Musik-Konzepte
Neue Folge
Heft 180/181
Alvin Lucier
Herausgegeben von
Ulrich Tadday
2018
Vorwort3
Bernhard Rietbrock
Alvin Lucier und das Reale
Eine Ästhetik der minimalen Differenz 5
Volker Straebel
Musikalische Repräsentation geometrischer Objekte
in Alvin Luciers Kammermusik 47
Sabine Sanio
Musik als Raumkunst
Zur Ästhetik von Alvin Lucier 72
Tobias Gerber
Technologie als Landschaft als Klangraum
Alvin Luciers Bird and Person Dyning95
Jan Thoben
Look at the Natural World
Klang und Licht bei Alvin Lucier 110
Dieter Mersch
Von Wissenschaft zur Kunst
Alvin Luciers kompositorisches Werk als Kunstforschung 130
Helga de la Motte
No Ideas But In Things
Das kompositorische Denken von Alvin Lucier im Kontext
amerikanischer Ästhetik165
Martin Supper
Der Raum als Instrument
Bemerkungen zu I Am Sitting in a Room for voice and
electromagnetic tape (1969)178
Abstracts193
Zeittafel199
Vorwort
Gegenstand dieses Doppelbandes ist das außergewöhnliche Werk und die ei-
genwillige Ästhetik des 1931 in Nashua, New Hampshire geborenen Kom-
ponisten Alvin Lucier. Als ein wichtiger Vertreter der amerikanischen Musik
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt Luciers Pionierarbeit vor allem
darin, gewöhnlich Unhörbares hörbar, aber auch Hörbares auf ungewöhnli-
che Weise sichtbar oder räumlich erfahrbar zu machen. Ob während der Phase
der Live-Elektronik in den 1960er und 1970er Jahren mittels Verbalpartitu-
ren oder seit den frühen 1980ern anhand traditionell notierter Instrumental-
stücke, fokussiert Lucier entsprechend konsequent akustische als auch akus-
tisch generierte Phänomene, wie minutiös geplante Schwebungen oder
Raumresonanzen. Verstanden als ästhetische Reflexionen verweisen diese
ebenso minimalistischen wie abwechslungsreichen Werke Luciers neben der
Phänomenalität des Klangs stets auch auf die Wahrnehmung der Wahrneh-
mung selbst. Seine bis heute mit Abstand populärste Arbeit I Am Sitting in a
Room (1969) gilt dabei als eine der bedeutendsten experimentellen Komposi-
tionen des 20. Jahrhunderts überhaupt.
Die Autorinnen und Autoren des Doppelbandes stecken ein weites Feld ab,
um das vielfältige Schaffen Luciers für den geneigten Leser und Hörer einzu-
grenzen und überschaubar zu machen. Nach einer fulminanten Einführung
von Bernhard Rietbrock, der maßgeblich an der Konzeption und Entstehung
des Bandes beteiligt gewesen ist und dem der Herausgeber für Rat und Tat
sehr zu danken hat, wendet sich Volker Straebel im Besonderen der Repräsen-
tation geometrischer Objekte in Luciers Kammermusik zu, wonach Sabine
Sanio im Allgemeinen Luciers Musik als Raumkunst reflektiert. Am Beispiel
von Bird and Person Dyning (1975) wird die räumliche Dimension der Musik
Luciers dann von Tobias Gerber weiter erkundet. Jan Thoben widmet seinen
Beitrag einem anderen klanglichen Aspekt, nämlich dem medialen Wechsel-
verhältnis von Klang und Licht, das in Luciers Kompositionen der Jahre 1972
bis 1994 eine bedeutende Rolle spielt. Luciers ästhetische Forschung hat, wie
Thoben am Verhältnis von Klang und Licht bzw. Hören und Sehen exempli-
fiziert, zahlreiche wissenschaftshistorische Implikationen, die Dieter Mersch
philosophisch zum Thema macht, indem er Luciers kompositorisches Werk
als Kunstforschung betrachtet. Im Anschluss daran greift Jörn Peter Hiekel
die ästhetischen Konstanten im Werk Luciers auf und ordnet diese in den
Kontext der europäischen Gegenwartsmusik ein. Zentral dabei sind Aspekte
wie Raum, Körper/Performativität, Reduktion und Konzeptualismus. Zu den
Konstanten seines als »phänomenologisch« charakterisierbaren Ansatzes zählt
aber auch die Neigung, Anregungen aus anderen Kunstbereichen aufzugrei-
fen, sowie die damit oft verbundene Idee, das Komponieren in einem spezifi-
schen Sinne als Erkenntnispraxis zu verstehen. Helga de la Motte spinnt den
4 Vorwort
Ulrich Tadday
178 Martin Supper
Martin Supper
Dass Musik in Räumen gespielt und dargeboten wird ist obsolet. Die gegebe-
nen Räume können sich dabei bemerkenswert unterschiedlich auf die künst-
lerischen Prozesse des Komponierens auswirken. Hier daher zunächst ein
Überblick über eigentlich Selbstverständliches.
Auf die Verschiedenartigkeit architektonischer Räume wurde im Laufe der
Musikgeschichte unterschiedlich reagiert. Die in der Venezianischen Schule
(ca. 1530–1620) entwickelte Ensemblekanzone nahm dabei besonderen Be-
zug auf die architektonischen und akustischen Gegebenheiten der Kathedrale
von San Marco. Sie gilt als Auslöser zur kompositorischen Einbeziehung der
mehrfachen Emporen von San Marco für mehrstimmige und mehrchörige
Werke.
Für den Bau heutiger Konzertsäle hat sich eine für Architekten gültige
Norm herauskristallisiert, die für Konzertdarbietungen Neuer Musik nur we-
nig geeignet ist. Moderne Konzertsäle haben akustische Eigenschaften, die
vorwiegend für die Musik des 19. Jahrhunderts geeignet ist. Dies gilt zum ei-
nen für die Nachhallzeit des Raumes, zum anderen für die Anordnung von
Orchesterpodium und der Bestuhlung für die Zuhörer: Das Publikum sitzt
wie in einem Theaterraum und blickt bzw. hört in eine Richtung. In fast allen
bekannten Konzertsälen wäre es daher nicht möglich, ein Werk wie Karlheinz
Stockhausens Carré für vier Orchester und vier Chöre (1958/59), die im
Quadrat angeordnet sind, aufzuführen.
1 Rudolf Carnap, Mein Weg in die Philosophie [Original: Rudolf Carnap, Intellectual Autobiography,
London 1963], Stuttgart 1993 (= Reclams UB 8844), S. 18 und 19.
Der Raum als Instrument. I Am Sitting in a Room 179
Die Akustik eines Raumes wird primär durch die Nachhallzeit bestimmt.
So hat beispielsweise das Ulmer Münster eine Nachhallzeit von ca. 12 Se-
kunden. Der Raum bestimmt jedoch auch, welche Frequenzanteile eines
Klanges angehoben oder abgeschwächt werden.
Die Auseinandersetzung mit Elektroakustischer Musik und Klangkunst
und den damit verbundenen Medien führte zu einer (Rück-)Besinnung da-
hingehend, den Raum wieder in das kompositorische Konzept einzubeziehen.
Durch die Einbeziehung elektroakustischer Technologien kann der archi-
tektonische Raum auf verschiedene Arten verwendet werden:
– die Bewegung des Klanges im Raum
– der virtuelle und der simulierte Raum
– der Raum als Instrument
»In der Komposition ›Gesang der Jünglinge‹ habe ich versucht, die
Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum zu gestalten
und als eine neue Dimension für das musikalische Erlebnis zu er-
schließen. (…) Von welcher Seite, mit wie vielen Lautsprechern zu-
gleich, ob mit Links- oder Rechtsdrehung, teilweise starr und teil-
weise beweglich die Klänge und Klanggruppen in den Raum gestrahlt
werden: das alles ist für das Verständnis dieses Werkes maßgeblich.« 2
Stockhausens bekanntes Werk Gesang der Jünglinge (1955/56) ist weit mehr
als eine Komposition für Lautsprecher. Es ist die erste Komposition elektro-
2 Karlheinz Stockhausen, »Musik und Raum [1959]«, in: Texte, Bd. 1, hrsg. von Dieter Schnebel,
Köln 1963, S. 152–175, hier S. 153.
180 Martin Supper
3 Siehe dazu Annette Vande Gorne, »Espace/Temps. Historique«, in: LIEN. Revue d’esthétique
musicale (L’Espace du Son), 1988, S. 8–15. Gisela Nauck, Musik im Raum – Raum in der Musik,
hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Stuttgart 1997 (= Archiv für Musikwissenschaft 38).
4 Siehe dazu Karlheinz Stockhausen, »KONTAKTE für elektronische Klänge, Klavier und Schlag-
zeug [1968]«, in: Texte, Bd. 3, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln 1971, S. 28 – 30.
5 Siehe dazu Pierre Boulez/Jean-Jaques Nattiez, »Musique/Espace«, in: LIEN. Revue d’esthétique
musicale (L’Espace du Son II), 1991, S. 115–116.
6 Siehe dazu die Visualisierung der Klangbewegungen im Raum in: Pierre Boulez/Andrew Gerzso,
»Computer als Orchesterinstrumente«, in: Die Physik der Musikinstrumente, Heidelberg 1988,
S. 178–184, hier S. 178 und 179.
Der Raum als Instrument. I Am Sitting in a Room 181
7 Siehe dazu Pierre Boulez, »Über Répons – ein Interview mit Josef Häusler«, in: Josef Häusler
(Hrsg.), Teilton. Schriftenreihe der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks, H. 4, Kassel 1985,
S. 7–14; IRCAM (Hrsg.), REPONS – BOULEZ, Paris 1988; Andrew Gerzso, »Reflections on
Répons«, in: Contemporary Music Review. Musical Thought at IRCAM, 1 (1/1984), S. 23 – 34.
8 Unberücksichtigt bleibt bei dieser Überlegung, dass der Tonmeister einen wesentlichen Einfluss
auf die »Abbildung« des Raumes hat und dieses »Bild« beliebig manipulieren kann.
9 Siehe dazu Barbara Barthelmes, »Musik und Raum – ein Konzept der Avantgarde«, in: Musik und
Raum. Eine Sammlung von Beiträgen aus historischer und künstlerischer Sicht zur Bedeutung des
Begriffes ›Raum‹ als Klangträger für die Musik, hrsg. von Thüring Bräm, Basel 1986, S. 75 – 89.
182 Martin Supper
band aufgenommen, sondern direkt zum Vorplatz des New Yorker World
Trade Center übertragen und dort über Lautsprecher zum Hören gebracht.
Der Rezipient wird mehr noch als bei Fontanas Projekt Entfernte Züge irri-
tiert, da der übermittelte, akustische Raum, die Brooklyn Bridge, mit dem
Realraum des Zuhörers in keiner Weise übereinstimmt. 10
Bei Fontanas Arbeiten werden vom Rezipienten sowohl virtuelle als auch
simulierte Räume konstruiert, wobei dies akustische und visuelle Räume sein
können. 11 Akustische, virtuelle Räume zu gestalten, ist durch elektronische
Hallgeräte möglich. Digitale Hallgeräte erlauben einerseits die Simulation
bekannter Realräume, wie Kirchen, Keller, Badezimmer etc., und genau in
dieser Funktion werden sie bei Hörspielproduktionen und zum großen Teil
bei Musikproduktionen eingesetzt. Mit diesen Geräten ist es jedoch auch
möglich, akustische Räume zu komponieren, die architektonisch nicht gebaut
werden können. Ein extremes Beispiel wäre ein unendlicher Nachhall oder die
Inversion eines Nachhalls.
Bei der Projektion eines akustischen Raumes in den Realraum des Zuhö-
rers und auch bei der elektroakustischen Konstruktion eines Raumes gibt es
ein grundsätzliches Problem: Die Raumwahrnehmung geschieht nicht nur
mit den Ohren, sondern auch mit den Augen und dem Tastsinn. Jede elektro-
akustische Übertragung eines anderen Raumes in den Realraum bleibt daher
eine akustische Fotografie. Der Rezipient hört zwar den anderen Raum, die
Raumempfindung bleibt jedoch überwiegend bei der des Realraumes.
Bei vielen Fernsehsendungen wird selten bemerkt, dass der übertragene
Raum im Bild mit dem akustischen Raum nicht übereinstimmt. Im Freien
singende Chorgemeinschaften singen mit raumloser, trockener Akustik, wer-
den jedoch nach dem Mitschnitt mit opulentem Nachhall künstlich versehen.
Jede in der Prärie abgeschossene Gewehrkugel hätte nur einen sehr kurzen,
nachhallfreien Knall, wird jedoch auch hier mit nicht existierenden Räumen
versehen.
10 Raumkonzeptionen wie Fontanas Arbeiten berühren den ganzen Bereich dessen, was Klangins
tallion, Klangskulptur oder auch Klangkunst genannt wird. Eine aktuelle Darstellung dieser
Kunstrichtungen geben folgende Ausstellungskataloge: Helga de la Motte-Haber/Akademie
der Künste Berlin (Hrsg.), Klangkunst: Erschienen anlässlich von Sonambiente, Festival für Hören
und Sehen. Internationale Klangkunst im Rahmen der 300-Jahrfeier der Akademie der Künste,
Berlin. 9. August–8. September 1996, München 1996; René Block/Lorenz Dombois/Nele
Hertling/Barbara Volkmann (Hrsg.), Für Augen und Ohren. Von der Spieluhr zum akustischen
Environment, Berlin 1980 (= Akademie-Katalog 127).
11 Der Autor bezeichnet die Simulation akustischer Räume dann als akustische, virtuelle Räume,
wenn sie architektonisch nicht gebaut werden können. Als Simulation begreift der Autor akus-
tische Räume, die existieren, und auch solche, die nicht existieren, aber gebaut werden könnten.
Der Raum als Instrument. I Am Sitting in a Room 183
»In Music for Sound Joined-Rooms, and Mini-Sound Series I use the
architectural features of a building to customize sound, visual, and
spatial elements, creating multi-dimensional environment-oriented
experiences, anticipating virtual immersion environments. As the
audience moves through new scenes being created by the ›Sound
Characters,‹ they navigate the expanded dimensions of a sonic world
that is staged throughout the architectural site, an entire building, or
its rooms. The idea is to create an atmosphere that gives the drama of
being inside a cinematic close-up, a form of ›sonic theater‹ in which
architecture magnifies the sensorial presence of experience. Rooms,
walls, and corridors that sing. I produce these works in location-ba-
sed installations/performances that are built from ›structure borne‹
sound (sound propagated through walls, floors, rooms, corridors),
which acousticians distinguish from the ›airborne‹ sound distributed
by loudspeakers only. Creating the detailed sound design is very
much like scripting a sonic choreography. In some episodes sound
sweeps through the rooms; in others, chords and tonalities are intri-
cately joined between the rooms; in still others, a particular sound
shape is emphasized to animate sonic imaging of a distant room. The
rooms themselves become speakers producing sound which is felt
throughout the body as well as heard.« 12
12
http://www.foundationforcontemporaryarts.org/recipients/maryanne-amacher [letzter Zu-
griff: 8.2.2018].
184 Martin Supper
Alvin Lucier
»I AM SITTING IN A ROOM« (1970)
Necessary Equipment:
1 microphone
2 tape recorders
1 amplifier
1 loudspeaker
Choose a room the musical qualities of which you would like to
evoke.
Der Raum als Instrument. I Am Sitting in a Room 185
»Ich sitze hier in einem Raum, und es ist nicht der Raum, in dem Sie
sich gerade befinden.
Ich nehme meine Sprechstimme auf Tonband auf und werde die Auf-
nahme immer wieder in den Raum zurückspielen, bis die Resonanz-
schwingungen des Raums sich selbst verstärken, so daß jede Sprach-
ähnlichkeit, mit Ausnahme des Rhythmus vielleicht, ausgelöscht
wird.
Was Sie dann hören, sind die natürlichen, durch die Sprache geglie-
derten Resonanzschwingungen des Raums.
Ich betrachte diese Aktivität weniger als Demonstration eines physi-
kalischen Sachverhalts, sondern eher als ein Mittel, jede Art von
Unregelmäßigkeit zu glätten, die meine Sprache aufweisen mag.« 13
Der gesprochene Text erläutert dem Hörer den Entstehungsprozess und den
Hinweis auf die sukzessiven Veränderungen, die während des Hörens wahr-
genommen werden. Anders: Der einmal aufgenommene Text wird über die
Kopiervorgänge permanent wiederholt, und bei jeder Wiederholung wird die
Sprache weniger verständlich, die Raumakustik, die »Sprache« des Raumes,
mehr und mehr hörbar.
Die erste Aufführung 14 fand 1970 im Guggenheim Museum in New York
statt. I Am Sitting in a Room war dabei eine akustische Analogie zu der im
Museum gezeigten Polaroid Image Series von Mary Lucier bzw. diese eine vi-
suelle Analogie nach dem Tonbandstück: Nach einem ersten Schnappschuss
mit der Kamera wurde ein Foto von einem Foto von einem Foto und so weiter
erstellt. Zwei benachbarte Fotos hatten eine sehr große Ähnlichkeit, weiter
entfernte weniger Ähnlichkeit, und das erste und das letzte zeigten keine Ähn-
lichkeit mehr.
Die Idee eines materialgerechten Komponierens wird bei Luciers Komposi-
tion konsequent erfüllt: die Einbeziehung des Raumes mit seinen akustischen
Gegebenheiten und ebenso die der anderen Instrumente – Mikrofon, Ton-
bandgeräte, Tonbänder, Verstärker, Lautsprecher – mit ihren jeweiligen elek-
troakustischen Eigenschaften. Ohne diese technischen Gerätschaften könnte
I Am Sitting in a Room nicht nur nicht realisiert werden. Die Idee dazu könnte
auch nicht entstehen. Mit »materialgerecht« meine ich hier, dass das von Lu-
cier verwendete Instrumentarium als Instrument betrachtet wird und bei ihm
13 Zit. nach Alvin Lucier, Reflections. Interviews, Scores, Writings/Reflexionen. Interviews, Scores,
Writings 1965–1994, hrsg. von Gisela Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel, Übersetzung
von Gisela Gronemeyer, Frank Gertich und Petra Crosby, Köln 1995 (= Edition Musik-
Texte 003), S. 322 und 323.
14 Mit Aufführung ist ein reines Lautsprecherkonzert gemeint, bei dem das fertig geklebte Mag-
nettonband vorgeführt wird.
Der Raum als Instrument. I Am Sitting in a Room 187
nicht die üblichen Funktionen hat: Aufzeichnung und Wiedergabe von Spra-
che und Musik, also Abbildung einer bekannten akustischen Realität.
Die Idee, konventionelle Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräte anders als
von den Herstellern gedacht einzusetzen, hatten bereits Paul Hindemith und
Ernst Toch, die 1930 Originalwerke für die Schallplatte vorführten. So ver-
schieden diese Ansätze sind, der von Hans Rudolf Zeller 1978 eingeführte
Begriff »Medienkomposition« kommt sowohl bei Paul Hindemith und Ernst
Toch und später auch Alvin Lucier zum Tragen.
Für den Realisationsprozess der Kompositionsentstehung von I Am Sitting
in a Room sind diese Instrumente – Raum, Mikrofon, Tonbandgeräte, Ton-
bänder, Verstärker, Lautsprecher – einerseits notwendig, andererseits werden
die akustischen Transformationen ausschließlich von diesen Instrumenten be-
stimmt. Insbesondere kristallisieren sich durch die Kopiervorgänge die Reson-
anzeigenschaften eines Raumes heraus. Lucier: »Jeder Raum hat eine Melodie,
die solange verborgen bleibt, bis sie zum Klingen gebracht wird.« 15
Jede Realisation von I Am Sitting in a Room wird anders ausfallen, da jeder
Raum ein anderer ist. Seit Luciers erster Realisation sind zahlreiche Versio-
nen erstellt worden, beispielsweise eine Schwedischsprachige, die der Kom-
ponist Lars-Gunnar Bodin erstellte und eine deutschsprachige Berliner Version
(1986), die Lucier mit dem Autor realisierte. 16
Lucier ist vermutlich der erste Komponist, der die akustischen Gegeben-
heiten des Realraumes zur Transformation des primären Klangmaterials ver-
wendet. La Monte Young und Marian Zazeela sind bei ihrer Klangskulptur
Dream House (1962–) zwar auf die Eigenschaften des Realraumes angewiesen,
doch kann das Prinzip der stehenden Wellen jedem Raum derart angepasst
werden, dass in verschiedenen Aufführungsräumen klanglich nur ein unwe-
sentlicher Unterschied entsteht.
Nach der Partituranweisung kann I Am Sitting in a Room auch innerhalb
eines Live-Konzertes realisiert werden, d. h. Zuhörer und Performer befinden
sich im selben Raum, in dem die Klangtransformationen geschehen. Der Text
wird demnach entsprechend modifiziert: »I am sitting in a room, the same
one you are in now. I am recording the sound of my speaking voice.« Der
Autor erlebte dies auf dem Festival WIEN MODERN 2000. Alvin Lucier kam
auf die Bühne, setzte sich vor das Mikrofon und sprach den Text. Das Ton-
band bewegte sich als riesige Endlosschleife über dem Publikum und rotierte
zwischen den auf der Bühne stehenden Tonbandgeräten und einer hinter dem
Publikum angebrachten Umwegrolle. Lucier verließ nach dem Sprechen des
Textes die Bühne. Ein Tontechniker blieb bei den beiden Tonbandgeräten.
15 Alvin Lucier, »Jeder Raum hat seine eigene Melodie«, in: ders., Reflections (s. Anm. 13), S. 94 –
103, hier S. 101.
16 Realisiert für das Festival INVENTIONEN ’86/ SPRACHEN DER KÜNSTE III, Musik und
Sprache, Berlin, 1986.
188 Martin Supper
1969
Online unter: UbuWeb. All avant-garde. All the time,
https://ubusound.memoryoftheworld.org/source/Lucier-Alvin_
Sitting.mp3
[letzter Zugriff: 8.2.2018]
Übernommene Schallfolie aus dem SOURCE-Magazine.
1980
Vinyl, LP: Lovely Music, Ltd. New York 1981, Vital Records,
VR 1013
Wiederveröffentlicht auf CD: Lovely Music, Ltd. New York 1993,
LCD 1013
Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=fAxHlLK3Oyk
[letzter Zugriff: 5.2.2018]
Im Begleittext der von Lovely Music veröffentlichten Version heißt es: »This
recording was made by Alvin Lucier on October 29th and 31st, 1980, in the
living room of his home in Middletown, CT. The material was recorded on a
Nagra tape recorder with an Electro-Voice 635 dynamic microphone and
played back on one channel of a Revox A77 tape recorder, Dynaco amplifier
and a KLH Model Six loudspeaker. It consists of thirty-two generations of
Alvin Lucier’s speech and was made expressly for Lovely Music, Ltd.«
17 https://www.moma.org/explore/inside_out/2015/01/20/collecting-alvin-luciers-i-am-sitting-
in-a-room/ [letzter Zugriff: 8.2.2018].
Der Raum als Instrument. I Am Sitting in a Room 189
Im Folgenden möchte ich über gewisse Umwege über dieses Phänomen teils
spekulieren, teils darauf hinweisen. Im Wesentlichen möchte ich jedoch zei-
gen, wie wir unbemerkt uns an der Akustik gegebener Räume orientieren,
auch Räume, die wir nur über Lautsprecherwiedergabe kennen, aber auch,
wie sehr uns erst Alvin Lucier das Hören von Räumen bewusst werden lässt.
Erinnerungen II (Raum)
Ein eigenes Erlebnis: Als Schüler war ich ca. 50 Mal bei unterschiedlichsten
Konzertveranstaltungen im Beethoven-Saal der Stuttgarter Liederhalle, des
heutigen Kultur- und Kongresszentrums Liederhalle, 1955 – 56 von den Ar-
chitekten Rolf Gutbrod und Adolf Abel unter Mitwirkung des Akustikers
Lothar Cremer erbaut. In späteren Jahren hörte ich eine mittlerweile histori-
sche Schallplatte des Organisten Martin Günther Förstemann. Gleich einem
Traum kamen mir beim Hören Erinnerungen an meine früheren Konzertbe-
suche, wobei ich dort nie die Orgel dieses Konzertsaales gehört hatte. Nicht
die Kompositionen, nicht die Orgel, nein, der Raum war es, der diese Erinne-
rung erzeugte. Tatsächlich entstanden die Aufnahmen dieser Schallplatte
1966 in diesem Konzertsaal (Langspielplatte PHILIPS A04 450 L [stereo
838 700 AY] mit Werken von Max Reger, Dietrich Buxtehude und Johann
190 Martin Supper
Sebastian Bach). Kurz: Die berühmte Akustik dieses Raumes wurde nicht nur
über Einspielungen und Rundfunkübertragungen auch außerhalb des Rau-
mes präsent, die Firma Yamaha setzte ihm gewissermaßen ein Denkmal, denn
die Daten für den Effekt-Modus Hall ihrer AV-Receiver wurden im Stutt-
garter Beethoven-Saal ermittelt.
Exkurs
Wie hören wir Räume? Hören wir Räume? Selbstverständlichkeiten werden
nicht unmittelbar wahrgenommen. Wir lauschen einem Redner und erinnern
uns später an den Klang seiner Stimme. Wir hören der Stimme zu und: Wir
bemerken nicht, dass die Stimme stets auch den Raum akustisch anregt und
wir diesen Raum dadurch mithören. In sehr großen Räumen wird es jedoch
augenfällig. Beispielsweise bei einer Führung im Kölner Dom, im Markus-
dom (Basilica di San Marco). Ist der Redner vor uns, überwiegt der sogenannte
Direktschall. Entfernt sich der Redner von uns, nimmt der Direktschall ab,
und der sogenannte Diffusschall (also der Raum, genauer, der [Nach-]Hall
des Raumes) wird stärker wahrgenommen. Überschreitet der Redner den
Hallradius, die Linie, auf der Direkt- und Diffusschall die gleiche Lautheit
haben, dann überwiegt schließlich das Klangerlebnis des Raumes, die »Spra-
che des Raumes«, das Filter Raum.
Wayne Slawson formulierte in seinem Buch Sound Color ein sehr einfaches
und anschauliches Modell: Source → Filter → Sound. 18 Source wäre in dem
zuletzt angeführten Beispiel die Stimme. Filter der Raum in dem die Stimme
sich artikuliert. Sound schließlich das, was wir als Summe hören.
tens den Klang in den Hallraum geschickt. Dort wurde er von Lautsprechern
ausgestrahlt und durch Mikrophone wieder zurückgeschickt.« 19
Nun, was hat dieser Ausflug mit Alvin Lucier und I Am Sitting in a Room for
voice and electromagnetic tape zu tun? Lucier nimmt uns gleichsam an die
Hand und führt uns zu den beschriebenen Selbstverständlichkeiten zurück.
Glaubten wir bei unseren alltäglichen Hörerfahrungen nur eine Stimme, ein
Orchester, einen Chor zu hören – der von diesen Klangerzeugern angeregte
Raum blieb uns mehr oder weniger verborgen –, so zeigt uns Lucier sukzessive
mehr und mehr den Raum. Die bisherigen (Hör-)Erfahrungen werden gewis-
sermaßen vertauscht: Die Stimme verschwindet, der Raum bleibt übrig.
Dass wir in der Regel auf Luciers eigene Version von 1980 zurückgreifen,
lässt die Frage erlauben, ob diese Version nicht mittlerweile das eigentliche
Werk geworden ist? Neben der unbewussten Orientierung am Raum des Hö-
rers (bei dieser Realisation) spielt auf jeden Fall auch der Duktus des Spre-
chens von Lucier eine Rolle. Deutlich kann beim Betrachten von Sonagram-
men gezeigt werden, welchen großen Einfluss auf das Gesamtergebnis sein
19 Marietta Morawska-Büngeler, Schwingende Elektronen. Eine Dokumentation über das Studio für
Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln 1951–1986, Köln 1988, S. 45.
192 Martin Supper
Stottern hat: Beispielsweise ist dies deutlich zu sehen und auch zu hören bei
dem stotterndem Textteil »to s s smooth out«. 20 Haben sich die Hörer neben
Akustik seines (living) Raumes auch an die Stotterer gewöhnt, so werden diese
bei anderen Aufnahmen mit Lucier unmittelbar vermisst, da sie fehlen oder
an anderer Stelle liegen. Der Rhythmus seines Sprechens von 1980 – anfangs
betont trochäisch, Verwandlung zum Daktylus und schließlich jambisch – ist
auch dann noch wahrzunehmen, wenn die Sprache längst verschwunden ist,
der Raum dominiert.
Wie ehedem in der Legende Franz von Assisi die Sprache der Vögel aus ihrem
Gefängnis befreite, zeigt Alvin Lucier uns die Sprache des Raumes.
20 Siehe dazu Benjamin Broening, »Alvin Lucier�s ›I am sitting in a room‹«, in: Analytical Methods
of Electroacoustic Music, hrsg. von Mary Simoni, New York 2006, (= Studies on New Music Re-
search, hrsg. von Marc Leman), S. 89–110.
Bisher sind in der Reihe Musik-Konzepte erschienen
Rudolf Kolisch
Richard Wagner Tempo und Charakter in Alexander Zemlinsky
Tristan und Isolde Beethovens Musik Der König Kandaules
(57/58) 153 Seiten (76/77) – vergriffen – (92/93/94) 259 Seiten
ISBN 978-3-88377-269-1 ISBN 978-3-88377-546-3