlichen Operationen aus ihrer zeitlichen Reihenfolge sung der Feudalität« (Marx) vehement betrieben hat und so-
gelöst und räumlich nebeneinander gestellt. Marx hat diese mit konstitutiv für die auf die arbeitsteilige Kooperation auf-
Revolutionierung der Raum- und Zeitordnungen lediglich bauende große Industrie war. Nicht zuletzt die Fabrikge-
als Ökonomisierung von Raum und Zeit begriffen. Zugleich setzgebungen, die den »Heißhunger nach Mehrarbeit«
aber bedeutet sie deren Politisierung. Im kapitalistischen (Marx) zügeln sollten, um die »Lebenskraft der Nation« zu
Produktionsprozeß wird das Produkt nicht mehr in einem erhalten, sind ein entscheidender Motor der kapitalistischen
kontinuierlichen und homogenen Raum hergestellt, der Ökonomisierung von Raum und Zeit.17 Engels ignoriert al-
durch die Einheit von unmittelbarem Produzenten und sei- so gerade den Prozeß der Politisierung, der sich etwa in den
nen Produktionsmitteln, wie etwa in der handwerklichen englischen »Factory-Acts« unter den Begriffen Nation und
Produktion, bestimmt ist. Vielmehr wird es innerhalb eines Volk vollzogen hat, und unterstellt ein evolutionäres histori-
seriell-segmentierten Raumes weitertransportiert, der sich sches Schema, das letztlich die kumulative Zeit des kapitali-
unter dem Kommando des Kapitals über die Arbeitskraft aus stischen Produktionsprozesses affirmiert.
einer irreversiblen Folge verschiedener Stationen mit dis- Der kapitalistische Staat produziert in der Homogenisie-
kontinuierlichen und parzellenförmig festgelegten Opera- rung der seriellen Raum- und Zeitordnung zu einem evolu-
tionen zusammensetzt. Genauso verhält es sich mit der kapi- tionären Schema allerdings gerade jene soziale Passivierung,
talistischen Zeitordnung: Die Zeit ist hier nicht mehr ein durch die Volk und Nation als verallgemeinerte Entitäten
homogenes und reversibles Kontinuum, in der das Produkt des Politischen erscheinen. Er setzt die Grenzen und defi-
unter der persönlichen Bindung des Produzenten an rituali- niert räumlich ein Innen und ein Außen, zeitlich ein Vorher
sierte, stets wiederkehrende Rhythmen, seien sie nun natür- und ein Nachher, indem er die nationale Einheit »zur Histo-
lich, kultisch oder religiös begründet worden, verfertigt rizität eines Territoriums und zur Territorialisierung einer
wird, sondern sie schreitet völlig unabhängig von solchen Geschichte, zur nationalen Tradition eines Territoriums«18
Bindungen des Produzenten unaufhörlich voran. Dabei ist macht, die sich in seinem institutionellen Aufbau materiali-
die kapitalistische Zeit so zerlegbar, daß die auf die Fertig- siert hat. In dieser doppelten Bewegung manifestiert sich der
stellung des Produkts angewendete Arbeitskraft in zeitlichen ambivalente Charakter, in der die Nationform die soziale
Einheiten meßbar und damit kalkulierbar wird. Das Produkt Einfriedung bewerkstelligt: die räumliche Partikularisierung
durchläuft verschiedene serielle Abschnitte einer kumulati- mittels der Grenzziehung und die zeitliche Universalisie-
ven Zeit, innerhalb derer zwar ein Produktionsziel vorgege- rung durch die Erfindung einer Nationalgeschichte. Vor

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dem Hintergrund der seriellen Raum- und Zeitordnung in- staatlichen Ensembles aus unterschiedlichen Apparaten und
nerhalb der kapitalistischen Produktionsweise besitzt der Institutionen, die Einheit des kapitalistischen Staats, indem
Nationalstaat folglich die Fähigkeit, sich weitere Raumseg- sie die Interessen der herrschenden Klassen(fraktionen) ver-
mente territorial einzugliedern, sie zu annektieren und im allgemeinert.21 Mit dieser Feststellung bewegt man sich auf
Rahmen einer evolutionären Einheit von Vergangenheit, dem Terrain des Nationalstaats, denn auf diese Kohärenz,
Gegenwart und Zukunft historisch zu assimilieren. formuliert als hegemoniales Projekt einer nationalen Politik,
Die bisherige Konsolidierung der Nationalstaaten zeigt bezieht sich die identifikatorische Konstruktion des Volkes
schließlich, daß die Unterscheidung zwischen öffentlichem als einer imaginären Gemeinschaft, die sich in dem ver-
und privatem Bereich hierbei von sekundärer Bedeutung ist, meintlich einheitlichen Staat als der einen Institution wie-
sich ihre Trennung vielmehr als variabel erweist. Der bür- dererkennt und sie im Unterschied zu anderen Staaten als
gerliche Nationalstaat ist primär gekennzeichnet durch eine »ihren Staat« anerkennt. Étienne Balibar schließlich hat
Demokratisierung der Politik als »Nationalisierung der darauf hingewiesen, daß durch dieses Verhältnis der Wie-
Massen«, wie Nationalisten und Faschisten sie stets propa- der- und Anerkennung die politischen Kämpfe in einen
giert und forciert haben.19 Es handelt sich hierbei um die au- staatlichen Horizont gestellt sind, in dem die imaginäre Ge-
toritär organisierten und staatlich reglementierten Formie- meinschaft des Volkes sogar noch das »Streben nach Reform
rungen der Massen, die getragen von unterschiedlichen öf- und sozialer Revolution als Projekt formuliert, das ›ihren‹
fentlichen wie privatisierten Institutionen und Ritualen von Nationalstaat umgestalten soll«.22
Wahlkämpfen, Wahlen und Volksabstimmungen über die Allerdings können solche politischen Kämpfe auch zu ei-
Armee mit ihren Militärparaden, die semimilitärischen Auf- ner hegemonialen Instabilität, zu einer Staatskrise führen, in
märsche der Schützenvereine, korporierten Studenten und der die nationale Einheit implodiert und der ambivalente
Neonazis bis hin zu den Volksparteien, Sportveranstaltun- Charakter der sozialen Einfriedung partikularistische und
gen und Massenmedien wie Presse, Film, Rundfunk und universalistische Strategien hervorruft, welche sich nicht
Fernsehen reichen. Demokratisierung bedeutet darüber länger in einem nationalen Herrschaftsprojekt bündeln las-
hinaus eine Ausweitung der staatlichen Regulation im Sinne sen. Nicht anders hat Marx etwa die Pariser Kommune von
eines »sozialen Nationalstaats«20, der die gesamten Repro- 1871 interpretiert, nämlich als »Rücknahme der Staatsge-
duktionstätigkeiten aller StaatsbürgerInnen in der öffentli- walt durch die Volksmassen«, die zugleich die »politische
chen wie privaten Sphäre zu gewährleisten, anzuleiten und Form ihrer sozialen Emanzipation« bilde, und als »wahrhaft
zu kontrollieren beansprucht. nationale Regierung«, deren internationaler Charakter sich
Analysiert man nun das staatliche Ensemble von Appara- gleichzeitig durch die ins Werk gesetzte »Befreiung der Ar-
ten und Institutionen unter dem Aspekt politischer Herr- beit« ausgedrückt habe.23 Nicht anders aber konstituieren
schaft, so ergibt sich eine strukturelle Dominanz von Kapi- sich auch regionalistische, separatistische oder irredentisti-
talinteressen, die den Nationalstaat als Klassenstaat, eben als sche Tendenzen auf dem Terrain des sich in der Krise befin-
kapitalistischen Staat charakterisiert. Als Struktur und als so- denen Nationalstaates. Sie zielen auf die Rekonstruktion
ziales Verhältnis organisiert und repräsentiert der kapitalisti- imaginärer Gemeinschaften mittels eigenständiger Institu-
sche Staat, wie Antonio Gramsci festgestellt hat, in einer tionen innerhalb des Nationalstaats, der Eigenstaatlichkeit
Verbindung aus Zwang und Konsens die Hegemonie der oder des staatlichen Anschlusses, auf staatliche Institutionen
herrschenden Klassen und ihrer Fraktionen und desorgani- also, in denen sich die »Volksmassen« wiedererkennen und
siert dergestalt die beherrschten Klassen. Diese politische die sie erneut als die »ihrigen« anerkennen sollen.
Hegemonie gewährleistet die funktionelle Kohärenz des

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Konstruktion des Volks als Nation sis besitzt, produziert er zur Modulation des ›Volkskörpers‹,
Die innere Homogenisierung des Nationalstaats verlangt ei- laut Balibar, eine »fiktive Ethnizität«26, die zwei komple-
ne Konstruktion von Volk und Nation, die über die sozialen mentäre Wege zur Konstruktion des Volkes einschließt.
Ungleichheiten, Spaltungen und Differenzen hinweggeht. Zum einen handelt es sich um die »sprachliche Gemein-
Hegemonie kann in diesem Sinn ohne die Modulation eines schaft«, zum anderen um die »rassische Gemeinschaft«. Die
»politischen Körpers Volk-als-Nation«24 nicht bestehen. erste bezieht sich auf die Nationalsprache, die im lingui-
Historisch gehen bestimmte Aspekte des kapitalistischen stisch-philologischen Nationalismus als »natürliche Spra-
Staats, etwa die zentralisierte Verwaltung und die Doktrin che« auftaucht, tatsächlich aber aus den staatlich organisier-
der Staatsräson, zwar seiner nationalen Form voraus, aber ten Prozessen der Alphabetisierung und Schriftreformie-
erst der politische Prozeß der äußeren wie der inneren Ko- rung, der Sprachplanung und -normierung erst hervorgeht.
lonialisierung schafft Nationen, die sich als Entitäten in ei- Eine Fiktion ist die sprachliche Gemeinschaft insofern, als
ner Rangordnung von kolonisierenden und kolonisierten ihr – linguistisch gesprochen – ein gemeinsamer »Code«
Staaten, in Zentrum und Peripherie gliedern. Für die Kon- zwischen Sendern und Empfängern unterstellt wird, der ih-
struktion des Volks als Nation sind die Mechanismen der in- nen sozial kommensurabel und völlig transparent erscheinen
neren Kolonialisierung von grundlegender Bedeutung, weil muß. Allerdings bleibt die sprachliche Gemeinschaft eine
sie die »unterentwickelten« Regionen innerhalb des natio- prekäre nationalstaatliche Homogenisierung, denn sie assi-
nalen Territoriums und die »schwach ausgebildeten« Tradi- miliert tendenziell alle kompetenten Sprecherinnen und
tionen innerhalb der nationalen Geschichte tendenziell iso- Sprecher und ihr Ausschlußmodus reicht kaum eine Gene-
lieren, negieren oder auslöschen. Sowohl in sozialer als auch ration zurück.
in kultureller Hinsicht zerstört der Nationalstaat andere Die sprachliche Praxis geht jedoch noch über die ima-
Muster der Traditionsbildung, indem er sie entweder der ginäre Gemeinschaft der Kommunizierenden hinaus, wenn
nationalen Tradition assimiliert oder im Namen dieser Tra- diese auf der Identifizierbarkeit der »Muttersprache« als
dition annihiliert, um in einem raum-zeitlichen Kontinuum Merkmal nationaler und ethnischer Zugehörigkeit behar-
das »eigene Volk« zu kreieren und es als eine »absolut auto- ren. Obgleich also die Nationalsprache einer grundsätzli-
nome Einheit«25 darzustellen. Die beiden wichtigsten histo- chen Unwägbarkeit der nationalen Zuschreibung ausgesetzt
rischen Kontrahenten des Nationalismus, der Regionalis- ist, liefert sie dennoch das Material für rassistische Ausgren-
mus und der Internationalismus, sind dagegen bisher vor al- zungen. Es sind die Metaphern für die Sprache als Ausdruck
lem an dieser Konstruktion des »eigenen Volks« gescheitert. der nationalen Seelenkräfte, der ursprünglichen Gemein-
Wo sie nicht selbst zum Staat, etwa in Form des Separatis- samkeit eines Volks und als des gemeinsamen Bandes, das
mus beziehungsweise Irredentismus oder auch des »soziali- seine Mitglieder zusammenhalte, die schon im 18. Jahrhun-
stischen Vaterlandes« und des Sozialismus in den jeweiligen dert charakteristisch für den linguistisch-philologischen Na-
»nationalen Farben«, und damit dem Nationalismus völlig tionalismus der bürgerlichen Intellektuellen, etwa den Na-
symmetrisch geworden sind, treten regionalistische und in- tionenbegriff Herders, waren. Ausgehend davon gleitet die
ternationalistische Artikulationen lediglich diskontinuierlich »sprachliche Gemeinschaft« über zur »rassischen Gemein-
auf. schaft«, deren konstitutives Merkmal die Fiktion einer ur-
Mit der Verknüpfung von Nationalismus und Rassismus sprünglichen Verwandschaft ihrer Mitglieder, die Eingliede-
erzeugt der Nationalstaat neben der historischen Konti- rung der Individuen in die Volksgenealogie ist, wie sie dem
nuität des Staatsvolks eine weitere Modalität der inneren genealogischen Mythos der Nation entspricht. Die »rassi-
Homogenisierung. Da kein Nationalstaat eine ethnische Ba- sche Gemeinschaft« fußt im Unterschied zur Sprachge-

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meinschaft auf einer fiktiven Kette der Generationen, die die Zugänge innerhalb der Hierarchien der gesellschaftli-
sich quasi beliebig in Vergangenheit und Zukunft verlängern chen Arbeitsteilung zu reglementieren, ihre Bedeutung
läßt, aber Integration und Assimilation per se reduziert oder liegt, Balibar zufolge, vielmehr vor allem darin, diese Funk-
sogar ganz ausschließt. Für sie steht die Metapher der Na- tionen der Reproduktion der fiktiven Ethnizität unterzuord-
tion als einer großen Familie, die Hegel etwa 1810, damals nen. Hierdurch erhält schließlich die Bevölkerungspolitik
Rektor eines neuhumanistischen Gymnasiums in Nürnberg, einen zentralen Stellenwert in der nationalstaatlichen Regu-
in dem Text »Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die lation der Ökonomie.
Unterklasse« durch folgende Formulierung ausgedrückt
hat: »Wenn die Familie sich zur Nation erweitert hat und Kritik des Nationalismus
der Staat mit der Nation in eins zusammenfällt, so ist es ein Die Geschichte von der amerikanischen und der französi-
großes Glück.«27 schen Revolution im 18. Jahrhundert bis zur antikolonialen
Dem Beispiel Hegels lassen sich nicht nur die zentralen Revolution in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, von
Orte der Nationalerziehung entnehmen, wie sie den bürger- Boston und Paris bis Managua war die Geschichte eines in-
lichen Intellektuellen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor- ternationalen Befreiungskampfs und zugleich die einer »Na-
schwebte, sondern Familie und Schule sind die Institutio- tionalisierung der Welt«.28 Im Inneren wie im Äußeren der
nen, in denen sich die Reproduktion der fiktiven Ethnizität kapitalistischen Zentren hat sich die Nationform des Politi-
abspielt. Balibar zumindest geht davon aus, daß beide eine schen etabliert, weil sie auf der Grundlage der kapitalisti-
institutionelle Verbindung innerhalb des Nationalstaats ein- schen Zeit- und Raumordnungen eine ungleichzeitige und
gehen und so das Volk als ethnische Gegebenheit in Form kombinierte Entwicklung der Gesellschaftsformationen er-
der »sprachlich-rassischen Gemeinschaft« konstruiert wird. möglichte, die sich in den Formen der nationalstaatlichen
Mehr noch, als schulische und familiäre Staatsapparate Territorialisierung und Deterritorialisierung niedergeschla-
bleibt dieses institutionelle Arrangement nicht auf die Schu- gen hat. Die Herausbildung von Zentren mit konkurrieren-
le und die Familie im engeren Sinne, etwa auf den »mutter- den Staaten und von Peripherien mit ihren hierarchisierten
sprachlichen Unterricht« beziehungsweise die bürgerliche Beziehungen zueinander und zu den Zentren, wie Immanuel
Kernfamilie, beschränkt. Hinzu kommen weitere öffentliche Wallerstein sie in der Theorie des historischen Kapitalismus
und private Institutionen, von der Kinderkrippe bis zum Al- als eines Weltsystems29 gefaßt hat, ist begleitet von einem
tersheim, von den Standesämtern bis zu den Familienbera- Prozeß ständiger Grenzziehungen und Grenzrevisionen wie
tungsstellen, von den Sport- und Freizeitvereinen bis zu den von einem permanenten Prozeß der Erfindung und Wieder-
Jugendämtern, in denen die Praktiken und Rituale der herstellung nationaler Mythen. Tatsächlich hat die Interna-
»sprachlich-rassischen Gemeinschaft« geregelt werden. tionalisierung der kapitalistischen Produktions- und Repro-
Demnach definiert der Nationalstaat sowohl staatlich-admi- duktionsbedingungen die Kompetenzen der nationalen Po-
nistrative als auch zivilgesellschaftliche und private Einrich- litik verengt, ohne jedoch die Nationalstaaten als die bestim-
tungen, in denen die Vermittlung von Sprachkompetenz mende Form des Politischen aufzulösen. Vielmehr hat sie
und die Einübung des generativen Verhaltens stattfindet, zu diese Form sogar noch verhärtet, was sich nicht zuletzt in
wichtigen Orten der Konstruktion des Volks als Nation. Die der Renationalisierung Osteuropas und der verschärften
staatliche Bevölkerungsplanung besteht dann vor allem dar- Konkurrenz nationaler Politiken und nationalistischer Be-
in, diese koordinierend und antizipierend einzusetzen. Der wegungen gezeigt hat, was aber auch an den Versuchen zur
schulische und der familiäre Staatsapparat haben dabei nicht Rekonstruktion der Familie und an den autoritären Metho-
nur die Reproduktion der Arbeitskraft zu garantieren und den der Erzwingung von Gehorsam im Innern abzulesen ist.

74 75
Hieraus entsteht die paradoxe Situation, daß gerade auf- net. Er stellt einerseits den Begriff der Nation ins Zentrum
grund der Internationalisierung des Kapitalverhältnisses lin- der Theorie des Befreiungskampfs, um den Prozeß der »De-
ke Politik zunehmend auf den nationalstaatlichen Rahmen kolonisation« als inneren und äußeren Prozeß der »Wieder-
verwiesen ist. Sie birgt die Gefahr, daß sich die Linke selbst herstellung der Nation« und der Gründung einer anerkann-
nationalisiert und als sozialpatriotischer Flügel nationaler ten Nation zu bestimmen. Andererseits verweist Fanon auf
und supranationaler Hegemonialbestrebungen agiert. Dies die »Mißgeschicke des nationalen Bewußtseins«, auf die be-
gilt insbesondere, wenn sie sich auf außen- und staatspoliti- drohlichen Übergänge vom Nationalismus »zum Ultrana-
sche Zielsetzungen beschränken und fixieren läßt und so ih- tionalismus, zum Chauvinismus, zum Rassismus« in den
re kulturrevolutionären Möglichkeiten, ihre Kritik der be- neuen Nationen und auf die Etablierung autoritärer Re-
stehenden öffentlichen wie privaten Institutionen selbst er- gimes in den halb- und nachkolonialen Nationalstaaten. Sei-
stickt. ne Schlußfolgerung lautet: »Wenn der Nationalismus nicht
Zumindest die parteiförmig organisierte Linke hatte bis- erklärt, bereichert und vertieft wird, wenn er sich nicht sehr
her mit nationalen Anrufungen kaum Schwierigkeiten. In rasch in politisches und soziales Bewußtsein, in Humanis-
der Mehrheit waren die Sozialdemokraten keine »vater- mus verwandelt, dann führt er in eine Sackgasse.«31 Diese
landslosen Gesellen«, sondern »anständige Deutsche« und Sackgasse allerdings ist zum Prinzip des historischen Pro-
treue Patrioten. Und als die Kommunisten in den zwanziger zesses der »Dekolonisation« geworden.
Jahren, nach dem Scheitern der revolutionären Bewegung Schon im Kommunistischen Manifest war diese Aporie
des Proletariats in Westeuropa, daran gingen, den »Sozialis- vorgezeichnet. Der Weg der Befreiung führte in den Augen
mus in einem Land« und den »proletarischen Staat« aufzu- von Marx und Engels unweigerlich über die Nationform des
bauen, taten sie es ihnen gleich, indem sie sich ihre Ziele von Politischen. Das Proletariat sollte zuerst »sich die politische
einer dekretierten Dialektik vorgeben ließen, wie sie etwa Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich
die Stalinsche Formel von 1925 zum Ausdruck gebracht hat: selbst als Nation konstituieren«, um dann die Grenzen der
»Proletarisch ihrem Inhalt nach, national ihrer Form nach – Nation zu überschreiten und so den »mit der Entwicklung
das ist die allgemeinmenschliche Kultur, der der Sozialismus der Bourgeoisie« bereits einsetzenden Prozeß vollenden,
entgegengeht«.30 Wenn die etatistische Linke heute für sich der die »nationalen Absonderungen und Gegensätze der
den Patriotismus wiederentdecken will, so reagiert sie auf Völker« zum Verschwinden bringe. Der Nationalismus ist
das scheinbare Paradoxon kapitalistischer Internationalisie- ihnen nicht mehr als eine ephemere Form der bürgerliche
rung und Nationalisierung mit einer national-partizipatori- Ideologie, während der Vormarsch der industriellen Bour-
schen Strategie; eine fatale Strategie, die dem demokrati- geoisie und die Entstehung der proletarischen Bewegung ih-
schen Mythos der Nation verhaftet bleibt und so vergessen nen die kosmopolitische Ablösung der Nationen garantierte.
machen soll, daß der Nationalstaat zwar das Terrain der so- Eine spezifische Kritik des Nationalismus schien sich folg-
zialen Kämpfe herrschaftlich vordefiniert, mithin auch ein lich zu erübrigen. Und dennoch taucht diese Kritik auch
Ausgangspunkt strategischer Überlegungen sein muß, zu- hier auf; in apodiktischen Sätzen wie: »Die Arbeiter haben
gleich aber die unerbittliche Schranke der politischen und kein Vaterland«, und schließlich in der Aufforderung: »Pro-
sozialen Befreiung bildet. letarier aller Länder, vereinigt euch!«32
Frantz Fanon, der auf Martinique geborene algerische Explizit formuliert wurde die Kritik des Nationalismus
Revolutionär, hat bereits 1961 in seinem berühmten Buch und Patriotismus bereits vorher von Autoren, die auch Marx
Les damnés de la terre das Dilemma der Politik nationaler Be- und Engels beeinflußt haben, so 1842 von dem Mitgründer
freiung mit Bezug auf die antikoloniale Revolution verzeich- des »Bundes der Gerechten« Wilhelm Weitling in Garanti-

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en der Harmonie und Freiheit und 1844 von den junghegelia- weichlicher war sie dann der nationalen Mystifikation ausge-
nischen Schriftstellern Arnold Ruge in Der Patriotismus und liefert. Diese wirkte sich umso verhängnisvoller aus, je deut-
Max Stirner in Der Einzige und sein Eigentum.33 Sie stellten licher eine kämpfende Bewegung zum Staat wurde und sich
sich gegen die gesamte Tradition des bürgerlichen Republi- die Abkehr der enttäuschten metropolitanen Linken von ihr
kanismus, der in der eigenen Nation seine Grenze findet als deren Heimkehr herausstellte.
und heute wieder als linke Alternative zur bundesrepublika-
nischen Verfassungswirklichkeit gepredigt wird. Gemeinsam
war ihnen die Einsicht, die Ruge in dem schlichten Satz zu-
sammenfaßte: »Die Freiheit ist nicht national.«34 Diese Ein- Anmerkungen
sicht allerdings war durch grundlegend verschiedene philo- 1 Um nur die wichtigsten Stationen des Arminius- bzw. Hermann-
sophische und politische Auffassungen fundiert, die man als Mythos in der Literatur aufzulisten: Ulrich von Hutten: Arminius
die drei Quellen und Bestandteile einer linken Kritik der (Dialog, 1520); Daniel Caspar von Lohenstein: Großmütiger Feldherr
Arminius oder Hermann, als ein tapferer Beschirmer der deutschen Frei-
Nationform bezeichnen könnte. Weitling vertrat einen
heit, nebst seiner durchlauchtigsten Thusnelda in einer sinnreichen
kommunistischen Egalitarismus, Ruge einen humanisti-
Staats-, Liebes- und Heldengeschichte dem Vaterland zu Liebe, dem deut-
schen Kosmopolitismus und Stirner einen individualisti- schen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge vorgestellt (Roman,
schen Radikalismus. Sicherlich, jede der drei Richtungen postum 1689/90); Johann Elias Schlegel: Hermann (Trauerspiel,
positiv und dogmatisch genommen beinhaltet abstrakte Set- 1743); Christoph Martin Wieland: Hermann (Epos, 1751); Friedrich
zungen, die zu doktrinären Systematisierungen, moralisie- Gottlieb Klopstock: Hermanns Schlacht (1769), Hermann und die Für-
renden Postulaten oder egoistischen Idiolatrien verkommen sten (1784), Hermanns Tod (1787); Heinrich von Kleist: Die Her-
können. Als Formen der Kritik sind sie virulent geblieben, mannsschlacht (Drama, postum 1818); Christian Dietrich Grabbe:
und in historischen Augenblicken, etwa in den kurzen Pha- Die Hermannsschlacht (Drama, postum 1836).
sen des proletarischen Kampfes für die Weltrevolution oder 2 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen (1844). Caput
in den kulturrevolutionären Bestrebungen der künstleri- XI. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Band 7: Schrif-
schen Avantgarde, haben sie sich sozial konkretisiert und die ten 1837 – 1844. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1981, S. 600ff.
Artikulationen sozialer Ungerechtigkeit und politischer Un- 3 Friedrich Engels: Zur Urgeschichte der Deutschen (1881/82). In:
MEW 19, S. 425 – 473, hier: S.447
terdrückung ihrer nationalen Überformung zu entwinden
versucht. 4 Georges Sorel: Über die Gewalt. Frankfurt a. M. 1981, S. 42, 145 und
152; ders.: Die Auflösung des Marxismus. Hamburg 1978, S. 57f. und 60.
Die Kritik des Nationalismus von seiten der radikalen
5 Emmanuel Joseph Sieyès: Was ist der Dritte Stand? Essen 1988, S. 35
Linken war dagegen in einen sozialen Mythos, in die Evi-
denz einer Einheit des internationalen Klassenkampfs einge- 6 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation (1807/08).
In: Fichtes Werke VII. Berlin 1971, S. 257 – 499, hier insb. S. 359ff.
sponnen, die eben jene zentrale Funktion unsichtbar mach-
(Siebente Rede)
te, die der schulische und der familiäre Staatsapparat für die
7 Vgl. Léon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassis-
Reproduktion der Nationform spielen. Je mehr die radikale mus und Nationalismus. Wien, München, Zürich 1977.
Linke in den kapitalistischen Metropolen sich später mit
8 Ernest Renan: Was ist eine Nation? In: Michael Jeismann/Henning
kämpfenden Bewegungen im Trikont identifizierte, die sie Ritter (Hrsg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus.
als emanzipatorische Nationen, als Speerspitze einer umfas- Leipzig 1993, S. 290 – 311, hier: S.309
senden Emanzipationsbewegung ansah, je mehr sie die kul- 9 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien
turrevolutionären Impulse beiseite schob, die die eigene po- des Staatsrechts (1762). In: Ders.: Politische Schriften. Band 1. Übers.
litische Existenz und Lebensweise angingen, desto unaus- v. Ludwig Schmidts. Paderborn 1977, S. 59 – 208, hier: S. 116

78 79
10 Ernest Renan: Was ist eine Nation? A.a.O., S. 309 Staats reformuliert; vgl. Nicos Poulantzas: Staatstheorie, a.a.O., S.
11 Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur 85ff.
marxistischen Theorie. Hamburg, Westberlin 1977, S. 148 16 Friedrich Engels: Die Rolle der Gewalt in der Geschichte (1888). In:
12 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1964, insb. S. MEW 21, S. 405 – 461, hier: S. 407
92f., 106 und 139. Zur »Operation der Ent-Nennung« heißt es an 17 Karl Marx: Das Kapital, a.a.O., S. 253 und 453. Die Ökonomisie-
einer Stelle: »Die Bourgeoisie wird definiert als die soziale Klasse, rung von Raum und Zeit, die sich in der Entwicklung der Maschine-
die nicht benannt werden will. ... Politisch wird die Entnennung rie niederschlägt, ist nach Marx selbst Resultat des Klassenkampfs:
durch die Idee der Nation bewirkt.« (S. 124f.) »Der Kampf zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter beginnt mit dem
13 Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie Kapitalverhältnis selbst. Er tobt fort während der ganzen Manufak-
zur Wissenschaft (1880). In: MEW 19, S. 189 – 228, hier: S. 222 turperiode. Aber erst mit der Einführung der Maschinerie bekämpft
14 Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, So- der Arbeiter das Arbeitsmittel selbst, die materielle Existenzweise
zialistische Demokratie. Hamburg 1978, insb. S. 151ff. des Kapitals. Er revoltiert gegen diese bestimmte Form des Produk-
tionsmittels als die materielle Grundlage der kapitalistischen Pro-
15 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster
duktionsweise.« (S. 451) Und: »Die Maschinerie wirkt jedoch nicht
Band. Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW 23, S.
nur als übermächtiger Konkurrent stets auf dem Sprung, den Lohn-
355. Der vierte Abschnitt des Kapitals unter der Überschrift »Die
arbeiter ›überflüssig‹ zu machen. Als ihm feindliche Potenz wird sie
Produktion des relativen Mehrwerts« enthält in der Darstellung des
laut und tendenziell vom Kapital proklamiert und gehandhabt. Sie
Übergangs von der einfachen Kooperation und der Manufaktur zur
wird das machtvollste Kriegsmittel zur Niederschlagung der peri-
Maschinerie und großen Industrie die zentralen Bestimmungen der
odischen Arbeiteraufstände, strikes usw. wider die Autokratie des
im folgenden dargelegten kapitalistischen Transformation der
Kapitals. ... Man könnte eine ganze Geschichte der Erfindungen seit
Raum- und Zeitordnung. Bereits in der Manufaktur kann die Ar-
1830 schreiben, die bloß als Kriegsmittel des Kapitals wider Arbeite-
beitsteilung nach Marx die entspechende Form annehmen: »Statt
remeuten ins Leben traten.« (S. 459) Wie immer die Kampfformen
die verschiedenen Operationen von demselben Handwerker in einer
sich historisch darstellen, ob Maschinensturm, Sabotage oder Ab-
zeitlichen Reihenfolge verrichten zu lassen, werden sie voneinander
sentismus, sie sind dem Kapitalverhältnis inhärent und gerade hierin
losgelöst, isoliert, räumlich nebeneinander gestellt, jede derselben
liegt nach wie vor ihre politische Brisanz. Der kapitalistische Staat,
einem andren Handwerker zugewiesen und alle zusammen von den
und dies hat Marx in den historischen Teilen des Kapital dokumen-
Kooperierenden gleichzeitig ausgeführt.« (S. 357) Ist hierin die erste
tiert, greift daher regulierend ein und befördert die »Ökonomisie-
Form bezeichnet, in der die kapitalistische Produktionsweise die Ar-
rung der Produktionsbedingungen« (S. 432).
beitskraft erfaßt, so richtet sich die große Industrie auf die Arbeits-
mittel: »Die moderne Industrie betrachtet und behandelt die vor- 18 Nicos Poulantzas: Staatstheorie, a.a.O., S. 107
handne Form eines Produktionsprozesses nie als definitiv. Ihre tech- 19 Hitler beispielsweise propagierte zur Erlangung der Macht nach
nische Basis ist daher revolutionär, während die aller früheren Pro- dem Ersten Weltkrieg und dem Scheitern der proletarischen Revo-
duktionsweisen wesentlich konservativ war. Durch Maschinerie, lution in Deutschland, daß die NS-Bewegung »als oberstes Ziel
chemische Prozesse und andre Methoden wälzt sie beständig mit der zunächst die Nationalisierung der Massen durchführen muß«; Adolf
technischen Grundlage der Produktion die Funktionen der Arbeiter Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausga-
und die gesellschaftlichen Kombinationen des Arbeitsprozesses um. be. München 1935, S. 364 – 378, hier: S. 369. Die »Nationalisierung
Sie revolutioniert damit ebenso beständig die Teilung der Arbeit im der Massen« stellt sich hier als das klassische Ziel einer gegenrevolu-
Innern der Gesellschaft und schleudert unaufhörlich Kapitalmassen tionären Strategie im 20. Jahrhundert dar, die auf die Formierung
und Arbeitermassen aus einem Produktionszweig in den andern.« der Massen gerichtet ist.
(S. 510f.) 20 Étienne Balibar: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie. In:
Poulantzas hat die kapitalistische Transformation der Raum- und Ders./Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente
Zeitordnung, insbesondere im Blick auf die Fließbandproduktion, Identitäten. Hamburg, Berlin 1990, S. 107 – 130, hier: 114
aufgenommen und in Bezug auf die Nationform des kapitalistischen 21 Vgl. Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Hrsg.

80 81
und übers. von Christian Riechers. Frankfurt a. M. 1967, S. 327f.; Theorien über Rassismus und Ethnizität
Nicos Poulantzas: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen. Frank-
furt a. M. 1974, S. 135ff. Zu Gramscis Hegemonie-Konzeption und Ideologien, Diskurse, Formationen
ihren historischen Entstehungsbedingungen vgl. Perry Anderson:
Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung. Berlin 1979.
22 Étienne Balibar: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie,
a.a.O., S. 115
23 Karl Marx: Erster Entwurf zum »Bürgerkrieg in Frankreich«
Spätestens seit der staatlichen Vereinigung von BRD und
(1871). In: MEW 17, S. 493 – 571, hier: S. 543; ders.: Der Bürger-
krieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Ar-
DDR wird auch hier wie in den westlichen Staaten schon
beiterassoziation. In: MEW 17, S. 313 – 365, hier: S. 346 früher, etwa in den USA, den Niederlanden, in Britannien
24 Nicos Poulantzas: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, a.a.O.,
und Frankreich, die Debatte um das Phänomen Rassismus in
S. 138 einer breiteren Öffentlichkeit geführt. Die Gründe hierfür
25 Étienne Balibar: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie, liegen auf der Hand: In der vorangegangen Dekade bereits
a.a.O., S. 119 hatte sich – auch in der Bundesrepublik wahrnehmbar – ein
26 Ebenda, S. 118; siehe auch ders.: Rassismus und Nationalismus. In: Rassismus aufgebaut, der scheinbar der Vergangenheit an-
Ders./Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation, a.a.O., S. 49 – 84, gehörte. Das erneut wirkungsmächtige Auftreten rassisti-
hier: S. 63 sowie ders.: Die Grenzen der Demokratie. Hamburg 1993, scher Artikulationen in den achtziger Jahren hatte ganz Eu-
S. 129 – 132. ropa in einem autoritär-populistischen Netzwerk aus sich
27 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechts-, Pflichten- und Religions- neu formierenden faschistischen Parteien, den Intellektuel-
lehre für die Unterklasse (1810ff.). In: Ders.: Nürnberger und Heidel- lenzirkeln der »Neuen Rechten«, den neokonservativen Re-
berger Schriften 1808 – 1817. Werke 4. Frankfurt a. M. 1970, S. 204 – gierungen samt politisch-juristischen Bürokratien bis hin zu
274, hier. S. 246 den starken Worten an familiären Wohnzimmertischen
28 Vgl. Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und schneller geeint, als dies der in Aussicht gestellte europäi-
Realität seit 1780. Frankfurt a. M., New York 1991. sche Binnenmarkt vermochte.
29 Immanuel Wallerstein: Der historische Kapitalismus. Berlin 1984; sie- In der Bundesrepublik häuften sich dann nach 1989 die
he auch neuerdings: Ders.: Die Sozialwissenschaften »kaputtdenken«. Angriffe auf Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten. Sie
Die Grenzen des Paradigmen des 19. Jahrhunderts. Weinheim 1995,
sind zum Alltag einer Gesellschaft geworden, deren Bürger
insb. S. 316ff.
und Bürgerinnen dem offiziellen Selbstbild zufolge sich doch
30 Josef W. Stalin: Über die politischen Aufgaben der Universität der
Ostvölker. In: Ders.: Der Marxismus und die nationale und koloniale
vom »Rassenwahn« der Nazis losgesagt hatten. Alle Versu-
Frage. Köln 1976, S. 265 – 274 hier: S. 269 che, das Phänomen rassistischer Gewalttaten unter Verweis
31 Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a. M. 1981, S. auf die Pogromstimmungen in Hoyerswerda (1991) und Ro-
133, 174 und 207 stock (1992) entgegen der Anschlußlogik noch schnell zu ex-
32 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, territorialisieren und auf die vermeintliche Zurückgeblie-
MEW 4, S. 458 – 493, hier: S. 479 und 493 benheit eines unter 40 Jahren SED-Regime leidenden Volks
33 Wilhelm Weitling: Garantien der Harmonie und Freiheit (1842). im Beitrittsgebiet abzuwälzen, waren leicht durchschaubare
Stuttgart 1974; Arnold Ruge: Der Patriotismus (1844). Frankfurt a. Regierungspropaganda: Auch daran sollten Honecker und
M. 1990; Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum (1844). Stutt- Konsorten noch Schuld sein. Ähnliche Pogromstimmungen
gart 1981 im zivilisierten Westen der Republik, etwa in Mannheim-
34 Arnold Ruge: Der Patriotismus, a.a.O., S. 32 Schönau (1992), fanden daher vergleichsweise geringe Auf-

82 83
merksamkeit von seiten der Medienöffentlichkeit. Hier war staaten fixiert war, so daß die Debatte nicht selten auf die Ar-
größere Vorsicht geboten, denn es gehörte zum Regierungs- beitsemigration (nicht Immigration) und auf die Forderung
kalkül, in einem austarierten Verhältnis von angeblich be- nach Solidarität zwischen deutschen und ausländischen Ar-
rechtigtem Volkszorn und administrativer Handlungsbereit- beitskolleginnen und -kollegen beschränkt blieb. Wo diese
schaft gegenüber den Flüchtlingen die Kampagne zur De- Solidarität nicht alltäglich verwirklicht oder wie in den sieb-
facto-Abschaffung des Asylrechts durchzuführen und bereits ziger Jahren in Betriebs-, Häuser- und Stadteilkämpfen er-
im Vorfeld parlamentarischer Verfahren die entsprechende probt und in organisierender Absicht als Element des revo-
Legitimität herzustellen. Nach dem Anschlag in Mölln lutionären Internationalismus verstanden wurde, verkam sie
(1992) fügten sich schließlich auch Lichterketten und offi- zur sozialdemokratischen Völkerverständigungsphrase oder
ziöse Kampagnen gegen Gewalt in diesen neuen Massen- zum politvoyeuristischen Revolutionsexotismus.
konsens ein, indem sie das Recht der Regierenden, über das Obgleich die radikale Linke – insbesondere nach den
Leben der Flüchtlinge zu verfügen, wenn nicht explizit be- Auguststreiks bei Ford in Köln 1973 – die kämpferische Ak-
stätigten, so doch zumindest nicht anrührten. tivität und Entschlossenheit der nicht-deutschen Massenar-
Gestützt auf diesen Massenkonsens und mit der parla- beiterInnen bewunderte, erschienen Migrantinnen und Mi-
mentarischen Verabschiedung des neuen Artikels zur Asyl- granten in ihrer Theoriebildung aufgrund des ökonomi-
verweigerung wurde in weniger als drei Jahren die Erfah- schen Reduktionismus, der in ihr vorherrschte, lediglich als
rung der Flucht vor den Nazi-Schergen endgültig aus dem ausländische Arbeitskräfte und Objekte der Kapitalakkumu-
kodifizierten Recht gelöscht. Die bundesdeutsche Linke war lation. Die politischen und ideologischen Dimensionen des
auf den sich hierin abzeichnenden Erosionsprozeß der Bon- Migrationsprozesses waren nahezu ausgeblendet. Vor allem
ner Republik nicht gefaßt. Weder in ihrer Praxis noch in ih- ließen sich so die subjektiven Begründungen für die Migrati-
rer Theoriebildung erwies sie sich dieser Herausforderung on und die »Autonomie der Auswanderung gegenüber der
gewachsen. Die Blockade des Bundestags anläßlich der drit- Politik der Staaten« (Moulier-Boutang), der Emigration wie
ten Lesung des Artikels 16a im Mai 1993 war einer der we- der Immigration, nicht erfassen. Selbst noch die rassistische
nigen Versuche ihres radikalen Teils, in einer gegen den na- Segregation als funktionale Bedingung des Akkumulations-
tionalen Konsens gerichteten, antirassistischen Initiative prozesses blieb dabei weitgehend unbegriffen. Statt dessen
diesen Prozeß zu stoppen. Die Aktion ist letztlich daran ge- konzentrierte sich die Analyse auf den Aspekt niedriger Re-
scheitert, daß sie sich nicht in den Alltag hinein universali- produktionskosten.1 Rassismus konnte in diesem theoreti-
sieren ließ. Aber auch in der theoretischen Reflexion zeigte schen Rahmen lediglich als funktionales Instrument zur
sich die Linke in der Bundesrepublik wenig vorbereitet auf ideologischen Spaltung der Arbeiterklasse verstanden wer-
die Auseinandersetzung mit einem Rassismus, dem nicht nur den, während die dringliche Kritik staatlicher Migrationspo-
ungenügend Einhalt geboten, sondern der aufgrund der so- litik und alltäglicher Diskriminierungspraxis weitgehend un-
zialen Machtverhältnisse und der politischen Hegemonie terlassen wurde beziehungsweise in dem Postulat einer
der Konservativen sogar noch befördert wurde. selbstverständlichen Einheit des internationalen Klassen-
kampfs zu verschwimmen drohte.
Die Linke im Rechtsstaat BRD Noch die Opposition gegen diese Politik und Alltagspra-
Die Linke selbst saß lange Zeit jener Staatsdoktrin auf, nach xis zu Beginn der achtziger Jahre firmierte als Kampagne ge-
der die BRD kein Einwanderungsland sei. In weiten Teilen gen Ausländerfeindlichkeit. Sie machte sich damit den auf
war sie sogar dem spezifisch bundesdeutschen Gastarbeiter- die juristische Kodifizierung (»Ausländergesetz«) und ver-
system noch negativ verhaftet, indem sie auf die Herkunfts- waltungstechnische Gliederung (»Ausländeramt«) bezoge-

84 85
nen Euphemismus zu eigen, hinter dem das »Objekt der den zum Schlüssel der Diskriminierungspraxis erklärt wird.
Feindlichkeit« verschwindet und rassistische Verhaltenswei- Fremdenfeindlichkeit ist demnach eine individuelle oder
sen bagatellisiert werden, indem unterstellt wird, daß alle, kollektive Reaktionsweise, die sich aus der Angst vor dem
die sich nicht im Besitz der Staatsbürgerrechte befinden, un- Fremden (Xenophobie) oder Anderen (Heterophobie) spei-
terschiedslos betroffen seien, was offenkundig nicht der Fall se. Albert Memmi hat in seinem Buch Le racisme (1982, dt.
war und ist.2 Erst auf Druck sich selbstorganisierender Mi- 1987) diesen Ansatz herausgearbeitet, indem er den Begriff
grantInnen-Gruppen und des Vollzugs einer eindeutigen Rassismus für die biologistischen Erklärungsmuster des ras-
Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik von seiten der sistisch Handelnden privilegierte. Die Grundlage des Ras-
Kohl-Regierung setzte zu Beginn der neunziger Jahre in der sismus sei das im familiären Kontext entwickelte heteropho-
bundesrepublikanischen Linken eine verbreiterte Rezeption be Muster, nach dem die Anerkennung des anderen verwei-
von Theorien über Rassismus ein, die auf Forschungen und gert werde. Memmis Definition liefert einen erweiterten
Erfahrungen vor allem in Frankreich, Britannien, in den Rahmen der Analyse, da sie Rassismus als einen »Sonderfall
Niederlanden und den USA basierten.3 der Heterophobie« darstellt, die allgemeiner die »Ableh-
In mehrfacher Hinsicht hat sich hierdurch die theoreti- nung des anderen unter Berufung auf Unterschiede jedwe-
sche Perspektive verschoben. Zum einen wurden die Bor- der Art« meint.4
nierungen der westdeutschen Rassismus-Diskussion über- Diese Erweiterung wirft allerdings die Frage nach der
wunden, so daß der Zusammenhang von Rassismus und Mi- sozialen Konstruktion von Differenzen auf, an die sich die
grations- und Bevölkerungspolitik thematisiert werden angstbesetzte Abwehr knüpft. Das theoretische Problem,
konnte; zum anderen rückten ideologietheoretische und dis- das diese Fragestellung impliziert, hat eine doppelte Refe-
kursanalytische Fragestellungen in den Blick, und es wurden renz. Zum einen verweist es auf ein Subjekt, das rassistische
neue Konzepte zur Analyse alltäglicher Diskriminierungs- Subjekt etwa, das im Sozialisationsprozeß jenes heterophobe
praktiken entwickelt, die den Rahmen sozialpsychologischer Muster erwarb, das es in eine tautologische Handlungs-
Anomie- und Deprivationsthesen zu verlassen erlaubten. struktur zwingt. Memmi beschreibt diese Struktur in folgen-
Vor allem aber eröffnete die Rezeption dieser Ansätze die den Sätzen: »Der Rassist ist ein Mensch, der Angst hat; er
Möglichkeit, zentralen Fragen nachzugehen, die mit der an- hat Angst, weil er der Angreifer ist, und er greift an, weil er
gesprochenen Entwicklung nach 1989 virulent wurden: Wie Angst hat; ein Mensch, der Angst vor einem potentiellen
ist der Rassismus in der Struktur des kapitalistischen Staats Angriff hat oder glaubt, man greife ihn tatsächlich an; der
westlich-parlamentarischen Typs präsent? Wie rassistisch ist schließlich angreift, um seine Angst zu bannen.«5 Zum an-
die gegenwärtige bundesrepublikanische Gesellschaft? Was deren nimmt die Frage nach der sozialen Konstruktion von
sind die soziohistorischen Bedingungen der Ausbreitung des Differenzen bezug auf die Präsenz beziehungsweise Reprä-
Rassismus nach 1945? Die folgenden Überlegungen schlie- sentanz des Anderen oder auch des Fremden. Memmi be-
ßen sich dieser neueren Theoriebildung an, ohne allerdings handelt dieses theoretische Problem funktionalistisch, in-
den Anspruch zu erheben, die aufgeworfenen Fragen er- dem er die legitimatorische Bedeutung tatsächlicher oder
schöpfend zu beantworten. fiktiver Unterschiede in den Mittelpunkt seiner Definition
heterophober Einstellungen rückt. Sie erfahren im Rassis-
Xenophobie und Heterophobie mus eine verabsolutierte Wertung, die dem rassistischen Tä-
Vorherrschend ist in der Bundesrepublik auf seiten der ter nutze und dem Opfer schade.6
staatstragenden Linken nach wie vor das theoretische Kon- Zurecht wendet sich Memmi explizit dagegen, den Ras-
strukt der Fremdenfeindlichkeit, in der die Figur des Frem- sismus lediglich als »reines Wahngebilde« oder »bösartige

86 87
Lüge« zu begreifen. Da er jedoch über den Prozeß der Kon- Kristeva ist Fremdenfeindlichkeit nichts anderes als der
stitution jener Differenzen keine Auskunft gibt, fungieren Kampf gegen das eigene Unbewußte. Eine mögliche Ge-
letztlich reale Präsenz und imaginäre Repräsentanz des An- genstrategie sieht sie in der Anerkennung des Fremden als
deren als das soziale Substrat seiner funktionalistischen Be- des unbewußten Teiles des eigenen Selbst und dem Mut zur
stimmung. Sicherlich betont Memmi, daß dieses wiederum eigenen Desintegration.
nur im konkreten soziohistorischen Kontext zu eruieren sei,
aber seine sozialpsychologisch-soziologische Theorie gibt Der Fremde im sozialen Raum
keinerlei Anhaltspunkte für eine solche Analyse. Sie überläßt Der zweite Ansatz nimmt die reale Präsenz des Fremden auf
sich somit dem historizistischen Empirismus. In der gegen- und entwirft eine auf die Migrationsprozesse bezogene So-
wärtigen Debatte haben sich im wesentlichen zwei Ansätze ziologie der räumlichen Gliederung von Gesellschaft. Im
herauskristallisiert, um diese theoretische Lücke in Memmis wesentlichen geht dieser Ansatz auf Georg Simmels »Exkurs
Vorarbeiten zur Bestimmung der Heterophobie und Xeno- über den Fremden« in seinem bereits 1908 erschienen Buch
phobie zu füllen. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaf-
tung zurück.9 Nach Simmel ist das Verhältnis zur räumli-
Das Fremde als das eigene Unbewußte chen Ordnung die zentrale soziale Komponente einer Grup-
Der erste Ansatz ist an der subjekttheoretisch fundierten pe, indem es – allgemein gefaßt – einerseits Bedingung, an-
Konstruktion der Psychoanalyse orientiert, wie sie etwa in dererseits Symbol der Verhältnisse zu Menschen sei. Die Be-
der Ethnopsychoanalyse (Erdheim) und der semiologischen sonderheit der soziologischen Form des Fremden bestehe
Psychoanalyse (Kristeva) vorliegen. Dieser Konstruktion zu- nun darin, daß er die räumlichen Ordnungen der Gesell-
folge setze die imaginäre Repräsentanz des Fremden Ele- schaft überschreite und in einem neuen Umkreis durch seine
mente des Unbewußten (»Es«) in Gang und bewirke ein ag- räumliche »Gelöstheit« und zugleich »Fixiertheit« charak-
gressionsförderndes Außer-Kraft-Setzen des eigenen Selbst- terisiert sei. Im Unterschied zum Wanderer nämlich, der
bildes (»Über-Ich«), das in der Identifizierung mit der sozia- heute komme und morgen gehe, zeichne sich der Fremde
len Autorität hergestellt wurde. Das Bild des Fremden löse dadurch aus, daß er heute komme und morgen bleibe. Der
die »eigene Erinnerung an die ursprüngliche Trennung von metaphorische Bezug auf den Wanderer soll hier das dop-
der Mutter«7 und an die »infantilen Wünsche und Ängste pelte Verhältnis des Fremden zur bestehenden, weitgehend
gegenüber dem anderen ... als Tod, als Frau, als unbe- stationär gedachten Gesellschaft verdeutlichen: Einerseits
herrschbarer Trieb«8 aus. Damit werde der Kompromiß ist er nicht exterritorialisiert und gehört somit zu der jewei-
zwischen triebhaftem »Es« und »Über-Ich« als der Zensur- ligen sozialen Gruppe, andererseits aber repräsentiert er ein
und Verbotsinstanz des »Ich« (Anerkennung des Gesetzes »Außerhalb« und ein »Gegenüber«, da er als potentiell
und der Sittlichkeit) zur Dispostion gestellt. Die Wieder- Wandernder gilt. Aufgrund dieser Gleichzeitigkeit von Teil-
kehr des Verdrängten schlage sich in einer Ambivalenz der nahme und Bindungslosigkeit bleibe seine gesellschaftliche
Gefühle nieder, die zwischen Faszination und Angst vor Stellung prekär und könne, so Simmel, in herrschaftsstabili-
Enthemmung und Entpersönlichung schwanke. Xenopho- sierender Absicht funktionalisiert werden. Allein seine
bie bedeutet demnach eine Angst vor der eigenen Triebent- zwieschlächtige Präsenz prädestiniere den Fremden schließ-
ladung, die auf das Bild des Fremden verschoben wird. Die lich für anschuldigende Zuschreibungen, die ihn für alle
Folge dieser Verschiebung sei schließlich die aggressive Ab- Momente gesellschaftlicher Desintegration verantwortlich
wehrreaktion, wie sie etwa Memmi in der tautologischen machen können. Gegenüber der Definition Memmis stellt
Handlungsstruktur des Rassisten beschrieben hat. Nach die sozial-räumliche Konzeption Simmels eine theoretisch

88 89
genauere Bestimmung der Xenophobie dar, sofern die Im- ken von Herrschaft offenzulegen. Diesen Ansätzen zufolge
migration in den Begründungszusammenhang rassistischer handelt es sich bei Rassismus um einen Ein- und Ausschluß-
Angriffe aufgenommen werden soll. In anderer Hinsicht modus, der gesellschaftlich koexistierende Gruppen von In-
aber liefert die soziologische Konstruktion des Fremden bei dividuen betrifft. Allerdings stellt auch diese formale Be-
Simmel nicht mehr als eine positive Folie für die negative stimmung eine Abstraktion von den vielfältigen, histori-
Beschreibung einer Sündenbock-Funktion. schen wie aktuellen Artikulationen des Rassismus dar, die
dazu verleiten kann, ihre transhistorische Gültigkeit – zu-
Intrinsische Logik der Herrschaft mindest für die sogenannte europäische Zivilisation oder
Beide Ansätze sind den gegenwärtigen Diskriminierungs- abendländische Welt – anzunehmen.10 Es vermag weder
praktiken wie den Konsequenzen der staatlichen Migrati- theoretisch noch historiographisch zu überzeugen, etwa die
onspolitik entrückt. Die Konzentration auf die Psychologie Trennung der griechisch-römischen Welt von den Barbaren
des rassistischen Subjekts wie auf die sozial-räumlichen Be- oder die christliche von der islamischen oder jüdischen Reli-
ziehungen, die der Migrationsprozeß konstituiert, führt kei- gionsgesellschaft nach dem gleichen Modus zu beschreiben,
neswegs zu einer soziohistorischen Konkretisierung der Be- der den Rassismus charakterisiert.
dingungen von alltäglicher Diskriminierung und politischer
Ausgrenzung. Vielmehr wird die von Memmi herausgestell- Ideologische Rassenkonstruktion
te Trennung zwischen dem vermeintlich Eigenen und dem Die Konstruktion eines Selbst und die Spaltung von den An-
Fremden, die Konstruktion des chimärischen Selbst, das deren ist auf einen Typus von Subjektivität bezogen, der sich
sich durch die Anderen bedroht sieht, in der psychoanalyti- der Bindungen an mythische und religiöse Gemeinwesen
schen wie in der soziologischen Konzeption hypostasiert. entwunden und historisch im Zuge der Etablierung der Do-
Die soziale Existenz von Migrantinnen und Migranten wie minanz der kapitalistischen Produktionsweise verallgemei-
auch das gesellschaftlich vorherrschende Bild von ihnen nert hat. Zu denken ist hierbei vor allem an die »Trennung
werden enthistorisiert. Xenophobie erscheint letztlich doch des unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmit-
als eine universalgeschichtlich auffindbare und anthropolo- teln« (Marx), die sich in drei Dimensionen vollzieht: näm-
gisch fundierte Folge der realen Präsenz und der imaginären lich ökonomisch als Subsumtion der Arbeit unter das Kapi-
Repräsentanz der Fremden. In diesem Sinne folgen beide tal, politisch als Durchsetzung und Behauptung des staatli-
Ansätze einem theoretischen Realismus, der in der un- chen Gewaltmonopols und ideologisch als Konstitution frei-
zulänglichen Bestimmung des Verhältnisses von Realem und er Subjektivität.
Imäginärem begründet liegt. Ausgeblendet bleiben damit
die intrinsischen Logiken sozialer Herrschaft, in denen die Rassismus als notwendig falsches Bewußtsein
Konstruktion des Selbst in der Spaltung von den Anderen Bereits in den siebziger Jahren hat Peter Schmitt-Egner den
konstituiert wird. Versuch unternommen, Rassismus als notwendigen Schein
Auch die neueren theoretischen Ansätze zur Erklärung der bürgerlichen Gesellschaft aus Marxens Wertform-Ana-
des sozialen Phänomens Rassismus beziehen sich auf die lyse abzuleiten. Schmitt-Egner sieht dabei sowohl das Po-
konstitutive Trennung von einem Selbst und den Anderen. stulat universeller Gleichheit und Freiheit, wie es etwa den
Entsprechend der ideologietheoretisch gestützten und dis- Menschenrechten zugrunde liegt, als auch das der funda-
kursanalytisch begründeten Herangehensweise ermöglichen mentalen Ungleichheit, wie es sich im Rassismus manife-
sie jedoch den theoretischen Realismus wie den historizisti- stiert, im widersprüchlichen Charakter der Warenform,
schen Empirismus zu vermeiden, um die intrinsischen Logi- nämlich in der Tausch- und der Gebrauchswertseite der Wa-

90 91
re Arbeitskraft begründet. Durch das Lohnverhältnis werde diesen Zuschreibungen von den kolonisierten Peripherien in
dem Arbeiter in der Beziehung W(are)-G(eld)-W(are), das die kolonisierenden Zentren aus, so daß sie im kapitalisti-
heißt: Verkauf der Arbeitskraft – Lohn – Kauf von Lebens- schen Weltsystem insgesamt – auch über den Prozeß der
mitteln, also bezüglich seines Konsums, Freiheit und Dekolonisation hinaus – weiter wirken.12
Gleichheit in abstrakter Form gesetzt, so daß sie noch in der Die intrinsische Logik der sozialen Herrschaft ist in die-
Beziehung G-W-G’, der Verwandlung von Geld in die Wa- sem Ansatz auf die Logik des kapitalistischen Verwertungs-
re Arbeitskraft, die sich unter dem Kommando des Kapitals prozesses zurückgeführt, nach der das Wertgesetz als Wesen
wertschöpfend betätigt, also dem faktischen Vollzug von der bürgerlichen Gesellschaft alle politisch-sozialen und hi-
Unfreiheit und Ungleichheit, ihm als solche erschienen. Be- storisch-konkreten Phänomene als seine Erscheinungen aus
dingung für die Aufrechterhaltung des realen Scheins von sich hervortreibt. Indem Schmitt-Egner den Rassismus so
Freiheit und Gleichheit ist hierbei, daß der Wert der Ware als gesellschaftlich notwendige Bewußtseinsform an die ka-
Arbeitskraft dem historisch-variablen, nicht zuletzt durch pitalistische Produktionsweise gebunden sieht, setzt seine
die Klassenkämpfe bestimmten Wert der zu ihrer Repro- theoretisch abgeleitete Genese jedoch logisch wie historisch
duktion notwendigen Lebensmittel entspricht. Dieser Wert sowohl das Kolonialsystem (und mit ihm den kolonisieren-
bemißt sich folglich nicht nach der physischen Reprodukti- den Staat) als auch die historische Konstitution freier Sub-
onsfähigkeit, sondern nach der historisch-moralischen jektivität bereits voraus, die eben jene Differenz zwischen
Schranke der Arbeitszeit, die in den Arbeitskämpfen durch- historisch-moralischem Bewußtsein und naturhaft-physi-
gesetzt wird. scher Existenz etabliert hat.
Im Blick auf das Kolonialsystem betont Schmitt-Egner,
daß hier Schein und Realität zusammenfallen. Der Koloni- Staat und Subjekt
sierte tritt im Unterschied zum freien Arbeiter in den Zen- Die beiden oben angeführten politischen und ideologischen
tren nicht unmittelbar in die Tauschbeziehungen des Welt- Dimensionen der Trennung des unmittelbaren Produzenten
marktes ein, so daß er nicht der abstrakten Form bürgerli- von den Produktionsmitteln, das staatliche Gewaltmonopol
cher Freiheit und Gleichheit, nicht den Mystifikationen der und das freie Subjekt, gehen folglich nicht umstandslos aus
Beziehung W-G-W unterliegt. Der Kolonisierte wird nicht der Logik der Kapitalakkumulation hervor, obgleich sie für
durch den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse die Wirkungsweise des Wertgesetzes unerläßlich sind.
in den kapitalistischen Produktionsprozeß getrieben, son- Schon Marx hatte im Kapital aufgrund des ökonomischen
dern durch den außerökonomischen Zwang der kolonialisie- Primats seiner Kritik diese Dimensionen, die ihm allerdings
renden Staatsmacht. Seine Arbeitskraft ist daher nicht die nicht verborgen geblieben sind, eher vernachlässigt, wenn er
Ware ihres Verkäufers, sondern sie wird behandelt wie ein etwa in der Darstellung der sogenannten ursprünglichen
mit menschlichem Verhalten ausgestattetes Ding, das sich Akkumulation unter der Zwischenüberschrift »Genesis des
der Kolonisator wie das Land angeeignet hat und wie die industriellen Kapitalisten« zwar auf die brutale Gewalt, ins-
Gebäude instandhält. Ihr Wert reduziert sich so auf die phy- besondere des Kolonialsystems, verweist und hervorhebt,
sische Reproduktionsfähigkeit. Nach Schmitt-Egner ent- daß die »Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte
springt der Rassismus »genau aus dieser Differenz von hi- Gewalt der Gesellschaft« den »Verwandlungsprozeß der
storisch-moralischer Reproduktion und physischer Repro- feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhaus-
duktion«.11 Er bildet das rationalisierte System der auf Na- mäßig« gefördert habe, aber die staatliche Gewalt dann
tur reduzierten, als kulturlos, primitiv und barbarisch be- doch lediglich als »ökonomische Potenz« bezeichnet.13
schriebenen menschlichen Arbeitskraft und breitet sich in Auch die ideologische Dimension geht in diese »Genesis«

92 93
ein; sie verweist auf die Tradition des europäischen Rationa- Gruppen (Familie, Nation und so weiter) leben, die durch
lismus, der seit Descartes’ Bestimmung des substantiellen die in den ideologischen Staatsapparaten verbundenen Insti-
Unterschieds von Körper und Seele (beziehungsweise Ver- tutionen zusammengefaßt sind. Der rassistische Ein- und
stand und Vernunft) zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit Ausschlußmodus stellt bezogen auf das strukturelle Merk-
dem Problem der Differenz von Natur und Geist beschäftigt mal die imaginäre Form der Identifikation eines Selbst und
ist. Bezogen auf die ideologische Rassenkonstruktion der Spaltung von den Anderen dar.
schließlich gibt etwa die Trennung von physischer (»physio- Das Imaginäre knüpft sich dabei an bestimmte Zuschrei-
logischer«) und pragmatischer Anthropologie bei Kant ein bungen, die als körperliche (etwa Hautfarbe und Physiogno-
mustergültiges Beispiel hierfür: In der Schrift Von den ver- mie) oder kulturelle (etwa Name, Sprache, Kleidung oder
schiedenen Rassen der Menschen (1775), behauptet er unzwei- auch vermeintliche Bildung) Stigmata fungieren und, da sie
deutig die Unveränderlichkeit der »Rassen«, während er im zumeist amalgamisiert auftreten, ein »spezifisches Profil
Kontext seiner durch den moralphilosophischen Kulturalis- biologischer und kultureller Eigenschaften«16 konstruieren.
mus geprägten Geschichtsauffassung Vernunft und Kultur In diesem Sinne kann sich das imaginäre Selbst nur in der
als »ins Unendliche (in der Zeit) fortgehende Veränderung, Spaltung von den Anderen fixieren, das heißt, alle Zuschrei-
im beständigen Fortschreiten zum Endzweck« sittlicher bungen des eigenen Selbst sind zugleich negative Identifika-
Freiheit denkt.14 Beide Dimensionen werfen folglich die tionen der Anderen, die im Prozeß der Bedeutungskonstitu-
Frage nach den intrinsischen Logiken der Herrschaft mit tion von »Rasse« erst zusammengebracht werden müssen.
Bezug auf den kapitalistischen Staat und die Subjektkonsti- Wenn aber das imaginäre Selbst und die imaginären Ande-
tution auf, die neben den Kategorien der Kritik der politi- ren sich in der Rassenkonstruktion derart bedingen und an-
schen Ökonomie den rassistischen Ein- und Ausschlußmo- einander gekettet sind, dann kann der Rassismus nicht wie
dus bestimmen. In Anlehnung an die Ideologietheorie von bei Memmi als ein einfacher »Selbstbetrug« aufgefaßt wer-
Louis Althusser soll diese Frage im folgenden beantwortet den, der den Rassisten »über sich selbst wie über die ande-
werden. ren« täuscht, »um an die eigene vollkommene Überlegen-
heit und die vollkommene Rechtmäßigkeit des eigenen Tuns
Imagination und Fiktion zu glauben«17. Die ideologische Rassenkonstruktion erfüllt
Nach Althusser lebt das »freie Subjekt« in der Ideologie, die darüber hinaus die »zentrale Funktion der Verkennung«18
das »imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen des gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs, der
Existenzbedingungen« repräsentiert.15 Dieses Repräsentati- ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse zwischen
onsverhältnis ist hier jedoch nicht in einer Wesen-Erschei- den gesellschaftlichen Klassen und ihren Fraktionen sowie
nung-Relation vordefiniert, sondern das Subjekt realisiert es innerhalb der internationalen imperialistischen Unterord-
in den Handlungen und Ritualen, die ihrerseits durch das nungsverhältnisse, indem sie die Individuen als Subjekte ei-
institutionelle Ensemble staatlicher Apparate determiniert ner derart biologistisch oder kulturalistisch konstruierten
sind. Im Rahmen einer erweiterten Staatsanalyse, die Al- »Rasse« oder »Ethnie«, was hier nur ein terminologischer
thusser in dem Text Ideologie und ideologische Staatsapparate Unterschied ist, anzurufen versucht.
thesenhaft entworfen hat, lassen sich zwei grundlegende Bereits Max Weber verweist in Wirtschaft und Gesellschaft
Merkmale der ideologischen Rassenkonstruktion bestim- auf die soziale Konstruktion von »Rassenzugehörigkeit«
men: zum einen das strukturelle Merkmal der imaginären und »ethnischer Gemeinschaft«, wenn er sie auf einen »eth-
Form, zum anderen das funktionelle Merkmal, wonach die nischen Gemeinsamkeitsglauben« zurückführt, für den we-
Individuen als Subjekte in gesellschaftlich koexistierenden niger die Differenz zwischen »Anlage« oder »Tradition« ei-

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ne Rolle spiele, als daß er im »(meist politischen) gemeinsa- daß der Islam ein »riesiges Integrationshemmnis« für die
men Handeln« seine Begründung und subjektive Bestäti- westlichen Gesellschaften bilde: »Es fragt sich, inwieweit
gung finde.19 Die Ideologeme »Rasse« und »Ethnie«, so ein Moslem beispielsweise die Gleichberechtigung der Frau
ließe sich Webers formale Deskription kritisch aufnehmen, oder die Trennung von Staat und Religion wirklich akzeptie-
erweisen sich in der Funktion, diesen »Gemeinsamkeits- ren kann. Er kann es entweder nur taktisch, also mit dem
glauben« zu stiften, als zentrale Momente politischer Herr- Hintergedanken, nur so lange zuzustimmen, wie äußere
schaft. Zugleich aber macht die Webersche Auffassung auch Notwendigkeit dies erfordert, oder aber um den Preis der
deutlich, daß es keineswegs hinreichend ist, »Rassen« und Aufgabe des Islam. Dies ist dem Moslem aber kategorisch
»Ethnien« als soziale Konstruktionen zu charakterisieren. verboten. Auch die sogenannten liberalen Schulen des Islam
Im Unterschied zur formalen Soziologie müssen jene Iden- fordern, die entgültige Abwendung vom Islam sei mit dem
tifikationen näher bestimmt werden, die bei Weber durch Tode zu bestrafen, wie der Koran es vorsieht. Dies ist natür-
den Begriff des »Glaubens« verdeckt werden. In einer ersten lich mit dem westlichen Verständnis von Religionsfreiheit
Annäherung ist festzustellen, daß sich das Imaginäre auf fik- nicht zu vereinbaren.« Die Anspielungen sind vielfältig: sie
tiven Linien ausbreitet, die den Ein- und Ausschlußmodus reichen vom Kopftuch als Zeichen der Frauenunter-
markieren und so die Identifikation eines Selbst und die drückung über den universalisierten Fundamentalismus bis
Trennung von den Anderen stützen. Étienne Balibar spricht hin zur Morddrohung gegen den Schriftsteller Salman Rus-
in diesem Zusammenhang von der durch den Nationalstaat hdie von seiten des iranischen Regimes und verdichten sich
produzierten »fiktiven Ethnizität« und nimmt selbst Bezug zum vermeintlichen Angriff auf die westlichen Freiheits-
auf die begrenzte Analogie zur Religion, indem er hervor- rechte. Zuvor hat Lummer den Zoologen Irenäus Eibl-Ei-
hebt, daß die religiöse Gemeinschaft von der nationalen do- besfeldt aus der Welt am Sonntag vom 10. 12. 1989 mit fol-
miniert und absorbiert werde, so daß sich die Religion ten- gender Aussage zitiert: »Handelt es sich um den Zuzug ge-
denziell nationalisiere.20 netisch und kulturell nah Verwandter, dann pflegen sich Im-
Fiktion bedeutet hierbei nicht einfach etwas Ausgedach- migranten schnell zu integrieren, das heißt, sie übernehmen
tes, ein Hirngespinst oder ein Trugbild. Sie installiert viel- Sprache und Kultur des Volkes, das sie aufnahm.«21 Diese
mehr zwischen dem Imaginären und dem Realen eine Rela- Aussage liefert Lummer den ideologischen Fixpunkt, die
tion der Eindeutigkeit, indem sie bestimmte Kennzeichen in durch den Wissenschaftler vorgegebene Matrix seiner Nar-
eine narrative Beziehung setzt. Die Narration spielt dabei ration. Eibl-Eibesfeldt nimmt eine positive Selbstzuschrei-
auf Tatsächliches an, das andere Quellen als solches verbür- bung vor, die auf die Bilder von Nähe und Ferne, von Eige-
gen, bringt beobachtete und erfundene Handlungen, habi- nem und Fremdem abhebt, letztlich aber von der Vorstel-
tuelle Gesten und körperliche Merkmale in einen gemeinsa- lung einer fiktiven Ethnizität, der genetischen und kulturel-
men Kontext, schafft Verknüpfungen zwischen heterogenen len Homogenität des Volks getragen ist. Das kulturelle Stig-
Elementen, transponiert und universalisiert sie, zitiert, para- ma führt dann die Erzählung Lummers aus; sie illustriert die
phrasiert und kommentiert dazu andere Texte, so daß in ei- Unvereinbarkeit und stellt den Moslem in der Bundesrepu-
nem fast unentwirrbaren Konglomerat aus fiktiven Zu- blik unter den Verdacht, eigentlich ein ganz anderer zu sein,
schreibungen und realen Begebenheiten ein ideologischer als er vorgibt. Das Muster ist aus der Geschichte des Antise-
Effekt hervorgerufen wird, der sich in dem einfachen Satz mitismus bekannt. Dem Verdacht ist nicht zu entkommen;
zusammenfassen läßt: So ist es! Als Beispiel sei hier nur ein er perpetuiert nicht nur die Diskriminierung, sondern legiti-
kurzer Ausschnitt einer längeren Erzählung von Heinrich miert darüber hinaus eine Verfolgungspraxis, in der sich der
Lummer über den Islam wiedergegeben, die darstellen soll, Verfolger ins Recht gesetzt sieht, den Verfolgten anzugrei-

96 97
fen, um ihm sein angeblich taktisches Verhalten auszutrei- schaftlich koexistierenden Gruppen und Individuen trennt;
ben.22 Bezogen auf die Diskriminierungs- und Verfolgungs- sie in Subjekte mit »ethnischer« bezeihungsweise »rassi-
praxis werden die inkriminierten Merkmale, die körperli- scher« Identität transponiert, eine Institution also, deren
chen und kulturellen Stigmatisierungen der Anderen zur Zentrum die ideologische Rassenkonstruktion repräsentie-
Legende ihrer Unfähigkeit und Unwissenheit oder ihrer In- ren müßte. Bezogen auf die Verbindung von Rassimus und
transingenz, Unversöhnlichkeit und Bedrohlichkeit verwo- Nationalismus hat Balibar einleuchtend gezeigt, daß das
ben. »Paar Familie-Schule«, die familiären und schulischen Insti-
tutionen, unter anderem die Funktion besitzt, die fiktive
Die institutionelle Formierung Ethnizität in ihren korrelativen Beziehungen von Sprachge-
In diesen Kontext der narrativen Verknüpfung von Ima- meinschaft und auf verwandtschaftliche Genealogien bezo-
ginärem und Realem gehört auch die Rede von der Identität, gener »rassischer« Gemeinschaft zu reproduzieren.25 Geht
also etwa von nationaler, ethnischer oder kultureller Iden- man allerdings der Frage weiter nach, so stößt man auf eine
tität. Sie selbst ist in diesem Sinne eine Fiktion. Im Unter- Vielzahl von Institutionen, in denen der rassistische Ein-
schied zur Identität bezeichnet der Begriff der Identifikation und Ausschlußmodus eingelassen ist und die diese Funktion
einen Prozeß, in dem, wie Balibar sagt, ambivalente oder un- übernehmen können: neben der Familie und der Schule et-
eindeutige Identitäten hergestellt werden. Es handelt sich wa der kulturelle Apparat, Polizei und Justiz, faschistische
um soziale Konstrukte, die den für die Konstitution von Organisationen als Teil des politischen Systems und nicht
Subjektivität entscheidenden Prozeß der Identifikation still- zuletzt die Massenmedien, die rassistische Stigmatisierun-
zustellen und in einen Mechanismus zu verwandeln suchen, gen in expliziter oder impliziter Form befördern.26 In der
der mögliche Identifikationen verknappt. Die Subjekte ih- Verbindung mit solchen Institutionen ergeben sich schließ-
rerseits erfordern für eine gelingende Identitätsbildung lich die Praxisformen, die als rassistisch oder auch ethnozen-
»symbolische Garantien«23, die ihnen durch die Institutio- tristisch bezeichnet werden können. Sie liefern die ausgren-
nen innerhalb ideologischer Staatsapparate zur Verfügung zenden Heiratsregeln, die diskriminierenden Bilder der
gestellt werden und bestimmte Handlungsweisen und ritua- Fremden, die Kulturkreis-Definitionen und die entspre-
lisierte Verkehrsformen vorschreiben. Identitäten als geron- chenden Kriminalisierungsstrategien, die repressive Über-
nene, in Institutionen materialisierte Identifikationen reprä- griffe sanktionieren.
sentieren eine paradoxe Konstellation: Sie sind zugleich fik- Richtet sich die Analyse auf solche Praxisformen, in die
tiv und uneindeutig, da sie niemals mit sich identisch sind. die Narrationen und erzwungenen Identifikationen einge-
Balibar spricht daher von erzwungener Identifikation. Die schrieben sind, so ist eine allgemeine Theorie über den Ras-
intrinsische Logik der sozialen Herrschaft zeigt sich mit Be- sismus (etwa im Sinne der weitverbreiten Definition des
zug auf Staat und Subjekt folglich weniger im tatsächlichen Rassismus als Biologismus) vollkommen unbrauchbar, ja ir-
Festhalten am Identischen als in den Reglementierungen reführend, um die jeweils besonderen soziohistorischen Be-
der Identifikationen, in ihrer Beziehung von Differenz und dingungen und aktuellen Kontexte zu untersuchen, die das
Unterordnung, wie sie sich in den ideologischen Staatsappa- Auftreten rassistischer Artikulationen ermöglichen. Im Rah-
raten reproduziert.24 men der hier vorgenommenen ideologietheoretischen Be-
Genau hierin liegt das Problem jeder Theorie über Ras- stimmungen wäre vielmehr gleichzeitig von Rassismen und
sismus begründet, nämlich in der Frage, welche Institution von staatliche reguliertem Rassismus zu sprechen, wenn er-
rassistisches Handeln als solches gratifiziert und einen rassi- klärt werden soll, wie sich körperliche und kulturelle Stig-
stischen Ein- und Ausschlußmodus installiert, der die gesell- matisierungen reproduzieren, so daß sie sich dem Individu-

98 99
um wie selbstverständlich aufdrängen und als solche von Parlament, in den Gesetzestexten, den Medien, der Schule,
ihm wieder- und anerkannt werden. Um den Zusammen- den Gewerkschaften, der Kirche oder der Familie, bezieht
hang von Körper und Kultur in den rassistischen Artikula- sich diese Artikulation auf jeweils spezifische Rituale, Hand-
tionen näher zu erläutern, bietet sich der diskursanalytische lungen oder Aussagen, die keineswegs rassistisch erscheinen
Ansatz an, denn er erlaubt es, über die bisherigen Bestim- müssen. In der Vielzahl der familiären, schulischen, religiö-
mungen hinaus von der diskursiven Produktion dieser Arti- sen, politischen, juristischen und kulturellen Institutionen
kulationen auszugehen und so zu einer Konkretisierung des sind die Artikulationen der Rassismen präsent, ohne daß die
abstrakten Ein- und Ausschlußmodus beizutragen. Diese ideologische Konstruktion von »Rasse« als deren Zentrum
Konkretion erst macht es möglich, die jeweilige historische anzusehen wäre. Das »rassistische Subjekt« ist eine Art
wie aktuelle Diskriminierungs- und Verfolgungspraxis theo- Phantom; es tritt immer als Subjekt der Familie, der Nation,
retisch zu fassen. der Bildung, des Eigentums und vor allem der Kultur auf, in
deren Namen es spricht und die es als Eigenes zu behaupten
Ethnizität als Interdiskurs: und vor den Anderen oder Fremden zu schützen habe.
Kulturalismus und Biologismus Um Rassismus in diesen vielfältigen Artikulationen, in
Im Gegensatz zur Verwendung des Rassismus-Begriffs in den Verkoppelungen mit anderen Praxisformen zu bestim-
der sozialwissenschaftlichen Literatur läßt sich dem diskurs- men, kann das theoretische Modell des »Interdiskurses«
ananlytischen Ansatz folgend zwar von einer ideologischen herangezogen werden, wie es der französische Philosoph
Rassenkonstruktion, jedoch nicht von Rassismus als Ideolo- und Marxist Michel Pêcheux ausgearbeitet hat.27 Der Inter-
gie oder von Rassenideologien sprechen. Nur im bewußt- diskurs ist bei Pêcheux als das soziohistorisch geprägte, dis-
seinsphilosophischen Kosmos von Wesen-Erscheinung-Be- kursive Gedächtnis der Subjekte aufgefaßt, in das sich das
ziehungen, in dem die soziale Konstruktion von »Rasse« als »Vor-Konstruierte« (préconstruit), das Bereits-Gesagte, als
Wesenskern der rassistischen Artikulationen aufgefaßt ist, evidente Referenz der aktuellen Aussagen einerseits und der
wäre es sinnvoll, die Rassismen als Ideologien zu bezeich- »Quer-Diskurs« (discours-transvers), das Anderswo-Gesag-
nen. Demnach realisierte sich die Rassenkonstruktion in den te, als eine Art Bedeutungsaxiom der aktuellen Aussagen an-
Rassismen. Theoretisch-methodisch bleibt dieser Ansatz der dererseits einschreiben. Die Diskurse über »Rassen« stellen
essentialistischen Problematik verhaftet. Ist »Rasse« ab- folglich im soziohistorischen Gedächtnis der Subjekte die
strakt als soziale Konstruktion dekuvriert, bilden die einzel- vorkonstruierten und querlaufenden Elemente zur Verfü-
nen Rassismen nur noch das notwendige, konkretisierte An- gung, in denen explizit oder implizit, ausgesprochen oder
schauungsmaterial. Es spricht allerdings einiges dafür, daß es unausgesprochen, die ideologische Rassenkonstruktion ak-
sich genau umgekehrt verhält, nämlich daß die rassistischen tualisiert wird. Im Hinblick auf das Ensemble der Institutio-
Artikulationen die ideologische Rassenkonstruktion realisie- nen ermöglicht das Konzept des Interdiskurses, die quer zu
ren, indem sie diese konkretisieren und aktualisieren. Die bestimmten diskursiven Anordnungen fungierenden Aussa-
ideologietheoretisch bestimmte Unterscheidung zwischen gen in ihrer axiomatischen Bedeutung zu erkennen. Im oben
Struktur und Funktion, zwischen imäginärer Form und in- angeführten Beispiel der Erzählung über den Islam des
stitutioneller Formierung der Spaltung des Selbst von den CDU-Politikers Heinrich Lummer, der das Asylrecht ein-
Anderen, stützt zumindest diese Auffassung. Funktionelles schränken möchte, hat die Aussage des Zoologen Eibl-Ei-
Merkmal der Rassismen ist zudem die fehlende Eigenstän- besfeldt den Status eines Axioms (»genetische und kulturelle
digkeit im Ensemble ideologischer Praxisformen. Wo und Verwandschaft« als Kriterium des Zusammenlebens). Mit
wann immer »Rasse« oder »Ethnie« artikuliert wird, ob im Pêcheux kann hinzugefügt werden, daß der Interdiskurs eine

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spezifische Verkettung der in den unterschiedlichen Kontex- tirassistischer Absicht formuliert, kommt ohne einen Rekurs
ten produzierten Diskurse über »Rassen« herstellt, die die auf eine »gemeinsame Herkunft« aus, die das interdiskursive
Bedeutungskonstitution von »Rasse« im einen Diskurs Scharnier zwischen dem historizistischen Diskurs der Über-
durch die in den anderen stabilisiert, etwa hier den politi- lieferung und dem biologistischen Diskurs der Abstammung
schen durch den zoologischen Diskurs. darstellt. Zumal in der Wortkombination »ethnisch-kultu-
rell« wird der Akzent des sprachlichen Wertes genau in die-
Theorie der Ethnizität se Richtung verschoben. Nach der Definition von Philip
Ein weiterer Aspekt, der in der gegenwärtigen Diskussion Cohen etwa bezeichnet Ethnizität »einen Ursprungsmy-
über Rassismus eine zentrale Rolle spielt, läßt sich anhand thos, der nicht über ein genetisch festgelegtes Schicksal spe-
solcher quer-diskursiver Verkettungen erhellen. Mehrfach kuliert, sondern sich – im Unterschied zur ›Rasse‹ – auf ei-
ist bereits beobachtet worden, daß der Begriff »Rasse« heu- nen realen Prozeß geschichtlicher Individuation bezieht,
te in der politisch-sozialen Sprache – im Vergleich etwa zu insbesondere auf die durch Sprache und Kultur vermittelten
der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – an Gewicht Praxisformen, die ein Gefühl für kollektive Identität oder
verloren hat. Das weitgehende Verschwinden dieses Wortes ›Heimat‹ hervorbringen, welches von Generation zu Gene-
heißt jedoch keineswegs, daß mit ihm auch der semiologi- ration überliefert wird und sich im Prozeß dieser Überliefe-
sche Komplex, jenes Bündel an Bedeutungen, das zuvor in rung verändert«. Dem Begriff Ethnizität fehle, so betont
diesem Wort verdichtet war, obsolet geworden ist. Collette Cohen, »jede Konnotation bezüglich angeborener Eigen-
Guillaumin zumindest hat in ihren Forschungen zur diskur- schaften, sowohl höher- als auch minderwertiger«.31 Neben
siven Transformation des Wortes »Rasse« festgestellt, daß der Unterscheidung zwischen Biologismus und Kulturalis-
heute das Wort »Kultur« den synkretistischen Holismus be- mus enthält diese Definition zwei weitere, formelle Elemen-
zeichnet, in dem soziologische, symbolische, somatische und te, die eine strikte Trennung von Ethnozentrismus und Ras-
phantasmatische Merkmale zusammengefaßt werden.28 sismus erlauben sollen. Das erste Argument bezieht sich auf
Häufiger noch findet sich gegenwärtig die Bezeichnung die rassistische Hierarchisierung, das zweite auf die Katego-
»Ethnie«, um den an das Phantasma des Blutes, an die pseu- risierung biologistischer Statik und kulturalistischer Dyna-
dowissenschaftliche Physiognomik und Phrenologie des mik.
NS-Rassismus erinnernden Begriff der »Rasse« zu vermei-
den. Zugleich kündet diese Bezeichnung als interdiskursiver Überschreiten ethnischer Begrenzung:
Effekt von dem Einschnitt, den die Dominanz der Ethnolo- Das Beispiel der Black Panthers
gie gegenüber der Biologie in den Humanwissenschaften Cohen betreibt diese Differenzierungen nicht aus taxonomi-
nach 1945 bedeutete, oder in Anlehnung an die Terminolo- scher Blindheit. Er will – die Organisationen der »people of
gie Kants: die Dominanz der pragmatischen gegenüber der color« und die »black communities« vor Augen – Ethnizität
physischen, somatischen Anthropologie.29 Seiner semanti- als soziales Verhältnis verstanden wissen, das die ethnozen-
schen Wertigkeit nach ist das Wort »Ethnie« allerdings zwi- tristische Hegemonie wie den »ethnischen« Widerstand
schen beiden angesiedelt, so daß es je nach kontextueller umfaßt. Die radikale Linke der Black Community in den
Verwendung mal mehr die Konnotation »kulturell«, mal USA allerdings ging Ende der sechziger Jahre bereits über
mehr die Konnotation »rassisch« aufweisen kann. diesen Rahmen hinaus. Die Black Panther Party for Self De-
Der Begriff Ethnizität signalisiert das Schwanken des fense propagierte weder Integration noch Separation. In
Diskurses zwischen kulturalistischen und genealogischen ihren Angriffen auf die Bürgerrechtsbewegung und den
Aussagen.30 Keine Definition, und sei sie auch in explizit an- »black capitalism« verknüpfte sie marxistische Kritik mit

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Positionen aus dem »schwarzen Widerstand«; in ihren Or- einer deutschen Zeitung während ihres Studienaufenthalts
ganisations- und Koalitionsbestrebungen wie in ihren Akti- in Frankfurt gesehen und sich entschlossen hatte, nach Los
onsformen, die auch ein Zusammengehen mit »weißen Re- Angeles zu gehen.35 Es tat seine Wirkung sicherlich auch bei
volutionären« nicht ausschlossen, versuchte sie, die Linie der Entstehung von Black Panther Solidaritätskomitees etwa
der europa-amerikanischen Hegemonie und die des gege- in der BRD. Der Aspekt der »Ethnizität« verliert in diesem
nidentifizierten kulturellen Nationalismus von Black Power Körperbild tendenziell seine prädominante Funktion. Insbe-
zu brechen. Weshalb sollte sich also solcher Widerstand mit sondere das internationalistische Moment spielt dabei eine
einem »Ursprungsmythos« und einer kulturell begründeten zentrale Rolle. Die Black Panthers sahen ihren Widerstand
Volksgenealogie ausstaffieren? Die Black Panthers zumin- als Teil der antikolonialen Revolution, die keineswegs auf
dest verstanden die Community lediglich als Ort der Selbst- das Programm nationaler Befreiung reduziert blieb oder gar
verteidigung. die Grenzziehungen einer fiktiven Ethnizität akzeptierte.
Ihr Widerstand bewegte sich dagegen weitgehend in ei- Gerade im Bruch mit dem kulturellen Nationalismus von
ner Perspektive, die Marxens Diktum entsprach, die soziale Black Power, indem sich die Black Panthers vehement auch
Revolution könne »ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit gegen »schwarze« Herrscher und Diktatoren (etwa gegen
schöpfen, sondern nur aus der Zukunft«.32 In diesem Sinne Haile Selassi in Äthopien oder Papa Doc Duvalier auf Haiti)
forderten sie die künftige Vereinigung von Körper und wandten, setzte sich die der vermeintlichen »Ethnizität«
Geist, die das Kolonialsystem in »schwarz« und »weiß« ge- entgegenstehnende Einsicht durch, »daß Leiden und Unter-
spalten hatte; eine Spaltung, die der institutionalisierte Ras- drückung farbenblind sind, daß Imperialismus und Rassis-
sismus des US-amerikanischen Staats aufrechterhalten hat.33 mus, Kolonialismus und Neo-Kolonialismus sich ihre Opfer
Tatsächlich betrieben die Black Panthers eine Körperpolitik, bei allen Hautfarben holen und daß es einer Einigkeit be-
die der sozialen Dimension ihrer Existenz den Vorrang ein- darf, die auf revolutionären Prinzipien und nicht auf der
räumte, was sich sowohl auf die Geschichte der modernen Hautfarbe beruht«.36
Sklavenarbeit und die Tradition des Widerstands gegen sie Das Beispiel der Black Panthers läßt erkennen, daß die
als auch auf die soziale Segregation und das Leben im Getto Kontextualisierung des Körpers im politischen und sozialen
bezog. Die Militanz ihrer Aktionen wie auch das »ausge- Kampf wie die Internationalisierung der Kultur in der revo-
prägte Gefühl für Style & Fashion«, auf das Günther Jacob lutionären Perspektive den rassistischen Kordon des Ein-
im Zusammenhang seiner Kritik der um die sozialen Di- und Ausschlusses ebenso aufzulösen vermag wie die Koppe-
mensionen verkürzten Rezeption »schwarzer Musik« in der lung des Kulturalismus an den Biologismus. Dabei wird je-
BRD erneut hingewiesen hat, sprengten den Diskurs ethno- doch ebenfalls die kulturelle Praxis transformiert, und zwar
zentristischer Stigmatisierung und gaben dem Körper eine nicht, wie Cohen annimmt, im Sinne einer dynamischen
politisch und sozial bestimmte Aktualität – beschränkt aller- Überlieferung und Traditionsbildung eigener Kultur, son-
dings zunächst auf das heterosexuelle Dispositiv des männli- dern in ihrer Bedeutung selbst. Bereits Frantz Fanon, dessen
chen Körpers und verbunden mit dem sexistischen und Schriften auch von den Black Panthers rezipiert wurden, wie
schwulenfeindlichen »Macho-Gehabe«, von dem etwa die die zahlreichen Verweise auf ihn belegen, hatte darauf hin-
Black Panther-Aktivistin Safiya Bukhari-Alston berichtet.34 gewiesen, daß im politischen Kampf gegen den Kolonialis-
Die »Anziehung des Bildes von den Kämpfern mit ihren mus »die Tradition ihre Bedeutung« ändert, der Befreiungs-
Lederjacken und schwarzen Baretten, die mit Gewehren vor kampf »weder die Formen noch die Inhalte der Kultur un-
dem kalifornischen Abgeordnetenhaus standen«, wirkte berührt« läßt.37 Seine Kritik des Kulturalismus richtet sich
nicht nur auf Angela Davis, die erzählt, daß sie das Foto in gegen eine kulturelle Praxis, die sich auf Traditionen ver-

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steift und den Bedingungen des Befreiungskampfes unange- det, so daß der Analyse verborgen bleibt, daß sich der bedeu-
messen ist, statt sich aus ihnen zu bestimmen. tungsaxiomatische Akzent von »Rasse« oder »Ethnie« per-
An den Diskursen der antikolonialen Revolution, nicht manent zwischen Biologismus und Kulturalismus verschiebt.
zuletzt an ihren sozialrevolutionären, marxistischen, maoi- Diese querdiskursive Verkettung allerdings ermöglicht die
stischen und marxistisch-leninistischen Elementen, die jen- wechselseitige Übersetzung der Rassismen, wobei die Aussa-
seits ihrer an den jeweiligen Organisationsaufbau und die gen über Kultur teils wörtlich, teils ohne sie wörtlich zu re-
politischen Strategievorgaben gebundenen Differenzen auf produzieren, auf die körperlichen Stigmatisierungen anspie-
das Motiv des Klassenkampfs verwiesen, brach sich die Evi- len, die im soziohistorischen, ethnozentrisch beherrschten
denz rassistischer, aber auch ethnizistischer Zuschreibun- Gedächtnis mit dem Wort »Rasse« verknüpft sind.
gen, die als interdiskursive Effekte den Rahmen vorgeben, in Im Blick auf das Präkonstrukt liefert die wissenschaft-
dem sich das Oszillieren allein zwischen Überlieferung und liche, essayistische und poetische Literatur des 19. und 20.
Abstammung abspielt. Auch dies wird, wenn auch vor allem Jahrhunderts in Europa einen nahezu unerschöpflichen
negativ, in der Geschichte der Black Panthers deutlich: Ihre Fundus rassistischer Artikulationen, aus dem sich die Über-
Niederlage und die Zerschlagung der Organisationen der setzungstätigkeit speisen kann.39 Diese vorkonstruierten
radikalen Linken in den Black Communities durch das FBI Elemente fungieren als evidente Referenz der jeweils aktuel-
hat dort einen Prozeß der Re-Ethnisierung der Politik in len Bedeutungskonstitution von »Rasse« oder »Ethnie« und
Gang gesetzt, in dem, wie Angela Davis es nennt, die eman- erlauben dem Ideologen explizit rassistischer Artikulationen
zipatorischen Momente ausgelöscht wurden, so daß heute eine flexible Strategie, die seine theoretischen Konstrukte in
selbst die Bilder derjenigen, die den kulturellen Nationalis- Alltagswissen überführt und tatsächlich »einer imaginären
mus von Black Power innerhalb der Communities kritisier- Überwindung des Grabens, der die Intellektuellen von den
ten, nicht selten als Ikonen seiner Legitimation dienen.38 Massen trennt«40, gleichzukommen scheint. Die Diskurse
Vor diesem Hintergrund muß die Bestimmung der Ethni- über »Rassen« sind ohne Übersetzung in Kultur kaum
zität als soziales Verhältnis selbst schließlich wie eine Ver- denkbar, da sie sich so vor allem in die sozialen Praxisformen
doppelung der schlechten Realität durch die Theorie er- einschreiben. Diese Wirkung ist folglich weniger dem Bio-
scheinen. logismus geschuldet, als dem Kulturalismus: Er läßt die dis-
kursiven Elemente, die rassistischen Zuschreibungen, die
Dominanz des Kulturalismus Stereotypen und Stigmata zwischen Alltagswissen und Wis-
Die Theorie der Ethnizität als soziales Verhältnis erweist ih- senschaft gleiten, um die Evidenz einer Identität von Körper
re Unzulänglichkeit jedoch nicht nur in Bezug auf die Frage und Kultur hervorzurufen, ohne die sozialen Distributions-
des sogenannten »ethnischen« Widerstandes. Auch in ihren bedingungen des Wissens außer Kraft zu setzen, die den
formellen und deskriptiven Bestimmungen hält sie einer dis- rechten Intellektuellen von den Massen abheben. Die äqui-
kursanalytisch gestützten Überprüfung nicht stand. Schon voke Bedeutung von Kultur, im homogensierenden Sinne
die Unterscheidung zwischen Biologismus und Kulturalis- von »Kultur eines Volkes«, im hierachisierenden Sinne von
mus ist angesichts der vielfältigen Artikulationen, in denen »ein Mensch von Kultur«, ermöglicht, dieses Distiktions-
die ideologische Rassenkonstruktion produziert wird, eine verfahren zur Geltung zu bringen und es zugleich wieder zu
Reduktion, die im Hinblick auf die querlaufenden Elemente verdecken.
des Interdiskurses unzulässig ist. Durch die Verkürzung auf Der Kulturalismus knüpft ein Band zwischen Ehe, Fami-
den Biologismus ist das gesamte Feld spiritualistischer, psy- lie, Religion und Nation, was zugleich Fortpflanzung, Ab-
chologistischer und ästhetizistischer Rassismen ausgeblen- stammung, Heiratsritual und Vaterlandsliebe umschließt, in

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dem er sie jener imaginären Identität von Körper und Kul- vistisch-dynamischer Züchtungsbegriff zugrunde gelegt ist,
tur unterordnet. Sekundär schreiben sich in diese imaginäre so daß er als kulturelle Alternative zur vermeintlichen »De-
Identität ästhetizistische, psychologistische und sexistische generation« des Menschen erscheinen konnte. Nietzsche
Elemente ein, die ihrerseits rassistische Artikulationen dyna- hat den statischen »Rasse«-Begriff von Gobineau dynami-
misieren können und auf hygienische, ästhetische und sexu- siert, indem er dessen Dekadenz-Diagnose verschärfte und
elle Normierungen der Alltagspraxis verschieben.41 Die Ras- zur Grundlage eines ethischen Bedürfnisses umdeutete,
sismen bewegen sich auf diesem kulturalistischen Terrain nach dem künftig »eine bejahende Rasse, welche sich jeden
quasi multifunktional, was aber auch den Kampf gegen sie großen Luxus gönnen darf«, entstehen müsse.43 Aber auch
äußerst schwierig macht. Unerkannt bleibt diese Fluidität unter dem biologistischen Aspekt ist die statische Rassen-
schließlich, wenn irrtümlicherweise davon ausgegangen konstruktion seit der Verbreitung rassenhygienischer und
wird, daß es sich bei rassistischen Artikulationen um biologi- eugenischer Züchtungsvorstellungen gegen Ende des
stische Argumentationsmuster handeln müsse. Tatsächlich 19. Jahrhunderts dynamisiert worden.44 In Deutschland ent-
ist jede rassistische Argumentation durch ein Changieren wickelten Rassenhygeniker wie Alfred Ploetz und Wilhelm
zwischen Kulturalismus und Biologismus gekennzeichnet. Schallmeyer die Vorstellung eines »idealen Rassenproces-
ses« (Ploetz) beziehungsweise einer »Nationalbiologie«
Dynamiken in der kulturalistischen und (Schallmeyer), die der Verbesserung und Vermehrung der
biologistischen Konstruktion »leiblichen, psychischen und intellektuellen Erbqualitäten«
Bereits 1915 hob Friedrich Hertz in seinem Buch Rasse und und der Züchtung »rassetüchtiger Individuen« dienen soll-
Kultur hervor, daß es sich bei jeder Definition von »Rasse« te.45
um eine »künstliche Einteilung handelt, die den praktischen Von besonderem Interesse sind die interdiskursiven Kor-
Bedürfnissen der Menschen« entspreche, denn »die Natur respondenzen, die sich zwischen der kulturalistischen und
kennt keine scharfen Grenzen«.42 Hertz hatte es sich in sei- der biologistischen Rassenkonstruktion aufzeigen lassen.
ner Kritik zur Aufgabe gemacht, die Inkonsistenz und den Schallmeyer etwa stellt eine Korrelation von »Kulturhöhe«
pseudowissenschaftlichen Charakter der einschlägigen, zu und »Verfall der Kultur« einerseits und der »natürlichen
dieser Zeit in weiten Kreisen der Intelligenz kursierenden Lebensauslese« andererseits her. Er schreibt: »Es scheint,
»Rassenlehren« nachzuweisen, und stellte fest, daß sie so- daß in der Tat die tüchtige Erbverfassung des Volkskörpers,
wohl spiritualistischer »Mystik« als auch »nüchternster Aus- welche die später zu hoher Kultur gelangten Völker in den
beuterlogik« dienten. Die Einteilung der Menschen in Stand gesetzt hatte, unter günstigen wirtschaftlichen Ver-
»Rassen«, so betonte er schon damals, gründe sich einerseits hältnissen eine hohe Kultur zu entfalten, ein Züchtungspro-
auf ein statisches Prinzip, auf die Konstruktion unveränder- dukt früherer Zeiten mit wesentlich geringerer Kultur ist,
licher Typen, andererseits auf ein dynamisches Prinzip, auf und daß jene besonders tüchtigen Erbanlagen, die zur Ent-
die Konstruktion entwicklungsgeschichtlich bedingter Ob- faltung der hohen Kultur dienten, während dieser Kultur-
jekte. Für die rassistischen Artikulationen seit dem ausge- blüte verbraucht werden, so daß sie seltener und geringer
henden 19. Jahrhundert zumindest gilt die Unterscheidung werden.«46 Allerdings waren die Rassenhygieniker ebenso-
zwischen biologistischer Statik und kulturalistischer Dyna- wenig fatalistische Kulturpessimisten wie Nietzsche; sie
mik, nach der noch heute die Begriffe »Rasse« und »Eth- wollten die nach ihrer Auffassung durch die Entwicklung
nie« auseinander gehalten werden sollen, nicht mehr. der Kultur geschwächte »natürliche Auslese« im Sinne von
Auf dem Feld des Kulturalismus ist hier etwa an Nietz- Darwins Kampf ums Dasein – Ploetz nennt diesen »Ausjä-
sches Begriff der »Herren-Rasse« zu denken, dem ein akti- tung« – durch »künstliche Zuchtwahl« kompensieren, um

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für die »Gedeihlichkeit des Rasseprozesses« (Schallmeyer) dienstes« entwickelt, ein sozialtechnokratisches Programm,
zu sorgen und die in ihren Augen mißliche Entwicklung um- das von der Beeinflussung der öffentlichen Meinung über
zukehren. die Umorientierung der schulischen Pädagogik und die Re-
Dem Altphilologen Nietzsche lieferten das antike Grie- glementierung des Geschlechtsverkehrs bis hin zu Verände-
chenland und das Italien der Renaissance die Muster einer rungen des Erbrechts, des Steuerwesens wie auch des öffent-
kommenden Kultur. Ihm war die Kulturideologie des deut- lichen Gesundheitswesens reicht. Als zentrale staatliche
schen Idealismus näher als der zeitgenössische Biologismus, Maßnahme schließlich schlug er die Einrichtung sogenann-
dessen vitalistischer Metaphorik er sich dennoch weitge- ter »erbbiologischer Personalbögen« vor, die für jede Per-
hend bediente. Nietzsche war kein Nationalist und er verab- son, zumindest aber für die Familienväter, die Aufzeichnung
scheute die Propagandisten jener »verlognen Rassen-Selbst- einer genealogischen Folge, ein Gesundheitsprotokoll, ein
bewunderung und Unzucht«, die »sich heute in Deutsch- Verzeichnis von Talenten und Begabungen sowie von Cha-
land als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt«.47 raktereigenschaften und Temperament enthalten sollten.
Seine Utopie aristokratischer Herrschaft befand sich in dop- Anhand solcher Personalbögen, so sah es seine gesellschafts-
pelter Frontstellung, zum einen gegen den verstaatlichen politische Zielsetzung vor, könne dann »auch ein neuer Ge-
Kulturalismus der preußischen Gelehrten-Beamten, zum burtsadel« geschaffen werden, der »frei von mißratenen
anderen gegen jede Form der Massenbewegung, gegen die Mitglieder wäre«.49
Idealisierung des Bestehenden wie auch gegen die als Natio- Von solchen Planungsvorgaben für die staatliche Bevöl-
nalisierung der Massen sich vollziehende Demokratisierung kerungspolitik hält sich der ästhetizistische Rassismus eines
der Gesellschaft. Sein Begriff von »Cultur« verhieß noch Nietzsche frei, allerdings nicht von den sozialen Affekten,
einmal, befreit von der materiellen Produktion, in individu- die das aristokratische Ideal unweigerlich mit sich führt. In
eller Autonomie leben zu können. Nietzsches politische und rassistischer Terminologie formuliert er eine Diagnose, von
soziale Aussagen, in denen seine Verheißung eines Lebens der er annahm, daß sie »beinahe für ganz Europa« gelte:
im Überfluß jedoch auf eine neue kulturelle Aristokratie als »im Wesentlichen hat die unterworfene Rasse schliesslich
»vornehme Rasse« beschränkt bleibt, sind fundiert durch ei- daselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe, Kürze
ne Rassenontologie. des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und so-
Auch Schallmeyer ist bestrebt, »die rassehygenische cialen Instinkten: wer steht uns dafür, ob nicht die moderne
Lehre und Propaganda reinzuhalten von den Vorurteilen Demokratie, der noch modernere Anarchismus und na-
und willkürlichen Doktrinen und den zumeist recht unsinni- mentlich jener Hang zur ›Commune‹, zur primitivsten Ge-
gen Tendenzen nordischer Rassenpolitiker«. Sein Vorbild ist sellschafts-Form, der allen Socialisten Europas jetzt gemein-
die »chinesische Kultur«, deren Konservativismus zu einem sam ist, in der Hauptsache ein Nachschlag zu bedeuten hat –
starken patriarchalischen und staatlichen Dirigismus beige- und dass die Eroberer- und Herren-Rasse, die der Arier,
tragen habe, so daß die Gesellschaftsentwicklung unbeein- auch physiologisch im Unterliegen ist?«50 Solche Aussagen
trächtigt von revolutionären Erschütterungen bleibe, was waren es, die den deutschen Imperialisten und Rassisten
ihm zugleich Anlaß ist, eine »gelbe Gefahr« zu beschwören, hervoragend in den Kram paßten, um ihre Weltmachtpläne
die seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu den feststehenden kulturalistisch zu stützen und zu legitimieren. Mehr noch,
Topoi kulturpessimistischer Auffassungen gehörte.48 Schall- bei Nietzsche ist selbst der Gedanke der »Vernichtung« be-
meyer ist nationalistischer Etatist, der »Rassenhygiene« als reits vorkonstruiert. 1884 notiert er: »Es bedarf einer Lehre,
staatswissenschaftliche Disziplin etabliert sehen will und ein stark genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Star-
umfangreiches Programm zur Durchsetzung seines »Rasse- ken, lähmend und zerbrechend für die Weltmüden. Die Ver-

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nichtung der verfallenden Rassen. Verfall Europas. – Ver- sich aber zugleich mittels der rassistischen Prämissen resti-
nichtung der Sclavenhaften Werthschätzungen. – Herr- tuieren ließ.55 In diesen Kontext gehört Heideggers Ver-
schaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höhe- such, die metaphysische Begründung eines Vorrangs des Le-
ren Typus.«51 bens bei Nietzsches vor dessen biologistischer Terminologie
Gaben die Rassenhygieniker das sozialtechnokratische zu retten, ebenso wie Jüngers Vorstellung, in der Gestalt des
Programm vor, indem sie die Gobineausche Statik durch die Arbeiters werde »ein Wille zur Rassenbildung lebendig«
Verknüpfung mit der technologischen Rationalität zu einer und zeige sich schließlich die »Ausprägung einer neuen Ras-
Politik biologischer Manipulation dynamisierten, so konn- se«56. Während hier also der biologistische gegenüber dem
ten bei Nietzsche jene kulturalistischen Argumentationen kulturalistischen Aspekt an Bedeutung verliert, erfährt er bei
gefunden werden, die das auch von ihnen geteilte Ideal einer Gottfried Benn eine Aufwertung in der Absicht, »die Kunst
aristokratischen Kultur ausgestalten halfen. Tatsächlich ha- aus dem Ästhetischen zum Anthropologischen zu über-
ben sich die »Träume der Genetik«52 nicht realisieren las- führen«; und Benn, Kulturfunktionär im NS-Staat, nennt
sen. Ein Blick in aktuelle Lehrbücher der Humangenetik je- 1934 in seiner autobiographischen Schrift Lebensweg eines In-
doch zeigt, daß Maßnahmen wie die Einführung »erbbiolo- tellektualisten eindeutig den Feind: »Ich bin von der Genera-
gischer Personalbögen« weiterhin als zukunftsweisend an- tion, die infolge ihrer Stellung und ihrer Erlebnisse viel-
gesehen werden.53 Der Versuch, in erster Linie von den Na- leicht besonders befähigt ist, das eine klar zu sehen: müßte
zis unternommen, diese Träume doch zu realisieren, hat of- die weiße Rasse zugrunde gehen, würde sie es an Frankreich.
fenkundig gemacht, wie mörderisch die Verbindung aus ras- ...; unfähig, rassemäßig zu denken, biologisch geradezu de-
sistischen Artikulationen und technologischer Rationalität fekt, dysgenisch und geistig tankneurotisch vertritt es heute
ist. Sie ist dabei nicht allein dem biologistischen Aspekt ge- Afrika statt Europa. Die weiße Rasse, das ist Deutschland,
schuldet, denn es sollte nicht vergessen werden, daß diese Jugend, vergiß es nie, ihre letzte Züchtung, ihr letzter Glanz
möderische Verbindung nicht zuletzt unter der Maßgabe ei- bist du.«57
ner Kulturalisierung der Politik vollzogen wurde. In dem Die Epigonen der konservativ-faschistischen Intellektu-
Kapitel »Volk und Rasse« von Mein Kampf hat Hitler, die ellen, die Protagonisten der »Neuen Rechten«, greifen zu
»Arier« als »Kulturbegründer«, die »Anderen« als »Kultur- solchem Pathos nicht mehr, aber auch hier sind in den acht-
träger« und die »Juden« als »Kulturzerstörer« eingeteilt54 ziger Jahren bereits die Konzeptionen ausgearbeitet worden,
und so in der Kulturpropaganda den politischen Boden für in denen die Dynamiken biologistischer wie kulturalistischer
die NS-Vernichtungspraxis bereitet. Konstruktionen aktualisiert worden sind. Unter den Begrif-
Das Wechselspiel von biologistischen und kulturalisti- fen »Identitätsverlust« und »Ethnomorphose« tauchen mit
schen Elementen in den rassistischen Argumentationen Bezug auf die Migrationsprozesse der vergangenen vierzig
diente den konservativ-faschistischen Intellektuellen in der Jahre die Dekadenz-Diagnosen der alten »Rassenlehren«
Weimarer Republik dazu, sich bei Aufrechterhaltung der wieder auf. Erneut wird – wie bei den Rassehygienikern zu
rassenontologischen Prämissen aus Nietzsches Philosophie Beginn des Jahrhunderts – eine pronatalistische Bevölke-
von krudem Biologismus zu distanzieren. Seine Herr- rungspolitik für Deutsche propagiert und die Forderung
schaftsutopie der »vornehmen Rasse« war von ihnen umso aufgestellt, daß »an deutschen Schulen« die »Grundbegriffe
leichter zu adaptieren, als sein dynamischer Kulturalismus der Eugenik« gelehrt werden müßten, um allen zu vermit-
die bestehenden sozialen Verhältnisse, und die waren in teln, was etwa das Wort »Fortpflanzungauslese« bedeutet.
ihren Augen mit dem Liberalismus und Marxismus zu iden- Dem »deutschen Volk« soll demnach ein »Wille zur Repro-
tifizieren, zwar negiert, der Herrschaftsanspruch einer Elite duktion« anerzogen werden, damit es endlich anerkenne,

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was es in den Augen faschistischer und völkischer Intellektu- Es handelt sich um die häufig festgestellte Persistenz antise-
eller ohnehin ist, nämlich über die »Kultur- und Sprachge- mitischer Artikulationen. Ohne hier die Stereotypen zu wie-
meinschaft« hinaus eine »biologische Abstammungs- und derholen, aus denen jene dauerhaften Bilder zusammenge-
Fortpflanzungsgemeinschaft«.58 In Ergänzung dazu wird setzt sind, kann aus den Analysen festgehalten werden, daß
außerdem dem menschenrechtlichen Universalismus eine sich die antisemitische Darstellung der Zersetzung praktisch
globale »Biologisierung des Politischen« entgegengesetzt, selbst in immer subtileren Formen perpetuiert. Je weniger
die in Anlehnung an Ernst Jünger »planetarische Politik« nämlich die Differenz körperlich und kulturell zu stigmati-
genannt wird und unter dem Stichwort »Bevölkerungsex- sieren ist, desto intensiver fahndet der Antisemit nach Indi-
plosion« auch den Begriff der »Rasse« als politische Katego- zien des Verfalls, den er den Juden zuschreibt.
rie rehabilitieren will, denn »Bevölkerungsexplosion« voll- Carl Schmitt etwa notiert 1947 in seinem Tagebuch:
ziehe sich »in höchst konkreter Gestalt der Vermehrung von »Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind.« Und
menschlichen Wesen, die zu bestimmten Nationen und Ras- dies war keineswegs auf das NS-Regime allein bezogen, son-
sen gehören und bestimmten Raum besetzen oder besetzen dern entsprang Schmitts eigenem antisemitischen Ressenti-
wollen«.59 Wird dies als Resultat der massendemokratischen ment. Einige Monate später findet sich die Eintragung, die
Phase unter US-amerikanischer Dominanz dargestellt, so den Satz kommentiert: »Wie Karl Marx sagt: Die Emanzi-
hängen die neurechten Intellektuellen Konzeptionen an, die pation der J. hat sich in der Weise vollzogen, daß die Chri-
sich nicht auf den Biologismus beschränken, sondern auf sten Juden geworden sind, so in gleicherweise haben sich die
Nietzsches Glauben an eine künftig »reine europäische Ras- Assimilanten vom Schlage Kurt Hillers nicht nur die Eman-
se und Kultur«60 zurückgehen, indem sie die Vorstellung ei- zipation, sondern auch die Assimilation gedacht. Schließlich
ner »Wiedergeburt Europas« an den »Niedergang Ameri- soll das ganze Dorf mauscheln.«63 Die Imagination der Infil-
kas« binden, der in einem »Kulturkrieg gegen den American tration gehört zu den beständigsten Phantasmen deutscher
way of life«61 besiegelt werden soll. Die Propaganda dieses Antisemiten. In Marx’ früher Schrift Zur Judenfrage (1843),
kulturellen Antiamerikanismus verfolgt zwei politische Zie- einer Auseinandersetzung mit dem Junghegelianer Bruno
le, zum einen unter Verweis auf amerikanische Verhältnisse Bauer, heißt es dagegen: »Der Jude hat sich auf jüdische
die faktische Abschottungspolitik der europäischen Staaten Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht
gegen die Einwanderung zu forcieren, zum anderen Europa aneignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld
zu einer weltpolitischen Ordnungsmacht auszubauen. zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum prakti-
schen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die Juden
Antisemitismus haben sich insoweit emanzipiert als die Christen zu Juden
In den Analysen zum Antisemitismus wird – nicht selten im geworden sind.« Die Perspektive, in der diese Sätze formu-
Unterschied zur Analyse der Rassismen – vom fiktiven Cha- liert sind, war nicht die der Assimilation, sondern die der
rakter der Bilder ausgegangen, die der Antisemit vom Juden Emanzipation. Der gesellschaftstheoretische Rahmen geht
zu dem Zweck entwirft, sie sogleich zu demontieren. Er in Schmitts Notiz vollkommen verloren, mit Absicht, denn
attackiert, wie Theodor W. Adorno sagt, einen Popanz, das beste Argument gegen die Juden sind dem Antisemiten
»ohne sich sonderlich um den Realitätsgehalt dieser Bilder diese selbst. Nach Marx’ Auffassung aber sollte nicht von der
zu kümmern«.62 Für den Antisemitismus gilt dabei in beson- Religion auf die soziale Praxis geschlossen werden, sondern
derer Weise, daß diese Bilder stärker auf den Kulturalismus, von der sozialen Praxis auf die religiöse Ideologie. Die sozia-
also auf die kulturelle »Andersartigkeit«, denn auf den Bio- le Praxis, die den realen Kern dieser Ideologie bildet, ist für
logismus abgestellt sind. Ein zweites Moment kommt hinzu: den jungen Marx die Zirkulationssphäre; auf Handel und

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Geld reduziert er die gesellschaftlichen Verhältnisse und dische Wucherer. So nährt die gleichzeitige Unterdrükkung
identifiziert sie mit dem Judentum als der ideologischen des Judentums und des Wuchers den aufkeimenden Antise-
Form. Die Herrschaft des Geldes ist es, die in seinen Augen mitismus und verdüstert zusätzlich das Bild des mit dem Ju-
die Emanzipation verhindert, nicht etwa die Herrschaft der den mehr oder minder gleichgesetzten Wucherers. Der
Juden, wie es sich im Kopf des Antisemiten darstellt, denn große wirtschaftliche Aufschwung des 12. Jahrhunderts er-
deren Emanzipation fordert Marx ja gerade: Endet der erste höht die Anzahl der christlichen Wucherer. Diese schüren
Teil seiner Schrift, der der Kritik der Menschenrechte ge- die Feindseligkeit gegen die Juden, da diese bisweilen eine
widmet ist, mit der Aufhebung der Trennung von Staat und gefährliche Konkurrenz darstellten.« Zunehmend aus der
Gesellschaft als Ziel menschlicher Emanzipation, so schließt bäuerlichen und handwerklichen Produktion verdrängt, un-
der zweite Teil mit der Aufhebung seiner ideologischen terliegt die jüdische Bevölkerung also zudem restriktiveren
Form als deren Bedingung: »Die gesellschaftliche Emanzi- Bestimmungen in dem Erwerbszweig, der es ihr letztlich er-
pation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom laubte, die Gemeinde am Leben zu halten. Auch wenn die
Judentum.«64 Kirche in der Theorie den christlichen Wucherer weitaus
heftiger angriff, wurden in der Praxis die jüdischen Geldver-
Legendenbildung leiher dennoch härteren Pressionen ausgesetzt. Noch ein-
Mit der Identifikation von Geld und Judentum sitzt aller- mal Le Goff: »Der jüdische Wucherer, der von der christli-
dings auch der junge Marx einer Legende auf, die immer chen Gesellschaft mehr und mehr zum Wucher getrieben
wieder die Matrix für antisemitische Ressentiments abgibt wurde, litt unter der Zunahme des Antisemitismus, der in
und zudem nicht selten als deren materielles Substrat ange- der latenten Judenfeindlichkeit wurzelte; obgleich der jüdi-
sehen wird. Sie verweist auf die vorkapitalistische Gesell- sche Wucherer weder gegen jüdisches noch gegen christli-
schaftsformation, in der die Sphäre der Zirkulation noch ches Gesetz verstieß, schürten die Kirche und die christli-
nicht zum Zentrum des gesellschaftlichen Reproduktions- chen Fürsten in ihrem Kampf gegen den Wucher Ausbrüche
prozesses gehörte. Es handelt sich um die Legende vom jü- von Antisemitismus. Der christliche Wucherer wählte sich
dischen Wucherer, in der die lange Verfolgungs- und Ver- von den im Ansehen steigenden irdischen Werten den am
treibungsgeschichte der Jüdinnen und Juden exkulpiert meisten verabscheuten, wenngleich faktisch mehr und mehr
wird, als hätte er keine nicht-jüdischen, zumal christlichen erstrebten aus: das Geld. Für mich stellt sich der christliche
Konkurrenten gekannt. Der Historiker Jacques Le Goff, der Wucherer nicht als Opfer, sondern als Mitschuldiger dar,
sich in dem Buch Wucherzins und Höllenqualen mit der suk- der sein Vergehen mit der ganzen Gesellschaft teilt; diese
zessiven gesellschaftlichen Anerkennung der christlichen Gesellschaft verachtete und verfolgte ihn zwar, bediente sich
Wucherer im 13. Jahrhundert beschäftigt, schreibt über den jedoch seiner und teilte seinen Hunger nach Geld.«65
Unterschied: »Christliche Wucherer werden als Sünder vor Der theoretisch entscheidene Aspekt ist hierbei, daß be-
kirchliche Gerichte, die Offizialate, gestellt, die in der Regel reits im 12. und 13. Jahrhundert durch eine verschärfte anti-
eine gewisse Nachsicht walten ließen und Gott die Bestra- jüdische Haltung der Kirche das Bild vom Juden mit dem
fung durch Verdammnis anheimstellten. Juden und Auslän- vom Wucherer verschmolzen wurde. Niemals betätigten
der (in Frankreich Wucherer aus Italien und Südfrankreich, sich nur jüdische Geldverleiher und Händler innerhalb der
aus der Lombardei und aus der Gegend von Cahors) hinge- expandierenden Geldwirtschaft. Hinter dem von der macht-
gen unterliegen der härteren und repressiveren weltlichen vollsten Institution der spätfeudalen Ordnung etablierten
Rechtsprechung. Philipp August, Ludwig VIII. und vor al- Bild vom jüdischen Wucherer konnten seine Konkurrenten
lem Ludwig der Heilige erlassen strenge Gesetze gegen jü- verschwinden, während sich umgekehrt das Stereotyp zum

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Stigma einer ganzen Religionsgesellschaft erweiterte. Auf Heinrich Heine die Veränderung, die der Antisemitismus
der Seite der Angreifer durchzieht die Verbindung von mit dem Heraufkommen der neuen Klasse und ihrer Intel-
christlicher Legitimität und ökonomischem Interesse die lektuellen erfahren hatte: »Wir leben nicht mehr im Mittel-
gesamte Geschichte der Verfolgung und Vertreibung der jü- alter, auch das gemeine Volk wird aufgeklärter, schlägt die
dischen Gemeinden in den folgenden Jahrhunderten;66 ihre Juden nicht mehr auf einmal tot, und beschönigt seinen Haß
Vertreibung im ausgehenden 13. Jahrhundert aus England, nicht mehr mit der Religion; unsere Zeit ist nicht mehr so
wo erst im Zuge der bürgerlichen Revolution im 17. Jahr- naiv glaubensheiß, der traditionelle Groll kleidet sich in mo-
hundert sich wieder neue Gemeinden ansiedeln sollten, aus dernen Redensarten, und der Pöbel in den Bierstuben wie in
Frankreich im 14. Jahrhundert, aus Spanien am Ende des den Deputiertenkammern deklamiert wider die Juden mit
15. Jahrhunderts ebenso wie ihre Gettoisierung und Vertrei- merkantilistischen, industriellen, wissenschaftlichen oder
bungen aus den Gettos in den deutschen Städten, die zahl- gar philosophischen Argumenten.«68
reichen Plünderungen und Pogrome ebenso wie die jeweili- Die bürgerlichen Intellektuellen lösten den tradierten
ge rechtliche Sonderbehandlung, etwa von der kaiserlichen Antisemitismus der spätfeudalen und absolutistischen Ord-
»Kammerknechtschaft« im 13. Jahrhundert bis hin zum nung von den christlich-religiösen Legitimationsmustern
1750 von Preußenkönig Friedrich II. erlassenen »General- und verknüpften ihn, wie Heine beobachtete, mit Versatz-
reglement« für Juden, all dies diente der Abpressung von stücken aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Diszipli-
Steuern, der Ausschaltung von Konkurrenten oder schlicht nen und philosophischen Diskursen. Bereits 1793, zwei Jah-
der räuberischen Aneignung des Eigentums von Jüdinnen re nachdem die Nationalversammlung in Frankreich den Ju-
und Juden, was grosso modo den geistlichen und weltlichen den gleiche Rechte eingeräumt hatte, vertrat etwa Johann
Herrschenden zugute kam. Gottlieb Fichte, gerade in der Schrift, die er zur Verteidi-
gung der Französischen Revolution verfaßte, die Auffas-
Moderner Antisemitismus sung, den Juden seien zwar die Menschrechte nicht zu ver-
Angesichts dieser Verfolgungs- und Vertreibungsgeschichte wehren, wohl aber die Bürgerrechte. Fichte, der religiöse
erscheint der Antisemitismus wie ein historisches Kontinu- Motive weit von sich weist, insistiert darauf, sich auf »That-
um, nicht zuletzt das Bild vom jüdischen Wucherer erweist sachen« berufen zu können, wenn er meint, daß das Juden-
sich als über Jahrhunderte stabiles Stereotyp. Wie etwa Gu- tum einen »Staat im Staate« bilde, und zwar einen »mächti-
stav Freytags Erfolgsroman Soll und Haben (1855) zeigt, war gen, feindselig gesinnten Staat«, der die bürgerliche Eman-
es auch für den deutschen Nationalliberalismus reaktivier- zipation verhindere. In der Fußnote kommentiert er: »Men-
bar.67 Um die deutschen Kaufleute – vor allem in der Figur schenrechte müssen sie haben, ob sie gleich uns dieselben
des schließlich zum Teilhaber eines Handelshauses aufstei- nicht zugestehen; denn sie sind Menschen, und ihre Unge-
genden Anton Wohlfahrt – als tüchtige und moralisch ein- rechtigkeit berechtigt uns nicht, ihnen gleich zu werden.
wandfreie Männer zu stilisieren, kontrastiert Freytag ihnen Zwinge keinen Juden wider seinen Willen, und leide nicht,
nicht nur die als haltlos und unzuverlässig, stets an der Ver- dass es geschehe, wo du der nächste bist, der es hindern
gangenheit hängend geschilderten Figuren der Adligen, kann, das bist du ihm schlechterdings schuldig. Wenn du ge-
sondern in den Figuren der Kaufleute Hirsch Ehrenthal und stern gegessen hast und hungerst wieder, und hast nur auf
Itzig Veitel eben auch das Bild des jüdischen Wucherers, heute Brot, so gieb es dem Juden, der neben dir hungert,
dessen Praktiken allerdings den ethisch-politischen Maßstä- wenn er gestern nicht gegessen hat, und du thust sehr wohl
ben wie auch dem Geschäftsinn des deutschen Bürgertums daran. – Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich
unterliegen müssen. Schon zwanzig Jahre zuvor registrierte wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen

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die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen »verkörpern das Allgemeine als Partikulares«.71 Diese Zu-
auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schreibung ist im modernen Antisemitismus das Primäre
schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen und unterscheidet ihn von seinen Vorläufern wie von allen
ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu Rassismen.
schicken.«69 Fichtes Argumentation besitzt paradigmatische Seit Fichtes Identitätsphilosophie fungiert das Bild vom
Bedeutung, weil sie das Phantasma jüdischer Macht und der Juden als eine universelle Metapher, in der sekundäre kör-
aus ihm gefolgerten Legitimation von Vertreibungs- und perliche und kulturelle Stigmatisierungen mit dem Alltags-
Gewaltexzessen auf die neuen sozialen Bedingungen hin verstand des Geldbesitzers verdichtet sind, nämlich mit der
durchschauen läßt. Vorstellung, Geld regiere die Welt. Im Kontext von Mar-
Die Trennung von Menschenrechten und Bürgerrech- xens Kritik der politischen Ökonomie, im Unterschied zu
ten, das strikte Humanitätsgebot, das Fichte errichtet, einer- den frühen Schriften wie Zur Judenfrage, entspricht diese
seits und das Staatsprinzip, das dieses Gebot letztlich wieder Vorstellung einer Verkennung, die das fetischisierte Be-
kassiert, andererseits reflektiert, wie Detlev Claussen her- wußtsein als Denkform der Warenproduktion hervorbringt.
ausgearbeitet hat, die Spaltung zwischen dem Bourgeois und Fixiert auf die Geldverhältnisse bleibt der gesellschaftliche
dem Citoyen, die den widersprüchlichen Charakter bürger- Charakter der Produktion wie der Distribution von Waren
licher Subjektivität kennzeichne.70 Dem Identitätsphiloso- undurchschaut, weil »sich das Tauschverhältnis als eine dem
phen Fichte bleibt dieser Widerspruch allerdings verborgen. Produzenten gegenüber äußere und von ihm unabhängige
Er will das ›reine identische Ich‹ und schiebt ihn kurzerhand Macht« darstellt und die »Kluft zwischen dem Produkt als
den Juden zu, die »sich zu dem den Körper erschlaffenden, Produkt und dem Produkt als Tauschwert zu wachsen«
und den Geist für jedes edle Gefühl tödtenden Kleinhandel scheint.72 Der moderne Antisemitismus setzt die »scheinbar
verdammt« (Fichte) hätten und somit auch verdammt seien. transzendentale Macht des Geldes« (Marx) mit der »Natur«
Der Vertreibungs- und Gewaltexzeß gilt also einer bestimm- der Juden in eins. Auf dieser Identifikation beruht schließ-
ten sozialen Praxis. Der »Kleinhandel« ist hier wiederum lich die Macht, die antisemitische Weltverschwörungstheo-
nichts anderes als die Metapher für die Sphäre der Zirkulati- rien im Imaginären besitzen.
on. Im Unterschied aber zu der von der feudalen Produkti- In dem Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialis-
onsweise dominierten Gesellschaftsformation rückt die Zir- mus« hat Moishe Postone diesen Erklärungansatz erweitert
kulationssphäre in das Zentrum des gesellschaftlichen Re- und zugespitzt. Der moderne Antisemitismus ist Postone
produktionsprozesses ein, da in der kapitalistischen, vor al- zufolge ein verkürzter Antikapitalismus, der dem Kapitalfe-
lem in der durch das industrielle Kapital dominierten Ge- tisch aufsitzt, nämlich der Vorstellung, daß das zinstragende
sellschaftsformation nur so der im unmittelbaren Produk- Kapital unabhängig vom Produktions- und Zirkulationspro-
tionsprozeß erzeugte Wert realisiert werden kann. Mit der zeß, getrennt vom Reproduktionsprozeß des Kapitals die
Verallgemeinerung der Zirkulation als Instanz gesellschaftli- Quelle seiner eigenen Vermehrung sei. Der Fetisch bewirke,
cher Vermittlung erhält der Antisemitismus eine völlig neue daß »kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen sich
Bedeutung. »Die anonyme Kapitalisierung der Existenzbe- selbst als widersprüchlich, als Gegensatz von Abstraktem
dingungen«, so erläutert Claussen den Übergang vom Ju- und Konkretem darstellen«.73 In der Unmittelbarkeit dieses
denhaß zum modernen Antisemitismus, »wird mit dem Na- Widerspruchs befangen, vollziehe der moderne Antisemitis-
men derer belegt, die in der Epoche davor die personaliden- mus nicht nur die Identifikation der Juden mit der vermeint-
tischen Träger der Geldmacht schienen: die Juden.« Für die lichen Macht des Geldes, sondern darüber hinaus mit dem
antisemitische Propaganda sind sie unersetzlich, denn sie unter der »Form der erscheinenden Abstraktion« mißver-

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standenen Kapitalismus. Der antisemtische Angriff gelte ab- ten. Gestützt wird diese Unterscheidung ohne Zweifel
strakter Vernunft und abstraktem Recht ebenso wie dem durch bestimmte Elemente der Nazi-Propaganda selbst, et-
Tauschwert, der abstrakten Arbeit, dem Verwertungsprozeß, wa Gottfried Feders Parole von der »Brechung der Zins-
dem Geld- und Finanzkapital, während das Produkt als Ge- knechtschaft« oder die absurde Gegenüberstellung von
brauchswert, die nützliche Arbeit, der Arbeitsprozeß, die »schaffendem« und »raffendem« Kapital. Auch finden sich
Technologie, die industrielle Anlage und so weiter, also die Anhaltspunkt über die antikapitalistische Rhetorik der Nazis
stoffliche Seite des Akkumulationsprozesses ontologisiert hinaus, wenn man etwa an Werner Sombarts 1911 veröf-
werde. Die vermittelnde Funktion von Geld und Zins er- fentlichte antisemitische Schrift Die Juden und das Wirt-
scheint als »abstraktes Moment an stofflichen Formen« und schaftsleben denkt. Allerdings verweist die Nazi-Propaganda
das Konkrete seinerseits »nicht als eine Vergegenständ- ebenfalls auf die Aporien dieses theoretischen Ansatzes.
lichung vermittelnder gesellschaftlicher Beziehungen«. Per- Nach Hitler nämlich soll die Wirtschaft »Dienerin des Staa-
sonifiziert werden beide Seiten schließlich in der antisemiti- tes«, nicht »Herrin der Nation« sein, und an einer Stelle in
schen Entgegensetzung von »Juden« einerseits und Mein Kampf heißt es dann unter Berufung auf Feder: »Die
»Ariern« andererseits. Die NS-Vernichtungspolitik, so Po- scharfe Scheidung des Börsenkapitals von der nationalen
stones These, müsse als der Versuch einer antikapitalisti- Wirtschaft bot die Möglichkeit, der Verinternationalisie-
schen Negation jenes auf das »erscheinende Abstrakte« re- rung der deutschen Wirtschaft entgegenzutreten, ohne zu-
duzierten Kapitalismus gesehen werden: »Auschwitz war ei- gleich mit dem Kampf gegen das Kapital überhaupt die
ne Fabrik zur ›Vernichtung des Werts‹, d.h. zur Vernichtung Grundlage einer unabhängigen völkischen Selbsterhaltung
der Personifizierungen des Abstrakten.« zu bedrohen.«74 Zwar macht Postone deutlich, daß der anti-
Nach Postone bildet der moderne Antisemitismus mit- semitische Angriff sich gerade nicht gegen das industrielle
hin eine logische Folge der im Kapitalfetisch angelegten Kapital richtet, aber die zentrale Rolle die dabei die Artiku-
Dichotomie von Abstraktem und Konkretem, und noch die lation des Antisemitismus mit Staat und Nation spielt, igno-
NS-Vernichtungspraktiken sollen sich aus ihr ableiten las- riert er weitgehend; sie bleibt in seiner logischen Deduktion
sen. Erhellen diese theoretischen Überlegungen die grund- außen vor.
legende Transformation, die der Antisemitismus in den ka-
pitalistischen Gesellschaftsformationen erfährt, so erweisen Staatliche Macht und diskursive Ordnung
sie sich jedoch im Hinblick auf die politische und ideologi- In dem Buch Antisemitismus und Volksstaat vertritt Ulrich
sche Dimension als unzulänglich. In gewissem Sinn liefert Enderwitz die Gegenposition zu Postone, der zufolge aus
diese Ableitung des modernen Antisemitismus aus den Kate- der Trennung von Staat und Gesellschaft der moderne Anti-
gorien der Kritik der politischen Ökonomie das Pendant zu semitismus erklärt werden müsse. Enderwitz rekurriert da-
dem oben im Kontext der Bestimmung der ideologischen bei auf die von Marx in seinen Analysen der Klassenkämpfe
Konstruktion von »Rassen« zitierten Ansatz bei Schmitt- in Frankreich festgestellte restaurative Tendenz des bürger-
Egner. Demnach bezögen sich die Rassismen auf das Kon- lichen Staates sowie auf dessen These einer Verselbständi-
krete, etwa auf die vermeintliche Natur und die physischen gung der Exekutive gegenüber der herrschenden Klasse.75
Reproduktionsfähigkeit des Kolonisierten, während der mo- Die politische Entmachtung der bürgerlichen Klasse zur Er-
derne Antisemitismus auf das Abstrakte Bezug nehme. Im haltung der sozialen Macht des Kapitals vollziehe sich im
einen Fall handelte es sich um die Drangsalierung des zum preußischen Obrigkeitsstaat ebenso wie im faschistischen
Untermenschen gemachten Abhängigen, im anderen um die Volksgemeinschaftsstaat, indem sich der Staat mit Not-
Beseitigung der zu Unmenschen gestempelten Konkurren- standsvollmachten ausgestattet gegenüber dem Proletariat

122 123
und als Vermittler konfligierender Privatinteressen gegenü- nipulativ, sondern auch diskursiv die ideologische Macht der
ber der Bourgeoisie etabliert. Beides, so Enderwitz’ These, Herrschenden organisiert.
exekutiert er zur Krisenbewältigung an den Juden als den Im Unterschied zu den westlichen Staaten, deren Kon-
universellen »Ersatzobjekten« staatlichen Handelns. Diese stitution auf den revolutionären Akt des Bürgertums zurück-
neue Funktion charakterisiert den modernen Antisemitis- ging und die Judenemanzipation sukzessive einschloß, sind
mus im Unterschied zu der traditionellen Judenverfolgung es in Deutschland, wie Enderwitz betont, gerade der »Staat
in der europäischen Geschichte. Insbesondere in der Ent- und sein engeres Personal, die Junker, Staatspapierrentiers,
wicklung des deutschen Nationalstaates wird der Antisemi- höheren Verwaltungsbeamten, Gerichtsassesoren, Gymna-
tismus aus Staatsräson zu einem entscheidenden politischen siallehrer und Universitätsprofessoren ..., die im 19. Jahr-
Faktor. Im Zuge der Integration der sozialen Klassen in den hundert die Juden aus allen Emanzipationsträumen heraus-
Nationalstaat steigert er sich schließlich bis hin zur NS-Ver- reißen und erneut ins Schußfeld einer gesellschaftspoliti-
nichtungspolitik im Krieg. »Dieser Mord an Millionen«, schen Feindbildprojektion rücken«.78 Diese Projektion folgt
schreibt Enderwitz, »ist von ebenso schrecklicher Stringenz einer diskursiven Ordnung, die das vermeintliche Ersatzob-
wie entsetzlicher Akzidentialität. Akzidentiell ist er, weil er jekt in bestimmten Konturen und Eigenschaften zu fixieren
einer wahnhaften Ersatzhandlung des faschistischen Staates sucht. Schon Fichte hatte auf der Körper und Geist zerset-
entspringt, deren Umfang und Erscheinung keiner inneren zenden Wirkung des den Juden zugeschriebenen »Klein-
Gesetzmäßigkeit unterliegt, sondern eine variable Funktion handels« beharrt, um sie aus dem Staatswesen auszu-
äußerer Anlässe, eine blinde Reaktion auf heteronome Aus- schließen. So findet sich bei ihm bereits vorkonstruiert, was
löser ist. Zwingend aber ist er, weil er in der gegebenen Aus- antisemitische Literatur und Propaganda in unzähligen Va-
lösersituation Logik, um nicht zu sagen: Rationalität be- rianten wiederholt hat, bis es sich im soziohistorischen Ge-
weist.«76 dächtnis fest verankert hatte. In den faschistischen Bedro-
Diese Rationalität ist politisch fundiert; sie bestimmt den hungsphantasmen schließlich werden die angebliche Macht
faschistischen Terror seit seinem Auftreten und entspricht und die vermeintliche Zersetzung, Weltverschwörung und
der faschistischen »Stoßtrupp-Taktik« des politischen Weltzerstörung zu einem Bild der Juden verschmolzen, das
Kampfes.77 Daß sich der schließlich staatlich organisierte die »Gegenrasse, das negative Prinzip als solches«79 dar-
Terror gegen die Jüdinnen und Juden richtet, ist jedoch kei- stellt.
neswegs so unwesentlich oder zufällig, wie Enderwitz zu Noch von jeder realen Präsenz jüdischer Leute völlig ab-
glauben scheint. Zurecht weist er den theoretischen Realis- gekoppelt, wirken die phantasmatischen Zuschreibungen
mus zurück, der in antisemitischen Vorurteilen nach einem der Antisemiten weiter. Vom Hörensagen wissen alle, die
empirischen Gehalt sucht oder in endlosen Schleifen den sich empfänglich für antisemitische Propaganda zeigen, be-
Schein des im Antisemitismus verstellten Seins analysiert. Er reits Bescheid. Es bedarf nur der Anspielung, ein Verfahren,
selbst begreift ihn als Symptom einer pathologischen Aus- dessen sich in der Bundesrepublik nach wie vor in systemati-
übung politischer Herrschaft. Auch hier liegt folglich eine scher Weise bedient wird. Nun schon über Generationen
Reduktion vor. Was Enderwitz nicht in den Blick bekom- hinweg lautet der Standardsatz dieses Antisemitismus: »Man
men kann, sind die ideologischen und diskursiven Prozesse, darf ja gegen Juden heute nichts sagen.« Nach einer Inter-
in denen sich die antisemitischen Zuschreibungen generie- pretation Adornos wird mit diesem Argument aus dem öf-
ren und das Objekt der Gewalthandlungen produziert wird. fentlichen Tabu über antisemitische Äußerungen nach 1945
Es bleibt für ihn kontingent, obgleich er auf die zentrale ein Argument für den Antisemitismus gemacht. Es sugge-
Funktion der Staatsmacht hinweist, die eben nicht nur ma- riert, an dem, was als negative Kollektivzuschreibung von

124 125
seiten der Antisemiten lanciert wird, könne auch etwas dran schenden Realismus versehen will. So meint etwa Detlev
sein. Adorno sieht darin einen Projektionsmechanismus Claussen in seinem Einleitungsessay zu dem Dokumenta-
wirksam werden, der jene Umkehrung der Täter-Opfer- tionsband Was heißt Rassismus? hervorheben zu müssen: »Je-
Metaphorik in Gang setzt, nach der die Verfolger sich auf- de moderne Gesellschaft gerade nach dem Ende der Iden-
spielen, als seien sie die Verfolgten.80 Was sich hierin äußert tität von bürgerlicher Gesellschaft und Nationalstaat muß
ist die neue Form des sekundären Antisemitismus. Wenn ethnischen Realitäten Rechnung tragen.« Denn, so führt er
man so will, handelt es sich um einen postmodernen Antise- weiter aus: »Die Realität der globalen Überbevölkerung, die
mitismus, der zitierend, nicht agitierend, verdeckt, nicht of- zu einer Immigration in die entwickelten kapitalistischen
fen vorgetragen wird. Und es ist anzunehmen, daß dies seine Länder führt, löst nicht nur die Traditionen der verlassenen
Wirkung kaum beeinträchtigt hat und künftig kaum beein- Lokalitäten auf, sondern auch die zu nationalen Traditionen
trächtigen wird. Denn, wie Adorno in einem Aphorismus gewordenen Gesellschaften der Moderne. Mit dem Zusam-
bemerkt: »Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Ju- menbruch der Kolonialreiche ist die Diskussion um die eth-
den.«81 Bekanntlich verbreitet sich das Gerücht als Unter- nischen Zusammensetzungen der Gesellschaften in die
pfand des Ressentiments im Verborgenen, hinter vorgehal- ›Mutterländer‹ eingekehrt.«84 Die Annahme, daß der Natio-
tener Hand ebenso schnell wie in der marktschreierischen nalstaat eine ethnische Basis besitze oder zumindest beses-
Weise der faschistischen und antisemitischen Agitatoren. sen habe, wird hartnäckig weiter verbreitet. Doch neben
dem staats- und ideologietheoretischen Defizit, das sich in
*** solchem theoretischen Realismus äußert, ist vielmehr die
Für diesen Punkt, weniger für die Unterscheidung zwischen Weigerung frappierend, aus der Analyse des Antisemitismus
kulturalistischen oder biologistischen Aspekten, die beide auch Konsequenzen für die Diskussion um Rassismus und
das Gerücht weitertragen, trifft vollkommen zu, wenn Bali- Ethnizität zu ziehen. Eine könnte dagegen lauten: Die viel-
bar den Neorassismus als »verallgemeinerten Antisemitis- zitierten »ethischen Realitäten« sind auch nichts anderes als
mus« kennzeichnet. Die neuen Rassentheoretiker sind nach das Gerücht über die Migrantinnen, Migranten und Flücht-
Balibar eben weder »Mystiker des Erbguts« noch Apologe- linge. Zumindest den Mythen der Rechten ließe sich mit
tiker rassistischer Superiorität, sondern sie präsentieren sich dieser Haltung die diskursive Grundlage entziehen, wie es
als »Techniker der Sozialpsychologie«82, die immerzu vor ideologiekritischer Absicht entspräche.
der Provokation von Haßausbrüchen durch das Überschrei- Da weder Rassismus noch Antisemitismus universalge-
ten angeblicher »Toleranzschwellen« warnen, um ihr enth- schichtliche Phänomene sind, sondern ihre Artikulationen
nopluralistisches Apartheid-Modell als Lösungskonzept an- sich an die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschafts-
zupreisen. Mit der Niederlage des deutschen Faschismus formationen binden, müssen ohne Zweifel ihre politischen
und im Zuge der »Entkolonialisierung« sind in gewissem wie ökonomischen Bedingungen und Dimensionen theore-
Sinn alle Nietzscheianer geworden, die Rassismus, Ethno- tisch näher bestimmt werden. Der theoretische Rahmen läßt
zentrismus und Antisemitismus für Namen der »Schlecht- sich folgendermaßen skizzieren: Im ökonomischen Raum
weggekommenen«83 halten und zugleich aber über »Rassen- bewirken die Rassismen die »Ethnisierung der Weltarbeits-
unruhen« in den US-amerikanischen Städten, über »ethni- kraft«85 als konstitutive, allerdings diskursiv produzierte
sche Kriege«, »ethnisch-kulturelle Identitäten« in Europa Momente der Segregation innerhalb der nationalen und in-
und dergleichen spekulieren. Davor ist auch der Kritiker ternationalen Arbeitsteilung. Der Antisemitismus dagegen
neuerer Theorien über Rassismus und Ethnizität nicht ge- fungiert hier als Medium, in dem die Gegensätze konflige-
feit, wenn er seine Theoriebildung mit dem Hauch des herr- render Kapitalinteressen ausgetragen werden. Daher koinzi-

126 127
diert sein verbreitetes Auftreten historisch mit der schnellen dem Aspekt niedriger Reproduktionskosten für die ausländische Ar-
Entwicklung des industriellen Kapitals in Deutschland nach beitskraft. Eine gewisse Ausnahme in der bundesrepublikanischen
1871 und den Auseinandersetzungen verschiedener Kapital- Debatte bilden die Beiträge von Peter Schmitt-Egner, der allerdings
ebenfalls nicht auf die Migrationsprozesse eingeht und sich auf Fa-
fraktionen, etwa zwischen Bank- und Industriekapital, um
schismus und Kolonialismus konzentriert. Vgl. Peter Schmitt-Eg-
die hegemoniale Stellung innerhalb der herrschenden Klas-
ner: Kolonialismus und Faschismus. Eine Studie zur historischen und
se. Bezogen auf das Politische sind die rassistischen, ethni- begrifflichen Genesis faschistischer Bewußtseinsformen am deut-
schen und antisemitischen Zuschreibungen funktionell in schen Beispiel. Gießen, Lollar 1975; ders.: Wertgesetz und Rassis-
den kapitalistischen Staat eingegliedert, das heißt, die ima- mus. Zur begrifflichen Genesis kolonialer und faschistischer Be-
ginäre Form der biologistischen und kulturalistischen Stig- wußtseinsformen. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie
matisierung wie ihre diskursive Anordnung und Ausrichtung 8/9. Frankfurt a. M. 1976, S. 350 – 404.
sind in die Grenzziehungen eingeschrieben, innerhalb derer 2 Annita Kalpaka/Nora Räthzel: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch
der kapitalistische Staat die Einheit des Volks als Nation ho- zu sein. In: Otger Autrata u.a. (Hrsg.): Theorien über Rassismus. Eine
mogenisiert. Im Nationalstaat materialisiert sich die natio- Tübinger Vorlesungsreihe. Hamburg 1989, S. 86
nale Einheit in raum-zeitlicher Ausdehnung, die den Legen- 3 Sporadisch sind bereits früher Texte zum Thema Rassismus in deut-
denbildungen Vorschob leistet und die den »fremden« Kör- scher Sprache erschienen, denen allerdings geringere Aufmerksam-
per und die »fremde« Kultur tendenziell ausschließt. Diese keit geschenkt wurde. Verweisen möchte ich hier nur auf die folgen-
den Texte: Stuart Hall: Rasse – Klasse – Ideologie. In: Das Argument
Aus- und Einschließungspraktiken, die die sozialen Bezie-
122, 22. Jg. 1980; Étienne Balibar: Der Widerspruch hat die Gren-
hungen regeln, sind dem kapitalistischen Staat inhärent; sie zen des Erträglichen überschritten! Die KPF zwischen Internationa-
verdichten sich im institutionellen System des Staats und lismus und Chauvinismus. In: Prokla 43, 11. Jg. 1981, S. 147 – 160;
werden von den staatlichen Institutionen ausgearbeitet. Die John Solomos: Spielarten der marxistischen Konzepte von ›Rasse‹,
Gettos, die Konzentrationslager und die Völkermorde sind Klasse und Staat: eine kritische Betrachtung. In: Peripherie 24, 6. Jg.
die schrecklichen Manifestationen des totalitären Charak- 1986, S. 7 – 28; Stephen Castles: Migration und Rassismus in Westeuro-
ters, den der moderne Nationalstaat aufweist. pa. Berlin 1987. Für den bundesdeutschen Kontext vgl. Annita Kal-
paka/Nora Räthzel: Wirkungsweisen von Rassismus und Ethnozen-
trismus. In: Dies. (Hrsg.): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein.
Anmerkungen Berlin 1986, S. 36 – 92; Klaus F. Geiger: Rassismus und Fremdenfeind-
1 Zu den Migrationsprozessen sowohl hinsichtlich ökonomischer und lichkeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Kassel 1985. Einen repräsen-
politischer Aspekte als auch mit Bezug auf die subjektive Dimension tativen Einblick in die Forschungen in anderen europäischen Staa-
der Flüchtlinge, der Autonomie ihrer Entscheidungen gegenüber ten liefert der unter der Redaktion von Annita Kalpaka und Nora
politischen und ökonomischen Herrschaftslogiken vgl. das instrukti- Räthzel vom Institut für Migrations- und Rassismusforschung e. V.
ve Interview mit Yann Moulier-Boutang in: Strategien der Unterwer- herausgegebene Band: Rassismus und Migration in Europa. Beiträge
fung, Strategien der Befreiung. Thesen zur Rassismusdiskussion. Ma- des Hamburger Kongresses »Rassismus und Migration in Europa«
terialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 5. Berlin, Göttingen (26.-30. September 1990). Hamburg, Berlin 1992.
1993, S. 29 – 55. Exemplarisch für den reduktionistischen Ansatz und 4 Albert Memmi: Rassismus. Frankfurt a. M. 1987, S. 124
symptomatisch für die Analyse der Arbeitsemigration von seiten der 5 Ebenda, S. 100
Neuen Linken dagegen ist der folgende kurze Text: Johannes Agno- 6 Vgl. ebenda, S. 164ff.
li: Die Gastarbeiter und die Reservearmee im Spätkapitalismus 7 Mario Erdheim: Zur Ethnopsychoanalyse von Exotismus und Xeno-
(1971). In: Redaktion diskus (Hg.): Küss den Boden der Freiheit. Texte phobie. In: Ders.: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Auf-
der Neuen Linken. Berlin, Amsterdam 1992, S. 121ff. Agnoli spricht sätze 1980 – 1987. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1991, S. 258 – 265, hier:
darin zwar die Frage von Familie und Schule an, jedoch nur unter S. 259

128 129
8 Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a. M. 1990, S. 208 zur Anatomie, Geschichte und Deutung des Rassenwahns. Frankfurt
9 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der a. M., Berlin, Wien 1984, S. 10.
Vergesellschaftung. Frankfurt a. M. 1992, S. 764 – 771. Im folgenden 17 Albert Memmi: Rassismus, a.a.O., S 109
zitiert ohne Einzelnachweis. 18 Étienne Balibar: Gibt es einen »Neo-Rassismus«? In: Ders./Imma-
10 So verfährt beispielsweise Robert Miles in dem Kapitel »Darstel- nuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten.
lungsformen des Anderen« in: Robert Miles: Rassismus. Einführung Hamburg, Berlin 1990, S. 23 – 38, hier: S. 25. Allgemein zum Begriff
in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Hamburg 1991, S. der Verkennung vgl. auch Louis Althusser: Ideologie und ideologi-
19ff. sche Staatsapparate, a.a.O., S. 141 – 149.
11 Peter Schmitt-Egner: Wertgesetz und Rassismus, a.a.O., S. 377 19 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden
12 Vgl. Immanuel Wallerstein: Der historische Kapitalismus. Berlin 1984. Soziologie. 5., revidierte Auflage, Tübingen 1980, S.234ff.
13 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster 20 Étienne Balibar: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie. In:
Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW 23, S. 779 Ders./Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation, a.a.O., S. 117ff.;
14 Immanuel Kant: Das Ende aller Dinge (1794). In: Immanuel Kant vgl. auch ders.: Rassismus und Nationalismus. In: Ebenda, S. 49 – 84,
Werkausgabe Bd. XI, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. hier: S. 63 sowie ders.: Die Grenzen der Demokratie. Hamburg 1993,
1977, S. 173 – 190, hier: S. 183. Der zitierte Band enthält auch Kants S. 129ff.
Schrift »Von den verschiedenen Rassen der Menschen« (1775) so- 21 Heinrich Lummer: Asyl. Ein mißbrauchtes Recht. Frankfurt a. M.,
wie weitere Schriften zu Anthropologie und Geschichtsphilosophie, Berlin 1992, S.95f. Vgl. auch Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Wider die
wie etwa »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Mißtrauensgesellschaft. Streitschrift für eine bessere Zukunft. Mün-
Absicht« (1784), »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« chen, Zürich 1994. Hier heißt es an korrespondierenden Stellen:
(1784), »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« (1786) »Die Einwanderer nehmen mit ihrer Niederlassung auf Dauer die
und »Zum ewigen Frieden« (1795), in denen er seine Fortschritts- kostbarste Ressource in Anspruch, die einem Volk zur Verfügung
konzeption darlegt. Daß es sich bei der Rassenkonstruktion nicht steht, nämlich deren Land. Sie werden daher als Eindringlinge
um eine Konzeption allein aus Kants vorkritischer Zeit handelt, ma- wahrgenommen, und das löst geradezu automatisch territoriale Ab-
chen sowohl die Rezensionen zu Herders Ideen zur Philosophie der wehrreaktionen aus, und zwar dann, wenn die Gruppen sich vonein-
Geschichte der Menschheit, die Kant 1786 veröffentlichte, als auch die ander abgrenzen, was kulturell einander Fernstehnde ja auch zu tun
Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) deutlich, wo er pflegen.« (S.130) Und: »Ein friedliches Zusammenleben von Völ-
das Programm der »physischen Geographie«, in deren Zusammen- kern ist am besten gewährleistet, wenn jedes Volk über ein eigenes
hang die Rassenkonstruktion gehört, erneut bestätigt. Diese Texte Land verfügt und sich in diesem Gebiet nach eigenem Gutdünken
finden sich in: Immanuel Kant Werkausgabe Bd. XII, hrsg. v. Wilhelm selbst verwalten und kulturell entfalten kann. (S. 157) Was hier als
Weischedel. Frankfurt a. M. 1977, S. 395 – 690 und S. 779 – 806. Zu kulturalistische Argumentation erscheint, ist bei dem Autor biologi-
Kants Kulturalismus vgl. auch meinen Beitrag »Zauberwort Kultur« stisch unterfüttert: »Zieht man die Biologie zu Rate, dann wird man
in diesem Band. die ethnische Vielfalt durchaus bejahen. Sie ist Ausdruck der Dyna-
15 Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmer- mik des Lebens, das die verschiedensten Möglichkeiten auslotet und
kungen für eine Untersuchung). In: Ders.: Ideologie und ideologische kulturell verschiedene Formen politischen, wirtschaftlichen und
Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg, ideologischen Strebens erprobt, wobei Kultur zum Schrittmacher
Westberlin 1977, S. 108 – 153, hier: S. 133 auch der weiteren biologischen Evolution auf der Ebene sich ab-
grenzender Menschenpopulationen wird.« (S. 173) Die gleichen Ar-
16 Robert Miles: Rassismus, a.a.O., S. 95. Schon früher betonte Léon
gumentationsfiguren finden sich bei den Rassenhygienikern zu Be-
Poliakov, daß sich Rassenkonstruktionen nach einem biologistischen
ginn des Jahrhunderts, die weiter unten behandelt werden. Der Au-
und nach einem kulturalistischen Aspekt unterscheiden lassen, die
tor liefert mit diesen Aussagen das Muster des ethnopluralistischen
nur wenig gemeinsam hätten, und fügt hinzu, daß die zugeschriebe-
Nationalismus; vgl. »Rassismus und Nationalismus der ›Neuen
nen Rassenmerkmale völlig fiktiv sind,; vgl. Léon Poliakov/Christi-
Rechten‹ in der Bundesrepublik« in diesem Band.
an Delacampagne/Patrick Girard: Über Rassismus. Sechzehn Kapitel

130 131
22 Jan Philipp Reemtsma schreibt hierzu: »Der Rassismus hat seine Phasen der Arbeit, die Pêcheux der Methodik der Diskursanalyse
Ursache in der Verfolgungsgeschichte. Er ist der Versuch seitens des gewidmet hat, gibt Denise Maldidier (Hrsg.): L’Inquiétude du discours.
verfolgenden Kollektivs, sich sein eigenes Verhalten zu erklären und Textes de Michel Pêcheux. Paris 1990.
zwar zu einem Zeitpunkt, an dem die ursprünglichen Ursachen re- 28 Vgl. Colette Guillaumin: RASSE. Das Wort und die Vorstellung. In:
spektive Motive der Verfolgung nicht mehr weiterexistieren, bzw. Uli Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in
nicht mehr Motiv genug sind, die Verfolgung fortzusetzen. Das Fa- der Alten Welt? Hamburg 1991, S. 159 – 171
tale hierbei ist, daß es für das verfolgte Kollektiv kaum eine Mög- 29 Dokumente, die diese Dominanz belegen, sind die folgenden, für
lichkeit gibt, dem rassistischen Blick zu entgehen, da dieser in einem die UNESCO verfaßten Aufsätze: Michel Leiris: Rasse und Zivilisa-
immerwährenden Verdacht besteht. Auf keinen Fall kann es ihm tion (1951). In: Ders.: Die eigene und die fremde Kultur. Ethnologische
entkommen, indem es seine Assimilationsanstrengungen intensi- Schriften Band 1. Frankfurt a. M. 1985, S. 72 – 118; Claude Lévi-
viert, wie das Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts beweist.« Strauss: Rasse und Geschichte (1952). In: Ders.: Strukturale Anthro-
Jan Philipp Reemtsma: Die Falle des Antirassismus. In: Ders.: u.a. pologie II. Frankfurt a. M. 1975, S. 362 – 407. Die Perspektive dieser
Falun. Reden & Aufsätze. Berlin 1992, S. 303 – 322, hier: S. 306. Wie Dokumente läßt sich in folgendem Satz Leiris’ andeuten: »Sobald
sooft zeigt auch hier die Alliteration (die »ursprünglichen Ursa- man das Feld der reinen Biologie verläßt, verliert das Wort ›Rasse‹
chen«) an, wo das Argument schiefliegt. Davon abgesehen aber be- jede Bedeutung.« (S. 114) Vgl. auch Theodor W. Adorno u.a.: Der
steht der Haupteinwand gegen Reemtsma wohl darin, daß er es un- autoritäre Charakter. Band 1. Amsterdam 1968, S. 89ff.
terläßt, seine richtige Einsicht auf die gegenwärtige Bundesrepublik
30 Vgl. etwa Friedrich Heckmann: Ethnische Minderheiten, Volk und Na-
und die Aktivitäten von Rechten wie Lummer zu beziehen und Stra-
tion. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. Stuttgart 1992, S.
tegien des Antirassismus auch nur zu diskutieren.
31ff.; Eckhard Dittrich/Frank-Olaf Radtke (Hrsg.): Ethnizität. Op-
23 Étienne Balibar: Die uneindeutigen Identitäten. In: kultuRRevolution. laden 1990.
Zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Heft 27, August 1992, S. 75
31 Philip Cohen: Gefährliche Erbschaften: Studien zur Entstehung ei-
24 Vgl. hierzu die Adaption der Ideologietheorie Althussers bei Michel ner multirassistischen Kultur in Großbritannien. In: Annita Kalpa-
Pêcheux: zu rebellieren und zu denken wagen! ideologien, wider- ka/Nora Räthzel (Hrsg.): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein,
stände, klassenkampf. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für ange- a.a.O., S. 81 – 144, hier: 97. Stuart Hall vertritt die Auffassung, in der
wandte diskurstheorie, Heft 5, Februar 1984, S. 61 – 65 und Heft 6, Reflexion über die Konzeptionen von kultureller Identität und Dif-
Juni 1984, S. 63 – 66. Pêcheux stellt darin das Konzept des regiona- ferenz entstehe eine Ethnizität neuen Typs, die sich auf die Erfah-
len Charakters ideologischer Herrschaft dar, das heißt der auf ein je- rung der Diaspora und auf die »Kulturen der Hybridität« stütze,
weils »spezialisiertes« Gebiet (etwa Kultur, Justiz, Religion, Familie, vgl. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte
Wissenschaft, Schule, politische Partei) bezogenen Gliederung der Schriften 2. Hamburg 1994. Die Aporien dieser Position allerdings
ideologischen Staatsapparate. sind an der Geschichte des Antisemitismus und der sogenannten Ju-
25 Vgl. Étienne Balibar: Die Nation-Form, a.a.O., S. 123ff.; siehe auch denemanzipation in Deutschland abzulesen.
– daran anknüpfend – meinen Beitrag »Ein Mythos, ein Staat, ein 32 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852).
Volk« in diesem Band. In: MEW 8, S.111 – 207, hier: S. 117
26 Vgl. Stuart Hall: Die Konstruktion von »Rasse« in den Medien. In: 33 Exemplarisch hierfür sind die Ausführungen von Huey Newton,
Ders.: Ausgewählte Schriften. Hamburg, Berlin 1989, S. 150 – 171 dem Mitbegründer der Black Panther Party, anläßlich eines Inter-
27 Michel Pêcheux: Über die Rolle des Gedächtnisses als interdiskursi- views im August 1968; in: Gerhard Amendt (Hrsg.): Black Power.
ves Material. Ein Forschungsprojekt im Rahmen der Diskursanalyse Dokumente und Analysen. Frankfurt a. M. 1970, S. 139 – 155.
und Archivlektüre. In: Manfred Geier/Herold Woetzel (Hrsg.): Das 34 Günther Jacob: Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Texte
Subjekt des Diskurses. Beiträge zur sprachlichen Bildung von Subjek- zu Rassismus und Nationalismus, HipHop und Raggamuffin. Berlin,
tivität und Intersubjektivität. Berlin 1983, S. 53ff. Vgl. auch Michel Amsterdam 1993, S.69. Das Interview mit Safiya Bukhari-Alston
Pêcheux: Les Vérités de La Palice. Linguistique, sémantique, philoso- findet sich in dem Band: Redaktionskollektiv ›Right on‹ (Hg.): Black
phie. Paris 1975. Einen umfassenden Einblick in die verschiedenen Power. Interviews mit (Ex-)Gefangenen aus dem militanten Schwar-

132 133
zen Widerstand. Berlin, Amsterdam 1993, S. 27 – 54, hier: S. 38. Vgl. 39 Vgl. etwa die historischen Darstellungen: Léon Poliakov: Der arische
auch die Dokumente in: Gerhard Amendt (Hrsg.): Black Power, Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Wien
a.a.O.; hier zum Beispiel George Murray: »Wir erklären, daß die 1971; George L. Mosse: Rassismus. Ein Krankheitssymptom in der
Grundfesten des Amerikanismus Lüge sind. Amerika ist der Vater Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Königstein/Ts. 1978; Ima-
der Lügner, der Prostituierten und der Mörder der Menschheit. nuel Geiss: Geschichte des Rassismus. Frankfurt a. M. 1988.
Wie wir das beweisen wollen? Ein Mann wie Humphrey sagt, das 40 Étienne Balibar: Gibt es einen »Neo-Rassismus«? A.a.O., S. 27
Problem seien die Verbrechen auf der Straße. Es geht nicht um die 41 Vgl. George L. Mosse: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche
Verbrechen auf der Straße. Es geht um die Verbrechen im Weißen Moral und sexuelle Normen. Reinbek 1987, S. 170ff.
Haus; die Homosexualität im Weißen Haus, die Verbrechen in den
42 Friedrich Hertz: Rasse und Kultur. Eine kritische Untersuchung der
Rathäusern, den Gerichten, Gefängnissen und Strafanstalten.«
Rassentheorien. 2., neu bearbeitete Auflage von »Moderne Rassen-
(S. 89) Ein weiteres Beispiel liefert Huey Newton in dem bereits zi-
theorien« (1904). Leipzig 1915, S. 8
tierten Interview: »Die schwarze Frau hatte es schwer, den schwar-
43 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente (Herbst 1887).In:
zen Mann zu achten, weil nicht einmal er selbst sich als Mann defi-
Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe hrsg. v. Giorgio Colli und
nierte, weil er keinen Verstand, keinen Geist hatte, weil die Ent-
Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage, Band 12. München
scheidungen ihm äußerlich waren. Aber wir, die Avantgardegruppe,
1988, S. 426 (= KSA 12, S. 426). Vgl. auch Comte Joseph Arthur de
die Black Panther Partei, haben zusammen mit den revolutionären
Gobineau: Essai sur l’inégalité des races humaines. 4 Bde. Paris 1853/55
schwarzen Gruppen unseren Geist und unsere Männlichkeit zurück-
(dt.: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen. 5 Bde. Stuttgart
gewonnen.« (S. 150) Sowohl Safiya Bukhari-Alston als auch Angela
1898ff.); zu Gobineaus Rassenkonstruktion siehe etwa Patrik von
Y. Davis berichten von der Zurückdrängung dieser heterosexisti-
zur Mühlen: Rassenideologien. Geschichte und Hintergründe. Berlin,
schen Stereotype in der Black Panther Party zu Beginn der siebziger
Bonn 1977, S. 52ff.
Jahre; siehe Angela Y. Davis: Schwarzer Nationalismus in den 60ern
und den 90ern. In: Diedrich Diederichsen (Hg.): Yo! Hermeneutics! 44 Bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts vertrat Francis
Schwarze Kulturkritik. Pop, Medien, Feminismus. Berlin, Amster- Galton entsprechende Auffassungen über die Züchtung von Men-
dam 1993, S. 205 – 210, hier: S. 209. Vgl. auch Michele Wallace: schen; zusammengefaßt in: Francis Galton: Hereditary Genius. Its
Black Macho. Wie ich es damals sah, wie ich es heute sehe. In: Eben- Laws and Consequences. London 1869 (dt.: Genie und Vererbung.
da, S. 55 – 69. Leipzig 1910).
35 Angela Y. Davis: Schwarzer Nationalismus in den 60ern und den 45 Vgl. Alfred Ploetz: Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der
90ern, a.a.O., S. 206 Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu
den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Berlin 1895;
36 Eldrige Cleaver: Offener Brief an Stokeley Carmichael, Juli 1969. In:
Wilhelm Schallmeyer: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker.
Gerhard Amendt (Hrsg.): Black Power, a.a.O., S. 189–194, hier: S. 189
Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie.
37 Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a. M. 1981,
Jena 1903; Wilhelm Schallmeyer: Vererbung und Auslese. Grundriß
S. 190 und 207
der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Rassedienst. 3., umge-
38 Dies gilt vor allem für Malcolm X, aber auch für die Black Panthers, arbeitet und vermehrte Auflage. Jena 1918. Siehe auch Peter Wein-
unter ihnen ist wohl Eldrige Cleaver der am häufigsten Zitierte. gart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der
Tatsächlich scheint die Geschichte der Black Panther Party, die auch Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988.
eine Geschichte der Ablösung vom kulturellen Nationalismus ist, in
46 Wilhelm Schallmeyer: Vererbung und Auslese, a.a.O., S. 262
den Erzählungen über Black Power zu verschwinden, gerade der
47 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (1882/1887). In:
Schritt über die Black Community hinaus wird so negiert. Die sozia-
KSA 3, S. 630 (Fünftes Buch, Nr. 377)
le Artikulation der Befreiung ist durch die Fixierung auf die Ethni-
zität verdrängt. Vgl. Angela Y. Davis: Schwarzer Nationalismus in 48 Wilhelm Schallmeyer: Vererbung und Auslese, a.a.O., S. 386; zur
den 60ern und den 90ern, a.a.O., S. 208ff.; auch Günther Jacob führt »chinesischen Kultur« vgl. darin den Abschnitt »Betrachtungen
in Agit-Pop eine Reihe von Beispielen hierfür an. über die älteste lebende Kulturnation« (S. 283ff.) und bereits in:

134 135
Wilhelm Schallmeyer: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, Prinzip der Gleichheit. Struckum 1988, S. 9 – 39.
a.a.O., S. 193ff. 62 Theodor W. Adorno: Antisemitismus und faschistische Propaganda.
49 Wilhelm Schallmeyer: Vererbung und Auslese a.a.O., S. 391 f. In: Ernst Simmel (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt a. M. 1993, S. 148
50 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift – 161, hier: S.152
(1887). In KSA 5, S. 263f. (Erste Abhandlung, Nr. 5) 63 Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951.
51 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente (Frühjahr 1884). In: Berlin 1991, S. 18 und 61
KSA 11, S. 69 64 Karl Marx: Zur Judenfrage (1843). In: MEW 1, S. 347 – 377, hier: S.
52 Vgl. Ludger Weß (Hrsg.): Die Träume der Genetik. Gentechnische 373 und 377
Utopien von sozialem Fortschritt. Nördlingen 1989. 65 Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Reli-
53 So etwa in Peter Emil Becker: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Stutt- gion im Mittelalter. Stuttgart 1988, S. 38 und 71f.
gart, New York 1988. Auch in der Bevölkerungspolitik spielen »Ras- 66 Vgl. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band I-VI Worms
senlehren« nach wie vor eine zentrale Rolle, vgl. Heidrun Kaupen- 1978 – 1987, Band VII-VIII Frankfurt a. M. 1988/89; bezogen auf
Haas (Hrsg.): Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Konti- Deutschland liefert folgende Darstellung einen Überblick: Ismar El-
nuität nazistischer Bevölkerungspolitik. Nördlingen 1986. Zur Fort- bogen/Eleonore Sterling: Die Geschichte der Juden in Deutschland.
setzung solcher Diskurse nach 1945 vgl. etwa Michael Billig: Die ras- Frankfurt a. M. 1988.
sistische Internationale. Zur Renaissance der Rassenlehre in der mo- 67 Zu Gustav Freytag vgl. Leo Löwenthal: Studien zum deutschen Ro-
dernen Psychologie. Frankfurt a. M. 1981. man des 19. Jahrhunderts. In: Schriften 2. Das bürgerliche Bewußt-
54 Vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Un- sein in der Literatur. Frankfurt a. M. 1981, insbesondere S. 349 – 363
gekürzte Ausgabe. München 1935, S. 317ff. 68 Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen. In: Sämtliche
55 Zur Nietzsche-Rezeption vgl. Bernhard H. F. Taureck: Nietzsche und Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Band 7: Schriften 1837 – 1844.
der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische Philosophie Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1981, S. 260
und ihre Folgen. Hamburg 1989. 69 Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des
56 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932). Stuttgart Publicums über die französische Revolution (1793). In: Fichtes Werke
1982, S. 107 und 305. Zu Heideggers Nietzsche-Lektüre vgl. Martin Band VI, Berlin 1971, S.149f.
Heidegger: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis. Ge- 70 Vgl. Detlev Claussen: Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Materialien
samtausgabe Band 47. Frankfurt a. M. 1989, insbesondere S. 58ff. zu einer verleugneten Geschichte. Darmstadt, Neuwied 1987,
57 Gottfried Benn: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erst- S. 11 – 15.
drucke. Frankfurt a. M. 1984, S. 341 und 343. Das zuletzt Zitierte ist 71 Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Ge-
in der Wiederauflage 1950 gestrichen; vgl. ebenda, S. 390. schichte des modernen Antisemitismus. Frankfurt a. M. 1987, S. 34;
58 Robert Hepp: Reproduktion und Identität. Kulturbiologische An- zu Fichte vgl. hier: S. 120ff.
merkungen zur »Identitätskrise« der Deutschen. In: Hubert Gros- 72 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohent-
ser (Hrsg.): Das Volk ohne Staat. Von der Babylonischen Gefangen- wurf). 2. Auflage, Berlin 1974, S. 65
schaft der Deutschen. Bad Neustadt a. d. Saale 1981, S. 77 – 110 73 Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus. In: Re-
59 Panajotis Kondylis: Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg. Berlin daktion diskus (Hg.): Küss den Boden der Freiheit. Texte der Neuen
1992, S. 54 Linken. Berlin, Amsterdam 1992, S. 425 – 437, hier: S. 432. Im fol-
60 Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen genden ohne weiteren Nachweis nach dieser Version zitiert. Vgl.
Vorurtheile (1881). In: KSA 3, S. 214 (Viertes Buch, Nr. 272: Die auch: Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus.
Reinigung der Rasse) Ein theoretischer Versuch. In: Kritik & Krise. Materialien gegen
61 Pierre Krebs: Die europäische Wiedergeburt. Aufruf zur Selbstbesin- Ökonomie und Politik. Nr. 4/5 (Sommer 1991), S. 6 – 10. Zum Be-
nung. Tübingen 1982, S. 34ff.; vgl. auch Pierre Krebs: Unser inne- griff Kapitalfetisch vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politi-
res Reich. In: Ders. (Hrsg.): Mut zur Identität. Alternativen zum schen Ökonomie. Dritter Band. Buch III: Der Gesamtprozeß der

136 137
kapitalistischen Produktion. Hrsg. von Friedrich Engels. MEW 25, Rassismus und Nationalismus der
S. 405.
74 Adolf Hitler: Mein Kampf, a.a. O., S. 228 und 232f. »Neuen Rechten« in der Bundesrepublik.
75 Vgl. Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 Die Aktualisierung der »Konservativen
(1850). In: MEW 7, S. 7 – 107, hier vor allem: S 43, sowie Karl Marx:
Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), a.a.O. Revolution« im Kontext des Neorassismus.
76 Ulrich Enderwitz: Antisemitsmus und Volksstaat. Zur Pathologie kapi-
talistischer Krisenbewältigung. Freiburg i. Br. 1991, S. 153
77 Vgl. Arthur Rosenberg: Der Faschismus als Massenbewegung. In:
Ders.: Demokratie und Klassenkampf. Ausgewählte Schriften. Frank-
furt a. M., Berlin, Wien 1974, S. 221 – 303, hier: S. 234ff. sowie den Die Diskussionen um den gegenwärtigen Rassismus bewe-
Beitrag »Faschismus und Demokratie« in diesem Band. gen sich auf einem ideologischen Terrain, das noch keines-
78 Ulrich Enderwitz: Antisemitsmus und Volksstaat, a.a.O., S. 104 wegs abgesteckt ist. Wenn der Neo-Rassismus, wie Étienne
79 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno. Dialektik der Aufklärung. Balibar meint, tatsächlich ein »Rassismus ohne Rassen«1 ist,
Philosophische Fragmente. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schrif- dann muß sich den Debatten um ihn das Objekt entziehen.
ten. Band 5. Frankfurt a. M. 1987, S. 290, hier: S. 197 Dem entspricht die Beobachtung, daß das Wort »Rasse«
80 Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute verschwindet, ohne daß die Bedeutungskonstitution von
(1962). In: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt »Rasse« beseitigt ist. In einer semiologischen Analyse wäre
a. M. 1971, S. 105 – 133, hier: S. 115f.
somit das Objekt weiterhin rekonstruierbar: »Rasse« ist
81 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschä- demnach ein »semiologischer Komplex«, ein »Bündel von
digten Leben. Frankfurt a. M. 1951, S. 141
Bedeutungen«, in dem somatische, soziologische, symboli-
82 Vgl. Étienne Balibar: Gibt es einen »Neo-Rassismus«? A.a.O., S.
sche und phantasmatische Merkmale ohne systematisch-ver-
31f. Zur Unterscheidung von universellem, superiorem und diffe-
rentiellem Rassismus vgl. Jost Müller: Rassismus und die Fallstricke
einheitlichendes Ordnungsprinzip verschmolzen sind. Das
des gewöhnlichen Antirassismus. In: Redaktion diskus (Hg.): Die Verschwinden des Wortes »Rasse« erscheint dagegen als ein
freundliche Zivilgesellschaft. Rassismus und nationalismus in »Oberflächeneffekt« der Transformation des Rassismus. Bei
Deutschland. Berlin, Amsterdam 1992, S. 25 – 44, insb. S. 33f. Aufrechterhaltung des grundlegenden »semiologischen
83 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente (1887 – 1889). In: Komplexes« von »Rasse« liefere das Wort »Kultur« einen
KSA 13, S. 365 Surrogat-Begriff.2
84 Detlev Claussen: Was heißt Rassismus? Darmstadt 1994, S. 22f. Vgl. Mit Bezug auf die Rassenlehre von Arthur Comte de
dagegen Alex Demirović: Vom Vorurteil zum Neorassismus. Das Gobineau (Essai sur l’inégalité des races humaines, 1853 – 1855)
Objekt ›Rassismus‹ in Ideologiekritik und Ideologietheorie. In: Re- hat der Anthropologe Claude Lévi-Strauss 1971 in Rasse und
daktion diskus (Hg.): Die freundliche Zivilgesellschaft, a.a.O., Kultur genau umgekehrt argumentiert. Gobineau setze die
S. 73– 93. »Rassen«, so Lévi-Strauss’ Argument, »lediglich als apriori-
85 Immanuel Wallerstein: Der historische Kapitalismus, a.a.O., S. 67 sche Bedingungen der Verschiedenheit der historischen
Kulturen voraus«; der »Rasse«-Begriff fungiert hier als Sur-
rogat des Kultur-Begriffes. »Wenn man also versucht, die
Rassenunterschiede aus Urzeiten herzuleiten«, hält Lévi-
Strauss fest, »verstellt man sich eben damit jede wirkliche
Einsicht, und das, womit man sich tatsächlich auseinander-

138 139
setzt, ist nicht die Verschiedenheit der Rassen, sondern die Im Kontext der »Neuen Rechten« der Bundesrepublik
Verschiedenheit der Kulturen.« Mehr noch, er meint, »daß scheint diese Verschiebung ebenfalls vollzogen worden zu
die Rasse – oder das, was man gemeinhin unter diesem Be- sein. Die Kritik des Biologismus von seiten der politischen
griff versteht – eine Funktion der Kultur unter anderen Rechten läßt sich allerdings bereits in der Weimarer Repu-
ist«.3 blik im Umkreis der sogenannten »Konservativen Revoluti-
Lévi-Strauss’ Beispiel ist in doppelter Weise lehrreich on« finden. So formuliert etwa Arthur Moeller van den
für die Rassismus-Debatte. Zum einen demonstriert er an Bruck 1924: »Die geistige Rassezugehörigkeit gehorcht an-
Gobineau, daß sich »Rasse« und Kultur ohne weiteres deren Gesetzen als die biologische Rassezugehörigkeit. Die
wechselseitig übersetzen lassen. Zum anderen insistiert er Rasseanschauung darf nicht zu einer deutschen Problematik
auf der »Verschiedenheit der Kulturen« als der fundamenta- führen, indem sie Menschen, die ihrer Rasse aus geistigen
len Kategorisierung menschlicher Geschichte. Seine Argu- Gründen angehören, aus biologischen Gründen aussch-
mentation verweist auf die Möglichkeit des Changierens ließt.«6 Mit dem Begriff »geistige Rassezugehörigkeit«
zwischen Biologismus und Kulturalismus wie auf die Forma- spielt Moeller auf die »politische Rassenontologie« Frie-
tion des differentiellen Rassismus, der auf der Unvereinbar- drich Nietzsches an, auf die sich etwa auch Oswald Spengler
keit der »eigenen« mit der »fremden« Kultur oder »Eth- und Ernst Jünger in ihrer Ablehnung des Biologismus stütz-
nie« beharrt und das Überschreiten ihrer Grenzen aussch- ten. Nietzsches »Rasse«-Begriff ordnet sich dabei in die Ar-
ließt. Die Transformationen des Rassismus lassen sich folg- tikulationen des superioren Rassismus ein. Seine »Herren-
lich nicht auf eine semantische Anpassung reduzieren.4 Rasse« soll »eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit ei-
Unter expliziter Berufung auf Lévi-Strauss verwirft die nem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur,
Nouvelle Droite in Frankreich den superioren Rassismus, in Manier bis ins Geistige«7 sein.
dem das Kriterium der Rangordnung, der »Minder-« oder Die Aufrechterhaltung des »Rasse«-Begriffs als ontolo-
»Höherwertigkeit« der »Rassen« im Mittelpunkt steht, als gische Kategorie kann als »Präkonstrukt«8 im Diskurs des
eine »Form von biologischem Reduktionismus«, da der differentiellen Rassismus der »Neuen Rechten« aufgefaßt
»Mensch-als-Mensch« letztlich »nicht der Natur, sondern werden. Präkonstrukt bezeichnet in der Diskursanalyse eine
der Kultur, nicht der Biologie, sondern der Geschichte« un- der Vielzahl diskursiver Ereignisse vorgängige, in einem an-
terstehe. In dieser Kritik des Biologismus bleibt der »Ras- deren sozio-historischen Kontext konstituierte Redeweise,
se«-Begriff unangetastet, er wird dem Kulturbegriff ledig- die aktualisierbare Wörter, Begriffe und Aussagen zur Ver-
lich untergeordnet. Der Kulturalismus ist allerdings nur ein fügung stellt. Diese aktualisierten interdiskursiven Elemente
Aspekt dieser Verschiebung, denn »Kulturen«, so führt der funktionieren in Produktion und Interpretation der Diskur-
Cheftheoretiker der Nouvelle Droite, Alain de Benoist, wei- se als evidente Referenz; sie können den Sinn einer Aussage
ter aus, liege »ausschließlich das Recht auf Verschiedenheit stabilisieren, indem sie unter Berufung auf die Autorität des
zugrunde«, und er setzt hinzu: »das Recht auf Verschieden- Autors auf etwas Schon-Immer-Gesagtes verweisen, sie kön-
heit zu fordern, schließt die Verpflichtung mit ein, dieses nen ihn aber zugleich auch destabilisieren, da sie die Bruch-
Recht auszuüben«.5 Diese Verpflichtung zur »Verschieden- stellen des Diskurses für die Interventionen anderer Diskur-
heit der Kulturen« soll die Abgrenzung und Abschirmung se liefern.
der »eigenen« Kultur gegenüber den »fremden« Kulturen In dieser Hinsicht fungieren die Aussagen der Autoren
zementieren, um so die »kulturelle Identität« vor den ver- der »Konservativen Revolution« in der Weimarer Republik
meintlichen Gefahren der »Vermischung« und »Verunrei- als Präkonstrukt der »Neuen Rechten« in der Bundesrepu-
nigung« zu bewahren. blik. Dabei ist die »Konservative Revolution« nicht in erster

140 141
Linie der »geistesgeschichtliche Hintergrund«9 der »Neuen sich auf die Grundlagen der kapitalistischen Ökonomie und
Rechten«, sondern ihre Aktualisierung folgt einer politisch- die technologische Entwicklung stütze.18 In beiden Fällen ist
diskursiven Strategie, die auf die Reartikulation von Konser- die »Konservative Revolution« immerhin als akzeptabler
vativismus und Faschismus zielt.10 Im Rekurs auf die konser- Oberbegriff zur Kennzeichnung einer zwar heterogenen,
vativ-faschistische Publizistik in der Weimarer Republik aber doch identifizierbaren Gruppe von konservativen Auto-
sollte einerseits die faschistische Ideologie in der Bundesre- ren aufgenommen, die die Konsequenzen aus dem gesell-
publik vom Odium des Nazismus gereinigt, andererseits die schaftlichen Modernisierungsprozeß gezogen hätten.19
konservative Politik aus den »Nachkriegsverirrungen des Betrachtet man allerdings die Genese des Terminus
Demutskonservatismus und des Gärtnerkonservatismus«11 »Konservative Revolution«, so läßt sich leicht feststellen,
herausgezogen werden. Der Bruch mit dem so denunzierten daß es sich hierbei nicht um einen Begriff, sondern um eine
Liberalkonservativismus der CDU blieb zunächst auf kleine Metapher handelt. Bereits im Februar 1921 hat Thomas
Intellektuellenzirkel und ihr publizistisches Umfeld be- Mann sie in den Süddeutschen Monatsheften für die »Synthe-
grenzt, die es den konservativ-faschistischen Intellektuellen se« von »Sinnlichkeit« und »Kritizismus« bei Nietzsche20
Arthur Moeller van den Bruck, Carl Schmitt, Hans Freyer, verwendet. Bei Moeller van den Bruck taucht sie 1923 in sei-
Ernst Jünger, Edgar Julius Jung oder Hans Zehrer und sei- nem Buch Das Dritte Reich als Synonym für Nationalismus
nem Kreis um die Zeitschrift Die Tat in ihrer Abrechnung auf.21 Weitergetragen und popularisiert wurde sie dann 1927
mit dem wilhelministischen Konservativismus gleichtun durch den in konservativen Kreisen vielbeachteten Essay
wollten.12 Erfolg war dieser Strategie dann in den achtziger Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation von Hugo von
Jahren beschieden, als es gelang, im Kontext der Debatte um Hofmannsthal, wo sie für den »synthesesuchenden Geist«
die »Identität der Deutschen«13 und der »Renaissance des als »eine innere Gegenbewegung« gegen Reformation und
Freund-Feind-Denkens«14, die »Neue Rechte« als »Schar- Renaissance steht.22 In allen drei Beispielen hat die Meta-
nier zwischen Neokonservatismus und Rechtsextremis- pher synthetische Funktion, ohne daß die Synthese ausgear-
mus«15 zu etablieren. beitet würde, an ihre Stelle tritt die hybride Wortbildung.
Offenbar ermöglicht die Metapher »Konservative Revo-
Metapher »Konservative Revolution« lution« eine Polyvalenz der Bedeutung, verschiedene Sinn-
In der neueren politischen Ideengeschichte und Soziologie Effekte, die noch keineswegs politisch-ideologisch stabili-
sind zwei gegensätzliche Tendenzen in der Bestimmung des siert sind. Erst am Ende der Weimarer Republik wird von
Begriffs »Konservative Revolution« festzustellen. Zum einen dem konzeptiven Intellektuellen Edgar Julius Jung der Ver-
wird die »Konservative Revolution« in der Weimarer Repu- such einer Definition der »Konservativen Revolution« un-
blik als »letzte Phase eines spezifisch deutschen Konservatis- ternommen. Für Jung bedeutet sie die »Wiederinachtset-
mus« definiert, der das »konservative Dilemma« zwischen zung aller jener elementaren Gesetze und Werte, ohne wel-
dem »Gewachsenen« und dem »Hergestellten«, zwischen che der Mensch den Zusammenhang mit der Natur und mit
»Wachsen« und »Machen«16 in einer »ausweglosen Absur- Gott« verliere und »keine wahre Ordnung aufbauen« kön-
dität« bezeichne und im Umschlag zur Revolution »streng- ne;23 sie sei die »deutsche Revolution«, um »die ewigen
genommen zu bestehen« aufhöre.17 Zum anderen erscheint Grundtatsachen des menschlichen Seins in Kultur, Gesell-
die »Konservative Revolution« lediglich als Durchgangssta- schaft und Wirtschaft« wiederherzustellen, die in »einer
dium einer Morphologie vom klassischen Konservativismus, neuen europäischen Epoche« den »Wertungsweisen und so-
der noch an die monarchistische Abwehr der bürgerlichen zialen Formen der 1789 durchgebrochenen liberalen Welt«
Revolution gekoppelt war, zum Neokonservativismus, der entgegengesetzt sein sollen.24 Politisch orientiert Jung auf

142 143
eine Verbindung von faschistischer Aktion und konservati- der Debatten und Auseinandersetzungen um die »Ideologie
ver Elite, die von allen unter dem Terminus »Konservative und Programmatik der Neuen Rechten« bis hin zu populär-
Revolution« versammelten Autoren angestrebt wird. Aller- journalistischen Darstellungen29 ist Effekt dieser politisch-
dings ist Jungs Definition aufgrund des christlich-konserva- diskursiven Strategie der »Neuen Rechten«, die in apologe-
tiven Elements unter ihnen keineswegs konsensfähig gewe- tischer Absicht Armin Mohler bereits 1950 in Die Konserva-
sen. Ernst Jünger etwa visierte eine technifizierte Kultur für tive Revolution in Deutschland. Grundriß ihrer Weltanschauun-
eine »neue Rasse« an, die sich in der »Gestalt« des sozial gen in Angriff genommen hatte. Seine inzwischen in der
unspezifizierten »Arbeiters« ausdrücken sollte.25 Der Tat- dritten Auflage auf zwei Bände angewachsene Kompilation
Kreis um Zehrer wollte die politischen Gegensätze zwischen aller weder explizit altkonservativen noch eindeutig an die
»Rechts und Links« in einer »Synthese« aus »Ständestaat NSDAP gebundenen Strömungen der Weimarer Rechten
und Rätestaat« als »einer dritten Form« des Staates aufhe- unter dem Sammelbegriff »Konservative Revolution«,
ben, um »eine neue Volksgemeinschaft zu schaffen unter einschließlich der Nationalbolschewisten und der völkischen
dem Mythos einer neuen Nation«.26 Übereinstimmung und bündischen Gruppen, setzt in dieser Absicht die meta-
herrscht unter den konservativ-faschistischen Protagonisten phorische Verwendung aus der Zwischenkriegszeit lediglich
lediglich darüber, daß das Ende der Ära des Liberalismus na- fort.30 Bezieht man sich jedoch auf die Artikulation von
he, wobei sie den Liberalismus als »konsequentes, umfassen- Konservativismus und Faschismus, um die Aktualisierung
des, metaphysisches System«27 auffassen und als Sammelna- der »Konservativen Revolution« im Diskurs der »Neuen
men für nahezu alle sozialen, politischen und ideologischen Rechten« zu erhellen, so ist man auf das Sammelsurium un-
Phänomene der verhaßten Weimarer Republik einsetzen. terschiedlicher, teils gegensätzlicher Konzeptionen und
Tatsächlich aber ergeben selbst die gemeinsamen positi- Aussagen verwiesen, das in der Metapher verdichtet ist.
ven Bezüge auf den Nationalismus und der gemeinsame
»Kampf gegen den Liberalismus« als metaphysisches Sy- Ethnopluralistischer und etatistischer Nationalismus
stem noch keinen »Kernbestand politischer, sozialer und Die politisch effektivsten Grundkonzeptionen der »Neuen
wirtschaftlicher Überzeugungen, der nur den Autoren der Rechten« in der Bundesrepublik lieferten im vergangenen
›Konservativen Revolution‹ eigen wäre und sie von anderen Jahrzehnt der ethnopluralistische Nationalismus einerseits
Richtungen unterschiede«, so daß er sich als »ein polemi- und der etatistische Nationalismus andererseits. Zugleich
scher, eine unverwechselbare Identität bezeichnender Be- bilden sie die Spannweite des Diskurses der »Neuen Rech-
griff« nicht aufrechterhalten läßt.28 Nur insofern »Konser- ten« bezüglich der Verbindung von Volk, Nation und Staat.
vative Revolution« oder »revolutionärer Konservatismus« Während nämlich die ethnopluralistische Konzeption die
den konservativ-faschistischen Protagonisten am Ende der »nationale Frage« nicht mehr an den Staat, also den Natio-
Weimarer Republik als Selbstbezeichnung diente, kann der nalstaat, sondern an das Volk, die »volkliche Identität« bin-
Terminus deskriptiv-historiographische Verwendung fin- det, die auf Separatismus, Irredentismus und Abkoppelung
den. In ideologiekritischer Perspektive ist darüber hinaus der nationalen und regionalen Minderheiten ziele31, faßt die
festzuhalten, daß er als Ober- oder Sammelbegriff ein Eu- etatistische Konzeption die Nation als »das Ganze eines als
phemismus darstellt, der die Artikulation von Konservativis- Staat organisierten Volkes«.32
mus und Faschismus verdeckt und so den Bestrebungen der Zunächst als ein »biologisches Ordnungsverhältnis zwi-
»Neuen Rechten« entgegenkommt, für sich selbst einen schen den Rassen«33 ausgeführt, kann die ethnopluralisti-
epochemachenden Begriff zu kreieren. Die Verbreitung des sche Konzeption in den achtziger Jahren als die weitrei-
Terminus »Konservative Revolution« im Zusammenhang chendste Verschiebung vom Biologismus zum Kulturalismus

144 145
angesehen werden. Das zentrale Thema der »Neuen Rech- Staates von den gesellschaftlichen Kräften«40, um den »Par-
ten«, die »nationale Identität«, ist hier als »Kulturrelativis- tikularismus« der bürgerlichen Gesellschaft im »Universa-
mus«, als Differenz der »kulturellen Identitäten« der Völker lismus« des Nationalstaates aufzuheben. Zu diesem Zweck
konzipiert, die dem »Universalismus« in Gestalt des Chri- wird die Legende der Weimarer Rechten von der Zer-
stentums, des kapitalistischen Liberalismus und des Marxis- störung der Nation, der »wahren Volksgemeinschaft« von
mus widerstrebe, denen die Zerstörung der »Ethnokulturen 1914 durch die »liberalistische Revolution von 1918«41 fort-
in Europa« zugeschrieben wird.34 In Anknüpfung an die Ju- gesetzt und in der Kennzeichnung der Bundesrepublik
gend- und Lebensreformbewegung vor 1914, die der »kon- Deutschland als »Produkt einer liberalen Restauration« ak-
servative Revolutionär« Jung 1931 als »kulturelle Wider- tualisiert.42 Die angestrebte »Rekonstruktion der nationalen
standsbewegung gegen liberalistische Zersetzung und mate- Identität« (Willms) und »Wiederherstellung Deutschlands«
rialistische Verflachung« darstellte und als notwendige Er- (Sander) verfolgt das Ziel einer nationalen Abgrenzung.
gänzung des politischen »Aufstands der Rechten« ansah35, Entsprechend definiert Bernard Willms: »Die Konkretion
wird Nationalismus als kulturrevolutionäres Konzept vorge- der Nation für sich oder nach innen ist also immer und un-
stellt. Doch nicht mehr eine »geistige Elite« liefert in der ausweichlich die Konkretion gegen andere und nach
ethnopluralistischen Konzeption den Ausgangspunkt für die außen.«43 Die »Konkretion der Nation« liefert die Ausfor-
Kulturalisierung der Politik, sondern die »Sprache der Kör- mulierung des nationalen Mythos, die etwa Carl Schmitt
per«, denn »nationale Entfremdung« werde »als körperli- und Hans Zehrer am italienischen Faschismus bewundert
che erfahren« und darum manifestiere »sich auch der Wi- haben. Den Etatisten der »Neuen Rechten« bedeutet er die
derstand körperlich«.36 Die Verknüpfung von Körper und Durchsetzung des »nationalen Imperativs« als »schicksals-
Kultur suggeriert einen »sinnlichen Nationalismus« (Eich- mächtige Fügung«44 und die »Notwendigkeit kollektiver
berg), der das Politische in fixierbar gedachten Formen des Selbstbehauptung« als unausweichliches »Schicksal«.45
Kulturellen transformiert. Im Europa-Konzept des etatistischen Nationalismus
Die »Erfassung des Politischen vom kulturellen Stand- konkretisiert sich der nationale Mythos als historische Missi-
punkt aus«37 ist – dem differentialistischen Modell des eth- on. Im März 1933 formuliert Edgar Julius Jung diese Missi-
nopluralistischen Nationalismus folgend – gegenwärtig als on in der Perspektive, »den chaotischen Zustand der weißen
Intervention in die Debatten um die multikulturelle und zi- Rasse zu überwinden« und »vom deutschen Mittelpunkt des
vile Gesellschaft reartikuliert: Zum einen wird er als »Eth- alten Europa aus ein neues Europäertum zu entwickeln«.46
nopluralismus im Kleinen« mit dem ansonsten von der Für die »Neue Rechte« besteht die Mission darin, daß die
»Neuen Rechten« zumeist bekämpften Multikulturalismus »Wiederherstellung Deutschlands in seinen historischen
verknüpft, der »im ethnopluralistischen Mikrokosmos mul- Grenzen« zugleich die »Wiederbegründung Europas« unter
tikultureller Urbanität« die Bewahrung der »eigenen« ge- deutscher Hegemonie sein soll, da Deutschland über »eine
genüber der »fremden« Identität herausfordere.38 Zum an- gewisse Erfahrung aus der hegemonialen Schirmherrschaft«
deren wird der ethnopluralistische Nationalismus als »drit- verfüge, »die es zur Blütezeit des Ersten Reiches einmal in
ter Weg« der »volklichen Bewegungen«, als »gesellschaftli- Europa ausübte«.47 Während im ethnopluralistischen Natio-
che Selbstorganisation« des Volkes gegen die »fortschrei- nalismus die »Gleichsetzung von Nation und Reich aus-
tende Kolonisierung der zivilen Gesellschaft durch die Kräf- geräumt werden«48 soll, stellt sich im etatistischen Nationa-
te von Staat und Markt« dargestellt.39 lismus die Vorstellung eines nunmehr »Vierten Reiches«
Im Unterschied dazu berufen sich die etatistischen Na- (Sander) wieder ein. Aber auch in der spirituell-kulturalisti-
tionalisten auf die Forderung nach der »Emanzipation des schen Version einer »europäischen Wiedergeburt« im Dis-

146 147
kurs der »Neuen Rechten« wird Deutschland die »hegemo- zu definieren, um sie durch eine »Zäsur biologischen Typs«
niale Schirmherrschaft« zugewiesen.49 Hierdurch ist eine differenzieren zu können.56
Verbindung zwischen Kulturalismus und »nationalem Impe- Die Anerkennung der Differenz der Nationen wie der
rativ« hergestellt, die sich mit dem ethnopluralistischen Na- Kulturen ist im Diskurs der »Neuen Rechten« dem Primat
tionalismus zu dem »Modell einer heterogenen Welt homo- der »nationalen Homogenität« untergeordnet, das Carl
gener Völker« (Krebs) verschmelzen kann. Schmitt mit der Konsequenz der »Ausscheidung oder Ver-
Zwar wird im etatistischen Nationalismus unter Beto- nichtung des Heterogenen« zur »Substanz« des Demokra-
nung der Historizität die rassistische Begründung der Na- tie-Begriffes erklärt hatte.57 Das faschistische Projekt einer
tion als »theoretische Verdinglichung« der »Idee der Na- Umdeutung von Demokratie in ein autoritäres Repräsenta-
tion«50 und im ethnopluralistischen Nationalismus ein tionsmodell von politischer Führung und Volk als homoge-
»Denken im Sinne einer etwaigen gleichbleibenden natio- ner Einheit dementiert soziale Machtverhältnisse im Inne-
nalen Substanz« abgewiesen. Doch ist zugleich dem »Natio- ren und verlagert sie nach außen. In dieser Hinsicht geht es
nalismus der Neuzeit ... in seiner konkreten historischen der »Neuen Rechten« vor allem darum, »Demokratisie-
Entwicklung eine deutliche Tendenz zum Bezugssystem des rung« als »Nationalisierung« darzustellen, um sie so der
Volkstums mit den Kriterien Sprache, Geschichte und ge- Kritik der Politik und der Auseinandersetzung um die kon-
meinsame Abstammung«51 zugeschrieben. Und es wird dar- kreten Formen parlamentarischer Repräsentation und
an festgehalten, daß die »Frage nach ›Rasse‹ als einer biolo- selbsttätiger Organisierung zu entziehen, in denen soziale
gischen Grundlage erfahrbarer Gemeinsamkeiten ... immer Ungleichheit und politische Ungerechtigkeit erst artikulier-
noch eine der politisiertesten Fragen der Gegenwart« sei. bar sind. Dieses Ziel der »Neuen Rechten« scheint im Pro-
Mehr noch, die »nationale Selbstbehauptung« umfasse zeß der deutsch-deutschen Vereinigung erreicht, der sich
»nicht mehr nur den Kampf um die ›Seele der Nation‹ im ideologisch als »Wiedervereinigung« vollzogen hat, wobei
Sinne der Erneuerung des Nationalbewußtseins, sondern als unter penetranter Berufung auf das »Selbstbestimmungs-
Folge auch den Kampf um ihren ›Körper‹, d.h. die biologi- recht der Deutschen« die Vorstellung »nationaler Homoge-
schen Bedingungen ihrer Selbstbehauptung als dieser, also nität« als Staatsprinzip propagiert wurde und so der öffentli-
Probleme des Umgangs mit den Fremden und mit der eige- che Raum dem seit Beginn der achtziger Jahre grassierenden
nen Fortpflanzung«.52 Nationalismus und Rassismus zur Verfügung gestellt ist.
Genau solche Formulierungen markieren die Bruchstel- Spekulationen über das Ende der »Neuen Rechten« ent-
len, an denen der biologistische Diskurs im Kontext der behren daher jeder Grundlage. Nach wie vor sucht sie in der
»Neuen Rechten« expandieren kann.53 Bereits in der Wei- Verbindung zwischen Körper und Kultur die »Rasse« oder
marer Republik waren die Übergänge zwischen der Volks- »Ethnie« aufzufinden und die Nation zu befestigen. Wenn
tumsideologie, dem geistig-kulturellen und dem biologi- sich dieser Versuch gegenwärtig vor allem auf eine Revision
stisch-naturalistischen Rassismus fließend, als die politische der Migrationsprozesse der vergangenen vierzig Jahre in
Rechte den »Kampf gegen die Überfremdung« und die Europa konzentriert, kann sich linke Politik nicht – wie die
»Reinerhaltung der völkischen Substanz« forderte.54 Auch heutigen Sozialpatrioten es wollen – auf eine »nationale Im-
gegenwärtig werden solche Übergänge etwa im Kontext der migrationspolitik« festlegen lassen, die selbst »eine gewisse
»ökologischen Deutungsmuster des rechten Lagers«, im Homogenität der Einheimischen« unterstellt und »eine Ge-
Begriff des »Lebensschutzes«55, aber vor allem in der Bevöl- genüberstellung von Einheimischen und Immigranten« be-
kerungspolitik deutlich, in der der Rassismus nach Foucault inhaltet.58 Der Schritt von der zweifellos notwendigen
die Funktion hat, Bevölkerung als ein »biologisches Feld« Theorie der Nation-Form zur praktischen Anerkennung der

148 149
Nation als der verewigten Form des Politischen bedeutet die Metapher und Interdiskurs. In: Jürgen Link u.a. (Hrsg.): Bewegung
freiwillige Unterwerfung unter die nationale Ideologie. In und Stillstand in Metaphern und Mythen. Stuttgart 1984, S. 93 – 99.
diese Ideologie aber sind vor dem Hintergrund der Migra- 9 Hans-Gerd Jaschke: Nationalismus und Ethnopluralismus. Zum
tionsprozesse der Gegenwart die Artikulationen des Neoras- Wiederaufleben von Ideen der »Konservativen Revolution«. In: In-
stitut für Sozialforschung (Hg.): Aspekte der Fremdenfeindlichkeit.
sismus eingegliedert. Wer vorgibt, Nationalismus und Ras-
Beiträge zur aktuellen Diskussion. Frankfurt a. M., New York 1992,
sismus ließen sich in diesem Kontext auseinanderhalten, S. 101–116, hier: S. 103. Die ideengeschichtliche Rekonstruktion des
spielt unwillkürlich den Protagonisten der »Neuen Rech- Rechtsextremismusforschers und Mitarbeiters am Frankfurter Insti-
ten« in die Hände und befördert deren Strategie der Rena- tut für Sozialforschung stieß bei den Protagonisten der »Neuen
tionalisierung und Kulturalisierung von Politik. Rechten« auf so viel Zustimmung, daß sie diesen ursprünglich in der
Beilage von Das Parlament erschienenen Aufsatz in ihr Jahrbuch auf-
genommen haben; vgl. Theo Homann/Gerhard Quast (Red.): Jahr-
Anmerkungen buch zur Konservativen Revolution 1994, Köln 1994, S. 197–213. Der
1 Étienne Balibar: Gibt es einen »Neo-Rassismus«? In: Ders./Imma- Autor hat, wie die Herausgeber betonen, ihnen den Beitrag »zur
nuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Nachveröffentlichung zur Verfügung gestellt« (ebd., S. 402), ob-
Hamburg, Berlin, S. 23 – 38, hier: S. 28 gleich er ihre politischen Ziele nicht teilt. Diese Veröffentlichungs-
2 Colette Guillaumin: RASSE. Das Wort und die Vorstellung. In: Uli strategie gehört zu dem diskursiven Verwirrspiel, das die »Neue
Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Rechte« in den vergangenen Jahren betrieben hat. Doch nicht allein
Alten Welt? Hamburg 1991, S. 159 – 173, hier: S. 167 und 171; vgl. die Publikationspraxis ist hier von Interesse, symptomatisch ist viel-
auch dies.: Zur Bedeutung des Begriffs »Rasse«. In: Rassismus und mehr das Verfahren einer unkritischen Rekonstruktion der »Konser-
Migration in Europa. Hrsg. v. Institut für Migrations- und Rassismus- vativen Revolution« in der gegenwärtigen Rechtsextremismusfor-
forschung e.V. Hamburg, Berlin 1992, S. 77 – 87. schung, von dem sich die Epigonen der Weimarer Rechten anschei-
nend eine ideengeschichtliche Aufwertung versprechen können.
3 Claude Lévi-Strauss: Rasse und Kultur (1971). In: Ders.: Der Blick
aus der Ferne. München 1985, S. 21 – 52, hier: S. 22 und 38 10 Vgl. Margret Feit: Die »Neue Rechte« in der Bundesrepublik. Organisa-
tion, Ideologie, Strategie. Frankfurt a. M., New York 1987, S. 12
4 Vgl. Jost Müller: Rassismus und die Fallstricke des gewöhnlichen
11 Armin Mohler: Von rechts gesehen. Stuttgart 1974, S. 63
Antirassismus. In: Redaktion diskus (Hg.): Die freundliche Zivilgesell-
12 An zwei Beispielen läßt sich verdeutlichen, wie die konservativ-fa-
schaft. Rassismus und Nationalismus in Deutschland. Berlin, Am-
schistischen Intellektuellen in der Weimarer Republik das NS-Regi-
sterdam 1992, S. 25 – 44
me gleichsam herbeigeschrieben haben, obwohl sie andere politi-
5 Alain de Benoist: Der Rassismus – Was ist das? In: Stefan Ulbrich
sche Optionen, nämlich die Fortsetzung der Präsidialdiktaturen von
(Hrsg.): Multikultopia. Gedanken zur multikulturellen Gesellschaft.
1932, verfolgten. Das erste Beispiel liefert Edgar Julius Jung, einer
Vilsbiburg 1991, S. 197 – 210, hier: S. 202 und 208
der prominentesten Publizisten der Weimarer Rechten und Verfas-
6 Zit. n. Hans-Joachim Schwierskott: Arthur Moeller van den Bruck und ser von Reden für Franz von Papen, den Reichskanzler von 1932
der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik. Göttingen, und späteren Vizekanzler in Hitlers Kabinett. Im Juni 1932 schreibt
Berlin, Frankfurt a. M. 1962, S. 103. Jung: »Der Nationalsozialismus ist unsere Volksbewegung, muß von
7 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885 – 1887. KSA uns geschützt werden und darf niemals von dem Blickwinkel aus an-
12. München 1988, S. 426; vgl. auch Bernhard H. F. Taureck: Nietz- gegriffen werden, von dem aus der Liberalismus und das sterbende
sche und der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische Phi- Bürgertum ihn ansehen«; Edgar J. Jung: Neubelebung von Weimar?
losophie und ihre Folgen. Hamburg 1989, S. 27ff. In: Deutsche Rundschau, 58 Jg. 1931/32, Heft 9, S. 153 – 162, hier:
8 Vgl. Michel Pêcheux: Über die Rolle des Gedächtnisses als interdis- S. 160. Das zweite Beispiel gibt der Herausgeber der konservativ-fa-
kursives Material. Ein Forschungsprojekt im Rahmen der Diskurs- schistischen Monatszeitschrift Die Tat, Hans Zehrer, der im Januar
analyse und Archivlektüre. In: Manfred Geier u.a. (Hrsg.): Das Sub- 1932 schreibt: »Der Nationalsozialismus ist der Anfang einer Bewe-
jekt des Diskurses. Berlin 1983, S. 50 – 58; siehe auch Michel Pêcheux: gung, in ihm bricht ein Volk auf und beginnt zu marschieren. Dieser

150 151
Marsch wird vorläufig immer nur vorwärts gehen, selbst bei einem zu verankern; vgl. vor allem Peter Brandt/Herbert Ammon (Hrsg.):
Verfall der Partei, er ist nicht wieder zur Rückkehr und Umkehr zu Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit
bringen«; Hans Zehrer: Die eigentliche Aufgabe. In: Die Tat, 23. Jg. seit 1945. Reinbek 1981. Erinnert sei auch an die Literaturzeitschrift
1931/32, Heft 10, S. 777 – 800, hier: S. 792. Zehrer ist Ende des Jah- im Wagenbach Verlag: Tintenfisch 15. Thema: Deutschland. Das
res publizistischer Propagandist der Präsidialdiktatur von Schlei- Kind mit den zwei Köpfen. Hrsg. von Hans Christoph Buch. Berlin
chers, der das Ziel verfolgte, aus Teilen der NSDAP und aus natio- 1978. Kritisch zur »Identitäts«-Debatte bereits Arno Klönne:
nalorientierten sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionären Zurück zur Nation? Kontroversen zu deutschen Fragen. Köln 1984.
im ADGB seiner Diktatur eine Massenbasis zu verschaffen; vgl. Axel 14 Vgl. etwa Richard Saage: Rückkehr zum starken Staat? Studien über
Schild: Militärdiktatur mit Massenbasis. Die Querfrontstrategie der Konservatismus, Faschismus und Demokratie. Frankfurt a. M. 1983.
Reichswehrführung um General von Schleicher am Ende der Wei- 15 So Wolfgang Gessenharter: Die »Neue Rechte« als Scharnier zwi-
marer Republik. Frankfurt a. M., New York 1981. Die Apologie des schen Neokonservatismus und Rechtsextremismus in der Bundesre-
Nationalsozialismus als »deutsche Bewegung« findet sich folglich publik. In: Rainer Eisfeld u.a. (Hrsg.): Gegen Barbarei. Essays Robert
auch bei den Protagonisten der »Konservativen Revolution«. Im M.W. Kempner zu Ehren. Frankfurt a. M.1989, S. 424 – 452.
folgenden werde ich mich weiterhin vor allem auf Jung und Zehrer
16 Vgl. Karl Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des
beziehen, da sie auch direkt politisch organisierend gewirkt haben.
Wissens. Frankfurt a. M. 1984.
Jung wurde am 23. Juni 1934 als Organisator konservativer Opposi-
17 Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutsch-
tionskreise verhaftet und eine Woche später erschossen. Zehrer
land. Frankfurt a. M. 1986, S. 243f.
schied im September 1933 aus der Tat-Redaktion aus und tauchte
für einige Jahre unter, aber 1939 war er wieder in Berlin als Verlags- 18 Vgl. Kurt Lenk: Deutscher Konservatismus. Frankfurt a. M., New
lektor tätig; nach 1945 setzte er seine publizistische Tätigkeit vor al- York 1989 sowie bereits Heide Gerstenberger: Der revolutionäre Kon-
lem im Springer-Verlag fort: 1953 wird er Chefredakteur der Welt, servatismus. Ein Beitrag zur Analyse des Liberalismus. Berlin 1969.
bis 1961 schrieb er für die Bild-Zeitung Glossen unter dem Titel 19 Ingeborg Maus: Gesellschaftliche und rechtliche Aspekte der »Kon-
»Hans im Bild«. Zum Tat-Kreis in der Weimarer Republik vgl. auch servativen Revolution«. In: Dies.: Rechtstheorie und politische Theorie
Klaus Fritzsche: Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege im Industriekapitalismus. München 1986, S. 141 – 171
in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft: Das Beispiel des »Tat«- 20 Thomas Mann: Gesammelte Werke. Band 10. Frankfurt a. M. 1960,
Kreises. Frankfurt a. M. 1976. Und zur publizistischen Tätigkeit von S. 598
Mitgliedern des Tat-Kreises in der bundesrepublikanischen Presse 21 Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich. 3. Aufl. Hamburg
vgl. Otto Köhler: Wir Schreibmaschinentäter. Journalisten unter Hit- 1931, S. 234
ler – und danach. Köln 1989. 22 Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Na-
13 Vgl. Werner Weidenfeld (Hrsg.): Die Identität der Deutschen. Bonn tion. In: Neue Rundschau, 38. Jg. 1927, Heft 7, S. 11–26, hier: S. 25f.
1983 sowie ders. (Hrsg.): Die Frage nach der deutschen Identität. Bonn 23 Edgar J. Jung: Deutschland und die konservative Revolution. In:
1985 (Die beiden Bücher sind als Band 200 und 221 der Schriften- Deutsche über Deutschland. München 1932, S. 380
reihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.); siehe
24 Edgar J. Jung: Neubelebung von Weimar? A.a.O., S. 156f.
auch Studienzentrum Weickersheim (Hrsg.): Deutsche Identität heute.
25 Vgl. Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932).
Mainz 1983; Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.): Heimat und Nation.
Stuttgart 1982, insb. S. 304ff.
Zur Geschichte und Identität der Deutschen. Mainz 1984. Im Um-
kreis der »Neuen Rechten« erschien bereits 1982 der Sammelband 26 Hans Zehrer: Rechts oder Links? In: Die Tat, 23. Jg. 1931/32, Heft
Caspar von Schrenck-Notzing/Armin Mohler (Hrsg.): Deutsche 7, S. 505 – 559, hier: S. 559
Identität. Krefeld 1982. Es handelt sich also um eine regelrechte pu- 27 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentaris-
blizistische Initiative um das Thema »deutsche Identität« zu Beginn mus. 6. Aufl. nach der 2. Aufl. von 1926. Berlin 1985, S. 45. Vgl. zur
der achtziger Jahre zu etablieren, die von den Regierungsparteien Kritik auch Herbert Marcuse: Der Kampf gegen den Liberalismus
CDU/CSU bis hin zu den konservativ-faschistischen Intellektuellen in der totalitären Staatsauffassung. In: Zeitschrift für Sozialforschung,
getragen wird. Aber auch auf der Linken wird versucht, das Thema 3. Jg. 1934, Heft 2, S. 161 – 195, insb. S. 164

152 153
28 Stefan Breuer: Die »Konservative Revolution« – Kritik eines My- 38 Marcus Bauer: Vielfalt gestalten. Rechte Perspektiven zum Projekt
thos. In: Politische Vierteljahresschrift, 31.Jg. 1990, Heft 4, S. 587 – »multikulturelle Gesellschaft«. In: Stefan Ulbrich (Hrsg.): Multikul-
607, hier: S. 603; vgl. auch ders.: Anatomie der Konservativen Revoluti- topia, a.a.O., S. 137 – 157
on. Darmstadt 1993. Hier heißt es: »›Konservative Revolution‹ ist 39 Henning Eichberg: Das revolutionäre Du. Über den dritten Weg.
ein unhaltbarer Begriff, der mehr Verwirrung als Klarheit stiftet. Er In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 38. Jg. 1991, Heft 12, S.
sollte deshalb aus der Liste der politischen Strömungen des 20. Jh. 1128 – 1134; vgl. ders.: Das »gute Volk«. Über multikulturelles Mit-
gestrichen werden.« (S. 181) Breuer schlägt – allerdings nicht eben einander. In: Ästhetik & Kommunikation, 23. Jg. 1994, Heft 84,
originell – vor, besser von »neuem Nationalismus« zu sprechen. Die S. 76 – 82
Webersche Modernisierungstheorie, die er sich als Bezugsrahmen 40 Edgar J. Jung: Verlustbilanz der Rechten. In: Deutsche Rundschau, 59
gewählt hat, verstellt ihm jedoch den Blick auf die gegenwärtigen Jg. 1932/33, Heft 4, S. 1 – 5, hier: S. 1f.
Verwirrungen, wie sie nicht nur an den Blättern der »Neuen Rech-
41 Hans Zehrer: Rechts oder Links? A.a.O., S. 535 und 542
ten« zu beobachten sind. Dort findet sich das »Grundmuster des
42 Hans-Dietrich Sander: Der nationale Imperativ. Ideengänge und
neuen Nationalismus« – »die antiwestliche Rhetorik, die sich naht-
Werkstücke zur Wiederherstellung Deutschlands. Krefeld 1980, S. 40
los mit der Begeisterung für die modernste Waffentechnik verbin-
det; die xenophobe und chauvinistische Exaltiertheit; die Neigung 43 Bernard Willms: Die Deutsche Nation, a.a.O., S. 52
zu paranoiden Konstruktionen, die allenthalben satanische Mächte 44 Hans-Dietrich Sander: Der nationale Imperativ, a.a.O., S. 158
am Werk sehen; der verbohrte Partikularismus, der zugleich eine 45 Bernard Willms: Die Deutsche Nation, a.a.O., S. 54
weltgeschichtliche Sendung der eigenen Kultur postuliert«. Die 46 Edgar J. Jung: Einsatz der Nation. In: Deutsche Rundschau, 59 Jg.
»Erben des neuen Nationalismus« vermutet Breuer »in Teheran 1932/33, Heft 6, S. 155 – 160, hier: S. 155f.
und Bagdad, in den Hauptstädten Schwarzafrikas und Südostasiens« 47 Hans-Dietrich Sander: Der nationale Imperativ, a.a.O., S. 166f.
und in Osteuropa, wo die »slawophile Missionsidee ihr Rinascimen-
48 Henning Eichberg: Abkoppelung, a.a.O., S. 99
to« (S. 201) erlebe, nur nicht in Deutschland. Vgl. meine Kritik in:
49 Vgl. Pierre Krebs: Die europäische Wiedergeburt. Aufruf zur Selbstbe-
konkret 8/93.
sinnung. Tübingen 1982; ders.: Unser inneres Reich. In: Ders.
29 Vgl. etwa Thomas Assheuer/Hans Sarkowicz,: Rechtsradikale in
(Hg.): Mut zur Identität. Alternativen zum Prinzip der Gleichheit.
Deutschland. Die alte und die neue Rechte. 2., aktualisierte Aufl.
Bd. 2. Struckum 1988, S. 9 – 39.
München 1992, S. 139ff.
50 Bernard Willms: Die Deutsche Nation, a.a.O., S. 98
30 Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 –
51 Henning Eichberg: Abkoppelung, a.a.O., S. 28 und 99
1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen. Stuttgart 1950; 3. Aufl.
mit dem Untertitel: Ein Handbuch, 2 Bde. Darmstadt 1989 52 Bernard Willms: Die Deutsche Nation, a.a.O., S. 55 und 279
31 Henning Eichberg: Abkoppelung. Nachdenken über die neue deut- 53 Vgl. Jörg Rieck: Zur Debatte der Vererblichkeit der Intelligenz. In:
sche Frage. Koblenz 1987, S. 169ff. Pierre Krebs (Hg.): Das unvergängliche Erbe. Alternativen zum Prin-
zip der Gleichheit. Bd.1. Tübingen 1981, S. 315 – 371; Rolf Kosiek:
32 Bernard Willms: Die Deutsche Nation. Köln-Lövenich 1982, S. 54
Die Wirklichkeit des Volkes in der modernen Welt. Wissenschaftli-
33 Günter Bartsch: Revolution von rechts? Ideologie und Organisation
che Erkenntnisse zum Volksbegriff. In: Stefan Ulbrich (Hrsg.): Mul-
der Neuen Rechten. Freiburg 1975, S. 47
tikultopia, a.a.O., S. 109 – 136.
34 Henning Eichberg: Nationale Identität. Entfremdung und nationale
54 Vgl. Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer
Frage in der Industriegesellschaft. München, Wien 1978, S. 19 und
Republik. München 1978, S. 249f.
29f.
55 Vgl. Thomas Jahn/Peter Wehling: Ökologie von rechts. Nationalismus
35 Edgar J. Jung: Aufstand der Rechten. In: Deutsche Rundschau, 58. Jg.
und Umweltschutz bei der Neuen Rechten und den »Republika-
1931/32, Heft 2, S. 81 – 88, hier: S. 81
nern«. Frankfurt a. M., New York 1991; Volkmar Woelk: Natur und
36 Henning Eichberg: Abkoppelung, a.a.O., S. 203 Mythos. Ökologiekonzeptionen der »Neuen« Rechten im Span-
37 Edgar J. Jung: Aufstand der Rechten, a.a.O., S. 87 nungsfeld zwischen Blut und Boden und New Age. Duisburg 1992.

154 155
56 Michel Foucault: Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Faschismus und Demokratie
Rassismus. In: diskus, 41. Jg. 1992, Heft 1, S. 51 – 58, hier: S. 55; vgl.
auch Étienne Balibar: Gibt es einen »Neo-Rassismus«? A.a.O., S.
34f.
57 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentaris-
mus, a.a.O., S. 13; siehe auch ders.: Verfassungslehre. 7. Aufl. nach der
1. Aufl. von 1928. Berlin 1989, S. 231ff. Hier stellt Schmitt u. a. ei-
nen Katalog von Methoden zusammen, die dazu dienen sollen, die
vermeintliche »nationale Homogenität zu sichern«.
Kein Begriff der politischen Theorie im 20. Jahrhundert
58 Ute Knight/Wolfgang Kowalsky: Deutschland nur den Deutschen? Die
wird gegenwärtig so verächtlich behandelt wie der des Fa-
Ausländerfrage in Deutschland, Frankreich und den USA. Erlangen, schismus. Wer ihn in die theoretische Reflexion aktueller
Bonn, Wien 1991, S. 60 gesellschaftlicher Tendenzen einbezieht, wird kurzerhand
des moralisierenden Anachronismus, des marxistischen
Dogmatismus oder einfach der Apologie parteikommunisti-
scher Politik geziehen. Der bürgerlichen Öffentlichkeit heu-
te gilt Faschismustheorie als schiere kommunistische Legiti-
mationsideologie, die an einem vermeintlich ebenso »anti-
demokratischen« wie »antimodernen Mythos des Anti-Fa-
schismus«1 mitstricke. Solcherlei grobe Vereinfachungen
spekulieren auf die Amnesie, die historische Niederlagen
hinterlassen können. Wo im Schatten des kapitalistischen
Triumphs die praktischen wie theoretischen Unterschiede
zwischen den Versuchen, sich ihm entgegenzustellen, un-
kenntlich gemacht und geleugnet werden, sollen schließlich
alle kapitalismuskritischen Ansätze der Linken dem Verges-
sen anheimfallen.
Die radikale Linke träfe ein solcher Gedächtnisschwund
auf doppelte Weise. Zum einen vergrößert er die Kluft zwi-
schen politischer Praxis und theoretischer Reflexion. Wenn
daher ein verkürzter Begriff von Faschismus (»Hinter dem
Faschismus steht das Kapital«) zum handlungsanleitenden
Instrument antifaschistischer Organisierung wird, können
weder die Funktionen des repressiven Staatsapparats noch
die Gefahren faschistischer Tendenzen hinreichend be-
stimmt und eingeschätzt werden. Zum anderen befördert
dieses Vergessen die Durchsetzung und Verbreitung des
Staatsschutzdispositivs »Extremismus«, das »Links- und
Rechtsextremismus« als »Bündnispartner« darstellt. Alle
antifaschistischen Gruppen stehen somit unter jenem Ver-
dacht, den »Extremismus-Experten« wie Uwe Backes und

156 157
Eckhard Jesse ihnen anzuheften suchen, nämlich letztlich politischen Auseinandersetzung in den achtziger Jahren
kein Interesse daran zu haben, daß der »Rechtsextremis- vollzogen hat. Erst Mitte der sechziger Jahre setzte in der
mus«, den »sie zu bekämpfen vorgeben, gänzlich von der Bundesrepublik eine Faschismus-Debatte ein, die sich aus
Bildfläche verschwindet. Sie wollen vielmehr das hervorru- der antikommunistischen Umklammerung und der Apolo-
fen, was sie so heftig attackieren. Denn je stärker der extre- gie der »formierten Gesellschaft« zu lösen vermochte. Un-
mistische Antipode ist, umso mehr Resonanz versprechen ter dem Eindruck des »Auschwitz-Prozesses« und der Be-
sie sich für die eigene Richtung.«2 schwörungsformeln eines »hilflosen Antifaschismus«4 rich-
In das Staatsschutzdispositiv »Extremismus« eingeglie- tete sich das Erkenntnisinteresse dabei auf die historischen
dert ist sowohl die Rede vom »Mythos des Anti-Faschis- und soziostrukturellen Bedingungen der faschistischen
mus«, die ohne theoretische Auseinandersetzung mit den Herrschaft, vor allem des NS-Regimes, auf die gesellschaft-
unterschiedlichen Ansätzen der Faschismusanalyse sowie lichen Bedingungen, die die NS-Vernichtungspolitik er-
den strategischen Optionen des Antifaschismus auskommt, möglicht hatten. Nicht zuletzt die Neue Linke begann in
als auch der Diskurs über den »Rechtsextremismus«, der der Kritik an der vorherrschenden Totalitarismustheorie ei-
durch den Kontext der »Extremismus-Theorie« unweiger- ne intensive Auseinandersetzung mit den faschismustheore-
lich den Begriff des »Linksextremismus« hervorruft. Durch tischen Ansätzen, die vor allem in den dreißiger und vierzi-
die formale Entgegensetzung von Extremismus und Demo- ger Jahren von linkssozialistischen und oppositionell-kom-
kratie wird nicht nur der Status quo verteidigt, sondern es munistischen Gruppen und im Kontext der Kritischen
werden zugleich »Gemeinsamkeiten der Extremisten« sug- Theorie entwickelt wurden.5
geriert, die aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen Während also damals die Entstehungsphase faschisti-
keiner genauen inhaltlichen Überprüfung standhalten, we- scher Regimes im Mittelpunkt stand, rückte in den achtziger
der im Hinblick auf die sozialen Traditionen noch im Hin- Jahren die Endphase des NS-Regimes in das Zentrum der
blick auf die gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Die hi- Auseinandersetzung. In dem Buchtitel Zweierlei Untergang.
storische Amnesie ist schließlich komplett, wenn – in Analo- Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des eu-
gie etwa zu den geschichtsklitternden Auffassungen Ernst ropäischen Judentums (1986)6 spricht der Historiker Andreas
Noltes3 – behauptet wird, daß der »Linksextremismus« den Hillgruber die historiographische Nivellierung der NS-Ver-
»Rechtsextremismus« erzeuge, Antifaschismus mithin als nichtungspraxis programmatisch aus, um die es den Konser-
Ursache des Faschismus erscheint. Um der politischen Am- vativen im »Historikerstreit« ging. Doch nicht das Pro-
nesie entgegenzuwirken, die sich in der verbreiteten Rede gramm einer Restauration deutscher Nationalgeschichte
vom Rechtsextremismus niedergeschlagen hat, beziehen selbst ist für den angesprochenen Perspektivenwechsel von
sich die folgenden Thesen auf theoretische und historische zentraler Bedeutung, sondern die Entgegnung auf den ge-
Aspekte, wie sie in kritischen Ansätzen der Faschismusanaly- schichtsrevisionistischen Versuch von rechts. Dan Diner hat
se herausgearbeitet worden sind. sie in folgender These exemplarisch formuliert: »Ein me-
thodischer Zugriff, der vom Extremfall ausgeht, stellt – vor
Perspektivenwechsel in der Faschismusanalyse dem Hintergrund westlicher Zivilisation – das Element von
Nicht allein der historische Gedächtnisschwund führte al- Sinn- und Zwecklosigkeit, wie es sich in der Vernichtung um
lerdings zu der Geringschätzung, der der Begriff des Fa- der Vernichtung willen in Auschwitz realisierte, ins Zen-
schismus gegenwärtig ausgesetzt ist. Für die Faschismusana- trum. Der in Auschwitz verwirklichte Zivilisationsbruch
lyse ist sicherlich der Perspektivenwechsel wichtiger, der wird zum eigentlichen universalistischen Ausgangspunkt, von
sich sowohl in der historischen Forschung als auch in der dem aus die weltgeschichtliche Bedeutung des Nationalso-

158 159
zialismus zu ermessen wäre.« Das »Gegenrationale der Na- sowohl in modernisierungs- als auch in kapitalismustheore-
zis« beruhe darauf, daß keine wie auch immer geartete Form tischen Ansätzen der Faschismusanalyse und haben immer
von Rationalität den Opfern erfolgversprechend das Überle- eine verheerende Rolle gespielt, weil sie letztlich die politi-
ben zu garantieren vermochte. Angesichts dieser Zerstörung schen Brüche im Prozeß der Faschisierung verdecken. Die-
aller Rationalitätskriterien ergeben sich für Diner aus histo- ser Prozeß läßt sich weder dem Zweck gesellschaftlicher
riographischen Rekonstruktionen wie gesellschafttheoreti- Modernisierung unterordnen noch aus der Durchsetzung
schen Konstruktionen nur Rationalisierungen, die die von Kapitalinteressen herleiten. Gegen solche instrumenta-
»außerhistorische Bedeutung« der industriellen Massenver- listischen Verkürzungen hat Angelo Tasca – im Epilog zu
nichtung als »vergangene Wirklichkeit« verfehlen müssen.7 seiner Analyse der Entstehung des Faschismus in Italien von
Die These vom Zivilisationsbruch ist aufschlußreich, da 1919 bis 1922 – einen möglichen Ausweg in der konsequen-
sie die Aporie aller Faschismustheorien aufzeigt, die sich in ten Historisierung gesehen. Seiner Auffassung nach »bedeu-
der Debatte um Gesellschaftskrise und faschistische Krisen- tet Faschismus definieren, zuallererst die Geschichte des Fa-
lösung, um den Charakter und die soziale Zusammenset- schismus schreiben«.9 Neben der detaillierten historischen
zung der faschistischen Bewegungen, um den Primat der Rekonstruktion sieht Tasca die vergleichende Analyse der
Politik oder den der Ökonomie erschöpfen. Die Vernich- verschiedenen Formen des Faschismus innerhalb des natio-
tung um der Vernichtung willen erscheint in diesen Debat- nalstaatlichen Rahmens, innerhalb einer bestimmten histo-
ten nicht selten als Akzidens der in ein neues monopolisti- rischen »Epoche« wie auch in einem epochenübergreifen-
sches Stadium übergehenden kapitalistischen Form der Ver- den Sinn als Voraussetzung einer allgemeinen Faschismus-
gesellschaftung.8 Obgleich sie auf die Grenzen möglicher theorie. In dieser Perspektive wird der Begriff des Faschis-
Antworten verweist, macht die These vom Zivilisations- mus ausdifferenziert, um anhand der Rekonstruktion seiner
bruch die in der Faschismusanalyse aufgeworfenen Fragen, unterschiedlichen Formen einfache Übertragungen sowohl
insbesondere die nach dem Prozeß der Faschisierung inner- zwischen den verschiedenen historischen Faschismen als
halb parlamentarischer Demokratien, keineswegs überflüs- auch hinsichtlich historischer und aktueller Tendenzen zu
sig. Denn sie liefert selbst keine Antwort auf die Frage nach vermeiden. Dieser Weg wird vor allem in der »vergleichen-
den historischen und sozialen Bedingungen eines Regimes, den Faschismusforschung« eingeschlagen. Dies gilt etwa für
in dem jede rationale Überlebensstrategie für die Verfolgten den Vergleich zwischen dem faschistischen Regime in Italien
zunehmend unmöglich gemacht werden sollte. Ihre Un- und in Deutschland, zwischen den faschistischen Massenbe-
zulänglichkeit besteht darin, daß sie von den gesellschaftli- wegungen wie der spanischen Falange, der kroatischen
chen und konkreten historischen Bezügen absehen läßt, die Ustascha, den österreichischen Heimwehren, den französi-
den »Zivilisationsbruch« als Folge sozialer Prozesse auswei- schen Ligen, den ungarischen Pfeilkreuzlern und der Eiser-
sen, als Folge einer Faschisierung der Gesellschaft, die eine nen Garde in Rumänien sowie den faschistischen Parteien
Reihe von Zwischenstadien durchläuft, die ihrerseits durch und Kleingruppen in weiteren Ländern Europas von 1919
Brüche charakterisiert sind. bis 1944, aber auch für den Vergleich zwischen den Faschis-
men aus jenem Zeitraum und den faschistischen Organisa-
Methodische Auswege tionen der Gegenwart. Darüber hinaus ist die Historisie-
Der Einwand gegen die These vom Zivilisationsbruch wirft rung auch ein wichtiges Element der rekonstruierenden
das Problem einer historischen Rekonstruktion auf, die we- Herrschaftsanalyse, wie sie in der Tradition von Franz Neu-
der funktionalistischen noch teleologischen Rationalisierun- manns Behemoth und Raul Hilbergs Die Vernichtung der eu-
gen Vorschub leistet. Solche Rationalisierungen finden sich ropäischen Juden steht.10

160 161
Einen anderen Ausweg aus den instrumentalistischen schen »Eisernen Front« in der Krisenperiode der Weimarer
Verkürzungen in der Faschismusanalyse bietet der Versuch Republik geben mochte. Die organizistische Metaphorik er-
einer theoretischen Bestimmung der gesellschaftlichen Brüche, setzte die theoretisch virulente Frage, wie das Verhältnis von
die den Prozeß der Faschisierung charakterisieren. In dieser Faschismus und Demokratie zu bestimmen sei und machte
Perspektive hat etwa Nicos Poulantzas in seinem Buch Fa- somit eine Analyse des realen Herrschaftsprozesses unmög-
schismus und Diktatur, in dem er die Faschismusanalyse selbst lich.
noch im Kontext eines revidierten Marxismus-Leninismus Auch in den gegenwärtigen Debatten um die Entwick-
durchführt, die Komintern-These von 1931 verworfen, der- lung nach rechts in Gesellschaft und politischem System der
zufolge der Ȇbergang von der Demokratie zum Faschis- Bundesrepublik findet sich, wo nicht von einer abstrakten
mus ein organischer Prozeß« sei.11 Ihr liegt die Konzeption Entgegensetzung von Faschismus und Demokratie ausge-
der Faschisierung als eines mit Notwendigkeit erfolgenden, gangen wird, die Vorstellung der Faschisierung als eines li-
linearen Prozesses zugrunde, wonach sich – wie in einem nearen Prozesses. Allerdings wird die Faschisierung dabei
biologischen Reifeprozeß – die »Keime« des Faschismus in- nicht mehr – wie in der alten ökonomistischen Variante der
nerhalb der parlamentarischen Demokratie aus sich selbst Komintern – als Entfaltung der in der parlamentarischen
heraus zum faschistischen Regime entwickelten. In dieser Demokratie noch verborgenen, allen Formen des kapitalisti-
Konzeption, so Poulantzas’ Kritik, kann weder die spezifi- schen Staats aber immanenten »Diktatur der Bourgeoisie«
sche Form der »politischen Krise«, die den Faschismus an zu ihrer offenen politischen Form in der ökonomischen Kri-
die Macht bringt, noch die spezifische Form des Regimes se aufgefaßt. Vielmehr meint Faschisierung jetzt, etwa bei
bestimmt werden, das der Faschismus an der Macht ausbil- Heiner Möller, die »im entfesselten Großdeutschland er-
det.12 folgte« und »im rassistischen Massenkonsens« kulminieren-
Nicht zufällig war die kommunistische Vorstellung eines de »Freisetzung« von Antisemitismus und Rassismus, die als
»Hinüberwachsens« der Demokratie in den Faschismus das »immanente Tendenzen« des »kapitalistischen Produktivis-
genaue Gegenteil der sozialdemokratischen Illusion eines mus« in Form des Waren- und Geldfetischs und der Selek-
»Hinüberwachsens« des demokratischen Staats in den So- tion in nützliche und unnütze Arbeitskräfte bestimmt werden
zialismus. In beiden Fällen riefen diese gegensätzlichen Vor- und vor dem Hintergrund der Kontinuitäten zum NS-Regi-
stellungen bei den Aktivistinnen und Aktivisten eine abwar- me auf besondere Weise der »deutschen imperialistischen
tende Haltung hervor, einerseits in der kommunistischen Tendenz der Modernisierung und Eroberung der Märkte«
Erwartung der proletarischen Revolution als notwendiger entsprächen.13 Die Metapher der »Freisetzung« immanenter
Folge wiederum der Krise des faschistischen Regimes, ande- Tendenzen bleibt in dem von der Komintern-Theorie vorge-
rerseits im sozialdemokratischen Vertrauen auf die Stabilität gebenen Rahmen, denn auch hier sind nicht die besonderen
der demokratischen Institutionen und auf das Beharrungs- Macht- und Kräfteverhältnisse der Ausgangspunkt der Ana-
vermögen der eigenen Repräsentanten in ihnen. Weniger in lyse, sondern die kapitalistische Gesellschaft im allgemeinen
der fehlenden Einheit der proletarischen Organisationen ist bildet die Matrix der Faschisierung. Nur scheint die Lektüre
daher das historische Desaster zu sehen, als vielmehr in dem von Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herr-
einheitlichen Effekt der Selbstpassivierung, die ihnen durch schaft die der »sozialistischen Klassiker« abgelöst zu haben.
die bürokratischen Formen der Parteipolitik auferlegt wur- Der Ökonomismus ist durch eine Konstruktion ersetzt, die
de, wie aktivistisch auch immer sich die politische Rhetorik als »Ideologismus« zu bezeichnen wäre. Nicht mehr die
etwa des kommunistischen »Roten Frontkämpferbundes«, ökonomische Zusammenbruchskrise, sondern Antisemitis-
der »Antifaschistischen Aktion« oder der sozialdemokrati- mus und Rassismus als Ideologien insbesondere des deut-

162 163
schen Imperialismus werden zu feststehenden Indikatoren Repräsentation und Gewalt
der Faschisierung erklärt. Auch diese Prämisse ist geleitet Allgemein sind Repräsentation und Gewalt grundlegende
von der Vorstellung, Faschisierung vollziehe sich als »demo- Elemente politischer Herrschaft. Ihr Verhältnis und damit
kratischer Prozeß« (Möller). Die Konsequenz bleibt die ihre besondere Gestalt sind allerdings je nach Herrschafts-
gleiche: zwischen den Tendenzen zu einer autoritären De- form verschieden. Die personale Herrschaft in der feudalen
mokratie und dem Prozeß der gesellschaftlichen Faschisie- Gesellschaftsformation ist durch die Bindung von Waffen-
rung kann nicht mehr unterschieden werden. Offensichtlich gewalt und sakraler Repräsentation an die Person des Herr-
fehlt eine kritische Theorie der politischen Institutionen, schers gekennzeichnet, der über Leben und Tod, Gnade und
die Bedingungen und Grenzen parlamentarisch-demokrati- Ungnade, Krieg und Frieden verfügen kann. Im Unter-
scher Herrschaft auszuloten vermag. schied dazu ist die politische Herrschaft in der kapitalisti-
Das heißt im übrigen keineswegs, daß die beobachteten schen Gesellschaftsformation durch Versachlichung und
Phänomene, die dieser These zugrunde liegen, etwa nicht Verallgemeinerung charakterisiert, wie sie sich in der Her-
existierten und keine gültige Beschreibung der gesellschaft- ausbildung eines zentralisierten Gewaltapparats und der
lichen Entwicklung seit der Vereinigung lieferten. Auch zielt Herleitung der Repräsentation aus der Unperson »Volk«
diese Kritik nicht darauf, jene Phänomene nicht im Kontext oder »Nation« niederschlägt. Die Grundlage hierfür liefert
faschismustheoretischer Überlegungen zu diskutieren, um die für den kapitalistischen Staat konstitutive Trennung von
die politischen Chancen des über Wahlen mobilisierenden Ökonomischem und Politischem, durch die sich das »Kom-
elektoralen Faschismus wie die gesellschaftliche Dynamik mando über die sich betätigende Arbeitskraft« (Marx) inner-
des im Vorfeld politischer Parteien agierenden intellektuel- halb des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht als
len Faschismus der »Neuen Rechten« und schließlich die Herrschaft des Kapitals, schon gar nicht als Herrschaft des
Politik des Terrors und der Aufmärsche in den aktivistischen »personifizierten Kapitals«, des Kapitalisten über den Ar-
Teilen der faschistischen Szene beurteilen zu können. Sicher beiter darstellt, sondern als Wirkung privater Verfügung
kann Faschisierung nicht bedeuten, den Faschismus als eine über Eigentum behandelt wird. Die Kehrseite dieser Tren-
den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen äußerliche nung ist die Konzentration von Herrschaft im Staat, das
Kraft aufzufassen, durch die nach einer »Machtergreifung« häufig zitierte staatliche »Monopol legitimer physischer Ge-
die faschistischen Organisationen oder Bewegungen den waltsamkeit«.14 Das in dieser Formel aufgeworfene Problem
parlamentarisch-demokratischen Staat in ihrem Sinne um- der Legitimität ist von zentraler Bedeutung für die Bestim-
modeln. Die Faschisierung vollzieht sich jedoch ebensowe- mung des Verhältnisses von Demokratie und Faschismus
nig als demokratischer Prozeß, sondern sie beginnt als Pro- unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation.
zeß der Delegitimierung, dann der Zerstörung demokrati- In der parlamentarischen Demokratie, zumindest wie sie
scher Institutionen innerhalb der Demokratie und setzt sich sich in der liberalen Idee darstellt, gründet sich Legitimität
in einer Reihe von Prozessen fort, die sich auf alle Staatsap- auf einer Legalordnung, die durch die Herrschaft allgemei-
parate und auch auf alle gesellschaftlichen Institutionen er- ner Gesetze, durch eine Verfassung oder durch diese beiden
strecken können. Genau genommen, handelt es sich nicht Formen der Legalität bestimmt ist.15 So gilt etwa die Gleich-
um einen Prozeß der Faschisierung, sondern um verschie- heit vor dem Gesetz als fundamentaler Grundsatz der Legal-
denartige Prozesse, die sich überlagern, sich ablösen oder ordnung, wobei diese Gleichheit allerdings nicht bedeutet,
auch abbrechen können und sich jeweils durch spezifische daß der Rechtsstaat hier als neutraler Schiedsrichter den so-
Logiken und Diskontinuitäten auszeichnen. zialen Kämpfen gegenübersteht. Vielmehr werden in der
Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes auf unterschiedli-

164 165
che gesellschaftliche, nicht zuletzt klassenbedingte Lebens- In anderer Hinsicht erweist sich die Logik der Repräsen-
verhältnisse die bestehenden sozialen Hierarchien sanktio- tation in der parlamentarischen Demokratie als rigider Aus-
niert und mittels der Durchsetzung richterlicher Gewalt re- schlußmechanismus. Historisch war die institutionalisierte
produziert. Neben der Rechtsstaatlichkeit gründet sich die Repräsentation durch die ideologische Konstruktion des
parlamentarisch-demokratische Legitimität auf die institu- Volkes als »nationale Gemeinschaft« von »weißen erwach-
tionalisierte Repräsentation des Volkes, das – wie in der senen männlichen Eigentümern« fundiert. In der Außen-
Bundesrepublik etwa der Artikel 38 GG Abs.1 Erster Satz perspektive bildet das Parlament daher eine exklusive Insti-
vorschreibt – »in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher tution gegenüber den nicht repräsentablen Mitgliedern der
und geheimer Wahl« die Abgeordneten ins Parlament Gesellschaft und scheint auf der Identität von Repräsentier-
wählt. Für die Logik der Repräsentation ist jedoch ebenso ten und Repräsentanten zu beruhen. Erst durch die sozialen
der folgende Satz über die »Stellung der Abgeordneten« Kämpfe und Bewegungen des Proletariats, der Frauen und
von zentraler Bedeutung: »Sie sind Vertreter des ganzen der Jugend erweitert sich der bürgerliche Begriff der Reprä-
Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur sentation und schließt sukzessive weitere Teile der Bevölke-
ihrem Gewissen unterworfen.« (Art. 38 GG Abs.1 Zweiter rung in die Konstruktion des Volkes ein. Unter der Domi-
Satz; ähnlich auch Art. 21 und 22 der »Weimarer Verfas- nanz dieser Konstruktion vollzieht sich Demokratisierung
sung«) Beide Sätze drücken unterschiedliche Prinzipien der als Nationalisierung, als Expansion der »nationalen Ge-
Legitimation aus: zum einen das in der Wahl vollzogene De- meinschaft« im Innern der Gesellschaft. Es handelt sich
legationsprinzip, zum anderen das durch den Bezug auf das hierbei folglich nicht um einen unendlichen Progreß demo-
Gewissen säkularisierte Prinzip personaler Herrschaft. Sie kratischer Partizipation, sondern um einen Prozeß nationa-
zeigen die strukturelle Ambivalenz, die die Logik der Reprä- ler Ein- und Ausgrenzung, in dem sich die historisch konsti-
sentation aus der Innenperspektive der parlamentarischen tuierte und strukturell konstitutive Exklusivität des Parla-
Demokratie aufweist. ments auch in der Massendemokratie immer wieder neu
Erst durch das Moment personaler Herrschaft findet ei- herstellt. Die innergesellschaftlichen Grenzen, die in diesem
ne reale Machtverschiebung von den Repräsentierten auf die Prozeß errichtet werden, bleiben jedoch permanent um-
Repräsentierenden statt. Ihre Rechtfertigung findet diese kämpft, und die sozialen und politischen Ansprüche der
Machtverschiebung jedoch nicht mehr in der demokrati- nicht repräsentablen Bevölkerung werden letztlich mittels
schen Prozedur der Wahl selbst, sondern in der technokrati- des staatlichen Gewaltapparats niedergehalten. Wie die bür-
schen Legitimität, etwa im Sinne der Aufrechterhaltung der gerlich-parlamentarische Demokratie historisch jederzeit
Funktionstüchtigkeit der Institution, oder in der charismati- mit der gewaltsamen Unterdrückung der sozialen Bewegun-
schen Legitimität, die auf die besondere Berufung, Bega- gen des 19. Jahrhunderts konform ging, so verträgt sich die
bung oder Befähigung der Repräsentierenden abhebt. Im parlamentarische Massendemokratie des 20. Jahrhundert, in
Hinblick auf die Herrschaftssicherung wird somit garantiert, der diese Bewegungen national überformt und inkorporiert
daß die sozialen Konflikte nicht unmittelbar in den parla- sind, mit der gewaltsamen Exekution der nationalen Aus-
mentarischen Alltag eindringen. Die Folge ist allerdings ei- grenzung, die vor allem Migrantinnen und Flüchtlinge trifft.
ne prekäre Trennung der Abgeordneten von ihren Wähle-
rinnen und Wählern, die nur so lange unproblematisch Involution parlamentarischer Demokratie
bleibt, wie die Identifikation der Repräsentierten mit den Beide Momente, die Restituierung personaler Herrschaft
Repräsentierenden – zumindest in gewissen Graden – funk- mittels technokratischer oder charismatischer Legitimität
tioniert. einerseits sowie der politische Ausschlußmechanismus ge-

166 167
genüber den sozial oder national Nicht-Repräsentablen, den Konstruktion allgemeiner Pflichten des Staates das Parla-
Unwürdigen andererseits, markieren also die strukturellen ment delegitimiert. Die Prädominanz der Exekutive zeigt
Grenzen parlamentarisch-demokratischer Herrschaft, an sich besonders in konkreten Maßnahmen des repressiven
denen die Ambivalenz der Repräsentation in Gewalt über Staatsapparats, der sich permanent in »Krisenzeiten« zu be-
andere umschlägt. Zugleich läßt sich an ihnen, wie Johannes finden scheint und immer neue Krisen- und Bedrohungs-
Agnoli aufgezeigt hat, eine Tendenz zur »Involution« fest- szenarien (in den vergangenen 25 Jahren etwa in der Abfol-
machen, die nicht nur das Parlament, sondern das gesamte ge: »Terrorismus«, »Migration«, »Kriminalität«) entwirft.
politische System erfassen kann. Involution bezeichnet als Tatsächlich findet auch hier ein innerer Prozeß der Delegiti-
Gegenbegriff zu Evolution »den komplexen politischen, ge- mierung des Parlaments zugunsten vermeintlicher Staats-
sellschaftlichen und ideologischen Prozeß der Rückbildung notwendigkeiten statt. Wie die Repräsentation im Parla-
demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder ment durch gegensätzliche Prinzipien der Legitimität be-
antidemokratische Formen«. Agnoli allerdings faßt diesen gründet ist, so ist auch die Relation zwischen Legislative ei-
Prozeß unter dem Aspekt der Modernisierung und dem der nerseits und Exekutive beziehungsweise Judikative anderer-
Herrschaftssicherung in funktionalistischer Weise auf. So seits durch unterschiedliche Legitimitätsgründe bestimmt:
schreibt er 1968: »Gemessen am Faschismus, liegt der heu- zum einen durch eine Legalordnung, nach der das Parla-
tigen Transformation der Demokratie zu einem rechtsstaat- ment die Gesetze beschließt, die den staatlichen Gewaltap-
lichen Sicherungssystem des Kapitalismus der humanitäre parat dirigieren sollen, zum anderen durch eine Wertord-
Gedanke zugrunde, durch eine Auflösung der Ambivalenz nung, die den Gesetzen vorgängige Staatsziele festlegt. Sind
der Vertretungsorgane und der Vertretungsparteien die beide Ordnungen in der Verfassung verankert, was gleicher-
Notwendigkeit des offenen Terrors in Krisenzeiten zu um- maßen für die Weimarer Republik und für die Bundesrepu-
gehen.«16 blik gilt, so wirft die dadurch ermöglichte Entgegensetzung
Um den Funktionalismus zu vermeiden, wäre dagegen von »Berufung auf das Gesetz« und »Berufung auf die Ver-
die Auflösung der Ambivalenz der Repräsentation als inne- fassung« nach Otto Kirchheimer das Problem einer »zwei-
rer Bruch parlamentarisch-demokratischer Herrschaft zu stufigen Legalität« auf, die dazu führen kann, »daß die
begreifen, in dem sich Tendenzen zu einer autoritär verfaß- Bürokratie einen eigenen, an ihrer Verfassungsvorstellung
ten Demokratie manifestieren, wie sie sich etwa in der Un- orientierten Legalitätsbegriff entwickelt«.17
terordnung der legislativen Funktionen des Parlaments un- Die Folge einer solchen »Involutionstendenz« (Agnoli)
ter die Exekutive beziehungsweise die Judikative zeigen. ist eine Versteifung der Repräsentation, die nicht allein zu
Diese Unterordnung ist jedoch weder auf »Krisenzeiten« einer Verstärkung des repressiven Staatsapparats führt, son-
noch auf Zeiten starker außerparlamentarischer, fundamen- dern zudem eine besondere politisch-ideologische Wirkung
taloppositioneller Bewegungen beschränkt. Die Prädomi- bei den Repräsentierten zeigt. Das Individuum, das sich im
nanz der Judikative gegenüber dem Parlament ist in der Akt der Stimmabgabe dem Repräsentationsverhältnis unter-
Bundesrepublik im Fall der Novellierung des § 218 beson- wirft, kann sich selbst immer weniger als politisches Subjekt
ders deutlich geworden. Hier hat das Bundesverfassungsge- verstehen, dem die politischen Entscheidungsprozesse noch
richt in sehr unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Si- transparent wären. Um es mit einem Begriff von Louis Al-
tuationen – 1975 charakterisiert durch den Kampf einer thusser zu sagen, die »Anrufung«18 des Individuums als poli-
starken autonomen Frauenbewegung, 1993 durch eine weit- tisches Subjekt, die es innerhalb der parlamentarischen De-
gehend institutionalisierte Frauenpolitik – die vom Bundes- mokratie als Wählerin oder Wähler einsetzt, funktioniert
tag beschlossenen Gesetze schließlich kassiert und über die nicht mehr reibungslos, letztlich erscheint der Wahlakt

168 169
selbst sinnlos. Zu der realen Verschiebung der Macht von derung des Grundrechtsartikels 16.2 GG, der de facto Ab-
den Repräsentierten auf die Repräsentierenden kommt in schaffung des Asylrechts, ist etwa in der Bundesrepublik die-
dieser Situation eine Verschiebung im Imaginären, die den ses Zusammenwirken von neuem Massenkonsens, Regie-
Verlust der Transparenz und somit der Macht hervorruft, rung, den großen Fraktionen des Parlaments und schließlich
welche zuvor durch die Identifikation mit einer bestimmten auch dem Bundesverfassungsgericht offenkundig geworden.
politischen Partei, Liste oder Kandidatin garantiert schie- Tatsächlich hat sich darin die Tendenz zu einer autoritär ver-
nen. faßten Demokratie manifestiert, die nicht mehr, wie der au-
Bei dieser Konstellation aus realer Machtverschiebung toritative »CDU-Staat« der fünfziger und sechziger Jahre
und imaginärem Machtverlust handelt es sich tatsächlich um und auch noch der »Sicherheitsstaat«19 der siebziger und be-
eine Krise der politischen Subjektivität in der Massendemo- ginnenden achtziger Jahre, auf einem sozialpartnerschaftli-
kratie, die allerdings nicht zwangsläufig das Repräsenta- chen, korporativen Klassenkompromiß, sondern auf einem
tionsverhältnis auf seine Insuffizienz durchschauen läßt. Zu- die zuvor ethnifizierten Individuen ein- und ausgrenzenden,
mal wenn diese Krise – wie gegenwärtig – mit einer politi- eurozentristischen Massenkompromiß beruht. Ein so konsti-
schen Konjunktur koinzidiert, in der radikale Opposition tuierter Massenkonsens wird verstärkt Einfluß auf den von
gegen die strukturellen Grenzen parlamentarisch-demokra- den Bürokratien des staatlichen Gewaltapparats entwickel-
tischer Herrschaft kaum vorhanden ist, bleiben schließlich ten Legalitätsbegriff haben und ihre Maßnahmen mit rassi-
zwei Modalitäten, nach denen sich die politische Repräsen- stisch bestimmten Staatsnotwendigkeiten und -zielen legiti-
tation transformieren kann: zum einen die Kompensation mieren, wie es sich in den gegenwärtigen Sicherheitskampa-
des imaginären Machtverlusts durch eine neue Form von gnen etwa gegen »Ausländerkriminalität« oder in der Ab-
Massenkonsens, zum anderen die Suspension des ima- schiebepraxis des Bundesgrenzschutzes bereits ankündigt.
ginären Machtverlusts durch eine neue Form von Massenre- Da sich diese Verbindung aus neuem Massenkonsens
präsentation. In diesen beiden Modalitäten kann der grund- und autoritärer Demokratie noch nicht vollständig etabliert
legende Unterschied zwischen den Tendenzen zu einer De- und stabilisiert hat, bleiben jedoch auch die Tendenzen zu
mokratie autoritären Typs und den Tendenzen zu einer Fa- einer Faschisierung der Gesellschaft virulent. Sie knüpfen an
schisierung der Gesellschaft gesehen werden. die Involutionstendenzen der parlamentarischen Demokra-
Unter dem Gesichtspunkt der hier getroffenen Unter- tie wie an den neuen Massenkonsens an, treiben allerdings
scheidung bedeutet die diskursive Ausbreitung rassistischer die Delegitimierung der im Parlament institutionalisierten
Artikulationen nicht automatisch Faschisierung. Vielmehr Repräsentation des Volkes voran. Dies zeigt sich etwa in den
können die rassistischen Artikulationen in einen neuen na- Forderungen nach einer Stärkung der Exekutive gegenüber
tionalen Massenkonsens eingehen, der die Spannung zwi- dem Parlament und nach der Abschaffung des sogenannten
schen Repräsentierten und Repräsentierenden kompensiert. »Parteienstaats«, in denen die tatsächliche Versteifung der
In diesem Fall bleibt sowohl die Legalordnung als auch die Repräsentation zum Ausgangspunkt genommen wird, um
institutionalisierte Repräsentation des Volkes im Parlament ein autoritäres Repräsentationsmodell zwischen Exekutive
aufrechterhalten. Zugleich allerdings verschärft sich der und Volk zu installieren, das nicht an die Prozedur der
Ausschlußmechanismus, der innerhalb der Repräsentations- Wahl, sondern an die charismatische Legitimität der politi-
logik Repräsentierte und Repräsentierende von den Nicht- schen Führung gebunden ist. In ähnlicher Weise bezieht
Repräsentierten trennt, und die ideologische Konstruktion sich die Forderung nach einer das Allgemeinwohl verkör-
des Volkes verfestigt sich zur »ethnischen Homogenität« als pernden, unabhängigen Staatselite, einer Art »neuer Aristo-
Bedingung der Repräsentation. Im Zusammenhang der Än- kratie«, wie sie die »Neue Rechte« propagiert, auf die ge-

170 171
genwärtig stattfindende Aufwertung sogenannter Funkti- Präsidialdiktaturen gebunden, der die minimalen rechtli-
onseliten im politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlich- chen Anforderungen für die »Existenz selbständiger Mas-
technischen und kulturellen Bereich. Schlägt sich in den senorganisationen« aufrechterhalten müsse, um die Nazis
Tendenzen zu einer Demokratie autoritären Typs eher ein von der Regierungsbildung fernzuhalten.20
neues Arrangement zwischen legaler und technokratischer Ironie der Geschichte: Borkenaus Analyse wurde im Fe-
Legitimität nieder, so entwickelt sich in der Faschisierung bruar 1933 publiziert, als Hitler bereits Kanzler im Kabinett
eine spezifische Verknüpfung von charismatischer und tech- der »nationalen Konzentration« war. Und noch im gleichen
nokratischer Legitimität, die einen Bruch mit den parlamen- Monat wurden alle wesentlichen Grundrechte der Weima-
tarischen Formen und eine Zerstörung demokratischer In- rer Verfassung durch die »26. Verordnung des Reichspräsi-
stitutionen impliziert. Eine aktivistische Wendung erfährt denten zum Schutz von Volk und Staat« (sogenannte
die Krise der politischen Subjektivität innerhalb der parla- Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933) außer
mentarischen Demokratie schließlich in der auf eine ge- Kraft gesetzt. Der Fehler von Borkenaus Analyse ist jedoch
schlossene Formierung der Massen zielenden faschistischen nicht vordergründig in der Prognose einer Fortsetzung der
Aufmarschpolitik sowie durch den faschistischen Terror, der Präsidialdiktaturen zu sehen, sondern darin, daß er vor dem
an den rassistischen Massenkonsens anknüpft. Zwischen Hintergrund seiner modernisierungstheoretischen Prämisse
Massendemokratie autoritären Typs und Faschismus zu un- die gleichzeitig vorhandenen Tendenzen zur Faschisierung
terscheiden, kann folglich für die Faschismusanalyse nicht in Deutschland nicht hinlänglich thematisieren konnte und
bedeuten, die jeweiligen Tendenzen einander schematisch daher unterschätzen mußte.
gegenüberzustellen. Im historischen Vergleich zwischen Wie Nicos Poulantzas in seinem Buch Faschismus und
dem faschistischen Regime in Italien und in Deutschland Diktatur21 deutlich gemacht hat, verlief der Prozeß der Fa-
läßt sich darüber hinaus deutlich machen, daß der Prozeß schisierung in Italien und in Deutschland dagegen nach ei-
der Faschisierung verschiedene Dynamiken entwickeln nem analogen Muster, das sich bezogen auf das politische
kann. System in vier Perioden darstellt: von den kaum wahrnehm-
baren Anfängen der Faschisierung innerhalb einer scheinbar
Brüche im Prozeß der Faschisierung etablierten parlamentarischen Demokratie über die zuneh-
In einer der ersten Ansätze zu einer »Soziologie des Faschis- mende Konzentration der »nationalen Opposition« auf die
mus« hat Franz Borkenau versucht, den Unterschied zwi- faschistische Partei zu einer Art »point of no-return« und
schen dem italienischen Faschismus und den politischen schließlich zur Machtübernahme, und dann von der Instabi-
Verhältnissen in der Krisenperiode der Weimarer Republik lität und Ambivalenz bis zur Stabilisierung des Faschismus
in einer vergleichenden Herrschaftsanalyse kapitalistischer an der Macht. Den Hintergrund dieser Periodisierung lie-
Modernisierung zu fassen. Hierbei kommt er zu dem Ergeb- fert eine Analyse der Klassenbeziehungen und klassenfrak-
nis, daß es sich beim italienischen Faschismus um eine Ent- tionellen Auseinandersetzungen, in der Poulantzas das Un-
wicklungsdiktatur zur »Konstituierung der kapitalistischen vermögen der herrschenden Klasse, insbesondere der mo-
Klasse selbst«, um eine »Diktatur zur Schaffung des indu- nopolkapitalistischen Fraktion aufzeigt, eine hegemoniale
striellen Kapitalismus« handele, während aufgrund der in- Stellung in der Formierung eines Machtblocks politisch in-
dustriellen Entwicklung Deutschlands sich die »deutsche nerhalb der parlamentarischen Demokratie durchzusetzen.
Bourgeoisie« nicht durch eine faschistische Partei vertreten Faschismus bedeutet hier weder eine Entwicklungsdiktatur
lassen könne. Sie bleibe vielmehr an einen Staat mit schrof- im Sinne Borkenaus noch eine Diktatur der ökonomisch do-
fer Trennung von Exekutive und Legislative im Sinne der minanten Klassenfraktion, sondern ein »Ausnahmeregime«,

172 173
das den Machtblock im Übergang zu einem neuen Stadium Herrschaft eine vereinheitlichende Funktion zur Organisati-
der kapitalistischen Vergesellschaftung reorganisiert, in dem on und Repräsentation des Blocks an der Macht zuschreibt,
der Übergriff des durch einen hohen Grad an Konzentrati- stellt sich in Neumanns Perspektive das NS-System als Zer-
on ökonomischen Eigentums gekennzeichneten Finanzkapi- störung bürgerlicher Herrschaft durch die Zurücknahme
tals auf den unmittelbaren Produktionsprozeß (Taylorisie- der sie kennzeichnenden Versachlichung und Verallgemei-
rung, fordistische Fabrik) stattfindet. nerung dar. Hierin sieht er auch den wesentlichen Unter-
Im Unterschied zu den westlichen Demokratien ist der schied zwischen dem deutschen und dem italienischen Fa-
reale Herrschaftsprozeß in Italien wie in Deutschland durch schismus, den er als einen totalen Etatismus nationaler Prä-
eine »hegemoniale Instabilität« charakterisiert, die sich in gung auffaßt.
einer Reihe von Brüchen der Repräsentation niedergeschla-
gen hat und die nicht allein das Parlament als institutionali- Dynamik der Faschisierung im NS-System
sierte Repräsentation des Volkes betrifft, sondern ebenso die Tatsächlich nimmt der reale Herrschaftsprozeß nach der
Repräsentationsbeziehung zwischen dem Machtblock und Stabilisierung des Faschismus an der Macht in Deutschland
seinen politischen Parteien einerseits und den bürgerlichen und in Italien einen anderen Verlauf. Mit der Durchsetzung
Intellektuellen als Organisatoren der herrschenden Ideolo- der »autoritär-konservativen Richtung« innerhalb des »Par-
gie andererseits. Diese Repräsentationsbrüche bewirken ei- tito Nazionale Fascista« (PNF)23 schwächen sich die Ten-
ne Verschiebung der Macht von den Formen der parlamen- denzen zu einer weiteren Faschisierung von Administration
tarisch-demokratischen Herrschaft auf informelle Organisa- und gesellschaftlichen Institutionen in Italien selbst ab.
tionen (z.B. Industrieclubs) und »parastaatliche Netze«, die Grundlage hierfür war eine Bündniskonzeption, die Partei,
zunehmend direkt die Exekutive bestimmen und so zu den Monarchie, Industrielle und schließlich auch die Kirche in
eigentlichen Trägern der politischen Entscheidungen wer- einem austarierten Verhältnis der Trennung von Staats- und
den. Erst der stabilisierte faschistische Staat und die faschi- Parteiapparat mittels der charismatischen Legitimität des
stische Partei als dominanter ideologischer Staatsapparat, so Duce zusammenführte, zugleich jedoch das Verbot aller
Poulantzas’ These, organisierte und repräsentierte schließ- Parteien mit Ausnahme des PNF und aller nicht faschistisch
lich die Hegemonie des monopolkapitalistisch dominierten orientierten Zeitungen sowie Sondergesetze zur Aburtei-
Machtblocks. lung und Internierung von Oppositionellen mit einschloß.24
Franz Neumann hat in seiner Analyse des NS-Regimes Überdies stand der faschistische Etatismus und Nationalis-
als Herrschaft von vier konkurrierenden Machtblöcken, von mus nicht im Gegensatz zu rassistischen Politikformen, die
Partei, Armee, Administration und Monopolkapital, die Ge- zunächst in den Kolonien als Apartheidregime, dann 1930
genthese formuliert. Für ihn weist das NS-System die Ten- mit der Einrichtung von Konzentrationslagern für die Auf-
denz zu einer Gesellschaftsform auf, in der »die herrschen- ständischen in der libyischen Kolonie praktiziert und
den Gruppen die übrige Bevölkerung direkt kontrollieren – schließlich 1938 auf Italien übertragen wurden.25
ohne die Vermittlung durch den wenigstens rationalen, bis- Im Unterschied zu Italien wird in Deutschland die Fa-
her als Staat bekannten Zwangsapparat«.22 Mit dieser These schisierung der Gesellschaft nach der Etablierung des fa-
ist weder die Dominanz der »industriellen Monopolisten« schistischen Staats sogar noch forciert. Den Hintergrund
als Fraktion der herrschenden Klasse noch ihre Überein- hierfür bildet die Konkurrenz der vier von Neumann aufge-
stimmung mit der NSDAP in den Zielen der »imperialisti- zeigten Machtgruppen, die innerhalb des faschistischen Re-
schen Expansion« bestritten. Während Poulantzas aber dem gimes immer wieder direkt neue Kompromisse aushandeln
faschistischen Staat als »Ausnahmeregime« bürgerlicher müssen. Das NS-Regime erweist sich im Vergleich zum ita-

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lienischen Faschismus als wesentlich fragileres Herrschafts- des Kausalzusammenhangs zwischen individueller Hand-
system, das ständig neue Formen der Institutionalisierung lung und der daraus für den einzelnen entstehenden Fol-
des Machtkampfs hervorbringt, worin die Dynamik zu einer gen«28 bestimmt. Das besondere Kennzeichen der Faschi-
Faschisierung der gesamten Gesellschaft in Deutschland be- sierung im NS-Regime besteht darin, daß der reale Herr-
gründet liegt. Diese Dynamik knüpft an die in der bürgerli- schaftsprozeß zunehmend durch diese Logik des Terrors ge-
chen Gesellschaft bereits entwickelten Disziplinierungs- steuert wird.
und Kontrollinstanzen an, wie sie sich vor allem in soge- Die vier konkurrierenden Machtgruppen des NS-Sy-
nannten »totalen Institutionen« herausgebildet haben. stems, mit ihren jeweils unterschiedlichen Interessen, sind in
Nach der Definition des Soziologen Erving Goffman han- keinem anderen Punkt ihrer Kompromißbildung so weit ge-
delt es sich bei einer totalen Institution um eine Einrich- gangen wie in der Kooperation zur Vernichtung der eu-
tung, in der mehr oder weniger große Gruppen von ähnlich ropäischen Juden, weshalb Raul Hilberg »von ihrer Ver-
gestellten Individuen durch die Vereinheitlichung aller Le- schmelzung zu einer Vernichtungsmaschinerie«29 spricht.
bensbereiche, von Wohn- und Arbeitsstätte unter einer Au- Die Vernichtungsmaschinerie, die zudem weitere sozial und
torität und zur Reglementierung aller Lebensäußerungen ethnisch stigmatisierte und diskriminierte Gruppen erfaßte,
nach einem rationalen Plan, vom sozialen Verkehr mit der hat sich nach Hilberg in vier Stufen aufgebaut, denen aller-
Außenwelt weitgehend abgeschnitten, zusammengefaßt dings kein festgelegter Plan zugrunde lag: in der Definition
sind.26 Diese Definition umreißt eine Reihe von Institutio- der Opfer, ihrer Enteignung, ihrer Konzentration und
nen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die in unter- schließlich ihrer Ausrottung in den Vernichtungszentren.
schiedlich starker räumlicher wie zeitlicher Begrenzung und Die soziale Rationalität, nach der sich der Vernichtungspro-
mit unterschiedlich intensiver physischer Gewalt über die zeß vollzogen hat, ist die des faschistischen Terrors von An-
Individuen verfügen, Institutionen wie Internate, Sanatori- beginn: er zielt unmittelbar auf das Leben der innerhalb der
en, Altersheime, Obdachlosenasyle, Kliniken, Erziehungs- bestehenden Gesellschaft bereits Diskriminierten und Ver-
heime, Kasernen, psychiatrische Anstalten, Knäste, Inter- folgten sowie auf ihre Fähigkeit, sich in ihr überhaupt noch
nierungslager und schließlich auch Konzentrationslager. reproduzieren zu können. Mit der Faschisierung der gesam-
Im faschistischen Regime nun werden die totalen Insti- ten Gesellschaft wurde diese planlose Rationalität zum
tutionen zu zentralen Trägern der Faschisierung: zum einen Herrschaftskalkül der sie dominierenden sozialen Klasse
im Sinne der »Faschisierung des Subjekts im Rahmen eines und der staatlichen Apparate.
nachholenden Fordismus«, die – wie Wolfgang Fritz Haug
an rassistischen, eugenischen, sexualpolitischen und ästheti-
schen Diskursen gezeigt hat27 – mit Wirkungen bis in die Anmerkungen
Alltagspraxis das Bild einer »gesunden Normalität«, des fa- 1 Vgl. Antonia Grunenberg: Antifaschismus – ein deutscher Mythos.
schistisch-fordistischen Mustermenschen ausgestalten, zum Reinbek 1993. Grunenberg hat so etwas wie eine »Ideologie des
anderen in der Kanalisierung und Organisierung des von der ›Anti‹« von links und rechts wenn auch nicht gerade entdeckt, so
doch zu entlarven versucht. Kernsatz: »Dieses Jahrhundert stand
Straße geholten faschistischen Terrors. Die totalen Institu-
unter dem Zeichen des Dualismus. Das ›Anti‹ war (und ist immer
tionen, vom HJ-Camp und den Adolf-Hitler-Schulen bis
noch) sein Motor.« Gegen jede »Anti-Haltung« und gegen die
zum SS-Konzentrationslager, entwerfen folglich das Täter- »utopischen Visionen des Anti« kämpft sie nun an. So sind von ihr
wie das Opferideal, den grausam kalten Heroentypus wie wohl noch einige Bücher zu erwarten. Immerhin weist schon der ge-
den bereits totgesagten, zum »Rohmaterial« degradierten wöhnliche Fremdwörter-Duden mehr als neun Spalten auf, in denen
Menschen, das die »Logik des Terrors«, die »Zerstörung Wörter mit der Vorsilbe »anti-« verzeichnet sind, vom »Antialko-

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holiker« bis zum »Antizymotikum«. Philosophisch geschultes Pu- 5 Exemplarisch hierfür ist der 1967 von Wolfgang Abendroth heraus-
blikum wartet sicher bereits auf ihre Bücher über »Antinomie« und gegebene Sammelband Faschismus und Kapitalismus mit Texten von
»Antizipation«; ich möchte das unter dem Titel »Antipasti – ein ita- August Thalheimer, Herbert Marcuse, Arthur Rosenberg, Otto
lienischer Mythos« lesen. Bauer und Angelo Tasca, die alle in der Zeit zwischen 1930 und 1938
2 Uwe Backes/Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepu- verfaßt wurden. Wolfgang Abendroth: Faschismus und Kapitalismus.
blik Deutschland. Berlin 1993, S. 400f. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Fa-
3 Vgl. vor allem Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. schismus. Frankfurt a. M. 1967; vgl. auch die Debatte um »Faschis-
Nationalsozialismus und Bolschewismus. Frankfurt a. M., Berlin mus-Theorien« in der Zeitschrift Das Argument seit 1964.
1987. Nolte behandelt in umgekehrter Reihenfolge des Untertitels 6 Vgl. Andreas Hillgruber: Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des
beides als »Herausforderung und Antwort, Original und Kopie, Deutschen Reichs und das Ende des europäischen Judentums. Berlin
Entsprechung und Überentsprechung«, als »Vorbild und Abbild« 1986
(S. 21f.). In der Schlußbetrachtung zu seinem Buch schreibt er: »Die 7 Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Hi-
Heftigkeit des Widerstandes, den die These hervorruft, der Archipel storisierbarkeit des Nationalsozialismus. In: Ders. (Hg.): Ist der Na-
Gulag sei ursprünglicher als Auschwitz und zwischen beiden bestehe tionalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit,
ein kausaler Nexus, ist letzten Endes nur durch politische Motive zu Frankfurt a. M. 1987, S. 71ff.; vgl. auch: ders.: Perspektivenwahl und
erklären, die zu politischen Insinuationen Anlaß geben. Man glaubt, Geschichtserfahrung. Bedarf es einer besonderen Historik des Na-
diese These und deren Nachweis störten die erstrebenswerte Koexi- tionalsozialismus? In: Walter H. Pehle (Hg.): Der historische Ort des
stenz zwischen den Weltmächten und behinderten die Weiterent- Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt a. M. 1990, S.94ff.
wicklung zum friedlichen Zusammenleben der zu gefahrdrohender 8 Nicht nur für die Faschismustheorien, die durch den ökonomisti-
Zahl und Stärke heranwachsenden Menschheit auf dem klein ge- schen Reduktionismus charakterisiert sind, wie er in der Kommuni-
wordenen Planeten.« (S. 548) Das erste »Motiv« ist entfallen, bleibt stischen Internationale und im Marxismus-Leninismus bestimmend
das zweite: Planet ohne Raum? Würde Auschwitz als die Kopie des war, trifft dies zu. Auch die Faschismusanalyse von Nicos Poulantzas,
GULag gelten, wäre also nach dem Zusammenbruch des Ostblocks der in der Kritik der Komintern das Konzept des faschistischen Staats
wieder an eine »planetarische Politik« Deutschlands zu denken. als eines kapitalistischen Ausnahmestaats entwickelt, auf das ich mich
Und wer hindert die Deutschen daran, diesen »kausalen Nexus« zu im folgenden beziehen werde, ist durch diese Aporie gekennzeichnet.
sehen? Die Antwort gibt Nolte in den Fußnoten: »Die Literatur Vgl. Nicos Poulantzas: Faschismus und Diktatur. Die Kommunistische
über die ›Endlösung‹ stammt zum weit überwiegenden Teil von jü- Internationale und der Faschismus. München 1973, S. 58ff., 332ff.
dischen Autoren. Sie ist daher begreiflicherweise ganz auf ein einfa- Zur Kritik vgl. bereits 1973: Gert Schäfer: Die Kommunistische Inter-
ches ›Täter-Opfer-Schema‹ fixiert.« (S. 593) Der zweite Satz ist nationale und der Faschismus. Offenbach 1973, insb. S. 145.
schlicht falsch, der erste, wie Detlev Claussen vor Jahren bereits 9 Angelo Tasca: Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus
feststellte: Antisemitismus. »Zwar werden bei Nolte die Juden nicht in Italien. Wien 1969, S. 374
aus der menschlichen Gesellschaft, aber doch aus der wissenschaftli-
10 Vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des National-
chen community ausgeschlossen. Jüdische Autoren werden der re-
sozialismus 1933 – 1944. Frankfurt a. M. 1984 und Raul Hilberg: Die
pressiven Toleranz unterworfen – man duldet sie, aber man nimmt
Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1990. Zur
sie nicht ernst.« Detlev Claussen: Vergangenheit mit Zukunft. Über
»vergleichenden Faschismusforschung« siehe exemplarisch: Wolf-
die Entstehung einer neuen Ideologie. In: Wieland Eschenhagen
gang Wippermann: Europäischer Faschismus im Vergleich 1922 – 1982
(Hg.): Die neue deutsche Ideologie. Einsprüche gegen die Entsorgung
Frankfurt a. M. 1983.
der Vergangenheit. Darmstadt 1988, S. 12
11 Diese Formulierung wählte der KPD-Theoretiker Werner Hirsch
4 Wolfgang Fritz Haug: Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vor-
im Januar 1932 mit Bezug auf die Resultate des 11. Plenums des
lesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitä-
Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale vom März
ten. Frankfurt a. M. 1967; ders.: Vom hilflosen Antifaschismus zur Gna-
und April 1931 zur Begründung der »Sozialfaschismus«-These; vgl.
de der späten Geburt. Hamburg, Berlin 1987
Werner Hirsch: Faschismus und Hitlerpartei, in: Die Internationale,

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15. Jg., Heft 1, S.28. Hirsch wendet sich dagegen, »mit der blauen fassungen im Monopolkapitalismus aus, von einer Art »Selbstaufhe-
Brille einer Pseudo-Theorie nach irgendwelchen Unterschieden bung« (Marcuse) des Liberalismus im totalitären oder autoritären
zwischen Demokratie und Faschismus zu suchen«, zugleich lehnt er Staat des 20. Jahrhunderts. Es wäre zu fragen, ob es sich nicht viel-
aber auch ab, »die heutigen Methoden der bürgerlichen Diktatur mehr um einen strukturellen Funktionswandel handelt, der in den
mit denen der offenen faschistischen Diktatur einfach mechanisch Ausschlußmechanismen der parlamentarischen Demokratie konsti-
gleich(zu)setzen« beziehungsweise »Hitler-Faschismus und Sozial- tutiv vorhanden ist. Im folgenden werde ich so argumentieren.
faschismus ... schematisch (zu) identifizieren« (S.31). Die Unter- 16 Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie.
scheidung zwischen SPD und NSDAP mündet dann jedoch wieder Frankfurt a. M. 1968, S. 10 u. 27
in die Auffassung: »Die Sozialdemokratie ist in Deutschland zwei- 17 Otto Kirchheimer: Legalität und Legitimität. In: Ders.: Politische
felsohne der aktivste Faktor der Faschisierung«, während die Herrschaft. Frankfurt a. M. 1967, S. 10. Bezogen auf das Grundge-
NSDAP – obgleich »ihrem Anhang nach zahlenmäßig stärkste Par- setz der Bundesrepublik Deutschland und den Terminus »freiheit-
tei überhaupt« – lediglich als »ein ernster Gegner« eingeschätzt lich demokratische Grundordnung« vgl. Ulrich K. Preuß: Legalität
wird. Hirschs Text ist ein wunderbares Dokument der politischen und Pluralismus. Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik
und theoretischen Konfusion, die in der KPD zu diesem Zeitpunkt Deutschland. Frankfurt a. M. 1973.
herrschte.
18 Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsät-
12 Vgl. Nicos Poulantzas: Faschismus und Diktatur, a.a.O., S. 58ff. ze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Berlin 1977, S. 140ff.
13 Vgl. Heiner Möller: Gibt es eine »Faschisierung«? In: konkret extra 19 Vgl. Joachim Hirsch: Der Sicherheitsstaat. Das »Modell Deutsch-
1/1993, S.10 land«, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. Frankfurt
14 Max Weber: Politik als Beruf (Oktober 1919). In: Ders.: Gesammelte a. M. 1980.
Politische Schriften. Hrsg. v. Johannes Winckelmann. 5. Aufl. Tübin- 20 Vgl. Franz Borkenau: Zur Soziologie des Faschismus (1933). In:
gen 1988, S. 506. Weber unterscheidet im folgenden zwischen drei Ernst Nolte (Hg.): Theorien über den Faschismus. 6. Aufl. König-
Typen der Legitimität, der traditionalen (»Autorität des ›ewig Ge- stein/Ts. 1984, S. 178ff.
strigen‹«), der charismatischen (»Autorität der außeralltäglichen
21 Nicos Poulantzas: Faschismus und Diktatur, a.a.O. Ich fasse im fol-
persönlichen Gnadengabe«) und der legalen (»kraft des Glaubens an
genden ohne Nachweis zusammen; vgl. auch Alex Demirović: Nicos
die Geltung legaler Satzung«). Ihnen ist als vierter Typus die tech-
Poulantzas. Eine kritische Auseinandersetzung. Berlin 1987, S. 104ff.
nokratische Legitimität hinzuzufügen, die sich aus technischen
22 Franz Neumann: Behemoth, a.a.O., S. 543
Sachzwängen und Funktionserfordernissen begründet. Zum Begriff
»personaler Herrschaft« und zur Konstitution der Staatsgewalt in 23 Vgl. Karin Priester: Der italienische Faschismus. Ökonomische und
der bürgerlichen Revolution vgl. Heide Gerstenberger: Die subjektlo- ideologische Grundlagen, Köln 1972, S. 287. Die andere Richtung,
se Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt. Mün- repräsentiert durch Roberto Farinacci, sieht Antonio Gramsci im
ster 1990, S. 497ff. August 1926 durch zwei Widersprüche, dem zwischen den Agra-
riern und den Kapitalisten und dem zwischen dem Kleinbürgertum
15 Zur historisch-theoretischen Bestimmung vgl. Franz Neumann: Der
und dem Kapitalismus gekennzeichnet. Und er stellt fest, ihr fehle es
Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesell-
an Einheit, Organisation und allgemeinen Prinzipien, sie sei mehr
schaft. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 6. Jg. 1937, S. 542ff. Im
eine diffuse Geisteshaltung als eine wirklich eigene Tendenz inner-
Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus vollzieht
halb der Partei. Tatsächlich machte er sich allerdings Illusionen so-
sich nach Neumann eine grundlegende Depravierung bürgerlicher
wohl über die Wirkungsmöglichkeiten der Kommunistischen Partei
Rechtsgarantien. Ähnlich bereits 1934 bezogen auf die Staatstheorie
auf das »faschistische Kleinbürgertum« als auch über einen mögli-
in: Herbert Marcuse: Der Kampf gegen den Liberalismus in der to-
chen Übergang des faschistischen Regimes in eine demokratische
talitären Staatsauffassung. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg.
Regierungsform. Vgl. Antonio Gramsci: Scritti politici III. Roma
1934, S. 161ff. Auch in Wolfgang Abendroth (Hg.): Kapitalismus und
1973, p. 196ff. Am 9. November 1926 erfolgt das Parteienverbot
Faschismus, a.a.O., S. 39ff. Marcuse wie Neumann gehen von einem
und am gleichen Abend noch die Inhaftierung des kommunistischen
historischen Funktionswandel der liberalen Rechts- und Staatsauf-
Parlamentsabgeordneten Gramsci.

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24 Vgl. Ignazio Silone: Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Ent- und Vernichtungspolitik. In: Ders.: u.a. Falun. Reden & Aufsätze.
wicklung (1934). Frankfurt a. M. 1984, S. 179ff. Silone vertritt aller- Berlin 1992, S. 265ff.
dings die These einer »Verstaatlichung der Fascistischen Partei« (S. 29 Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 1. Frank-
172f.). Hannah Arendt geht noch weiter, wenn sie in dem 1927 mit furt 1990, S. 60; vgl. auch Stephan Bundschuh: »Bist du Jude? Wie-
der »Carta del Lavoro« eingeführten Korporativsystem eine »›Ver- so lebst du dann?« Zu Raul Hilbergs Werk »Die Vernichtung der
staatlichung‹ der Gesellschaft«, die »Einbeziehung des gesamten europäischen Juden«. In: Redaktion diskus (Hg.): Die freundliche Zi-
Volkes in den Staatsapparat« sieht; Hannah Arendt: Elemente und vilgesellschaft. Rassismus und Nationalismus in Deutschland. Berlin,
Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986, S. 412. Doch weder Amsterdam 1992, S. 53ff.
wurde die Partei dem Staat völlig untergeordnet noch war der kor-
porative Staat mehr als ein Ideal. Vgl. Wolfgang Schieder: Der
Strukturwandel der faschistischen Partei Italiens in der Phase der
Herrschaftsstabilisierung. In: Ders. (Hg.): Faschismus als soziale Bewe-
gung. Deutschland und Italien im Vergleich. 2. Aufl. Göttingen
1983, S. 89. Bezogen auf den »stato corporativo« betont etwa
Silone, daß »in Italien die Korporationen in Wirklichkeit überhaupt
nicht« existieren, sondern die »korporative Ideologie« (S. 222ff.).
25 Vgl. die Hinweise in: Wolfgang Wippermann: War der italienische
Faschismus rassistisch? Anmerkungen zur Kritik an der Verwendung
eines allgemeinen Faschismusbegriffes. In: Werner Röhr (Hg.): Fa-
schismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer. Ber-
lin 1992, S. 108 – 122
26 Vgl. Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatri-
scher Patienten und anderer Insassen. Frankfurt 1972, S. 13ff. Im
Unterschied zu Goffman thematisiert Michel Foucault die totale In-
stitution nur bezogen auf das Gefängnis; Michel Foucault: Überwa-
chen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.
1977, S. 301ff. Zur Kritik der in mehrfacher Weise – auch historisch
– begrenzten Sicht Foucaults vgl. Hubert Treiber/Heinz Steinert:
Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Über die »Wahlverwand-
schaft« von Kloster- und Fabrikdisziplin. München 1980, S. 77ff.
Und schließlich, bezogen auf die Armee, siehe auch Hubert Treiber:
Wie man Soldaten macht. Sozialisation in »kasernierter Vergesell-
schaftung«. Düsseldorf 1973.
27 Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts.
Die Ideologie der gesunden Normalität und die Ausrottungspoliti-
ken im deutschen Faschismus. Berlin 1986.
28 Leo Löwenthal: Individuum und Terror (1946). In: Ders.: Schriften
3. Frankfurt a. M. 1982, S. 164. Zum Begriff der Logik des Terrors
vgl. auch die um historische Dimensionen, die »Terror-Rationalität
der renaissance-spanischen antijüdischen Politik« am Ende des 15.
Jahrhunderts erweiterte Sichtweise in: Jan Philipp Reemtsma: Ter-
roratio. Überlegungen zum Zusammenhang von Terror, Rationalität

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Texthinweise

Ein Teil der Beiträge ist zwischen 1992 und 1994 in ver-
schiedenen Publikationen zuerst erschienen. Für den vorlie-
genden Band wurden sie durchgesehen, überarbeitet und
teilweise erheblich erweitert.
Rechtes Denken und linke Intellektuelle aus: Wohlfahrtsaus-
schüsse (Hrsg.): Etwas Besseres als die Nation. Berlin, Am-
sterdam: Edition ID-Archiv 1994.
Zauberwort Kultur Originalbeitrag, der auf einen Vortrag
am 11. Januar 1994 an der Universität Frankfurt und einen
Aufsatz gleichen Titels in der Broschüre »Rassismus. Beiträ-
ge zur Diskussion« der Rassismus AG am Fachbereich
Neuere Philologien zurückgeht.
Ein Mythos, ein Staat, ein Volk aus: Links ist da, wo keine
Heimat ist. Arbeitsheft zur Theoretischen Konferenz über
Nation, Nationalismus und Antinationalismus vom 12. No-
vember 1994 in Dresden.
Theorien über Rassismus und Ethnizität Originalbeitrag,
der auf einen Vortrag am 26. März 1993 bei dem von der Ba-
sisgruppe Politikwissenschaft an der Universität Wien ver-
anstalten Symposium »Wer keine Wahl hat, hat die Qual.
Rassismus – Antirassismus« zurückgeht.
Rassismus und Nationalismus der »Neuen Rechten« in der
Bundesrepublik aus: Das Argument 195, September/Oktober
1992.
Faschismus und Demokratie aus: Die Beute 2/94.
Zum Autor
Jost Müller lebt in Frankfurt am Main. Er ist Redakteur der
Vierteljahreszeitschrift Die Beute und hat in der Edition ID-
Archiv die beiden Bände Küss den Boden der Freiheit. diskus –
Texte der Neuen Linken und Die freundliche Zivilgesellschaft
mitherausgegeben. Zur Zeit forscht er zu den semantischen
Transformationen des Kulturbegriffs im historischen Fa-
schisierungsprozeß in Deutschland und nimmt Lehraufträge
in Germanistik und Politologie an den Universitäten Frank-
furt a. M. und Wien wahr.

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