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BeNeLux € 5,50 Finnland € 7,80 Griechenland € 6,80 Norwegen NOK 72,– Polen (ISSN00387452) ZL 31,– Slowakei € 6,50 Spanien

7452) ZL 31,– Slowakei € 6,50 Spanien € 6,30 Printed in


Dänemark dkr 51,– Frankreich € 6,30 Italien € 6,30 Österreich € 5,50 Portugal (cont) € 6,30,– Slowenien € 6,20 Spanien/Kanaren € 6,50 Germany

ARROGANT.

Ende des Schweigens


Der Fall Weinstein: Hollywood, der Sex und die Gewalt
„ ICH BIN NICHT

Präsident Emmanuel Macron


SPIEGEL-Gespräch mit Frankreichs

ICH SAGE UND TUE,


WAS ICH MAG.“
Nr. 42 / 14.10.2017
Deutschland €4,90
Was dich bewegt.
Reportagen aus Europa.
Montag bis Freitag 19:40 auf ARTE
und jederzeit im Netz.
@arteRe /REbyARTE arte.tv/re
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, VW-Skandal, „DEIN SPIEGEL“, SPIEGEL WISSEN

Rund 11 000 Quadratmeter Wohn-


und Arbeitsfläche, mehrere Hun-
dert Angestellte, dazu ein riesiger Gar-
ten – der Élysée-Palast mitten in Paris
JEROME BONNET / DER SPIEGEL

ist einer der prächtigsten Amtssitze


der Welt. Seit Kurzem wird er von
Emmanuel Macron bewohnt, der trotz
seiner erst 39 Jahre irgendwie besser
hierherpasst als viele seiner Vorgänger.
Wenige Tage bevor er diese Woche
Sandberg, Macron, Heyer, Brinkbäumer die Frankfurter Buchmesse eröffnete,
empfing der französische Präsident die
SPIEGEL-Redakteure Klaus Brinkbäumer, Julia Amalia Heyer und Britta Sand-
berg. 70 Minuten lang sprach er mit ihnen im „Salon doré“ über sein Projekt für
Europa und die ersten Monate im Amt, aber auch über seine Lieblingsbücher
und seine tiefe Zuneigung zur deutschen Kanzlerin. Der Unterhaltung wohnte
der ungestüme Präsidentenhund Nemo bei – ungerührt knabberte er die Louis-
quinze-Sessel an, während Macron erklärte, dass er nicht vorhabe, sich von
dem Prunk erdrücken zu lassen. Aber er gab auch zu: „Nichts ist mehr unschuldig,
75 €
+ Flat-Fee
wenn Sie Staatspräsident sind.“ Seite 12

A
ls New-York-Korrespondent Philipp
Oehmke kürzlich einen Mietwagen be- Das Leben
ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL

nötigte, bot ihm der Verleiher ein kosten-


loses Upgrade auf „etwas Spezielles“ an.
Kurz darauf saß Oehmke in einem knallroten
ist nicht fair.
Dodge Charger R/T: 485 PS stark und mit
einem Motorengeräusch, das eine ganze
Nachbarschaft aufwecken kann. Während er
Dein Depot
mit dem Gefährt über den Highway von Pitts-
burgh nach West Virginia röhrte, reckten
Besch, Oehmke, Kappanna
schon.
Fahrer von Pick-ups mit Trump-Aufklebern anerkennend den Daumen – und
Oehmke grämte sich. Das Auto könnte von den Männern, die er besuchen
wollte, als unpassend empfunden werden, befürchtete er. Doch die Sorgen waren
unbegründet: Hemanth Kappanna, Arvind Thiruvengadam und Marc Besch wa-
ren begeistert von dem Boliden. Im Sommer 2013 hatten die drei während ihres Jetzt Direkt-Depot eröffnen
Studiums an der West Virginia University lange Fahrtests mit Dieselfahrzeugen und Flat-Fee sichern!
deutscher Hersteller durchgeführt – und so den VW-Skandal ins Rollen gebracht. Handeln Sie für nur 4,50 € statt
„Die drei bewerten den Abgasbetrug bis heute nicht moralisch“, sagt Oehmke, mind. 9,90 € pro Order und
„sie finden ihn eher interessant.“ Seite 60
sichern Sie sich 75 € Gutschrift.
Zusätzlich können Sie rund
T
homas Müller ist ein Weltstar – aber
ohne seine Mitspieler, sagt er, wäre er
das nie geworden. Im Interview mit „Dein
1.000 ETFs gebührenfrei kaufen.

SPIEGEL“, dem Nachrichten-Magazin für


Kinder, schwärmt der Fußballprofi vom Er- Mehr Infos unter
lebnis, mit anderen eine Gemeinschaft zu
bilden. Außerdem im Heft: wie eine deut- ing-diba.de/direkt-depot
sche Ärztin Menschen in Bangladesch hilft –
und warum niedliche Haustiere oft krank
sind. Dem Verhältnis von Mensch und Tier widmet sich auch die neue Ausgabe
von SPIEGEL WISSEN. Die Autoren sprachen mit Experten unter anderem über
die Intelligenz von Tieren – und räumen mit einem alten Vorurteil auf: dem
vom „dummen Huhn“. Beide Hefte erscheinen am Dienstag.

DER SPIEGEL 42 / 2017 5


Linksruck gegen
die Rechten
Union Nach der Bundestags-
wahl wollte die CSU ihre
„rechte Flanke“ schließen,
um die AfD zu bekämpfen.
Tatsächlich arbeiten Partei-
chef Horst Seehofer und
Kanzlerin Angela Merkel an
einer anderen Strategie,
um den Rechtspopulisten
Wähler abzujagen: In einer

CHRISTIAN THIEL / IMAGO


Jamaikakoalition wollen
sie mit linker Sozialpolitik
punkten. Seite 30
OLAF WAGNER / IMAGO STOCK

AL SEIB / POLARIS / LAIF


DER SPIEGEL

Angekündigtes Blutbad Beben auf dem Land „Ist doch nichts passiert“
Justiz Ein junger Mann droht, seine Familie Digitalisierung Die Landwirtschaft steht Sexismus Harvey Weinstein war der
zu töten. Die Mutter warnt die Behörden vor einem gewaltigen Umbruch. Viele Bau- mächtigste Filmproduzent seiner Genera-
jahrelang verzweifelt vor ihrem psychisch ern werden ihre Höfe künftig vom Tablet tion – bis bekannt wurde, dass er Frauen
kranken Sohn – vergebens. Im Februar aus lenken: Apps und Sensoren sagen missbraucht und vergewaltigt haben soll.
ersticht er seine Großmutter und rast zwei ihnen, wann sie spritzen müssen oder eine Ein Skandal, der das liberale Amerika
Polizisten tot. Hätten die Taten verhindert Kuh lahmt. Agrokonzerne wie Monsanto trifft und viel über das Verhältnis von Män-
werden können? Seite 54 wittern ein Milliardengeschäft. Seite 68 nern und Frauen heute aussagt. Seite 78

6 Titelbild: Foto: Jérôme Bonnet für den SPIEGEL; [M] Getty Images (5)
In diesem Heft

Titel Medien
Frankreich Präsident Emmanuel Macron im Sexismus Der Fall Weinstein entlarvt
SPIEGEL-Gespräch über seine Freundschaft den Chauvinismus mächtiger
zu Angela Merkel, das Europa des Männer – nicht nur in Hollywood 78
21. Jahrhunderts und die Bedeutung von
Literatur in seinem Leben 12 Ausland

AXEL MARTENS / DER SPIEGEL


Herrschaft Die Macht der Erzählung
Kommentar: Es kann derzeit keine Norma-
im Politikverständnis Macrons 22
lisierung mit der Türkei geben / Chefan-
klägerin des Weltstrafgerichts in Bedrängnis 84
Deutschland USA Donald Trump will einen besseren Deal
Leitartikel Was ist noch grün an mit Iran – das könnte zu einem neuen
Cem Özdemirs Grünen? 8 nuklearen Wettlauf im Nahen Osten führen 86
Meinung Im Zweifel links / So gesehen: Katalonien Hat die Region ihre Unabhängig-
Mehr IQ-Tests in der Politik, bitte! 10 keit von Spanien erklärt oder nicht? 90 Wolfgang Kubicki
Auslandseinsätze der Bundeswehr gehen Analyse Warum es China immer besser geht,
weiter / Schwerkranke beantragen tödliche während der Westen unter Krisen leidet 92 Er werde in Berlin zum
Medikamente / Kohls Witwe ist Alleinerbin 26 Puerto Rico Auf der verwüsteten Insel legt „Trinker“, fürchtete der stell-
Union Merkel und Seehofer wollen sich eine Lokalpolitikerin mit Trump an 94 vertretende FDP-Vorsitzende
mehr Geld für Soziales ausgeben 30 früher. Im SPIEGEL-Gespräch
SPD Der Boss der Parteirechten Sport verrät er, warum er sich
nervt die Fraktionsspitze 33 Welche Stars während der Fußball-WM jetzt doch vorstellen kann,
FDP SPIEGEL-Gespräch mit Parteivize Urlaub haben / Magische Momente:
Kubicki über die Jamaikaverhandlungen 34
Fraktionschef oder Finanzmi-
Thomas Hellriegel über seinen Triumph nister zu werden. Seite 34
Europa Die Bundesregierung will beim Ironman auf Hawaii 97
den Rechtsverstoß in der Pferde Die Adligen und Reichen haben
EU zum Gipfelthema machen 38 die Lust am Galoppsport verloren 98
Verbrechen Anwältin Lisa Grüter über die Motorsport Mogelt die DTM beim
Freilassung ihres Mandanten, des Umweltschutz? 101
Gladbeck-Geiselnehmers Dieter Degowski 41
Rechtspopulismus Das Comeback des
Wissenschaft

CHRISTOPH PAPSCH / DER SPIEGEL


thüringischen AfD-Chefs Björn Höcke 42
Asyl Ein ehemaliger Mitarbeiter des Bundes- Wie Lehrer die Lernlust fördern können /
amts für Migration berichtet im Forscher entwickeln künstliche Niere /
SPIEGEL-Gespräch vom Behördenchaos 44 Kommentar: Da hilft nur beten – dem
Spionage Die Polizei ermittelt, ob Betenden jedenfalls 104
Erdoğan-nahe Bamf-Mitarbeiter türkische Tiere Schlauer Schwarm – der Biologe
Flüchtlinge diffamieren 47 Thomas Seeley ergründet die
Kindesmissbrauch Neue Fahndungsmethoden wundersame Intelligenz der Bienen 106
helfen bei der Tätersuche 48 Physik Die Energie der Feuchte –
Holocaust Hat das Münchner Institut für US-Wissenschaftler tüfteln an einem Janina Kugel
Zeitgeschichte NS-Verbrechen verharmlost? 50 Verdunstungskraftwerk 110
Landleben Heimatminister gelten als Militärgeschichte Bejubelt und Sie ist Personalchefin bei
neues Wundermittel gegen Wutbürger 52 abgewrackt – der Untergang von Hitlers Siemens und eine der wenigen
Justiz Jahrelang warnte eine Mutter vergebens Flugzeugträger „Graf Zeppelin“ 112 Frauen im Vorstand eines
vor ihrem psychisch kranken Sohn 54 Klima Mehr Kohlendioxid in der Luft
lässt Weizen, Reis und Kartoffeln prächtig Dax-Konzerns. Im Doppel-
Bildung Die hilflosen Versuche der interview mit Telekom-Vor-
Länder, den Lehrermangel gedeihen – und Nährstoffe verlieren 114
stand Claudia Nemat spricht
an Grundschulen zu verwalten 57
Kultur sie über Frauen, Führung
Gesellschaft Borg gegen McEnroe im Kino / Plastik- und „Fuck-up-Days“. Seite 74
Früher war alles schlechter: Mord und Tot- tüten auf der Buchmesse /
schlag / Sprechende Namen für ICE-Züge 58 Kolumne: Besser weiß ich es nicht 116
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum Kulturpolitik Am Berliner Stadtschloss ent-
eine Münchner Flaschensammlerin irrtümlich zündet sich ein Streit um das koloniale Erbe 118
zum Symbol des herzlosen Staates wurde 59 Kino Der schwedische Regisseur Ruben
Entdeckungen Wie drei Studenten Östlund nimmt in seinem Film „The
in den USA den VW-Abgasskandal ins Square“ den modernen Mann ins Visier 122
Rollen brachten 60 Oper In der griechischen Hauptstadt wird
eine luxuriöse neue Nationaloper eröffnet 124
MARY EVANS / INTERFOTO

Homestory Schöner leben im Wohnmobil 65


Martin Schulz und die Medien Über das
Scheitern des SPD-Kandidaten schreiben
Wirtschaft die Autorin Eva Menasse … 128
Insiderhandel bei Hugo Boss? / Teure … und der Internetexperte Sascha Lobo 129
Geburtstagssause von Rezzo Schlauch / Popkritik St. Vincent liefert den virtuosen
Air-Berlin-Gründer verkauft Aktienpaket 66 Sound für den digitalen Liebeswahn 131
Digitalisierung Apps und Datennutzung Die Biene
verändern auch die Landwirtschaft radikal 68
Analyse Die deutschen Großbanken müssen Bestseller 127 Sie ist ein sechsbeiniges Wun-
sich auf Europa konzentrieren, wenn Impressum, Leserservice 132 der der Natur – mit vielen
sie ihre Bedeutung wiedererlangen wollen 71 Nachrufe 133 erstaunlichen Fähigkeiten.
Airbus Dubiose Zahlungen in China könnten Personalien 134 Zum Beispiel kann sie gemein-
für Konzernchef Enders zum Problem werden 72
Managerinnen Siemens-Vorstand Janina
Briefe 136 sam mit ihrem Volk Pro-
Kugel und Telekom-Vorstand Claudia Nemat Hohlspiegel / Rückspiegel 138 bleme lösen, an denen sogar
im SPIEGEL-Gespräch über Frauen in menschliche Programmierer
Spitzenjobs und den Umgang mit Fehlern 74 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ scheiterten. Seite 106

DER SPIEGEL 42/ 2017 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Mit Selbstverleugnung
Die Grünen müssen zeigen, dass es ihnen nicht nur um die Erfüllung von Karrierezielen geht.

E
s werden „keine Knackpunkte genannt“, sagt ein so mitregiert. Kompromissbereitschaft und Opportunismus
grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg. dampfen ihm dieser Tage aus allen Knopflöchern.
Man streite nicht „für das Wahre, Schöne, Gute“ in Özdemirs persönliches Ziel ist das Außenministerium.
der Opposition, sagt ein grüner Wirtschaftsminister in Er will sich erkennbar selbst etwas beweisen, nicht zuletzt
Hessen. Er wolle „endlich anfangen“, wolle endlich zum weil er im Jahr 2002, bei der letzten grünen Regierungs-
Gespräch eingeladen werden, sagt der ehrgeizige grüne beteiligung, nicht berücksichtigt wurde. Seine Bonusmei-
Parteivorsitzende Cem Özdemir in Berlin. lenaffäre und ein Kredit beim windigen PR-Berater Moritz
Moment. Wie war das noch mal? Es geht um eine mög- Hunziger hatten ihn damals ins Abseits bugsiert.
liche Regierungskoalition aus Schwarz, Gelb und Grün, Doch was für Özdemir heute gut sein mag, könnte für
und die grüne Spitze kann es kaum erwarten, dass sie seine Partei verheerende Folgen haben. Im Fall von Josch-
Wirklichkeit wird? ka Fischer brachte das Außenministerium der Partei gar
Es geht darum, sich mit der Union zu arrangieren, also nichts. „Es gibt keine grüne Außenpolitik“, sagte Fischer
auch mit einer CSU, die jede Zuwanderung scheut, Gren- apodiktisch, „sondern nur deutsche Außenpolitik.“ Und
zen am liebsten dichtmachen würde und jetzt, als Reaktion so handelte er auch. Grüne Politik mit gesellschaftsverän-
auf die AfD, noch weiter nach dernder Kraft machte zu Fi-
rechts schwenken will. Mit Politiker Fischer 1985
schers Zeiten ein anderer: Um-
denen wollen die Grünen nun weltminister Jürgen Trittin.
gemeinsame Sache machen? Nicht noch einmal sollten
Und mit einer FDP, die alles, sich die Grünen den Karriere-
was im Tui-Reisekatalog vor- träumen eines Einzelnen un-
kommt, als sicheres Herkunfts- terordnen. Sie sollten etwas
land begreift? Und die in Eu- verlangen, womit sich wirk-
ropa noch härter und unsoli- lich gestalten ließe. In Europa
darischer auftreten will als zumindest ist es nicht der
Wolfgang Schäuble? deutsche Außenminister, son-
Mit einem Jamaikaarrange- dern der Finanzminister, der
ment droht den Grünen nichts den Kurs der EU entscheidend
weniger als die Selbstverleug- prägt. Der scheidende Wolf-
nung – vorausgesetzt, dass gang Schäuble hatte in den
es überhaupt noch etwas gibt, vergangenen Jahren deutlich
das man verleugnen kann. mehr zu sagen als der jewei-
MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL

In Zeiten wie diesen wer- lige Kabinettskollege aus dem


den gern die alten Bilder he- Auswärtigen Amt. Wo das
rausgeholt: die Neuen im Bun- Geld sitzt, sitzt die Macht –
destag, 1983, und der gefro- wer eine Politikwende in Eu-
rene Blick von Helmut Kohl, ropa, in Deutschland anstrebt,
der auf den Alpakapullover der sollte das wissen, sollte
eines vollbärtigen schwäbi- dementsprechend handeln.
schen Studienrats trifft. Die alten Wörter werden her- Für die grüne Glaubwürdigkeit gibt es weitaus wichti-
vorgekramt, die einst das Selbstverständnis der Grünen gere Angelegenheiten als die, ob Özdemir Außenminister
beschrieben: ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei. werden darf. Landwirtschaft, Umwelt, Verkehrspolitik, Mi-
Antimilitaristisch. Sozial und weltoffen gehörten auch gration, Integration – das sind die grünen Kernthemen.
dazu. Darauf achten grüne Mitglieder und Wähler immer noch.
Dann kam Joschka Fischer, Außenminister einer rot- Die Fragen werden kommen: Welche Zumutungen sind
grünen Regierung, der seine Partei der Zivildienstleister die Grünen bereit zu akzeptieren? Welche Dieselschutz-
in den Kosovokrieg zerrte und dabei von der widerspens- klausel, welchen Flüchtlingsdeal?
tigen Basis wenig übrig ließ. Dann kam Winfried Kretsch- Niemand verlangt von ihnen, dass sie zum Alpaka
mann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der zurückkehren oder zu jenem bebenden Moralismus,
sich blitzschnell vom Kritiker der Autoindustrie zu deren der einst im Bundestag Blumenketten für den Frieden
Anwalt wandelte und auch sonst oft wie ein CDU-Politi- flocht.
ker klingt, zum Beispiel wenn es um sichere Herkunfts- Aber wenn es hart auf hart kommt, wenn Jamaika
länder von Migranten geht. nur grüne Posten bedeutet statt grüner Politik, dann hilft
Die dritte Stufe der Selbstentfremdung will nun Cem es der Glaubwürdigkeit, wenn sie sich an ein Wort er-
Özdemir vollziehen. Der Parteivorsitzende kann es kaum innern, das sie anfangs oft in den Mund nahmen.
abwarten, endlich Minister zu werden, egal wer da noch Das Wort heißt: Nein. Barbara Supp

8 DER SPIEGEL 42 / 2017


Meinung
Jakob Augstein Im Zweifel links

Viva la Sezession!
Die Katalanen haben in sation eines nachnationalen Europas.“ Wal-
Deutschland zurzeit ter Hallstein soll das so gesagt haben, der Zum IQ-Test,
nicht sehr viele Freun- erste Präsident der Europäischen Kommissi-
de. Kaum jemand on. Europa war immer ein Projekt nicht nur
bitte!
versteht, warum sie gegen den Nationalismus – da würden alle So gesehen Trumps
weg von Spanien mitgehen –, sondern gegen den Nationalstaat. schöne Idee zur Lösung
streben. Die Konser- Das ergibt heute noch mehr Sinn als zu von Machtkämpfen
vativen bei uns erheben Hallsteins Zeit. Denn der von Dahrendorf
den Vorwurf, eine Sezes- so gelobte Nationalstaat wird nicht mehr US-Präsident Donald Trump
sion sei wirtschaftlich unvernünftig und gebraucht. Alle Aufgaben können heute hat seinen Außenminister
politisch gefährlich. Die Linken wittern ei- besser auf einer übergeordneten – europäi- Rex Tillerson zum Duell he-
nen Egoismus der reichen Region und einen schen – oder einer untergeordneten – re- rausgefordert. In einem Inter-
nationalistischen Rückfall. In Wahrheit die- gionalen – Ebene gelöst werden. Was wir view verlangte er von Tiller-
nen beide Vorwürfe nur dem Zweck, eine gerade als Wiedergeburt der Nationen son, sich einem Vergleich
Einrichtung zu schützen, die diesen Schutz erleben, ist ein gefährlicher Atavismus, der ihrer IQ-Tests zu stellen. Es
nicht verdient: den Nationalstaat. dem Fortschritt im Weg ist. spricht für Trumps Sports-
In der „Süddeutschen Zeitung“ wurde Regionen sind das Gewachsene. Natio- geist, dass er selbst in jenen
vor ein paar Tagen Ralf Dahrendorf zitiert, nen das Erkämpfte. Eine Region muss Disziplinen den Zweikampf
der den heterogenen Nationalstaat die nicht mit Blut und Eisen geschmiedet wer- sucht, bei denen die Buchma-
„größte Errungenschaft der politischen Zi- den. Sie besteht, und sie bleibt auch be- cher ihn nicht gerade vorn
vilisation“ genannt habe. Die katalanische stehen. Also lasst doch die Landkarten sich sehen. Gerüchte, wonach er
Kleinstaaterei sei dagegen ein Rückfall neu sortieren! Das Europa der Regionen nicht wisse, was ein IQ-Test
in die „Stammesgesellschaft“ und darum wäre das gerechtere Europa. Es würde sei (wie bei den Phänomenen
abzulehnen. Denn, so das härteste Dah- nicht von den großen Flächenstaaten Pressefreiheit, Belgien,
rendorf-Zitat in diesem Zusammenhang: Deutschland und Frankreich dominiert. Klimawandel oder Unesco),
„Selbstbestimmung lädt zur Diktatur ein.“ Und es wäre das vielfältigere Europa. Ein bestätigten sich nicht.
Als wäre das noch nicht genug, wird mit buntes Kaleidoskop der Kulturen, die Tillerson dürfte als leichter
Chaos auf dem ganzen Kontinent gedroht: unter einem gemeinsamen europäischen Favorit ins große IQ-Duell ge-
Baskenland, Belgien, Korsika, Norditalien, Dach aufblühen könnten. hen. Er hatte Trump als „fu-
Südtirol – am Ende macht das Sezessions- So war das alles einmal gedacht. Und so cking moron“ bezeichnet, als
virus Europa den Garaus. Ist das so? Erst soll es auch werden. Robert Menasse, der verfickten Trottel beziehungs-
Eurokrise, dann Rechtspopulismus – und für seinen Roman über die EU gerade sehr weise verdammten Hohlkopf,
nun noch Zerfall? Nein. Das Gegenteil geehrt wird, hat ein schönes Bild gefunden: je nach Übersetzung, was
ist richtig. Die Sache der Sezession ist die „Wer die Musik nicht hört, hält Tanzende für zumindest von einer gewissen
Sache Europas! wahnsinnig.“ Aber die Katalanen sind nicht Grundintelligenz zeugt.
Offenbar ist der ursprüngliche Sinn der wahnsinnig. Sie hören die Musik. Sie tanzen. Andererseits dient er Trump
Europäischen Union in Vergessenheit gera- bereits seit neun Monaten
ten. Zur Erinnerung: „Ziel ist und bleibt die An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, freiwillig als Außenminister.
Überwindung der Nationen und die Organi- Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. Trump hingegen erklärte
schon im Mai 2013 auf Twit-
ter: „Sorry, ihr Loser und
Hater, aber mein IQ ist einer
Kittihawk der höchsten!“ Das kann
natürlich ein Bluff sein,
schließlich prahlte er auch
mal: „Ich habe die besten
Wörter“, was nachweislich
nicht stimmte. Doch egal
wer am Ende gewinnt: Wir
sollten Trumps Idee auf-
greifen. Viel zu lange wurde
der IQ-Test als friedliches
Mittel zur Lösung von
Machtkämpfen unterschätzt,
gerade in Deutschland.
Noch vor Beginn der Koali-
tionsverhandlungen, sollten
Horst Seehofer und Markus
Söder daher ihr notariell be-
glaubigtes Testergebnis beim
parteiinternen Schiedsgericht
vorlegen. Markus Feldenkirchen

10 DER SPIEGEL 42 / 2017


Titel

Ein Nachmittag in Paris. Es nieselt leicht, der Himmel hat eine und mit jeder Umfrage mehr vom Überraschungskandidaten zum
Farbe, die dem säuberlich geharkten Kies im Innenhof des Élysée- Favoriten wurde, klopfte sich mit der Hand auf die Stirn. „Ist kein
Palasts ähnelt: Beigegrau. In einer Empfangshalle im ersten Stock Holz in der Nähe, soll man auf Affen klopfen“, erklärte Macron da-
tickt auf dem Kamin eine goldene Standuhr, auf dem Tisch liegt mals. Als er sich an die Szene erinnert, nickt er ernst, rutscht kurz
ein Bildband von Velázquez. Eine Flügeltür öffnet sich. „Monsieur übers goldene Sofa und klopft dreimal auf die hölzerne Lehne. Seit-
le Président“, ruft ein uniformierter Gardist und salutiert. Emmanuel dem der 39-Jährige zum Präsidenten gewählt wurde, hat in Frank-
Macron begrüßt die Besucher und führt in sein Büro mit goldenem reich ein ungewöhnliches politisches Experiment begonnen: Große
Stuck und goldenen Sesselchen, mehr Ballsaal als Arbeitszimmer. Teile der politischen Klasse wurden ausgetauscht und verjüngt,
Hinter den Fenstern wellt sich sattgrün der Palastgarten. Bei sei- Privilegien abgeschafft, die klassischen Parteien zu Nebenrollen ver-
nem letzten Treffen mit dem SPIEGEL, wenige Wochen vor dem ers- dammt. Macron provoziert, fordert, prescht vor, mutet seinen Wäh-
ten Wahlgang im April, war das Setting noch ein anderes: Das Ge- lern viel zu. Selbst der Élysée-Palast blieb von ihm nicht verschont.
spräch fand in einem Zugabteil der zweiten Klasse zwischen Bor- Macron ließ Tapisserien von den Wänden abhängen, schwere Möbel
deaux und Paris statt. „Und beim nächsten Mal im Élysée!“, hieß es hinausräumen und moderne Bilder aufhängen. Nur logisch also,
zum Abschied ironisch. Und derjenige, der damals mit jedem Tag dass auch sein Hund beim SPIEGEL-Gespräch dabei sein durfte.

„Wir brauchen politisches


Heldentum“
SPIEGEL-Gespräch Der französische Präsident Emmanuel Macron gibt Einblicke in seine ersten
Monate im Amt, spricht über deutsche Bücher, die Kanzlerin und sein Projekt für Europa.

SPIEGEL: Herr Präsident, Sie haben seit weiterzuentwickeln. Das kann aber nur chen mit einem Regierungschef oder einem
Ihrem Amtsantritt im Mai weltweit für im Kollektiv, also miteinander klappen. Minister. Alles, was man tut, alles, was
ziemlich viel Wirbel gesorgt. Der deutsche Man muss die Kräfte, die das wollen, bün- man sagt – aber auch das, was man nicht
Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, deln. Dasselbe gilt für Europa. sagt –, hat plötzlich eine Bedeutung. Das
den Sie während Ihres Studiums gelesen (Der Hund des Präsidenten kommt herein.) mag recht anspruchsvoll, vielleicht auch
haben, sah in Napoleon Bonaparte den Macron: Nemo, sitz! anstrengend klingen, aber ich glaube, das
„Weltgeist zu Pferde“. Glauben Sie, ein SPIEGEL: Nemo … haben Sie diesen Namen geht einher mit der Geschichte dieser
einzelner Mensch kann tatsächlich die Ge- ausgesucht? Funktion.
schichte lenken? Macron: Ja, er wurde als Welpe ausgesetzt SPIEGEL: Wie ist es nun, hier zu leben?
Macron: Nein. Bei Hegel sind die „Grands und lebte dann ein Jahr lang im Tierheim. Macron: Es ist ein historisch befrachteter
Hommes“ immer Instrument von etwas, Ich hatte entschieden, einen Hund aus dem Ort. Die Kaiser haben hier Zeit verbracht,
das weit über sie hinausgeht. Indem Hegel Tierheim zu holen. Normalerweise haben Napoleon I., auch Napoleon III. In der
sie so nennt, ist er übrigens recht grausam Präsidenten reinrassige Hunde, aber er Vierten Republik war es der Palast eines
zu Napoleon, denn er weiß natürlich, dass hier ist eine Mischung aus Labrador und Präsidenten ohne Befugnisse. Und erst in
die Geschichte einen immer überlisten Griffon. Sehr liebenswert. Ein bemerkens- der Fünften Republik zog Charles de
kann, dass sie immer größer ist als man wertes Schicksal, oder? Vom Tierheim in Gaulle wieder in diese Etage ein. Es ist ein
selbst. Hegel glaubt zwar, dass einzelne den Élysée-Palast. Ich mag diese Idee, auch Ort, an dem die Macht ihre Spuren hinter-
Menschen tatsächlich für einen Moment wenn er selbst kaum weiß, wo er hier ge- lassen hat – und zwar über Jahrhunderte,
den jeweiligen Zeitgeist verkörpern kön- landet ist. seit der Revolution. Man reiht sich hier ir-
nen – dass diese sich manchmal aber darü- SPIEGEL: Seit fünf Monaten wohnen Sie nun gendwie ein, führt diese Geschichte fort.
ber nicht im Klaren sind. hier im Élysée, diesem fast schon mythi- Aber natürlich ist da eine Gravitas.
SPIEGEL: Wie muss ein Präsident, ein Poli- schen Ort. Spüren Sie bereits Veränderun- SPIEGEL: Das klingt etwas erdrückend.
tiker sein, um Dinge voranzubringen, um gen? Unfehlbarkeit, Größenwahn? Macron: Nein, denn man kann diesen Ort
Geschichte zu verändern? Macron: Ich bemühe mich, gewisse Regeln ja verlassen, wenn man möchte. Ich gehe
Macron: Ich persönlich denke ganz und gar zu befolgen. Nichts hier soll zur Gewohn- raus, ich sage und tue, was ich mag – auch
nicht, dass man Großes im Alleingang oder heit werden, denn Routine verleiht einem wenn die Leute das manchmal als scho-
durch einzelne Aktionen bewirken kann. ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. ckierend empfinden mögen. Man kann na-
Im Gegenteil: Ich glaube, erst wenn man Man nimmt bestimmte Dinge dann nicht türlich beschließen, sich von all dem Prunk
den Zeitgeist begriffen hat, weiß man, was mehr wahr, verliert den Blick fürs Wesent- hier erdrücken zu lassen. Beschließt man
in einem gewissen Moment zu tun ist, und liche. Unruhe, Veränderung hält wach. Die- aber, sich dagegen zu wehren, dann wird
nur wenn man Sinn für Verantwortung hat, ser Ort und in gewisser Weise auch mein man auch nicht erdrückt.
gelingt es, Dinge voranzutreiben. Und ge- Amt helfen mir dabei, keine Gewohn- SPIEGEL: Ihren Vorgängern scheint das nicht
nau das habe ich mir zum Ziel gesetzt: zu heiten zu entwickeln. Die Funktion des immer gut gelungen zu sein.
versuchen, Frankreich und die Franzosen Präsidenten ist in Frankreich eine von ho- Macron: Fest steht, das Präsidentendasein
darin zu bestärken, sich zu verändern und hem symbolischen Wert. Nicht zu verglei- ist für einen selbst das Ende der Unschuld.
12 DER SPIEGEL 42 / 2017
JEROME BONNET / DER SPIEGEL

Élysée-Hausherr Macron: „Das Präsidentendasein ist für einen selbst das Ende der Unschuld“

DER SPIEGEL 42 / 2017 13


JEROME BONNET / DER SPIEGEL
Präsidentenschreibtisch: „Ehrgeiz ist nie bescheiden“

Nichts ist mehr unschuldig, wenn Sie ein Land von königsmordenden Monar- meine ich nicht, dass ich hier den Helden
Staatspräsident sind. Und das verändert chisten. Es ist ein Paradox: Die Franzosen spielen will. Aber wir sollten wieder emp-
Ihr Leben gewaltig. Normalerweise kann wollen einen König wählen, aber sie wol- fänglich dafür sein, große Geschichte schrei-
sich jeder den Luxus leisten, Dinge zu tun, len ihn auch jederzeit wieder stürzen kön- ben zu wollen. Wenn man so will, war die
die keinen Sinn ergeben: Sie machen ir- nen. Das Präsidentenamt ist kein normales Postmoderne das Schlimmste, was unseren
gendetwas – egal was –, es interessiert kei- Amt, das sollte man verinnerlichen, wenn Demokratien passieren konnte. Diese Idee,
nen. Aber wenn Sie Präsident sind, ist alles man es innehat. Man sollte sich auch da- man müsse alle großen Erzählungen de-
von Signifikanz, zumindest für die ande- rauf einstellen, verunglimpft, beschimpft konstruieren, kaputt machen, ist keine
ren. Alles ist wichtig, es könnte sogar und verspottet zu werden – das liegt in der gute. Seither wird allem und jedem miss-
schwerwiegende Folgen haben. All das ist Natur der Franzosen. Und: Als Präsident traut. Manchmal wundere ich mich, dass
manchmal lästig, ja. Aber erdrückend ist darf man nicht geliebt werden wollen. Was ausgerechnet die Medien die Ersten sind,
es nicht. natürlich schwierig ist, weil jeder geliebt die großen Geschichten misstrauen. Sie
SPIEGEL: Glauben Sie, Angela Merkel emp- werden will. Aber am Ende spielt das kei- denken, etwas zu zerstören sei ihre jour-
findet das ähnlich wie Sie? ne Rolle, es geht darum, dem Land zu nüt- nalistische Arbeit, weil zwangsläufig etwas
Macron: Deutschland ist anders als Frank- zen, es voranzubringen. Böses im Großen lauere. Kritik ist notwen-
reich. Bei Ihnen ist man protestantischer; SPIEGEL: Oft läuft es in der Praxis ja anders dig, aber was soll dieser Hass auf die soge-
daraus ergibt sich ein großer Unterschied. als in der Theorie, selbst für diejenigen, nannte große Erzählung?
Durch die Kirche, den Katholizismus wur- die jeden Schritt zuvor durchdacht haben. SPIEGEL: Warum ist diese Erzählung so
de die französische Gesellschaft vertikal Macron: Das stimmt. Man kann alles anti- wichtig?
geprägt, also von oben nach unten. Ich bin zipieren, planen, aber wenn man es dann Macron: Ich glaube, wir brauchen sie drin-
der festen Überzeugung, dass das bis heute erlebt, ist es anders. Für mich ist mein Amt gend! Warum ist ein Teil unserer Jugend
so geblieben ist. Das mag manche scho- in erster Linie kein politisches oder tech- so sehr von Extremen fasziniert, vom
ckieren – und nein, keine Sorge, ich halte nisches, sondern ein symbolisches. Ich Dschihadismus zum Beispiel? Warum wei-
mich nicht für einen König. Aber, ob es glaube fest daran, dass das moderne poli- gern sich moderne Demokratien heutzu-
nun gefällt oder nicht, die Geschichte tische Leben den Sinn für das Symbolische tage, ihre Bürger träumen zu lassen? Wa-
Frankreichs ist einzigartig in Europa. Über- wiederfinden muss. Dafür brauchen wir rum darf es denn kein demokratisches Hel-
spitzt könnte man sagen, Frankreich ist eine Art politisches Heldentum. Und damit dentum geben? Vielleicht ist ja genau das
14 DER SPIEGEL 42 / 2017
Titel

unsere Aufgabe: so etwas für das 21. Jahr- beginnen, wenn Sie so wollen. Die Institu- digt werden sollen? Die Herausforderun-
hundert gemeinsam neu zu erfinden. tionen an sich sind mir nicht besonders gen sind mannigfaltig, Themen wie Migra-
SPIEGEL: Sie werden in Frankreich zuneh- wichtig – und ich glaube, das geht den tion oder Terrorismus gehen uns alle an.
mend kritisiert, wegen Ihres distanzierten meisten Menschen so. Das Problem ist, Aber auch die Energiewende muss gemein-
Auftretens. Man wirft Ihnen Arroganz und dass Debatten über Europa zu Auseinan- sam geplant werden. Und nicht zuletzt
Hybris vor. dersetzungen zwischen Experten und Ju- sind da auch noch die Digitalisierung und
Macron: Wer tut das? Die Presse. risten geworden sind. Dabei war Europa der damit einhergehende Gesellschafts-
SPIEGEL: Nicht nur die Presse. doch vor allem als politisches Projekt ge- wandel. Mit alldem können wir nur Erfolg
Macron: Haben Sie je die Menschen auf der dacht! Die EU wurde nicht von Experten haben, wenn es vereint vorwärtsgeht.
Straße sagen hören: „Er ist distanziert“? begründet, auch nicht von Diplomaten. Sie SPIEGEL: Aber wie wollen Sie das alles un-
SPIEGEL: Ja. wurde von Menschen erschaffen, die aus ter einen Hut bekommen? Wie die Osteu-
Macron: Ich bin nicht distanziert. Wenn ich dem Drama unserer gemeinsamen Ge- ropäer für Ihr Projekt begeistern und jene
durchs Land fahre, einen Betrieb besuche, schichte gelernt haben. Ich schlage einen Länder, die zunehmend nationalistische
sagen meine Mitarbeiter nach drei Stun- Neuanfang vor, und zwar einen, bei dem Tendenzen zeigen und mit Europa nichts
den, ich würde den Zeitplan sprengen. man nicht erst ewig beratschlagt, welche mehr zu tun haben wollen?
Wenn ich mit Franzosen zusammen bin, Instrumente man dafür braucht – sondern Macron: Ich glaube nicht, dass stimmt, was
bin ich nicht distanziert, denn ich gehöre einen, der vom Ziel her gedacht werden Sie sagen. Ich war im August in Bulgarien.
ihnen. Nach meinem Verständnis gehört soll. Was wollen wir? Wie soll unser Die Leute dort haben Lust auf Europa.
der französische Präsident dem französi- Europa aussehen? Ich will den europäi- Wir dürfen die Menschen nicht in Katego-
schen Volk, weil er aus ihm hervorgeht. schen Traum erneuern, will die Ambitio- rien einteilen. Frankreich hat in der Ver-
Was ich tue, ist dies: Ich setze den Mau- nen dafür wiedererwecken. gangenheit oft den Fehler gemacht, nicht
scheleien zwischen Politik und Medien ein SPIEGEL: Wie sieht das Europa aus, von dem mit allen zu reden, weil man glaubte, man
Ende. Als Präsident andauernd mit Jour- Sie träumen? könne manche Länder vernachlässigen. Ich
nalisten zu sprechen, von Journalisten um- Macron: Für mich besteht Europa aus drei bin überzeugt, es gibt den Wunsch nach
geben zu sein, hat nichts mit Nähe und Dingen: Souveränität, Einheit und Demo- Europa. Und im Übrigen, wer ist denn da-
schon gar nichts mit Volksnähe zu tun. kratie. Wenn wir uns diese Ziele vor Au- ran schuld, falls dies nicht der Fall ist? Die
Den Medien gegenüber sollte sich ein Prä- gen halten und geschlossen darauf hinar- Europäer. Wir haben eine Art kollektiven
sident rarmachen. beiten, dann – und nur dann – können wir Defätismus zugelassen, wir lassen vor allem
SPIEGEL: Sie haben an der Sorbonne eine auch unser Versprechen halten: dauerhaft jene zu Wort kommen, die Europa hassen
gefeierte Rede über Europa gehalten, das Frieden, Wohlstand und Freiheit zu ge- und es aufgeben wollen.
Sie, wie Sie sagen, „neu gründen“ wollen. währleisten. Lassen wir uns diesen euro- SPIEGEL: Jetzt übertreiben Sie.
Macron: Was diese Rede angeht, übe ich päischen Bürgerkrieg, dessen Existenz wir Macron: Ich habe oft als Sherpa an grotes-
mich in Bescheidenheit. Es wurde schon nicht zugeben wollen, beenden und damit ken Treffen teilgenommen; dort wurde
immer viel über Europa gesprochen. Bei aufhören, ständig zu überlegen, ob wir in dann gesagt, man solle keinen reinen Euro-
meiner Initiative gibt es Neues, aber ich dieser oder jener Sache besser abschnei- zonen-Gipfel abhalten, das könne viel-
habe auch Überlegungen aufgegriffen, die den als das Nachbarland. Wir müssen uns leicht die Briten oder die Polen brüskieren.
schon seit Längerem angestellt und bereits auf Neues einlassen, dabei geht es auch Und womit wachen wir nun fünf Jahre spä-
von anderen vorgeschlagen wurden. um Dinge, die bisher tabu waren: Frank- ter auf? Die Briten wollen austreten, und
SPIEGEL: Bescheidenheit galt bisher nicht reich beharrte bis jetzt darauf, bloß die die Polen entfernen sich immer mehr von
als eine Ihrer herausragendsten Eigen- Verträge nicht zu ändern. Deutschland will Europa. Das zeigt doch nur, je schüchter-
schaften. keine Finanztransfers. Dieses alte Denken ner man mit den europäischen Ambitionen
Macron: Das Neue ist: Seit 2005, seitdem aber müssen wir hinter uns lassen. ist, desto weniger kommt man voran.
die Franzosen wie die Niederländer Nein SPIEGEL: Was heißt das konkret? SPIEGEL: Wie wichtig ist Ihnen dabei noch
zu einem Verfassungsvertrag für Europa Macron: Ich denke, das Ziel sollte sein, ein gutes Verhältnis zu den USA?
gesagt haben, hat niemand mehr ein wirk- einen Raum zu schaffen, der uns schützt Macron: Das transatlantische Verhältnis ist
liches Projekt für die EU entworfen. Schon und uns hilft, in dieser Welt zu bestehen. ein starkes und muss es bleiben, die USA
gar nicht Frankreich. Wenn etwas kam, Die europäische Wertegemeinschaft ist ein- sind ein Alliierter im Lager der Freiheit.
dann von Wolfgang Schäuble oder Joschka zigartig: Sie verbindet Demokratie mit In Sicherheits- und militärischen Fragen,
Fischer, und diese deutschen Initiativen Marktwirtschaft, individuelle Freiheiten ob im Irak und in Syrien oder in Afrika,
wurden von Frankreich regelmäßig ver- mit sozialer Gerechtigkeit. Wie können sind wir eng miteinander verbunden. Aber
drängt. Ich will, dass damit Schluss ist. Viel- wir da eigentlich erwarten, dass unsere wir müssen auch eine gemeinsame Strate-
leicht reihe ich mich da bei Mitterrand ein, Werte, dieser einzigartige europäische Ba- gie bei anderen Themen erarbeiten, für
der Europa tatsächlich gestalten wollte. lanceakt, der über Jahrzehnte gewachsen Iran und Nordkorea, auch für den Klima-
Meine Vorgänger glaubten dagegen, es sei ist, von den USA oder von China vertei- wandel. Ich glaube, man muss deshalb sehr
das Klügste, erst einmal gar nichts zu sagen viel mit dem amerikanischen Präsidenten
und sich alle Optionen offenzuhalten. Das sprechen und ihm den Weg für mögliche
mag nach Taktik klingen – vielleicht lag Kooperationen aufzeigen. Dem fühle ich
es aber auch schlicht daran, dass sie über- mich verpflichtet.
haupt keine Idee für Europa hatten. SPIEGEL: Macht Trump Ihnen Angst?
SPIEGEL: Sie schlagen vor, neue Institutionen „Lassen wir uns diesen Macron: (überlegt lange, bevor er antwor-
zu schaffen, Prozeduren zu vereinfachen. europäischen Bürger- tet) Trump ist da, er steht einer Weltmacht
Krankt Europa nicht vielmehr an einem vor. Ich tausche mich mit ihm aus, erkläre
Mentalitätsproblem, weil jeder nur seine krieg, dessen Existenz ihm meine Ansichten. Wir haben eine sehr
eigenen Interessen im Blick hat? wir nicht zugeben herzliche Beziehung. Manchmal sind wir
Macron: Was ich vorschlage, ist, ein neues unterschiedlicher Auffassung, dann wieder
Kapitel in Europa aufzuschlagen. Dieses wollen, beenden.“ sind wir uns einig. Ich werde nicht auf-
Abenteuer noch mal neu und anders zu hören, mit ihm zusammenzuarbeiten.
DER SPIEGEL 42 / 2017 15
Titel

SPIEGEL: Sie reden von einem vereinten


Europa, aber man hat den Eindruck, Sie
gehen auch gern unilateral vor, laden
Trump nach Paris ein, kündigen eine fran-
zösische Vermittlung nach dem kurdischen
Unabhängigkeitsreferendum im Norden
des Irak an, halten zwei Tage nach der
Bundestagswahl eine große Rede zu
Europa.
Macron: Jedes Land hat seine eigene Diplo-
matie. Europäer zu sein bedeutet ja nicht,
seine Unabhängigkeit aufzugeben oder
selbst keine Initiativen mehr ergreifen zu
können. Wir sind 27 – heißt das, es ist ver-
boten, dass einige von uns ehrgeiziger sind
als andere? Nein, sonst käme es zum Still-
stand, und wir würden uns selbst Fesseln
anlegen. Ich rede zum Beispiel oft mit Prä-
sident Erdoğan. Ich habe eine gewisse Be-
ziehung zu ihm aufgebaut und diskutiere
darüber mit der Kanzlerin. Wenn ich mit
dem türkischen Präsidenten rede, vertei-
dige ich europäische Positionen. Genauso
muss man es doch halten unter europäi-
schen Partnern. Es wird Ihnen auch nicht
entgangen sein, dass ich die Rede an der
Sorbonne bewusst nicht vor der Wahl in
Deutschland gehalten habe. Ich hatte mich
eng mit der Kanzlerin abgestimmt, am
Ende des Wahlkampfes sowie noch am

JEROME BONNET / DER SPIEGEL


Wahlabend mit ihr gesprochen. Sie hat so-
gar den Text meiner Rede vorab erhalten.
SPIEGEL: Haben Sie daraufhin etwas an der
Rede geändert?
Macron: Ich habe auf manche Dinge Rück-
sicht genommen und die technische Um-
setzung einzelner Punkte bewusst offen- Ehrenhof des Élysée-Palasts: „Wir haben alles leichter, moderner gemacht“
gelassen. Ich misstraue gewissen politi-
schen Debatten, die große Dinge gern an
technischen Details scheitern lassen. Wir Europas verstanden werden. Darauf habe SPIEGEL: Der kanadische Premier Justin
sind uns aber grundsätzlich einig, die Kanz- ich immer wieder bestanden. Unsere in- Trudeau hat uns in einem Interview gesagt,
lerin stimmt mit mir in Ziel und Ausrich- ternationale Rolle hängt von einem star- er lerne viel von Angela Merkel. Geht Ih-
tung meiner Rede überein, das ist mir sehr ken Europa ab, und ein starkes Europa nen das ähnlich?
wichtig. Wesentlich ist der gemeinsame hängt von der französischen Fähigkeit ab, Macron: Ich tausche mich sehr oft mit Ma-
Ehrgeiz, etwas Neues für Europa zu schaf- sich die Führung mit anderen, darunter dame Merkel aus. Wir sprechen uns min-
fen. Mir ging es darum, Diskussionen in Deutschland, zu teilen. Wenn Frankreich destens ein- bis zweimal die Woche. Wir
Deutschland zu vermeiden, die die Kanz- wirtschaftlich schwach ist, keine Refor- schicken uns regelmäßig Nachrichten und
lerin dazu gezwungen hätten, sich von mei- men durchführt, ist es nicht glaubwürdig. haben viele gemeinsame Treffen. Ich habe
ner Rede zu distanzieren. Das haben wir Europas Geltung auf der Weltbühne wird großen Respekt vor ihr. Auch wenn uns
verhindern können dank einer engen Zu- dadurch geschwächt. All das möchte ich vieles unterscheidet.
sammenarbeit und perfekter Abstimmung. ändern. Frankreich braucht ein starkes SPIEGEL: In welcher Hinsicht?
SPIEGEL: „Frankreich muss Europa ermög- Deutschland und eine starke Kanzlerin. Macron: Wir haben nicht dieselbe Geschich-
lichen, eine Führungsrolle in der freien Deutschland braucht aber auch ein starkes te, nicht denselben Werdegang, gleichzei-
Welt zu übernehmen“, haben Sie vor Kur- Frankreich. tig gibt es da diesen unbedingten Willen,
zem gesagt. Klingt ebenfalls nicht gerade uns gegenseitig zu verstehen. Ich habe sehr
bescheiden. freundschaftliche Gefühle gegenüber Ihrer
Macron: Ehrgeiz ist nie bescheiden. Wenn Kanzlerin, ich halte sie für sehr mutig,
bescheiden zu sein bedeutet, mittelmäßi- auch deshalb habe ich großen Respekt vor
gen Erfolg zu haben, dann kann ich nur ihr. Aber ich weiß auch, sie hat jetzt zwölf
sagen: Das interessiert mich nicht. Frank- „Ich habe sehr freund- Jahre lang französische Präsidenten erlebt.
reich hat eine besondere Stellung: Wir sind schaftliche Gefühle Ich versuche immer, mir all die Fehler vor-
die Atommacht Kontinentaleuropas und zustellen, die meine Vorgänger begangen
ständiges Mitglied im Uno-Sicherheitsrat. gegenüber Ihrer haben, und sie nicht zu wiederholen.
Diese Sonderstellung ergibt aber nur Sinn,
wenn Frankreich sie als Mitgliedstaat
Kanzlerin, ich halte SPIEGEL: Gibt es trotz aller Unterschiede
etwas, das Sie beide verbindet?
Europas vertritt. Frankreich allein kann sie für sehr mutig.“ Macron: Ja, unbedingt. Wir sind beide Men-
diese Rolle nicht spielen, es muss als Teil schen, die methodisch vorgehen, wir lieben
16 DER SPIEGEL 42 / 2017
Parteien reagieren kann. Die erste ist, so
zu tun, als ob sie nicht existierten, und kei-
ne politischen Initiativen mehr zu wagen,
aus Angst, diese Parteien gegen sich auf-
zubringen. In Frankreich ist das vielfach
geschehen, und wir haben gesehen, dass
es nicht funktioniert. Jene Menschen, wel-
che Sie eigentlich unterstützen, finden sich
dann nicht mehr in den Reden Ihrer Partei
wieder. Und den Rechten verschafft man
so immer mehr Gehör. Die zweite Reak-
tion ist, diesen rechtsextremen Parteien
fasziniert hinterherzulaufen.
SPIEGEL: Und die dritte Möglichkeit?
Macron: Zu sagen, das sind meine wahren
Feinde, und den Kampf gegen sie aufzu-
nehmen. Genau das ist die Geschichte der
zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen
in Frankreich. Das habe ich auch unseren
deutschen Freunden gesagt: Seid nicht
schüchtern gegenüber diesen Leuten.
Schaut mich an, der Front National hatte
viel mehr Stimmen als die AfD. Frau Le
Pen hat schlussendlich 34 Prozent der Stim-
men bekommen, 34 Prozent! Ich habe
Europa verteidigt, eine offene Gesellschaft,
all meine Werte. Und heute ist der Front
National sehr geschwächt. In den Debatten
hört man nichts mehr von ihnen – weil wir
gegen sie in den Kampf gezogen sind. Jetzt
JEROME BONNET / DER SPIEGEL

ist die Zeit, wagemutig zu sein! Die einzige


Antwort auf die AfD ist Mut, ist Ehrgeiz.
SPIEGEL: Allen Ernstes, wie wollen Sie einen
AfD-Wähler, der sich bedroht fühlt von
der Globalisierung, von Europa, für dieses
Projekt gewinnen?
Hund Nemo: „Ich mag diese Idee, vom Tierheim in den Élysée-Palast“ Macron: Es geht darum zu zeigen, dass
Europa die Menschen schützt. Der Auf-
stieg der AfD kann auch eine Gelegenheit
Details. (Der anwesende Europaberater SPIEGEL: Sie ist also für Sie nicht die politi- sein, die uns dazu zwingt, Dinge zu klären.
nickt heftig.) Wir gehören beide bei Gipfeln sche Sphinx wie für viele Deutsche, die Viele europäische Parteien, wie auch die
zu den wenigen Staats- und Regierungschefs nach wie vor das Gefühl haben, ihre Kanz- klassischen Parteien Frankreichs, vermö-
am Tisch, die sich Notizen machen. Ich war lerin nicht wirklich zu kennen? gen nicht mehr, die Leute zusammenzu-
schon immer jemand, der Inhalte bis ins Macron: Nein, und ich würde sogar sagen: halten. Und was die Koalition betrifft, bin
letzte Detail durchdringen möchte, um sie Madame Merkel verkörpert das deutsche ich überzeugt, dass die Kanzlerin den not-
zu verstehen. Und sie ist genauso, das schät- Schicksal des 20. Jahrhunderts. Es steht wendigen Willen und Ehrgeiz hat. Ich
ze ich an ihr. Ich liebe die Diskussionen, die mir nicht zu, über ihren Platz in der Ge- möchte bei meinen Äußerungen zu ihren
wir miteinander um solche Dinge führen. schichte zu urteilen, aber ich glaube, sie Koalitionsverhandlungen sehr vorsichtig
SPIEGEL: Sie sind gut 23 Jahre jünger als ist die Kanzlerin der Aussöhnung Deutsch- sein, aber sowohl bei den Grünen wie bei
die deutsche Kanzlerin, empfinden Sie lands mit Europa. Sie steht für ein Deutsch- der FDP liegt eine Unterstützung Europas
Ihre Beziehung trotzdem als eine unter land, dem die Globalisierung gelungen ist, in der DNA der jeweiligen Partei. Ich war
gleichberechtigten Partnern? das seine Rolle in der Außen- und Vertei- sehr zufrieden, dass sich beide Parteichefs
Macron: Unbedingt, ich sage ihr zum Bei- digungspolitik annimmt. Ich fand es mutig, positiv zu dem europäischen Projekt ge-
spiel, wir können jetzt in Europa nicht hier wie sie mit den Flüchtlingen umgegangen äußert haben. Ich habe auch den Enthu-
aufhören, wir müssen weiter vorangehen. ist. Ich glaube, dass sie die Kanzlerin der siasmus Wolfgang Schäubles für eine eu-
Ich glaube, wir ergänzen uns gegenseitig. Versöhnung ist. Und ich wünsche mir, ropäische Neugründung zur Kenntnis ge-
Was ich ihr hoch anrechne: Zu keinem Mo- dass sie die Kanzlerin der Neugründung nommen. Ich habe also Hoffnung.
ment hat sie versucht, meinen Elan, mei- Europas werden kann, in enger Verbin- SPIEGEL: Das Wochenmagazin „Le Point“
nen Eifer zu bremsen. Sie sagt zu mir: Ich dung mit der Rolle, die ich dabei spielen hat Sie als „Frankreichs letzte Chance“ be-
werde nicht diejenige spielen, die schon werde. zeichnet. Belastet Sie das?
alles erlebt und gesehen hat. SPIEGEL: Sorgen Sie sich, dass eine Jamaika- Macron: Nein, sonst hätte ich diese Schlacht
SPIEGEL: Das klingt fast ein wenig verliebt. koalition Ihrem europäischen Projekt im nicht auf mich genommen. Wenn es diesen
Macron: Zwischen uns beiden ist eine sehr Weg stehen könnte? Auch der Aufstieg der enormen Druck nicht gäbe, wäre ich nicht
enge Beziehung entstanden. Ich hätte nie AfD wird dies gewiss erschweren. gewählt worden, dann wäre es einer der
die Europarede an der Sorbonne gehalten, Macron: Ich glaube das nicht, das habe ich üblichen Kandidaten geworden. Das be-
ohne mit Angela Merkel über die wesent- auch der Kanzlerin gesagt. Es gibt drei deutet aber auch, dass es nun keine Atem-
lichen Punkte im Einvernehmen zu sein. Möglichkeiten, wie man auf rechtsextreme pause geben kann. Ich habe mein Buch
DER SPIEGEL 42 / 2017 17
Titel

sind gegangen. Was kam dabei heraus, ist


die Arbeitslosigkeit gesunken? Nein.
SPIEGEL: Sie wissen um die Macht der Sym-
bole. Die Vermögensteuer abzuschaffen
ist ein symbolischer Akt, mit dem Sie die
gesamte Linke gegen sich aufbringen.
Macron: Ich stehe voll und ganz zu dieser
Entscheidung. Ich entstamme nicht der
Polit- oder Banken-Elite. Ich bin ein Kind
der Mittelschicht aus der französischen Pro-
vinz. Und hätte man mir gesagt, Erfolg sei
schlecht, oder hätte mir Steine in den Weg
gelegt, dann wäre ich heute nicht da, wo
ich bin. Ich will, dass junge Menschen in
unserem Land erfolgreich sein können –
egal, ob sie das in der Familie, als Künstler
oder Unternehmer vorhaben. Den trauri-
gen Reflexen des französischen Neids wer-
de ich nicht nachgeben, weil eben dieser
JEROME BONNET / DER SPIEGEL

Neid unser Land lähmt. Wir können ohne


Unternehmer keine Arbeitsplätze schaffen,
der Staat kann Stellen nicht per Verord-
nung schaffen.
SPIEGEL: Sie waren in dieser Woche in
Deutschland und haben mit Angela Merkel
Staatschef Macron im Salon doré: „Ich bin ein Kind der Mittelschicht“ die Frankfurter Buchmesse eröffnet. Was
lernen Sie über Ihr Land, wenn Sie zeitge-
nössische französische Autoren wie Michel
„Revolution“ genannt. Und genau das ist ist also meine Pflicht zu sagen: Hier muss Houellebecq, Virginie Despentes oder Pa-
es: Frankreich durchlebt eine Zeit der sich etwas ändern. Ich sage den Leuten trick Modiano lesen?
Transformation – im Bildungswesen, auf das sehr direkt, ich rede Klartext, damit Macron: Houellebecq ist sicherlich der
dem Arbeitsmarkt, beim Rentensystem. Es niemand es falsch versteht. Und ich glaube Schriftsteller, der die Phobien, die Ängste
geht um eine Kulturrevolution. an unsere neue Initiative zur Fortbildung der Gegenwart am besten beschreibt. Ihm
SPIEGEL: Viele Franzosen sehen in Ihnen und zur Berufsbildung. Für Franzosen, die gelingt es wie vielleicht keinem anderen,
den Vertreter einer Welt, die nicht die ihre sozial benachteiligt sind, bedeutet das dabei auch den postmodernen Charakter
ist. Sie nennen diese Leute „Faulpelze“ wirklich Anerkennung und Unterstützung. unserer Gesellschaften darzustellen. Bei
oder sagen ihnen wie vergangene Woche, SPIEGEL: Genau diese Franzosen können ihm geht es mal um die Möglichkeiten der
sie sollten sich lieber eine Arbeit suchen, auch nicht verstehen, warum Sie die Ver- Genetik, mal um Islamismus, all das unter-
anstatt zu demonstrieren und Chaos zu mögensteuer abschaffen wollen. legt er mit einer gewissen Absurdität. Das
stiften. Warum tun Sie das? Macron: Warum? Weil ihnen die Vermögen- führt dazu, dass er Angst nie verherrlicht,
Macron: Seit ich in der Politik bin, unter- steuer nichts bringt. In Deutschland wie sondern zeigt, dass wir ganz nah an der
stellt man mir das. Manche möchten mich auch anderswo in Europa gibt es sie nicht. Absurdität leben. Bei „Unterwerfung“
gern aufspießen wie Insektenforscher ei- Wir wollen Europa aufbauen und gleich- empfinde ich das sehr stark so. Dieses Spiel
nen getrockneten Schmetterling und dann zeitig die Vermögensteuer beibehalten? mit dem Absurden macht einen Autor sui
sagen: Schaut, das ist der Banker, der die Und was führt dazu, dass Unternehmens- generis aus ihm, einen, der sich von allen
Menschen nicht mag. Wenn das der Fall gründer gehen und wir mit ihnen Arbeits- anderen abhebt. Die Ängste, die Houelle-
wäre, wäre ich nicht hier. Ich bin nicht ar- plätze verlieren? Wir helfen nicht den becq so großartig beschreibt, bezeichne ich
rogant zu den Franzosen, ich bin entschlos- Schutzbedürftigsten, wenn jene, die zum als „traurige Leidenschaften“. Patrick Mo-
sen. Während des Wahlkampfs bin ich Erfolg des Landes beitragen können, aus- diano dagegen ist ein melancholischer Au-
durchs ganze Land gereist, ich mag mein wandern. Entgegen dem, was manche be- tor, er beschreibt ein bestimmtes Paris, mit
Land und die Franzosen. Ich liebe es, mit haupten, tue ich dies nicht, um den Rei- einer Obsession für den Zweiten Weltkrieg
ihnen zu diskutieren, sie zu überzeugen. chen zu helfen. Mein Vorgänger hat ver- und die Spuren, die er in unserer Gesell-
Meine tägliche Aufgabe ist es, für meine mögende, erfolgreiche Menschen höher schaft hinterlassen hat.
Mitbürger zu kämpfen. Aber auch, nicht besteuert als je zuvor. Was ist passiert? Sie SPIEGEL: Wen lesen Sie noch?
der Demagogie, der Lüge und dem Ver- Macron: Mich interessieren sehr die Auto-
einbaren von Gefälligkeiten zu erliegen. ren aus dem frankophonen Raum, Kamel
SPIEGEL: Die französische Linke sieht in Ih- Daoud zum Beispiel mag ich sehr gern. In
nen einen hartleibigen Neoliberalen, der „Der Fall Meursault“ und in „Zabor“ zeigt
die eigene Kaste schützt. er eine Leidenschaft für die französische
Macron: Was muss man heute tun, um „Manche möchten mich Sprache, eine ganz besondere Art zu schrei-
Frankreich zu versöhnen? Öffentliche Gel-
der verteilen, das erwarten zumindest
gerne aufspießen ben, wie sie jenen eigen ist, die auf der an-
deren Seite des Mittelmeers leben. Es ist
manche, insbesondere die radikale Linke. wie Insektenforscher die Sprache, die uns verbindet. Durch sie
Sie meinen, man helfe Menschen, indem einen getrockneten halten die Menschen dort an unserer Ge-
man ihnen Geld auszahlt. Das ist aber ein schichte, unserer Kultur und manchmal
Trugschluss, denn das Geld verteile nicht Schmetterling.“ auch an unseren Werten fest. Auch Leïla
ich, sondern zukünftige Generationen. Es Slimani, eine Marokkanerin, die seit Jah-
18 DER SPIEGEL 42 / 2017
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Titel

ren in Frankreich lebt, hat beein- einer europäischen Bedeutung


druckende Bücher geschrieben, entschieden: So habe ich, be-
über die Gesellschaft in Frank- gleitet von der Musik eines tau-
reich heute, unsere gegenwärti- ben Deutschen …
gen Gesellschaften insgesamt. SPIEGEL: … Beethoven natürlich,
Ich glaube durchaus, dass Lesen die 9. Sinfonie …
und die Literatur einer Gesell- Macron: … den Innenhof des
schaft dabei helfen können, sich Louvre durchquert, zu den Klän-
besser zu verstehen. gen der Europahymne.
SPIEGEL: Ihr Premierminister SPIEGEL: Wie sieht Ihr Leben
schreibt Romane, Ihr Wirtschafts- seither aus?

JEROME BONNET / DER SPIEGEL


minister auch. Wann erscheint Ihr Macron: Ich reise viel – durch
erster Roman? Frankreich, Europa, um die Welt.
Macron: Ich schreibe zwar, aber Wenn ich ausnahmsweise keine
behalte das vorerst in der Schub- Abendtermine habe, keine Ver-
lade. Ich habe schon immer ge- pflichtungen, die mir das Proto-
schrieben. Das einzige Buch, das koll aufgibt, oder Arbeitsessen
ich veröffentlicht habe, war „Re- Macron, SPIEGEL-Redakteure* mit Kollegen, dann gehe ich hier
volution“, während des Wahl- „Ich lese jeden Abend, nachts, wann immer es mir möglich ist“ Akten durch.
kampfs, in dem es persönliche SPIEGEL: Kommt es noch vor,
wie politische Kapitel gibt. Ich dass Sie gemeinsam mit Ihrer
war nie zufrieden mit dem, was ich ge- SPIEGEL: „Das Parfum“? Frau in einem dieser Salons hier sitzen,
schrieben hatte, darunter drei Romane, die Macron: Ja. Aber auch „Der Kontrabass“. lesend?
in meinen Augen unvollendet sind. Von Grass natürlich „Die Blechtrommel“. Macron: Ja, wir haben es bisher geschafft,
SPIEGEL: Was fehlte, was war nicht gut Danach hat mich Thomas Mann einige Jah- uns eine gewisse Zweisamkeit zu erhalten.
genug? re begleitet, während meines Literaturstu- Es gibt mindestens einen Abend in der Wo-
Macron: Im politischen Leben wird Unzu- diums. Ich habe immer wieder versucht, che, an dem wir uns sehen. Und das Lesen
friedenheit mit Aktion behoben oder zu- den deutschen Originaltext zu lesen, aber habe ich nie aufgegeben. Ich lese jeden
mindest bekämpft. Solange Sie nicht voll- habe es nie wirklich geschafft. Auch die Abend, nachts und wann immer es mir
kommen zufrieden sind, bleiben Sie aktiv deutsche Lyrik hat mich berührt, insbeson- tagsüber auf Reisen möglich ist. Ich habe
und machen weiter. Im literarischen Leben dere die Romantik. immer gelesen.
muss man irgendwann einen Punkt setzen SPIEGEL: Was ist mit Musik, mit den deut- SPIEGEL: Sie haben mehrfach gesagt, die
und das, was man geschrieben hat, andere schen Komponisten? Familie Ihrer Frau Brigitte, ihre Kinder
lesen lassen. Das finde ich schwierig. Wahr- Macron: Ich komme aus einer Familie, und sieben Enkelkinder, seien Ihr Fels,
scheinlich bin ich zu stolz, jedenfalls habe für die Musik wichtig war, insbesondere Ihr Fundament. Gibt es Platz für sie im
ich deshalb nie etwas veröffentlicht. Ich deutsche Musik, von Bach bis Beethoven. Élysée?
habe mir aber vorgenommen, das irgend- Ich habe viel Klavier gespielt und am meis- Macron: Oh ja, unsere Kinder und Enkel-
wann einmal zu tun. ten Bach. Glenn Goulds Interpretation kinder kommen uns regelmäßig besuchen,
SPIEGEL: Es war vor allem Ihre Großmutter, habe ich sehr geliebt. Gegenstand des die Kleinen rennen ständig draußen im
die Ihnen die Literatur, das Lesen nahege- Meisterkurses, den ich besuchen sollte, war Garten herum. Beim ersten Mal waren sie
bracht hat. übrigens das „Wohltemperierte Klavier“. noch eingeschüchtert von diesen Räumen.
Macron: Das stimmt. Die Geschichte meiner Das ist ein Universum für sich, die Musik Jetzt bewegen sie sich hier ganz normal.
Großmutter ist die einer Französin aus der hat solch eine Tiefe, solch eine Intimität, Ich glaube, es ist wichtig, dass dieser Ort
Provinz, die sich durch Arbeit und Wissens- ist berührend und zeitlos zugleich. Was wirklich bewohnt wird.
durst bis zur Schuldirektorin hochgearbeitet ich an Bach mag: Es gibt keinen Schnick- SPIEGEL: Haben Sie viel verändert, seitdem
hat. Sie gehörte einer Generation an, die schnack. Es ist, als ob man Gemälde von Sie hier eingezogen sind?
wenig reiste. Sie hat vielleicht zwei Reisen Georges de La Tour betrachtet: Da gibt es, Macron: Alles. Dieses Büro zum Beispiel
gemacht, mehr nicht. Aber sie glaubte an bei aller Schönheit, eine extreme Schmuck- sah ganz anders aus, es gab einen riesigen,
Europa, sie wollte Europa. Und sie las sehr losigkeit. Sie zwingt einen, alle Eitelkeit schweren Teppich, viel mehr Möbel. Wir
viel, sie kannte die Mythologie, die Litera- fallen zu lassen. Aber der Genialste ist haben alles leichter, moderner gemacht,
tur, die Klassiker sehr gut. Das alles hat sie doch Mozart, was furchtbar banal klingt. zeitgenössischen Künstlern mehr Platz ein-
an mich weitergegeben. Wie auch die Über- Man kann sich noch so sehr als Snob ge- geräumt. Ich möchte diesen Palast öffnen.
zeugung, dass man sich seinen Platz in der rieren, am Ende ist es einfach so. Als Da- Heute Abend wird es ein Konzert geben.
Gesellschaft erarbeiten kann. niel Barenboim vor Kurzem in Paris war, Wir haben Schulklassen aus sozial schwa-
SPIEGEL: Wissen Sie noch, welches Ihr ers- haben wir genau darüber gesprochen: chen Vierteln und die Angestellten des Ély-
tes deutsches Buch war? Selbst er spielt am liebsten Mozart. Mozart sée mit ihren Familien eingeladen. 200 Per-
Macron: Mein Vater las Günter Grass. Er ist in der Musik in etwa das, was Rimbaud sonen, die normalerweise nie Zugang zu
hat mich an die deutsche Literatur heran- in der Literatur ist. Das sind Menschen, diesem Haus hätten. An einem solchen Ort
geführt. Mein erstes Buch von einem deut- die etwas erschaffen haben wie keiner vor zu wohnen, das bedeutet, ihn mit anderen
schen Autor war, glaube ich, von Grass. ihnen. Absolute Genies. Man erkennt ihre zu teilen.
SPIEGEL: Welches war es? Harmonien unter Tausenden. Die deutsche SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen
Macron: Moment, ich will jetzt nichts Fal- Musik hat etwas sehr Kraftvolles in sich. für dieses Gespräch.
sches sagen. Ich habe Goethe gelesen, in Am Tag meiner Wahl habe ich mich des-
einer zweisprachigen Ausgabe, später halb auch für eine deutsche Musik mit Video: Macron, sein Hund,
dann viel Philosophie. Aber in der zeitge- sein Palast
nössischen deutschen Literatur waren es * Britta Sandberg, Julia Amalia Heyer und Klaus Brink- spiegel.de/sp422017macron
Grass und Patrick Süskind. bäumer im Élysée-Palast. oder in der App DER SPIEGEL

20 DER SPIEGEL 42 / 2017


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Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

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p 040 3007-2700 !ĴŭŭğłŭĴœōťōųŋŋğšćōĬğĒğō ^VǾ#ǿǾ%'
Titel

Stürmer und Dränger


Herrschaft Über die Macht der Erzählung im Politikverständnis des neuen
französischen Präsidenten Emmanuel Macron

DOMINIQUE JACOVIDES / BESTIMAGE / ACTION PRESS

Staatschef Macron, Kanzlerin Merkel auf der Frankfurter Buchmesse: Ein Produkt der großen Krise

Z
u Emmanuel Macrons Stilmitteln müsse man versprechen: Auch für dich Bühne handlungsfähig zu sein. Wo Macron
zählt die graduelle Überforderung gibt es Flaubert, gibt es Mozart und Beet- in seiner Rede zur Eröffnung der Frank-
des Publikums. Bevor er am Diens- hoven in den Schulen der Republik. furter Buchmesse ein großes Panorama der
tag bei der Frankfurter Buchmesse auf An- Macron mutet zu. Üblich ist doch, den Traditionen und Herausforderungen zeich-
gela Merkel trifft, sitzt er mit zwei Männern Bürger nicht zu verunsichern, sondern ihn nete, rezitierte sie uninspiriert eine Vorla-
auf einem Podium in einem Frankfurter da abzuholen, wo auch immer man ihn ge, die wie aus Wikipedia kopiert schien.
Hörsaal. Als die Runde ein wenig zu lang- vermutet. Bloß keine Anstrengung einfor- Bisher bestimmte Angela Merkel die eu-
weilen droht, schlägt Macron mit der Hand dern, um einen Schritt selbst zu gehen ropäische Politik. Sie verkörperte das ver-
auf sein Knie und erhöht das Tempo. oder gar selbst zu denken. nünftige, real existierende Europa, und was
Vom Thema der tieferen Zusammenar- Weil da einer ist, der drängt, voran- sie nicht ansprach, das gab es einfach nicht.
beit der Gründungsstaaten der Europäi- stürmt, der etwas will, sind auch die Die französischen Präsidenten standen ihr
schen Union kommt er zur neuen Politik deutsch-französischen Beziehungen in zur Seite, in die Quere kamen sie ihr nicht.
für den Nahen Osten, den Maghreb und eine neue Phase eingetreten. Die Kanzle- Mit Macron ist das anders. Seine politi-
Afrika. Er schildert den Zusammenhang rin muss nach einem schwierigen Wahlaus- sche Dynamik ist nicht Ausweis besonde-
zwischen islamischem Fundamentalismus gang und komplizierten Koalitionsver- ren Genies, sondern vor allem eine Reak-
und dem Aufstieg fremdenfeindlicher Par- handlungen erst einmal wieder politisches tion auf die politische Lage, die er in Frank-
teien. Den ausgegrenzten Jugendlichen Kapital sammeln, um auf der europäischen reich vorfand. Das französische Parteien-
22 DER SPIEGEL 42 / 2017
system hatte sich im vergangenen Präsi- torischen Komfortzone ein, die allmählich den problematischen politischen Land-
dentschaftswahlkampf als unfähig erwie- als bedrückend empfunden wurde. Nun schaften der Nationalstaaten werden in
sen, die demokratische Alternanz, den ge- hat Macron Europa als neuen Horizont er- eine europäische Einheit überführt, oder
waltlosen Machtwechsel zu ermöglichen. öffnet. Nur hier lässt sich eine Dynamik wir erleben eine immer weiter fortschrei-
Die konservative Partei „Les Républi- erzeugen, glaubt er, die die Nationalstaa- tende Auflösung.
cains“ versank mit ihrem Kandidaten Fran- ten herausfordert, auf der Höhe ihrer Mög- Damit spricht Macron durchaus auch die
çois Fillon im selbst gezimmerten Gerüst lichkeiten zu bleiben und nicht zum „Bor- Erschöpfung des politischen Personals in
aus alten Affären. Hollandes Sozialisten dell für asiatische Touristen“ zu verkom- den Nationalstaaten an. Sein Aufstieg wäre
nominierten einen Kandidaten, der es auf men, wie es der französische Schriftsteller ja nicht möglich gewesen ohne den Kollaps
ganze 6,4 Prozent der Stimmen brachte. Michel Houellebecq prophezeite. der französischen Parteien, die bislang üb-
Die beiden großen Parteien waren in der Macron beschwört ein Europa der Uni- rigens auch niemand vermisst. Der Vor-
Nachkriegszeit entstanden. Obwohl sich versitäten, der Bibliotheken und Cafés. schlag, bei den Wahlen zum Europäischen
die französische Lebenswelt seitdem in fast Die gemeinsame Kultur und Lebensart be- Parlament transnationale Listen einzufüh-
allen Punkten geändert hat, agierten sie ruhe auf so vielen juristischen, sozialen ren, die nicht mehr von den Parteien der
weiter, als sei nichts geschehen, wie Figu- und ökonomischen Fundamenten, dass sie einzelnen Länder eingereicht werden, geht
ren in einem Cartoon von Tex Avery, die sich kaum an einem anderen Flecken der in diese Richtung: Von den gewohnten Par-
weit über den Rand des Felsens hinausspa- Erde so realisieren lasse. teien ist kein Heil mehr zu erwarten.
zieren, bevor sie zu Boden stürzen und im Gedanklich vorbereitet wurde Macron Mit seiner Profilierung wächst allerdings
Wüstensand einen Krater mit den Umris- darauf nicht allein durch Schule und Stu- auch die Kritik an Macron. Stellvertretend
sen ihrer Silhouette hinterlassen. dium, sondern auch durch seinen Mentor, für die klassische französische Linke sieht
den Philosophen Paul Ricoeur. Ihm assis- der Soziologe Didier Eribon, Autor des

M
acron hat gleich zu Beginn seiner tierte Macron Ende der Neunzigerjahre als Bestsellers „Rückkehr nach Reims“, in der
Karriere auf Risiko gesetzt und Redakteur und Archivar. Damals lernte er Wirtschaftspolitik Macrons eine ernste Ge-
seinem Land einen Neuanfang die vorsichtige, um Präzision und Aus- fahr: Wer durch eine Flexibilisierung des
versprochen. Dabei hat ihm in gewisser gleich bemühte Art des großen Hermeneu- Arbeitsmarkts traditionelle Rechte der Ar-
Weise die Kanzlerin geholfen, denn Ange- tikers kennen. Das hinderte ihn nicht an beitnehmer beschneide und zugleich in
la Merkel ist in Frankreich zu einem Inbe- offenen Worten: In den Archiven des Phi- großen Worten von Europa schwärme, ver-
griff für persönliche Integrität geworden. losophen finden sich durchaus kritische, ja stärke das Ausgrenzungsgefühl der einsti-
Kein Skandal trübte ihre Amtszeit. Ihr übermütige Anmerkungen seines jungen gen Arbeiterklasse.
Selbstbewusstsein, das ohne Modeeskapa- Gegenlesers.

S
den und Liebeswirren auskommt, wurde Wenn Macron heute versucht, Gegen- olcher Kritik begegnet Macron mit
den Franzosen zum Symbol für eine er- sätze zu versöhnen und Spannungen aus- einem deutschen Beispiel, dem Sys-
strebenswerte Stabilität. Dass er auf sie zuhalten, etwa jene zwischen Kapital und tem der dualen Berufsausbildung.
Bezug nahm, nutzte Macron bei seinen Arbeit, zwischen französischer Tradition Lehre und Berufsschule fristen in Frank-
Wählern. und Weltoffenheit, dann geht das auf die reich traditionell ein Schattendasein, hier
Merkel ist für die Franzosen eine Frau, Gedanken von Ricoeur zurück. Der Philo- gilt die abstrakte, literarische und mathe-
die ihre Religion und ihre soziale Herkunft soph liebte die Formel von der Gleichzei- matische Bildung mehr als die praktische
in den Hintergrund treten lässt und die tigkeit widerstrebender Kräfte und Argu- Ausbildung, der theoretische Physiker
nicht nur selten, sondern auch noch eher mente, die einander nicht übertrumpfen, mehr als der Klempner.
ungern von sich selbst spricht. Eine Frau, sondern ergänzen. Und er betonte, etwa Der Präsident, der schon seinen Mitschü-
die Politik nicht als Mittel zum sozialen in seiner Rede zur Verleihung des renom- lern als Überflieger galt, muss den Fran-
Aufstieg oder zur Erlangung persönlichen mierten amerikanischen Kluge-Preises zosen nun den Wert des freien Unterneh-
Wohlstands betreibt, die ohne Fanatismus 2004, die „Macht der Erzählung“: dass es mertums und des Handwerks vermitteln.
handelt. Sie ist damit zu einer dominieren- eine Geschichte ist, die aus den disparaten Der erste Mann im Staat muss den Fran-
den Figur im kollektiven Unterbewusstsein Ebenen der Persönlichkeit und der Erfah- zosen plausibel machen, dass der Staat
der Franzosen geworden. rungen eine Einheit bildet und die hilft, nicht alles ist, nicht alles kann – und dabei
Macron ist das Produkt der großen Krise mit Triumphen und Niederlagen fertigzu- ermutigend klingen.
der französischen Politik, und die war in werden. Der ewige Klassenbeste muss die Schul-
den vergangenen Jahren in vielerlei Hin- Dieses Vertrauen auf die Macht der Er- abbrecher, die Bewohner der Vorstädte,
sicht das genaue Gegenteil des Phänomens zählung steht im Zentrum der politischen die Desperados von links und von rechts
Angela Merkel: ein Zirkus der Affären und Arbeit Macrons. Er gibt der Gegenwart da- für die Sache der Republik und für Europa
Skandale, in dem sich die Autorität der mit eine Dringlichkeit, markiert die Mög- gewinnen – und vertraut auf die Verfüh-
Parteien und der Regierenden auflöste. lichkeit einer weiteren Zeitenwende zu un- rungskünste von Flaubert, Mozart und
Der letzte große Einschnitt in der fran- seren Lebzeiten: Entweder die zerfallen- Beethoven.
zösischen Politik, auf den sich viele Ak- Der politische Novize, den eine Bürger-
teure der Linken bis heute beziehen, war bewegung ins Amt befördert hat, muss das
der Amtsantritt des Sozialisten François Land von oben reformieren und die Fran-
Mitterrand am 21. Mai 1981. Macron war zosen nach langem Zwist einen wie der
damals drei Jahre alt. Danach ist in Frank- gute König Heinrich IV. Das sind die Pa-
reich wenig geschehen. Die Generation Macron gibt der radoxien des Emmanuel Macron. Und da-
Macrons kennt keine Umwälzungen, wie
sie in Deutschland der Mauerfall und die
Gegenwart eine mit sind es unsere, denn Europa, gerade
Deutschland, ist nicht Publikum, sondern
Wiedervereinigung hervorgebracht haben. Dringlichkeit, markiert Partei bei dem Versuch, mehr Dynamik,
Auf Mitterrand folgte Chirac, der Front die Möglichkeit mehr Tempo in die europäische Politik zu
National legte immer weiter zu. Sarkozy bringen. Es ist da wie beim Fahrradfahren:
und Hollande scheiterten, jeder auf seine einer Zeitenwende. Wenn man stehen bleibt, fällt man um.
Art. Frankreich richtete sich in einer his- Nils Minkmar

DER SPIEGEL 42 / 2017 23


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an der Ostküste. Gegen die Einsamkeit und Essen
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entscheidet er sich, eine Haushälterin zu Teichstraße 2
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Als Kind an rheumatischer Arthritis
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Deutschland

MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA


Deutsche Soldaten in Afghanistan

Bundeswehr

Auslandseinsätze werden verlängert


Zumindest bis Ende März sollen deutsche Soldaten Dienst im Ausland tun.
Union und SPD haben sich darauf geeinigt, die Auslands- zugestimmt, sich bei der Irakmission aber enthalten. Die
einsätze der Bundeswehr zunächst bis Ende März zu verlän- Parlamentarier der FDP wollen sich „ruhig beraten“, wie
gern. Einen entsprechenden Beschluss soll das Kabinett am der Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff sagt. „Un-
Mittwoch fassen. Bei einem Treffen im Kanzleramt am ver- sere Abgeordneten haben vor allem einen Anspruch darauf,
gangenen Donnerstag unterrichteten Verteidigungsminis- zunächst einmal gründlich informiert zu werden.“
terin Ursula von der Leyen und Kanzleramtschef Peter Alt- Der neue Bundestag wird am 24. Oktober erstmals zusam-
maier die zuständigen Politiker der Koalitionsparteien mentreten. Die Ausschüsse, in denen die Vorschläge zu bera-
sowie der Grünen und der FDP über die Pläne. Im Bundes- ten sind, sollen aber erst nach Ende der Koalitionsverhand-
tag sollen die Abgeordneten von Grünen und FDP, so die lungen besetzt werden. Bis dahin wollen Union und SPD einen
Verabredung, unabhängig von den Interessen der Union ab- sogenannten Hauptausschuss einsetzen, wie dies nach der
stimmen können, damit die Verhandlungen über eine Bundestagswahl 2013 der Fall war. Dieser Ausschuss könnte
Jamaikakoalition nicht belastet werden. Über die Verlänge- seine Beratungen schnell abschließen. Im April 2018 muss eine
rung der Einsätze soll jeweils einzeln und nicht im Paket ab- neue Regierung dem Parlament Anträge zur Verlängerung
gestimmt werden. Die Grünen hatten dem Einsatz in Mali der Mandate für Auslandseinsätze vorlegen. akm, csc, mgb, ran

Frauenquote MDax und SDax gelistet sind. ihrer selbst“, schreiben die anteil in den Vorständen der
93 Prozent Männer Dort gibt es sogar weniger Autoren der Studie, und lie- 160 Dax-Unternehmen liegt
Vorstandsfrauen als noch vor fen so Gefahr, „den An- aktuell bei rund sieben Pro-
Die Macht in deutschen Kon- einem Jahr, so das Ergebnis schluss an eine moderne Füh- zent. Sollte die Entwicklung
zernen liegt nach wie vor einer Studie der deutsch- rungskultur zu verlieren“. in dem Tempo weitergehen,
in Männerhand. Besonders schwedischen AllBright-Stif- Die seit Anfang 2016 gel- wäre das Geschlechterver-
rückständig sind mittelgroße tung. „Die CEOs von MDax tende gesetzliche Frauenquo- hältnis dort erst im Jahr 2055
und kleine Unternehmen, und SDax umgeben sich te betrifft nur Aufsichtsräte, einigermaßen ausgeglichen,
die in den Aktienindizes bevorzugt mit Spiegelbildern keine Vorstände. Der Frauen- so das Fazit der Studie. akn

26 DER SPIEGEL 42 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Abgeordnete punkt stehen. Beides gleich- Justizopfer ger Haft mit ihren Proble-
„Das war zeitig geht nicht. Unschuldig, aber men alleingelassen – etwa
SPIEGEL: Petrys Ehemann beim Kampf mit staatlichen
Wählertäuschung“ Marcus Pretzell ist gleichzei- doppelt gestraft Stellen um Unterstützung
Der Parteien- tig Mitglied im EU-Parlament Der Umgang mit Menschen, und Entschädigung. Dabei
rechtler und im Landtag von NRW. die unschuldig im Gefängnis führe eine lange Haft oft zu
Martin Morlok, Morlok: Für das EU-Parla- saßen, ist „objektiv verbes- einem Verlust der gesamten
68, über das ment gibt es keine vergleich- serungswürdig“, so das Er- bürgerlichen Existenz.
bare Vorschrift, aber das gebnis einer Untersuchung Betroffene und ihre An-
KARINA HESSLAND / IMAGO

fragwürdige
Mandats- Zeitproblem besteht gleich- der Kriminologischen Zen- wälte stuften die Wiedergut-
verständnis wohl. tralstelle im Auftrag der machungsmaßnahmen der
der Ex-AfD- SPIEGEL: Könnte man Petry Justizministerkonferenz. In Studie zufolge als „unzurei-
Politikerin zwingen, eines der beiden Deutschland stehen einem chend“ ein. Ulrich Schellen-
Frauke Petry Mandate aufzugeben? nachweislich zu Unrecht Ver- berg, Präsident des Deut-
Morlok: Sowohl der Bundes- urteilten nur 25 Euro schen Anwaltvereins, sieht
SPIEGEL: Herr Morlok, die tagspräsident als auch der Schmerzensgeld pro Hafttag die Justizministerkonferenz
ehemalige AfD-Vorsitzende Präsident des sächsischen zu. Dazu kommt ein Aus- in der Pflicht, „unverzüglich
Frauke Petry ist Mitglied Landtags könnte Petry auf- gleich von nachgewiesenen zu handeln“. Die Haftent-
in zwei Parlamenten, dem fordern, sich zu entscheiden. Vermögensschäden. Den aus schädigung pro Tag müsse
Bundestag und dem säch- SPIEGEL: Und wenn sie sich der Haft entlassenen Justiz- mindestens vervierfacht
sischen Landtag. Geht das? weigerte? opfern werde „nicht die Hil- werden. Es müssten „sofort
Morlok: Dass sie für den Morlok: Das wäre zumindest fe entgegengebracht“, die sie konkrete Maßnahmen er-
Bundestag kandidieren und ein Affront. Ein Mandats- „erwarten und verdienen“, griffen werden, damit
sich wählen lassen durfte, entzug wäre aber schwierig. resümieren die Autoren der unschuldig Inhaftierte so
obwohl sie bereits ein Land- SPIEGEL: Petry hat ja auch un- Studie. Nach oft kurzfristiger schnell wie möglich wieder
tagsmandat hatte, ist mittelbar nach der Bundes- Haftentlassung würden Be- in unserer Gesellschaft
klar. Ich meine aber, dass tagswahl den Austritt aus der troffene auch nach langjähri- Fuß fassen können“. hip
sie eines der Mandate auf- AfD erklärt, obwohl sie als
geben müsste. deren Direktkandidatin einen
SPIEGEL: Wieso? Wahlkreis erobert hatte.
Morlok: Ein Doppelmandat Morlok: Das war natürlich
ist zwar nicht ausdrücklich eine Wählertäuschung. Of-
verboten. Im Abgeordneten- fenkundig ist ihr das ja nicht
gesetz für den Bundestag erst nach der Wahl in den
und auch dem für den sächsi- Sinn gekommen. Rechtlich
schen Landtag steht aber, durfte sie das zwar. Aber wie
dass die Ausübung des Man- immer in solchen Fällen:
dats „im Mittelpunkt“ der Über das Verhalten von Ab-
Tätigkeit des Mitglieds geordneten urteilen die
stehen muss. Es kann ja aber Wähler spätestens bei der
nur ein Mandat im Mittel- nächsten Wahl. hip

DANIEL BOCKWOLDT / DPA


Grüne der Grünengeschäftsführer
Schulterschluss mit Michael Kellner, „dafür wer-
den wir Grünen kämpfen.“
Gewerkschaften In einer Koalition mit Union Umgestürzte Bäume in Hamburg
Die Grünen binden führende und FDP sähen sich die Grü-
Gewerkschaftsfunktionäre nen als der eigentliche „An-
in die Vorbereitung zu mög- sprechpartner für gesell- Wetter
lichen Jamaikakoalitions- schaftliche Akteure und Ge- „Xaviers“ Schadensbilanz
gesprächen ein. Der Ver.di- werkschaften“, so Kellner,
Vorsitzende Frank Bsirske „deswegen wollen wir eine Tote ................................................ 7 Regionalzugausfälle ....... 7800
und das DGB-Vorstandsmit- enge Abstimmung“.
glied Annelie Buntenbach Die Gewerkschaften fürch- Verletzte............................mind. 73
sind von der Parteispitze in ten ohne eine Regierungsbe- Fernzugausfälle .................. 240
die Vorbereitungsgruppe teiligung der SPD ein „Roll- Polizei- und Feuer-
„Wirtschaft und Arbeitsmarkt“ back“ in der Arbeitsmarkt- wehreinsätze............fast 20 000 Bahn-Schadstellen ............ 500
gebeten worden. Beide Ge- politik, etwa bei der Rente
werkschafter sind Grünen- oder bei Arbeitnehmerrech- Bäume
mitglieder. Grund für die un- ten. Außerdem ist Anfang umgestürzt/geschädigt .........rund 2 Mio. betroffene Fahrgäste ... 2,5 Mio.
gewöhnliche Beteiligung: November ein Treffen des
„Die sozialen Aspekte dürfen grünen Bundesvorstands mit
in der nächsten Regierung den Chefs der großen Ge- Gesamtschaden für deutsche Versicherer: bis zu 200 Mio. €
Schätzung: Versicherungsberatung Meyerthole, Siems, Kohlruss
nicht verloren gehen“, sagt werkschaften geplant. akm

DER SPIEGEL 42 / 2017 27


Deutschland

BRITTA PEDERSEN / DPA


Helikopter in Mali

Mali-Einsatz Anweisung“ des Luftfahrt- schine gefunden. Diese könn- Autopiloten als zentrale Ur-
„Tiger“ verlor amts der Bundeswehr wer- ten sich gelöst und während sache für den plötzlichen
den jetzt strenge Kontrollen des Sturzflugs den Rotor be- Sturzflug aus 500 Metern ver-
Triebwerksklappen der Wartungsklappen an bei- schädigt haben. In der An- mutet. Obwohl die Absturz-
Nach dem tödlichen Absturz den Triebwerken vor und weisung heißt es dazu, Piloten ursache bislang nicht ganz
eines „Tiger“-Kampfhub- nach jedem Flug angeordnet. und Techniker müssten für aufgeklärt ist, hat das Heer
schraubers in Mali Ende Juli Zuvor hatte die Bundes- das Risiko von losen Klappen die Wiederaufnahme des
hat die Bundeswehr für Flüge wehr in der malischen Wüste als „möglichen beitragenden „Tiger“-Flugbetriebs mit Auf-
mit dem gleichen Helikopter- in mehreren Kilometern Faktor auf das Unfallgesche- lagen genehmigt. Zu der
typ eine weitere Sicherheits- Entfernung von der Absturz- hen“ sensibilisiert werden. internen Warnung wollte
warnung erlassen. In der stelle Teile der Triebwerks- Bisher hatte die Bundes- sich die Bundeswehr nicht
„Vordringlichen Technischen verkleidung der Unglücksma- wehr eine Fehlfunktion des äußern. mgb

Sterbehilfe statten. In der Politik war Kanzlernachlass lassgericht in Ludwigshafen


Schwerkranke der Richterspruch auf Kritik Kohl-Witwe am Rhein am 10. August aus-
gestoßen. Bundesgesund- gestellt hat. Bislang war die
fordern Todesarznei heitsminister Hermann Gröhe erbt alles Erbfrage unklar; das Verhält-
Dem heiklen Thema Sterbe- (CDU) hatte angekündigt, Helmut Kohls zweite Ehe- nis zwischen Kohl-Richter
hilfe wird sich auch eine „den Tabubruch staatlicher frau Maike Kohl-Richter, 53, und Kohls Söhnen aus erster
neue Bundesregierung stel- Selbsttötungshilfe“ verhin- ist die Alleinerbin des im Ehe, Walter und Peter, gilt
len müssen: Insgesamt 68 Pa- dern zu wollen. Das Ministe- Juni verstorbenen Altkanz- als zerrüttet. Walter Kohl
tienten haben beim Bundes- rium will zunächst noch ein lers. Das geht aus dem Erb- hatte vor einigen Wochen in
institut für Arzneimittel und Gutachten abwarten, das der schein hervor, den das Nach- einer Talkshow erzählt, es
Medizinprodukte (BfArm) Verfassungsexperte Udo Di habe noch zu Lebzeiten
einen Antrag zum Erwerb Fabio im Auftrag des BfArm Kohls eine „juristische Klä-
eines todbringenden Medika- erstellt. Auch das Gröhe rung“ der Erbfrage innerhalb
ments eingereicht. Die An- unterstellte Bundesinstitut er- der Familie gegeben. Dabei
tragsteller berufen sich auf klärt, wegen der „besonde- ließ er allerdings offen, an
ein Urteil des Bundesverwal- ren Tragweite des Urteils“ wen das Erbe geht.
WOLFGANG RATTAY / REUTERS

tungsgerichts von Anfang zuvor nicht über die Anträge Mit der Alleinerben-Re-
März, nach dem unheilbar zu entscheiden. Erst 2015 gelung haben die Söhne
Kranke in extremen Ausnah- hatte der Bundestag eine Ver- Anspruch auf einen Pflicht-
mefällen Anspruch auf eine schärfung des geltenden teil. Zum Nachlass Kohls
Substanz zur Selbsttötung Rechts beschlossen, um die zählen auch Akten, auf die
haben. Das BfArm muss laut geschäftsmäßige Sterbehilfe das Bundesarchiv Anspruch
Urteil eine Herausgabe ge- unter Strafe zu stellen. cos Kohl-Richter erhebt. klw

28 DER SPIEGEL 42 / 2017


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Deutschland

CHRISTIAN THIEL / IMAGO


CDU-Vorsitzende Merkel nach ihrer Rede beim Deutschlandtag der Jungen Union*: Rückbesinnung auf die christliche Soziallehre

Der Linksruck
Union Angela Merkel reagiert auf den Aufstieg der AfD; doch anders, als viele in ihrer
Partei dachten. Sie will sich als das soziale Gewissen der geplanten Jamaikakoalition
profilieren – und enttäuschte Wähler mit milliardenteuren Geschenken zurückholen.

A
ngela Merkel ist seit 17 Jahren, jungen Christdemokraten stellte. Ob sie Ernsthaft glaubt das zum Beispiel: An-
sechs Monaten und vier Tagen Vor- nicht endlich einräumen wolle, dass die gela Merkel. Sie sprach von schlecht be-
sitzende der CDU, doch noch im- Union eine schwere Niederlage bei der zahlten Altenpflegern und Familien, die
mer weiß sie, ihre Partei zu überraschen. Bundestagswahl erlitten habe? Und sei es in den großen Städten keine bezahlbaren
Am vergangenen Samstag besuchte Mer- nicht endlich an der Zeit, sich wieder um Wohnungen mehr fänden. Sie berichtete
kel den Deutschlandtag der Jungen Union. die Wähler rechts der Mitte zu kümmern? von alten Männern und Frauen, die 45 Jah-
Der Parteinachwuchs sieht sich schon seit Merkel bewies bei ihrem Auftritt dann re gearbeitet hätten und nun nicht von
Jahren als konservative Speerspitze der allerdings vor allem, wie flexibel sie sein ihrer Rente leben könnten.
Partei, in der langen Ära Merkel bejubelte kann, sobald die Not groß ist. Sie legte „Auf diese sozialen Fragen müssen wir
er immer wieder Männer, die ihm Ruf ste- ihren Plan dar, wie sie die Wähler zurück- antworten“, sagte Merkel und fügte selbst-
hen, einen kritischen Blick auf die Kanz- holen will, die am 24. September zur AfD kritisch an: „Die CDU ist manchmal etwas
lerin zu werfen. gewandert sind – nur hat der so gar nichts geneigt, sich sehr um die Wirtschaft zu küm-
Helmut Kohl wurde im Jahr 2004 emp- mit den Vorstellungen zu tun, die viele in mern, und dann auch noch um die klassische,
fangen, als würde er und nicht Merkel die der Partei hegen. und etwas ungeneigt, sich auch damit zu be-
Geschicke der Partei führen („Wir haben Jens Spahn hatte in seiner Rede am Vor- fassen, was das für den Einzelnen bedeutet.“
ein Idol – Helmut Kohl“). 2005 war Mer- abend keinen Zweifel daran gelassen, wo Als Merkel nach etwa zwei Stunden das
kels damaliger Intimfeind, der schneidige er die Gründe für die Wahlniederlage sieht. Dresdner Kongresszentrum verließ, war ei-
Reformer Friedrich Merz, der Star des Tref- Der „Elefant“ der CDU, über den niemand nes klar: Merkels Antwort auf den Aufstieg
fens. In diesem Jahr wurde Jens Spahn mit zu reden wage, sei die Flüchtlingspolitik. der rechten AfD ist – ein Linksruck.
stehenden Ovationen gefeiert, der junge „Glaubt denn irgendjemand ernsthaft im Sollte es der Kanzlerin gelingen, eine Ja-
Staatssekretär im Finanzministerium ist Saal, wir hätten in Baden-Württemberg maikakoalition zu zimmern, will sie sich
die neueste Hoffnung für alle, die sich eine zwölf Prozent an die AfD verloren – we- als das soziale Gewissen des neuen Bünd-
konservative Wende der CDU wünschen. gen der Pflegepolitik?“ nisses präsentieren. „Eine Volkspartei kann
Entsprechend spitz war der Ton, als sich sich aufgeben, wenn sie die kleinen Leute
Merkel am Samstagmorgen den Fragen der * Am 7. Oktober. nicht mehr im Blick hat“, heißt es im Kanz-
30 DER SPIEGEL 42 / 2017
HENNING SCHACHT
CSU-Chef Seehofer nach Pressekonferenz in Berlin am 9. Oktober: Gerechtigkeitslücke schließen

leramt. Es gehe nun darum, sich auf die er den Zwist um die Obergrenze für Flücht- Union verspricht ein Baukindergeld, das
„christliche Soziallehre“ zu besinnen. linge, der das Verhältnis zu Merkel andert- mit einem Milliardenbetrag zu Buche
Nun kann man nicht behaupten, dass halb Jahre lang vergiftet hatte. schlägt. Außerdem wollen die Unionspar-
Merkel in den vergangenen Jahren dem „Die sozialen Themen haben bei der teien für „eine auskömmliche Finanzierung“
Land ein straffes Reformprogramm verord- Wahl eine große Rolle gespielt“, sagt CSU- der Kliniken sorgen und „eine gut erreich-
net hätte: Sie willigte in den Mindestlohn Generalsekretär Andreas Scheuer. „Da- bare Krankenhausversorgung in der Fläche“
ein, sie machte mit, als es darum ging, die rauf werden wir intensiv eingehen. Wer sichern. Und seit der Wahl denken ihre Ex-
Rente mit 63 durchzusetzen, und sie reich- künftig nicht noch mehr Protestwähler ha- perten auch darüber nach, die Personalaus-
te die Hand für den Zuschlag bei der Müt- ben will, muss die Themen konkret ange- stattung in Pflegeheimen zu verbessern.
terrente für ältere Frauen. Manche in der hen. Darüber müssen sich alle im Klaren Seehofer und Merkel kennen die solide
Union fragen bang, wie es eigentlich mög- sein.“ Am Mittwoch sagte Seehofer vor Haushaltslage des Bundes. Die Bundes-
lich sein soll, die CDU noch weiter nach der CSU-Landtagsfraktion in München, regierung sagt ein Wachstum von rund
links zu rücken. die Leute dürften nicht das Gefühl haben, zwei Prozent für dieses und das nächste
Aber Merkel spürt, dass etwas passieren der Staat kümmere sich um die Flüchtlinge, Jahr voraus. Das ermutigt die Parteichefs,
muss, zu groß ist die Verunsicherung nach aber für sie bleibe kein Geld übrig. Geld in die Hand zu nehmen, um die Wäh-
dem Sonntag der Bundestagswahl, als die Welchen Kreis er besonders bedenken ler gewogen zu stimmen. Streit gibt es ei-
Union mit 32,9 Prozent das schlechteste will, machte Seehofer auch klar: Familien gentlich nur noch bei einem Punkt: Die
Ergebnis seit über 60 Jahren einfuhr. mit Kindern, alte Leute mit kleiner Rente, CSU will ein weiteres Jahr Kindererzie-
Gleichzeitig will die Kanzlerin einen einfache Angestellte, die sich die hohen hungszeiten auf die Mütterrente für Frauen
Schwenk nach rechts, den nun viele ver- Mieten in Städten wie München nicht aufschlagen, die vor 1992 ihre Kinder be-
langen, um jeden Preis verhindern. Dies mehr leisten können. Diese Bürger hätten kommen haben, was noch einmal knapp
käme dem Eingeständnis gleich, dass nicht sich von der Politik vernachlässigt gefühlt. sieben Milliarden Euro kosten würde.
nur ihre Flüchtlingspolitik ein grober Feh- Darauf müsse man reagieren. Am Mittwoch sagte Seehofer in der
ler war, sondern auch ihre Entscheidung, Schon jetzt stehen im Wahlprogramm CSU-Landtagsfraktion, dass er darauf be-
die Union nach und nach für linke Wähler von CDU und CSU milliardenteure Wohl- harren werde, diese Gerechtigkeitslücke
zu öffnen. Es wäre ein Offenbarungseid. taten. So addieren sich allein die Verspre- zu schließen. Die Widerstände in der CDU
So bleibt Merkel nur ein Ausweg, die chen in der Steuerpolitik auf rund 20 Mil- sind allerdings beachtlich, selbst bei den
Flucht nach links. Einen überraschenden liarden Euro. Gut 15 Milliarden Euro will Sozialpolitikern. „Einen weiteren Mütter-
Verbündeten dafür hat sie schon: Horst die Union ausgeben, um die Einkommen- rentenpunkt halte ich für schwierig um-
Seehofer. Die CSU hatte bei der Bundes- steuer zu senken. Außerdem sollen der Kin- setzbar, gerade wegen der hohen Kosten“,
tagswahl noch schmerzhaftere Verluste zu derfreibetrag in zwei Stufen auf das Niveau sagt Karl-Josef Laumann, Chef der Christ-
erleiden als die Schwesterpartei. Seehofer des Erwachsenenfreibetrags angehoben und lich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft.
hat daraus den Schluss gezogen, dass es das Kindergeld entsprechend erhöht werden. Gesucht wird nun ein Kompromiss, der
nur der AfD nützt, wenn er beim Thema Das würde nach internen Berechnungen die Rente von Frauen hebt, aber nicht Mil-
Flüchtlinge den Streit mit Merkel wieder etwa zusätzlich 8 Milliarden Euro kosten. liarden kostet – sondern nur Millionen.
befeuert. Bei einem Treffen mit der Kanz- Alles, was in der Sozialpolitik noch aus- Zwei Alternativen werden in der CDU
lerin am vergangenen Sonntag beendete gegeben werden soll, käme obendrauf. Die diskutiert. Idee Nummer eins: Die Koali-
DER SPIEGEL 42 / 2017 31
tion könnte es Müttern einfacher machen, Schäubles Part soll nun Jens Spahn über-
Rentenansprüche zu erwerben, wenn sie nehmen, der Staatssekretär im Finanz-
für die Erziehung ihrer Kinder beruflich ministerium. Er soll darüber wachen, dass
kürzertreten. Vor allem die Anwartschaf- die Ausgaben nicht aus dem Ruder laufen.
ten von Geringverdienern oder Teilzeit- „Die Spielräume in den nächsten vier Jah-
kräften könnten aufgewertet werden. Das ren sind deutlich kleiner als die Wünsche“,
käme jüngeren Generationen zugute. sagt er. „Wer die schwarze Null halten und
Idee Nummer zwei: Um Altersarmut die Steuern senken will, sollte nicht allzu
von Frauen zu vermeiden, könnte die Koa- viele andere teure Pläne haben.“
lition beschließen, dass Seniorinnen die Spahn und viele andere zweifeln an Mer-
bestehende Mütterrente nicht mehr mit kels Kurs. Die Union schnitt bei der Wahl
der Stütze vom Amt verrechnen müssen. auch deshalb so schlecht ab, weil 1,6 Mil-
Es wäre ein „tragfähiger Kompromiss“, lionen Wähler zu den Liberalen überliefen.
auf diese Weise gezielt Rentnerinnen An keine andere Partei verlor die Union
in der Grundsicherung zu unterstützen, mehr Stimmen. Die FDP mit einem Links-
sagt Laumann – wenn dafür der CSU-Vor- ruck zu bekämpfen ist so gesehen ein eher
schlag entfällt. Auch der Vorsitzende der unorthodoxer Ansatz.
CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, Cars- Zumal Merkel schon in der Großen Koa-
ten Linnemann, ist für die Idee offen: „Wir lition keine Hüterin marktwirtschaftlicher
sollten prüfen, wie wir bei der Alterssiche- Ideale war. SPD und Union beschlossen
rung gezielt statt mit der Gießkanne vor- in den Koalitionsverhandlungen 2013 nicht
gehen können.“ nur die Mütterrente, sondern auch die ab-
Tatsächlich hat die Mütterrente ein schlagsfreie Frührente mit 63. Sie brachten
grundsätzliches Problem. Sie war einer der mit diesem Rentenpaket eine der teuersten
teuersten sozialpolitischen Beschlüsse der Sozialreformen aller Zeiten auf den Weg,
Großen Koalition – allerdings kommt sie die bis 2030 insgesamt rund 160 Milliarden
vielen bedürftigen Frauen gar nicht zugute. Euro verschlingen wird.
Wohlsituierte Zahnarztgattinnen dürfen Im Kanzleramt heißt es, der CDU bleibe
den Zuschlag von derzeit rund 30 Euro in einer Jamaikakoalition gar nichts ande-
pro Monat und je Kind behalten. Für Ex- res übrig, als sich zum Anwalt der Rentner
Verkäuferinnen mit Kleinstrenten gilt das und kleinen Angestellten zu machen. So-
nicht: Sie haben nicht einen Euro mehr im lange die Arbeitslosenquote niedrig bleibe,
Portemonnaie, weil das Rentengeschenk zweifle niemand an der wirtschaftlichen
auf ihre Grundsicherung angerechnet wird. Kompetenz Merkels, weswegen es sinnlos
Seehofer ist bei der Mütterrente zwar sei, in einen Wettstreit mit der FDP ein-
zu Kompromissen bereit; es gebe keine zutreten. Aber bringt der neue Kurs die
„roten Linien“, erklärte er intern. Dafür eine Million Wähler zurück, die diesmal
verlangt er an anderer Stelle Zugeständ- nicht die Union, sondern die AfD gewählt
LANXESS Q ualität setzt Zei - nisse. Er sieht es als Fehler an, dass die haben?
Union vor der Wahl keine konkreten An- Nicht nur Spahn zweifelt daran. Derzeit
chen! Gerad e in der Chemie
gaben zur Entwicklung der Rente vor al- kursiert in der Union ein schmaler Band
macht Quallität den Unter -
lem in der Zeit nach 2030 gemacht hat und von gut 120 Seiten, der an diesem Wochen-
schied zwischen Alltäglichem diese Entscheidung in eine Expertenkom- ende von dem Hochschullehrer Mario
und Besonderem – so wie z. B. mission auslagern will. Voigt herausgegeben wird. Das Buch
Nanotubes died Qualität vieler Der CSU-Chef drängt nun auf konkrete kommt als äußerlich nüchterne wissen-
Produkte verbessern. Deshalb Angaben für das Rentenniveau und die schaftliche Untersuchung des Bundestags-
leben wir bei LANXESS Quali- Entwicklung der Beiträge. Auch die pri- wahlkampfs daher, aber Voigt ist auch stell-
tät in allem, was
w wir tun – für vate Vorsorge soll der Staat nach seinem vertretender Chef der Thüringer CDU, was
hochwertige, nachhaltige Pro- Willen stärker fördern. Wie das konkret ihm in der Partei eine gewisse Aufmerk-
duktee, für mehrr Lebensqualität aussehen soll, ist noch offen. Bei einem samkeit verschafft.
im Alltag un d für den Erf olg Gespräch am Mittwoch vereinbarten Mer- Demokratietheoretisch sei gegen den Ein-
unserer Kun den. Das ist es, kel und Seehofer zunächst einen Zeitplan zug der AfD ins Parlament nichts einzuwen-
was wir Enerrgizing Chemistry für die Gespräche mit FDP und Grünen. den, schreibt in dem Band der Dresdner Po-
nennen. quallity.lanxess.de
Auch wer für die Union verhandeln soll, litikwissenschaftler Werner Patzelt. Franz
legten sie fest. Nur über Inhalte sprach Josef Strauß habe stets die Meinung vertre-
man nicht. ten, dass die Union auch Demokraten an
In der CDU geht die Angst um, dass sich binden müsse, die weit am rechten
eine mögliche Einigung zwischen Merkel Rand stehen. „Eine neue Generation von
und Seehofer teuer werden könnte. Sie CDU-Politikern dünkte sich da klüger – und
wird auch noch dadurch befördert, dass verspielte fürs Erste das bundespolitische
Finanzminister Wolfgang Schäuble bei den Repräsentationsmonopol der Union rechts
Koalitionsverhandlungen fehlt, weil er bis der Mitte.“ Den Namen Merkel musste das
dahin zum Bundestagspräsidenten gewählt CDU-Mitglied Patzelt gar nicht erwähnen –
sein wird. „Das wird es wesentlich schwie- in der Partei weiß auch so jeder, wer mit
riger für uns machen, einen teuren Ab- der Kritik gemeint ist.
schluss zu verhindern“, sagt ein Mitglied Melanie Amann, Tobias Hausdorf, Ralf Neukirch,
der CDU-Führungsspitze. René Pfister, Cornelia Schmergal

32 DER SPIEGEL 42 / 2017


Deutschland

Macht der
zweiten Reihe
SPD Der exzentrische Haushälter
Johannes Kahrs opponiert ge-
schickt gegen die Parteispitze.
Fraktionschefin Andrea Nahles
hat ihren ersten Problemfall.

E
s soll jetzt alles ganz schnell gehen:
Für kommenden Dienstag hat An-

A.SCHMIDT / BRAUERPHOTOS
drea Nahles, die neue Chefin der
SPD-Bundestagsfraktion, ihre Abgeordne-
ten zu einer ersten Klausur eingeladen. Im
Otto-Wels-Saal auf der dritten Etage des
Reichstags wird es darum gehen, das Wahl-
debakel aufzuarbeiten und die neue Op-
positionsrolle zu umreißen. Außerdem Sozialdemokrat Kahrs: „Ich hab die Schnauze voll, und zwar bis hier“
wird sich Nahles um den inneren Frieden
in der Fraktion kümmern müssen. legung“ und gab dem Parteichef zu ver- Veranstaltungen der Seeheimer sind Insti-
Der ist nämlich schon gestört, bevor ihre stehen, dass seine Truppen Heil nicht wäh- tutionen im Regierungsviertel. Er ist Mit-
Mannschaft mit der Arbeit begonnen hat. len würden. Schulz gab nach – und schlug glied in etlichen Vereinen und Gesellschaf-
Nach vier Jahren Regierungsdisziplin Schneider vor. Kahrs gewann den Macht- ten. In seinem Wahlkreis wirbt er mehr
streiten sich in der Partei wieder die Flügel, kampf, der Parteichef verlor an Autorität. Neumitglieder als die meisten anderen Par-
es geht um Profil, Ausrichtung und natür- Intern herrscht seither massiver Ärger. teifreunde. Und als oberster Haushälter
lich um Posten. Unter linken Sozialdemo- Dietmar Nietan, Schatzmeister der Bun- hat er die Möglichkeit, Fraktionskollegen
kraten und Pragmatikern gibt es Planspie- des-SPD, schimpfte in einer Spitzenrunde zu beschenken oder zu bestrafen. Hier ein
le, den Chef des rechten Seeheimer Krei- über Kahrs’ „Erpressung“, auch andere Zuschuss für ein Museum, dort ein biss-
ses, Johannes Kahrs, kaltzustellen. Kollegen stellten sich in der Debatte gegen chen Geld für ein Denkmal – oder eben
Kahrs, 54, ist bekannt als Patron eines den Hamburger, darunter die bisherigen auch nicht. Kurzum: Wer sich mit ihm an-
schwer durchschaubaren Netzwerks aus Fraktionsvizechefs Eva Högl und Karl Lau- legt, überlegt sich das gut.
Hamburger Jusos und berüchtigt für seine terbach. „Es war ein Dammbruch“, sagt Eine andere Sorge seiner Kritiker: Wird
Neigung zu Kraftausdrücken („Ich hab die einer, der in der Runde dabei war. Kahrs in der Fraktion kaltgestellt, würde
Schnauze voll, und zwar bis hier“). So hat Nahles steht nun vor einem Problem, er wohl wieder mehr in der Hansestadt
er sich über die Jahre zu einem der schil- sie muss aufpassen, dass der Ärger um unterwegs sein. Das wiederum könnte Olaf
lerndsten Strippenzieher des Bundestags Kahrs in den kommenden Jahren nicht Scholz stören, Nahles’ Vertrauten. Der Ers-
entwickelt. Seine Fans halten den SPD- zum Dauerkonflikt wird. In den nächsten te Bürgermeister hat schon jetzt alle Hän-
Chefhaushälter für einen genialen Strate- Wochen muss sie der Fraktion eine Struk- de voll zu tun, seinen sperrigen Landes-
gen, seine Gegner sehen in ihm einen In- tur geben und die restlichen Führungspos- verband unter Kontrolle zu halten. Einen
triganten, der die Fraktion kaputt macht. ten vergeben. Kahrs – der mit Linken wie frustrierten Kahrs kann er überhaupt nicht
„Der Kahrs muss weg“, sagen sie jetzt. Nahles noch nie etwas anfangen konnte – gebrauchen. Kompliziert, kompliziert.
Anlass für die Querelen ist eine ver- will ein paar seiner Leute versorgen und Kahrs’ Gegner in der Fraktion geben
gleichsweise kleine Personalie, die sich in selbst gern wieder Sprecher der SPD-Haus- sich so schnell nicht geschlagen. Sie haben
den sensiblen Zeiten, in denen sich die haltspolitiker werden. Der Vorsitz des durchgezählt: Der linke Flügel ist in der
Partei dieser Tage befindet, zu einem ech- Haushaltsausschusses, auf den die SPD als neuen Mannschaft die größte Strömung,
ten Problem ausgewachsen hat. Es geht größte Oppositionspartei Zugriff hätte, in- mit den Pragmatikern vom Netzwerk
um den Posten des Parlamentarischen Ge- teressiert ihn nicht: Kahrs müsste präsidial könnten sie den Seeheimer zurechtstutzen.
schäftsführers, eine Art Fraktionsmanager. auftreten – also tun, was er gar nicht mag. Seine Gegenspieler wollen nun einen Kan-
Der Job wurde gleich nach der Wahl an Vielen Sozialdemokraten ist der Gedan- didaten suchen, der den Reserveoffizier
Kahrs’ Vertrauten Carsten Schneider ver- ke, dass der Hamburger mit seiner Härte herausfordert, wenn über den Posten des
geben, nur leider verlief die Berufung des durchkommt, zuwider. Um endlich die Ära Haushaltssprechers abgestimmt wird. Gut
Thüringers derart rumplig, dass vielen der Kahrs zu beenden, würden sie ihm seine möglich, dass sie fündig werden. Vor vier
Fall noch in den Knochen steckt. Position als haushaltspolitischer Sprecher Jahren trat Bettina Hagedorn vom linken
Eigentlich wollte das Führungsduo um gern streitig machen und hoffen auf Hilfe Flügel gegen Kahrs an und verlor das Vo-
Nahles und Parteichef Martin Schulz Ge- der Fraktionschefin. tum nur knapp. Auch Kahrs weiß das noch.
neralsekretär Hubertus Heil mit der Auf- Doch so leicht ist das nicht. Der Seehei- Und er hat vorgesorgt. Dem Vernehmen
gabe betrauen. „Wer gegen diesen Vor- mer mag viele Genossen schwer nerven, nach hat Kahrs mit Hagedorn bereits
schlag ist, ist auch gegen mich“, machte ist aber nahezu unantastbar. Kahrs ist ein einen Deal geschlossen: Er hilft ihr, Chefin
Schulz intern klar. Kahrs war die Drohung wunderbares Beispiel dafür, wie mächtig des Haushaltsausschusses zu werden. Sie
egal. Zum Erstaunen vieler Kollegen op- Politiker der zweiten Reihe im Bundestag stützt ihn dafür bei der Wiederwahl zum
ponierte er gegen die „vorschnelle Fest- sein können. Die von ihm organisierten Sprecher. Veit Medick

DER SPIEGEL 42 / 2017 33


Deutschland

THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK.NET


Koalitionspolitiker Kubicki: „Ich bin moralisch und sittlich gefestigter als früher“

„Engel, wir beide dienen Deutschland“


SPIEGEL-Gespräch FDP-Vize Wolfgang Kubicki, 65, über die Schwierigkeiten der Jamaikaverhandlungen
und seine Aussichten, demnächst Bundesfinanzminister zu sein

SPIEGEL: Herr Kubicki, sind Sie lebens- die Wochenenden daheim an der Kieler Kubicki: So sind wir bei den Jamaikaver-
müde? Förde verbringen, wo wir es besonders handlungen in Schleswig-Holstein vorge-
Kubicki: Wie kommen Sie darauf? Ich bin schön finden. gangen, um die gegenseitigen Zerrbilder
ein grundoptimistischer Mensch. SPIEGEL: Es gibt manche, die auch die be- aufzulösen. Viele Grünen-Politiker halten
SPIEGEL: Vor ein paar Jahren haben Sie der vorstehenden Jamaikaverhandlungen für ihre FDP-Kollegen für herzlose Neolibera-
„Zeit“ gesagt, Sie wollten nicht nach Berlin ein Selbstmordprojekt halten. Grüne und le. Umgekehrt sehen viele Freidemokraten
gehen, weil das Leben dort so ungesund FDP sind seit Jahrzehnten verfeindet, nun in den Grünen ideologiefixierte Verbots-
sei: zu viel Alkohol, zu wenig Schlaf. Wa- haben es beide auch noch mit einer zer- apostel, die alle Bürger zu Salatessern ma-
rum nehmen Sie dieses Risiko jetzt in strittenen Union zu tun. Wie soll zusam- chen wollen.
Kauf? menwachsen, was nicht zusammengehört? SPIEGEL: Wie lässt sich das ändern?
Kubicki: Niemand aus der FDP hat vor der Kubicki: Es kann gelingen. Das Wichtigste Kubicki: Was keinen Sinn hat, ist, in Kom-
Wahl auf eine Jamaikakoalition gehofft, ist: Zwischen den Beteiligten muss Ver- paniestärke in Sondierungsgespräche zu
aber nun ist es, wie es ist. Ein schwarz- trauen entstehen. Und dafür braucht man ziehen. In Schleswig-Holstein haben wir
gelb-grünes Bündnis ist eine mentale und Zeit. Es ist deshalb eine Illusion zu glau- vier Wochen lang in kleinen Gruppen na-
pädagogische Herausforderung erster Ord- ben, wir könnten mit den Verhandlungen hezu jeden Tag verhandelt, bis zu 16 Stun-
nung. Dieser Herausforderung will ich bis Weihnachten fertig sein. den. Alle Unterhändler mussten ständig
mich stellen. SPIEGEL: Das ist aber genau das, was die präsent sein. Das Ergebnis war ein Spirit
SPIEGEL: Das politische Leben in Berlin ist Union aktuell fordert. Die Kanzlerin soll wie im Trainingslager. Dieselben Politiker,
ebenfalls eine Herausforderung. Die Ge- möglichst bis Weihnachten gewählt werden. die sich zuvor kaum an einen Tisch setzen
fahr sei groß, dass man dort „zum Trinker, Kubicki: Einem solchen Druck werden wir mochten, standen plötzlich für die gemein-
vielleicht auch zum Hurenbock“ werde, uns nicht beugen. Dass nach der Wahl drei samen Ergebnisse ein, Grüne verteidigten
haben Sie damals gesagt. Macht Ihnen das Wochen vertrödelt wurden, bevor wir nun Liberale – und umgekehrt.
heute keine Sorgen mehr? zu ersten Sondierungen kommen, hat die SPIEGEL: Eine gemeinsame Regierung
Kubicki: Erstens bin ich moralisch und sitt- Kanzlerin zu verantworten, nicht die FDP. braucht ein gemeinsames Projekt. Was
lich gefestigter als früher. Zweitens wird Vor Mitte, Ende Januar werden wir kaum könnte das Projekt für Jamaika sein?
mich meine Frau nach Berlin begleiten. ein Ergebnis haben. Kubicki: Eine Antwort zu geben auf Digita-
Und drittens werden wir so oft wie möglich SPIEGEL: Besonders tief sind die Gräben lisierung und Klimawandel. Wie können
zwischen Liberalen und Grünen. Was hal- wir die Elektromobilität so fördern, dass
Das Gespräch führten die Redakteure Michael Sauga und ten Sie von der Idee, dass sich zunächst sie sich rechnet? Und wie nehmen wir Hun-
Christoph Schult. die kleineren Parteien zusammenraufen? derttausenden von Taxifahrern oder Bank-
34 DER SPIEGEL 42 / 2017
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angestellten die Angst, dass der Vormarsch Kubicki: Ich habe bei uns in der Partei mal
der künstlichen Intelligenz ihnen die Le- Handel mit Russland versucht zu erklären, was eigentlich bei
bensperspektive nimmt? In Schleswig-Hol- in Milliarden Euro uns los wäre, wenn wir die Rentenbezüge
stein haben die drei Parteien für solche Fra- deutsche Importe von heute auf morgen um 25 Prozent kür-
gen eine „Zukunftswerkstatt“ gegründet, 42,8 38,3 aus Russland zen würden, wie es in Griechenland ge-
in der unvoreingenommen gemeinsame schehen ist. Dann wären nicht nur Hun-
Projekte abgeklopft werden. So etwas soll- derttausende auf der Straße, sondern Mil-
26,5
ten wir in Berlin auch machen. 18,5 lionen. Man muss Anpassungsprozessen
SPIEGEL: Zunächst einmal hat aber die Uni- Zeit geben.
on die Initiative ergriffen und sich vergan-
– 38% SPIEGEL: Sind die Deutschen in Europa zu
2016 gegen-
gene Woche auf eine Art Obergrenze von 2012 2014 2016 über 2017
2012 arrogant aufgetreten?
200 000 Flüchtlingen pro Jahr geeinigt. Was Kubicki: Deutschland ist immer gut beraten,
halten Sie davon? Beginn der nicht als Lehrmeister aufzutreten. Wir soll-
Kubicki: Das ist bestenfalls eine Grundlage EU-Sanktionen ten nicht sagen: Wir können es besser. Wir
für Verhandlungen, auf keinen Fall mehr. im März sollten sagen: Wenn ihr Rat von uns
Die FDP ist nicht mit einem zweistelligen 38,1 deutsche Exporte braucht, dann guckt euch unser Modell an
Ergebnis ins Parlament gewählt worden, 29,2
nach Russland und prüft, was ihr davon übernehmen
um der Union im Selbstfindungsprozess könnt. Ich bin ja groß geworden in einer
eine Mehrheit zu verschaffen. Wenn CDU 21,6 Zeit, in der es wirklich wohltuend war,
14,8
und CSU meinen, ihr Kompromiss müsse – 43% dass Deutschland nicht glaubte, in eine be-
eins zu eins umgesetzt werden, stehen wir 2016 gegen- deutende Rolle schlüpfen zu müssen. Ich
2012 2014 2016 über 2017
2012
auf und gehen. wehre mich dagegen, dass viele heute wie-
SPIEGEL: Wir hatten die FDP zuletzt so ver- Quelle: Destatis der annehmen, sie wüssten alles besser
standen, dass sie in der Flüchtlingspolitik und alle müssten auf ihr Kommando hören.
der CSU näher steht als den Grünen. SPIEGEL: In der Großen Koalition hat sich
Kubicki: Nein. Die FDP ist für ein Einwan- ordnung von mehreren Dutzend Milliar- die SPD gegen das Ziel gewandt, bis zum
derungsgesetz, das den Zuzug von Auslän- den Euro. Jahr 2024 zwei Prozent des Bruttoinlands-
dern nach Kriterien steuert, die wir selbst SPIEGEL: Wolfgang Schäuble hat da eben- produkts für Verteidigung auszugeben.
definieren. Die Grünen sind ebenfalls für falls Bedenken. Zu seinem Abschied als Hätte es die Kanzlerin in einem Jamaika-
ein Einwanderungsgesetz, wollen aber auch Finanzminister hat er deshalb den Plan bündnis einfacher?
ein Kontingent von weniger qualifizierten entwickelt, den derzeitigen Rettungs- Kubicki: Ich halte solche Prozentzahlen für
Menschen ins Land lassen. Darüber kann schirm ESM in einen europäischen Wäh- albern. Vorher müssen wir doch die Frage
man reden, wenn die Einwanderer tatsäch- rungsfonds umzubauen. klären, was die Bundeswehr künftig ma-
lich eine Perspektive haben, in Deutschland Kubicki: Das ist eine Idee, über die nachzu- chen soll und welche Ausrüstung sie dafür
ausgebildet zu werden. Aber klar muss denken sich wirklich lohnt. braucht. Erst dann können wir uns darüber
auch sein, dass Kriegsflüchtlinge in aller Re- SPIEGEL: Das Problem ist nur, dass im FDP- unterhalten, wie viel Geld das kostet.
gel in ihre Heimatländer zurückkehren. Wahlprogramm das Gegenteil steht: Der Wenn wir die Bundeswehr künftig bei Aus-
SPIEGEL: Der Streit mit den Grünen entzün- ESM soll langfristig abgeschafft werden. landseinsätzen auf ihrem heutigen Niveau
det sich eher an der Frage, ob die Flücht- Kubicki: Meiner Meinung nach wäre es ge- halten oder verstärken wollen, brauchen
linge der vergangenen Monate ihre Ange- genwärtig unklug, den ESM ersatzlos zu wir definitiv eine bessere Ausstattung. Es
hörigen nach Deutschland holen dürfen. streichen, unabhängig von der Frage, ob kann nicht sein, dass mir Piloten vom Flie-
Kubicki: Wir sind dafür, wenn der Betref- wir das tatsächlich durchsetzen könnten. gerhorst Jagel in Schleswig-Holstein sagen:
fende ein Bleiberecht hat. Dann fördert es Wenn wir ihn zu einem Währungsfonds Unsere größte Angst ist nicht, dass wir ab-
seine Integration in Deutschland, wenn umbauen, könnten wir anderen Ländern geschossen werden. Die größte Angst ist,
Frau und Kinder nachkommen dürfen. Wir bei ihren Reformen helfen. Wir würden In- dass wir einfach vom Himmel fallen, weil
sind auch dafür, dass unbegleitete minder- vestitionen vergemeinschaften – und nicht wir keine Ersatzteile mehr für die Maschi-
jährige Flüchtlinge im Einzelfall ihre Eltern die Schulden. nen kriegen.
nachholen können. In diesem Sinne will SPIEGEL: Im FDP-Wahlprogramm steht SPIEGEL: Der Grund, warum die Nato-Part-
die Kieler Landesregierung gerade den Fa- auch, das letzte Rettungspaket für Grie- ner vereinbart haben, die Verteidigungs-
miliennachzug erleichtern. Das könnte ein chenland sei ein Fehler gewesen. ausgaben spürbar zu steigern, ist Russland,
Vorbild für den Bund sein. Wir sind dage- Kubicki: Die Partei hat das mit guten Grün- das nach der Annexion der Krim vor allem
gen, den Familiennachzug pauschal auszu- den so beschlossen, aber man kann das von den Staaten Osteuropas wieder als Be-
schließen, so wie es die CSU macht. auch anders sehen. Ich bin ja auch Volks- drohung wahrgenommen wird.
SPIEGEL: In der Europapolitik dagegen ist wirt. Natürlich könnte es den Griechen Kubicki: Die Annexion der Krim durch
der größte Bremser die FDP. Während besser gehen, wenn sie aus dem Euro aus- Russland ist klar völkerrechtswidrig, wir
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron scheiden, weil sie dann ihre Wettbewerbs- werden sie nur in den nächsten 15 bis 20
die Zusammenarbeit vertiefen will, zeigen fähigkeit verbessern könnten. Es kann Jahren nicht rückgängig machen können.
sich die Liberalen skeptisch. Warum? aber auch der Schluss gezogen werden, Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen,
Kubicki: Sie haben da eine falsche Wahr- dass ein Grexit gar nichts nützt, solange dass jemand die Krim mit Truppen zurück-
nehmung. Macron ist ein Glücksfall für die Griechen keine Produkte haben, die erobern will, außer vielleicht ein paar
Europa, und die FDP unterstützt 80 Pro- andere Länder kaufen wollen. Man kann Ukrainern.
zent seiner Vorschläge, etwa für eine ge- Griechenland auch im Euroraum stärken, SPIEGEL: Aber es ist ein Unterschied, ob
meinsame Verteidigungsinitiative oder die indem man die griechische Regierung ver- man diesen Schluss hinter verschlossenen
Harmonisierung von Steuer- und Sozial- anlasst, durch gezielte Investitionen ihre Türen zieht oder es – wie Christian Lind-
systemen. Das einzige Projekt, bei dem eigene Wirtschaftskraft zu stärken. ner – öffentlich ausspricht.
wir Vorbehalte haben, ist das geplante SPIEGEL: Sie plädieren im Fall Griechenland Kubicki: Man muss das aussprechen, wenn
Budget für die Eurozone in der Größen- für Geduld? man mit der anderen Seite ins Gespräch
36 DER SPIEGEL 42 / 2017
Deutschland

kommen will. Ich bin dafür, von der Sank- Russland gegenüber sehr kritisch einge- tär werden wollen. Sie haben das abge-
tionskultur wieder zur Dialogkultur zu- stellt ist. lehnt. Kann er sich auf Sie verlassen?
rückzukommen. Diplomatie besteht darin, Kubicki: Ich bin gespannt, wie sich Cem Öz- Kubicki: In den vergangenen vier Jahren
dass der andere identifizieren kann, was demir verhalten wird, sollte er seinem hat sich ein tiefes Vertrauensverhältnis ent-
man will. Wir sagen, wir halten die Anne- Wunsch entsprechend Außenminister wer- wickelt, das allen denkbaren Belastungen
xion der Krim für völkerrechtswidrig, aber den. Er könnte ja nirgendwo mehr hin- standhält. Uns verbindet der unbändige
wir können den Zustand gegenwärtig nicht reisen. In die USA nicht, weil er Trump Wille zu dokumentieren, dass der Erfolg
ändern. Also müssen wir versuchen, ob für ein Ekel hält, und in die Türkei nicht der Freien Demokraten keine Eintagsfliege
wir auf anderen Ebenen wieder in einen wegen Erdoğan. Von den mehr als 190 war.
Gesprächsmodus kommen, der vielleicht Uno-Mitgliedern sind 80 Prozent keine de- SPIEGEL: Und das wird auch nicht erschüt-
in ein paar Jahren dazu führt, dass wir mit mokratischen Staaten und werden von tert durch die Frage, wer von Ihnen Fi-
Russland auch über das Krimproblem ver- Despoten beherrscht. Als Außenminister nanzminister und wer Fraktionsvorsitzen-
nünftig reden können. jedenfalls hätte er große Probleme, weiter der wird?
SPIEGEL: Besteht nicht die Gefahr, dass solche hypermoralischen Reden zu halten. Kubicki: Die Entscheidung liegt bei Chris-
Putin dies als Schwäche auslegen würde? SPIEGEL: Aber Sie können sich Özdemir als tian Lindner. Wenn er sagt, er will das eine
Kubicki: Ich finde, wir sollten uns mal an- Außenminister vorstellen? werden, dann erfüllt er mein Herz mit
hören, wo die Russen ihre Ängste und Sor- Kubicki: Meine Vorstellungskraft ist unbe- Freude. Ich mache dann das, was übrig
gen haben. 25 000 Nato-Soldaten im Ma- grenzt. bleibt.

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növer an der russischen Grenze sind nicht SPIEGEL: Ihr Freund Christian Lindner hat SPIEGEL: Und was sagt Ihre Frau dazu?
gerade ein vertrauensbildender Akt, aber einen sehr effektvollen Wahlkampf ge- Kubicki: Sie hat immer gesagt: Wenn du Mi-
wenn die Russen mit angenommen 100 000 führt; er war fast so erfolgreich wie Guido nister wirst, wird unser Zusammenleben
Soldaten an der Nato-Grenze aufmarschie- Westerwelle 2009. Wie ähnlich sind sich erheblich erschwert. Minister zu sein ist
ren, sagen wir: Unerhört, die bereiten die die beiden? eine unglaubliche Belastung: Sie haben
Eroberung Westeuropas vor. Kubicki: Gar nicht. Christian Lindner ist keine Freizeit mehr, Sie stehen dauernd
SPIEGEL: Sie sehen Sanktionen generell so, wie ich vor 30 Jahren war, oder umge- im Rampenlicht, Sie haben dauernd Per-
skeptisch? kehrt: Wenn Sie mich ansehen, sehen Sie, sonenschützer um sich herum. Als Frak-
Kubicki: Sanktionen haben nur dann Sinn, wie Christian Lindner in 30 Jahren aus- tionsvorsitzender ist das wesentlich ein-
wenn sie wirken. Wenn man weiß, dass sieht, der Dreitagebart stimmt schon mal. facher.
die andere Seite sie mehr oder weniger Nein, im Ernst … Das Einzige, was Lind- SPIEGEL: Wie haben Sie Ihre Frau über-
gut wegsteckt, sind Sanktionen Quatsch. ner mit Westerwelle gemein hat, ist unge- zeugt, dass Sie eventuell doch Minister
Zu glauben, Russland würde irgendwann fähr das Alter zum Zeitpunkt einer mög- werden müssen?
die Krim wieder rausrücken, wenn wir die lichen Regierungsbeteiligung. Ansonsten Kubicki: Ich habe zu ihr gesagt: Engel, wir
Sanktionen nur lange genug laufen lassen, kann ich Ihnen aus meiner Erfahrung mit beide dienen dann Deutschland.
ist, mit Verlaub, kindisch. Genscher hat beiden sagen: Christian Lindner ist deut- SPIEGEL: Herr Kubicki, wir danken Ihnen
diesen Irrweg mal so beschrieben: Wir ge- lich analytischer. Es ist seine Art, beein- für dieses Gespräch.
hen die Sanktionsleiter bis nach oben, ste- druckend offene Dialoge zu führen und
hen irgendwann auf der obersten Sprosse unterschiedliche Auffassungen sorgfältig Video: Kubickis Karriere
und fragen uns: und jetzt? abzuwägen. im Zeitraffer
SPIEGEL: Mit den Grünen haben Sie womög- SPIEGEL: Lindner hat Sie nach der Wahlnie- spiegel.de/sp422017kubicki
lich bald einen Koalitionspartner, der derlage gefragt, ob Sie sein Generalsekre- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 42 / 2017 37


Deutschland

Gleiche und Ungleiche


Europa In der EU ist der Rechtsbruch zur Regel geworden. Die Kanzlerin will das ändern und
riskiert Streit mit Ungarn und Polen. Die Spaltung des Kontinents vertieft sich.

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Europagebäude in Brüssel: Frust über die Zwei-Klassen-Behandlung

D
er Wald von Białowieża ist einer der kommenden Woche. Deutschland hat Der deutsche EU-Kommissar Günther Oet-
der letzten wilden Flecken in die Frage der Rechtsstaatlichkeit auf die Ta- tinger fordert Sanktionen für notorische
Europa, 1500 Quadratkilometer un- gesordnung gesetzt, nicht nur wegen der il- Rechtsbrecher unter den Mitgliedstaaten,
berührter Natur an der Grenze Polens zu legalen Rodungsaktion an Europas Ostgren- und auch Luxemburgs Außenminister Jean
Weißrussland. Elche, Wölfe und Wisente ze, sondern auch, weil es um die Einhaltung Asselborn fordert ein schärferes Vorgehen.
haben hier ihr Revier. Der Naturpark ge- von EU-Regeln generell nicht gut bestellt Schließlich sei der Rechtsstaat „der Ze-
hört zum Welterbe, viele Bäume sind hun- ist. Beim Abendessen mit Ratspräsident Do- ment der EU“, sagt er.
dert Jahre oder älter. nald Tusk wollte Merkel am Mittwoch über Das Thema hat das Potenzial für einen
Dennoch rollen seit Monaten Rodungs- den Vorstoß reden. „Es geht um Grundsätz- Grundsatzstreit. Schließlich ist die EU als
fahrzeuge durch den Wald, allein in die- liches“, sagen Berliner Regierungsbeamte. Rechtsgemeinschaft konstruiert: Worauf
sem Jahr wurden Zehntausende Bäume Vor allem mit Blick auf Polen kann man sich die Mitgliedsländer verständigen, hat
gefällt. Die EU-Kommission kann den Fort- von einem Kurswechsel sprechen. Bislang den Charakter von Staatsverträgen. Die
schritt des Kahlschlags durch Satellitenbil- unterließen Merkel und ihre Minister es EU-Kommission soll kontrollieren, ob sie
der belegen. Europas letzter Urwald wird tunlichst, die polnische Regierung direkt eingehalten werden; im Streitfall entschei-
mit jedem Tag ein Stück kleiner. zu attackieren. Nicht einmal wegen der det der Europäische Gerichtshof.
Das Abholzen der Mammutbäume schä- geplanten Eingriffe in die Unabhängigkeit So weit die Theorie, doch in der Praxis
digt nicht nur die Natur, sondern auch der Justiz gab es schärfere Kritik. Um das folgen viele Mitgliedsländer inzwischen
Europas Rechtsstaat. Erst im Juli hatte der historisch heikle Verhältnis zu den Nach- dem alten Sponti-Motto „legal, illegal,
Europäische Gerichtshof eine einstweilige barn nicht noch stärker zu belasten, ver- scheißegal“, auch die Kommission unter
Anordnung erlassen, die es Polen verbietet, steckte sich Berlin lieber hinter der EU- ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker
das Naturschutzgebiet weiter zu zerstören, Kommission, die das im vergangenen Jahr hält sich nur noch bei Bedarf an die Regeln,
nächsten Dienstag ist die Sache erneut vor eingeleitete Rechtsstaatsverfahren gegen weil sie sich als „politische Kommission“
Gericht. Die Regierung lässt sich davon Polen zu verschärfen droht. versteht. Alle sind gleich, aber einige sind
nicht beeindrucken. Man werde weiterfäl- Die Bundesregierung will Ländern wie gleicher, lautet Junckers Motto – was all
len, sagte der Umweltminister des Landes. Polen und Ungarn nun zeigen, dass sie an jene verärgert, die sich von ihm benach-
Nun beschäftigt der Urwald sogar den den Säulen der EU rütteln, wenn sie gegen teiligt fühlen, vor allem die kleineren Mit-
Gipfel der Staats- und Regierungschefs in rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen. gliedstaaten in Osteuropa.
38 DER SPIEGEL 42 / 2017
Der Frust über die Zwei-Klassen-Be- schen. Die Kommission gehe von falschen
handlung sitzt tief. Hört man Ungarns Tatsachen aus, heißt es in einem Schreiben
Außenminister Peter Szijjártó zu, dann der polnischen Regierung von Ende Au-
wirkt die europäische Rechtsgemeinschaft gust, das dem SPIEGEL vorliegt. „Hat sie
bloß noch wie eine Zwangsjacke, in der ihre Informationen über die Justizgesetze
sein Land entmündigt werden soll. „Dieses etwa nur aus den Medien bezogen?“, fra-
Urteil ist empörend und verantwortungs- gen die Polen schnippisch.
los“, schimpft der Mann über den jüngsten Der Ton allein zeigt, dass die Kommis-
Richterspruch zu einem Gesetz, das Un- sion ihre Autorität als glaubwürdiger Ver-
garn verpflichtet, Flüchtlinge aufzuneh- fechter von Gesetz und Ordnung zumin-
men. „Die Politik hat das europäische dest in Teilen Osteuropas verloren hat.
Recht vergewaltigt.“ Auch weniger konfrontativ eingestellte
Der Mann, an den dieser Satz adressiert Osteuropäer nervt, dass sich Kommission
ist, lässt sich von so viel Aggression nicht und Länder wie Deutschland als Hüter eu-
aus der Ruhe bringen. Sein Job sei es, in ropäischer Werte aufführen – und gleich-
schwierigen Zeiten für „die Verbürgung zeitig selbst Regeln brechen.
der Rechtlichkeit“ zu sorgen, sagt Koen Die EU befinde sich vor allem deshalb
Lenaerts. Der Präsident des Europäischen in einer Krise, sagt Ungarns Botschafter
Gerichtshofs empfängt in seinem weitläu- in Berlin Péter Györkös, „weil wir die Re-
figen Büro im siebten Stock des Gerichts-
gebäudes auf dem Luxemburger Kirchberg.
Hinter den getönten Scheiben wirkt die „Wer gegen rechtsstaat-
Welt draußen weit weg, die juristische
Fachliteratur umgibt Europas obersten liche Grundsätze ver-
Richter wie eine Mauer. stößt, dem sollten die
Doch auch Lenaerts nimmt wahr, dass
der Ton im Umgang mit seinem Gericht
Mittel gekürzt werden.“
rauer geworden ist. Die „Vielzahl unter-
schiedlicher Krisen“ spiegele sich „unmit- geln der beiden größten Errungenschaften
telbar in den anhängigen Verfahren“, mit durch Ausnahmen und Missachtung aus-
denen seine Institution befasst sei. gehöhlt haben: die gemeinsame Währung
Bei dem wohl strittigsten Fall ging es zu- und den durch Schengen geschützten Bin-
letzt um die verbindliche Umverteilung nenmarkt, das heißt unsere Lebensform
von Flüchtlingen, die die EU-Innenminis- und unser Wirtschaftsmodell.“ Schuld sei
ter im September 2015 gegen die Stimmen vor allem die EU-Kommission, so der Bot-
unter anderem Ungarns und der Slowakei schafter. Die Behörde habe ihre Rolle
beschlossen hatten. Der Gerichtshof attes- als neutrale „Hüterin der Verträge“ aufge-
tierte, dass der Beschluss ordnungsgemäß geben.
zustande gekommen sei. Der Mann hat einen Punkt. Bereits über
Damit ist die Sache für Europas obers- 110-mal haben die Mitgliedstaaten gegen
ten Richter geklärt. Er habe jedes Verständ- den Stabilitäts- und Wachstumspakt versto-
nis, wenn unterliegende Mitgliedstaaten ßen, der vor gerade mal 20 Jahren beschlos-
ihre Enttäuschung über ein Urteil kundtun, sen wurde. Zu Sanktionen kam es, von ei-
sagt Lenaerts. „So weit ist es kein Problem. ner Ausnahme abgesehen, nie. Kaum ein
Aber sie müssen das Urteil akzeptieren. Verstoß hat dabei tiefere Spuren hinterlas-
Jetzt geht es darum, den gültigen Rats- sen als der wiederholte Regelbruch Deutsch-
beschluss zu befolgen.“ lands Anfang des neuen Jahrtausends. Zwei
Doch es geht nicht nur um ein Urteil, Jahre kämpfte die Bundesregierung gegen
das Ungarn nicht passt, oder eine Anord- eine – damals – zunächst hartleibige EU-
nung, die Polen ignoriert. In Warschau Kommission und widerstrebende Partner-
schickt sich die Regierung der Partei länder, bis Kanzler Gerhard Schröder (SPD)
„Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) an, den erreicht hatte, was er wollte: ausgerechnet
Rechtsstaat von Grund auf auszuhöhlen. die Deutschen, die einer skeptischen Bevöl-
Würden die umstrittenen Gesetzesentwür- kerung den Euro mit dem Stabilitäts- und
fe umgesetzt, könnten beispielsweise alle Wachstumspakt schmackhaft machen woll-
Richter am Obersten Gerichtshof ausge- ten, hatten die Regeln aufgeweicht.
tauscht werden. Inzwischen geht die EU- Wie nachhaltig der Autoritätsverlust ist,
Kommission in einem Vertragsverletzungs- bekommt der für die Währungspolitik zu-
verfahren gegen Polen vor. Denkbar ist ständige Vizepräsident der Kommission
zudem, dass die Behörde die EU-Mitglie- Valdis Dombrovskis immer wieder zu spü-
der auffordert, Sanktionen nach Artikel 7 ren, wenn er die Staats- und Regierungs-
des EU-Vertrags zu verhängen. Im Extrem- chefs ermahnt, die Verträge einzuhalten.
fall könnte Polen dann sogar seine Stimm- Im November 2014 ist der Lette mit dem
rechte in der Union verlieren. damaligen italienischen Regierungschef
Polen wiederum spricht der Kommission Matteo Renzi in einem Hotel in Brisbane
rundheraus das Recht ab, sich in einen lau- zum Frühstück verabredet, auch Juncker
fenden Gesetzgebungsprozess einzumi- ist am Rande des G-20-Gipfels dabei. Dom-
DER SPIEGEL 42 / 2017 39
Deutschland

brovskis versucht, Renzi klarzumachen, gen osteuropäischen Ländern kann für die gen rechtsstaatliche Grundsätze verstößt,
dass an einem Strafverfahren gegen sein Union genauso zu einer existenziellen Kri- dem sollten die Mittel aus den Struktur-
Land wegen der Verstöße gegen den Sta- se werden wie die Schuldenmacherei Ein- fonds gekürzt werden“, sagt er. Die Idee
bilitätspakt kein Weg vorbeiführe. So ein zelner für den Euro“, sagt der rumänische hat in Brüssel Unterstützer, Haushaltskom-
Verfahren habe auch sein Gutes, lockt Europaabgeordnete Siegfried Mureşan. missar Oettinger will Geld künftig eben-
Dombrovskis. Sei es erst mal eingeleitet, Ähnlich sieht das Luxemburgs Außen- falls nur an Empfänger verteilen, die sich
könne Italien innerhalb des Regelwerks minister Asselborn. „Hier geht es ums Ein- an die Regeln halten. Es gebe „eine klare
für eine gewisse Zeit sogar mehr Schulden gemachte.“ Beziehung zwischen der Rechtsstaatlich-
machen, als es üblicherweise erlaubt ist. Der dienstälteste Außenminister der Ge- keit und einer effizienten Umsetzung
Doch der Lette kämpft auf verlorenem meinschaft leitete die Sitzung, in der die der privaten und öffentlichen Investi-
Posten. Juncker hatte bereits im Europa- Innen- und Migrationsminister im Septem- tionen, die vom EU-Haushalt unterstützt
wahlkampf klargemacht, dass die Regeln ber 2015 die bis heute umstrittene Umver- werden“, heißt es in einem Strategiepapier
des Pakts eher als unverbindliche Richt- teilung von Flüchtlingen beschlossen ha- seiner Behörde. Die Stoßrichtung des Vor-
werte aufzufassen sind. Renzi konnte ben. Er findet nicht, dass sich die hartlei- schlags ist klar, denn von den EU-Finanz-
Dombrovskis’ Belehrungen in Brisbane da- bige Haltung von Ungarns Regierungschef spritzen profitieren vor allem osteuropäi-
her einfach an sich abperlen lassen. Der Viktor Orbán in der Flüchtlingskrise mit sche Länder.
Italiener wusste, dass er von Dombrovskis’ den Verstößen gegen den Stabilitätspakt Länder wie Ungarn sehen das Vorhaben
Boss nichts zu befürchten hatte. vergleichen lassen. „Regeln sind nicht als das, was es ist – eine Kampfansage. Bot-
So kam es auch. Italien bekam mehr gleich Regeln“, sagt Asselborn. „In der schafter Györkös verweist darauf, dass sein
Zeit für Reformen, wie Frankreich auch. Flüchtlingskrise reden wir nicht über ir- Staat ohnehin der bislang einzige in der
Bis heute ist nicht wirklich etwas passiert. gendwelche technischen Details und Pro- EU sei, der wegen der Verletzung von
Wer nachfragt, etwa warum seine Behörde zentpunkte, sondern über Menschen.“ Haushaltsregeln bestraft worden sei. Aus-
über Jahre trotz anhaltender französischer Geht es nach Asselborn, sollen Verstöße gerechnet Ungarn. Im März 2012 sperrte
Defizite ständig Milde walten ließ, be- gegen die Rechtsstaatlichkeit künftig di- die EU für kurze Zeit knapp 500 Millionen
kommt von Juncker nur ein schnodderiges rekte finanzielle Folgen für die betreffen- Euro, die Ungarn als Hilfe für wirtschaft-
„Weil es Frankreich ist“ hingeworfen. den EU-Länder haben. Entsprechende Vor- lich schwache Regionen bekommen sollte.
Führende Europapolitiker fürchten, dass schriften will er bei den Verhandlungen Das Fazit des Botschafters ist eindeutig:
der lasche Umgang mit dem Recht das über den neuen mehrjährigen Finanzrah- „Für uns war das der Beweis, dass nicht
Fundament der EU untergraben könnte. men, dem siebenjährigen EU-Budget, das alle Staaten gleich sind.“
„Die Bedrohung des Rechtsstaats in eini- ab 2020 gilt, zur Sprache bringen. „Wer ge- Peter Müller, Christoph Schult

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„Keine Gefahr mehr“
Verbrechen Anwältin Lisa Grüter über ihren Mandanten Dieter Degowski, der knapp 30 Jahre
nach der Geiselnahme von Gladbeck entlassen wird

SPIEGEL: Dieter Degowski und Geisel erschoss er selbst – ein sehr gut vorbereitet. Es ist auch dafür ge-
Hans-Jürgen Rösner hielten „Mitläufer“ ist etwas anderes. sorgt, dass er etwas zu tun hat, was Struk-
1988 die Republik in Atem, als Grüter: Er wurde ja auch ent- tur in seinen Tag bringt.
sie nach einem Banküberfall sprechend verurteilt. Aber ohne SPIEGEL: Eine normale Arbeitsstelle?
mit ihren Geiseln quer durch einen wie Rösner wäre er nie- Grüter: Es wird etwas Ehrenamtliches sein.

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Deutschland fuhren und zwei mals so gefährlich geworden … SPIEGEL: Wovon wird er leben?
von ihnen töteten. Wie hat De- SPIEGEL: … weshalb Rösner Grüter: Er hat in der Haft gearbeitet. Er hat
gowski aufgenommen, dass er kaum mit seiner vorzeitigen Anspruch auf Arbeitslosengeld.
bald freikommen soll? Entlassung rechnen kann. Aber SPIEGEL: Wie knüpft man ein soziales Netz
Grüter: Ich habe Herrn De- Rechtsanwältin Grüter was passiert, wenn Degowski für einen so prominenten Gefangenen?
gowski seit der Entscheidung „Er ist reifer geworden“ draußen wieder an die falschen Grüter: Es hat lange gedauert, bis die Ver-
noch nicht gesehen. Aber schon Leute gerät? antwortlichen es geschafft haben, auf
in der Anhörung vor Gericht kristallisierte Grüter: Er ist älter geworden, reifer. Er hat Herrn Degowski einen Blick zu bekom-
sich heraus, dass es so kommen würde. Da gelernt, sich an positiven Vorbildern zu men wie auf jeden anderen Gefangenen
war er unglaublich erleichtert. Herr De- orientieren, nicht kriminellen. auch. Aber von dem Moment an haben
gowski weiß jetzt, wie es für ihn weiter- SPIEGEL: Vor der Haft hatte er ein Alkohol- sie sich wirklich für ihn ins Zeug gelegt.
geht. Das war zuletzt das größte Problem: problem. Und nun? SPIEGEL: Degowski erhielt einen neuen Na-
dass er sich auf eine Entlassung vorbereitet Grüter: Das ist vorbei. Bei seinen Ausgän- men. Laut einem Intelligenztest liegt sein
hat, von der er nicht wusste, ob sie über- gen war Alkohol jedenfalls nie ein Thema. IQ nur bei 79, im unteren Normbereich.
haupt kommt. SPIEGEL: Wie ist Degowski auf die Freilas- Schafft er es, sich nicht zu verplappern?
SPIEGEL: Wann ist es so weit? sung vorbereitet worden? Grüter: Ich denke schon. Er weiß ja, worum
Grüter: Wohl Anfang 2018. Immer voraus- Grüter: Erst hatte er Ausgänge, auch unbe- es jetzt geht. Und dazu gehört eben auch,
gesetzt natürlich, die Staatsanwaltschaft gleitete, später Langzeiturlaube für drei, mit einer Legende zu leben.
legt nicht noch Rechtsmittel ein. Aber vier Tage. Alles ging glatt. SPIEGEL: Hat er das geübt?
wann genau, wollen wir nicht sagen, um SPIEGEL: Wo soll er jetzt leben? Seine Grüter: Davon gehe ich aus. Er hatte schon
ihn vor der Öffentlichkeit zu schützen. Schwester hat 2013 gesagt: bei ihr nicht. Gelegenheit, sich bei Ausgängen an seinen
SPIEGEL: Wie geht es ihm? Grüter: Das muss er auch nicht, weil er auf neuen Namen zu gewöhnen.
Grüter: Er ist jetzt 61, das macht sich be- eigenen Beinen steht. SPIEGEL: Hat Degowski sich optisch so ver-
merkbar. Aber seitdem er die Hoffnung SPIEGEL: Die Justizvollzugsanstalt wird ihn ändert, dass man ihn nicht wiedererkennt?
hat, dass er doch noch mal rauskommt, nicht einfach auf die Straße stellen. Grüter: Ich habe ihn selbst schon bei Aus-
geht es ihm richtig gut. Als ich ihn 2011 Grüter: Nein. Er wird auch nicht allein in gängen begleitet und nicht erlebt, dass ihn
kennenlernte, war er in einem Zustand to- einer Sozialwohnung sitzen. Mehr will ich jemand erkannt hätte.
taler Hoffnungslosigkeit. Die Anstalt hatte dazu nicht sagen. Aber er hat ein dichtes SPIEGEL: „Bild“ ist ihm auf den Fersen.
nichts unternommen, um ihn auf eine Ent- Netz für die Zeit nach der Entlassung. Be- Grüter: Die haben ihn bei einem Ausgang
lassung vorzubereiten. Es hieß: Du bist währungshelfer, Sozialarbeiter – es ist alles gestellt und auf einer Parkbank abfotogra-
eine Person der Zeitgeschichte, wir rühren fiert. Ich hoffe, das Interesse an ihm lässt
keinen Finger dafür, dass du rauskommst. nach. Wenn nicht, muss er damit leben.
SPIEGEL: Wäre Degowski schon frei, wenn Es geht ja auch nicht darum, dass keiner
sein Verbrechen nicht immer noch so be- erfahren darf, wer er ist. Den Menschen,
kannt wäre? die sich um ihn kümmern, ist seine Iden-
Grüter: Ich denke schon. Es wollte wohl kei- tität sowieso bekannt. Mit dem neuen
ner die Verantwortung dafür übernehmen, Namen ist er einfach nur dieses Stigma
dass ein Gefangener entlassen wird, der los, dass er sich mit Degowski vorstellen
so im Fokus der Öffentlichkeit steht. muss, dem Namen, der so viele Erinne-
SPIEGEL: Wie kam Bewegung in den Fall? rungen weckt.
Grüter: 2013 stellte der Essener Gutachter SPIEGEL: Was sagen Sie Menschen, die sich
Norbert Leygraf klar, dass von Herrn De- über die bevorstehende Freilassung des
gowski keine Gefahr mehr ausgehe, dass Mörders empören?
er eine gute Prognose habe und nichts in Grüter: Auch wenn es für die Angehörigen
seiner Persönlichkeit gegen eine Entlas- der Opfer oft unerträglich ist – jeder Ver-
sung spreche. Auch das Landgericht Arns- urteilte hat das Recht auf Resozialisierung.
berg meinte, dass er in den nächsten zwei, SPIEGEL: Glauben Sie, er bereut?
drei Jahren auf freien Fuß kommen sollte. Grüter: Ja, er kann das vielleicht nicht so
SPIEGEL: Jetzt gibt es ein neues Gutachten. gut ausdrücken, aber ich halte seine Reue
Grüter: Selten habe ich eines gelesen, das für echt. Er ist dankbar dafür, dass er von
AP / DPA

so klar eine gute Prognose enthielt. Herr der Gesellschaft noch eine Chance be-
Degowski war 1988 auch nur Mitläufer. kommt. Deshalb will er ja jetzt etwas zu-
SPIEGEL: Auf einem legendären Foto hält er Geiselnehmer Degowski 1988 rückgeben, mit ehrenamtlicher Arbeit.
einem Opfer die Waffe an den Hals, eine Das Stigma loswerden Interview: Jürgen Dahlkamp, Beate Lakotta

DER SPIEGEL 42 / 2017 41


Deutschland

Tiger
im Käfig
Rechtspopulismus Nach ihrem Erfolg
bei der Bundestagswahl rückt die AfD
weiter nach rechts. Nun stellt
THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK.NET

Alexander Gauland die Weichen für


ein Comeback von Björn Höcke.

Parteivize Gauland

A
m Tag nach der Bundestagswahl Hinter den Kulissen stellen Gauland und Andererseits formiert sich in der AfD
war der Terminkalender von Alice seine Verbündeten in diesen Tagen die Wei- erstmals ein gemäßigtes Lager, die „Alter-
Weidel und Alexander Gauland chen für Höckes juristische Rehabilitierung native Mitte“, die noch von Frauke Petry
randvoll mit Pressekonferenzen und Gre- und seinen Aufstieg in das innere Macht- unterstützt wurde. Die Gemäßigten sind
miensitzungen. Trotzdem fanden die bei- zentrum der AfD. Der Parteisenior steht nur eine kleine, machtlose Gruppe, aber
den Spitzenkandidaten der AfD noch Zeit fest auf Höckes Seite. Er beschönigt dessen anders als Höckes Anhänger haben sie sich
für einen ganz besonderen Termin: ein rechtsradikale Ausfälle als stilistische Pat- eine organisatorische Struktur mit Vorstän-
Treffen mit Björn Höcke. Weidel und Gau- zer und lehnt das Ausschlussverfahren ge- den und Landesverbänden gegeben. Sollte
land wählten dafür ausgerechnet ein gen ihn ab. Für Gauland und seine Mitstrei- sich in der AfD also Höckes „kleine natio-
Stammlokal des von der AfD so verachte- ter ist es keine Frage, dass Höcke in der nalistische Clique“ (Weidel) durchsetzen,
ten Polit-Establishments: das Restaurant Partei bleiben darf. Für sie geht es vielmehr muss Gauland fürchten, dass die „Alter-
Habel am Reichstag, einen beliebten Treff- darum, wie weit der Thüringer in der Partei native Mitte“ in Scharen zu Frauke Petrys
punkt für Politiker und Journalisten im aufsteigen kann, ohne dass die AfD ihre neuer Partei überlaufen könnte.
Berliner Regierungsviertel. gemäßigten Mitglieder verprellt. Das macht Der Parteivize fährt deshalb eine zwei-
Offiziell will die AfD-Bundesspitze den Gaulands Vorhaben diplomatisch schwierig. gleisige Strategie: Vordergründig umarmt er
Thüringer Rechtsausleger wegen seiner die Gemäßigten, indem er ihren Vertretern
völkischen Tiraden aus der Partei werfen; den Weg in Schlüsselpositionen der neuen
ein Ausschlussantrag liegt seit Monaten Vordergründig umarmt Fraktion ebnet. Nur zwei Höcke-Fans schaff-
bei einem Schiedsgericht. Doch Gauland ten es zum Fraktionsvize oder Parlamenta-
hat andere Pläne. Dass er und Weidel un- Gauland die Gemäßigten. rischen Geschäftsführer, ansonsten ging das
mittelbar nach der Wahl ausgerechnet mit Im Hintergrund ermutigt rechte Lager praktisch leer aus bei der Pos-
Höcke öffentlich speisten, kann als Signal tenvergabe. Doch im Hintergrund beruhi-
gelten.
er die Nationalisten. gen Gaulands Leute die Nationalisten, dass
Seit die Rechtspopulisten bei der Bun- ihre Stunde noch kommen werde: auf dem
destagswahl 12,6 Prozent holten, traut sich Die Rechten und Höcke-Anhänger wer- Bundesparteitag im Dezember in Hannover.
die AfD-Führung um Gauland, einen un- den ungeduldig. Sie fordern, dass nun, Dann wird der AfD-Bundesvorstand
verhohlenen Rechtskurs einzuschlagen. nach der Wahl, endlich Schluss sein müsse neu gewählt, und die Rechten könnten ihre
Nun ist es nicht mehr nötig, sich den An- mit der „Abgrenzeritis“ nach rechts, die Position in der Parteiführung stärken. Es
strich einer gemäßigten, rechtskonservati- sie als Kotau vor den sogenannten Main- gilt als ausgeschlossen, dass Weidel den
ven Partei zu geben, um bürgerliche Wähler stream-Medien sehen. „Am Wahlerfolg un- Sprung an die Parteispitze schafft. Kaum
nicht zu verschrecken. Das gemäßigte Lager serer Partei hat die Person Björn Höcke jemand will die Fraktionschefin noch in
ist durch den Abgang von Frauke Petry ge- ganz entscheidenden Anteil“, sagt Ralf einem zweiten Spitzenamt sehen. Zudem
schwächt, doch bislang tröpfeln nur wenige Özkara, Chef der AfD Baden-Württem- hat sie mit ihrer barschen Art im Wahl-
ihrer Anhänger aus der Partei. Jetzt hält berg, des zweitgrößten Landesverbands. kampf manchen Mitstreiter verprellt. Noch
Parteivize Gauland offenbar den Moment „Die Partei schuldet ihm kein Ausschluss- dazu kommt sie aus Baden-Württemberg
für gekommen, Höcke auch formal wieder verfahren, sondern Anerkennung und wie der derzeitige Parteichef Jörg Meu-
heim ins AfD-Reich zu holen. Dank.“ then, der wieder für den Spitzenposten
42 DER SPIEGEL 42 / 2017
urteil ist es dann auch wirklich gut“, sagt
Abläufe
Meine
Bundesvorstandsmitglied André Poggen-
burg, ein Höcke-Verbündeter. „Es wäre
das Beste für alle Beteiligten, diese Zer- vereinfachen?
reißprobe für die AfD dann zu beenden.“
Doch mehrere Bundesvorstände wollen In einem System, das
Höcke – mit Rücksicht auf den gemäßigten
Flügel – nicht zu leicht davonkommen las-
sen. Sie wollen, dass Höcke im Gegenzug alle verbindet.
für die Einstellung des Verfahrens ver-
spricht, nicht für den Bundesvorstand zu
kandidieren. „Es ist für den Frieden in der
AfD besser, wenn Höcke erst nach einer
Ruhepause von zwei Jahren in die Partei-
spitze vordringen würde“, sagt ein Vor-
stand. Das würde bedeuten, dass Höcke
auf seinen endgültigen Aufstieg noch war-
ten müsste – als Gegenleistung würde die
AfD ihm aber formal bescheinigen, dass
er im Schoß der Partei bleiben darf.
Derzeit diskutiert das rechte Lager den
BJÖRN KIETZMANN / ACTION PRESS

Vorstoß, doch die Begeisterung ist be-


grenzt. „Das Verfahren gegen Höcke ist
ohnehin aussichtslos“, sagt Poggenburg.
Warum sollte man also einen Handel ein-
gehen? „Höcke wäre für den Bundesvor-
stand ein enormer Gewinn.“
Nationalist Höcke Nun hängt alles davon ab, ob der Thü-
ringer sich gedulden will. Das Treffen im
Habel, das offenbar auf Gaulands Initiative
kandidieren will. Zwei südwestdeutsche zurückging, sollte vorerst die Chemie zwi-
Parteichefs wären der Basis kaum vermit- schen Höcke und Weidel verbessern.
telbar. Eher schon ein Aufstieg Höckes. Das ist dringend nötig: Weidel fremdelt
Sein Umfeld bestätigt, dass der Thürin- mit Höckes nationalistischem Flügel. Die
ger ernsthaft darüber nachdenke, für den neoliberale, lesbische Spitzenkandidatin
Bundesvorstand zu kandidieren. Öffentlich und der Nationalromantiker aus dem
ziert sich Höcke zwar, beklagt in einem ge- Eichsfeld haben einander menschlich wie
spreizten Facebook-Post die „Falschmel- politisch wenig zu sagen. Sie versteht sich
dung“ zu seiner Kandidatur als Parteichef. als Politmanagerin, die eine Partei wie eine
Aber die Kandidatur als einfacher Vorstand Unternehmensberatung führen will. Im
schließt er nicht aus. Frühjahr war sie eine treibende Kraft hin-
Eigentlich drängt sich Höcke nicht nach ter Höckes Ausschlussverfahren. Der wie-
Ämtern. Auf Bundesparteitagen wagte er derum sieht die AfD als Volksbewegung,
nie den großen Auftritt, stellte sich nie ei- die das Ohr stets an Protestgruppen wie
nem Stimmungstest der AfD-Delegierten. Pegida haben müsse. Seinen Widerstand
Nur daheim in Thüringen ist er der unan- gegen Weidels Spitzenkandidatur gab
gefochtene König. Doch in seinem kleinen Höcke nur auf Drängen Gaulands auf.
Landesverband fühle er sich zunehmend Alle Beteiligten wissen, dass ein Ende
wie ein Tiger im Käfig, berichten Einge- des Ausschlussverfahrens für Weidel be-
weihte. Er habe langsam genug davon, nur sonders gefährlich wäre. Sie kann nicht
den Grüßaugust auf Wahlkampfbühnen plötzlich als Unterstützerin Höckes auftre-
zu spielen, wolle endlich auch auf Bundes- ten, ohne ihre Glaubwürdigkeit restlos zu
ebene das AfD-Schicksal gestalten – und zerstören. Doch Weidel dürfte spätestens Die digitalen DATEV-Lösungen vernetzen alle Ge-
endlich das Ausschlussverfahren los sein. jetzt klar sein, dass Höcke zu stark ist, um schäftspartner mit Ihrem Unternehmen. So schaffen
Gauland und seine Verbündeten grübeln aus der AfD gedrängt zu werden. Sie durchgängig digitale Prozesse und vereinfachen die
nun, wie man dieses gesichtswahrend be- Offiziell spielt sie zwar noch die Konse- Abläufe in Ihrem Unternehmen. Informieren Sie sich
enden könnte. Eine erste Idee kursiert quente: „Ich möchte kurz auf das Gerücht
im Internet oder bei Ihrem Steuerberater.
schon: Demnächst wird das Landesschieds- eingehen, das über Herrn Höcke und mich
gericht Thüringen in erster Instanz über kursiert“, schrieb Weidel jüngst in einem
Höcke urteilen. Es ist absehbar, dass die Grußwort zum Gründungstreffen der „Al-
Thüringer Richter ihren Landeschef stüt- ternativen Mitte“: „Es wird behauptet, Digital-schafft-Perspektive.de
zen und das Verfahren abschmettern. In dass ich zugestimmt hätte, das Parteiaus-
diesem Fall könnte der Bundesvorstand schlussverfahren gegen Björn Höcke zu be-
kurzerhand beschließen, den Prozess nicht enden. Verehrte Kollegen; das ist falsch.“
in die nächste Instanz zu treiben. Nach Pe- Das ist richtig: Zugestimmt hat Weidel
trys Abgang dürfte sich dafür eine Mehr- nicht. Sie wird Höckes Comeback einfach
heit finden. „Nach einem Schiedsgerichts- geschehen lassen müssen. Melanie Amann

DER SPIEGEL 42 / 2017 43


Deutschland

„Management by Chaos“
SPIEGEL-Gespräch In der Flüchtlingskrise wurde das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge zum Symbol für die Überforderung des Staates. Nun packt ein
ehemaliger Mitarbeiter aus und berichtet, wie er die Zustände in der Behörde erlebte.
Michael Nückel, 58, ist eigentlich Bewerbungs- Ihnen, den haben Sie nie gesehen, den wer- Nückel: Ich habe mich immer wieder mit
trainer für Arbeitslose. Doch im vergangenen den Sie nie wieder sehen. Und jetzt haben einem erfahrenen Beamten unterhalten.
Jahr wollte er helfen, eine nationale Aufgabe Sie wenige Stunden Zeit, um zu ermitteln, Dem habe ich gesagt, dass ich fachliche
zu bewältigen: die Flüchtlingskrise. Nückel ob er Schutz bekommen soll oder nicht. Selbstzweifel hätte. Da sagte er: Sie brau-
heuerte für sechs Monate beim Bundesamt Und der erzählt Ihnen eine Geschichte, bei chen mindestens 50 Anhörungen, bis Sie
für Migration und Flüchtlinge (Bamf) an. „Er- der Sie sagen: Mein Gott, das verstehe ich ein Gefühl der Sicherheit bekommen.
weitertes Instrumentarium“ hießen Aushilfs- noch gar nicht. Habe ich aber nie erreicht.
kräfte wie er offiziell, kurz EI. Nückel arbeitete SPIEGEL: Wie kamen Sie zur Außenstelle SPIEGEL: Das Gefühl der Sicherheit?
als sogenannter Anhörer: Asylbewerber muss- Zirndorf? Nückel: Nein, die 50 Anhörungen.
ten bei ihm vorsprechen, Nückel sollte heraus- Nückel: Ich habe mich ab September 2015 SPIEGEL: Warum nicht?
finden, ob die Menschen in Deutschland blei- an verschiedenen Standorten beworben. Nückel: Weil es chaotisch weiterging. Zwi-
ben dürfen. Eine sensible Aufgabe, für die er Doch die Verfahren zogen sich hin. Ich be- schendurch wurden wir sogar zwei Wo-
nur wenige Wochen lang ausgebildet wurde. In kam von Mitarbeitern schon früh Hinwei- chen lang als sogenannte Entscheider aus-
Nückels Außenstelle ereignete sich zu seiner se, dass die Personalabteilung ein Flaschen- gebildet, aber nie als solche eingesetzt.
Zeit einer der bizarrsten Fälle in der Geschich- hals sei. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis Nach Schulung und Hospitation hieß es:
te des Flüchtlingsamts: Der rechtsradikale ich eine Zusage erhielt. Sie machen in Fürth die Länder Äthiopien,
Soldat Franco A. aus Offenbach gab sich als SPIEGEL: Wie lief Ihre Ausbildung ab? Vietnam und Kuba. Bitte arbeiten Sie sich
syrischer Asylbewerber aus – und kam damit Nückel: Die bestand aus einem dreiwöchi- ein. Einen Tag später hieß es: Nein, Sie
durch. Seit Beginn der Flüchtlingskrise haben gen Block. Die erste Woche war Flücht- gehen nach Zirndorf und machen Aser-
sich immer wieder Bamf-Mitarbeiter beim lingsrecht: Grundgesetz, Asylgesetz, Auf- baidschan, Armenien und Russland. Und
SPIEGEL gemeldet, um über die chaotischen enthaltsgesetz. Dann kam eine Woche, da zwei Tage später hieß es um zwölf Uhr:
Zustände im Bundesamt zu klagen, meistens wurden wir mit den Datenbanken des Bitte hochkommen! Und dann hat die
anonym. Bei Nückel ist das anders. Er will of- Bamf und der Spracherkennungssoftware Teamleiterin gesagt: Sie gehen nach Mün-
fen reden. Zum Gespräch bringt er einen vertraut gemacht. Und in der dritten Wo- chen. Da habe ich eine Mail geschrieben:
dicken Stapel eigener Unterlagen ins Berliner che lernten wir Anhörungstechniken. Das mache ich nicht mit, ich bin dieses
Büro des SPIEGEL mit: „Sonst glauben Sie mir SPIEGEL: Wer saß mit Ihnen im Kurs? „Management by Chaos“ leid.
das nicht.“ Nückel: Ich habe mit rund 40 Leuten die SPIEGEL: Wie kam es, dass Sie dann Flücht-
Anhörerschulung gestartet. Es gab Juristen linge aus Iran angehört haben?
SPIEGEL: Herr Nückel, erzählen Sie uns von wie mich, aber ich war überrascht, dass Nückel: Zunächst gab es keine Fälle für uns.
Ihrer ersten Asylanhörung. wir auch Diplom-Informatiker, Historiker, In Zirndorf wurden dann für bestimmte
Nückel: Da saß ein Mann aus Iran vor mir, Theologen, Volkswirte und Politologen Termine Anhörer gesucht. Und ich wollte
der früher offenbar gefoltert worden war. hatten. Es hat sich schnell gezeigt, dass ei- ja etwas tun, habe schon mit den Hufen
Nach fünf Stunden Anhörung verschränk- nige der Nichtjuristen beim Flüchtlings- gescharrt. Also habe ich mich freiwillig
te der sich förmlich, neigte den Kopf zur recht große Schwierigkeiten hatten. gemeldet und 20 Termine bekommen. Das
Seite, hielt die Hand so komisch und konn- SPIEGEL: Und nach drei Wochen wurden waren alles Iraner und an einem Tag drei
te auch nicht mehr reden. Da habe ich die Sie auf die Asylbewerber losgelassen? Äthiopier.
Anhörung abgebrochen und den Mann mit Nückel: Wir haben noch eine Woche Hos- SPIEGEL: Asylanträge aus Iran gelten als
seinem Begleiter zu einem Psychologen pitation bekommen. kompliziert. Wir dachten, dass Aushilfs-
geschickt. SPIEGEL: Bei erfahrenen Mitarbeitern? anhörer nur die leichten Länder überneh-
SPIEGEL: Wie haben Sie sich gefühlt? Nückel: Bei Kollegen, die zwei Monate vor- men sollten, Asylbewerber vom Balkan
Nückel: Ich war in dem Moment froh, dass her eingestellt worden waren. oder aus Syrien. Weil die Sache da meis-
ich die Anhörung abbrechen konnte, weil SPIEGEL: Wurde Ihnen beigebracht, wie tens klar ist.
ich mich für grottenschlecht hielt. man den Wahrheitsgehalt von Aussagen Nückel: Richtig, und so war ja auch die
SPIEGEL: Warum? prüfen kann? Schulung konzipiert: Balkan, Syrien und
Nückel: Ich war überfordert mit der Situa- Nückel: Ich musste in der letzten Woche ein bisschen Irak.
tion. Wenn Sie aus der Schulung kommen der Ausbildung vor der Gruppe drei Ge- SPIEGEL: Hatten Sie eine zusätzliche Fort-
und noch nie eigenständig eine Anhörung schichten erzählen, zwei unwahre und eine bildung für Iran?
gemacht haben, ist das Neuland. Sie sind wahre. Und die Teilnehmer mussten durch Nückel: Es gab eine kurze Einführung. An-
völlig mit sich selbst beschäftigt, Technik, Fragen rauskriegen, welche wahr und wel- sonsten musste ich auf das amtsinterne Ar-
Dolmetscher, den Antragsteller müssen Sie che unwahr ist. chiv zurückgreifen, vor allem auf die Her-
im Auge behalten. Und was jetzt an Sach- SPIEGEL: Wie lang ging diese Übung? kunftsländer-Leitsätze, das sind so um die
vortrag kommt, gut, das nehmen Sie auf, Nückel: Eine Stunde. 15 Seiten. Land und Leute waren mir vor-
aber ich muss ganz ehrlich sagen: Man SPIEGEL: Das war’s? her völlig unbekannt.
steht am Anfang wie das Kaninchen vor Nückel: Dann haben wir das an kleinen Bei-
der Schlange. Da kommt ein Mensch zu spielen aus der Praxis fortgesetzt. Aber eine Ende April wird die Affäre um Franco A. be-
Woche Anhörungstechniken ist nicht viel. kannt: Der rechtsradikale Offizier stellte unter
Das Gespräch führten die Redakteure Sven Becker und SPIEGEL: Wie lange haben Sie gebraucht, einer Legende beim Bundesamt einen Asyl-
Wolf Wiedmann-Schmidt in Berlin. um reinzukommen? antrag. Niemandem fiel auf, dass er kein

44 DER SPIEGEL 42 / 2017


Syrer war – weder dem Anhörer noch dem
Entscheider, der seine Akte später auf den
Tisch bekam. A.s Antrag wurde anerkannt.
Die Ermittler gehen dem Verdacht nach, dass
A. Anschläge auf Spitzenpolitiker plante. Sie
fanden eine Anleitung zum Bombenbau. Wo-
möglich wollte Franco A. Attentate unter
seiner Tarnidentität verüben, um die Stim-
mung gegen Flüchtlinge anzuheizen. Als
Reaktion auf den Skandal wurden im Bamf
stichprobenartig 2000 Fälle untersucht. Bei
Syrern war jede fünfte Entscheidung nicht
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL

plausibel, bei Afghanen fast jede zweite.


Schuld seien „die verkürzte Schulung des
Personals und der hohe Erledigungsdruck“,
schrieben die internen Prüfer.

SPIEGEL: Wie haben Sie den Fall Franco A.


in Ihrer Außenstelle erlebt?
Nückel: Er stand bei uns als „David Benja-
min“ auf der Liste, also unter falschem Na-
men. Ich kannte den Anhörer, einen Bun-
deswehrsoldaten. Den habe ich als sehr
nett und geradlinig angesehen. Er war mit
anderen Kameraden kurz davor zu uns in
die Außenstelle gekommen. „David Ben-
jamin“ war einer der ersten Fälle des Kol-
legen, er hatte vorher nur vier Anhörun-
gen gemacht.
SPIEGEL: Die Geschichte, die Franco A. in
seiner Anhörung auftischte, war abenteu-
erlich. Das hätte auch ein Anfänger mer-
ken können.
Nückel: Kennen Sie diesen Versuch? Sie
müssen ein Video ansehen, auf dem sich
Menschen Bälle zuwerfen. Dann sollen Sie
ESPEN EICHHÖFER / OSTKREUZ

zählen, wie oft der Ball hin und her fliegt.


Irgendwann läuft ein Gorilla durchs Bild,
und Sie kriegen das nicht mit, vor lauter
Konzentration auf die Bälle. So ungefähr
ist das am Anfang als Anhörer. Sie sind so
nervös und mit sich selbst beschäftigt, dass
Sie gar nicht merken, wenn Ihnen eine
krumme Geschichte erzählt wird.
SPIEGEL: Ein angeblicher syrischer Bau-
ernsohn, der Französisch spricht und
nicht Arabisch – da muss man doch stutzig
werden.
Nückel: Klar klingt die Geschichte schräg.
Aber als Neuling kommt man nicht gleich
auf die Idee, dass das erfunden ist. Syrien-
fälle galten als Selbstläufer, die Anhörun-
gen waren kurz. Und dass ein deutscher
Offizier sich eine falsche Identität aus-
denkt: Das wäre ein Drehbuch, das einem
jeder Filmproduzent um die Ohren gehau-
en hätte.
SPIEGEL: Wurde Ihnen eingeimpft, dass Sie
die Herkunft der Asylbewerber penibel
überprüfen sollen?
ESPEN EICHHÖFER / OSTKREUZ

Nückel: Nicht wirklich.


SPIEGEL: Es kommt doch immer mal wieder
vor, dass Menschen ein falsches Herkunfts-
land wie Syrien nennen, um die Chancen
der Anerkennung zu erhöhen. Schreitet
wenigstens ein Dolmetscher ein, wenn ein
Ex-Mitarbeiter Nückel, Bamf-Eingangsbereich, -Archiv in Nürnberg: „Ich war überfordert“ Dialekt seltsam klingt?
DER SPIEGEL 42 / 2017 45
Deutschland

schichte erzähle, muss ich zurück in mein


Land.
SPIEGEL: Und dann?
Nückel: Er hatte keine gute Fluchtge-
schichte.
SPIEGEL: Inwiefern?
Nückel: Ich habe ihn gefragt: Möchten Sie
mir noch was an Fluchtgründen erzählen,
gibt es Beweggründe, Iran zu verlassen?
Sind Sie ein Regimekritiker? Woran kann
man das festmachen? Da stellte sich heraus,
dass er nur mal an einer unbedeutenden
Protestveranstaltung mit wenigen Perso-
nen teilgenommen hatte.
SPIEGEL: Wurden Sie mal hinters Licht ge-
führt?
Nückel: Es gibt Fälle, da wissen Sie sofort:
Die sind von Landsleuten trainiert wor-

ESPEN EICHHÖFER / OSTKREUZ


den. Bei den Iranern war auffällig, dass
viele Antragsteller erzählten, sie würden
von den Revolutionswächtern verfolgt,
und dann während des Gesprächs sattelten
sie noch eine Konversion zum Christen-
tum drauf. Das einzige Papier war oft eine
Bamf-Interieur in Nürnberg: „Wie ein nicht gesehenes Abseits“ Taufbescheinigung einer deutschen Frei-
kirche.
Nückel: In den Schulungen hieß es immer, SPIEGEL: Wie meinen Sie das? SPIEGEL: Was vermuteten Sie in solchen
die Dolmetscher seien Sprachmittler und Nückel: Die Entscheider waren auf meine Fällen?
nichts anderes. Die haben zu übersetzen, Vorarbeit angewiesen. Wenn ich Wider- Nückel: Mir war klar, dass die Konversion
die haben keine Kommentare abzugeben. sprüche nicht herausgearbeitet habe durch bei vielen asyltaktisch war. Es hat mich
Seit „David Benjamin“ ist das anders. Die die richtigen Nachfragen, dann konnten kaum einer überzeugt, dass er jetzt wirk-
Dolmetscher werden jetzt schriftlich ver- sie auch nicht ordentlich entscheiden. Das lich zum Christentum übergetreten ist.
pflichtet, bei Widersprüchen etwas zu ist wie ein nicht gesehenes Abseits beim Weil sie auch elementare Fragen zu ihrem
sagen. Fußball. Außerdem ist es leichter, einen angeblich neuen Glauben nicht beantwor-
SPIEGEL: Es gab in dem Fall noch eine wei- Asylbewerber anzuerkennen. Das be- ten konnten. Das Kreuz kannten sie viel-
tere Instanz, die versagte: der sogenannte nötigt nur wenige Sätze, einen ablehnen- leicht noch, aber das Fischzeichen oder die
Entscheider, der nach der Anhörung die den Bescheid muss der Entscheider gut Taube, da hat’s schon gehakt. Es war
Akten auf den Tisch bekommt. Haben Sie begründen. bekannt, dass die Freikirchen in den Auf-
je einen der Entscheider in Ihren Fällen nahmelagern Asylbewerber akquirieren.
zu Gesicht bekommen? Vor der Flüchtlingskrise gab es die Aufteilung Wenn die Iraner in den Camps ankamen,
Nückel: Nein, die saßen in einem sogenann- zwischen Anhörer und Entscheider nicht. Ein waren sie sofort präsent.
ten Entscheidungszentrum. Nur manchmal Mitarbeiter war in der Regel für beides zustän- SPIEGEL: Was war Ihre Motivation, sich
haben sie angerufen und etwas zu einer dig: Er hörte einen Asylbewerber an und ent- beim Flüchtlingsamt zu bewerben?
Anhörung nachgefragt. Sie standen unter schied später auch über dessen Fall. Die Akte Nückel: Ich hielt die Flüchtlingskrise für
enormem Druck, sollten sieben Entschei- blieb in einer Hand. Das änderte sich unter eine nationale Aufgabe und wollte meinen
dungen pro Tag fällen. Hauptsache, der Frank-Jürgen Weise, der von Herbst 2015 bis Beitrag leisten. Außerdem fand ich die in-
Aktenberg wird abgearbeitet. Alte Hasen Januar 2017 Chef des Flüchtlingsamts war. tellektuelle Herausforderung spannend.
aus dem Amt haben mir gesagt: Die Ver- Der Manager erhöhte die Schlagzahl der Be- SPIEGEL: Wie denken Sie heute über die
fahren werden jetzt so schnell durchge- hörde. Hunderte neu eingestellte Anhörer führ- Zeit im Bundesamt?
führt, dass sie nichts mehr mit Rechtsstaat- ten Interviews wie am Fließband. Über die An- Nückel: Das war ein Stück Absurdistan.
lichkeit zu tun haben. träge befanden andere Mitarbeiter, die Ent- SPIEGEL: Was hätte die Regierung besser
SPIEGEL: Falls Sie nach einer Anhörung scheider. Experten kritisierten die Aufteilung machen können?
Zweifel hatten, haben Sie dann dem Ent- schon vor über einem Jahr: weil so Menschen Nückel: Man hätte die Leute vorläufig aner-
scheider eine Empfehlung gegeben, den über das Schicksal von Asylbewerbern ent- kennen und dann sorgfältig das Asylverfah-
Antrag abzulehnen? scheiden, ohne sie je zu Gesicht bekommen ren durchführen können. In einem längeren
Nückel: Wir wurden angewiesen, davon Ab- zu haben. Die neue Chefin des Bamf, Jutta Zeitraum, mit dem vorhandenen oder mit
stand zu nehmen. Ich habe es also aus- Cordt, will die Trennung wieder aufheben. besser geschultem Personal. Denn was ha-
nahmslos nicht getan. Ich habe die Gesprä- ben wir gewonnen? Gar nichts. Die meisten
che protokolliert und weitergereicht. SPIEGEL: Welcher Fall ist Ihnen besonders Flüchtlinge sind jetzt in der nächsten War-
SPIEGEL: Haben Sie sich später informiert, in Erinnerung geblieben? teschleife: als Kunden beim Jobcenter.
was aus Ihren Fällen geworden ist? Nückel: Ich hatte eine Iran-Anhörung, nach- SPIEGEL: Herr Nückel, wir danken Ihnen
Nückel: Ja. Das Ergebnis jeder zweiten An- mittags kam ein sichtlich verunsicherter für dieses Gespräch.
hörung war Ablehnung. Fifty-fifty. Viel- Mann rein und weinte bitterlich. Wir ha-
leicht wären sogar noch mehr abgelehnt ben erst mal versucht, mit ihm ein bisschen Animation:
worden. Aber manchmal waren meine Pro- ins Gespräch zu kommen. Da sagte er ganz Wie arbeitet das Bamf?
tokolle zu schlecht, sodass der Entscheider unverblümt: Die Leute im Camp haben spiegel.de/sp422017bamf
gar nicht ablehnen konnte. mir erzählt, wenn ich hier keine gute Ge- oder in der App DER SPIEGEL

46 DER SPIEGEL 42 / 2017


Spitzeln im Amt
Spionage Türkische Flüchtlinge fürchten sich vor Erdoğan-nahen Asylanhörern und Dolmetschern.

M
anchmal erkennt Yüksel Cin- hörden sind auch türkischstämmige die Zusammenarbeit beendet, teils
göz sich nicht wieder. Wenn er Mitarbeiter. Nicht jeder hält sich offen- weil sie nicht mehr gebraucht wurden,
U-Bahn fährt, setzt er sich nie bar mit seinen politischen Ansichten in 15 Fällen aber „vor allem aufgrund
neben Menschen, die türkisch ausse- zurück. von Verletzungen der Neutralitäts-
hen. Sie könnten Spitzel des Präsiden- Im Fall Cingöz ermittelt nun die pflicht“. Ein Fall, in dem Mitarbeiter
ten Recep Tayyip Erdoğan sein. Polizei wegen Bedrohung, auch in ei- Informationen an türkische Behörden
Er meidet Einladungen zum Essen – nem anderen Fall ist der Staatsschutz weitergegeben haben, ist dem Bamf
er will nicht zu viel von sich preisge- eingeschaltet. „Hierbei werden auch nicht bekannt.
ben. Er möchte in diesem Artikel nicht gefährdungsrelevante Aspekte berück- Fuat Balcı hatte Glück, dass er einen
mit seinem Namen genannt werden, so sichtigt“, teilen die Ermittler mit. Anwalt an seiner Seite hat. Denn bei
wie alle anderen, die von ihren Erleb- Erkan Sankli war bis zum Putsch seiner Anhörung im Bamf hatte er das
nissen erzählen. Er sei eigentlich offen ein hochrangiger Beamter. Nun wird Gefühl, er säße im Verhör mit einem
und neugierig, sagt Cingöz, doch seit er als „Fetö“-Mitglied gesucht. Vor sie- Staatsanwalt Erdoğans und nicht in ei-
er in Deutschland lebe, fühle er sich ben Monaten floh er nach Deutsch- ner deutschen Asylbehörde.
nahe dem Verfolgungswahn. land. Ihm ging es ähnlich wie Cingöz: Balcı war in der Türkei Lehrer, er
Mitte September beantragte Cingöz Er hatte einen Termin bei der Aus- engagierte sich für einen Gülen-nahen
beim Bundesamt für Migration und länderbehörde. Weil kein Dolmetscher Ärzteverband. Als nach dem Putsch
Flüchtlinge (Bamf) Asyl und erzählte zur Verfügung stand, wurde ein tür- Freunde festgenommen und laut Balcı
seine Geschichte. Er war kurz gefoltert wurden, entschloss er
nach dem Putschversuch gegen sich zur Flucht.
Erdoğan aus der Türkei geflohen. Die Fragen des Bamf-Mitarbei-
Als Kurde, Journalist und Anhän- ters an Balcı kann man im Anhö-
ger des muslimischen Predigers rungsprotokoll nachlesen, viele
und Erdoğan-Gegners Fethullah klingen eher nach Vorwürfen. Wa-
Gülen war er für die türkische Re- rum er geflüchtet sei und nicht sei-
gierung ein Staatsfeind. Die Poli- ne Rechte in der Türkei wahrge-
zei durchsuchte seine Wohnung. nommen habe, wollte der anschei-
In Deutschland versteckte sich nend türkischstämmige Regie-
Cingöz mehrere Monate lang. rungsinspektor wissen und warf
REPORT MAINZ

Nur engste Vertraute wussten, wo ihm an den Kopf, „viele Lehrer“


er war. Eine Stunde nach seinem seien nach der Verhaftung wieder
Bamf-Termin aber, so Cingöz, freigelassen worden. Die Stim-
tummelten sich Erdoğan-Fans aus Flüchtling Balcı: Aggressive Stimmung mung sei aggressiv gewesen, sagt
Deutschland auf seinem Twitter- Balcı, er habe weinen müssen.
Account. Fünf Tage später bezichtigte kischstämmiger Sicherheitsmann zum Nach der knapp dreistündigen Befra-
ihn ein türkischer Publizist in einem Übersetzen herbeigerufen. Kurz gung wandte sich Balcı an den Mann-
Tweet als Mitglied der verbotenen Kur- danach strahlte ein türkischer Sender heimer Rechtsanwalt Thomas Bach.
denpartei PKK und der „Terrororgani- einen Beitrag über Sankli aus, zeigte Der beschwerte sich beim Bamf, eine
sation Fetö“, wie Erdoğan die Gülen- ihn beim Einkaufen und nannte eben- zweite Anhörung bei einem anderen
Bewegung bezeichnet. Und er nannte falls die Stadt, wo sich der „Fetö“- Sachbearbeiter wurde anberaumt.
die Stadt, in der Cingöz nun lebt. Mann nun aufhält. Sankli hat Anzeige Zwar wies das Bamf eine „Voreinge-
Die Information könne nur aus dem erstattet. nommenheit“ des Mitarbeiters zurück,
Bamf gekommen sein, glaubt Cingöz. Sankli und ein anderer ehemaliger teilte aber mit, dass dieser „künftig
Er vermutet, dass es der türkischstäm- türkischer Beamter, dem Ähnliches nicht mehr für die Anhörung türkischer
mige Dolmetscher war. widerfuhr, tun sich schwer, die Vor- Staatsbürger“ eingesetzt werde. Eine
Das Bamf erklärt, den Fall aktuell würfe zu formulieren. Sie sind den richtige Konsequenz, findet Bach. „Es
nicht nachvollziehen zu können. Der Deutschen sehr dankbar, dass sie hier darf nicht sein, dass Erdoğans Arm bis
Asylbewerber könne seine Informatio- Zuflucht gefunden haben. Doch ge- in die deutschen Asylbehörden reicht.“
nen aber jederzeit dem Amt mitteilen. rade für politische Flüchtlinge aus der Cem Özdemir, der Parteivorsitzende
Ein Team des SPIEGEL und des Türkei müssten die Sicherheitsstan- der Grünen, sagt zu den Vorwürfen:
ARD-Magazins „Report Mainz“ hat dards erhöht werden. „Deutschland „Jeder, der für die Sicherheit unseres
mehrere Fälle recherchiert, die den hat eine große türkische Gemein- Landes arbeitet, muss sich loyal zu
Verdacht nahelegen, dass Mitarbeiter schaft“, sagt Sankli, „da ist die Deutschland und keinem anderen Land
des Bamf oder in Ausländerbehörden Chance, dass Spitzel darunter sind, zeigen.“ Der Politiker schlägt vor,
Informationen über Asylbewerber aus ebenfalls groß.“ die Sicherheitsüberprüfung für Dolmet-
der Türkei an AKP-nahe Medien wei- Das Bamf hat seit Beginn der Flücht- scher zu verschärfen.
tergegeben haben, um die Geflüchte- lingskrise immer wieder Probleme mit Fuat Balcıs Antrag auf Asyl wurde
ten zu diffamieren*. Dolmetschern gehabt. Einer billigte is- schließlich anerkannt. Ihm gelang
Unter den Sachbearbeitern, Dolmet- lamistische Anschläge, ein anderer ent- es sogar, seine Frau und drei Töchter
schern und Sicherheitsleuten dieser Be- puppte sich später als Antisemit. Mit nach Deutschland nachzuholen.
mehreren Hundert freiberuflichen Dol- Ihre Anhörung verlief problemlos.
* Sendetermin: Dienstag, 17. Oktober, 21.45 Uhr. metschern hat das Amt in diesem Jahr Martin Knobbe, Wolf Wiedmann-Schmidt

DER SPIEGEL 42 / 2017 47


Jetzt im
Handel
Verräterische
Steckdosen
Kindesmissbrauch Mit neuen
Fahndungsmethoden jagen
Polizisten in sozialen Netzwerken
nach Tätern – ohne die Opfer
zeigen zu müssen.

D
er Muschelvorhang neben dem
Doppelbett verrät eine Lage am
Meer, ebenso der gerahmte See-
stern über den Kopfkissen. Unterhalb der
Nachttischlampe ist eine Steckdose vom
Typ G zu sehen – in weniger als 30 Staaten
wird diese verwendet. Die Inneneinrich-
tung deutet auf ein Hotel hin, das weniger
als vier Sterne hat. Mit dieser akribischen
Recherche nur anhand eines Hotelzimmer-
fotos landete ein Twitter-Nutzer beim Tat-
ort: einem Hotel auf der Insel Mauritius
im Indischen Ozean. Die Hotelfotos aus
dem Internet passten zum Originalbild:
Hier wurde ein Kind missbraucht.
Am 11. August hatte die europäische
Polizeibehörde Europol die Aufnahme des
Tatorts getwittert, verbunden mit der Fra-
ge, wer das Hotel kenne. Der Tweet wurde
5000-mal geteilt. Der Tatort war bald iden-
tifiziert, der Kreis der möglichen Täter da-
mit erheblich eingeschränkt.
Europol setzt mit dem Projekt „Stop
Child Abuse – Trace an Object“ bei der
Fahndung nach Missbrauchstätern auf die
Hilfe der Massen. Auf ihrer Website ver-
öffentlicht die Behörde Fotos von Gegen-
ständen: Damenstiefel, Verpackungen von
Lebensmitteln oder Kinderkleidung. Die
Objekte, ausgeschnitten aus Bildern, die
Kinderpornografie zeigen, sollen helfen,
die Tatorte und somit die Täter zu identi-
www.spiegel-geschichte.de fizieren – ohne dabei die Opfer vorführen
zu müssen. Seit dem Projektstart im
Mai gingen bei Europol bereits 16 000 Hin-
weise ein.
In dieser Woche sorgte der Fall eines
missbrauchten Mädchens aus Niedersach-
sen für Diskussionen. Kurz nachdem die
Polizei sich entschlossen hatte, mit dem
Foto der Vierjährigen über Internet und
Medien nach Opfer und Täter zu suchen,
meldete sich die Mutter des Kindes. Stun-
den später wurde ihr 24-jähriger Lebens-
gefährte festgenommen. Er gilt als drin-
Lesen Sie dazu: gend tatverdächtig.
Trotz hoher Erfolgsaussichten ist die
Fahndung mit Bildern von Minderjährigen
Papstkritik Luthers geniales Marketing die Ultima Ratio im Instrumentarium der
Ermittler. Zu hoch ist das Risiko für das
Revolte Aufstand der Bauern Opfer: Was, wenn der Täter es in einer
Kurzschlussreaktion ermordet?
Religionskrieg Der Weg ins Desaster 48 DER SPIEGEL 42 / 2017
IN DER SPIEGEL-APP
ARNE DEDERT / DPA
Deutschland

FOTOS: MATTHEW CHRISTOPHER


Website von Kinderpornografie-Forum: Hilfreiche Algorithmen

Jörg Fegert, Direktor der Abteilung für Landeskriminalamt (LKA) und zuständig
Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uni- für die Netzwerkfahndung. So erhalten je
klinik Ulm, forscht seit Jahrzehnten zu nach Fall mehrere Tausend Schulleiter in
Missbrauch. Er warnt vor dieser „hoch pro- Bayern Passcodes, über die sie Zugriff auf
blematischen“ Methode: „Das darf nicht Bilder erhalten, mit denen die minder-
zum Präzedenzfall werden, weil dieses jährigen Opfer identifiziert werden sollen.
Vorgehen die Kinder gefährden kann.“ Viermal habe man diese Methode in die-
Die Polizei arbeitet deshalb in mehrstu- sem Jahr bundesweit angewandt, dreimal
figen Verfahren. Führt die übliche Fahn-
dung nicht weiter, wird zunächst der Kreis
mit Erfolg.
Aber auch die Zusammenarbeit mit
Die Vergessenen
der Polizeidienststellen erweitert. So ka-
men Ermittler in Deutschland kürzlich ei-
Nichtregierungsorganisationen wie dem
US-amerikanischen Nationalen Zentrum Staaten von Amerika
nem Pädophilen auf die Spur, der mit für vermisste und ausgebeutete Kinder er- Ein Kohlekraftwerk mit 40 Meter hohen De-
leichtert den 15 Mitarbeitern in der Netz- cken, eine Kathedrale der Elektrizität – ge-
werkfahndung des bayerischen LKA die
schlossen im Jahr 1985. Der schnellste Oze-
„Die Tatsache, dass jeder Arbeit, ebenso wie technische Lösungen:
andampfer, die SS „United States“, 30 Meter
eine Datenbank, in der über zwei Millio-
mit dem Handy filmen nen bereits ausgewertete Bilder gespei- länger als die „Titanic“ – in den Sechziger-
kann, hat die Situation chert sind, oder Software für Gesichts- jahren stillgelegt. Das Gefängnis, in dem der
erkennung oder Bildervergleich. Ist im berüchtigte Al Capone seine Strafe absaß –
erheblich verändert.“ Hintergrund die Silhouette einer Stadt zu inzwischen eine Ruine. All diese Ort hat der
erkennen, kann ein Algorithmus herausfin- 360°-Fotograf Matthew Christopher mit
harmlosen Videos seiner Tochter poten- den, um welche es sich handelt. Nur mit seiner Kamera besucht und den Verfall doku-
zielle Kunden für sein kinderpornografi- technischer Hilfe sei es möglich, pro Jahr
mentiert. Seine Panoramafotos zeigen,
sches Material finden wollte. über 660 Fälle zu bearbeiten, sagt Egger.
Zu sehen war das Kind auf einem Spiel- Trotz der Fahndungserfolge nimmt die wie vergänglich Größe, Pracht und Glanz
platz, im Hintergrund eine auffällige Häu- Zahl der Taten nicht ab. „Die globale Di- der vergangenen Jahrzehnte sind – und mit
serfassade. Die Ermittler schickten einen gitalisierung und die Tatsache, dass jeder ihnen auch der amerikanische Traum.
Screenshot der Fassade an sämtliche Poli- mit seinem Handy filmen kann, hat die
zeidienststellen der Republik. Ein Streifen- Situation erheblich verändert“, sagt der Sehen Sie die Visual Story im digitalen
beamter erkannte das Haus und gab den Ulmer Professor Fegert. Früher seien kin- SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
entscheidenden Hinweis. Die Beamten er- derpornografische Inhalte eher aus Reihen
mittelten nun in der Umgebung des Spiel- der organisierten Kriminalität hergestellt
platzes – und konnten das Opfer und den worden, heute fänden oft Filme den Weg
mutmaßlichen Täter identifizieren. ins Internet, die Täter privat herstellen.
In einem weiteren Schritt werden in „Zu Hause wird noch immer am häufigsten
manchen Fällen die Schulen eingebunden. missbraucht“, sagt Fegert.
Eine effiziente Methode, findet Bernhard Maik Baumgärtner, Martin Knobbe,
Egger, Abteilungsleiter im bayerischen Ann-Katrin Müller, Sven Röbel JE TZ T D I GI TA L L E S E N

DER SPIEGEL 42 / 2017 49


ABIR SULTAN / EPA / REX / SHUTTERSTOCK
Fotos jüdischer NS-Opfer in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem

Suche nach Entlastung


Holocaust Die Vergangenheit des renommierten Instituts für Zeitgeschichte gerät ins Zwielicht.
Haben Forscher dort jüdische Historiker ausgegrenzt und Naziverbrechen verharmlost?

D
as Register enthält Tausende Na- renz in Berlin unbekannte Dokumente, Standardwerken wurden. Seit Jahrzehnten
men: von Schreibtischtätern und die einen großen Schatten auf Deutsch- spielen IfZ-Experten eine führende Rolle
Exzessmördern, Unternehmen und lands renommierteste Institution zur Auf- in den internationalen Debatten über den
Behörden, Konzentrationslagern und Hin- arbeitung der NS-Geschichte werfen: das Nationalsozialismus. Erst kürzlich erregte
richtungsplätzen. Wer wissen will, wie die Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ). das Institut weltweit Aufsehen, weil es
Deutschen rund sechs Millionen Juden um- Es geht um zwei Gutachten für die Ver- „Mein Kampf“ in einer wissenschaftlichen
brachten, wird in Raul Hilbergs „Die Ver- lage Droemer Knaur (1964) und C. H. Beck Edition herausbrachte (SPIEGEL 2/2016).
nichtung der europäischen Juden“ rasch (1980). Sie erwecken den Verdacht, das In- Viele Ministerien und Bundesbehörden
fündig. Die Studie erschien 1961 auf dem stitut habe ein Erscheinen von Hilbergs greifen auf die Koryphäen des Instituts zu-
US-Markt. In den Händen deutscher Buch auf dem westdeutschen Markt „hin- rück, wenn sie den Umgang mit der brau-
Staatsanwälte wäre sie „eine Waffe ge- tertrieben“, wie Aly urteilt. Mit teilweise nen Vergangenheit erforschen wollen. Vor
wesen“, schrieb Hilberg später. Nirgend- fadenscheinigen Argumenten rieten die wenigen Wochen verkündete das Kanzler-
wo sonst konnten sich Ermittler damals in Gutachter von einer Veröffentlichung ab; amt, es werde seine Nachkriegszeit auf-
gleicher Weise über den Judenmord in- zumindest der Beck-Verlag entschied sich arbeiten lassen: natürlich von den Wissen-
formieren. nachweislich aufgrund des IfZ-Papiers ge- schaftlern aus München.
Doch der ausdrückliche Wunsch deut- gen eine Publikation. Doch der Fall Hilberg lässt vermuten,
scher Strafverfolger, eine Übersetzung in Und da Hilberg nicht der einzige jüdi- dass es auch eine dunkle Seite in der Ge-
der Bundesrepublik herauszubringen, sche Historiker war, der, wie Schlott sagt, schichte des Hauses gibt.
blieb lange unerfüllt. Erst nach dem Mauer- „Schwierigkeiten oder Konflikte“ mit dem So hat das IfZ bereits in den Fünfziger-
fall wurde das Standardwerk des Profes- IfZ hatte, stellt sich die böse Frage: Haben jahren die Übersetzung einer Pionierarbeit
sors aus Vermont zum Bestseller. ausgerechnet die Münchner NS-Forscher über die „Endlösung“ abgelehnt. Autor
Für die Gründe der Verzögerung inte- jüdische Kollegen ausgegrenzt? war der jüdische Brite Gerald Reitlinger.
ressieren sich bislang nur Fachleute, aber Der Ruf des Instituts für Zeitgeschichte Rund zehn Jahre später stritt das IfZ mit
das könnte sich nun ändern. Nächste Wo- ist legendär, seine Historiker haben schon dem Auschwitz-Überlebenden Joseph
che präsentieren die Historiker Götz Aly für den berühmten Auschwitz-Prozess Wulf, wie vor einigen Jahren der Histori-
und René Schlott auf einer Hilberg-Konfe- (1963 bis 1965) Gutachten gefertigt, die zu ker Nicolas Berg berichtete.
50 DER SPIEGEL 42 / 2017
Deutschland

Wulf hatte den Präsidenten des Bundes- Dabei hatten Millionen Zuschauer im So schrieb etwa der Wissenschaftler und
gesundheitsamts und ehemaligen Leiter Vorjahr die TV-Serie „Holocaust“ gesehen; Wehrmachtveteran Hans Buchheim, einer
des Warschauer Gesundheitsamts, Wil- erstmals nach Kriegsende zeigten die Deut- der viel gerühmten IfZ-Gutachter für den
helm Hagen, beschuldigt, als Helfershelfer schen ein überwältigendes Interesse an Auschwitz-Prozess, apologetische Exper-
am Massenmord beteiligt gewesen zu sein. dem Menschheitsverbrechen. tisen für die Bundesregierung. Sie liegen
Hagen klagte, und IfZ-Experte Martin Arndt ist lange tot. Man kann immerhin dem SPIEGEL vor. Die Gutachten entstan-
Broszat sprang ihm zur Seite. Selbst als Horst Möller fragen, damals stellvertreten- den 1961, als auch Hilbergs Buch in den
Wulf nachwies, dass Hagen verlangt hatte, der Direktor am IfZ. Das Arndt-Gutachten USA erschien. Damals stand der Holo-
„vagabundierende Juden“ seien zu erschie- ging nachweislich über seinen Tisch. caust-Organisator Adolf Eichmann in Je-
ßen, blieb Broszat bei seiner Haltung. Er verteidigt die Expertise als „vollkom- rusalem vor Gericht, und Bonn fürchtete
Wulf beging später Selbstmord, auch aus men sachlich und gut begründet“, verweist „antideutsche Komplexe“ in der Welt.
Verzweiflung über den Umgang der West- aber darauf, dass es eine „persönliche Stel- Eine interministerielle Arbeitsgruppe
deutschen mit dem Holocaust. lungnahme“ gewesen sei, die „nicht als of- wurde eingerichtet; neben dem Kanzler-
Der als liberal geltende Broszat hinge- fizielles Institutsgutachten versandt wur- amt, Geheimdiensten und den wichtigsten
gen übernahm 1972 die Leitung des IfZ. In de“. Im Haus sei nach seiner Erinnerung Ministerien war auch das IfZ vertreten,
einem Disput mit Saul Friedländer, dem nie darüber diskutiert worden. durch Buchheim (SPIEGEL 15/2011). Nach
späteren Träger des Pulitzerpreises und Möller bat seinerzeit den Beck-Verlag, außen bestritt Broszat allerdings die Teil-
des Friedenspreises des Deutschen Buch- das „Anerkennungshonorar“ auf Arndts nahme an der Runde.
handels, behauptete er, es gebe „wissen- Privatkonto zu überweisen. Doch mit dem Adenauers Beamte wollten verbreiten,
schaftlich operierende Zeitgeschichts- Hinweis auf solche Formalien wird das IfZ dass die Deutschen vom Holocaust bis
forschung“ durch deutsche Historiker, Kriegsende nichts gewusst hätten, von den
also Männer wie ihn – und eine „my- Nazis durch ein „Heer von Geheimpolizis-
thische Form des Erinnerns“ durch die ten“ in Schach hätten gehalten werden
Opfer. Friedländer hatte seine Eltern in müssen, mit den Morden wenig zu tun ge-
Auschwitz verloren. De facto sprach habt hätten.
Broszat ihm die Fähigkeit ab, NS-Geschich- Und Buchheim lieferte.
te objektiv zu beurteilen. Kein Wort über die riesige Mordmaschi-
Broszat hatte in der Wehrmacht gedient, nerie, die Hilberg so eindringlich analy-
die NSDAP führte 1944 den damals 18-Jäh- sierte. Stattdessen schrieb Buchheim unter
rigen als Mitglied. Glaubte er, das „Dritte IfZ-Briefkopf über die Frage: „Wie viele
Reich“ unbefangen zu analysieren? Deutsche waren an der Bewachung der
Seine Haltung zu jüdischen Historikern Konzentrationslager und in welchem Maße
könnte erklären, warum das IfZ gleich zwei- waren sie an den KZ-Gräueln beteiligt?“
mal gegen Hilbergs Buch Stellung bezog. Das Bemühen, zu einer kleinen Zahl zu
Der Wiener Hilberg war als 13-Jähriger kommen, ist unübersehbar. Buchheim
mit der Familie gerade noch rechtzeitig klammerte Vernichtungslager wie Sobibór
entkommen und über Umwege in die USA und andere Stätten des Grauens aus. An-
geflüchtet. Nach dem Holocaust mied er schließend attestierte er den Schergen der
die Bundesrepublik. 1963 zeigte Droemer dann noch verbleibenden KZ, von ihnen
Knaur Interesse an seinem großen Werk sei „sicher nur ein Bruchteil in strafbare
und bat das IfZ um eine Einschätzung. Handlungen verwickelt“ gewesen.
OWEN STAYNER / AP

Diese erste Expertise liegt nicht vollstän- Solche Gutachten waren damals sehr
dig vor, Autor war wohl Broszat. Gleich willkommen.
eingangs wird Hilbergs Studie gelobt, sie Auch die Ausarbeitung „Was hat das
sei bemerkenswert sachlich gehalten – of- deutsche Volk über die Verfolgung und
fenbar wurde das von einem jüdischen Kol- Studienautor Hilberg um 1990 Ausrottung der Juden gewusst?“ kam zu
legen nicht erwartet. Bemerkenswert sachlich genehmen Ergebnissen. Zwar mochte nicht
Von einer Übersetzung riet der IfZ-Au- einmal IfZ-Mann Buchheim bestreiten,
tor allerdings ab, weil drei Werke deut- die inhaltliche Verantwortung für das Gut- dass Informationen über das „grauenhafte
scher Historiker in Vorbereitung seien, die achten kaum loswerden. Schicksal der Juden“ während des Krieges
Hilberg „durch eine moderne Sehweise Magnus Brechtken, der aktuelle stellver- durchsickerten. Aber er behauptete ein-
überlegen“ seien. Zwei der drei Werke er- tretende Institutsdirektor, findet denn auch fach, „weite Kreise des deutschen Volkes“
schienen freilich nie, und an Hilbergs Ni- Arndts Papier „aus heutiger Sicht schwer hätten „keine Feindschaft gegen die Juden
veau kam jahrzehntelang niemand heran. verständlich“. Die These von einer syste- gehegt“. Ein Protest gegen den Holocaust
Aly vermutet denn auch als ein Motiv, das matischen Ausgrenzung jüdischer Histori- sei nicht etwa ausgeblieben, weil den Deut-
IfZ habe das „eigene wissenschaftliche ker will er sich beim jetzigen Kenntnis- schen das Schicksal ihrer jüdischen Nach-
Stammesgebiet gegen einen überlegenen stand nicht zu eigen machen, sie müsse barn egal war, sondern allein, weil er zu
Kollegen“ verteidigen wollen. aber untersucht werden. gefährlich gewesen wäre.
Das zweite Gutachten von 1980 stammt Das IfZ wurde viele Jahre auch von His- Das IfZ will nun die Erforschung der
von Ino Arndt, einer Wissenschaftlerin aus torikern geprägt, die wie Broszat im „Drit- Hausgeschichte „mit externen Wissen-
der zweiten Reihe des Instituts. Sie erklär- ten Reich“ zu den Mitläufern zählten. Sie schaftlern intensivieren“ und erwägt sogar,
te, Hilbergs Buch sei zwar ein „Standard- wollten aufklären: über das Versagen der eine Historikerkommission zu berufen. Für
werk“, aber veraltet, was nicht stimmte. Eliten, die Verbrechen des Regimes, die das Haus in der Leonrodstraße wäre die
Der Professor schrieb es kontinuierlich Begeisterung für Hitler. Daneben scheint Arbeit eines solchen Gremiums eine neue
fort. Und Arndt führte merkwürdigerweise es aber eine „Entlastungssehnsucht“ ge- Erfahrung: Nicht die Vergangenheit der
kommerzielle Argumente an, etwa dass es geben zu haben, wie der Historiker Berg anderen stände auf dem Prüfstand – son-
zu wenig potenzielle deutsche Leser gebe. argumentiert. dern die eigene. Klaus Wiegrefe

DER SPIEGEL 42 / 2017 51


PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL
Bayerischer Heimatminister Söder mit Foto, Jungbauern in Grainau

Ministerium für Gefühle


Landleben Unionspolitiker fordern ein Heimatressort auf Bundesebene. Als Geheimwaffe gegen
die Wut besorgter Bürger wird es aber kaum taugen.

V
erehrungsorgien des einfachen gen ihren Kompromiss zur Flüchtlings- Bereits im März sprachen sich die Frak-
Volks gegenüber Vertretern der Re- politik verkündeten, forderte Söder am tionschefs von CDU und CSU aus Bund
gierungsparteien sind in diesen Ta- Fuße der Zugspitze eine „Obergrenze für und Ländern auf einer gemeinsamen Kon-
gen ein seltenes Schauspiel. Umso mehr Bürokratie aus Brüssel“. Unter Beifall durfte ferenz dafür aus, das nächste Bundes-
genoss Markus Söder am vergangenen er auf eine Holzplatte steigen, die 16 junge kabinett mit einem Heimatminister zu
Montag seinen Besuch in Grainau. Männer und Frauen an Seilen in die Luft schmücken. Angela Merkel solle das Land-
Die Jungbauernschaft hatte mit dem Fi- zogen, „weil wir nicht nur den ländlichen wirtschaftsressort um das Thema Heimat
nanz- und Heimatminister Bayerns gewet- Raum, sondern auch unseren Minister erweitern. Diese Idee wiederholte vergan-
tet, innerhalb eines Monats so viele Fotos hochhalten“, so Jungbauer Martin Baum- gene Woche der Fraktionsvorsitzende der
zum ländlichen Raum sammeln zu können, gärtner. Thüringer CDU, Mike Mohring, als er ver-
dass der Minister hieraus als Mosaikbild Manch Bundespolitiker dürfte sich beim kündete, ein Heimatministerium auf Bun-
dargestellt werden könne. Nachdem Söder Blick auf Söders Porträt aus glühenden desebene „wäre eine gute Antwort auf die
„die längste Liebeserklärung ans Land“, so Sonnenuntergängen, saftigen Bergwiesen Sorgen der Bürger in Ost und West, die
das Motto der Fotoaktion, empfangen hat- und tiefen Dirndlausschnitten die Augen sich abgehängt fühlen“.
te, händigte er als Dankeschön einen För- reiben. Gut möglich, dass an Söders Be- Professor Holger Magel, Präsident der
derbescheid über 22 500 Euro aus, für ein rufskollegen in anderen Bundesländern Bayerischen Akademie Ländlicher Raum,
Gutachten zur Weiterentwicklung der der Neid nagt. Oder die Verzweiflung über geht noch weiter und fordert ein eigen-
Bayerischen Jungbauernschule. den Wahlerfolg der AfD. In jedem Fall ständiges Bundesheimatministerium mit
Während Horst Seehofer und Angela werden die Rufe nach einem Heimatminis- Zuständigkeit für Raumordnung, Infra-
Merkel in Berlin mit Ringen unter den Au- terium in Berlin lauter. struktur und Digitalisierung. „Die Metro-
52 DER SPIEGEL 42 / 2017
Deutschland

polen saugen die Talente aus der Fläche gramm namens „Integration im Quartier“. fassungsrang. Söder beteuert, als Heimat-
wie Staubsauger“, sagt er. „Dass man in 55 Millionen Euro, heißt es da, sollen bald minister „viel mehr als nur Romantik“ be-
Berlin achselzuckend hinnimmt, dass sich in „Orte der Begegnung“ fließen, in einen trieben zu haben. Sein Tatendrang jeden-
ganze Landstriche entvölkern, ist gegen Skatepark in Büren zum Beispiel und in falls fällt auf, wie Professor Holger Magel
das Gebot der räumlichen Gerechtigkeit.“ eine Musikschule in Recklinghausen. feststellt, der vor allem die „Filialisierung
Söder kann sich „auch einmal oberste Heimatministerin Ina Scharrenbach der Hochschullandschaft“ lobt.
Bundesbehörden im ländlichen Raum vor- wird an ihrem Schreibtisch in Düsseldorf Bislang hat Söder 26 Behörden und
stellen“. Ein solches Ministerium könne philosophisch, wenn sie die Idee beschrei- staatliche Einrichtungen in den ländlichen
ein „Signal gegen den Berliner Zentralis- ben soll, die hinter der Ministeriumsgrün- Raum verlagert. Der Bayerische Beamten-
mus“ sein und den Nebeneffekt haben, ra- dung steht: „Wir müssen einsehen, dass nachwuchs wird nicht mehr nur in Mün-
dikalen politischen Kräften entgegenzu- der Einfluss des Einzelnen auf das große chen ausgebildet, verschuldete Regionen
wirken. Ganze in einer globalisierten Welt be- bekommen mehr Geld. Es gibt ein millio-
„Die Welt ist unübersichtlich geworden“, grenzt ist. Deswegen wird Heimat immer nenschweres Krankenhausbauprogramm
sagt Söder. „Staaten tun sich sehr schwer, wichtiger für uns.“ genauso wie „BayernWLAN“ in 20 Bussen
eine eigene Wirkungsmacht zu entfalten. Sie habe das im Sommer gemerkt, er- im Landkreis Weilheim, inklusive Jugend-
Umso mehr mögen die Menschen das Re- zählt die CDU-Politikerin, als sie auf einer schutzfilter.
gionale.“ Dummheit könne man nicht be- Heimattour unterwegs war. Sie reiste in Wenn am Königsee ein neues Elektro-
kämpfen, sagt er über plumpe Rechts- ländliche Regionen, besuchte Arbeitskrei- motorboot getauft wird oder in Pfaffen-
populisten. „Aber ein Heimatministerium se, Vereine und Bürgermeister. Die Men- hofen an der Glonn der Katholische Bur-
kann Frust vorbeugen.“ schenverein eine neue Fahne weiht, die
Allerdings hat sich bei der Bundestags- Heimatmedaille, der Dialektpreis oder wie-
wahl das Heimatministerium als Geheim- Warum ziehen die jungen der mal einer von bislang 2000 Breitband-
waffe gegen Populismus und Protestwähler förderbescheiden verliehen wird, darf
wirkungslos gezeigt. Die AfD feierte große Menschen fort? Wie einer nicht fehlen: Söder.
Erfolge gerade in den bayerischen Landes- finden wir Nachwuchs für Für den Minister persönlich sei die Er-
teilen, die in den vergangenen Jahren be- findung des Heimatministeriums ein „ge-
sonders von der Strukturpolitik der CSU
den Brauchtumsverein? nialer Coup“ gewesen, bilanziert Professor
profitiert haben, weil der Freistaat dort Magel. Der ländliche Raum habe hingegen
Verkehrswege ausbaute oder beim Ansie- schen machten sich Sorgen, sagt Scharren- weniger profitiert. Die vielen Behörden-
deln großer Unternehmen half. bach. Warum ist der nächste Arzt so weit verlagerungen schafften nur dann einen
Die Menschen im Land nähmen wahr, weg? Warum ziehen die jungen Menschen Mehrwert, wenn Unternehmen dem Bei-
dass der Staat etwas für sie tue, sagt Chris- fort? Wie finden wir Nachwuchs für unse- spiel folgen würden, was sie bislang nicht
tian Bernreiter, CSU-Politiker aus dem ren Brauchtumsverein? täten. Die Digitalisierungsoffensive sei
Landkreis Deggendorf und Präsident des „Der Zusammenhalt bröckelt“, sagt richtig, komme aber viel zu langsam voran.
Bayerischen Landkreistages. Doch trotz Scharrenbach, es sei „die Aufgabe der Poli- „Positive Auswirkungen guter Landes-
guter Wirtschaftsdaten herrsche mancher- tik, den Menschen Sicherheit zu geben.“ entwicklungspolitik zeigen sich nun mal
orts eine gewisse Grundunzufriedenheit. Fragt man sie, was sie künftig anschieben nicht über Nacht“, verteidigt sich Söder,
In den Wahlkreisen Deggendorf und Strau- will, wird sie einsilbig. Sie spricht dann wenn Kritiker messbare Ergebnisse seiner
bing schaffte die AfD fast 20 Prozent. Bern- von der Idee einer Denkmal-App, mit der Bemühungen vermissen. Der „demografi-
reiter diagnostiziert ein „Glaubwürdig- die besten der 89 000 Denkmäler in Nord- sche Turnaround“ sei Bayern nachweislich
keitsproblem der Politik“, ausgelöst auch rhein-Westfalen „digital erlebbar“ ge- gelungen, vermeldet er stolz. „Der ländli-
durch die Flüchtlingskrise. macht werden sollen. che Raum wächst“, lautete die frohe Bot-
Die Sehnsucht nach Heimat hat inzwi- Für Inspiration lohnt der Blick nach Bay- schaft des Heimatberichts 2016.
schen andere Parteien erfasst, sogar die ern. Das Ziel, „gleichwertige Lebensver- Wer den liest, stellt fest, dass zwar im-
Grünen scheinen ihre Scheu vor dem emo- hältnisse und Arbeitsbedingungen“ im mer noch mehr Bayern sterben als geboren
tionsgeladenen Begriff verloren zu haben. Freistaat zu schaffen, hat hier seit 2014 Ver- werden, dass aber der Wanderungssaldo
Robert Habeck, stellvertreten- in vielen strukturschwachen Re-
der Regierungschef in Schles- gionen positiv war. Es kamen
wig-Holstein, sagte zu den He- also mehr Menschen nach Ober-
rausforderungen einer Jamaika- franken oder in die Oberpfalz,
koalition in der Talkshow von als sie verlassen haben. In eini-
Anne Will: „Politik muss auch gen Regionen gab es sogar
eine Idee formulieren, eine Hei- Einwohnerrekorde.
matidee, eine Identitätsidee.“ Allerdings wurde die Land-
Heimatverbunden gibt sich flucht im vergangenen Jahr
FUNKE FOTO SERALF ROTTM / FUNKE FOTO SERVICES

seit Juni ebenfalls die neue Re- weder durch Söders Förderbe-
gierung von Nordrhein-Westfa- scheidisierung des Freistaats ge-
len. Sie gründete ein Ministe- stoppt noch durch die vielfäl-
rium für Heimat, Kommunales, tigen Fotowettbewerbe und
Bau und Gleichstellung. Was zu Mitmach-Aktionen der Jung-
einer imposanten, aber ziemlich bauernschaft.
sperrigen Abkürzung geführt Die meisten der Neubayern
hat: „MHKBG NRW“. Es sei das im ländlichen Raum kommen
„Resteministerium“, lästern man- aus dem Ausland. Viele davon
che im Düsseldorfer Landtag. sind Asylbewerber.
Auf der Website des Ressorts Anna Clauß,
liest man von einem Förderpro- NRW-Heimatministerin Scharrenbach: „Der Zusammenhalt bröckelt“ Lukas Eberle, Jan Friedmann

DER SPIEGEL 42 / 2017 53


„Alle werden sterben“
Justiz Ein junger Mann tötet seine Oma und zwei Polizisten. Seine Mutter hatte jahrelang
vor ihm gewarnt. Warum war er nicht dauerhaft in der Psychiatrie?

W
as macht man mit einem solchen milienhilfe. Jan ist 14 Jahre alt, er nimmt
Menschen? Einem, den die Drogen, bedroht Lehrer, erhält ein Schul-
Schwester so charakterisiert: „Da verbot. Allein im Jahr 2006 gibt es 19 Ver-
fällt mir nur krank ein. Eine gespaltene fahren wegen Diebstahls, Einbruchs und
Persönlichkeit, egoistisch, narzisstisch.“ Sachbeschädigungen. Der Teenager kommt
Von dem die Mutter sagt: „Ich halte den in ein Heim, wird psychologisch betreut.
Terror meines Sohnes nicht mehr länger Zu Hause glauben sie, jetzt werde alles gut.
aus.“ Den die Lehrer als „tickende Zeit- Doch der Wahnsinn geht weiter. Er haut
bombe“ bezeichneten. aus dem Heim ab, bedroht seine Mutter.
Wie behandelt man einen jungen Mann, Nach zwei Jahren hat das Heim genug: Jan
der der Katze der Familie im Bett den Hals ist auf einen Betreuer losgegangen. Er wird
umdreht und ihr dabei in die Augen sieht? entlassen.
Der mit der Axt in der Hand über das hei- Was folgt, kann Leila G. bis heute nicht
mische Grundstück marodiert und Mutter, verstehen. „Sie haben gesagt, entweder
Stiefvater, Großmutter sowie Schwester nehme ich Jan wieder auf, oder er bleibe
prophezeit, er werde sie alle umbringen? auf der Straße.“ Mittlerweile ist der Junge
Schließt man ihn dauerhaft weg, oder 16 Jahre alt, die Frau fragt sich, „wie eine
hat man Hoffnung, dass er sich bessert? alleinerziehende Mutter das vollbringen
Es ist eine Entscheidung, wie sie alltäglich soll, was professionelle Hilfsinstitutionen
an deutschen Gerichten getroffen werden nicht geschafft haben“.
muss. Niemand will Jan zurückhaben, auch

SPIEGEL TV
Bei Jan G. war Hoffnung eine schlechte die Mutter hatte genug Ärger mit ihm. Und
Option. Ende Februar erfüllte sich ein Teil doch ist es das eigene Kind. Das lässt man
seiner Prophezeiung: Der 24-Jährige tötete Mordverdächtiger G. nicht einfach auf der Straße. So beginnt
in einer Stadt nahe der polnischen Grenze „Ich bin der Tod“ ein Horror, der sich fast täglich steigert.
zunächst seine Großmutter, um dann auf Kaum zu Hause, begeht Jan seine erste
der Flucht mit dem Auto beim Tempo von ständig die Partner, Jan spricht alle mit schwere Straftat. Er geht mit einem Messer
weit mehr als hundert Stundenkilometern Papa an. Lange Zeit, so steht es in einem auf einen Freund los, der mit ihm im Heim
zwei Polizisten buchstäblich zu zerfetzen. psychiatrischen Gutachten, habe der Junge gelebt hat. „Nur durch das Zusammenwir-
Der Dreifachmord in Brandenburg, der geglaubt, „es sei normal, dass Väter nach ken mehrerer günstiger Umstände“, so
kommende Woche am Landgericht Frank- einiger Zeit davongingen“. Dass der eigene steht es im Urteil, habe der Freund über-
furt (Oder) verhandelt wird, lenkt den Vater längst gestorben war, sagt man dem lebt. Jan erhält zwei Jahre auf Bewährung.
Blick auf ein Dilemma, das Deutschland Kind erst nach der Grundschule. Die an- Der psychologische Gutachter schreibt,
seit dem Fall des bayerischen Justizopfers deren Männer, teils alkoholabhängig, rui- G. habe sich nach der Tat relativ günstig
Gustl Mollath immer wieder bewegt: nieren nachhaltig, was ein Familienleben entwickelt. Durch eine längere stationäre
Wann gehört ein Mensch in die geschlos- hätte sein können: Eine Schwester wird Behandlung würde dies möglicherweise
sene Psychiatrie und wann nicht? Die Rich- krankenhausreif geprügelt, die andere und „empfindlich gestört“. Der 19-Jährige soll
ter müssen entscheiden, ob das öffentliche der damals fünfjährige Jan werden miss- sich in einer psychiatrischen Ambulanz be-
Sicherheitsbedürfnis schwerer wiegt als die braucht. handeln lassen. Die Mutter sagt, diese Auf-
Freiheitsrechte des Betroffenen. Wenn sie In der Schule wird Jan verhaltensauffäl- lage sei nicht durchgesetzt worden.
sich irren, sind die Folgen fatal. lig. Als er neun Jahre alt ist, erhält die G. lebt eine Zeit lang in Berlin, begeht
Leila G. ist die Mutter des Mordverdäch- Mutter den ersten psychologischen Befund: weitere Straftaten. Ausbildungen fängt er
tigen und zugleich die Tochter seines Op- emotionale Störung bei normaler Intelli- an und wirft sie wieder hin. Er kehrt zu-
fers. Immer wieder hat sie die Behörden genz. Er wird als aggressiv beschrieben, rück nach Hause, wohnt wieder bei der
vor ihrem Sohn gewarnt, jahrelang, meh- beschäftige sich bevorzugt mit Kriegsspiel- Mutter, es gibt Streit, die Polizei kommt.
rere Ordner füllt der Schriftverkehr, den zeug und Kriegsfilmen. Die Mutter hat ei- Die stellt einen Verstoß gegen Bewährungs-
sie mit Amtsgericht, Krankenhaus, Betreu- nen Vollzeitjob, treibt Sport und ist wenig auflagen fest: G. hat sich nach seiner Rück-
er, Anwälten, Jugendamt, sozialpsychiatri- daheim. Ein Jahr später wird der Junge kehr nicht umgemeldet. Er muss in Haft.
schem Dienst und Polizei führte. Sie ge- vorübergehend stationär in der Psychiatrie Der Rechtsstaat hat die Geduld verloren.
stand ihre Hilflosigkeit ein und bat um Hil- behandelt. Jan ist übergewichtig, unsicher, In der Anstalt wird eine Psychose diagnos-
fe. Der Potsdamer Anwalt Peter-Michael ängstlich, spricht leise. Er kann keinen tiziert. Der Häftling isst seine eigenen Fäka-
Diestel vertritt die Frau als Nebenklägerin Blickkontakt halten. Der Mutter wird eine lien und versucht mehrfach, sich umzubrin-
im Prozess. Er hat die Briefe gesichtet und „eingeschränkte Erziehungsfunktion“ be- gen. Erstmals gehen Ärzte von einer „Er-
sagt: „In diesem Fall lag die ganze Zeit scheinigt. krankung aus dem schizophrenen Formen-
Dynamit neben den Streichhölzern.“ Der Junge schwänzt inzwischen die kreis“ aus – ein schwerwiegender Befund.
Als Jan G. 1992 geboren wird, sind die Schule, schafft die siebte Klasse nicht. Er Werden nun endlich Konsequenzen ge-
Umstände verworren. Im Haushalt leben gilt als „intelligenter Schüler mit negativer zogen, gibt es einen Plan, Jan G. zu thera-
er und zwei Schwestern, jedes Kind hat ei- Grundeinstellung“. Die Mutter wendet pieren, darf seine Familie auf eine angst-
nen anderen Vater. Die Mutter wechselt sich an das Jugendamt und beantragt Fa- und gewaltfreie Zukunft hoffen?
54 DER SPIEGEL 42 / 2017
Deutschland

Der sozialpsychologische Dienst wird


eingeschaltet, das Amtsgericht informiert.
Behörden sprechen mit dem Sohn, um die
Lage einzuschätzen. Danach wirft er seiner
Mutter eine Karte in den Briefkasten: „Er-
schreckend, wie lieb ich sein kann, wenn
ich etwas will!“
Der Lebensgefährte von Leila G. be-
schreibt die Lage so: „Ich lebe hier in
Angst. Ich habe hier nur in Angst gelebt.“
Der Mann kommt zeitweilig in die Psy-
chiatrie.
Fast jeden Tag gibt es ein neues Drama.
Und noch weniger Hoffnung. Einmal schil-

ANNA RINGLE-BRÄNDLI / PICTURE ALLIANCE / DPA


dert Jan der Familie, wie er zu Geld kom-
men wolle. Er werde im Blaumann an ei-
ner Villa in Storkow klingeln und den Be-
sitzer „abstechen“. Mit dem erbeuteten
Geld fahre er „nach Polen in den Puff, um
etwas Spaß zu haben“.
Leila G. beantragt einen Betreuer für
ihren Sohn. Sie zeigt ihn mehrfach bei der
Polizei an. Schreibt an das Amtsgericht:
„J a n b r a u c h t H i l f e“. Als er mit zwei
Messern vor der Küche steht und brenn-
bare Flüssigkeit in der Werkstatt neben
dem Haus verteilt hat, kommt er wieder
für einige Wochen in die Psychiatrie. Die
Großmutter will nun doch das Mietverhält-
nis kündigen, aber der Betreuer sieht die
Frist nicht gewahrt. Der Enkel darf bleiben.
Eines Tages steht auf dem Hof ein Kreuz
aus Styropor mit der Aufschrift „Mutter“.
Der Ton wird unerträglich. „Verfick dich,
du Schlampe!“, ruft Jan seiner Mutter zu.
Er schreit die Großmutter an: „Jetzt gibt’s
auf die Fresse!“ Kurz darauf: „Ich stecke
dir meinen Schwanz in den Mund, dann
ist Ruhe!“ Die Mutter schickt dem Betreu-
er eine SMS. „Jan geht’s nicht gut, uns
PATRICK PLEUL / PICTURE ALLIANCE / DPA

geht’s nicht gut, wir haben Angst. Mit der


Hoffnung, Sie werden aktiv.“
Im polizeilichen Auskunftssystem Polas
hat G. inzwischen 61 Einträge, er ist ein
Intensivstraftäter. Im November 2016 muss
er sich vor dem Landgericht Frankfurt
(Oder) verantworten. Er hat Angst, dass
sie ihn in den Maßregelvollzug stecken.
Tatorte in Brandenburg*: Nach 61 Straftaten gibt es wieder nur Bewährung Verhandelt werden gleich sechs Anklagen:
Körperverletzung, Fahren ohne Führer-
Nach 17 Monaten wird er auf Bewäh- ermorden, da ist er schon aus der Klinik schein, Diebstähle. Ein Sachverständiger
rung entlassen. Und keiner weiß, wie es zurück. sagt dem Gericht, es sei zu befürchten,
weitergehen soll. Eines Tages sagt er: „Ich bin der Tod. „dass es bei dem Angeklagten mit erhöhter
Die Großmutter Marianne, die im Ort Ich bin schon tot. Aber ich nehm euch alle Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft zu ag-
gleich neben der Mutter lebt, erbarmt sich mit.“ Er werde seine Mutter und deren Le- gressiven Durchbrüchen und der Gefahr
gegen den Rat der Familie und nimmt den bensgefährten über die Wanne beugen und für Leib und Leben anderer kommen
Enkel bei sich auf. Schon wenige Tage spä- ihnen den Kopf abtrennen. wird“.
ter kommt es zu dem Vorfall mit der Axt Es ist nicht so, dass die Behörden wegge- G. ist wegen seiner Krankheit schuld-
im Garten. Jan, sagt die Mutter, sei „mit sehen hätten. Leila G. hat den Ämtern oft unfähig und daher freizusprechen. Doch
freiem Oberkörper und Monsterblick“ au- genug geschrieben. Jan G. bekommt ein was folgt daraus?
ßer Rand und Band gewesen. Polizei und amtliches Hausverbot bei der Mutter, er darf Der Gutachter hat Hoffnung. Bekomme
Notarzt bringen ihn ins Krankenhaus nach ihr Grundstück nicht mehr betreten. Aber G. konsequent seine Medikamente und
Eisenhüttenstadt. Kaum hat der Sohn, das Verbot wird nicht durchgesetzt. Einmal eine adäquate Behandlung, dann könne
der Enkel gedroht, die eigene Familie zu brüllt Jan G.: „Alle sind asozial! Aus nie- die Gefahr für die Allgemeinheit auf ein
mandem der drei Kinder ist was geworden! „erträgliches Maß“ reduziert werden. Das
* Oben: Wohnhaus der Großmutter; unten: Fluchtauto Alle werden sterben!“ Er trinkt, nimmt Dro- Gericht schließt sich dem an und gibt eine
in Beeskow nahe der B 168. gen und verletzt sich selbst durch Ritzen. „positive Prognoseeinschätzung“. Die vor-
DER SPIEGEL 42 / 2017 55
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 15. 10., 22.35 – 23.20 UHR | RTL
gesehene Unterbringung in die Psychiatrie Es ist der 79. Geburtstag der Großmut-
Rechte Streitkultur – Die AfD und wird zur Bewährung ausgesetzt, eine Füh- ter. Die alte Frau hat selbst Probleme. Das
ihre internen Grabenkämpfe; „Ich rungsaufsicht beschlossen. G. muss min- Haus ist vollgemüllt, nur Trittwege sind
habe Oma mit ihrem Lieblingsmesser destens alle zwei Wochen in die psychia- frei. G. will sich waschen, doch auch die
umgebracht“ – Die Mutter des trische Ambulanz nach Frankfurt (Oder), Badewanne ist zugestopft mit Sachen. Er
geständigen Mörders Jan G. klagt auch um dort seine Spritze abzuholen. Er kippt der Großmutter Honig über den
darf keinen Alkohol trinken und keine Kopf. Das Telefon klingelt, ein Geburts-
Drogen nehmen. tagsanruf. G. reißt das Kabel aus der Wand,
Es gibt einen Verlaufsbericht der Frank- prügelt auf die Oma ein. Sie schleppt sich
furter Klinik zur Behandlung von G. Ein ins Bad, er tritt die Tür ein. Er zerschlägt
Eintrag stammt vom 16. November 2016, ihr das Gesicht, das linke Auge drückt er
zwei Tage nachdem das Gericht die Auf- ihr mit dem Daumen wieder in die Augen-
lagen für seine Freiheit formuliert hat. höhle. Mit einem Messer sticht er ihr in
Dort sagt er, er nehme weiter Amphetami- den Hals. Die Frau verblutet.
ne, täglich. Er fragt nach Medikamenten, G. fährt in ihrem Auto davon, wird von
die auf dem Schwarzmarkt als Drogen der Polizei verfolgt. Zwei Polizisten berei-
gehandelt werden. Der Arzt notiert, der ten an einer Landstraße in Beeskow eine
Patient habe einen Wutanfall bekommen, Blockade vor. Sie wollen G. vom Straßen-
als er ihm erklärte, er werde ihm „keine rand aus mit einem Nagelgurt stoppen. Mit
potenziellen Suchtmittel“ verordnen. Die 140 bis 160 Stundenkilometern lenkt G.
positive Prognose war zu optimistisch. auf den Grünstreifen und hält auf die Be-
SPIEGEL TV

amten zu. Körperteile werden abgetrennt,


der Wagen schleift die Opfer 100 Meter
Mutter Leila G. 2014 Jan kippt der Großmutter mit aufs Feld.
Für den neuen Prozess wurde Jan G.
die Behörden an, die sie jahre- Honig auf den Kopf, von Hans-Ludwig Kröber begutachtet,
lang auf die Gefährlichkeit prügelt auf sie ein, zer- einem Experten, der auch schon im Fall
ihres Sohnes hinwies; Deutsche Mollath tätig war. Er glaubt, dass G. bisher
Terrorkämpfer – Zwei gefangen
schlägt ihr das Gesicht. falsch diagnostiziert wurde. Er sei nicht
genommene IS-Männer berichten schizophren, sondern leide unter einer
von ihrem Leben in Rakka. Das zeigt sich kurz darauf noch einmal. „gravierenden Persönlichkeitsstörung“, die
G. wird Anfang Dezember mit dem Auto es zu behandeln gelte. Die Drogen hätten
seiner Oma von der Polizei gestoppt. Er seine Probleme „krisenhaft verschärft“.
SPIEGEL GESCHICHTE hat nie einen Führerschein besessen. Ein Kröber sieht aber keine Lösung darin, G.
MONTAG, 16. 10., 21.50 – 23.20 UHR | SKY Drogenschnelltest zeigt, der Brandenbur- in eine Entziehungsanstalt einzuweisen.
ger hat Amphetamine und Cannabis ge- Sinnvoll sei indes die Unterbringung in ei-
Sündenbabel Berlin – Metropole nommen. Ein Gericht weist ihn für vier nem psychiatrischen Krankenhaus, aber
des Verbrechens 1918 – 1933 Wochen in ein Landeskrankenhaus ein. auch normale Haft sei vorstellbar: bei the-
In der Hauptstadt Berlin herrschen Als er rauskommt, ist es Januar. Gut acht rapeutischer Betreuung.
nach dem Ende des Ersten Welt- Wochen vor den Morden. Bei den Morden, schließt zumindest
kriegs Armut und Elend. Die wirt- Am 13. Februar tagt das Landgericht die Staatsanwaltschaft, habe G. eine „un-
schaftlich schwierigen Zeiten be- Frankfurt (Oder) in nicht öffentlicher Sit- geminderte Einsichtsfähigkeit in das Un-
fördern Habgier und Prostitution – zung. Es geht um die „Bewährungssache erlaubte eines solchen Tuns“ gehabt.
ein perfekter Nährboden für Ver- Jan G.“. Der junge Mann räumt den Ver- Die Ankläger fordern Sicherungsverwah-
brechen aller Art. Grausame Morde stoß gegen seine Auflagen ein und sagt, er rung.
erschüttern Berlin, Serientäter werde „dies auch nicht wieder tun“. Er 16 Jahre ist es her, seit Leila G. mit
versetzen die Bevölkerung in Angst. komme zurecht. „Dabei hilft mir auch oft ihrem Sohn erstmals einen Psychologen
Angesichts dieser Verhältnisse ist meine Oma, mit der ich mich wieder bes- aufsuchte. 16 Jahre, in denen nahe Ange-
die Berliner Polizei gezwungen, mit ser verstehe.“ Der Richter schreibt, er habe hörige mit zunehmender Verzweiflung um
neuartigen Ermittlungsmethoden G. darauf hingewiesen, dass er „bei einem Hilfe riefen. In denen das Jugendamt, der
die Aufklärungsrate zu verbessern. erneuten Verstoß gegen die Bewährungs- sozialpsychiatrische Dienst, andere Hilfs-
auflage mit der Anordnung der Unterbrin- einrichtungen, Ärzte, Betreuer, Bewäh-
gung in einer psychiatrischen Klinik zu rungshelfer, Anwälte, Staatsanwälte, Poli-
SPIEGEL TV WISSEN rechnen hat“. Eine Verwarnung also. zisten und Richter dem Fall eine Richtung
MITTWOCH, 18. 10., 20.15 – 21.00 UHR | PAY-TV Und so wird Jan G. wieder mal in seine gaben, die sich in der Rückschau als tragi-
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN Heimatstadt entlassen. Ins Haus seiner scher Irrweg darstellt.
Großmutter, die längst zu Protokoll gege- Die Familie ist gezeichnet. Die Oma tot,
Ab auf die Bühne! ben hat, dass sie sich vor ihrem Enkel Leila G. an Krebs erkrankt, ihr Lebensge-
Einmal im Rampenlicht stehen – für fürchte. fährte gerade gestorben. Sie sagt, sie wisse
viele ein ganz großer Traum. Am 28. Februar sind Elektriker in ihrem nicht, ob sie ihren Sohn hassen solle.
Paul und Marlon, beide elf Jahre Haus. Der Polizei sagen sie später, sie hät- Schließlich sei er auch krank. „Aber lieben,
alt, bewerben sich bei einem Kinder- ten den Eindruck gehabt, Jan G. habe un- tut mir leid, kann ich ihn auch nicht mehr.“
Casting um eine Hauptrolle in ter Drogen gestanden. Er sei blass gewesen, Thomas Heise, Steffen Winter
einem großen Musical. SPIEGEL TV habe einen starren Blick gehabt und stark
WISSEN begleitet kleine Stars geschwitzt. Einer bezeichnet ihn als „Psy- Sendehinweis
von morgen und geht mit auf Talent- cho“. Die Stimmung habe zwischen „über- SPIEGEL TV Magazin: Die Mutter Leila G. klagt
suche bei Film- und TV-Castings. nett und aggressiv“ geschwankt. die Behörden an. Sonntag, 22.35 Uhr, RTL

56 DER SPIEGEL 42 / 2017


Deutschland

Klimmzüge
rufsschule lehrt, kann das sehr gut funk-
tionieren.“ Für Schulanfänger hingegen
könnten die Folgen dramatisch sein – zu-
mal die Seiteneinsteiger kaum bis gar nicht
Bildung An Grundschulen fehlen auf ihren Einsatz vorbereitet würden.
„Die allermeisten Erstklässler freuen
knapp 2000 Lehrkräfte. Die Not sich auf die Schule“, sagt Thekla Mayer-
macht die Länder erfinderisch – hofer, Grundschullehrerin in Halle an der
zum Schaden der Schüler. Saale und Vorsitzende des Grundschul-
verbands in Sachsen-Anhalt. Sie seien neu-
gierig, hätten Lust zu lernen. „Wenn sie in

D
ie Initiative will „Den Mangel be- diesen ersten Wochen keinen richtigen
enden“, aber dafür muss sie den Unterricht, keine fachmännische pädago-
Mangel erst einmal benennen. Also gische Begleitung bekommen, sind sie
haben die Macher viele Klagen von Be- ganz schnell frustriert.“ Gerade bei den
troffenen gesammelt. „Eltern werden ge- Kleinen bestehe Unterricht nicht aus reiner
beten, ihre Kinder in der ersten Klasse Wissensvermittlung, sondern vor allem aus

FRISO GENTSCH / DPA


selbst zu betreuen, weil ein Unterrichts- Erziehung.
angebot nicht mehr vorgehalten werden Schon länger beklagen Eltern und Leh-
kann“, heiße es in einer Schule. Und in rer den Mangel, nun geben ihnen die Zah-
einer anderen: „Zusammenlegung der len recht. In ihren Prognosen gingen die
vierten Klassen aufgrund von Lehrerman- Schülerinnen in Niedersachsen Kultusminister stets von sinkenden Schü-
gel. Nun lernen 26 Kinder statt 16 in der Ganz schnell frustriert lerzahlen aus. Vor einigen Monaten korri-
Klasse.“ gierte die Bertelsmann-Stiftung dann die
Hinter der Volksinitiative in Sachsen- fristig in den Schuldienst zurückkehren Schätzungen nach oben. Laut ihrer Vor-
Anhalt stehen der Landeselternbeirat, sollen. Bremen plant, zukünftig mehr Lehr- hersage sollen im Jahr 2025 rund eine
die Bildungsgewerkschaft GEW, die Partei kräfte aus dem Ausland anzuwerben. Million Kinder mehr deutsche Schulen be-
Die Linke und zwölf weitere Partner. Sie Zudem sind Quereinsteiger beliebte Lü- suchen als bisher angenommen. Die Ge-
sammelten innerhalb weniger Monate ckenfüller in vielen Ländern. In Berlin hat burtenrate hat sich anders entwickelt als
96 000 Unterschriften gegen den Lehrer- mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte an gedacht, Zuwanderung lässt sich ohnehin
mangel im Land, jetzt dürfen die Initiato- Grundschulen, die zu diesem Schuljahr ein- schwer vorausberechnen. Und auch die
ren ihr Anliegen im Landtag in Magdeburg gestellt wurden, kein pädagogisches Stu- Umsetzung der Inklusion erfordert deut-
vortragen. dium abgeschlossen. Stattdessen unterrich- lich mehr Personal.
Das Ministerium von Kultusminister ten Chemiker, Journalisten, Betriebswirte, Wie sich der allgegenwärtige Mangel
Marco Tullner (CDU) hält die Aufregung Germanisten. Anderswo stehen Lehramts- auf die Kinder auswirkt, ist schwer fest-
für übertrieben und meldet derzeit 78 of- studierende ohne Abschluss vor der Klasse. zustellen. Am Freitag veröffentlichte das
fene Lehrerstellen im Grundschulbereich. Frei nach dem Motto: Lieber irgendjemand Institut zur Qualitätsentwicklung im
Die sollten alle in den kommenden Wo- als niemand. Bildungswesen mit den „Bildungstrends
chen besetzt werden, teilt ein Sprecher auf Ob das Konzept aufgeht, hänge auch 2016“ eine Art Grundschul-PISA-Test. Da-
Nachfrage mit. Bewerbungen seien zuhauf von der Schulform ab, sagt Beckmann. für wurden rund 29 000 Viertklässler ge-
eingegangen. Mangel? Welcher Mangel? „Wenn ein Elektroingenieur an einer Be- prüft.
Vergleicht man die Lage Sachsen-An- Die Wissenschaftler stellten im Vergleich
halts mit Zahlen aus anderen Bundeslän- zur Erhebung 2011 in den Bereichen Recht-
dern, liegt das Land tatsächlich im Mittel- Rechtschreibung schreibung, Zuhören und in Mathematik
feld. Eine Umfrage des SPIEGEL in den Schüler der 4. Jahrgangsstufe „signifikant negative Trends“ in nahezu al-
Kultusministerien ergab: Besonders groß Studie „IQB-Bildungstrend 2016“ Mittelwerte len Bundesländern fest. Lediglich die Leis-
ist der Bedarf im bevölkerungsreichen Bayern 534 tung im Lesen blieb „weitgehend stabil“.
Nordrhein-Westfalen, dort fehlen aktuell Saarland 526
Am stärkten verlor Baden-Württemberg,
926 Lehrkräfte. Auch in Baden-Württem- am schlechtesten schnitten Bremen und
berg und Niedersachsen klaffen Lücken. Hessen 506 Berlin ab. Ganz vorn im Vergleich: die
Nur drei Länder können alle Lehrerstellen Baden-Württemberg Mittelwert
505 Bayern.
an Grundschulen besetzen: Bayern, Berlin Sachsen Deutschland 503 Den nächsten Grundschultest hat das
und Rheinland-Pfalz. Sachsen und Schles- 500 Institut für 2021 angesetzt. Udo Beckmann
wig-Holstein stehen mit 10 beziehungs- Schleswig-Holstein 502 vom VBE erwartet, „dass unter diesen Um-
weise 7 unbesetzten Stellen auch recht gut Sachsen-Anhalt 499 ständen zukünftige Viertklässler beim
da – „was aber nicht bedeutet, dass es dort Rheinland-Pfalz 494 Übergang auf die weiterführende Schule
keine Probleme gibt“, sagt Udo Beckmann, deutlich weniger können werden als heu-
Nordrhein-Westfalen 492
Bundesvorsitzender des Verbands Bildung te“. Es sei höchste Zeit, dass die Länder
und Erziehung (VBE). „Die Länder ma- Mecklenburg-Vorpommern 491 aufhörten, ihre Zahlen schönzurechnen.
chen alle möglichen Klimmzüge, um die Brandenburg 491 Jedes Land solle zukünftig selbst für den
Stellen irgendwie zu besetzen.“ Thüringen 490 eigenen Nachwuchs sorgen – und nicht
Niedersachsen hat zum Schuljahres- mehr darauf setzen, Lehrkräfte aus ande-
beginn 171 Gymnasiallehrer an Grundschu- Niedersachsen 481 ren Regionen abwerben zu können. „Das
len abgeordnet, in Baden-Württemberg Hamburg 481 Saarland etwa bildet viel zu wenig aus“,
können Lehrer freiwillig bis zum 69. Le- Berlin 468 sagt Beckmann. „Wir müssen dringend in-
bensjahr unterrichten. Außerdem wird ver- vestieren.“ Miriam Olbrisch
stärkt um Pensionäre geworben, die kurz- Bremen 443 Twitter: @olbi

DER SPIEGEL 42 / 2017 57


Q UELLE: EI SN ER 2 003 ; MA X RO SER
Tötungen je 100 000 Einwohner pro Jahr (Spannbreite der historischen Schätzungen)
100 Früher war alles schlechter
Nº 94: Mord und Totschlag
in Deutschland und der Schweiz
80

60

40

20

2010
1 Tötung

0
1300 1400 1500 1600 1700 1800 1900 2010

Je weniger Morde, desto mehr Krimis. In einer berühmt gewor- rechnet hat, so kämen hierzulande pro Jahr bis zu 80 000 Men-
denen Studie hat der Gewalthistoriker Manuel Eisner die schen gewaltsam zu Tode, mehr als 200 pro Tag. Mord war
Mordraten verschiedener europäischer Länder seit dem gestern. Denkt man nun aber daran, wie allgegenwärtig, wie
14. Jahrhundert rekonstruiert. Seine Erkenntnisse zeigen, dass unausweichlich, wie unsagbar überrepräsentiert Morde im
die Mordbelastung in Europa über die Jahrhunderte radikal Fernsehen, im Kino, in der Presse, in der Literatur und im
gesunken ist. In den untersuchten Ländern, darunter auch Gesellschaftsgespräch sind – dann drängt sich der Verdacht
Deutschland, lag die Rate früherer Jahrhunderte in einem Kor- auf, dass ein umgekehrt proportionales Verhältnis vorliegt: je
ridor von rund 10 bis 100 Fällen pro 100 000 Einwohner, damit weniger echte Morde, desto mehr fiktive. Jamaika etwa, mit
bis zu 100-mal höher als heute. Deutschland verzeichnete 2016 43 Tötungsdelikten pro 100 000 im Jahr 2015, mag derzeit zwar
862 Opfer von Mord und Totschlag, das entspricht 1 Tötung in aller Munde sein – allerdings nicht wegen einer florieren-
pro 100 000 Menschen oder etwa zwei Opfern pro Tag. Anders den Krimiproduktion. Skandinavische Länder hingegen, be-
ausgedrückt: Angenommen, Deutschland würde noch heute rühmt für ihre besonders blutrünstigen Crime-Autoren, weisen
eine Mordrate aufweisen, wie Eisner sie für das Mittelalter er- mit die niedrigsten Mordraten der Welt auf. guido.mingels@spiegel.de

Zugnamen SPIEGEL: „Der ICE ,Loriot‘ müssen bereits verstorbene


fährt heute in umgekehrter Persönlichkeiten sein.
Wird es einen ICE namens „Lothar Späth“ Wagenreihung“ – klingt nicht SPIEGEL: ICE „Lothar Späth“
geben, Herr Huber? schlecht. Auf Twitter gab es wäre okay?
auch schöne Vorschläge: Jan Huber: Theoretisch ja.
Berthold Huber, 54, Deutsche- aufgerufen, Vorschläge zu Delay beispielsweise oder SPIEGEL: Warum wurde sich
Bahn-Vorstand, über die Namens- machen. Kamen viele? Philipp Lahm. beschränkt auf Verstorbene?
suche für die neuen ICE-4-Züge Huber: Wir haben über 19 000 Huber: Ich fand die Vorschlä- Es ist schließlich ein sehr
Namensvorschläge erhalten. ge sehr amüsant. Aber es moderner, heutiger Zug.
SPIEGEL: Die Bahn möchte die Über diese wird eine Jury Huber: Wir suchen nach
neuen ICE-4-Züge nach be- entscheiden. 2018 und 2019 er- Wertigkeit. Und oft zeigt sich
deutenden deutschen Persön- warten wir 25 neue ICE 4. eben erst mit einem gewissen
lichkeiten benennen. Warum Für die suchen wir Namen. zeitlichen Abstand die wahre
brauchen Züge Namen? SPIEGEL: Gibt es Favoriten? Bedeutung einer Person.
Huber: Brauchen sie natürlich Huber: Wir konnten noch gar SPIEGEL: ICE „Gunter Ga-
nicht. Aber es macht den Zug nicht alle Vorschläge durch- briel“ wäre also nix? Ist ja
nahbarer, wenn er einen Na- sehen. Aber es gibt die Klassi- erst kürzlich verstorben.
men trägt. Es erhöht die Iden- ker: Beethoven, Goethe, Huber: Ich weiß nicht, ob
tifikation der Reisenden mit Schiller. Helmut Kohl, Willy Gunter Gabriel unter den
dem Zug. Brandt. Aber auch Vicco Vorgeschlagenen ist. Und
IMAGO

SPIEGEL: Alle Deutschen wa- von Bülow alias Loriot ist falls ja: Darüber muss die
ren jetzt einen Monat lang dabei. ICE-4-Zug Jury entscheiden. jgu

58 DER SPIEGEL 42/ 2017


Gesellschaft
im Bahnhof bestanden habe, wegen unerlaubten Flaschen-
Flasche leer sammelns, das sei aber seit über einem Jahr aufgehoben.
Warum lässt die Bahn Frau Leeb nicht einfach Flaschen
sammeln? Schwierig, sagt ein Sprecher. Man habe eben
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum viele Kunden, die nicht mitansehen mögen, wie Pfand-
sammler mit tropfenden Plastiktüten in der Hand in Müll-
eine 76-jährige Münchnerin irrtümlich behälter greifen. Und es sei nun einmal verboten. Setze
zum Symbol des herzlosen Staates wurde die Bahn aber ihr Hausrecht durch, sei es vielen auch wie-
der nicht recht. Es werde, sagt der Sprecher, „eine unge-

A
nna Leeb, 76, hatte doch nur eine leere Bierflasche löste gesellschaftliche Diskussion auf die Bahn abgewälzt“.
eingesammelt, im Münchner Hauptbahnhof. Aber Schon 2010 gab es ein erstes Verfahren gegen Leeb wegen
manchmal haben kleine Vorfälle große Wirkungen. mehrfachen Hausfriedensbruchs, die Staatsanwaltschaft stell-
Die Pfandflasche führte zu fehlerhaften Medienberichten, te es „wegen Geringfügigkeit“ ein, ebenso wie fünf weitere
zu Empörung in Internetforen, zu einer Onlinepetition solche Verfahren bis 2014. Es kam seit 2011 zu drei Geldstra-
mit 100 000 Unterschriften, zu einem Tweet von Sahra fen für Leeb, einmal waren es 300 Euro, dann 500, dann 450,
Wagenknecht, zu einer Richtigstellung der Staatsanwalt- dazu Verfahrenskosten von 332 Euro. Leeb gab außerdem
schaft und zu einer persönlichen Entschuldigung der Deut- an, dass sie eine Eigentumswohnung besitze. Weil sie auch
schen Bahn bei Anna Leeb. über Mieteinnahmen aus anderen Immobilien verfügte, durf-
Aber von vorn. te sie nicht weiter das Straßenmagazin „Biss“ verkaufen –
Am 19. September veröffentlichte die Münchner Tages- dort prüft man die Bedürftigkeit der Verkäufer.
zeitung „tz“ eine traurige Geschichte: „Hausverbot für Fla- Die Geschichte von der armen, alten Flaschensammlerin
schensammlerin“. Ein Foto dazu zeigte die alte Dame vor war also eine andere. Nur welche? Warum sammelt Anna
dem Hauptbahnhof, Bildunterschrift: „Mit Pfandflaschen Leeb Pfandflaschen?
wollte Anna Leeb ihre Rente aufbessern. Unabhängig von der Antwort sah sich
Jetzt ist sie vorbestraft.“ Im Text stand, die Deutsche Bahn veranlasst, sich bei
dass die Frau im Bahnhof eine Pfandfla- Leeb zu entschuldigen. Zwei Führungs-
sche aufgehoben habe, woraufhin Secu- kräfte trafen sie persönlich. Warum?
rity-Leute sie „mit dem Rollator aus dem Man habe nicht herzlos erscheinen wol-
Bahnhof gezerrt“ hätten. Sie habe eine len, so ein Bahn-Sprecher. Und man
Geldstrafe von 2000 Euro zahlen müssen, glaubte angesichts der Meinungsüber-
außerdem sei sie vorbestraft. Leebs Kom- macht im Netz und in den Medien, keine
mentar: „Die eigentlichen Verbrecher in Wahl zu haben. Leeb hat die Entschul-
München finden sie nicht, dann müssen digung „per Handschlag“ angenommen.
sie jemanden wie mich rupfen.“ Dann ging sie wieder Flaschen sammeln.
Der Text, in dem Gut und Böse klar Vor einer Weile hat die Straßenzei-
verteilt waren, erschien einige Tage vor tung „Charity München“ die alte Dame
der Bundestagswahl. Schnell füllten sich für ein Imagevideo gefilmt. Seit Leeb
die Kommentarspalten im Netz mit Em- wegen mangelnder Mittellosigkeit nicht
pörung über die Deutsche Bahn und mehr für „Biss“ Zeitungen verkaufen
Mitleid für die alte Dame. Es fielen die darf, tut sie es für „Charity“. Im Clip er-
üblichen Hassbegriffe: „Für Scheinasy- zählt sie von ihrem Alltag. „50 Kilo-
OLIVER BODMER / TZ

lanten sind Milliarden da, deutsche Rent- meter werd ich schon runterlaufen“, und
nerin muss Flaschen sammeln.“ Und die „vier-, fünfmal ausgeraubt“ sei sie wor-
Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht den. Deshalb: „Senden Sie ein Zeichen
echauffierte sich auf Twitter: „Rentnerin der Unterstützung, wenn Sie genauso
soll wegen Flaschensammeln 2000 Euro Rentnerin Leeb entrüstet sind wie wir“, so „Charity“ im
Strafe zahlen. Ist das das Deutschland, Spendenaufruf für Leeb, unter Angabe
in dem ‚wir‘ nach Meinung der CDU alle der Kontonummer.
‚gut und gerne leben‘? Mir wird Und was sagt nun Anna Leeb zu all-
schlecht.“ Bald startete jemand auf dem?
Change.org eine Onlinepetition, in der Sie geht ans Telefon in ihrer Eigen-
„Straffreiheit für Anna Leeb“ gefordert Aus der Münchner „tz“ tumswohnung in Harlaching, die sie mit
wurde, fast 100 000 Menschen unterzeich- ihrem Mann bewohnt. Nette Stimme,
neten die Aktion, es kamen über 7000 Euro an Spenden warmes Bayerisch. „Ich bin nicht bedürftig“, sagt sie, „ich
zusammen für Leeb. sammle die Flaschen, um meinen Enkeln ein Taschengeld
Aus der Pfandflasche von Anna Leeb war eine Parabel zu geben.“ Die beiden Gymnasiasten kriegen zu Weih-
der Ungerechtigkeit geworden, die Geschichte vom Staats- nachten und zum Geburtstag einen Zuschuss von der
konzern und der Justiz, die eine mittellose Rentnerin gän- Großmutter. Sie habe ihr ganzes Leben lang gearbeitet,
geln. Nur ist in Wahrheit alles etwas anders, als es schien. sagt sie, zuerst in einer Metzgerei, dann in Hotels. Nun
Am vorvergangenen Donnerstag hat sich die Staatsan- zieht es sie jeden Nachmittag gegen fünf Uhr auf die Stra-
waltschaft München in der Causa Pfandflasche am Rande ße, manchmal bis Mitternacht. Sie sei „die beste Verkäu-
einer Pressekonferenz zu Wort gemeldet. Die Sache ver- ferin“, habe man ihr bei „Charity“ gesagt. 500 Euro pro
halte sich nicht so, wie in der Presse beschrieben, erklärte Monat verdiene sie mit den Heften, weitere 100 Euro kä-
eine Sprecherin. Die Seniorin sei gar nicht vorbestraft. men durch die Flaschen hinzu. Sie will damit weiterma-
Und sie habe auch keine Geldstrafe von 2000 Euro zahlen chen, solange es ihre Gesundheit erlaubt. „Ich mag es ein-
müssen. Richtig sei, dass gegen Anna Leeb ein Hausverbot fach, unter Leuten zu sein.“ Jan Friedmann

DER SPIEGEL 42 / 2017 59


Gesellschaft

A
rvind, Hemanth und Marc, zwei In- Forschung, in seiner Multifunktionsklei- Kulturell hätten sich die beiden Inder,
der und ein Schweizer, waren ei- dung sieht er aus, als wollte er gleich einen Hemanth Kappanna und Arvind Thiruven-
gentlich nur zum Studieren in die Schweizer Alpengletscher hochrennen. Ar- gadam, nicht weiter von ihrer Heimat ent-
USA gekommen. Arvind Thiruvengadam vind, 34 auch er, der inzwischen den Titel fernen können. West Virginia ist in den
aus Madras, Hemanth Kappanna aus Ban- „Research Assistent Professor“ führen darf, USA für seine Wälder bekannt, die große
galore und Marc Besch aus Biel. Es hatte trägt eine dunkle Anzughose sowie ein Heroinepidemie in den Städten und seine
sie in den Bundesstaat West Virginia ver- graues Businesshemd und wirkt nicht wie rustikalen Einwohner, die sich selbst Hill-
schlagen, nicht gerade der Ort, von dem ein Abgasspezialist, eher wie ein südasia- billys nennen, Hinterwäldler. Nicht be-
man in Madras oder Bangalore träumt, tischer IT-Manager. Nur Hemanth, 39, mit kannt ist West Virginia hingegen für Um-
wenn man in die USA zieht. Wahrschein- seinem dichten schwarzen Bart, ist auf die weltschutz. Ein beliebtes Hobby hier nennt
lich noch nicht mal in Biel. andere Seite gewechselt, zur Industrie. Er sich „Rolling Coal“: Man baut aus seinem
Der West Virginia University angeschlos- hat jetzt einen Job bei General Motors in Diesel-Pick-up-Truck alle Partikelfilter aus,
sen ist ein Institut für Emissionsforschung. Detroit. Die anderen beiden ziehen ihn fährt den Truck in die nächstgrößere Stadt,
Auch das ist nicht unbedingt die Fach- damit manchmal ein bisschen auf. wartet, bis der erste Prius- oder Fahrrad-
richtung, von der man träumt, wenn man Zu Stars geworden sind die drei höchs- fahrer auftaucht, gibt Vollgas und hinter-
um die dreißig ist und eine Karriere als tens in Abgastesterkreisen, aber sie stören lässt das Opfer in einer Rußwolke. Das ist
Autoingenieur anstrebt. Das Institut nennt sich nicht an der Bescheidenheit ihres so der Humor in West Virginia.
sich Center for Alternative Fuels, Engines Ruhms. „Wir werden auf Konferenzen mit Auch Hemanth, Arvind und Marc ma-
and Emissions, kurz CAFEE, es befindet Namen angesprochen“, sagt Marc, immer- chen ihren Job nicht aus ideologischen
sich in einer unscheinbaren Blechhalle auf hin. Und Hemanth erinnert daran, dass sie oder ökologischen Gründen. Sie sind Ma-
einer Lichtung in den Hügeln schinenbauer. Wenn man als Ma-
West Virginias, im Nirgendwo. schinenbauabsolvent in der Auto-
Der nächstgrößere Ort heißt branche arbeitet, kann man viele
Morgantown, die nächstgrößere interessante Jobs machen: aus
Stadt, die man kennen könnte,
ist Pittsburgh.
Arvind, Hemanth und Marc
fingen hier an, Abgase zu mes-
Die drei aus Motoren mehr PS-Leistung raus-
kitzeln, an der Aerodynamik der
Chassis feilen, noch kraftvollere
Turbolader entwickeln oder an
sen, erst an Lastwagen, dann an
Personenwagen, bis sie verse-
hentlich einen Skandal aufdeck-
ten, dessen Folgen den damals
größten Autohersteller der Welt
Nirgendwo Elektroautostudien arbeiten.
Oder man erhält die Aufgabe,
sich darum zu kümmern, dass
die Abgase nicht zu schädlich
sind. Dann hat man mit Dingen
an die Grenze seiner Existenz ge- Entdeckungen Der Abgasskandal wie Dieselpartikelfilter, Kataly-
trieben haben. Rund 25 Milliar- von VW kostet den Konzern bisher satoren, Stickstoffreduktion und
den Euro, vor allem wegen Rück- Harnstoffeinspritzungsverfahren
käufen und Strafzahlungen aus rund 25 Milliarden Euro. Doch zu tun. So wie Hemanth, Arvind
Vergleichsverhandlungen, haben wo nahm er seinen Anfang? In einer und Marc. Eigentlich seien sie Au-
die Abgastests von Hemanth, Ar- tofreaks, sagen sie, Tüftler, Fumm-
vind und Marc den Volkswagen- Blechhalle in West Virginia, bei ler, Schrauber. Marc, Sohn eines
Konzern bis heute gekostet – und drei etwas wunderlichen Studenten. Opel-Händlers in der Schweiz,
ein Ende ist nicht in Sicht. Wegen hat sich selbst einen Diesel-Jeep
einer Studie der drei Studenten Von Philipp Oehmke hergerichtet, der, so wie er aus-
stehen ehemalige deutsche VW- sieht, wahrscheinlich nicht so
Manager heute auf FBI-Fahn- gute Emissionswerte hat. Auch
dungslisten, einer konnte in den Dan Carder, der Chef, baute
USA verhaftet werden, andere sitzen in alle drei am Wochenende in der Halbzeit- schon in der Pubertät seine ersten eigenen
Deutschland in Untersuchungshaft. Ein pause des Footballspiels West Virginia Pick-ups um. Eigentlich wollten Hemanth,
deutscher Politiker nannte die Dieselaffäre Mountaineers gegen Texas Tech als heraus- Arvind und Marc nie in der Abgastechno-
den „größten Industrieskandal seit dem ragende Ehemalige der Universität geehrt logie landen.
Zweiten Weltkrieg“. werden sollen. Und Arvind fällt ein, dass „Vehicle & Engine Testing Laboratory“
Marc und Arvind parken ihre Wagen sie Mitte Oktober auf einen Fachkongress steht außen an ihrer Blechhalle zwischen
vor der Blechhalle. Arvind kommt in ei- in Berlin eingeladen sind. den bewaldeten Hügeln. Die Halle gehört
nem BMW mit zwei fetten Auspuffrohren, Ihr Chef, der Leiter des Labors, Dan Car- zur Fakultät für Maschinenbau der West
Marc in einem alten Diesel-Jeep, Hemanth der, wurde vergangenes Jahr von der Zeit- Virginia University und ist das Herz des
kommt vom Flughafen. schrift „Time“ auf die Liste der 100 einfluss- Instituts. Innen befinden sich mehrere Ab-
Sie sind an diesem Spätsommertag für reichsten Menschen der Welt gesetzt, we- gastestanlagen. Silberne Metallrollen sind
den SPIEGEL noch einmal zusammenge- gen seiner Rolle im Dieselskandal. Auch er in den Boden eingelassen, auf die die Au-
kommen, hier in der Halle auf einer Lich- ist heute gekommen, aber er hält sich im tos gestellt werden, damit sie fahren kön-
tung im Wald, wo alles begonnen hat. Vier Hintergrund, er will seine Jungs nicht über- nen, ohne zu fahren. Riesige Ventilatoren
Jahre ist es jetzt her, da haben sie ange- strahlen. Auch für sie ist es ein großes Wie- sorgen für den Fahrtwind, Schläuche aller
fangen, die Abgaswerte von zwei VW-Die- dersehen, sie wissen, dass der VW-Skandal Größen und Farben führen in verchromte,
selautos zu testen. Viel hatten sie sich da- auch ihre Biografien für immer verbunden verkabelte Schränke mit Messarmaturen,
bei nicht gedacht. hat. Am Abend wollen sie ein paar Ham- in manchen Ecken ist ein Motor aufge-
Große Karrieresprünge haben sie seit- burger auf den Grill legen und sich in einer bockt. Es riecht, nun ja, nach Abgasen.
dem nicht gemacht. Marc, jetzt 34 Jahre Sportsbar des Studentenkaffs Morgantown Hier saß Hemanth Kappanna an einem
alt, hat heute eine Assistentenstelle in der ein paar Biere reinkippen. düsteren Novembertag im Jahr 2012, als
60 DER SPIEGEL 42 / 2017
ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL

Abgastester Besch, Thiruvengadam, Kappanna: Abends ein paar Burger auf den Grill

DER SPIEGEL 42 / 2017 61


Gesellschaft

die Ausschreibung vom International viel Erfahrung mit Abgastests von Diesel- Sie fallen sich ins Wort, beenden die Sätze
Council of Clean Transportation (ICCT) motoren, wenn auch bisher nur mit Lkw. füreinander. Auch das ist letztlich ihre
reinkam. Die Organisation kümmert sich Und sie hatten eine weitere Stärke, von Schuld: dass die Welt in den vergangenen
um technische und wissenschaftliche Ana- der sie aber gar nicht ahnten, wie entschei- Jahren Begriffe lernen musste wie „Harn-
lysen, die sie den Umweltaufsichtsbehör- dend sie sein würde: Sie verfügten über stofftank“, „Betrugssoftware“ und „Ad-
den zur Verfügung stellt. Diesmal suchte mobile Messgeräte, die sie teils selbst ge- Blue“, die seither in Hunderten Artikeln
das ICCT Tester, die die sogenannte Clean- baut hatten und mit denen sie Abgasmes- und in Büchern stehen.
Diesel-Technologie deutscher Autoherstel- sungen unter realen Fahrbedingungen Wenn man die drei richtig verstanden
ler untersuchen. auch über längere Strecken durchführen hat, geht alles ungefähr so: Der SCR-Ka-
Sauberer Diesel. Ach, echt? konnten. Normalerweise wurde ein Auto talysator spritzt Harnstoff in den Abgas-
„Ein solcher Begriff hat uns als Abgas- für einen Emissionstest in einer Garage strom und zerlegt so Stickoxide in Sauer-
nerds natürlich fasziniert. Er hatte eine ge- bloß auf Rollen gestellt und die Fahrt si- stoff und harmlosen Stickstoff. Der Nach-
wisse Ambivalenz“, sagt Hemanth. muliert. Es war unüblich, mit mobilen teil: Die Autos müssen mit einem weiteren
Anders als in Deutschland hatte der Messgeräten Passagierfahrzeuge auf län- Tank für die Harnstofflösung, AdBlue ge-
Volkswagen-Konzern in den USA seine geren Fahrten zu testen. Hemanth wusste nannt, ausgestattet werden. Der Tank
VW- und Audi-Dieselfahrzeuge in aufwen- nicht einmal, wie ihre Apparate in einen braucht kostbaren Platz und muss je nach
digen Werbespots als besonders umwelt- Pkw passen sollten. Es war diese Art von Größe zudem alle paar Tausend Kilometer
freundlich vermarktet. In einem berühm- neuartigen Tests – auf der Straße statt im nachgefüllt werden. Wer für ein Auto
ten Fernsehspot von Audi, der zur teuersten
Sendezeit des Jahres lief, nämlich während
des Superbowls, war zu sehen, wie die
USA von einer Ökopolizei terrorisiert wer-
den. Auf den Straßen Staus, die Ökopoli-
zei hält alle Autos an. Nur ein sauberer
weißer Audi-Diesel darf aus der Schlange
ausbrechen und mit Vollgas wegrasen. Ein
VW- oder Audi-Diesel, so behauptete die
Werbung damals, habe genauso gute
Verbrauchs- und Emissionswerte wie Toyo-
tas Elektro-Hybrid-Schlager Prius, aber na-
türlich viel bessere Motor- und Fahrleis-
tungen.
Das große Problem beim Dieselmotor
war nicht wie bei Benzinantrieben der
CO2-Ausstoß, sondern der von Stickoxi-
den. Und in den USA war wesentlich we-
niger Stickoxid erlaubt als in Europa. Aller-
dings gab es Technologien, die es ermög-

ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL


lichten, die Emissionen so zu reduzieren,
dass sie auch den US-Normen entsprachen.
Das allerdings brachte an anderer Stelle
große Nachteile – dazu später mehr.
Volkswagen wollte Toyota endgültig
überholen und weltweit der Autohersteller
Nummer eins werden. Dafür war auch der Institutschef Carder: Ein interessantes technisches Problem
US-Markt wichtig. Toyota war in Amerika
mit seinen Hybridautos sehr erfolgreich.
Die Clean-Diesel-Strategie sollte sie ver- Labor –, mit der bei VW offenbar niemand 70 000 Dollar zahlt, hat auf so etwas mög-
drängen, das Kalkül war: Wenn VW sich gerechnet hatte. Erst die mobilen Messun- licherweise keine Lust.
mit seinen Dieselautos in den USA schon gen ermöglichten es, die Tricks der Auto- Die zweite Methode ist weniger effi-
so strengen Abgasnormen unterwerfen bauer zu enttarnen. zient, braucht dafür aber keinen AdBlue-
musste, könnte der Konzern aus der Not Hemanth fing an, am Computer zu rech- Tank. Die NOx-Trap fängt den Stickstoff
auch eine Tugend machen und seine Turbo- nen. Er kalkulierte, dass sie bei einem in einer Kammer ein. Wenn die Kammer
dieselmotoren als „green“ und besonders Budget von 200 000 Dollar wohl drei oder voll ist, wird eine erhöhte Menge Kraftstoff
umweltschonend verkaufen. vier deutsche Dieselwagen und ihre Emis- hinzugegeben, der die Kammer reinigt und
„Es war nicht so, dass ein Verdacht be- sionstechnik durchleuchten könnten. Sie die eingeschlossenen Stickoxide als Stick-
stand, im Gegenteil“, erinnert sich Arvind. bekamen den Job, allerdings wurden die stoff ausspült. Der Nachteil: Diese Technik
„Wir waren einfach sehr neugierig. Diese 200 000 auf 70 000 Dollar gedrückt. funktioniert nur bei ausreichend hoher
Ökotechnologien waren ziemlich neu. Wir Die deutschen Autohersteller wendeten Temperatur und einem erhöhten Kraft-
wussten, dass sie auf dem Papier funktio- hauptsächlich zwei Verfahren an, um die stoffverbrauch.
nierten. Aber sie waren in Pkw noch nie Stickoxidemission zu senken. Eine soge- Marc, Arvind und Hemanth sahen darin
unter Realbedingungen auf Abgase getes- nannte Lean-NOx-Trap und den SCR-Ka- eine Menge interessante technische Pro-
tet worden.“ talysator. Beide reduzieren Stickoxid, ha- bleme. Wie also hatten die deutschen Auto-
Als die Ausschreibung vom ICCT rein- ben aber auch gewichtige Nachteile. hersteller sie gelöst?
kam, wusste Hemanth, dass sie gute Chan- Das ist ziemlich kompliziertes Zeug, Der Auftrag verlangte, dass Hemanth,
cen hatten, den Zuschlag zu bekommen. Das aber Hemanth, Arvind und Marc reden Arvind und Marc Wagen mit beiden Tech-
Institut der West Virginia University hatte darüber wie andere Leute über Fußball. nologien, SCR und NOx-Trap, testeten.
62 DER SPIEGEL 42 / 2017
Aber wo sollten die Autos herkommen? wusste gar nichts von einem Harnstofftank. kehr, Highway und den Mount San Anto-
Arvind rief bei Volkswagen in Michigan Nachfüllen? Womit? Nie gehört, sagte er. nio hoch. Der Stickoxidausstoß des VW
an, doch VW sah keinen Grund, seine „Das hätte uns stutzig machen können, Jetta war bis zu 35-mal höher als erlaubt.
Fahrzeuge einem Haufen Studenten zur bevor wir überhaupt den ersten Test durch- Der Passat mit dem SCR-System schnitt
Verfügung zu stellen. Autovermietungen führten“, sagt Marc. ein bisschen besser ab, aber auch seine
in West Virginia führten keine Diesel-Pkw, „Hat es aber nicht“, sagt Hemanth. Werte waren noch um die 20-mal so hoch.
auch auf Anzeigen, die sich an Privatbe- Sie brachten die Wagen nach El Monte Nur der BMW zeigte keine relevanten
sitzer wendeten, reagierte niemand. bei Los Angeles, wo die kalifornische Emis- Abweichungen.
Die Studenten beschlossen, die Opera- sionsbehörde CARB ein unscheinbares Arvind, Hemanth und Marc hielten dies
tion nach Kalifornien zu verlegen. Marc Testlabor betrieb, mit Stacheldraht um- weiterhin für ein wirklich interessantes
und Arvind hatten dort ohnehin gerade zäunt. Alle drei Autos bestanden locker. Problem.
an den Trucks gearbeitet, und sie hatten Alle Stickoxidwerte blieben unter den Sie bauten ihr Equipment auseinander,
gute Beziehungen zur dortigen Emissions- strengen kalifornischen Richtlinien. So suchten den Fehler bei ihren Messgeräten.
behörde, dem California Air Resources weit die Ergebnisse unter Laborbedingun- Sie inspizierten die Motoren, es waren ja
Board (CARB). gen: keine Auffälligkeiten. nicht nur die viel zu hohen Werte, das ge-
Aber vor allem gab es in Kalifornien die Mit den Tests auf der Straße, die sich samte Verhalten der beiden VW erschien
Autos. Volkswagens Kampagne vom Clean als entscheidend erweisen sollten, war es sonderbar. Normalerweise sinken die
Diesel hatte bei den Bürgern in den libera- komplizierter. Das Problem fing schon bei Schadstoffemissionen, sobald der Motor
warmgelaufen ist. Nicht so bei den VW.
Sie machten größere Touren mit den
Wagen, nach San Diego, San Francisco.
Arvind und Marc prügelten den Passat die
Küste hoch bis nach Seattle und zurück,
knapp 6000 Kilometer. Mit ihren Schläu-
chen am Auspuff, dem Generator im Kof-
ferraum waren sie ein seltsamer Anblick
auf der I-5, der Interstate zwischen San
Diego und Seattle, dazu der Lärm des Ge-
nerators im Kofferraum. In der Nähe von
San Francisco stellte die Highway Patrol
verständnislose Fragen zu den Schläuchen
am Auspuff, als Marc und Arvind an einer
Ausfahrt gerade versuchten, ihre Geräte
zu rekalibrieren. Die erste Nacht verbrach-
ten sie auf dem Parkplatz eines Baumark-
tes in Oregon und mühten sich ab, den Ge-
nerator wieder zum Laufen zu bringen.
Wenn sie mal Pause machten, besuchten
ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL

sie das Boeing-Museum, das auf der Route


liegt, und deckten sich im Souvenirshop
ein. Abends im Hotelzimmer kochte Ar-
vind für die anderen.
Hemanth, der Älteste der drei, machte
sich manchmal über den Eifer der jungen
Pkw bei der Emissionsprüfung im CAFEE in West Virginia: Sauberer Diesel – ach, echt? Kommilitonen lustig. Marc wollte nie auf-
hören zu arbeiten, er hatte ein Arbeits-
ethos, wie Hemanth es nicht kannte. He-
len Staaten an den Küsten Resonanz ge- der Stromzufuhr an. Die Emissionsmesser manth war überzeugt, dass die gleichen
funden, außerdem gab es alle Arten von brauchten viel Strom, und sie konnten ja Abgase am nächsten Tag immer noch da
Autovermietungen, sogar eine für umwelt- nicht einfach ans Stromnetz des Autos an- sein würden und sich sicher auch dann
bewusste Kunden. geschlossen werden, das hätte die Ergeb- noch kontrollieren ließen. Und Arvind be-
Bei Green Car Rentals mieteten sie ei- nisse verfälscht. Es gab batteriebetriebene kam immer, was er sich vornahm. Alle drei
nen VW Jetta 2.0 TDI, bei Exotic Cars San Messgeräte, doch die Batterie hielt noch Testautos hatte er allein ausfindig gemacht.
Jose eine BMW X5 3.0d und von einem nicht mal eine Stunde. Einen Verdacht hatten alle drei trotzdem
Privatmann einen VW Passat 2.0 TDI. Der Die Studenten gingen in einen Baumarkt noch nicht.
Jetta hatte die NOx-Trap, der Passat das und kauften Benzingeneratoren, die sie auf Sie wussten von der Existenz sogenann-
SCR-System und der X5 hatte beide Tech- Spanplatten in die Kofferräume dübelten. ter Defeat Devices, versteckter Software,
nologien. Eigentlich sollte auch noch ein Die Generatorabgase leiteten sie in einem die erkennt, wenn ein Wagen im Labor ei-
Mercedes getestet werden. Doch der Be- Schlauch notdürftig durchs Fenster nach nem Test unterzogen wird. Die Räder dre-
sitzer, ein Hollywoodstudiotyp, wollte draußen. Man konnte sich nun in dem Auto hen sich dann, doch das Lenkrad bleibt
plötzlich zu viel Geld. Mercedes sollte ihm nicht mehr unterhalten, es war zu laut. Die unbewegt. Geschwindigkeiten treten in be-
wahrscheinlich sehr dankbar sein. Generatoren mussten ständig nachgetankt stimmten Intervallen auf, und nach 20 Mi-
Als sie den Passat von dem Privatmann werden. Die Rückbank voller Messgeräte, nuten ist es meist vorbei. Für diese Zeit
abholten, fragte Marc Besch den Besitzer auf dem Beifahrersitz einer der Studenten schaltet die Software die Abgastechnolo-
nach dessen Erfahrungen mit dem Harn- mit dem Laptop, ein anderer fuhr. gien an, dann regelt sie sie wieder runter.
stofftank. Ob er den häufig nachfüllen müs- Sie begannen mit einer mehrstündigen Mehrere große Lkw-Hersteller hatten
se und ob ihn das nerve. Doch der Besitzer Route in und um Los Angeles. Stadtver- ein paar Jahre zuvor Defeat Devices ein-
DER SPIEGEL 42 / 2017 63
Gesellschaft

wurde etwas anderes, Größeres. Es ging


jetzt um Fragen der Gesundheitsschädi-
gung, der Körperverletzung. Bronchitis,
Lungenerkrankungen und Herzprobleme
hängen alle mit Stickoxiden zusammen.
Stickoxide, die aus einem Auspuff kom-
men und auf Sonnenlicht treffen, werden
zu Smog.
Gerade in Kalifornien, wo auf 39 Mil-
lionen Einwohner 25 Millionen Autos
kommen und an den meisten Tagen die
Sonne scheint, ist der Stickoxidausstoß
ein besonders sensibles Thema. Deswegen
sind die Abgasbestimmungen in Kalifor-
nien so streng. Und anders als in Deutsch-
land werden Verstöße in Kalifornien ver-

ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL


folgt, dafür hat Ayalas Behörde CARB
gesorgt. Die Ermittler verlangten bald
nach Erklärungen von VW. Der Rest ist
Geschichte.
Am Institut CAFEE der West Virginia
University in der Blechhalle auf der Wald-
Gebäude des Testlabors in West Virginia: Keiner hatte Lust, die Studie zu schreiben lichtung war das Leben nach Marc Beschs
Präsentation in San Diego zunächst wei-
tergegangen, als wäre nichts geschehen.
gesetzt und waren erwischt worden. Die Marc hatte sich bei der Präsentation Die Ermittlungen der Kalifornier waren
Studenten, die viele Tests an Lkw durch- nicht viel gedacht, er war nur froh, dass geheim, lange Zeit wussten die drei Stu-
geführt hatten, wussten das. Aber jetzt er sie rechtzeitig hatte fertigstellen können. denten also überhaupt nicht, dass ihre Test-
kam ihnen nicht in den Sinn, dass eine Die Autotypen waren in ihr nicht identifi- ergebnisse umfassende Untersuchungen
solche Betrugssoftware die Lösung sein ziert, die Rede war bloß von Vehicle A, gegen VW ausgelöst hatten.
könnte für ihre rätselhaften Zahlen. Sie Vehicle B und Vehicle C. Hemanth, Arvind und Marc waren in
waren Fahrzeugtechniker, keine Krimi- In der anschließenden Pause begann un- jener Zeit damit beschäftigt, ihre mobile
nalisten. ter den Anwesenden ein Ratespiel, um wel- Abgasmessmethode weiter zu verfeinern.
Also suchten sie nach anderen mögli- che Autos es sich wohl handelt. Für jeman- Da sich das Konzept mit den Generatoren
chen Erklärungen, am wahrscheinlichsten den, der sich auskannte, war es nicht im Kofferraum als eher mühsam erwiesen
schien ihnen ein versehentlicher Fehler schwierig, aus der Kombination der Moto- hatte, probierten sie jetzt, die Apparate
in den Abgassystemen. Dan Carder, ihr rentypen und der eingesetzten Abgastech- auf Anhängern hinter den Testwagen her-
Boss, sagt: „Das hielt ich für am wahr- nologie auf die tatsächlichen Autos zu zuziehen, doch das schuf nur neue Pro-
scheinlichsten. Ich dachte, VW muss viel- schließen. Vehicle A und Vehicle B muss- bleme. Luftverwirbelungen, verändertes
leicht eine Rückrufaktion starten, die Sa- ten Volkswagen sein. Fahrverhalten, komplizierte Anhänger-
che würde sie vielleicht ein bisschen Geld Auch ein Mann namens Alberto Ayala kupplungen.
kosten.“ hatte die Präsentation verfolgt. Er war der Sie wollten als Team zusammenbleiben,
Nach einigen Wochen gab es nichts Vizechef der kalifornischen Aufsichts- aber dann ging Hemanth nach Detroit.
mehr zu testen. Die Ergebnisse änderten behörde CARB, auch er hat früher an der Auch Marc hatte ein Angebot von Gene-
sich nicht. Hemanth, Arvind und Marc fuh- West Virginia University gelehrt. Er kann- ral Motors, doch er wollte in der For-
ren nach Hause. te Dan Carder seit 20 Jahren, er hatte wäh- schung weitermachen. Arvind und Marc
Dort mussten sie die Ergebnisse analy- rend der Tests das CARB-Labor in El Mon- rückten noch näher zusammen, die Be-
sieren und eine Studie schreiben. Keiner te zur Verfügung gestellt, er wusste von ziehung wurde, wie Marc sagt, „fast wie
hatte Lust dazu. Es gab keine richtige Er- den Testergebnissen, er wusste, dass Stu- unter Brüdern“. Wenn einer von beiden
klärung, und alle hatten neue Projekte, die dien, die aus Carders Institut kommen, ver- eine Studie verfasste, war der andere stets
sie spannender fanden. Die Zahlen ver- lässlich sind. Mitautor.
schwanden erst mal in der Schublade. Im Winter 2013, noch vor der Präsenta- Als am 18. September 2015 die US-Um-
Endlich, nach einem halben Jahr, setzte tion in San Diego, war er sogar nach Wolfs- welt-Bundesbehörde EPA die Welt über
sich Marc Besch an die Studie. Als sie fertig burg gereist und hatte den VW-Leuten von den VW-Betrug informierte, hatten He-
war, umfasste sie 117 Seiten und trug den den merkwürdigen Zahlen der Studenten manth, Arvind und Marc schon lange nicht
Titel „In-Use Emissions Testing of Light- berichtet. mehr an Volkswagen gedacht.
Duty Diesel Vehicles in the United States“. Nachdem Marc Besch, Arvind Thiruven- Moralische Empörung hängt ab von den
Im März 2014 präsentierte Marc die Stu- gadam und Dan Carder nach der Konfe- Ansprüchen, die man stellt. Die drei waren
die auf einem Kongress in San Diego. Da renz nach Hause gefahren waren, nahm vor allem froh, dass es endlich eine Erklä-
stand er in einem Saal des Hyatt Regency, alles seinen Lauf. In der kalifornischen rung für ihre Ergebnisse gab. Und dass ihre
200 Leute waren gekommen. Ölindustrie, Aufsichtsbehörde wurde ein Team aus Zahlen gestimmt hatten. Hemanth, Arvind
Autohersteller, aber auch Vertreter der Re- Experten zusammengestellt. Man begann, und Marc hatten Präzisionsansprüche an
gulierungsbehörden. Und es saßen dort die VW mit Dieselmotor von Privateigentü- ihre eigenen Zahlen, aber keine Moral-
Abgesandten von VWs Compliance-Abtei- mern in ganz Kalifornien auf Herz und ansprüche an den Volkswagen-Konzern.
lung, das waren die Männer, die dafür zu- Nieren zu prüfen. Und auf Harnstoff. Sie waren nicht empört. Die Technologie,
ständig waren, dass VW in den USA alle Aus den paar Zahlen, die Arvind, sagen sie, sei eigentlich faszinierend ge-
Bestimmungen einhält. Hemanth und Marc gesammelt hatten, wesen. Twitter: @oehmke

64 DER SPIEGEL 42 / 2017


Die Instagram-Camper und die, die gern welche wären,
werden immer mehr, auch das kann man im Internet be-
staunen. Es ist eine Bewegung geworden, bedeutsam ge-
nug, dass das US-Magazin „The New Yorker“ ihr einen
langen Artikel widmete. #vanlife sei eine neue Social-Me-
#vanlife dia-Bewegung von Bohemiens, heißt es darin. Ein neu-
modisches Aussteigerverhalten junger Menschen, die die
Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen und den Arbeits-
Homestory Über die Reize des Lebens im platz einfach mit in die Welt hinausnehmen.
Ich war eigentlich nie so der Campertyp, ich dachte
Wohnmobil – mit und ohne Hashtag beim Campen an vergilbte Polster, Bierbäuche, zerkratztes
Plastikgeschirr, Satellitenschüsseln. Das Gegenteil von

S
eit mein Urlaub vor ein paar Wochen zu Ende ge- Freiheit. Stattdessen liebte ich Flugreisen, wollte möglichst
gangen ist, fällt es mir schwer, mich wieder mit dem oft weit weg, ich dachte, nur in der Ferne könnte ich die
Alltag anzufreunden. Das liegt vor allem daran, dass Geschwindigkeit aus meinem Leben nehmen.
ich jeden Tag an meinem Sehnsuchtsort entlanglaufen Aber im Sommer vor zwei Jahren überraschte ich mich
muss: an einem unmöglichen Gefährt, 5,5 Meter lang. Es selbst, da schafften mein Mann und ich uns über Ebay-
parkt traurig und überdimensioniert in meiner Straße, Kleinanzeigen ebendieses schöne, alte Wohnmobil an, das
statt seiner Bestimmung nachzugehen und mit mir Europa jetzt in unserer Straße steht. Wir lackierten die Schränke
zu bereisen. weiß, hängten graue Vorhänge auf, dazu eine bunte Wim-
Das Gefährt ist mein Wohnmobil. Es stammt aus dem pelkette für unseren Sohn.
Jahr 1989, es sieht aus wie ein Kühlschrank aus der Zeit, Im ersten Sommer holten wir noch die ADAC-Karte
als Helmut Kohl noch Kanzler und ich im Kindergarten hervor und überlegten uns eine Route durch die Nieder-
war. Wenn man den Motor anlässt, klingt er wie ein Tre- lande, Belgien und Frankreich, immer die Küste entlang.
cker und stößt eine politisch nicht korrekte Dieselwolke Im zweiten Jahr fuhren wir durch Italien, die Karte holten
aus. Manche Menschen fan- wir nur noch selten hervor,
gen dann an zu husten. Ich und in diesem Jahr wurde
aber atme den Geruch von die Zielbeschreibung immer
Freiheit ein. vager. In diesem Jahr hieß
Schon der Anblick des sie einfach: Süden. Wir nen-
Wohnmobils lässt mich liebe- nen es „flowen“, kein Ziel

THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL


volle Gedanken an Autobah- haben, keinen Zeitplan, ein-
nen und Raststätten entwi- fach gucken, wohin es uns
ckeln, an Meerblick, erste treibt. Wahrscheinlich ist das
Reihe, und an Berge, unver- schon Teil des Zaubers: Grö-
stellt. Und dann ist da das ßer könnte der Unterschied
Gefühl, dass ich möglicher- zum Alltag nicht sein.
weise etwas falsch mache im Der andere Teil hat mit
Leben. Denn seit einiger Zeit dem Tacho zu tun. Denn es
weiß ich: Statt morgens ins Büro zu laufen, könnte ich fährt langsam, das Mobil, sehr langsam. Es entsteht eine
auch einfach ein Hashtag-Leben führen. Art Zwangsentschleunigung. Dritter Gang in den Kasseler
Menschen, die Hashtag-Leben führen, kommen einfach Bergen, in den Alpen runter auf zwei. Spitzengeschwin-
nicht mehr nach Hause. Sie reisen durch die Welt in alten digkeit 110 km/h, Durchschnitt 80, schätze ich.
Bullis und Wohnmobilen. Sie machen Fotos von sich vor Wir wanderten in Österreich, schnorchelten in Kroatien,
oder in ihren Bullis und Wohnmobilen. Sie posten diese aßen Pasta in Italien, paddelten in der Schweiz, und ich
Bilder auf Instagram, und immer schreiben sie einen dachte zwischendurch immer mal, so könnte ich leben,
Hashtag dazu: #vanlife. Ein Leben im Van. Sie fahren und vielleicht muss ich ein Influencer werden.
posten einfach weiter. Und – das ist das Faszinierendste Doch als ich meine Yogamatte neben dem Mobil aus-
an der Sache – sie verdienen dabei manchmal auch noch rollte, stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt ein
Geld. Foto davon posten müsste. Ich müsste meine Haare ord-
Man kann sich durch Instagram scrollen und dieses nen, mir überlegen, ob die Hose zum Hemd passt und
#vanlife beobachten. Man sieht dann ansehnliche Hipster, das Hemd zur Yogamatte und die Yogamatte zum Hinter-
Mittdreißiger mit Bart, junge Frauen im Bikini, den Laptop grund. Und das Schlimmste: Ich müsste online sein. Da
auf dem Schoß, die durch Kalifornien rollen oder durch wäre meine ganze Entspannung wieder dahin. Wir poste-
Oregon, die in Montenegro haltmachen oder am Nordkap. ten nichts. Und fuhren irgendwann zurück nach Hause.
Sie haben Lichterketten an Bord, Surfbretter, Espresso- Kürzlich waren wir für ein Wochenende an der Ostsee.
kocher. Gemeinsam beschauen sie den Sonnenuntergang, Es war kalt und stürmte, und wir wurden so oft nass, dass
die Brandung, die Berge, den Sternenhimmel, und alles uns die Wechselkleider ausgingen. Als wir frierend und
liegt auf diesen Bildern unter einem verträumten Filter. zerzaust auf engstem Raum ausharrten, fragte ich mich,
Manchmal holen sie ihren Rechner raus und erledigen was ich zu posten hätte: nasse Socken, mehr fiel mir nicht
schnell einen Job, als Grafikdesigner, Webdesigner, Schrei- ein. Wahrscheinlich war dies genau der Realitäts-Check,
ber. Manchmal halten diese Menschen aber auch einfach den ich brauchte. Ich tauge nicht zum Influencer, ich bin
ein Produkt in die Kamera, einen besonderen Kaffee, eine Schönwettercamper und glücklich, wenn es keine Inter-
Outdoorflasche, und ein Unternehmen überweist ihnen netverbindung gibt dabei. Wir brachen ab und fuhren
Geld dafür. Dann sind die #vanlife-Menschen auch noch nach Hause. Dort war es angenehm trocken und schön.
Influencer. Dialika Neufeld

DER SPIEGEL 42 / 2017 65


Hugo-Boss-Modenschau in Florenz

MITCHELL SAMS / CAMERA PRESS / DDP IMAGES


Hugo Boss

Verdacht auf Insiderhandel


BaFin erstattet wegen fragwürdiger Aktienverkäufe Anzeige bei der Staatsanwaltschaft.
Die Ereignisse rund um den Absturz der Hugo-Boss-Aktie schaft offenlegen. Dem Vernehmen nach wird einem Auf-
im Jahr 2016 haben womöglich ein juristisches Nachspiel. sichtsrat von Hugo Boss vorgeworfen, Informationen über
Nach monatelanger Prüfung hat die Finanzaufsicht BaFin die bevorstehende Gewinnwarnung weitergegeben zu ha-
Anzeige wegen mutmaßlichen Insiderhandels mit Aktien ben. Dabei soll es sich um Luca Marzotto handeln, einen
des Modekonzerns erstattet. Die Staatsanwaltschaft Stutt- Vertreter des größten Einzelaktionärs im Aufsichtsrat. Die
gart prüft nun, ob sie ein Ermittlungsverfahren einleitet. Unternehmerfamilie Marzotto ist seit 1991 an Hugo Boss
Der Hintergrund: Am 23. Februar 2016 warnte Hugo Boss beteiligt, aktuell mit zehn Prozent. Auf Luca Marzottos
seine Aktionäre per Ad-hoc-Mitteilung vor einem Rück- Hinweis hin soll ein Verwandter noch rechtzeitig Boss-Ak-
gang der Gewinne. Der Aktienkurs brach am selben Tag tien verkauft haben. Sowohl die Weitergabe solcher Infor-
um fast 20 Prozent ein. Offenbar hatten sich jedoch einzel- mationen als auch ein anschließender Aktienverkauf wären
ne Insider frühzeitig abgesichert: Kurz vor der Veröffent- illegal. Marzotto sagte auf Anfrage, dass er nichts von
lichung wurden anscheinend noch größere Mengen Wert- Vorwürfen in Bezug auf Insiderhandel gegen ihn wisse und
papiere verkauft. Gegen wen sich die Anzeige der BaFin auch nicht gegen entsprechende Gesetze verstoßen habe.
richtet, wollten weder Finanzaufsicht noch Staatsanwalt- Hugo Boss wollte den Vorgang nicht kommentieren. sh

US-Kartellklage gesamt haben 24 Parteien in Breyer hatte 2016 einen rund zu reduzieren. Sie hätten den
Wiedersehen mit mehreren US-Bundesstaaten 15 Milliarden Dollar teuren Kunden ihre Fahrzeuge als
Klagen gegen VW, Audi, Vergleich zwischen VW und Premiumprodukte deutscher
VW-Richter Porsche, BMW, Daimler und den amerikanischen Behör- Ingenieurskunst verkauft –
Bei den deutschen Autoher- den Autozulieferer Bosch den wegen der Dieselaffäre mit den geheimen Abspra-
stellern wächst die Furcht, eingereicht. Ein juristisches ausgehandelt. In der nun an- chen aber technischen
wegen der Kartellaffäre hohe Gremium entschied vor hängigen Kartell-Sammelkla- Fortschritt gerade verhindert
Schadensersatzzahlungen in wenigen Tagen, diese Klagen ge geht es auch um den Vor- und den Wert der Autos
den USA leisten zu müssen. zu bündeln und vor ein wurf, die Hersteller hätten gemindert. Daimler und VW
Man nehme die Klagen ernst, kalifornisches Gericht zu sich abgesprochen, die Größe hatten sich, wie der SPIEGEL
heißt es in den Konzernzen- bringen. Der zuständige Rich- sogenannter AdBlue-Tanks im Juli enthüllte, bei der
tralen von VW, Daimler und ter, Charles Breyer, ist den zu begrenzen und dadurch EU-Kommission selbst an-
weiteren Herstellern. Ins- Autokonzernen gut bekannt: Dieselabgase unzureichend gezeigt. fdo, mhs

66 DER SPIEGEL 42 / 2017


Wirtschaft
Air Berlin zu und animierten Klein- mehreren Pflichtmitteilungen 4. September 1,25 Millionen
anleger, Anteilsscheine ab- für die Börse hervor. Zu Best- Aktien zum Durchschnitts-
Gründer steigt aus zustoßen. So lange wollte der zeiten waren seine gut 2,2 preis von knapp 27 Cent
Der am Donnerstag besiegel- Gründer und Ex-Chef von Millionen Anteilsscheine im- veräußerte und dafür knapp
te Verkauf von großen Teilen Air Berlin, Joachim Hunold, merhin rund 45 Millionen 333 000 Euro einnahm. Die
Air Berlins an die Lufthansa offenbar nicht warten. Der Euro wert. Jetzt erlöste letzte Tranche, knapp 50 000
hat nicht nur deren Börsen- Manager hat bereits seit dem Hunold für das Paket gerade Aktien, versilberte Hunold
kurs beflügelt. Selbst die Pa- 4. September seinen Bestand noch knapp 596 000 Euro. erst am Montag dieser Woche
piere der insolventen Air Ber- an Air-Berlin-Aktien sukzes- Den größten Batzen der für 25 Cent pro Stück – und er-
lin legten zeitweise deutlich sive reduziert. Das geht aus Summe erhielt er, als er am hielt exakt 12 517,69 Euro. did

Handel Fall mit „Einschnitten bei


„Existenzielle Löhnen und Gehältern rech-
nen“ müssten.
Ängste“ Nutzenberger: Das ist eine
Stefanie Nutzen- ziemliche Dreistigkeit, bei
berger, 53, Fach- den Betroffenen löst das exis-
bereichsleiterin tenzielle Ängste und Zorn
Handel bei der Ge- aus. Viele Beschäftigte im
KAY HERSCHELMANN

werkschaft Ver.di, Einzelhandel leben von maxi-


über die Aufkündi- mal 2500 Euro Bruttogehalt,
gung des Tarifver- wenn sie Vollzeit arbeiten.
trags bei Kaufhof HBC ist ein großes Unterneh-

OLIVER WILLIKONSKY
men, allein in diesem Jahr
SPIEGEL: Als die Metro AG im gab es fünf Neueröffnungen
Sommer 2015 Kaufhof an in Deutschland und zehn in
den kanadischen Warenhaus- den Niederlanden. Geld
betreiber HBC verkaufte, scheint mithin grundsätzlich Schlauch, Wiedeking
wurde eine Sozialcharta ver- vorhanden zu sein. Warum
einbart. Sie sah vor, dass das sollen also ausgerechnet Jubiläen verschickten Schreiben heißt.
Unternehmen bis mindestens die Mitarbeiter zur Kasse ge- Pfiffige Finanzierung: Als eine Art Gegenleistung
2020 im Tarifvertrag bleibt. beten werden? für die „finanzielle Zuwen-
Was ist aus dem Versprechen SPIEGEL: Weil das Warenhaus-
ein Foto mit Sigmar dung“ stellte das Veranstal-
geworden? geschäft schwächelt und Rezzo Schlauch, grünes Ur- tungsteam den Geldgebern
Nutzenberger: Das ist ja das Kaufhof nicht gut dasteht? gestein und heute Wirtschafts- eine Nennung im Programm-
Spitzfindige: Für uns war Nutzenberger: Die Situation anwalt, hat Industrieunter- heft und „ausgewählte und
klar, dass Kaufhof im Flä- der Warenhäuser ist allge- nehmen und Manager in Ba- aussagewirksame Fotos des
chentarifvertrag verbleiben mein nicht ganz einfach, aber den-Württemberg ausgerech- Abends“ in Aussicht. Kon-
soll. Jetzt fordert HBC einen wenn sich der stationäre net mit einer Einladung zu kret wurden etwa Manager
sogenannten Beschäftigungs- Einzelhandel gegenüber dem seinem 70. Geburtstag ver- Utz Claassen Fotos mit
sicherungstarifvertrag. Das ist Onlinehandel behaupten stört: Sein Jubiläum hatte der Außenminister Gabriel an-
natürlich auch ein Tarifver- will, dann doch durch guten ehemalige Staatssekretär in geboten, der allerdings kurz-
trag, aber eben mit Einbußen. Service und motiviertes der vergangenen Woche mit fristig verhindert war. Auch
SPIEGEL: Per Brief hat Kauf- Personal. Genau dort zu spa- rund 400 Gästen auf der zur werblichen Nutzung, so
hof-Geschäftsführer Wolf- ren, halte ich für wenig Kulturinsel Bad Cannstatt in Claassen. Nicht nur er lehnte
gang Link diese Woche die zielführend. Stuttgart gefeiert. Eingeladen den Deal empört ab. Unter-
21 000 Mitarbeiter darüber SPIEGEL: Wie gehen Sie jetzt waren Baden-Württembergs nehmen wie die EnBW-Gas-
informiert, dass sie auf jeden konkret vor? Ministerpräsident Winfried Tochter VNG ließen sogar
Nutzenberger: Wir werden die Kretschmann (Grüne), EU- ihre Juristen prüfen, ob sol-
wirtschaftliche Situation des Kommissar Günther Oettin- che Zahlungen gegen Com-
Unternehmens genau unter ger (CDU), Außenminister pliance-Regelungen versto-
die Lupe nehmen – die Miet- Sigmar Gabriel (SPD) und ßen würden – mit klarem Er-
verhältnisse, die Finanzströ- hochrangige Vertreter aus gebnis. Auch von VNG gab
me, aber auch die Gesamt- Kultur und Wirtschaft wie es keine Spende zu der
strategie. Zur Prüfung der Ex-Porsche-Chef Wendelin Schlauch-Party. Laut Organi-
Zahlen werden wir einen ex- Wiedeking. Für Irritationen sationsteam wurde die
ternen Wirtschaftsgutachter sorgte allerdings ein Brief des Aktion ohne Wissen des Ex-
beauftragen. Die Beschäftig- Organisationsteams. Denn Politikers durchgeführt.
ten erwarten auch, dass zu- bezahlt werden sollte die rau- Ansonsten will man sich nicht
erst das Management schaut, schende Party offenbar auch zu dem Vorgang äußern.
STEINACH / IMAGO

was bei ihm eingespart von den Gästen selbst, besser Auch Schlauch schweigt,
werden kann. Wir werden gesagt von deren „Unterneh- schaltete aber einen Medien-
uns nicht unter Zeitdruck men oder Organisation“, wie anwalt zur Wahrung seiner
setzen lassen. one es in dem Mitte September Interessen ein. fdo

DER SPIEGEL 42 / 2017 67


Landwirtschaft 4.0 Satelliten
beliefern die Landwirtschaft
mit Wetterprognosen und
Luftbildern von den Feldern.

Drohnen
entdecken Schädlinge,
analysieren das Wachs-
tum der Pflanzen und
Smarte Traktoren den Zustand des Bodens.
Ein Computerprogramm
berechnet die optimale
Route für den Feldeinsatz.

Der Bauer Bodensensoren Feuchtigkeitssensoren


kennt mithilfe von Farm- ermitteln die aktuelle messen den
Management-Systemen und Bodenbeschaffenheit jeweiligen
maßgeschneiderten Apps und den Zustand der Wasserbedarf
alle Details seines Hofes. Pflanzen. an ihrem Standort.

Apps für den Acker


Digitalisierung Smart Farming wird die Landwirtschaft stärker verändern als
die Erfindung des Treckers. Es gibt Apps zur Unkrauterkennung und Bodensensoren,
die den Nährstoffgehalt messen. Die Agrokonzerne wittern ein Milliardengeschäft.

W
enn Ludwig Wreesmann auf den in dem sich die Tiere frei bewegten. Und Was Wreesmann macht, nennt sich
Trecker steigt, ist er raus. Dann Ludwig Wreesmann stellte sich 1982 seinen Smart Farming, digitalisiertes Ackern also.
setzt bei ihm Tiefenentspannung ersten Computer ins Büro. „Ich war so ’ne Es gilt als nächster großer Sprung in der
ein. Neulich etwa, da brachte er die Win- Art Nerd vom Dienst“, sagt er. Landwirtschaft, als eine Revolution, die die
tergerste aus. Es war ein nebliger Morgen, Die Floppy Disks seines alten Commo- Branche mehr durchpflügen wird als die
Wreesmann lehnte sich zurück und hörte dore-Rechners liegen noch immer in Erfindung des Treckers vor 125 Jahren. Es
Edvard Griegs „Morgenstimmung“ – wäh- Wreesmanns Regal. Sie ersetzten damals geht diesmal um künstliche Intelligenz, Prä-
rend die GPS-gesteuerte Maschine die Kör- die sperrigen DIN-A3-großen Ackerkarten, zision und Daten: Sensorbestückte Hals-
ner zentimetergenau ins Feld drückte. auf denen er mit Bleistift die ausgebrachte bänder geben dem Landwirt Aufschluss
„Herrlich“, sagt er. Frucht und jede Gülle- und Pestizidbe- über die Aktivität seiner Kühe. Acker-Al-
Wreesmann hat feine Hände, trägt Voll- handlung notierte. Die Zettel brauchte er gorithmen sollen dafür sorgen, dass Pesti-
bart und Brille, setzt sich für Kinder aus nun nicht mehr, und bald konnte er mit zide punktgenau nur da versprüht werden,
Tschernobyl ein und organisiert klassische seinem Programm nach der Ernte sogar wo sie nötig sind. Lange wurden die Felder
Konzerte. Der typische Bauer ist er wohl den Erlös pro Acker berechnen. im Übersoll benebelt: 50 Prozent des Dün-
nicht, aber auf Konventionen haben sie Heute hat Wreesmann seinen Betrieb gers und bis zu 90 Prozent der Pestizide
nie viel gegeben, die Wreesmanns aus dem über eine Handy-App im Blick. Sie zeigt verfehlten ihr Ziel, ergaben Studien. Um
niedersächsischen Friesoythe. ihm für jedes Feld eine Anbauübersicht. Er solche Nebenwirkungen zu reduzieren,
Bereits vor 90 Jahren baute sein Groß- kann einen Pflanzenschutzwarndienst da- wird die Landwirtschaft minimalinvasiv ar-
vater einen Hühnerstall mit den damals zuschalten, der ihm auf Basis von Geodaten beiten müssen – filigrane Fotosensorik und
schwindelerregenden Ausmaßen von sechs rät, wann er Pestizide spritzen sollte. Er Apps, die Unkräuter erkennen können, sol-
mal zehn Metern. Im Jahr 1963 ließ sein könnte auch automatisch Verkaufsangebote len dem Landwirt das Leben erleichtern.
Vater die Kühe frei und ersetzte die An- für sein Getreide abgeben, wenn der Preis Vor allem aber tut sich ein riesiger
bindehaltung durch einen Boxenlaufstall, über eine von ihm gewählte Schwelle steigt. Markt auf, Hunderte Start-ups bieten be-
68 DER SPIEGEL 42 / 2017
Wirtschaft

Melkroboter Sender
werden von den Kühen aktiviert. Die Maschinen an den Nutztieren schlagen Alarm, wenn sich der
waschen und desinfizieren die Euter, analysieren Gesundheitszustand eines der Tiere verschlechtert.
Fett- und Eiweißgehalt der Milch und
erkennen frühzeitig Krankheiten.

Dünger, Saatgut und Pestizide


werden exakt nach dem zuvor
errechneten Bedarf dosiert.

Zielgenauer Einsatz
von Pflanzenschutzmitteln
7% Zielgenauer
Monitoring und

3,2
Datamanagement Düngereinsatz
Marktpotenzial 27 %
Milliarden Dollar 15 %
wurden 2016 in Firmen der Digitalisierung: Quelle:
Goldman Sachs
mit digitaler Agrar-
technologie investiert.
Optimale
Bewässerung 240 Mrd. Dollar
Smarte
15 %
Quelle: Agfunder Traktoren 18 %
Optimale
Bepflanzung 18 %

reits ihre Dienste an. Seit 2012 wurden simulationsdaten unterlegt. Inzwischen beitet mit einem Programm von 365Farm-
rund zwölf Milliarden Dollar in Firmen analysiert das Programm Fieldview die Bö- net, einer Gründung des Landmaschinen-
des Digital Farming investiert, die Invest- den und verspricht bei folgsamer Anwen- herstellers Claas. Das Unternehmen wirbt
mentbank Goldman Sachs sieht ein Markt- dung aller empfohlenen Pestizide einen mit „kompromissloser“ Sicherheit. Die
potenzial von 240 Milliarden Dollar. höheren Ertrag. Die Amerikaner ködern Server, sagt Wreesmanns Farmnet-Berater,
Noch sind das kleine Firmen wie Farm- mit einem kostenlosen Basismodell. Wer stünden bei einem deutschen Dienstleister,
facts bei Passau. Die Deutschen haben genaue Daten zum Düngemitteleinsatz ha- es gelte deutsches Datenschutzrecht.
Drohnenflüge gegen den Maiszünsler- ben will, zahlt rund 750 Dollar im Jahr. In Er nennt seine Firma allerdings auch
Schädling im Programm. Ihre Kopter be- wenigen Wochen soll Fieldview in Europa „Drehscheibe“, man sammle heute Daten
laden sie mit Schlupfwespeneiern, die ge- präsentiert werden. Den Bauern erleichte- und wisse noch gar nicht, wofür man sie
zielt abgeworfen werden. Die ausgewach- re das Programm vor allem die Dokumen- mal brauche.
senen Insekten legen ihre Eier dann in die tationspflichten, wirbt Mike Stern, Chef Womöglich meint der Berater all die Ap-
Gelege des kleinen Zünsler-Schmetterlings, von Climate Corporation. plikationen, die man auf der Farmnet-Platt-
die dadurch zerstört werden. Ähnlich wie Monsanto versuchen auch form dazubestellen kann, unabhängig von
Aquaspy aus Kalifornien liefert Infor- Unternehmen wie John Deere oder Bayer Claas. Für solche Anwendungen wird
mationen aus der Unterwelt. Die Ameri- nicht mehr nur Landmaschinen oder Che- Wreesmann einiges preisgeben müssen.
kaner arbeiten mit Bodensensoren, die mikalien zu verkaufen, sondern Software- Und wenn er dann die App aktiviert, die
dem Landwirt Aufschluss über die Feuch- plattformen fürs Hofmanagement zu ent- ihm sagt, zu welcher Stunde er welches
tigkeit und den Nährstoffgehalt seiner Fel- wickeln. Sie werden zu Datensammelstel- Feld am besten mit welchem Produkt be-
der geben. Sie würden „der Pflanze zuhö- len, und das soll sich auszahlen: Je mehr arbeiten soll, dann werden seine Daten
ren“, heißt es bei Aquaspy. Informationen über Böden, Wetter und lo- längst auf Wanderschaft gegangen sein.
In den sogenannten Agtech-Buden ar- kales Unkrautaufkommen sie bündeln, Aus Landwirten etwas herauszukitzeln
beiten bisher nur wenige Dutzend Men- desto zielgerichteter können sie den Land- gilt allerdings als schwierig. Was etwa an
schen. Doch die von ihnen entwickelten wirten ihre Produkte unterjubeln. Dünger und Herbiziden auf jedem Hof
Systeme locken die Großen. Bereits 2013 Die Landwirtschaft 4.0 wird Geschäfts- rein- und rausgeht, halten viele noch im-
brachte sich Gentechgigant Monsanto in modelle verändern. Und Bedenken erzeu- mer auf Papier fest – der schnelle digitale
Stellung: Für knapp eine Milliarde Dollar gen, denn die große Frage ist auch hier: Umbruch ist bislang nicht in Sicht.
übernahmen die Amerikaner die Firma Wem gehören all diese Daten? Und: Wie Eine Studie der Unternehmensberater
Climate Corporation, die als Vorreiter des sicher sind sie? von PwC ergab, dass 76 Prozent der be-
Smart Farming gilt. Zwei frühere Google- Monsanto versichert, die Daten blieben fragten Landwirte die hohen Kosten digi-
Mitarbeiter hatten das Start-up als Wetter- im Besitz der Bauern. Doch wer soll das taler Technologien scheuen und 54 Prozent
Versicherung für Fahrradverleiher gegrün- kontrollieren? unsicher sind, ob das Investment sich lohnt.
det. Später wurden Millionen amerikani- Bei ihm falle „ein ganzer Wust von Da- Bei aller Euphorie herrscht deshalb auch
scher Äcker kartografiert und mit Wetter- ten an“, sagt Landwirt Wreesmann. Er ar- eine gewisse Nervosität unter den Soft-
DER SPIEGEL 42 / 2017 69
Wirtschaft

wareanbietern. Viel Geld wird mit dem di- men. Was allerdings noch nicht optimal
gitalen Farmmanagement derzeit noch funktionierte, das System konnte noch
nicht verdient. Aber es geht jetzt darum, nicht zwischen Mais und Melde-Unkraut
wer in Europa den Standard setzt. unterscheiden, „der Trecker fuhr dauernd
Als das Berliner Start-up Trecker.com aus der Spur“.
auf der Messe Agritechnica damit warb, Doch egal, ob im Biolandbau oder der
die „einfachste Software der Landwirt- konventionellen Landwirtschaft, klar ist:
schaft“ zu bieten, kassierte es von Claas Das Arbeiten wird sich radikal verändern,
eine Abmahnung und musste noch auf der die Landwirtschaft der Zukunft wird aus
Messe den Stand umdekorieren. einigen Bauern Manager machen, die ih-
Mit Climate Corp, der Monsanto-Toch- ren Betrieb vom Tablet aus lenken, die we-
ter, kommt jetzt ein Schwergewicht auf der Blaumann tragen noch Schwielen an
den europäischen Markt: Die Amerikaner den Händen haben.
wollen nicht weniger als „das Apple der Dabei wird es nicht nur Gewinner ge-
Landwirtschaft“ werden. Auch das ist ein ben. Die Digitalisierung der Landwirt-
Grund, warum Bayer bereit ist, astro- schaft wird den Strukturwandel auf dem
nomische 66 Milliarden Dollar für die Land beschleunigen, das Wachsen oder
Übernahme von Monsanto zu zahlen. Weichen. Große Betriebe, die sich die Di-
Klappt die, soll die digitale Sektion des gitalisierung leisten können, werden ex-
neuen Multis im Silicon Valley angesiedelt pandieren, kleine verschwinden.
werden. Betriebe wie der von Jakob Rauchen-
Noch allerdings residiert Bayers Digital berger am Rande von Lenggries in Ober-

FLORIAN GENEROTZKY / DER SPIEGEL


Farming GmbH im grauen Gewerbegebiet bayern vielleicht. Schon vor Jahren hat
von Münster. 90 Mitarbeiter um Chef Rauchenberger die Milchviehhaltung auf-
Andree-Georg Girg kümmern sich hier gegeben, sie rechnete sich nicht mehr. Ge-
um Dinge wie „Smart Spraying“. In dem blieben sind ihm 13 Kühe. Er melkt sie
Kooperationsprojekt mit Bosch sollen Ka- nicht, sondern hält sie mit Kälbern und ei-
merasensoren Nutzpflanzen von Unkraut nem Bullen auf Hängen, die so steil sind,
unterscheiden. Intelligente Applikations- dass sein Allradjeep kaum hinaufkommt.
technik sorgt dann dafür, Herbizide ganz Landwirt Rauchenberger Ein Hinterwäldler, könnte man meinen.
gezielt auszubringen – über einzelne Dü- Keine Kultur, sondern eine Zumutung Einer, der das Läuten nicht gehört hat.
sen in den mitunter 40 Meter breiten Aber wer weiß? Vor wenigen Wochen
Spritzgestängen. Bei John Deere wird so- ming übertragen“, sagt Martin Häusling, hat Rauchenberger auf einer Messe in Süd-
gar an einer Kameratechnik gebastelt, die Agrarexperte der Grünen in Brüssel. Häus- tirol eine Mähmaschine vorgeführt, die er
unterschiedliche Krankheiten der einzel- ling gehört zur Gründergeneration der selbst verfeinert hat. Das drei Meter lange
nen Pflanze erkennen und darauf mit ei- Partei und ist eine Art natürlicher Wider- Mähwerk kann er per Funksteuerung un-
ner gezielten Dosis Pestizid reagieren part der konventionellen Agrarindustrie. bemannt über die Wiesen rattern lassen.
kann. Bis allerdings die Bilder so schnell Die Digitalisierung, sagt er, lenke von den Verschwindet es hinter einer Kuppe, hilft
verarbeitet werden, dass die Schlepper eigentlich wichtigen Themen wie Arten- ihm die Kamerasteuerung, die er installiert
nicht in Zeitlupe über die Felder schlei- schwund ab. „Man versucht Probleme zu hat. Rauchenberger, ausgestattet mit grü-
chen müssen, wird es noch ein paar Jahre lösen, die man mit einer anständigen und nem Filzhut und Walrossschnauzer, sitzt
dauern. natürlichen Landwirtschaft nicht bekom- dann meist am Feldrand, guckt zu und hört
Girg spricht von Bayers Beitrag zur men hätte.“ Musik des Zillertaler Edelweiß Trios. „Mit
Welternährung, von „Healthy Fields“ und Mit „anständig“ meint Häusling den Ein- Hand wäre ich vielleicht etwas schneller,
von einer App namens „Weedscout“, ei- satz robuster Sorten, die auch mal einen aber es wäre nicht so gemütlich.“
nem Unkrauterkenner: Man schickt ein kleinen Befall überstehen und nicht von Seinen Kühen hat er die Glocken abge-
Bild und bekommt ein Ergebnis. Und Bay- Anfang an auf die „Medizin der Chemie“ nommen, was viele in Lenggries als Kul-
er? Bekommt eine Unkraut-Weltkarte – angewiesen sind. Auch um die Einhaltung turbruch sehen. Das sei keine Kultur, son-
quasi umsonst. „Wir generieren Daten und von Fruchtfolgen gehe es. Auf zwei Drit- dern eine Zumutung, findet Rauchenber-
können damit unseren ,Field Manager‘ op- teln der deutschen Ackerflächen herrscht ger: „Ich will auch keine Glocke um den
timieren“, sagt Girg. Und dann natürlich heute eine Monotonie aus Mais, Weizen Hals.“ Findet er die Kühe auf den verwin-
entsprechende Angebote machen. Hun- und Gerste. Zwischenfrüchte wie Rauhafer, kelten Feldern nicht sofort wieder, lässt er
derttausende Fotos aus 65 Ländern sind Klee und Lupine, die weniger Umsatz brin- eine Drohne steigen.
seit dem Start im vergangenen Oktober gen, aber die Böden schützen, wisse kaum Smart Farming? „Da gehör ich wohl
auf dem Server eingegangen. noch ein Landwirt anzubauen. nicht dazu“, sagt der Landwirt.
Was Girg nicht sagt: Das Unkrautpro- Er sei kein Technikfeind, sagt Häusling. Dabei hat er sie genau genommen alle
blem hat seine Branche selbst mit gezüch- Erfindungen wie kleine Sä-Roboter, die überlistet: Die Industrie frickelt seit Jahren
tet. Sogenannte Super-Weeds, multiresis- etwa der Landmaschinenhersteller Fendt an unbemannten Landmaschinen und
tente Pflanzen wie vielerorts der Acker- entwickelt, könnten auch in der Ökoland- kommt über Prototypen kaum hinaus. In
fuchsschwanz, sind das Ergebnis des Trau- wirtschaft helfen. Eine Präzisionshack- Lenggries auf dem Hintergraberhof aber
mes einer Landwirtschaft, in der man nur maschine sei dieses Jahr auch auf seinem drehen sie längst ihre Runden.
kräftig genug spritzen muss, um alles „sau- heimatlichen Betrieb zum Einsatz gekom- Nils Klawitter
ber“ zu bekommen. Doch so einfach ist men. Früher habe hinten auf dem Hänger
es nicht. noch jemand draufgelegen, um das Un- Video: Der vollautomatische
„Konzerne wie Bayer geben sich ge- kraut zu eliminieren, nun sollte den Job Mähdrescher in Aktion
läutert und nachhaltig, tatsächlich aber ha- die mit intelligenter Kameratechnik ver- spiegel.de/sp422017landwirtschaft
ben sie ihre alte Denke auf das Smart Far- bundene automatische Hacke überneh- oder in der App DER SPIEGEL

70 DER SPIEGEL 42 / 2017


Wirtschaft

Verzettelt und verzwergt


Analyse Der Zustand der deutschen Großbanken spiegelt die Stärke der Volkswirtschaft
nicht annähernd wider. Jetzt helfen nur geduldige Sanierung und europäische Allianzen.

D
eutschlands Banken geben im Herbst 2017 ein trau- merzbank ist zu klein, zu ineffizient, einfach zu mittelmä-
riges Bild ab: Deutschland ist die mit Abstand ßig – und wird daher als Übernahmekandidat gehandelt.
stärkste Volkswirtschaft in Europa, seit bald acht Hinzu kommen weitere Fehler des Managements. Die
Jahren wächst die Wirtschaft ununterbrochen. Doch die deutschen Kreditinstitute haben es in der Vergangenheit
führenden privaten Kreditinstitute, die Deutsche Bank versäumt, rechtzeitig in das Bankgeschäft von morgen zu
und die Commerzbank, scheinen in einem anderen Kos- investieren. Ihre IT ist teils antik und wirkt nach jahre-
mos Geschäfte zu machen. Seit dem Ausbruch der Finanz- langem Wildwuchs lähmend. Um sich in der neuen Welt
krise vor gut zehn Jahren haben die Frankfurter Konzerne digitaler Finanzdienstleistungen vorn zu positionieren,
massiv an Börsenwert verloren, ihre Ergebnisse sind mau. fehlen nicht nur die Mittel, sondern auch an einer klaren
Amerikanische Banken hingegen, damals immerhin Zielvorstellung mangelt es.
Auslöser der Krise, beherrschen wieder unangefochten Und nicht zuletzt hat die Schwäche der deutschen Groß-
die Finanzwelt. Auch die Kreditinstitute aus Frankreich banken strukturelle Gründe. Zwei Drittel des hiesigen
oder Spanien haben sich erholt. Selbst Italiens Unicredit, Bankenmarkts werden von Kreditinstituten beherrscht,
vor Kurzem noch als Pleitekandidat gehandelt, bekundet bei denen die Gewinnerzielung nicht im Vordergrund
nun völlig selbstverständlich Interesse an einer Übernah- steht. Und das verzerrt natürlich den Wettbewerb: Spar-
me der Commerzbank. kassen und Landesbanken gehören dem Staat, hinzu kom-
Was also ist los mit Deutschlands Großbanken? men die Genossenschaftsbanken.
Die Deutsche Bank macht seit Lan- Bleibt die Frage, ob es angesichts
gem vor allem mit Machtkämpfen von dieser Gemengelage einen Ausweg
sich reden. In der aktuellen Runde Aktienkurs gibt. Und wie dieser dann aussehen
sieht das so aus: Vorstandschef John Verluste 11. Oktober 2017 gegenüber könnte.
Cryan mag die Großaktionäre aus 10. Oktober 2007 Deutsche Bank und Commerzbank
Katar und China nicht, diese mögen Deutsche Bank Commerzbank sollten ihre knappen Ressourcen auf
Cryan nicht. Und Aufsichtsratschef Europa konzentrieren. Gerade die
Paul Achleitner lässt nur noch halbher- Deutsche Bank müsste aufgrund ihrer
zig dementieren, dass er auf Distanz Kapitalmarktexpertise, ihrer internatio-
zu dem Mann ist, den er vor gut zwei nalen Verbindungen und des immer
Jahren an der Spitze installiert hat. noch klangvollen Namens in der Lage
Es gilt als wahrscheinlich, dass Cryan sein, mit europäischen Firmen ein aus-
im Frühjahr gehen muss, wenn er bis da- kömmliches Geschäft zu machen. Im
–80,4%
hin nicht die Ertragswende schafft oder
zumindest die Integration der Postbank
–93,5% Privatkundengeschäft wäre mittelfristig
ein Zusammengehen deutscher Insti-
Quelle: Thomson Reuters Datastream
und den Börsengang der Vermögens- tute oder eine gemeinsame digitale
verwaltung auf den Weg bringt. Plattform sinnvoll.
Doch die Sticheleien und Indiskretionen dürfen nicht Um der amerikanischen Übermacht etwas entgegen-
darüber hinwegtäuschen, dass auch ein Chefwechsel die zusetzen, müssen Deutsche Bank und Commerzbank in
tief gehenden Probleme der Deutschen Bank nicht lösen Europa Allianzen oder auch Fusionen suchen. Das ist der
würde. Denn das einstige Vorzeigeinstitut sitzt in einer eigentliche Zweck eines europäischen Binnenmarkts. An-
strategischen Falle: Cryans Vorgänger drehten das große gesichts des aufkommenden Nationalismus wäre es naiv
Rad im Handel mit Anleihen, Währungen und komplexen zu glauben, dass es egal sei, ob amerikanische oder euro-
Derivaten, sie setzten voll auf Amerika, den Kernmarkt päische Banken die hiesige Industrie finanziell versorgen.
für diese risikoreichen Geschäfte. Und wirtschaftlich ist es logisch, ja fast zwingend, dass
In Zeiten niedriger Zinsen und strengerer Kapitalvor- Kreditinstitute aus Club-Med-Staaten wie Spanien, Italien
schriften kann man als europäische Bank damit aber kaum und auch Frankreich sich mit Häusern aus Deutschland
noch in der ersten Liga mithalten, erst recht nicht, weil die zusammentun: Deutsche Banken verfügen über hohe Kun-
Deutsche Bank bei US-Behörden viel Kredit verspielt hat. deneinlagen und profitieren von der hohen Kreditwürdig-
Einen schnellen Ausweg aber gibt es nicht. Die Bank keit des deutschen Staates. Sie können sich daher günstig
ist, anders als etwa die Konkurrenz aus der Schweiz, in finanzieren, ihre Mittel aber im deutschen Markt kaum
der Vermögensverwaltung zu schwach. Und in ihrem lange profitabel verleihen oder anlegen. Bei Banken aus den
vernachlässigten Heimatmarkt liegt sie in wichtigen Dis- Hochzinsstaaten des Südens ist es genau andersherum.
ziplinen hinter der einst belächelten Commerzbank. Natürlich bleibt das Dilemma, dass die deutschen Ban-
Was aber noch lange nicht heißt, dass es um die viel ken mangels Gewicht derzeit als Juniorpartner in eine
besser bestellt wäre. Zwar hat sich die Commerzbank stra- solche Ehe gehen würden. Wollen sie das vermeiden, müs-
tegisch ganz auf das deutsche Privat- und Firmenkunden- sen die Manager an der Spitze erst den mühsamen Weg
geschäft konzentriert – was schlüssiger ist als das Wir- der Sanierung weitergehen. Statt ihre Egos zu pflegen,
können-alles-Modell der Deutschen Bank. Doch die Com- heißt das: arbeiten, arbeiten, arbeiten. Martin Hesse

DER SPIEGEL 42 / 2017 71


DAMIR SAGOLJ / REUTERS
Airbus-Produktion im chinesischen Tianjin: Millionenprovisionen aufgekritzelt auf ein Stück Papier

Pipeline für Schmiergeld


Airbus Die Korruptionsenthüllungen schwächen die Autorität von Konzernchef Tom Enders.
Neue Erkenntnisse aus China nähren die Zweifel an seiner Rolle als harter Aufklärer.

T
om Enders gehört zu den Menschen, er sich getäuscht. Dafür steht zu viel auf Was die Bundesregierung also gar nicht
die einen Termin bekommen, wenn dem Spiel. Machnig erinnerte daran, dass gebrauchen kann, ist ein Airbus der Kor-
sie ihn brauchen. Und diesen Telefon- Airbus für die Bundesregierung nicht ir- ruption; mit schwarzen Kassen, Briefkas-
termin brauchte der Airbus-Chef dringend: gendeine Firma ist, sondern ein Vorbild. tenfirmen in der Karibik, Schmiergeld für
Am Freitagmorgen vergangener Woche Ebenjenes Vorzeigeprojekt, mit dem Euro- Airlinemanager – jenes Airbus, das nun
rief er im Bundeswirtschaftsministerium pa vorführt, wozu es fähig ist – wirtschaft- im SPIEGEL Gestalt annahm. „Airbus
an, um Staatssekretär Matthias Machnig lich, politisch, technisch. muss weiter Klarheit über die Compliance
(SPD) gerade noch rechtzeitig auf schlechte Gerade erst hat die Achse Berlin–Paris mit im Unternehmen schaffen und vollumfäng-
Nachrichten vorzubereiten. der bevorstehenden Fusion der Zugsparten lich mit den Ermittlungsbehörden koope-
Der SPIEGEL werde in ein paar Stunden von Siemens und Alstom ein Airbus der rieren“, sagt Machnig. Seit die Ermittlun-
mit einer Story über undurchsichtige Ge- Schiene geschaffen. Ein Gemeinschaftsunter- gen gegen Airbus 2016 begonnen hätten,
schäfte des Konzerns herauskommen. Ge- nehmen für Panzer gibt es schon, einen neu- übernehme Deutschland genauso wie
schäfte, für die man sich schon bei briti- en Kampfjet haben Kanzlerin Angela Mer- Großbritannien und Frankreich keine De-
schen Behörden angezeigt hatte. kel und Präsident Emmanuel Macron im ckungen für Kreditbürgschaften. Und das
Sollte der Boss des deutsch-französischen Sommer verabredet. Dann ist da noch der dürfte bis auf Weiteres auch so bleiben.
Flugzeugbauers gedacht haben, dass Mach- Traum von einem Airbus für das Internet, „Wenn wir Deckungen übernehmen, muss
nig ihm Trost spenden würde, dann hatte eine Art europäisches Google oder Apple. stets klar sein, dass die international abge-
72 DER SPIEGEL 42 / 2017
Wirtschaft

stimmten Empfehlungen der OECD einge- ebenjenem Turkish-Airlines-Geschäft be- an für zwielichtig gehalten, das Schreiben
halten werden“, stellt Machnig klar. wiesen. Das haben Ermittler im Auftrag stamme nicht von ihm, er habe angeblich
Das Telefonat mit dem Ministerium gab von Airbus herausgefunden. Dabei soll es angewiesen, den Kontakt zu den beiden
Enders einen Eindruck, was ihn in den um eine Zahlung von mehreren Millionen Türken abzubrechen.
Stunden und Tagen danach erwarten sollte: Euro für sie gegangen sein. Allerdings stell- In einer erfolglosen Klage der beiden aus
Investoren, Politiker und Journalisten woll- ten Tapan und Gursoy Airbus diese Sum- dem April 2014 liest sich das ganz anders.
ten wissen, was da noch alles an schlechten me nicht einfach so in Rechnung. Darin fordern die beiden Türken 250 Millio-
Botschaften hochkomme. Wo auf der Welt Stattdessen kamen die Zahlungsauf- nen Euro von Airbus: Durch „hervorragen-
Behörden ermitteln könnten, weil beim forderungen von einer Firma namens de Lobbyarbeit bei Fluggesellschaften sowie
Verkauf von Passagierjets, Militärfliegern Inimeks, hinter der die beiden stehen. Of- durch Kontakte bei diversen leitenden Kom-
oder Sicherheitstechnik wohl mit Beste- fiziell ging es dabei auch nicht um den missionen der Volksrepublik China“ hätten
chungsgeldern nachgeholfen wurde. Flugzeugdeal, sondern um eine „Machbar- die beiden maßgeblich zu einer Absichtser-
Die Börsen rechneten schon mal die er- keitsstudie für das ,Baku-Batumi Pipeline klärung für den Kauf von 160 Flugzeugen
warteten Strafen auf Milliardenhöhe hoch Project‘“. Dahinter verbirgt sich eine Gas- beigetragen. Und die hätte Airbus dank ih-
und schickten den Kurs nach unten, vier pipeline im Kaspischen Meer – mit dem res Einsatzes 2008 dann auch in einen ech-
Prozent minus. Eingepreist waren auch die kleinen Schönheitsfehler, dass ein solches ten Verkaufsvertrag umwandeln können,
Umsatzverluste, die drohen, wenn Airbus Bauwerk nie geplant und nie realisiert schreibt ihr Anwalt in seiner Klageschrift.
als korruptes Unternehmen bei Ausschrei- wurde. Die fiktive Pipeline diente wohl Die beiden fleißigen Türken sollen in
bungen nicht mehr mitbieten dürfte. nur als Vorwand, um Geld aus dem Air- China zudem in besonderer Mission un-
Nun bewahrheitet sich, was Enders im bus-Konzern heraus in dunkle Kanäle zu terwegs gewesen sein. Sie hätten es darauf
Juni dem engsten Kreis seiner Topmanager transportieren. angelegt, all jene Vermittler in China „un-
offenbart hatte: „Wir sind in einer extrem schädlich“ zu machen, die für die Konkur-
gefährlichen Lage“, die Ermittlungen in renz aus den USA, also für Boeing, agiert
England und auch Frankreich hätten gera- Der Fall China zeigt, hätten. Dafür hätten die zwei bedeutende
de erst so richtig begonnen. Selbst „in ei- Geldsummen in die Hand genommen, so
nem optimistischen Szenario wird das min- was hinter der haben die Türken es ihrem Anwalt erzählt.
destens zwei Jahre dauern. Wahrscheinlich glänzenden Fassade des Die Frage ist also: Wie schnell verab-
länger“. Dass Enders nicht nur Teil der Lö- schiedete sich Airbus wirklich von den bei-
sung, sondern auch des Problems ist, räum-
Konzerns möglich war. den? Und: Welche Folgen hatte das?
te er da schon selbst ein: „Es ist nicht so, Denn tatsächlich trennte sich der Kon-
als hätten wir nichts getan, aber wie wir Damit hatten sich Tapan und Gursoy of- zern zwar irgendwann von den beiden Tür-
herausgefunden haben, nicht genug.“ fensichtlich bestens empfohlen, den Welt- ken – allerdings nur, um noch enger mit
Dieser Spruch des markigen Deutschen konzern auch auf dem Milliardenmarkt einem chinesischen Berater weiterzuarbei-
trifft ganz besonders auf das Engagement China zu unterstützen. Ihr alter Airbus- ten, den die Türken ursprünglich einmal
seiner Firma in China zu, das ein Beispiel Freund Barbier brachte sie deshalb mit für Airbus angeworben hatten. Der Chi-
dafür ist, wie Enders in seiner Rolle als einem der mächtigsten Manager des Kon- nese gründete auf den Caymaninseln zwei
Chefaufklärer zumindest glücklos agiert zerns zusammen. Sein Name: Marwan Firmen, denen Airbus viele Millionen Euro
hat. Der Fall, den der SPIEGEL zusammen Lahoud. Der Franzose mit arabischen Wur- an Provisionen gezahlt haben soll. Das fan-
mit seinem französischen Partner Media- zeln ist ein enger Vertrauter von Konzern- den die beiden Türken aber erst später he-
part recherchiert hat, wirft im Moment vie- chef Enders. Lange galt er als ein aussichts- raus, als sie längst aus dem Rennen waren.
le Fragen auf. Klar ist bislang nur, dass er reicher Kandidat für dessen Nachfolge an Doch was führte Airbus mit diesen Ka-
stellvertretend für eine Hauskultur bei Air- der Spitze des Konzerns. ribikfirmen im Schilde? Waren auch sie
bus steht, in der vieles fragwürdig war. Im März 2006 trafen sich die Herrschaf- dafür da, Geld aus dem legalen Geschäfts-
Die Sache mit China hat ihren Ursprung ten erstmals im Fünfsternehotel Raphael kreis von Airbus abzuzweigen? Egal, was
im Jahr 2004. Damals gab es in der Türkei in Paris. Brisant ist daran vor allem, dass die Ermittler am Ende über dieses sonder-
zwei Geschäftsleute, Okan Tapan und Si- Enders seinen Freund Lahoud eigentlich bare Konstrukt herausfinden werden, es
nan Gursoy, die als Berater für Airbus ge- als Aufräumer auserkoren hatte. Ein gutes wird weder Chefaufklärer Enders noch
arbeitet und einen Milliardendeal über den Jahr nach diesen Treffen wurde er zum dessen Firma strahlen lassen. Der Fall zeigt
Verkauf von mehr als 30 Airbus-Maschi- Chef der Konzernsparte EADS Internatio- einmal mehr, was hinter der glänzenden
nen an Turkish Airlines eingefädelt hatten. nal berufen. Das ist jener Firmenteil, den Fassade des Konzerns möglich gewesen ist.
Ihr Auftraggeber war der damalige Türkei- Enders heute als Quelle allen Übels im Als einer der Gesellschafter in den Brief-
Geschäftsführer von Airbus, Dominique Konzern ausgemacht hat. Als „Bullshit kastenfirmen taucht übrigens ein hochran-
Barbier, der nach dem erfolgreichen Ab- Castle“ der Korruption. giger Manager von EADS International in
schluss mit Turkish Airlines befördert wur- Die Personalie Lahoud scheint für En- Paris auf, dem von Enders als „Bullshit
de. Auf den Chefposten in China. ders keine gute Entscheidung gewesen zu Castle“ geschmähten Firmenteil also. In
Das Land war damals kein einfacher sein. Denn der habe sich intensiv um die ihrer Klageschrift äußern die türkischen
Markt für Airbus: politisch undurchsichtig, beiden Türken gekümmert, heißt es aus Berater deshalb noch einen anderen Ver-
kulturell ein einziges Rätsel. Geschäftspart- deren Umfeld. Bei einem der insgesamt dacht, wozu die Offshore-Firmen gedient
ner? Fehlanzeige. „Niemand kannte da- zwei Treffen soll er vermeintliche Provi- haben könnten: wahrscheinlich für „Kick-
mals die Marke Airbus in dem Land“, so sionen für den Verkauf von Flugzeugen back-Provisionen zugunsten von Mana-
beschreibt es ein ehemaliger Topmanager. aufgekritzelt haben: 1,5 Prozent des Prei- gern“ von Airbus.
Barbier brauchte also Berater mit beson- ses sollte es für 50 bis 150 Flugzeuge geben, Immerhin: Hätten sich die eigenen Leu-
deren Fähigkeiten, Typen wie Tapan und von 80 bis 200 Flugzeugen 2,5 Prozent. Ge- te an ihrer Firma bereichert, dann wäre
Gursoy, die schon einmal ihre besondere waltige Erfolgsaussichten bei einem Ge- Airbus auch mal Opfer und nicht Täter.
Qualifikation unter Beweis gestellt hatten. schäftsvolumen von zehn Milliarden Euro. Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
Denn dass die beiden wissen, wie man Lahoud, so verlautet es aus dem Kon- Dinah Deckstein, Gunther Latsch, Jörg Schmitt,
Geldströme verschleiert, hatten sie bei zern, habe Tapan und Gursoy von Anfang Gerald Traufetter

DER SPIEGEL 42 / 2017 73


Wirtschaft

„Aufstehen und weitermachen“


SPIEGEL-Gespräch Janina Kugel, Personalchefin bei Siemens, und Claudia Nemat, Technologievorstand
bei der Deutschen Telekom, über Frauen in Techberufen und das Lernen aus Fehlern

Im Büro von Nemat, 48, gibt es ein eingerahm- SPIEGEL: Heißt das, dass Frauen nicht so durch sein Steuersystem suggeriert: Wir
tes Sprichwort: „Shoot for the moon. Even if gern wieder aufstehen? erwarten von euch eigentlich nicht, dass
you miss, you’ll land among the stars.“ Sowohl Kugel: Nein, überhaupt nicht. Die Frage ist, ihr arbeitet.
Nemat als auch Kugel, 47, haben früh nach ab welchem Zeitpunkt die Öffentlichkeit Kugel: Dazu kommt: Es gibt eine soziale
den Sternen gegriffen – und sind zumindest anfängt, Frauen zu sehen. Wir reden hier Erwartungshaltung an Frauen und Männer,
in den Vorstandsetagen angekommen: Nemat ja gerade nur über die Topführungskräfte. einer bestimmten Rolle gerecht zu werden.
ist Physikerin und seit sechs Jahren Vorstands- Aber es gibt auf all den Ebenen darunter Momentan dominiert ein Frauenbild, in
mitglied der Deutschen Telekom. Davor hat sie viele Frauen, die immer wieder aufstehen dem sich eine Vollzeit arbeitende Frau
lange bei der Unternehmensberatung McKin- und weitermachen. mit Kindern nicht wiederfindet. Das muss
sey gearbeitet. Ende der Achtzigerjahre war SPIEGEL: Wären Ihre Karrieren vor 30 Jah- sich dringend ändern, vor allem, wenn wir
sie die einzige Frau am Institut für Theoreti- ren möglich gewesen? mehr Frauen in Führungspositionen haben
sche Physik und Mathematik in Köln. Kugel ist Nemat: Interessante Frage. Die Schwester wollen. Und dazu gehört, dass auch Män-
als Personalvorstand seit zwei Jahren für die meines Vaters durfte kein Abitur machen ner andere Rollen haben dürfen.
rund 350 000 Mitarbeiter von Siemens zustän- und nicht studieren, weil sie eine Frau war. SPIEGEL: Das ist leichter gesagt als getan.
dig. Nach ihrem Volkswirtschaftsstudium arbei- Mit einem nobelpreisverdächtigen IQ hätte Wie schafft man es, gesellschaftliche Ste-
tete sie ebenfalls als Beraterin, bevor sie 2001 man es auch damals geschafft. Chancen- reotype aufzubrechen und zu verändern?
zu dem Münchner Konzern wechselte. gerechtigkeit ist allerdings nicht dann ge- Nemat: Durch mehr Vorbilder. Inzwischen
geben, wenn ein weiblicher Einstein es fragen kleine Kinder ja, ob man auch als
SPIEGEL: Frau Nemat, Frau Kugel, Sie ge- schafft zu promovieren, sondern wenn ein Mann Bundeskanzler werden könne, weil
hören zu den wenigen erfolgreichen Frau- gut begabtes Mädchen und ein gut begab- sie nur Frau Merkel kennen. Je selbstver-
en in der Techbranche. Haben Sie etwas ter Junge gleichermaßen vorankommen. ständlicher es wird, dass sich in allen Jobs
anders gemacht als andere? Kugel: Wir müssen die Probleme hier in und auf allen Hierarchiestufen Frauen wie
Nemat: Ich war schon immer fasziniert Deutschland allerdings in Relation zu dem Männer finden, desto besser. Diesen kul-
von der Frage, was die Welt im Innersten setzen, was in anderen Ländern Realität turellen Wandel hinzukriegen ist zugege-
zusammenhält. Für mich war es deshalb ist. Es gibt Länder, da bestimmt das Ge- benermaßen schwierig. Denn es lebt sich
eine Selbstverständlichkeit, Physik zu schlecht schon, ob Sie überhaupt zur Welt bequem in Monokulturen, die fühlen sich
studieren. Ich habe nie darüber nachge- kommen dürfen. Ich habe vor Kurzem den gut an. Unser Gehirn liebt Abkürzungen
dacht, ob Frauen technische Berufe aus- Film „Hidden Figures“ gesehen, der von in Form von Stereotypen.
üben können. drei afroamerikanischen Mathematikerin- Kugel: Das ist auch erst mal nichts Schlim-
Kugel: Ich bin ja keine Absolventin eines nen bei der Nasa in den Fünfzigerjahren mes, sondern Teil der Evolution: Hätten
technischen oder naturwissenschaftlichen handelt. Die Frauen hatten ganz andere wir diese Stereotype nicht im Gehirn, hät-
Studiengangs. Ich habe in meinem Berufs- Herausforderungen als die, mit denen wir ten wir nicht überlebt. Wir brauchen ein-
leben trotzdem von Anfang an in Indus- heute kämpfen. Aber der Umgang mit geübte Mechanismen, etwa, wenn wir
triebranchen gearbeitet, in denen es um Frauen zeigt eben ziemlich genau, welchen schnell Entscheidungen treffen müssen.
Produktion und Technologie ging, weil Reifegrad eine Gesellschaft hat. Wichtig ist, dass wir uns dieser Vorurteile
ich das spannend finde. Die Frage, ob ich SPIEGEL: Welchen Reifegrad hat die deut- bewusst sind und sie dann aktiv ändern.
das kann oder nicht, habe ich mir nie ge- sche Gesellschaft denn? Nemat: Diese unbewussten Vorurteile, die
stellt. Ich bin nach dem Prinzip erzogen Kugel: Das können Sie ziemlich genau an „unconscious bias“, werden dann proble-
worden: Wenn man will, dann kann man den Rankings der Industrieländerorgani- matisch, wenn Sie etwas Innovatives schaf-
alles. sation OECD oder des World Economic fen wollen. Wenn es darum geht, in einer
Nemat: Man braucht aber auch Vorbilder. Forum ablesen: Wir liegen nie ganz vorn global vernetzten Welt und einem interna-
Mein Vater hat immer zu mir gesagt: Wenn dabei. Egal, ob es um Lohngleichheit, Frau- tionalen Unternehmen erfolgreich zu sein.
du eine Trillion Mal gegen die Wand läufst, en in der Erwerbstätigkeit, Bildung oder Dann hilft es Ihnen nichts, wenn Ihr Team
kommst du irgendwann durch. Er meinte um Flexibilität geht. aus Menschen besteht, die genauso sind
damit nicht, dass man mit Brachialgewalt SPIEGEL: Was wäre die wichtigste Maßnah- wie Sie selbst. Dann brauchen Sie Men-
versuchen sollte, ans Ziel zu kommen. me, um das zu ändern? schen mit unterschiedlichen Lebensläufen.
Aber er war auch Physiker, und für ihn Kugel: Es wäre schön, wenn es mit einer Das bringt bessere Ergebnisse, weil man
war das eine Anregung, die Quantenphy- Maßnahme getan wäre. Aber im Ernst: Es gezwungen ist, andere Meinungen und an-
sik zu verstehen. geht neben der Veränderung von Schul- dere Erfahrungen zu akzeptieren.
Kugel: Niemand hat Erfolg, wenn er nicht systemen und Kinderbetreuung auch um Kugel: Weder unsere Mitarbeiter weltweit
irgendwann an seine Schmerzgrenzen die steuerlichen Rahmenbedingungen. passen in die gleiche Schublade noch unsere
geht. Mit Leichtigkeit wird man nicht SPIEGEL: Sie spielen auf das Ehegattensplit- Kunden und Absatzmärkte. Sie müssen ein
Olympiasieger, Chefarzt oder Topmanager. ting an. Team haben, das die globalen Unterschiede
Irgendwann kommt die Wand, da prallt Kugel: Natürlich, aber nicht nur. kennt und richtig bewerten kann.
man ab. Aber dann muss man wieder auf- Nemat: Diese Art der Besteuerung fördert Nemat: Volvo hatte ein Problem außerhalb
stehen und weitermachen. eine ungleiche Rollenverteilung. Klar, wir des Heimatmarktes, weil der Konzern Au-
brauchen mehr Investitionen in Infra- tos für Wikinger entwickelt hat. Die gibt
Das Gespräch führte die Redakteurin Susanne Amann struktur und in Ganztagsschulen. Aber das es aber nicht überall auf der Welt. Gleiches
in Köln. hilft alles nichts, wenn der Staat Frauen gilt für Microsoft: Da haben weiße Männer
74 DER SPIEGEL 42 / 2017
CHRISTOPH PAPSCH / DER SPIEGEL
Managerinnen Nemat, Kugel: „Je selbstverständlicher es wird, auf allen Hierarchiestufen Frauen wie Männer zu finden, desto besser“

mit großen Händen versucht, eine Spiele- Kugel: In Deutschland wird Diversität bis- Frauen auch erwünscht“, wird sich keine
konsole für Asien zu entwickeln. Das hat lang nur über das Geschlecht definiert, Frau melden. Wenn Sie aber schreiben:
auch nicht funktioniert. wahrscheinlich muss man mal mit irgend- „Produktentwickler gesucht, wir erwarten
Kugel: Diese Fehler dürfen wir jetzt, wo etwas anfangen. Aber Diversität ist so viel den Willen und die Leidenschaft, sich ein-
mit der Digitalisierung die nächste indus- mehr. Und schon da zeigt sich, wie müh- zuarbeiten“, spricht das gleichermaßen
trielle Revolution ansteht, nicht wieder- sam es ist, mit Menschen zu arbeiten, die Frauen wie Männer an.
holen. Wir kämpfen mit dem Problem, die nicht so ticken, nicht so reden, nicht so SPIEGEL: Das heißt aber, dass Sie Frauen
unbewussten Vorurteile aus den Program- denken wie ich. Aber das, was am Ende gezielt ansprechen, weil Sie ein Nach-
mierungen rauszukriegen. dabei rauskommt, ist immer besser. wuchsproblem haben.
SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären. SPIEGEL: Unternehmen verändern sich dann, Nemat: Nein, bei der Telekom sind wir in
Kugel: Nehmen Sie Spracherkennungssoft- wenn sie müssen. Setzen Siemens und die dieser Frage Überzeugungstäter. Weil wir
ware: Männliche Stimmen haben andere Telekom deshalb auf Diversität? sehen, dass unsere Produkte von Frauen
Tonlagen, Männer haben andere Satzstel- Nemat: Die Telekom hat schon 2010 eine Quo- wie von Männern gekauft werden, weil
lungen und Inhalte. Künstliche Intelligenz te von 30 Prozent für Frauen in Führungsposi- wir internationale Märkte bedienen, weil
darf aber nicht darauf aufbauen, weibliche tionen eingeführt, damals unter René Ober- wir für Kommunikation stehen.
Stimmen komplett außen vor zu lassen. mann und seinem Personalchef Thomas Kugel: Und weil wir nicht auf die Hälfte
SPIEGEL: Aber das ist doch eine Frage der Sattelberger. Wir sind jetzt bei 25 Prozent, der Bevölkerung verzichten wollen. Wir
Algorithmen? haben unser Ziel also noch nicht erreicht. haben das Thema Diversität schon 2009 in
Nemat: Genau – und da finden Sie längst Aber wir haben uns verändert, suchen mit den Fokus genommen …
Beispiele für unbewusste Vorurteile. Es anderen Rastern nach Führungskräften, un- SPIEGEL: … nachdem der damalige Siemens-
gibt zum Beispiel Gesichtserkennungssoft- sere Headhunter schauen gezielt nach Frau- Chef Peter Löscher erklärt hatte, das Sie-
ware, die Gesichter glättet und damit an- en. Wir haben außerdem ein Programm für mens-Management sei „zu weiß, zu
geblich schöner macht. Wer aber bestimmt, die Qualifizierung von Aufsichtsräten, in deutsch, zu männlich“?
was schön ist? In diesem Fall der Program- dem in der ersten Runde nur Frauen waren. Kugel: Das Zitat verfolgt uns. Aber Sie ha-
mierer – und der ist bisher meistens weiß SPIEGEL: Entschuldigung, aber warum müs- ben recht: Löscher war persönlich davon
und männlich. Das ist das Fatale: Wenn sen Frauen für ihre Posten immer erst qua- überzeugt, dass Diversität wichtig ist, er
Müll reinkommt in den Algorithmus, lifiziert werden, während Männer es im- hat das in das Unternehmen hineingetra-
kommt auch Müll hinten raus. mer schon zu können scheinen? gen. Wenn all diejenigen, die immer sagen,
SPIEGEL: Also braucht es mehr weibliche Nemat: Wir glauben, dass Aufsichtsräte ins- dass Diversität wichtig ist, es auch wirklich
Programmierer? gesamt besser qualifiziert sein sollten, und vorleben würden und die Rahmenbedin-
Nemat: Nicht nur weibliche. Eine aktuelle schulen deshalb alle. Weil ich aber von gungen schafften, die notwendig sind, wä-
Studie der TU München zeigt, dass es auf Männern immer höre, dass es keine guten ren wir schon weiter. Nicht umsonst heißt
Vielfalt in vier Bereichen ankommt, wenn Frauen gibt, dachte ich: So, dann fangen es ja „walk the talk“. Nichts ist schlimmer,
man innovationsfähiger werden will. Die wir eben mit den Frauen an. Interessant als im eigenen Tun von dem abzuweichen,
Herkunft ist wichtig, die Unterschiedlich- ist auch, wie Personalsuche funktioniert. was man verbal ankündigt, oder hinter ge-
keit der Lebensläufe, die fachliche Aus- Wenn in einer Anzeige steht: „Ingenieur schlossenen Türen eine andere Meinung
richtung und das Geschlecht. mit langjähriger Berufserfahrung gesucht, zu vertreten.
DER SPIEGEL 42 / 2017 75
Wirtschaft

SPIEGEL: Aber hat das tatsächlich mit Viel- Innovation auch ein Schlagwort. Was be-
falt zu tun? Geht es am Ende nicht um die deutet der Begriff für Sie konkret?
SPIEGEL-Gespräche Frage, was gute Führung ist? Nemat: Produkte produzieren, die Men-
Nemat: Es geht um Führungskultur. Die schen in der ganzen Welt begeistern.
live im Bucerius digitale Transformation ist eine kulturelle Kugel: Und die es vorher noch nicht gab.
Revolution: weniger Hierarchien, mehr SPIEGEL: Wie schafft man es, dass Innova-
Kunst Forum Zusammenarbeit über Funktionen hinweg. tion nicht nur in Powerpoint-Präsentatio-
Für Konzerne ist das eine Herausforderung, nen vorkommt, sondern auch in der Rea-
weil es Prozesse gibt, die so präzise wie in lität gelebt wird?
Die Kelten. der Vergangenheit funktionieren müssen. Kugel: Man muss die notwendigen Freiräu-
Fürsten, Druiden und viele Wenn auf die Telekom ein Cyberangriff me geben und klarmachen, dass niemand
Geheimnisse läuft, können wir nicht erst mal am Flip- beim ersten Versuch erfolgreich sein muss.
chart Ideen sammeln, was man machen Nemat: Manchmal ist die Häufigkeit, mit
könnte. Gleichzeitig müssen wir in vielen der Innovation auf Powerpoint-Folien auf-
Bereichen experimentieren, weil wir nur taucht, umgekehrt proportional zur eigent-
durch Versuch und Irrtum weiterkommen. lichen Innovationskraft.
Die Kunst der Führung besteht darin, diese SPIEGEL: Weil alle mit dem Erstellen der
Prozesse so zu organisieren und mit dem Powerpoints beschäftigt sind.
Menschen so umzugehen, dass die klas- Nemat: Und weil vor lauter Präsentationen
sische Welt und die moderne Welt jeweils die Zeit fehlt, tatsächlich etwas auszupro-
für sich, aber auch miteinander funktio- bieren. Das Gras wächst nicht schneller,
nieren. wenn ich daran ziehe. Und es wächst ga-
Kugel: In jeder wirtschaftlichen Evolution rantiert nicht, wenn ich darauf herum-
muss sich auch das Führungsverhalten ver- trample. Vor einiger Zeit habe ich wieder
ändern. Digitalisierung ohne veränderte gelesen, dass ein Konzernchef mit seiner
Führung wird nicht gelingen. Aber bislang Führungsmannschaft ins Silicon Valley ge-
steht am Anfang jeder Erfindung ein flogen ist und dort eine neue Tschakka-
Dr. Axel Posluschny Mensch. Deshalb kann man technologi- Kultur verordnet hat. Da habe ich gedacht:
sche und kulturelle Entwicklungen nicht Das ist wirklich das genaue Gegenteil des-
von Menschen trennen. sen, was man machen muss.
Wer waren die Kelten? Wie lebten sie? Nemat: Wir brauchen deshalb vor allem Kugel: Konzerne wie Siemens und die Te-
Woran glaubten sie? Der Archäologe Menschen, die keine Angst vor Technik lekom brauchen gewisse Strukturen, um
Dr. Axel Posluschny leitet das haben. Dafür ist es wichtig, dass wir in der führbar zu sein. Wir haben ja jeweils meh-
Forschungszentrum der Keltenwelt Schule die Neugierde wecken – etwa fürs rere Hunderttausend Mitarbeiter. Aber wir
am Glauberg in Hessen. Im Gespräch Codieren. Rund zwei Drittel der Kinder, müssen Möglichkeiten abseits dieser Struk-
mit SPIEGEL-Redakteurin Eva-Maria Schnurr die heute in die Grundschule kommen, turen schaffen. Siemens hat hundert Mil-
erläutert er, was Forscher heute über werden in Jobs arbeiten, die es noch gar lionen Euro für einen Innovationsfonds be-
die europäische Kultur der Eisenzeit wissen. nicht gibt. Ich empfinde das aber nicht als reitgestellt: Wenn ein Mitarbeiter eine Idee
Problem. Um meine Lieblingsphysikerin hat, damit bei seinem Vorgesetzten aber
Marie Curie zu zitieren: Es gibt nichts zu nicht durchkommt, kann er sie bei einem
Dienstag, 17. Oktober 2017 fürchten, sondern nur zu verstehen. unabhängigen Gremium einreichen.
Bucerius Kunst Forum, SPIEGEL: Ihre Forderung nach besserer Bil- SPIEGEL: Und das funktioniert?
Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg dung in allen Ehren. Sie ist aber seit Jahr- Kugel: Ich war am Anfang auch neugierig,
zehnten Bestandteil jeder Sonntagsrede. ob viele der dort vorgestellten Ideen tat-
Verzweifeln Sie nicht daran, dass es trotz- sächlich Geld bekommen. Nun bin ich be-
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und in allen dem noch so viele Probleme gibt? kehrt: Es sind bislang über 80 Prozent.
bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich. Kugel: Nein, ich verzweifle nicht. SPIEGEL: Die Chefs nehmen das ihren Leu-
Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt
Nemat: Ich schon! Es ist eine Frage des ten nicht übel?
am Veranstaltungstag zum Besuch der
Glücks, ob man im Alter von zehn Jahren Kugel: Es gibt einen erzieherischen Effekt.
Ausstellung „Die Geburt des Kunstmarktes.
Rembrandt, Ruisdael, van Goyen und die
auf Lehrer trifft, die beim Thema Digitali- Wenn ich als Chef eine Idee erst abgelehnt
Künstler des Goldenen Zeitalters“ sierung zumindest über Basiswissen ver- habe und dann noch schlecht über sie rede,
(23. September 2017 bis 7. Januar 2018). fügen. Man muss kein Anhänger des hum- wenn sie durch einen zentralen Fonds fi-
boldtschen Bildungsideals sein, um das für nanziert wird, disqualifiziere ich mich
Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von einen Skandal zu halten. doch doppelt. Da ist es viel angenehmer,
19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste Kugel: Einverstanden. Besonders schlimm als Chef zu sagen: Toller Mitarbeiter, tolle
geöffnet. Änderungen vorbehalten. finde ich, dass es in Deutschland noch im- Idee – und ich lass beide gedeihen.
mer stark vom Elternhaus abhängt, wel- Nemat: Was auch hilft, um beim Thema Inno-
chen Schulabschluss man macht. Leider vation voranzukommen, sind Fuck-up-Days.
wird dieses Problem auf politischer Ebene SPIEGEL: Fuck-up-was?
BUCERIUS oft einfach ignoriert. Und wer keinen Nemat: Fuck-up-Days. Da wird dann über
K U N S T Schulabschluss hat, wird auch keine Be- alle Dinge gesprochen, die schiefgelaufen
FORUM rufsausbildung machen können. Aber ge- sind. Nicht in dieser Du-bist-schuld-Kultur,
nau das ist wichtig, wenn Deutschland sondern in dem Sinne, gemeinsam heraus-
auch in der nächsten industriellen Revolu- zufinden, was das Unternehmen aus den
tion Führung übernehmen möchte. gemachten Fehlern lernen kann.
SPIEGEL: Innovationskraft ist gerade für Un- SPIEGEL: Frau Kugel, Frau Nemat, wir dan-
ternehmen wie Ihre wichtig. Allerdings ist ken Ihnen für dieses Gespräch.
76 DER SPIEGEL 42 / 2017
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Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Medien

„Es ist doch nichts passiert“


Sexismus Der Hollywoodproduzent Harvey Weinstein soll viele Jahre lang Frauen
missbraucht haben – das liberale Amerika ist geschockt. Eine Geschichte über
Schweigen, Scham und den Chauvinismus mächtiger Männer, nicht nur in den USA.

STEVE FORREST / INSIGHT / PANOS PICTURES / VISUM

Filmmogul Weinstein 2004: Eine 120-Kilogramm-Egomaschine

78 DER SPIEGEL 42 / 2017


H
arvey Weinstein war ein mächtiger „Ich finde es bemerkenswert, dass jede „Ich war ein Kind“, sagte Gwyneth Pal-
Mann, und was das bedeutete, das dieser Enthüllungen so überraschte Reak- trow, „ich hatte einen Vertrag, ich war wie
ließ der amerikanische Filmprodu- tionen auslöst“, sagt Teresa Bücker, Chef- versteinert.“
zent, eine 120-Kilogramm-Egomaschine, redakteurin des Onlinemagazins Edition „Ich habe mit Harvey Weinstein schlech-
ganz besonders die Frauen wissen, die F und eine Vertreterin des jungen deut- te Erfahrung gemacht, als ich jung war,
„sein Typ“ waren. schen Feminismus. Sexuelle Übergriffe am und habe deshalb nie mehr mit ihm ge-
Es war wohl fast immer die gleiche Num- Arbeitsplatz oder in anderen Situationen arbeitet und auch andere davor gewarnt“,
mer, und die Verführungskunst dieses Be- seien kein Relikt einer eigentlich längst sagte Angelina Jolie. „Dieses Verhalten
sessenen mit dem Charme eines Betonmi- vergangenen Zeit, Alphamänner mit sexu- Frauen gegenüber ist inakzeptabel, in je-
schers auf Hochtouren beschränkte sich ellem Anspruchsdenken seien nicht ausge- dem Metier, in jedem Land.“
dabei offenbar oft aufs Betteln und Dro- storben wie die Dinosaurier. Für das kulturelle Amerika ist der Fall
hen: Mach mit, oder du kannst deine Kar- „Es ist ein Trugschluss, sexuelle Gewalt Weinstein eine Heimsuchung, weil da ei-
riere vergessen. in einer bestimmten Zeit oder in einem ner der ihren, eine Leuchtfigur des libera-
Er bestellte die Frauen, meistens jüngere bestimmten Milieu zu verorten“, sagt Bü- len Teils des Landes, ein Unterstützer und
Schauspielerinnen, unter einem Vorwand cker. Vielmehr handle es sich nach wie vor Großspender der Demokraten, als Alpha-
in seine Hotelsuite oder sein Büro – ein um ein strukturelles Problem, das Hun- mann aus der Hölle entlarvt wird. Und das
Drehbuch oder eine Rolle oder sonst ein derttausende Frauen betreffe. Der einzige in einer Zeit, in der ein Sexist und stolzer
Karriereversprechen –, dann ließ er sich Unterschied: Übergriffe und Belästigung Frauenbegrapscher Präsident der USA ist
von ihnen nackt massieren, oder er mas- kämen heute eher an die Öffentlichkeit. und die geilen, alten Männer fast im Wochen-
turbierte vor ihnen, oder er duschte vor rhythmus fallen – die konservativen Me-
ihnen, oder er fasste sie an den Busen und dienmacher Roger Ailes und Bill O’Reilly
wunderte sich, dass sie das nicht so normal Die Abgründe des etwa oder die Comedylegende Bill Cosby.
fanden wie er. Alles, sagt seine Anwältin, Die Abgründe des Landes, auch das er-
sei einvernehmlich geschehen. Landes, auch das erzählt zählt der Fall Weinstein, lauern nicht nur
Oder er soll sie, das ist in mindestens der Fall, lauern nicht in Donald Trump.
drei Fällen der Vorwurf gegen Weinstein, Weinstein wurde groß in der Ära Bill
vergewaltigt haben. Er selbst bestreitet die
nur in Donald Trump. Clintons, der sich selbst in sexueller Hin-
Anschuldigungen. sicht den Ruf eines Raubtiers erarbeitet
„Es ist doch nichts passiert“, soll er eine Es ist allerdings ein Unterschied mit Fol- hat. Es waren die Neunzigerjahre, diese
französische Schauspielerin beschwichtigt gen: Täter wie Weinstein bezogen und be- Männer waren jung, sie waren hungrig und
haben, die seinen üblichen Komm-in-mein- ziehen ihre Macht ja gerade aus dem kannten wenig Skrupel. Clinton veränder-
Zimmer-Trick ablehnte. „Das ist doch nur Schweigen der Opfer, aus deren Scham. te Amerika, in vielem aus heutiger Sicht
wie in einem Walt-Disney-Film.“ Noch vor ein paar Jahren konnten sie sich nicht zum Besseren, was etwa die rigorose
„Oh“, soll er eines seiner Opfer ange- sicher sein, dass ihr Verhalten nicht heraus- Strafverfolgung angeht, die vor allem
blafft haben, „die Mädchen sagen immer kam, dass alle schwiegen. Schwarze traf, oder die gesellschaftliche
Nein. Sie sagen Nein, Nein. Aber wenn Heute muss sich Harvey Weinstein in Spaltung, die damals an Fahrt gewann.
sie ein paar Biere getrunken haben, stür- aller Öffentlichkeit verantworten für das, Und Weinstein verwandelte die Film-
zen sie sich auf mich.“ was er heimlich getan hat. Und jetzt ist er industrie. Er und seine Produktionsfirma
Und nachdem er die damals 21 Jahre es, der sich schämen muss. Miramax standen für das andere, das wage-
alte Schauspielerin Asia Argento miss- Doch es hat lange gedauert, bis es dazu mutige, das bessere Kino, das Kino jenseits
braucht haben soll, indem er sie zum Cun- kam. Die ersten Berichte standen in der des Mainstreams und der bewährten Er-
nilingus gezwungen haben soll, und sie in „New York Times“. Jahre- und jahrzehn- folgsrezepte. Er machte aus dem Autoren-
zerrupften Kleidern und mit verschmier- telang hatten die Opfer geschwiegen, nun film „Sex, Lügen und Videos“, der von
tem Make-up auf dem Bett gesessen und war es unter anderem die Schauspielerin Entfremdung und Einsamkeit erzählt, 1989
gestammelt haben soll: „Ich bin keine Ashley Judd, die diese Mauer aus Dro- einen Welterfolg und begründete damit
Hure“ – da soll er sie angefahren haben: hungen, Scham und Abfindungen durch- seinen Ruhm. Quentin Tarantinos „Pulp
„Das würde ich auf ein T-Shirt drucken.“ brach. Fiction“, skurril, brutal, langsam bis zum
Es sind diese Details, die den Enthüllun- Der „New Yorker“ zog nach, erschre- Stillstand und erzählerisch mäandernd,
gen der vergangenen Woche so eine epi- ckend genau erzählten die Opfer, die sich eine Weinstein-Produktion, spielte welt-
sche Wucht geben. Und es ist die Gleich- nun an die Öffentlichkeit trauten, wie viel weit über 200 Millionen Dollar ein – mehr
zeitigkeit dieser Enthüllungen aus der Ver- Angst sie vor diesem groben, dicken Mann als das 25-Fache seiner Kosten.
gangenheit des einen dirty old man mit hatten und vor seiner Macht. Sie erzählten Da spielte es keine Rolle, dass Weinstein
der ungeheuren Gegenwart eines anderen von den Spiralen der Selbstvorwürfe und sich aufführte wie der ewige Gossenjunge,
dirty old man im Weißen Haus, die aus der Schuld, in denen sie sich selbst zu der auf dem Schulhof seine Klassenkame-
der Sexgeschichte eine politische Debatte verlieren drohten, sie erzählten davon, raden in den Schwitzkasten nimmt. Wein-
macht. Die Frage ist: Wie viel Gegenwart dass es alle in der Branche gewusst hätten, stein hatte bald das Image eines Kino-Rau-
enthält der Fall Weinstein und wie viel alle gewusst haben mussten, und vom dis, bereit, jeden beiseitezuräumen, der
Vergangenheit? System Hollywood, das sich geschockt sich ihm in den Weg stellt. Er wirkte wie
Als einen „alten Dinosaurier, der sich zeigt, obwohl doch Sex und auch Sexis- ein Gangster aus den legendären Gewalt-
an die neuen Zeiten gewöhnen muss“ be- mus Teil des Geschäftsmodells waren und epen Hollywoods, herabgestiegen von der
schrieb Weinsteins Rechtsanwältin ihren sind. Leinwand, um große Filme zu machen.
Mandanten. Es ist ein Satz, der die ganze Als sich auch noch Stars wie Gwyneth Über 300 Oscar-Nominierungen ver-
Problematik des Falls abbildet. Paltrow und Angelina Jolie meldeten und buchten die Produktionen von Weinstein
Denn darum geht es ja: Ist, was Wein- erklärten, Harvey Weinstein habe sie vor im Laufe der Jahre. Sie gewannen nicht
stein tat, bloß ein Verhalten von gestern? Jahren belästigt, da wurde deutlich: In der deshalb so oft, weil sie alle so überragend
Hat sich tatsächlich so viel verändert? Und Filmindustrie ist alles wie überall, nur grö- gewesen wären – sondern weil Weinstein
würde das irgendetwas entschuldigen? ßer und greller. jeden dieser Filme zu seiner persönlichen
DER SPIEGEL 42 / 2017 79
Medien

geht hier nicht um einen Fall von Holly-


woodwahn und das übliche Besetzungs-
couch-Klischee. Es geht um ein tiefes sys-
tematisches, gesellschaftliches Problem.
Und es geht darum, dass eine gesellschaft-
liche Veränderung überfällig ist, dass sie
sich sogar vollzieht – aber eben nur unter
Mühen, mit vielen Rückschlägen und un-
endlich langsam.
Es hat sich etwas geändert, kein Zweifel,
es gibt eine Art Zeitenwandel im Ge-
schlechterverhältnis, eine Neubesinnung
in der Frage von Macht und Geschlecht –
auch oder gerade der kulturelle Rück-
schlag, den man etwa in den USA besich-
tigen kann, zeugt davon. Auch dass Do-
nald Trump gerade auf dem frauenfeindli-
chen Gegen-Ticket zum Präsidenten aller
Chauvinisten gewählt wurde, zeugt davon,
dass gerade viel in Bewegung ist. Die
Emanzipation der einen, so scheint es,
wird leicht zur Wut der anderen.
Und noch die halb entschuldigende,
halb beschwichtigende Erzählung vom
„Dinosaurier“ bezieht ihre Kraft ja daraus,
dass sie suggeriert, es seien über Nacht
ganz neue moralische Maßstäbe aufge-
taucht, an die sich die mächtigen Männer
erst einmal gewöhnen müssten.
Wahr ist, dass Übergriffigkeit für die Op-
fer nie ein Spiel war. Selbst wenn sie so
tun mussten, als ob.
Ingrid Steeger kann davon erzählen. Zu
den frühen Engagements der Schauspiele-
rin gehörten Softpornos wie „Schulmäd-
chen-Report“ oder „Die goldene Banane
von Bad Porno“. Bekannt wurde Steeger
1973 als naive Blonde in der WDR-Come-
dyreihe „Klimbim“. Es war eine Zeit, in
der Begriffe wie „Ulknudel“ oder „Busen-
wunder“ als Berufsbezeichnungen galten.
ULLSTEIN BILD

Bereits als Kind wurde sie von ihrem


Großvater missbraucht, als erwachsene
Frau, wie sie sagt, „Dutzende Male“ ver-
Schauspielerin Judd, Miramax-Chef Weinstein 1997: Übergriffigkeit ist nie ein Spiel gewaltigt. Ihre Karriere als Schauspielerin
war in weiten Teilen die Fortsetzung dieser
Leidensgeschichte.
Angelegenheit erklärte, weil er Monate Schauspielerinnen ins Bett gingen. Viel- Sie erzählt, wie ein Theaterregisseur sie
vor den Oscar-Verleihungen die PR-Kam- leicht gaben sie ihnen danach eine Rolle, für eine Textprobe zu sich nach Hause ge-
pagnen plante wie Feldzüge, bei denen am vielleicht auch nicht. An dem Glauben, beten habe. „Er hat mir dann schon nackt
Ende nur der Sieg zählte und die Nieder- dass sich große Männer alle Freiheiten neh- die Tür geöffnet, mit seinem fetten Bauch.
schlagung aller Feinde. men müssen, um Großes zu leisten, hat Ich bin geflüchtet.“ Mehrmals hätten Schau-
Ein Teil der aktuellen Erschütterung die Filmbranche im Falle von Weinstein spielerkollegen nackt vor ihrer Hoteltür
wirkt deshalb wie gespielt, ein Teil wirkt bis zum bitteren Ende festgehalten. gestanden oder bei einer Besprechung im
echt. Trotz seiner rüden Umgangsformen Bei der Oscar-Verleihung 2013 machte Hotelzimmer ihr Geschlechtsteil ausge-
ließ Hollywood Weinstein alles durchge- der Moderator Seth MacFarlane sogar öf- packt. „Abends mussten wir wieder ge-
hen. Denn er galt als Mann alten Schlages, fentlich eine Anspielung auf Harvey Wein- meinsam auf der Bühne stehen, deswegen
er war wie einer der Produzenten, die Hol- stein. Nachdem er die Namen der fünf für habe ich da nie ein Drama draus gemacht.“
lywood einst groß gemacht hatten. In einer die beste Nebenrolle nominierten Schau- Namen will sie keine nennen, auch wenn
Welt, in der die Studios von Managern spielerinnen vorgelesen hatte, juxte Mac- manche der Männer längst tot sind. Ob
übernommen werden, die keine Ahnung Farlane: „Glückwunsch, meine Damen, Sie sich der Umgang mit Frauen in der Bran-
vom Kino haben, denen es egal ist, ob sie müssen nicht mehr so tun, als fühlten Sie che geändert habe, könne sie nicht sagen.
Filme oder Autos herstellen, wirkte Wein- sich zu Harvey Weinstein hingezogen.“ „Für mich ist das kein Thema mehr. Ich
stein wie der letzte große Mogul. Es ist diese Art von wissendem Nicht- bin jetzt 70, mich will keiner mehr haben.“
Für die Produzenten und Studiobosse wissen-Wollen, die die ganze hässliche Af- Steeger verfiel in Depressionen, eine
der Zwanziger- bis Vierzigerjahre verstand färe um Harvey Weinstein so symptoma- Zeit lang lebte sie von Hartz IV. Zuletzt
es sich von selbst, dass sie mit jungen tisch macht. Und klar ist dabei auch: Es spielte sie wieder Theater. Sie finde im
80 DER SPIEGEL 42 / 2017
Übrigen nicht, dass Übergriffigkeit bloß
typisch für das Showgeschäft sei: „Das ist
nicht die Branche, das sind die Männer.
Sie wollen immer Sex. Sie denken, sie ha-
ben die Macht.“
Männer in Spitzenpositionen, das fand
der Kölner Psychologe Joris Lammers he-
raus, haben ein stärkeres Selbstvertrauen,
das wiederum der Schlüsselaspekt für ei-
nen größeren sexuellen Appetit sei. Solche
Menschen gingen forsch voran, ein Nein
sei für sie keine akzeptable Antwort. Und
mit der Macht steige das Gefühl der eige-
nen Unwiderstehlichkeit. Was, so Lam-
mers, für Frauen genauso gelte. Wenn
mehr Frauen an der Macht wären, hätten
sie genauso häufig sexuelle Affären.
Womöglich, sagt Teresa Bücker, sei die
Kultur- und Kreativbranche gefährdeter,
weil dort Kontakte noch wichtiger für den
Karrierefortschritt seien als in der Wirt-
schaft. „Aber auch auf Messen von Indus-
trie und Wirtschaft ist es nach wie vor
keine Seltenheit, dass abends zur Party
Escortfrauen eingeladen werden.“
Hat sich also nichts geändert?
Wären solche Sexpartys, wie sie etwa
bei Volkswagen oder der Versicherung
Hamburg-Mannheimer vor einem Jahr-
zehnt einigermaßen üblich waren, heute
noch denkbar?
Wäre es heute noch denkbar, dass die
Frauen bei einer solchen Sexparty gekenn-
zeichnet sind, rote Armbänder für jene
Prostituierte, die allen bereitstehen, weiße
Armbänder für jene, die Vorständen und
Top-Performern vorbehalten sind?
Wäre heute noch ein Herausgeber des
SPIEGEL denkbar, der seine künftige Se-
kretärin zum Bewerbungsgespräch in ein
Hotel lädt und sie im seidenen Morgen-

ULLSTEIN BILD
mantel empfängt, wie es Irma Nelles in
ihrem Buch über Rudolf Augstein be-
schrieb?
Andererseits: Jeder zweite Arbeitneh- Oscar-Preisträgerin Paltrow, Filmproduzent Weinstein 1999: „Ich war noch ein Kind“
mer, Männer wie Frauen, hat schon einmal
sexuelle Belästigung oder Anzüglichkeiten
am Arbeitsplatz erlebt, ergab eine Umfra- spielagentin Heike-Melba Fendel, „aber es das Produzentenbild hat sich verändert. In
ge der Antidiskriminierungsstelle des Bun- gibt auch Frauen, die alles tun, um be- den Achtziger- und Neunzigerjahren, als
des. Wobei Männer hauptsächlich von an- rühmt zu werden. Und die es bereitwillig auch Weinstein groß wurde, war die hohe
deren Männern angemacht werden. als Teil des Spiels angenommen haben. Zeit der Kokspartys in Schwabing. Es war
Trotz dieser überraschend hohen Zahl Deshalb ist die Diskussion ein bisschen die Zeit von Bernd Eichinger, der nach
fühlt es sich langsam so an, als ob sich die eindimensional.“ dem Motto lebte: Schöne Frauen sollen
Situation bessere. Das mag daran liegen, Doch auch Fendel stellt einen allmähli- mich umringen.
dass sich Frauen via Internet unzensiert chen Wandel fest. In den Neunziger- und Sein Tod 2011, sagt Autorin Fendel, war
äußern können. In Einzelfällen (#aufschrei) Nullerjahren habe es noch Künstleragen- ein Epochenbruch, ein Einschnitt. „Die
sorgt das für große Aufmerksamkeit, die turen gegeben, die ihre Schauspielerinnen mächtigen Produzenten von heute sind
meisten Opfer jedoch trauen sich immer im Katalog im Bikini zeigten anstatt mit eher Technokraten oder mineralwassertrin-
noch nicht an die Öffentlichkeit und erdul- Rollkragenpulli. Und es gab Agenten, die kende Workaholics. Der Exzess als struk-
den vieles aus Angst um den Job. als erste Amtshandlung zu einem Shooting tureller Teil der Filmbranche hat sich da-
Auf der anderen Seite war und ist Sex im „Playboy“ rieten, um die Karriere an- vongestohlen. Er war Teil der zigarrenge-
immer auch eine Art Währung. Das Zah- zukurbeln. schwängerten Machismokultur, die es nicht
lungsmittel derer, die keine Macht haben, Heute, sagt sie, sei das alles nicht mehr mehr gibt.“
und zugleich ihr – wenngleich ohnmächti- so. „Das liegt aber nicht daran, dass die Doch selbst wenn es stimmt, dass es die-
ger – Zugang zur Macht. Frauen oder der Feminismus sich durchge- se Dinosaurier des Showbusiness nicht
„Es gibt den verbrecherischen Über- setzt hätten. Der Grund ist, dass die Pro- mehr gibt, dass sie verschwinden, diese
griff“, sagt die Romanautorin und Schau- duktion industrieller geworden ist.“ Auch Harvey Weinsteins – offenbar verschwin-
DER SPIEGEL 42 / 2017 81
Medien

Rechnen Sie det mit ihnen nicht der Missbrauch, löst Diesen Plot könnte man so beschreiben:
sich nicht die Verbindung von Macht und Ein hochbegabter Rebell wird mächtig, in-
mit einer Sex. Es gibt immer neue Mächtige – und
noch hat sich nicht gezeigt, dass sie auto-
dem er gegen das Establishment kämpft,
sich durchsetzt in zähen Schlachten, selbst
matisch alle bessere Menschen sind. zum Establishment aufsteigt, dort wütet,
Unbekannten! Das Silicon Valley ist eines der neuen
Zentren der Macht, und es wird beherrscht
von Männern. Zwar schaffen es auch dort
brüllt, grapscht, sexuelle Gefälligkeiten re-
gelmäßig von Abhängigen erpresst – und
dann ein Netz von Drohungen schafft, in
Frauen nach oben. Aber sie sind die Aus- dem sich die Abhängigen nicht mehr weh-
nahme. Und es ist dieses Machtgefälle, das ren können, ohne fürchten zu müssen, ihre
einen Nährboden für Entgleisungen und Existenz werde ruiniert.
Übergriffe bietet. Besonders dann, wenn Das Drohpotential der Hauptfigur ist ge-
die Frauen etwas von den Männern haben waltig: Wenn du es auch nur wagst, mit
wollen. Keine Rollen, wie in Hollywood, meinen Taten an die Öffentlichkeit zu ge-
sondern Geld für ihre Firmenideen. hen, wirst du in der Filmindustrie nie wie-
Im Sommer schilderte die Gründerin der Arbeit finden, kann er sagen. Deine
Cheryl Yeoh ihre Begegnung mit dem In-
vestor Dave McClure. Seine Firma 500
Start-ups verschafft Jungunternehmen „Ich habe das, was
eine Anschubfinanzierung. Yeoh hatte
McClure als umgänglichen und hilfsberei- passiert ist, in einem Teil
ten Typen kennengelernt. Das änderte meines Gehirns abgelegt
sich, als er am Ende eines Abends unter
Kollegen nicht aus ihrer Wohnung ver-
und die Tür verschlossen.“
schwinden wollte, sie bis in ihr Schlafzim-
mer verfolgte und sie dazu drängte, Sex Karriere ist nichtig, dein Gesicht wird ver-
mit ihm zu haben. gessen werden, so, als hätte es dich nie ge-
Andere Frauen beschuldigten McClure, geben. Ich werde dich auslöschen.
51, ebenfalls, sie belästigt zu haben. Als Das Netz der Macht ist eng und sorgfäl-
die Vorwürfe gegen ihn bekannt wurden, tig geknüpft, scheinbar unzerstörbar. Gan-
entschuldigte sich McClure und trat von ze Fernsehsender schützen ihn, das Wohl-
seinem Chefposten zurück. wollen von Journalisten und Autoren kauft
Im Juni machten zwei Dutzend Frauen er, indem er ihnen Projekte in seiner Firma
aus der Techbranche in der „New York verspricht, die Klatschkolumnisten jubeln,
Times“ öffentlich, wie sie von Investoren, wenn sein Name auf dem Display er-
bei denen sie Geld für ihre Unternehmen scheint.
einwerben wollten, begrapscht wurden; Und dann nimmt eine dieser Geschun-
wie sie anzügliche Nachrichten erhielten denen allen Mut zusammen, geht an die
und lesen mussten, wie attraktiv sie in die- Öffentlichkeit, und das Netz des Schwei-
Taschenbuch. € (D) 9,99. Verfügbar auch als E-Book sem oder jenem Kleid aussähen. gens, die Omerta um den Mächtigen he-
Angestoßen wurde die Debatte von Su- rum beginnt zu zerbröseln. Innerhalb we-
san Fowler, einer ehemaligen Mitarbeiterin niger Tage stürzt der Bösewicht ins Boden-
der Taxi-App Uber. Als erste Frau hatte lose, er verliert alles: seine Firma, seine
Fowler auf ihrem Blog über die sexistische Frau. Vor allem aber wird ihm das genom-
Kultur bei Uber berichtet. Spätestens zu men, was in der Filmindustrie als höchstes
diesem Zeitpunkt war klar, dass das Silicon Gut gehandelt wird: die strahlende Aura,
Was machen drei Logiker, wenn sie Valley ein Problem hat. das gewaltige Image, der Ruf, ein König
ein Bier bestellen wollen? Und wie Es war immer dasselbe: Erst wenn die seiner Kunst zu sein.
viele Partien werden beim weltgrößten Frauen an die Öffentlichkeit gingen, hörte Das Licht geht an, die Zuschauer steigen
man ihnen zu, weil der Druck und die aus den Sitzen, sie atmen durch, erleich-
Tischtennisturnier gespielt? SPIEGEL- Angst vor einem Imageschaden zu groß tert.
ONLINE-Kolumnist und Bestseller- wurden. Aber so ist es nicht.
Geld, Macht und Größenwahn sind eine Eine der Frauen, die Weinstein der Ver-
Autor Holger Dambeck hat die 100 toxische Mischung, ob in Hollywood oder gewaltigung bezichtigen, Lucia Evans, be-
schönsten Logik- und Zahlenrätsel im Silicon Valley. Und die einzigen Gegen- schreibt es so: „Ich habe das, was passiert
mittel sind Öffentlichkeit – und Ächtung. ist, in einem Teil meines Gehirns abgelegt
zusammengestellt. Rätseln Sie mit! Und mit einem Mal kehren sich die Ver- und die Tür verschlossen.“
hältnisse um. Der Mächtige ist ohnmächtig, Ihr Leben ging weiter. Beziehungen ka-
der Stolze versinkt in Scham. men und zerbrachen. Ab und zu traf sie
Einer der irrsten Aspekte an dieser Ge- Weinstein in Greenwich Village in New
schichte ist, dass sie sich liest wie der Plot York auf der Straße. Sie führte ihren Hund
zu einem Weinstein-Movie. Sie könnte aus aus, er stieg in ein Auto. Sie sahen sich an.
einem der Filme sein, für die Weinstein „Bis heute“, sagt sie, „habe ich Albträu-
stand, die ihn berühmt machten, mit denen me von ihm.“
er das dahin dümpelnde US-Mainstream- Lars-Olav Beier, Georg Diez, Thomas Hüetlin,
Kino erneuerte, ihm wieder Haltung, Kraft Alexander Kühn, Ann-Kathrin Nezik,
und Relevanz verlieh. Michaela Schießl, Martin Wolf

www.spiegel.de www.kiwi-verlag.de 82 DER SPIEGEL 42 / 2017


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SANDY HUFFAKER / IMAGO / ZUMA PRESS

Eine richtig gut aussehende Mauer


Fast zehn Meter hoch sind die Prototypen der von US-Präsident Donald Trump angekündigten Mauer,
die zurzeit nahe der Grenze zu Mexiko im kalifornischen Otay Mesa errichtet werden. Vier Baufirmen
bewerben sich um den von der US-Regierung ausgeschriebenen Auftrag. Ob der Grenzwall, Trumps
Lieblingsprojekt, jemals gebaut wird, ist allerdings fraglich. Bisher hat der Kongress kein Geld bewilligt.
Trump freut sich trotzdem. „Sie sehen richtig gut aus“, sagte er am Mittwoch über die Prototypen.

Kommentar

Warme Worte reichen nicht


Die Türkei kann die Beziehungen zu Deutschland nur mit Taten verbessern.
So sieht es also aus, wenn die türkische Regierung die Bezie- politischen Motiven inhaftiert. Türkische Politiker zeigen sich
hungen zu Deutschland normalisieren will: In einem am ver- immer wieder erstaunt über die Anteilnahme etwa am Fall
gangenen Samstag erschienenen SPIEGEL-Gespräch kündigte Deniz Yücel in Deutschland. Deshalb ist sie so wichtig.
der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu an, man wolle Die Bundesregierung hat den Druck auf die Türkei erhöht,
nun auf Deutschland zugehen. Wie zum Hohn wurde tags mit wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen. Aber
darauf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft gegen den im Grunde ist sie ratlos. Denn für Deutschland ist es wegen
deutschen IT-Spezialisten Peter Steudtner bekannt. Ihm dro- der tiefen Verbindungen zwischen beiden Ländern ungleich
hen zehn Jahre Haft, weil er in Istanbul ein Seminar für eine schwerer, den Konflikt so zu eskalieren, wie die USA es
Menschenrechtsorganisation gegeben hatte. Damit gilt er in am Sonntag getan haben: Sie reagierten auf die Verhaftung
der Türkei als Terrorunterstützer. Steudtner ist ein politischer von US-Konsulatsmitarbeitern mit einem Visastopp für
Häftling, genauso wie die deutsche Journalistin Meşale Tolu. Türken. Aber auch Deutschland wird wohl nichts anderes
Auch sie wird von einer politisch instrumentalisierten Justiz als übrig bleiben, als noch schärfere Maßnahmen zu ergreifen.
Terroristin angeklagt, obwohl sie nur ihren Job gemacht hat. Wenn die türkische Regierung ernsthaft bessere Beziehun-
Was die türkische Regierung offenbar nicht versteht: Deutsch- gen zu Deutschland will, dann reichen warme Worte nicht.
land kann keine normalen Beziehungen zu einem Land haben, Dann muss sie mit Taten beweisen, dass sie es ernst meint –
das deutsche Staatsbürger als Geiseln hält und Journalisten aus und die politischen Geiseln freilassen. Mathieu von Rohr

84 DER SPIEGEL 42 / 2017


Ausland
Kambodscha Sochua: Das Verfahren wird SPIEGEL: Wie groß ist der Ein-
„Die Demokratie ist weder unabhängig noch fair fluss Chinas auf Ihr Land?
sein. Premier Hun Sen kon- Sochua: Die Chinesen verfol-
am Ende“ trolliert das Gericht gänzlich. gen ihre geopolitischen Inte-
Die Oppositions- SPIEGEL: Er steht seit 32 Jah- ressen. Und sie profitieren

L. SUWANRUMPHA / AFP
politikerin ren an der Spitze der Regie- enorm davon, dass der Pre-
Mu Sochua, 63, rung. Wird die Wahl im nächs- mier ihnen Land zuschanzt,
über die ten Jahr daran etwas ändern? Millionen Hektar, das unse-
Repression in Sochua: Die Demokratie in ren Bauern gehört. Jedes
ihrem Land Kambodscha ist am Ende. In Mal, wenn er gegen die Op-
den vergangenen Jahren hat position vorgehen will, reist
SPIEGEL: Vorige Woche sind sich die Regierungspartei vor er vorher nach China und
Sie aus Kambodscha geflo- allem darum gekümmert, lässt sich Unterstützung zu-
hen und halten sich jetzt in politische Gegner auszuschal- sichern.
Berlin auf. Was ist passiert? ten. 19 Radiosender mussten SPIEGEL: Werden Sie je in Ihr
Sochua: Ich wurde gewarnt, schließen, 40 NGOs müssen Heimatland zurückkehren?
dass meine Verhaftung bevor- wohl ihre Arbeit einstellen. Sochua: Wenn die inter-
stehe. Also musste ich gehen, Gerade hat das Innenministe- nationale Gemeinschaft genü-
damit ich den Kambodscha- rium beim Obersten Gerichts- gend Druck auf den Premier
nern weiterhin eine Stimme hof die Auflösung unserer ausübt, kann es vielleicht
geben kann. Bei der Parla- Partei beantragt. Unsere Par- doch eine freie Wahl geben.
mentswahl 2013 bekam mei- lamentssitze würden an die 18 Jahre lang war ich im Exil,
ne Partei ja 44 Prozent. Regierungspartei fallen. auch zur Zeit der Roten
SPIEGEL: Sie sind die Stellver- SPIEGEL: Ist Kambodscha be- Khmer. Das war sehr schmerz-
treterin von Parteichef Kem reits eine Diktatur? haft, sehr einsam. Noch
Sokha, der im Gefängnis sitzt. Sochua: Hun Sen ist ein Auto- einmal will ich das nicht er-
Ihm steht ein Prozess wegen krat, der sich in raschem leben. Ich möchte zurück-
Hochverrat bevor. Welchen Tempo zum Diktator ent- kehren und meinem Land
Ausgang erwarten Sie? wickelt. helfen. dip

Weltstrafgericht nicht mit ihm kommuniziert bevor ich eine Entscheidung


Die Unwahrheiten oder zusammengearbeitet“. treffe“, schrieb sie im Februar
Doch aus dem vorliegenden 2013. Auf Ocampos Bitte im
der Chefin Material ergibt sich ein ande- September 2015, über das An-
In der Affäre um den Ex- res Bild. Demnach hat Ben- liegen der Jesiden zu sprechen,
Chefankläger Luis Moreno souda sich vertrauensvoll mit antwortete sie: „Natürlich kön-
Ocampo gerät nun dessen ihrem Vorgänger über ihre nen wir reden.“ Die Jesiden
Nachfolgerin Fatou Bensouda Arbeit ausgetauscht. wollten die vom „Islamischen
in Bedrängnis. Aus internen In den Mails ging es etwa um Staat“ an ihnen begangenen
Unterlagen geht hervor, dass Probleme in Verfahren gegen Verbrechen vor das Weltstraf-
Bensouda über ihre Verbin- Beschuldigte aus Kenia: „Ich gericht bringen und wurden
dungen zu Ocampo mehrfach würde gern mit dir sprechen, von Ocampo unterstützt.

105
Fußnote die Unwahrheit gesagt hat. Kontakte gab es auch im
Demnach informierte Bensou- Fall Kolumbien. Die Haager
da ihren Vorgänger über Ermittler untersuchen seit Jah-
laufende Untersuchungen des ren, ob es dort zu Kriegs-
Internationalen Strafgerichts- verbrechen gekommen ist;
Hochhäuser mit einer hofs. Bislang hat sie das be- Ocampo betätigte sich nach
Höhe von 200 Metern und stritten. Berichte des SPIEGEL seiner Amtszeit als Berater
mehr werden in diesem (40/2017) und weiterer Medien in Kolumbien. Bensouda
Jahr in China errichtet – des Netzwerks EIC zeigten, tauschte sich mit ihm über
weit mehr als in jedem an- dass Ocampo nach seiner ihre Arbeit aus und schickte
deren Land der Welt. Der Amtszeit auch für zwielich- Ocampo mit privater E-Mail
chinesische Drang in die tige Klienten gearbeitet hatte, einen Brief, den sie an das
Höhe begann in den Neun- darunter ein libyscher Öl- dortige Verfassungsgericht ge-
zigerjahren und hat zu- milliardär – dabei haben sich schrieben hatte. Auf Anfrage
letzt stark zugenommen. zwei Mitarbeiterinnen Ben- ließ Bensouda mitteilen, dass
Hintergrund ist die rapide soudas wohl von Ocampo ein- der Brief bereits zuvor in ko-
Urbanisierung: Rund spannen lassen. lumbianische Medien gelangt
57 Prozent der 1,4 Milliar- Die Chefanklägerin leitete sei. Außerdem räumte sie
den Chinesen leben eine Untersuchung gegen ihre ihren Kontakt zu Ocampo ein,
in Städten. Vor 40 Jahren beiden Mitarbeiterinnen ein versuchte aber, ihn als „spo-
AFP

waren es noch weniger und teilte mit, sie habe von radisch und außerordentlich
als 20 Prozent. Ocampo „keinen Rat gesucht, Ocampo, Bensouda 2012 selten“ kleinzureden. dip, sve

DER SPIEGEL 42 / 2017 85


Ein Deal für Trump
USA Präsident Trump bezeichnet das Nuklearabkommen mit Iran als „schlechtesten
Vertrag aller Zeiten“. Er will bessere Bedingungen, aber macht Teheran
da mit? Ein Erfolg ist unwahrscheinlich, das Risiko einer neuen Eskalation groß.

M
an muss sich Bob Corker als gro- es um das Schicksal des Nuklearvertrags. weit bis zur Bombe. Und die wiederum will
ßen Optimisten vorstellen. Corker Am Freitag, nach Redaktionsschluss des ge- Israel unbedingt verhindern, notfalls militä-
ist ein republikanischer Senator druckten SPIEGEL, wollte Trump in einer risch. Ben Rhodes, einst stellvertretender Na-
sowie Vorsitzender des Auswärtigen Aus- Rede seine neue Iranpolitik verkünden. tionaler Sicherheitsberater von Barack Oba-
schusses, und er dachte acht Monate lang, Alle 90 Tage muss der Präsident beschei- ma, warnt vor einer militärischen Eskalation
er könne Donald Trump zu einem verant- nigen, dass die Iraner sich an die Auflagen und einer „zweiten Atomkrise“, parallel zum
wortungsvollen Politiker machen. Insbe- halten und die Aufhebung der Sanktionen Nordkoreakonflikt. „Iran könnte sein Nukle-
sondere hoffte er, die irrlichternde Außen- somit gerechtfertigt ist, dass der Deal un- arprogramm neu auflegen, ein militärischer
politik des Präsidenten in Bahnen lenken erlässlich ist für die nationale Sicherheit Konflikt ist dann nicht mehr ausgeschlossen.“
zu können, mit persönlicher Ansprache der USA. Trump hat das zweimal wider- Statt neuer Sanktionen wäre aber auch
und sanftem Druck. Doch auch Bob Cor- willig bestätigt, beim letzten Mal, Mitte eine Neuverhandlung des Abkommens
ker, der Optimist, hat aufgegeben. Juli, soll er außer sich vor Wut gewesen denkbar – und das scheint der Plan der mo-
Das Weiße Haus vergleicht er mit einer sein. Warum, fragte er seine Berater, solle deraten Kräfte in der Regierung zu sein,
„Betreuungseinrichtung für Erwachsene“, er einen Deal unterschreiben, den er für des Trios aus Nationalem Sicherheitsbera-
der Präsident mache Politik, als wäre er falsch halte? Und er machte klar: Noch ter, Außen- sowie Verteidigungsminister,
Gast einer Realityshow. Zudem sei Trump einmal werde er nicht zustimmen. die allesamt für die Beibehaltung des Ab-
auf dem besten Weg, die USA in den drit- Seit Monaten suchten Trumps Leute kommens sind. Sie versuchen offenbar ei-
ten Weltkrieg zu führen. So äußerte sich daher nach Auswegen, bauten eine Droh- nen Balanceakt, der es Trump einerseits
Corker, teils in einem Interview, teils auf kulisse gegen Teheran auf, sammelten Ar- ermöglicht, sich symbolisch von dem Deal
Twitter, eine vernichtendere Kritik durch gumente, um das Abkommen platzen zu zu distanzieren, andererseits aber das Ab-
einen Parteifreund ist kaum vorstellbar. lassen. Offenbar setzte Trump auch die kommen am Leben erhält.
Besonders die Angst vor einer militäri- eigenen Geheimdienste unter Druck: Er Die Strategie wird sein, die Revolutions-
schen Eskalation, gar einem Atomkrieg, forderte eine Bestätigung, dass das irani- wächter als Bösewichte zu brandmarken,
treibt Corker um. Da ist die Nordkorea- sche Regime gegen den Nuklearvertrag ver- die Terror verbreiten und die Region
krise, die Trump mit seinen Drohungen stoße. Seine Regierung ist zudem erpicht destabilisieren, und so den Druck auf die
anheizt. Doch nun könnte er auch einen Europäer zu erhöhen, den Vertrag zu ver-
weiteren Konflikt aufleben lassen, der viel- schärfen und um neue Aspekte zu ergän-
leicht sogar noch weitaus gefährlicher ist: Iran brauchte nur fünf zen. Möglicherweise könnte der Kongress
die Konfrontation mit Iran. Seit dem Wahl- die Revolutionswächter sogar zur Terror-
kampf hatte Trump immer wieder verkün- Tage, um sein Uran auf organisation erklären.
det, es handle sich bei dem Nuklearabkom- 20 Prozent anzureichern, Hauptkritikpunkt von Trump und den
men um „den schlechtesten Deal aller Zei- Hardlinern ist: Iran verstoße gegen den
ten“, er werde es daher aufkündigen.
drohte der Vizepräsident. „Geist“ des Abkommens, etwa indem es
Das Abkommen hatten die fünf Veto- Raketen testet, Terrorgruppen wie Hamas
mächte im Uno-Sicherheitsrat, die EU und darauf, Iran als Terrorunterstützer zu und Hisbollah unterstützt sowie Kämpfer
Deutschland im Juli 2015 mit Iran geschlos- brandmarken. Anfang Oktober warnte der nach Syrien und in den Irak entsendet, um
sen, nach mehr als zwölf Jahren zäher Ver- Direktor des Counterterrorism Center seinen Einfluss in der Region auszubauen.
handlungen. Iran stellte sein Atompro- überraschend vor Anschlägen der von Iran Dass dieses Verhalten der Iraner extrem
gramm ein, im Gegenzug wurden Sanktio- gesponserten Hisbollah-Miliz in den USA. problematisch ist, ist unbestritten, sogar
nen aufgehoben. Fast die ganzen Vorräte Ohne Trumps Unterschrift liefe das Ab- Unterstützer des Nuklearabkommens se-
an angereichertem Uran wurden seither kommen trotzdem weiter, die USA wären hen das so. Nur: Einen „Geist“ des Ab-
außer Landes gebracht, zwei Drittel der damit nicht ausgetreten, was auch nicht kommens gibt es nicht, es gibt nur einen
Zentrifugen abgebaut und 400 Inspektio- ohne Weiteres möglich ist, jedoch: Es wäre nüchternen, sehr technischen Vertrag. Und
nen durchgeführt, zur Zufriedenheit der wohl der Anfang vom Ende. Zudem be- um die iranische Außenpolitik oder das
Kontrolleure. „Das ist ein belastbares Ab- kommt der Kongress damit die Möglichkeit, Raketenprogramm geht es darin nicht. Das
kommen, das sein Ziel erreicht“, sagt ein selbst binnen 60 Tagen auf das Atompro- würde Trump gern ändern; auch viele Re-
hochrangiger EU-Diplomat: „zu verhin- gramm bezogene Sanktionen gegen Iran publikaner sind dabei auf seiner Seite.
dern, dass Iran Nuklearwaffen bekommt.“ zu verhängen. Nicht wenige Republikaner Zudem würde das Trump-Team gern be-
Doch Trump beeindruckt das nicht, er lehnen das Abkommen ab, sie könnten die stimmte Klauseln verschärfen, etwa was
braucht einen Erfolg – und da es innen- Gelegenheit also nutzen. Das allerdings Orte und Häufigkeit der Inspektionen an-
politisch nicht vorangeht, konzentriert er würden die Iraner wohl als Vertragsbruch geht. Oder die Tatsache, dass Iran nach
sich darauf, die außenpolitischen Errun- sehen – und daraufhin aussteigen. Ablauf des Vertrags im Jahr 2025 wieder
genschaften seiner Vorgänger zu zerstören. In nur fünf Tagen, so hat der iranische Uran anreichern darf, wenngleich nur im
Der Handelspakt Nafta steht vor der Kün- Vizepräsident Ali Akbar Salehi kürzlich ge- Rahmen des Atomwaffensperrvertrags.
digung, der Ausstieg aus dem Pariser Kli- droht, könnte das Land dann Uran auf 20 Iran-Experten wie Ray Takeyh vom
mavertrag und der Unesco läuft. Nun geht Prozent anreichern. Von da ist es nicht mehr Council on Foreign Relations, einem un-
86 DER SPIEGEL 42 / 2017
Ausland

ALEX NABAUM

DER SPIEGEL 42 / 2017 87


abhängigen Thinktank, stimmen der Re- „Es gibt die Gefahr von Krieg, nicht jetzt, mer Druck auf Banken aus, keine Geld-
gierung zu, dass das Abkommen alles an- aber vielleicht in einigen Monaten“, sagt transfers von oder nach Iran auszuführen.
dere als perfekt ist. Auch Takeyh kritisiert, Foad Izadi, Professor für Internationale Be- Fast alle Geldinstitute folgen dieser infor-
dass der Deal nach zehn Jahren automa- ziehungen in Teheran. Man nehme die Dro- mellen Weisung, aus Furcht vor hohen
tisch ausläuft und es Iran schon jetzt ge- hungen aus Washington nicht auf die leich- Strafen. Die Folge: Geldgeber für große
stattet ist, Nuklearmaterial anzureichern. te Schulter. „Wir glauben nicht, dass Trump Projekte fehlen, wichtige Investitionen in
Außerdem dürfen iranische Forscher wei- ein Problem mit Iran hat, sondern mit die veraltete Infrastruktur bleiben aus.
ter Entwicklungsarbeit zu Zentrifugen allem, was sein Vorgänger ihm hinterlassen Würden die Amerikaner Sanktionen ver-
leisten, die spaltbares Material herstellen hat“, sagt Izadi. Sorgen mache den Iranern hängen oder Teile des Abkommens neu
können. vor allem Trumps Nähe zu Israel und der verhandeln wollen, würden die Iraner wohl
Doch was die Trump-Regierung plant, Führung in Saudi-Arabien. Beide beein- versuchen, mit den Europäern, Russland
geht weit über ein paar kleine Ergänzungen flussten ihn in Bezug auf Iran negativ. und China zusammenzuarbeiten und die
des Nuklearvertrags hinaus. Es ist der Ver- USA zu isolieren. Eine Beschränkung des
such, Iran in der Region zu isolieren, seine Raketenprogramms oder des iranischen En-
Expansionspolitik und seine Finanzierung Das Raketenprogramm gagements in der Region dürften für Tehe-
von Terrororganisationen zu stoppen. Das ran jedenfalls unverhandelbar sein. Auf der
sind nachvollziehbare Ziele, dagegen spricht und die Aktivitäten der ersten Pressekonferenz nach seiner Wie-
jedoch: die Realität. Revolutionswächter sind derwahl im Frühjahr kündigte Rohani wei-
William Burns, einer der Verhandler und tere Raketentests an. „Wann immer wir Ra-
unter Obama Vizeaußenminister, schrieb
für Iran unverhandelbar. keten aus technischen Gründen testen müs-
in der „New York Times“, dass man in einer sen, werden wir das tun. Und wir werden
idealen Welt natürlich Irans Wissen über Noch wollen die Iraner im Abkommen nicht andere um Erlaubnis bitten.“
die Urananreicherung ausgelöscht, das Ra- bleiben, Präsident Hassan Rohani hat sich Erklärten die USA die iranischen Re-
ketenarsenal eliminiert und die gefährliche stets dafür ausgesprochen. Dabei hat das volutionswächter zur Terrororganisation,
Einmischung in der Region beendet hätte. Land vom Ende der Sanktionen bisher würde das die Handelsbeziehungen mit
„Aber wir leben nicht in einer idealen Welt. kaum profitiert, der wirtschaftliche Auf- Iran nahezu zum Stillstand bringen, sagt
Und das Nuklearabkommen war die beste schwung ist deutlich hinter den Erwartun- die frühere US-Diplomatin Wendy Sher-
von allen Alternativen.“ gen zurückgeblieben. Denn bis heute ist man, die für die Obama-Regierung als
Die andere Alternative wäre: eine erneu- es kaum möglich, mit Iran Geschäfte zu Chefunterhändlerin des Iran-Abkommens
te Konfrontation mit Iran. machen, die US-Regierung übt noch im- tätig war. Experten schätzen, dass die Revo-

Stahl trägt unsere Wirtschaft.


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Die Stahlindustrie
in Deutschland // Kerstin Wrede, Ingenieurin Prozess-Technologie
Ausland

lutionswächter direkt oder indirekt 40 Pro- stark werden, dass Rohani den Atomdeal arbeiten, dass die USA sich an das Abkom-
zent der Wirtschaft kontrollieren. Sherman von sich aus beerdigen müsste. Bei einer men halten“, sagt Gabriel diplomatisch.
warnt daher vor diesem Schritt. „Die Re- Debatte im iranischen Parlament am Mitt- Am Montag werden sich die EU-Außen-
volutionswächter sind schon jetzt mit Sank- woch geriet die Regierung bereits in Be- minister bei ihrem Treffen in Luxemburg
tionen belegt. Wir würden einen folgenrei- drängnis, weil sie den Atomdeal verteidig- damit beschäftigen, wie sie auf Trump rea-
chen Präzedenzfall schaffen, wenn wir den te. „Wir sind durch die Hölle gegangen“, gieren. Eine Brücke könnte sein, dass die
Teil eines Staates als ausländische Terror- hieß es danach von iranischer Seite. Europäer die Kritik der Amerikaner an
organisation brandmarken würden.“ Wie es weitergeht, hängt nun auch von Irans Auftreten im Nahen Osten und am
Der Chef der Revolutionswächter droh- den Europäern ab. Ein Ende des Nuklear- Raketenprogramm durchaus teilen. „Wir
te bereits, man werde auf eine solche Pro- abkommens würde sie besonders hart tref- sind bereit, mit den USA darüber zu spre-
vokation mit Angriffen auf US-Basen in fen, denn Trumps Chaoskurs droht eines chen, wie wir diese Probleme lösen kön-
der Region reagieren. Auch wenn das wohl der Prunkstücke der EU-Diplomatie zu nen“, so Gabriel. Nur wie? Auf diese Frage
nur eine lautstarke Warnung ist – es zeigt zerstören. Als Architektin des Vertrags gilt hat bisher niemand eine Antwort.
das Potenzial für einen Konflikt. die Deutsche Helga Schmid, Generalse- Die Brüsseler Diplomaten fürchten auch
Die Aussichten, den Vertrag signifikant kretärin des Europäischen Auswärtigen Auswirkungen auf den Konflikt mit Nord-
nachzuverhandeln, sind daher äußerst ge- Dienstes. Sie führte zuletzt am Rande der korea. Immerhin ist das Iran-Abkommen
ring. So ist auch dann ein Zusammenbruch Uno-Vollversammlung Gespräche, um das die einzige Blaupause dafür, wie man mit
des Abkommens nicht ausgeschlossen, Abkommen noch zu retten. Auch Angela dem Regime in Pjöngjang ins Gespräch
selbst wenn bis dahin noch Monate verge- Merkel und Emmanuel Macron haben mit kommen könnte. „Die Botschaft, die Ame-
hen könnten. Das würde vor allem die Ra- Trump über Iran gesprochen; Außenminis- rika an den Rest der Welt senden würde,
dikalen in Teheran stärken, die von der ter Sigmar Gabriel telefonierte mehrfach ist, dass man Amerika nicht trauen kann“,
Feindschaft mit den USA zehren und von mit seinem Amtskollegen Rex Tillerson. sagte EU-Chefdiplomatin Federica Moghe-
Anfang an gegen das Abkommen waren. Am Dienstag gab der Amerikaner Ga- rini am Mittwoch. „Weil ein Abkommen,
Man möge doch bitte die innenpolitische briel zu verstehen, dass er am Ende seiner für das Amerika erst vor zwei Jahren im
Debatte in Iran beachten, bat daher Außen- Möglichkeiten sei. Die Europäer müssten Sicherheitsrat gestimmt hat und das die
minister Mohammad Javad Zarif seine jetzt auf Trump zugehen, so die Botschaft USA enorm gestaltet haben, von dem glei-
europäischen Gesprächspartner kürzlich. Tillersons. Doch das ist schwierig, schließ- chen Land zurückgewiesen würde.“
Wenn die USA die Revolutionswächter als lich riskieren die Europäer damit, die ge- Susanne Koelbl, Juliane von Mittelstaedt,
Terrororganisation einstuften, könnte der mäßigte Regierung in Teheran in die Bre- Peter Müller, Christoph Scheuermann,
Druck der Hardliner auf die Regierung so douille zu bringen. „Wir werden daran Christoph Schult

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Die Stimmung kippt


Katalonien Hat Premier Carles Puigdemont die Unabhängigkeit ausgerufen? Gegner und
Anhänger sind verwirrt. Nun sind Neuwahlen wahrscheinlich.

ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES


Kundgebung für die Unabhängigkeit am 10. Oktober in Barcelona: Separatisten und Unionisten enttäuscht

M
üsste man sich für ein Symbol ent- im achten Monat schwanger. „Mein Mann aussetzt, damit wir in den folgenden Wo-
scheiden, das über ganz Spanien würde mich umbringen, wenn er wüsste, chen einen Dialog führen, ohne den eine
schwebt und umschreibt, wie sich dass ich hier bin“, sagt sie. einvernehmliche Lösung nicht möglich ist“.
das Land in diesen Tagen fühlt: Es wäre Es wird ein Mädchen, der Name steht Er lässt alle verwirrt zurück. Er habe den
ein Fragezeichen. noch nicht fest. Die Staatsbürgerschaft der Schritt gewählt, weil er verhandeln wolle,
Hat der Chef der katalanischen Regio- Kleinen auch nicht. „Da drin nämlich, im sagt Puigdemont. Wahrscheinlicher ist,
nalregierung, Carles Puigdemont, diese Parlament, kommt heute die Republik Ka- dass der Druck zu groß geworden ist. Dass
Woche die unabhängige Katalanische Re- talonien zur Welt“, glaubt Ana, glauben er Zeit braucht.
publik ausgerufen – oder nicht? hier alle, an diesem viel zu warmen 10. Ok- Auch der spanische Ministerpräsident
Als er am vergangenen Dienstag vor das tober in Barcelona. Die Menschen vor dem Mariano Rajoy spielt nun auf Zeit. Er ant-
katalanische Parlament in Barcelona tritt, Parlament sind sich einig, dass heute ein wortet am nächsten Tag mit einer einfa-
glauben alle zu wissen: Puigdemont wird historischer Tag ist. chen Frage. Haben Sie oder haben Sie
nun die Befürworter oder die Gegner der Doch dann stellt sich Puigdemont vor nicht die Unabhängigkeit ausgerufen? Was
Unabhängigkeit enttäuschen. Entweder die Abgeordneten und sagt schwer ver- wie eine Bitte um Klärung klingt, ist in
weil er nach dem illegalen Referendum ständliche Worte, die bis heute alle zu deu- Wahrheit ein Ultimatum. Puigdemont hat
vom 1. Oktober die Republik ausruft, oder ten versuchen: „Ich nehme das Mandat bis Montag, zehn Uhr, Zeit, darauf zu ant-
weil er es nicht tut. Keiner ahnt, dass Puig- des Volkes an, dass Katalonien zu einem worten, und bis zum Donnerstag, „um in
demont am Ende alle enttäuscht, Separa- unabhängigen Staat in Form einer Repu- den Rahmen des spanischen Rechtsstaats
tisten und Unionisten. blik wird.“ Wenige Sekunden später folgt zurückzukehren“.
Inmitten der 30 000, die sich an diesem der Nachsatz, „die Regierung und ich Carles Puigdemont, den sie wegen sei-
Abend in Barcelona unweit des Parlaments selbst schlagen vor, dass das Parlament die ner nicht existierenden Frisur gern den ka-
versammelt haben, steht Ana, 31 Jahre alt, Wirkung der Unabhängigkeitserklärung talanischen „Beatle“ nennen, hat hoch ge-
90 DER SPIEGEL 42 / 2017
Ausland

pokert mit seinem Referendum, an dem nächst nicht mehr Mitglied der EU, die daran ist, dass es nun theoretisch zu den
zwar nur 42 Prozent der Wahlberechtigten Banken und die Sparvermögen stünden Verhandlungen kommen könnte, die Mi-
teilnahmen, von denen aber 90 Prozent nicht mehr unter dem Schutz der Europäi- nisterpräsident Rajoy den Katalanen schon
für die Unabhängigkeit stimmten. Doch schen Zentralbank, es würde Zölle und in den Jahren vor dem Referendum hätte
nun scheinen ihm die Trümpfe auszu- Grenzkontrollen geben. anbieten sollen. Natürlich ist auch er mit-
gehen. Die Großbank Sabadell verlegte ihren schuldig an der Situation. Man kann im
Antwortet er auf Rajoys Frage mit Ja Rechtssitz nach Alicante. Die Caixabank, Rest Spaniens wunderbar punkten, wenn
oder antwortet er nicht, ist für die Zentral- das drittgrößte Geldinstitut Spaniens, zog man hart gegenüber Katalonien austeilt.
regierung formal die erste Bedingung er- nach Valencia. Pharmafirmen, Transport- Es war Rajoys Partei, die ein reformiertes
füllt, um den entscheidenden Artikel 155 unternehmen, Versicherer, ein Versorger, Autonomiestatut von 2006 vor dem Ver-
der Verfassung zu aktivieren. Die Autono- der größte Verlag Spaniens, 40 große, viele fassungsgericht anfocht. Mit Erfolg. Genau
mie der Region kann zwar nicht einfach kleinere Firmen wollen abwandern. Im wie die katalanischen Separatisten wollte
aufgehoben werden, aber Madrid könnte spanischen Börsenindex sind 35 Unterneh- auch er seine eigenen Wähler befriedigen.
das Regionalparlament auflösen, um Neu- men registriert, bis vor Kurzem hatten sie- Sollte Puigdemont einlenken, könnten
wahlen auszurufen. Das muss der Senat ben davon ihren Hauptsitz in Katalonien. Verhandlungen über eine Ausweitung der
genehmigen. Ob die Katalanen friedlich Jetzt ist es nur noch der Chemiekonzern Autonomierechte beginnen. Rajoy zeigte
blieben, kann niemand sagen. Doch Puig- Grifols. Katalonien droht der Verlust von sich sogar erstmals bereit, die spanische
demont wäre am Ende. rund 40 Prozent seines Bruttoinlandspro- Verfassung zu reformieren. Dieses Zuge-
Sagt er Nein, sprengt Puigdemont seine dukts. ständnis hatte ihm der Chef der spanischen
Koalition. Auch in diesem Fall gäbe es Neu- Immer mehr Katalanen brachten die Er- Sozialisten, Pedro Sánchez, abgerungen.
wahlen. Und auch in diesem Fall wäre sparnisse in andere Teile Spaniens. Dann Falls Rajoy aber doch Zwangsmaßnahmen
Puigdemont wohl am Ende. Mehr noch: meldeten die Hoteliers, die Buchungen sei- ergreifen muss, um die Abspaltung Kata-
Für die katalanischen Nationalisten wäre en um 30 Prozent zurückgegangen. loniens zu verhindern, sicherte ihm Sán-
er verbrannt, eine Fußnote der Geschichte, Die Stimmung kippt. „Die Separatisten chez seine volle Unterstützung zu – und
ein Feigling, dem im entscheidenden Mo- haben den Moment verpasst“, sagt der His- genauso der Vorsitzende der liberalen Par-
ment der Mut fehlte. toriker Joaquím Coll von der Autonomen tei Ciudadanos.
Dazu muss man verstehen, was Auf der anderen Seite drohen
es für einen überzeugten katala- Puigdemont und seinem Stellver-
nischen Nationalisten bedeutet, treter Oriol Junqueras sowie der
die Republik auszurufen. Das tat Parlamentspräsidentin Carme
der Regionalpräsident Lluís Com- Forcadell nun Anklagen wegen
panys am 6. Oktober 1934. Die Ungehorsams und Auflehnung
Republik überlebte nur Stunden, gegen die Staatsgewalt.
dann wurde er vom spanischen Neuwahlen könnten die Lö-
Militär festgenommen. Hätte SAMUEL ARANDA / THE NEW YORK TIMES / LAIF
sung für die verfahrene Lage brin-
Puigdemont es ihm nachgetan, gen. Es würde sich dann in demo-
wäre er für die Separatisten zum kratisch legitimierten Wahlen zei-
Helden geworden. Am Dienstag gen, wie stark das Lager der
hatte er dazu die Gelegenheit. Separatisten wirklich ist. Die Par-
Und es sieht ganz so aus, als hätte tei von Puigdemont muss mit ei-
er sie verspielt. nem Absturz rechnen. Jene Wäh-
Die katalanischen Separatisten ler, die nicht einverstanden sind
sind eine sehr disparate Truppe, mit der Unabhängigkeit, könnten
nur der Wunsch nach einem ei- Regionalpräsident Puigdemont: Er muss nur schweigen sich den Ciudadanos zuwenden
genen Staat eint sie. Puigdemont oder den Sozialisten.
gehört zur wirtschaftsliberalen, katalanis- Universität Barcelona. Denn inzwischen Die große Nutznießerin könnte Barce-
tischen Partei PDeCat (Partit Demòcrata sei „das schweigende Katalonien aufge- lonas Bürgermeisterin Ada Colau mit ihrer
Europeu Català). Seine Regierung wird ge- wacht“. Am vergangenen Sonntag zogen linksalternativen Partei „Catalunya en
stützt von den zehn meist jungen Abge- Hunderttausende Menschen durch die ka- Comú“ sein. Colau hatte zwar Puigdemont
ordneten der ultralinken Antisystempartei talanische Hauptstadt bis in die Nähe des geholfen, das Referendum durchzuziehen,
CUP. Er musste ihnen versprechen, binnen Parlaments. Sie demonstrierten für den sich aber gegen eine Abspaltung ausge-
18 Monaten nach Amtsantritt die Unab- Verbleib im spanischen Staat. sprochen.
hängigkeit zu erklären. Sie haben Puigde- Wahrscheinlich hat sich Puigdemont ver- Carles Puigdemont kann also tun, was
mont vor sich hergetrieben und viele für rechnet. Er hatte gehofft, dass die Bilder er will, er wird die Macht wohl bald abge-
die Abspaltung mobilisiert. Schon Diens- prügelnder Polizisten des Zentralstaats am ben müssen. Er kann nur noch entschei-
tagnacht sprach ihre Fraktionsvorsitzende Referendumstag die EU dazu bewegen den, wie er in Erinnerung bleiben will.
Anna Gabriel von „versäumter Gelegen- würden, sich als Vermittler einzuschalten. Er wird erneut die Chance haben, die
heit“. Die CUP droht, die Arbeit im Re- Damit wäre Katalonien zum gleichberech- Unabhängigkeit auszurufen. Nicht mehr
gionalparlament einzustellen. tigten Verhandlungspartner geworden. vor dem Parlament, nicht mehr auf der
Aber gleichzeitig steht Puigdemont auch Doch alle Mitgliedstaaten lehnten es ab, großen Bühne, sondern einfach, indem er
vonseiten seiner Partei unter Druck. Sogar sich in Spaniens innere Angelegenheiten nichts tut. Er muss nur schweigen.
sein Vorgänger Artur Mas sagt, man sei einzumischen. Und der Präsident des EU- Juan Moreno, Helene Zuber
noch nicht reif für die „reale Unabhängig- Rats, Donald Tusk, warnte: „Kündigen Sie
keit“. In den vergangenen Tagen hielten nichts an, was den Dialog unmöglich Video: Wie es jetzt
die Unternehmen Kataloniens ihr eigenes machen würde.“ weitergeht
Referendum ab: Sie nahmen Reißaus. Mit Daran hat Puigdemont sich mit seiner spiegel.de/sp422017katalonien
der Unabhängigkeit wäre Katalonien zu- verrätselten Erklärung gehalten. Das Gute oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 42 / 2017 91


Chinas Macht-Maschine
Analyse Je tiefer die Krise des Westens, desto größer Pekings Zuversicht. Vor dem
Parteitag festigt Xi Jinping seine Position als mächtigster Staatschef seit Jahrzehnten.

E
s wird ein gespenstisch schöner Herbst in Peking. nisterien vorbei, die wichtigsten politischen Entscheidun-
Die Stahlwerke rund um die Stadt haben ihre Hoch- gen treffen, von der nationalen Sicherheit bis zum Ren-
öfen gedrosselt, kein Wölkchen Smog wird den Him- minbi-Kurs.
mel trüben. Ein gutes Dutzend Bürgerrechtler sind unter Als Parteichef hat er den Einfluss des ihm untergeord-
Hausarrest gesetzt, niemand wird ihre Klagen hören. Der neten, doch traditionell starken Premierministers be-
Parteichef von Chongqing und viele andere, die schlechte schränkt, wichtige Posten bis tief in die Provinz mit ei-
Nachrichten hätten verbreiten können, sitzen in Haft, Kor- genen Gefolgsleuten besetzt und mittels einer großen
ruptionsverdacht. Die sozialen Netzwerke sind brav und Anti-Korruptions-Kampagne Zehntausende unliebsame
folgsam, nach Google, Facebook und Twitter ist jetzt auch Funktionäre aus dem Verkehr gezogen.
WhatsApp abgeschaltet. Er hat die 96 Jahre alte und unter seinen Vorgängern
Die Sonne wird scheinen und die Oktoberluft weich aufgedunsene und gleichzeitig erschlaffte Partei gezielt
und seidig sein, wenn sich die 2287 höchsten Kader kom- auf sich ausgerichtet und in eine straffe Organisation zu-
mende Woche zum Kongress der Kommunistischen Partei rückverwandelt – ein eigentlich anachronistisches, strikt
einfinden, dem letzten, bevor sie 2021 ihren 100. Jahrestag zentralistisches Herrschaftsinstrument, angepasst an die
begeht. Herausforderungen der Globalisierung und des Informa-
Es läuft für Pekings Führung, es läuft so gut wie seit tionszeitalters.
Langem nicht mehr. Während Amerika um seine Identität Die Gremien revanchierten sich mit Ehrerbietungen,
und Europa um seine Einheit ringt, feiert Chinas KP ihre die an den Personenkult unter Mao Zedong erinnern. Das
Erfolge und plant die nächste Etappe auf dem Weg nach Zentralkomitee ernannte Xi zum „Kern“ der Partei, die
vorn. Während die Menschen in Russland um ihre wirt- Propaganda feiert ihn in rasant geschnittenen Web-Clips
schaftliche Zukunft bangen und die in der arabischen Welt als zugleich volksnahen und weltgewandten Führer. An
um ihren letzten Rest an Würde, brummt Chinas Wirt- die 50 Xi-Jinping-Bände stehen vor dem Parteitag in den
schaft, der Devisenschatz ist Pekinger Buchhandlungen, darunter vier offiziell von ihm
auf 3100 Milliarden Dollar an- selbst verfasste Titel wie „Verstand und Vision“ oder „Chi-
Pekings Führer gestiegen, den höchsten Stand
seit einem Jahr. Das Land legt
na regieren“. Xis „diplomatisches Denken“, schreibt, ganz
im Ernst, sein Außenminister Wang Yi, stelle „300 Jahre
twittern nicht und die Grundmauern für eine Welt- westlicher politischer Theorie“ in den Schatten.
Der 19. Parteitag wird Xi Jinpings schon heute fast voll-
reden nicht viel. ordnung, in der es selbst eine
tragende Rolle übernimmt. ständige Machtergreifung besiegeln, die Frage ist nur, in
Dafür kontrollieren Autokraten wie Wladimir Pu-
tin und Machtpolitiker wie Do-
welcher Form. Die KP will seine „politische Theorie“ in
ihrer Verfassung festschreiben, das hat sie bereits ange-
sie, worüber nald Trump und Recep Tayyip kündigt. Wenn das unter ausdrücklicher Nennung seines
Erdoğan mögen die Nachrich- Namens geschieht, dann schließt Xi damit auf zu Mao,
gesprochen wird. ten und Schlagzeilen bestim- dem Gründer der Volksrepublik, und zu Deng Xiaoping,
men. Doch wie moderner Au- ihrem großen Reformer.
toritarismus funktioniert, führt ihnen Peking vor. China Es ist sogar denkbar, dass Xi die Grundlagen für eine
verstrickt sich nicht in militärische Abenteuer wie Russ- dritte, über 2022 hinausgehende Amtszeit legt. Nicht als
land in der Ukraine oder in Syrien. Es führt auch keine Präsident, dem nur zehn Jahre zustehen, sondern als Par-
diplomatischen Hahnenkämpfe auf wie der türkische Prä- teichef, dem in China ohnehin wichtigeren Posten. Oder
sident mit seinen Gegnern. Und Chinas Führer twittern er übernimmt das bald nach Maos Tod abgeschaffte Amt
nicht. Sie reden überhaupt nicht viel. Sie lassen die Pro- des großen „Vorsitzenden“, das ihn jeder zeitlichen Be-
pagandisten ihre Reden schreiben und von der Zensur schränkung seiner Macht entheben würde. Auch das hal-
kontrollieren, worüber in ihrem Land gesprochen werden ten Insider inzwischen für möglich. Anders als seine Vor-
darf. Das verschafft ihnen die Ruhe und Stabilität, die sie gänger hat Xi nie erkennen lassen, dass er an seiner Nach-
brauchen, um ihre Pläne umzusetzen. folge interessiert sei – geschweige denn, wer dafür infrage
Auf diese Weise hat es Staatschef Xi Jinping zum mäch- käme.
tigsten chinesischen Politiker seit Jahrzehnten gebracht. Xi regiert das moderne China aber weniger wie Mao,
2012 kam er ins Amt, ein entschlossener und selbstbe- der sich mit der Partei zeitlebens schwertat, sondern eher,
wusster Mann, damals aber noch eingezwängt in die Ver- wie Lenin sich das vorstellte: von oben nach unten, vom
hältnisse, die seine Vorgänger ihm hinterlassen hatten. Zentrum aus an die Peripherie, strikt am Erhalt der Macht,
Der erste Parteitag unter seiner eigenen Regie gibt ihm aber pragmatisch an Ergebnissen orientiert. Das kann er
nun die Gelegenheit, Partei und Staat ganz nach seinem tun, weil Chinas Kommunistische Partei keine ideologi-
Willen zu formen. schen Auseinandersetzungen mehr führt. Zwar spicken
Xi hat fünf Jahre lang still vorgearbeitet. Als Präsident die Kader auf ihren Parteitagen ihre Reden bis zur Unver-
hat er an der Staatsspitze eine Reihe von „Führungsgrup- ständlichkeit mit sozialistischem Jargon. Doch viel mehr
pen“ der Partei installiert, die, an den traditionellen Mi- ist von den Utopien des Sozialismus nicht geblieben.

92 DER SPIEGEL 42 / 2017


Ausland

AFP
Emblem der chinesischen KP als Straßengemälde in Shangqiu: Kombination aus Leninismus und Digitalisierung

Fast 90 Millionen Mitglieder zählt die KP zurzeit, das Im Westen stellen sich nur wenige diese Frage ernsthaft.
ist jeder 15. Chinese, mehr als die Bevölkerung Deutsch- Unvorstellbar wäre in den fortschrittlichen Demokratien
lands. Etwa die Hälfte der Mitglieder ist in den vergange- der Verlust an Freiheit und Selbstbestimmung unter einem
nen 30 Jahren beigetreten, also im Zuge von Chinas wirt- an China orientierten Regime. In den Schwellenländern
schaftlichem Aufschwung. Sie haben Familien, Jobs, Un- und weniger entwickelten Staaten, selbst innerhalb der
ternehmen, ihre Ansprüche wachsen, sie wollen beruflich Europäischen Union, hat die chinesische Entwicklungs-
weiterkommen. Die Partei ist ein Vehikel zur Beförderung diktatur zuletzt dagegen deutlich an Ansehen gewonnen,
ihrer Karrieren. vor allem unter den dort Herrschenden.
Das autoritäre Herrschaftsprinzip hat die Partei aber Wenn Chinas Staatspartei zu einer Militärparade oder
nicht aufgegeben, sie hat es angepasst und perfektioniert, dem Gipfeltreffen einer von ihr gegründeten internatio-
vor allem in den fünf Jahren unter Xi Jinping. Über die nalen Organisation lädt, sind Pekings Fans auf der Tribüne
riesige Zahl ihrer Mitglieder und den zentralistischen Zu- zu besichtigen: Putin und Erdoğan, Alexander Lukaschen-
griff auf öffentliche und private Institutionen durchdringt ko aus Weißrussland, Abdel Fattah el-Sisi aus Ägypten –
und kontrolliert sie alle Lebensbereiche, vom Staatsdienst aber auch Politiker wie Ungarns Premier Viktor Orbán
bis zur Hightech-Industrie. oder Tschechiens Präsident Miloš Zeman.
Im einzigen großen Land, in dem er überlebt hat, hat

M
ehr als 35 private Internetfirmen haben in ihren sich der Kommunismus in eine Attraktion verwandelt, die
Hauptquartieren Parteikomitees installiert, da- selbst ehemalige Regimekritiker wie Zeman und Orbán
runter Onlineriesen wie die Suchmaschine Baidu anlockt – nicht als Ideologie, sondern als effiziente Regie-
und der Social-Media-Konzern Sina. Deren Mitglieder sit- rungsform.
zen bei allen wichtigen Entscheidungen am Tisch und pas- Die Führer der chinesischen KP wissen um diese At-
sen auf, dass die Parteilinie eingehalten wird. Selbst viele traktion und nutzen das Wohlwollen dieser Politiker be-
Joint Ventures mit ausländischen Firmen stehen inzwi- reits, um ihren internationalen Einfluss zu stärken: Auch
schen unter Druck, ihre Parteizellen auszubauen. mit ihrer Unterstützung wurde ein Chinese zum Präsiden-
Die Kombination aus Leninismus und Digitalisierung ten von Interpol gewählt, ein zweiter zum Generalsekretär
macht Chinas Staatspartei zur perfekten Macht-Maschine der Internationalen Fernmeldeunion (ITU); ein dritter gilt
unserer Zeit. Sie stattet ihre Führer mit Werkzeugen als aussichtsreichster Kandidat für den Vorsitz der Unesco,
aus, die Politikern in demokratischen Systemen nicht zur die wie die ITU großen Einfluss auf die künftige Regulie-
Verfügung stehen. Der seit 30 Jahren fast ununterbroche- rung des globalen Datenverkehrs haben wird.
ne wirtschaftliche Aufstieg Chinas und das Krisengefühl In einem nämlich sind sich Chinas Kader, die kommen-
im Westen, das sich nach dem Brexit und der Wahl Do- de Woche zu ihrem Parteikongress zusammentreffen, mit
nald Trumps verstärkt hat, werfen deshalb eine Frage ihren heimlichen und offenen Bewunderern im Rest der
auf: Hat das „chinesische Modell“ womöglich bessere Re- Welt einig – ihrem autoritären Menschenbild und damit
zepte, mit den Herausforderungen der Globalisierung der Überzeugung, dass die Herrscher am besten wissen,
umzugehen? was für die Beherrschten gut ist. Bernhard Zand

DER SPIEGEL 42 / 2017 93


JOE RAEDLE / GETTY
Verwüstetes Haus in Corozal: Einer der stärksten Wirbelstürme, die jemals über die Karibik gezogen sind

Amerikaner zweiter Klasse


Puerto Rico Nach dem Hurrikan „Maria“ kam einfach keine Hilfe – da legte sich Carmen Yulín Cruz
mit Präsident Donald Trump an. Die Bürgermeisterin der Hauptstadt San Juan wurde zum Star.

E
s ist Tag 15 nach dem großen Sturm, ner Baseballkappe. Yulín lächelt, als sie aus feln und Cargohose, die gerade tatsächlich
als sich ein Konvoi durch das hügelige der Beifahrertür ihres Pick-ups springt und so etwas wie die Zeit ihres Lebens erlebt.
Landesinnere von Puerto Rico schlän- kurz darauf mit einem Hammer gegen die Seit Yulín vor ein paar Tagen mit einem
gelt. Die Trucks rauschen durch kahle Tro- Metallwand eines Zisternenwagens klopft. wütenden Hilferuf den Zorn des amerika-
penwälder, in denen sich die Baumstämme „Wasser! Wasser!“, ruft sie, während aufge- nischen Präsidenten Donald Trump auf
verkeilen wie Stäbe in einem Mikadospiel. regt schreiende Menschen mit Eimern und sich zog, wird sie in Orten wie Comerío
Entlang der Straße abgeknickte Strommas- Kanistern herbeieilen. wie eine Nationalheilige empfangen. Die
ten, verlassene fensterlose Häuser, deren Yulín, die Bürgermeisterin der Haupt- Menschen jubeln ihr zu, sie fassen sie an,
Dächer Hurrikan „Maria“ mit all der sei- stadt San Juan, hatte Tage nach dem Sturm sie danken ihr dafür, dass sie Widerstand
nem Namen innewohnenden Unschuld ab- einen handgeschriebenen Brief erhalten, in leistet in einem vergessenen Land, das
gedeckt hat. Bleche, Müll, zerfetzte Schil- dem ihr Amtskollege aus Comerío sie mit auch zwei Wochen nach dem Sturm ums
der, wie Zeichen einer fernen Zivilisation. verzweifelten Worten um Hilfe bat. Des- Überleben kämpft.
Am Wegesrand die Silhouette eines Men- halb ist sie heute hier. Yulíns Trucks haben „Commander“ rufen sie Yulín, weil sie
schen, der seit Tagen orientierungslos in Wasser geladen, Essen für Hunderte Fami- schon mit Reispaketen durch die Fluten
dieser Endzeitgegend herumzuirren scheint. lien, Solarlampen, ein Satellitentelefon. Sie watete, als Donald Trump noch überlegte,
In einem kleinen, staubigen Ort namens könnten all das in San Juan gebrauchen, ob es sich in Puerto Rico überhaupt um
Comerío kommt der Konvoi zum Stehen. hatte Yulín unterwegs gesagt, aber sie wolle eine wahre Katastrophe handle.
Als hätte es jemand bestellt, dudelt vorn ein Zeichen der Solidarität setzen. „Maria“ war einer der stärksten Hurri-
im ersten Wagen das Lied „The Time of Als schließlich auch der Bürgermeister kane, die jemals über die Karibik zogen.
My Life“ aus dem Hollywoodfilm „Dirty von Comerío auf der Kreuzung auftaucht, Auf Puerto Rico ließ er das marode Strom-
Dancing“. Carmen Yulín Cruz öffnet die nehmen sie sich in den Arm. Sie weinen. netz endgültig kollabieren. Das Internet ist
Augen. Sie richtet ihre Brille und verstaut Ein älterer Herr, der keine Worte findet, und tot. Der Sturm hat Ernten weggefegt und
die schulterlangen blonden Haare unter ei- eine 54-jährige zierliche Frau in Kampfstie- Dutzende Dörfer von der Außenwelt ge-
94 DER SPIEGEL 42 / 2017
Ausland

trennt. Krankenhäuser mussten schließen, patienten, den sie in ein anderes Kranken- anderes festgestellt wie auch Trumps Drei-
weil die Dieselvorräte für die Generatoren haus verlegten, pumpte sie mit einem Be- sternegeneral bei seiner ersten Ortsbesich-
ausgingen, und noch immer fehlt den meis- atmungsgerät per Hand Luft in die Lunge. tigung. Trotzdem fühlte Trump sich ange-
ten auf der Insel sauberes Trinkwasser. Als Tage später die ersten Hilfscontainer griffen.
Bis zu jenem Morgen, an dem Yulín nach eintrafen, stand sie im Hafen vor einem Tags darauf meldete er sich von seinem
Comerío aufbrach, waren 34 Menschen um- Elektrotor, das sich nicht öffnen ließ. Golfplatz in New Jersey aus und warf Yulín
gekommen, 15 000 Puerto Ricaner harren in „Wo waren die Männer, die das reparie- auf Twitter „mangelnde Führungsstärke“
Notunterkünften aus. Sie sind Staatsbürger ren?“, fragt sie. „Wo waren die Fahrer, vor. Dann legte er im Ton eines beleidigten
der USA wie die Menschen in Texas oder die die Sachen in die Dörfer bringen? Wo Kolonialherrn nach, dass Puerto Rico nicht
Florida, wo die Hilfsmaschinerie nach den waren die blauen Planen, mit denen wir in der Lage sei, seine Angelegenheiten
Hurrikanen „Harvey“ und „Irma“ vor we- die Dächer hätten decken können? Der selbst zu regeln. Die Leute wollten, dass
nigen Wochen wie geschmiert anschnurrte. Regen hörte ja nicht auf.“ Yulín versteht man alles für sie mache. Vier Tweets setzte
Hunderte Flugzeuge und Helikopter waren nicht, warum die Katastrophenhelfer, die Trump an diesem Samstag in Yulíns Rich-
in Texas und Florida im Einsatz gewesen. Washington geschickt hatte, sie baten, de- tung ab, er machte sie weltberühmt.
Auf Puerto Rico waren es anfangs neun. taillierte Onlineanträge auszufüllen, ob- Dann tötete ein Irrer in Las Vegas
Zehntausende Soldaten halfen im Süden wohl das Internet nicht funktionierte. 58 Menschen. Auch das ist Teil des Schick-
der USA, aber auf Puerto Rico hatte das Statt anzupacken, sagt sie, seien viele die- sals von Puerto Rico. Mag sein, dass es in
Militär eine Woche nach dem Sturm noch ser Leute erst mal durch die Stadt gezo- letzter Zeit einfach zu viele Katastrophen
nicht einmal einen Einsatzleiter. Schiffe gen, um Schäden zu katalogisieren. Und waren. Vielleicht aber auch nicht. „Ich will
mit Hilfsgütern waren auf offener See um- dann war da noch Donald Trump, der of- das Undenkbare eigentlich nicht denken“,
gekehrt, weil Trump tagelang gezögert hat- fenbar nichts Besseres zu tun hatte, als sagt Yulín. Sie schweigt für einen Augen-
te, den fast hundert Jahre alten „Jones sich auf Twitter mit ein paar Footballstars blick. Das Undenkbare? „Unnötige Kos-
Act“ außer Kraft zu setzen, der es unter anzulegen. ten“, fragt sie, „weil es hier nicht um Wäh-
ausländischer Flagge fahrenden Schiffen Es hatte sich etwas in ihr angestaut, als lerstimmen geht? Politisches Kalkül? Ein
untersagt, aus den USA kommend auf Yulín während einer Schalte auf CNN mit unterschwelliger Rassismus?“
Puerto Rico anzulegen. den Worten von Trumps Heimatschutz- Zwölf Jahre hat Yulín in den USA gelebt.
Das Verhältnis zwischen den USA und ministerin konfrontiert wurde, die kurz zu- Sie hat dort studiert, geheiratet und eine
ihrem Außenposten in der Karibik ist son- vor erklärt hatte, die Dinge auf der Insel Tochter auf die Welt gebracht. Als Perso-
derbar und kompliziert. Auch wenn Puerto gingen nun ordentlich voran. Sie hatten nalmanagerin bei Konzernen wie Colgate
Rico offiziell zum Territorium der USA ge- jetzt einen Dreisternegeneral vor Ort, der oder Westingham hatte sie ein gutes Leben,
hört, ist es kein Bundesstaat, sondern eine Präsident hatte den „Jones Act“ für zehn aber sie spürte, dass ihr etwas fehlte, Hei-
Art Kolonie. Puerto Ricos Bürger zahlen Tage ausgesetzt, Tausende Hilfskräfte wa- mat, Erfüllung, etwas, was sie erst nach ih-
Steuern, aber von den Präsidentschaftswah- ren im Einsatz. Puerto Rico, sagte Elaine rer Rückkehr auf die Insel als Politikerin
len sind sie ausgeschlossen. Ihre einzige Duke, sei eine „good news story“. fand. Yulín war Abgeordnete im Repräsen-
Abgeordnete im Kongress ist ohne Stimm- Yulín rang um Luft, sie war außer sich. tantenhaus Puerto Ricos; seit 2013 ist sie
recht. Die Insel muss sich ihre Handels- „Das ist keine ,good news story‘“, sagte Bürgermeisterin der Hauptstadt, sie wurde
und Außenpolitik absegnen lassen. sie. „Das ist die Geschichte von Menschen, vor der Wahl von einem wilden Bündnis
Die Menschen auf der Insel fühlten sich die sterben. Von Hilfsgütern, die nicht an- aus Gewerkschaftern, Taxifahrern und Ak-
als Amerikaner zweiter Klasse, und dieses kommen.“ Es gibt viele auf Puerto Rico, tivisten aus der Schwulenszene unterstützt.
Gefühl, sagt Yulín, sei vermutlich nie so die Yulín eine Neigung zur Dramatik vor- „Ich bin zu sehr Puerto Ricanerin, um
stark gewesen wie in diesen Wochen nach werfen, aber in diesem Fall hatte sie nichts es auf Dauer auf dem Festland auszuhal-
dem Sturm. Warum dauert es so lange, bis
die Hilfe kommt? Wo enden die Grenzen
der USA in den Zeiten von „America
First“? Wie kaltherzig ist dieser Präsident?
Das sind die Fragen, die sich in diesen
Tagen nach „Maria“ nicht nur Yulín stellt.
Anders als Trump hatte sie die Warnungen
der Wetterforscher ernst genommen. Im
Coliseo, einer Mehrzweckhalle im Zen-
trum San Juans, hatte die Bürgermeisterin
ein Krisenzentrum eingerichtet. Dort, wo
in normalen Zeiten Basketball gespielt
wird, kampierten bereits Tage vor dem
Sturm Familien, die ahnten, dass ihr Haus
„Marias“ Wucht nicht widerstehen würde.
Yulín schläft noch heute in einer der Um-
CAROLYN COLE / L.A. TIMES / POLARIS / LAIF

kleidekabinen. Zu Hause bei ihren Töch-


tern war sie zum letzten Mal vor knapp ei-
nem Monat.
„Die ersten Tage waren Wahnsinn“, sagt
sie, als ihr Wagen wieder durch die Wälder
gleitet. Nie, meint Yulín, werde sie den
Anblick jener Menschen aus dem Kopf be-
kommen, die in einem Seniorenheim am
Fenster standen und mit ausgestrecktem
Arm nach Wasser riefen. Einem Intensiv- Politikerin Yulín: „Das ist die Geschichte von Menschen, die sterben“

DER SPIEGEL 42 / 2017 95


Ausland

ten“, sagt sie. „Andererseits aber bin ich doch in Ordnung, sagte Trump, „vergli- keitsgemäßes Bild der Lage zu bekommen.
zu sehr Amerikanerin, um den kompletten chen mit einer echten Katastrophe wie ,Ka- Ihm sind die Fotografen aufgefallen, die
Bruch zu wollen.“ trina‘, wo viele Hundert gestorben sind“. während seiner Unterredung mit dem Prä-
In Yulíns Hin-und-hergerissen-Sein, in Dann brach er auf zu einem kurzen He- sidenten ihre Kameras auf sie richteten.
ihren Zweifeln, wo sie hingehört, spiegelt likopterrundflug, ehe er mittags gegen eins „Es waren viele“, sagt Sotomayor. „Kann
sich die zerrissene Identität des Landes. in einem Wohnviertel der Stadt Guaynabo sein, dass er nur ein paar gute Bilder
Wie frei wollen wir sein? Wie abhängig? plötzlich im Vorgarten von Hector Soto- brauchte.“
Diese Fragen stellen sich angesichts der mayor auftauchte. Nach einer Viertelstunde war der Spuk
Katastrophe neu: Wäre die Hilfe schneller Sotomayor ist ein 56-jähriger Herr mit vorbei. Im Anschluss schaute Trump noch
eingetroffen, wenn wir der 51. Bundesstaat kurz geschorenem Haar und kräftigem kurz in einer nahe gelegenen Kirche vor-
wären, fragen die einen. Was sollen wir Händedruck. 14 Jahre hat er als Hub- bei, wo er ein paar Sturmopfern Papier-
mit einer Schutzmacht, die nicht schützt, schrauberpilot in der Armee gedient, er handtücher zuwarf. Bei seinen Würfen hat-
fragen die anderen. hat einen Doktor in Philosophie, und seit te er die Pose eines Basketballers. Ich hatte
Im Grunde liegt es am Kongress in Wa- einigen Jahren betreibt er unter dem Dach einen super Tag in Puerto Rico, schrieb er
shington, darüber zu verhandeln. Bei einem seines Hauses eine kleine Karateschule. am folgenden Morgen auf Twitter.
Referendum vor fünf Jahren hat sich eine Am Tag nach Trumps Visite hockt er im Was zurückblieb, waren Fragen.
knappe Mehrheit der Puerto Ricaner für Trainingsanzug auf dem Sofa und wischt Kann es sein, dass Trump nach seiner
einen engeren Anschluss an die USA aus- sich den Schweiß von der Stirn. Der Ven- Stippvisite in Guaynabo denkt, dass alles
gesprochen. Die Republikaner aber rühren tilator steht, weil der Strom noch immer nicht so schlimm ist? Warum tut er sich so
das Thema nicht an, weil ein Bundesstaat nicht zurück ist. Auch Wasser haben sie schwer, ein Wort des Trostes zu finden?
Puerto Rico bei Präsidentschaftswahlen noch keins. Aber Sotomayor möchte nicht Am Tag nach Trumps Besuch erhöht Ricky
eher demokratisch wählen würde. Und die Rosselló, der Gouverneur von Puerto Rico,
Demokraten halten sich raus, weil die die Zahl der Todesopfer auf 34, inzwischen
meisten Linken auf der Insel paradoxer- 16 Tote. Das sei doch sind es 43. Es sind zwar nicht Tausende
weise mehr Unabhängigkeit einfordern. wie bei „Katrina“, es sind nicht 58 wie in
Die Dinge stehen also still. in Ordnung, sagte Trump, Las Vegas, aber es sind mehr als 16. Im-
Das Einzige, was derzeit debattiert wird, „verglichen mit einer merhin.
ist der Umgang mit 72 Milliarden Dollar Ein paar Stunden später steht die Bür-
Staatsschulden, die Puerto Rico infolge ei-
echten Katastrophe“. germeisterin Carmen Yulín auf einer Wiese
ner langen Wirtschaftskrise angehäuft hat. vor dem Coliseo. Ihr Hilferuf auf CNN hat
Seit Mai ist das Land zahlungsunfähig, hin- klagen. Verglichen mit denen, die alles ver- wenigstens dazu geführt, dass ein paar Le-
zu kommen jetzt die Schäden, die „Maria“ loren haben, sei das nichts, sagt er. bensmittelfirmen Milchpulver und Reis ge-
hinterlassen hat. Der Wiederaufbau wird Es ist ihm unangenehm. spendet haben. Venezuela hat ein Schiff
wohl bis zu 95 Milliarden Dollar kosten. „Warum haben sie ihn ausgerechnet hier mit Diesel geschickt. Und am Nachmittag
Von den 4,9 Milliarden, die Trump als So- zu uns gebracht?“, sagt er. „In ein Mittel- brachte ein Flugzeug aus New York 300
forthilfe angekündigt hat, lässt sich kaum klasseviertel, das weitgehend verschont ge- freiwillige Helfer, Krankenschwestern, In-
das Stromnetz flicken. blieben ist? In eine Straße, wo ihn die meis- genieure, Klempner, Menschen, die sich
13 Tage nach dem Sturm, 4 Tage nach ten für einen arroganten Mistkerl halten?“ in den T-Shirts ihrer Gewerkschaften in
dem Twitter-Angriff auf Yulín ließ er sich Es kam ihm vor wie ein skurriler Film. einem Halbkreis um Yulín formieren.
erstmals auf der Insel blicken. Aber er sah Die schwarzen SUVs, die plötzlich in die Yulín spricht eine kurze Dankesrede zur
über Yulín hinweg, als er ihr in einem Kon- Straße rollten, die Personenschützer auf Begrüßung, in der es um Moral geht und
ferenzraum kurz die Hand entgegenstreck- den ordentlich gefegten Bürgersteigen. das wahre Gesicht Amerikas. Dann reicht
te. Sie sagt, sie hätte bei dem Treffen gern „Warum erzählt er ausgerechnet mir, dass sie das Mikrofon an einen der Piloten, der
etwas gesagt, aber Trump sprach vor allem sie hier alles wieder aufbauen? Warum be- kurz seine Mütze geraderückt.
selbst. Er lobte den Gouverneur der Insel klagt er sich über die Hitze? Ich sagte ihm, „Es waren Arbeiter, die Amerika groß
als „guten Mann“, er pries die Arbeit sei- dass es noch mehr Tote werden, aber dann gemacht haben“, ruft der Mann. „Und
ner Krisenhelfer als „A+“ und versuchte ging er weiter zu den Nachbarn.“ amerikanische Arbeiter werden auch
sich an einer Einordnung. 16 Tote waren Auch Sotomayor ist der Meinung, dass Puerto Rico wieder aufbauen.“
bis zu seiner Ankunft bekannt. Das sei es Trump nicht darum ging, ein wirklich- Marian Blasberg

„ OB DAS PUTENFLEISCH AUS


DEUTSCHLAND KOMMT, SOLLTE JEDER
GAST WISSEN. NICHT NUR BEI UNS.“
Mathias Rescher, Ratskeller Leipzig

Höchste Zeit für eine verbindliche Herkunftskennzeichnung


auf Speisekarten: 84 % der Verbraucher ist es wichtig, dass
ihr Geflügelfleisch aus Deutschland kommt. Trotzdem gehen
noch zu wenige Gastronomen mit gutem Beispiel voran und
informieren, woher ihr Fleisch stammt.

Geflügel-Charta.de
Sport
Spieler, die sich nicht für die WM qualifiziert haben Fußball
Stars haben
Urlaub
Cristiano Ronaldo und
Lionel Messi konnten sich
Gareth Bale Pierre-Emerick Alexis Sánchez Arjen Robben Arturo Vidal David Alaba mit Portugal und Argen-
Wales Aubameyang Chile Niederlande Chile Österreich tinien in dieser Woche erst
Real Madrid Gabun FC Arsenal Bayern München Bayern München Bayern München im letzten Gruppenspiel
Borussia Dortmund für die Fußballweltmeis-
terschaft 2018 in Russland
qualifizieren. Dennoch
werden bei der Leistungs-
schau im kommenden Jahr
einige der besten und
teuersten Fußballer der
Naby Keïta Christian Pulisic Henrich Mchitarjan Hakan Çalhanoğlu Jan Oblak Miralem Pjanić
Guinea USA Armenien Türkei Slowenien Bosnien und Herzegowina Welt fehlen. So reichte das
RB Leipzig Borussia Dortmund Manchester United AC Mailand Atlético Madrid Juventus Turin Talent von Gareth Bale,
Alexis Sánchez und Arjen
Spieler, die noch Gruppenspiele haben oder in die Play-offs müssen Robben nicht, um Wales,
Chile und die Niederlande
zur WM zu schießen.
Andere Weltstars bangen
noch. Auch Torhüter
Gianluigi Buffon und die
Gianluigi Buffon Ivan Rakitić Granit Xhaka Sadio Mané Eric Bailly Emil Forsberg italienische Nationalmann-
Italien Kroatien Schweiz Senegal Elfenbeinküste Schweden schaft müssen im Novem-
Juventus Turin FC Barcelona FC Arsenal FC Liverpool Manchester United RB Leipzig ber in Play-off-Spiele.

Magische Momente
„Wenn mich einer überholt, lachen mich alle aus“
KILIAN KREB

Der Bruchsaler Thomas Hellriegel, 46, über den ersten Sieg eines deutschen Triathleten beim Ironman auf Hawaii

SPIEGEL: Vor 20 Jahren liefen SPIEGEL: 1996 überholte Sie ten zum Sieg, und ich über- Ich wusste, dass ich aus der
Sie nach 8:33 Stunden in Ha- an fast der gleichen Stelle legte ein Jahr lang jeden Tag, Spitzengruppe der Radfahrer
waii als Erster ins Ziel. Konn- der Belgier Luc Van Lierde. wie ich diese Zeit reinholen der beste Läufer sein würde.
ten Sie den Sieg genießen? Hellriegel: Das tat richtig weh. könnte. Ich rannte 4800 Kilo- SPIEGEL: Sie setzten sich ab,
Hellriegel: Erst auf den letzten Ich war sehr gut in Form, meter und fuhr über 22 000 vor dem Ziel reichte
Metern. Vorher waren blieb am Ende unter dem al- Kilometer mit dem Rad. Ihnen jemand eine Deutsch-
nur Stress und Schmerzen. ten Streckenrekord und war Ich hatte einen Ernährungs- landflagge.
SPIEGEL: Stress? Sie hatten trotzdem wieder nur Zweiter. berater. Weil ich kaum in Hellriegel: Ich hätte sie fast
sechs Minuten Vorsprung. SPIEGEL: Wie gingen Sie den Schlaf fand, beruhigte weggeworfen. Sie kam mir
Hellriegel: Ja, aber das Trauma damit um? ich meinen Kreislauf schwer vor. Ich dachte, wenn
vom Vorjahr steckte noch Hellriegel: In der Vorbereitung auf einer Magnetfeldmatte. mich noch einer überholt,
tief in mir – ich hatte ständig für 1997 tat ich nichts – SPIEGEL: Es sollte sich lohnen. dann lachen mich alle aus.
Angst, dass etwas Uner- außer trainieren, essen und Hellriegel: Es lief perfekt. SPIEGEL: Es kam niemand
wartetes passieren könnte. schlafen. Zwei Minuten fehl- Es war heiß und sehr windig. mehr.
SPIEGEL: In den beiden Jah- Hellriegel: Ich brauchte lange,
ren zuvor wurden Sie kurz um den Erfolg zu realisieren.
vor dem Ziel überholt. Wie Zu Hause schaute ich manch-
sehr nagte das an Ihnen? mal zur Sicherheit nach,
Hellriegel: 1995 war es nicht ob mein Siegerring wirklich
so schlimm. Ich war erstmals da ist.
dabei, hoffte auf die Top Ten. SPIEGEL: Dieses Jahr will Jan
Dass ich bei Marathonkilo- Frodeno zum dritten Mal
meter 38 noch vorn lag, kam in Folge gewinnen. Geht das
völlig überraschend. Dann mit rechten Dingen zu?
kreuzten immer mehr Motor- Hellriegel: Tatsache ist, dass
räder mit Kameramännern er keine Schwäche hat.
bei mir auf, mir war klar: Nie zuvor war jemand in
SVEN SIMON

Gleich zieht Mark Allen an Hellriegel 1997 beim Ironman auf Hawaii allen drei Disziplinen
mir vorbei. so unglaublich stark. pk

DER SPIEGEL 42 / 2017 97


Sport

Auf Betteltour
Pferde Beim Galopp trafen sich früher Adlige, Millionäre und Mächtige. Heute steckt
der Sport in einer schweren Krise. Die Rennvereine sind abhängig von den Launen
reicher Mäzene. Ein Mann stemmt sich verzweifelt gegen den drohenden Untergang.

A
lbert Darboven bleibt stehen, Doch es gibt immer noch Leute wie Eu- Wahler schwitzt in seinem Wollanzug.
packt Bürgermeister Olaf Scholz gen-Andreas Wahler, der im Hauptberuf Vor dem Rennen muss er noch den Leder-
am Arm, streckt den rechten Zei- Rechtsanwalt und Notar ist und mit Lei- riemen seines alten Fernglases entheddern,
gefinger aus. Lässt ihn über die Menschen denschaft weiterkämpft. daran baumeln die Abzeichen von den
wandern, die zum Deutschen Derby nach Früher, als Wahlers Rennstall noch gut größten Rennplätzen der Welt – Epsom,
Hamburg-Horn gekommen sind. Die Zu- bestückt war, boomte seine Sportart in Longchamp, Ascot. Es sind vergilbte An-
schauer stehen mit Backfischbrötchen und Deutschland. Hunderttausende strömten denken an bessere Zeiten. Wahler hütet
Bier gedrängt auf den Erdwällen und bli- auf die Bahnen. Die High Society saß auf sie wie einen Schatz.
cken in den Führring, dorthin, wo die Voll- den Ehrentribünen. Es war eine Melange Er betont, wie viele einfache Menschen
blüter zehn Minuten vor dem Rennen den aus Adel, Geld und Macht. Und unten bei immer noch vom Galoppsport leben. Er
Zockern vorgeführt werden. „Sehen Sie, den Kassen standen Arbeiter knöchelhoch kennt die heruntergekommenen Stallun-
Herr Scholz, das sind hier alles Ihre Leute“, in Wettscheinen und verzockten dort ihre gen, die sich ein paar Hundert Meter hinter
sagt Kaffeemillionär Darboven und schaut Löhne. der gelben Tribüne die Straße entlang-
den SPD-Mann herausfordernd an. In der ARD-„Sportschau“ wurde der schlängeln. Ein ehemaliger Jockey aus
Die Szene ist sechs Jahre her. Olaf „Galopper des Jahres“ gewählt. Bundes- Tschechien, Zigarette im Mundwinkel,
Scholz war seitdem nicht mehr beim Der- präsident Walter Scheel leitete in den Acht- schleift dort nach dem Rennen den Lor-
by. Aber Eugen-Andreas Wahler, Vorsit- zigern den Dachverband des Galoppsports. beerkranz eines Siegers hinter sich her,
zender des Hamburger Renn-Clubs, er- Im Fernsehen hieß eine Serie mit Thomas grüßt die anderen Pferdepfleger mit einem
zählt immer wieder diese eine Geschichte, Fritsch und Jutta Speidel „Rivalen der Nicken. Die sitzen in der kleinen Gaststät-
wie er damals mit dem Unternehmer Dar- Rennbahn“ – ein Quotenhit, die Filmmusik te hinter den Boxen, schlingen Toast Ha-
boven den Hamburger Bürgermeister vor war wochenlang in den Charts. waii mit kandierter Kirsche in sich hinein.
dem wichtigsten deutschen Galopprennen Zu den wichtigsten Pferderennen im Rund 1100 Euro verdient ein mittelmäßiger
über die Bahn führte. Spätsommer bei der Großen Woche Iffez- Jockey, ohne Preisgelder. Arbeitsreiter und
Dieses Mal spricht Wahler davon, wäh- heim bei Baden-Baden kamen Filmstars. Pferdepfleger bekommen noch weniger.
rend er über seinen Hof in der Lüneburger Einige landeten mit dem Helikopter auf Die Gehälter des Galoppsports sind so
Heide führt. Der ehemalige Rennreiter, der Grasbahn. Und heute? Im Garten der niedrig, dass außer ein paar fanatischen
Trainer und heutige Funktionär, 68, Schei- Klubtribüne brennt die Sonne nur noch Pferdemädchen kaum noch deutscher Nach-
tel, Tweedjacke und Seidenschlips, schiebt auf wenige Strohhüte. Nur 9150 Zuschauer wuchs für die Drecksarbeit zu finden ist.
mit seinen vom jahrzehntelangen Zerren sind zu den Rennen am zweiten Samstag „Und die Kosten steigen seit Jahren“,
der Zügel gekrümmten Reiterhänden das gekommen. sagt Wahler, „25 000 Euro kostet ein Pferd
Tor zu seinem Rennstall auf. im Training. Egal ob Kracher oder nicht.“
Drinnen stinkt es nicht nach Pferd und Demgegenüber bringe ein Vollblüter bei
Dung, es riecht nach frischer Farbe. Unter Rennen in Deutschland durchschnittlich
dem Fenster einer der 15 Boxen hängt nur etwa 6000 Euro im Jahr ein. Iffezheim
noch ein verblichenes Namensschild: Black sei „das Aushängeschild des Sports“ – aber
Major, Hengst. In den Boxen liegt kein auch hier ist der Umsatz seit 2000 von
Stroh, sie sind penibel ausgefegt. 22 Millionen auf 6 Millionen Euro gefallen.
In Wahlers Stall sieht es aus wie vieler- Grund des Aderlasses ist, dass sich die
orts in Deutschland. Die Anzahl der Renn- Spielleidenschaft neue Wege gesucht hat.
pferde ist seit der Jahrtausendwende von Wetten hatte immer etwas Verruchtes in
4700 auf 2486 zurückgegangen. Der Deutschland. Aber man tat es und tut es
Niedergang der Sportart ist auch an der immer mehr. Nur sind die Kunden ins
Zahl der Zuschauer festzumachen, die na- Internet abgewandert. Dort, wo man ano-
hezu auf allen Rennbahnen rückläufig ist. nym und unbeobachtet zocken kann. In-
Und an den Wettumsätzen auf den Bah- zwischen haben selbst Pferdebesitzer we-
nen, die in den vergangenen 20 Jahren um gen der besseren Quoten eine App. Die
82 Prozent eingebrochen sind. Die ersten Einnahmen aus dem Wettgeschäft sind das
Rennvereine haben ihren Betrieb einge- Rückgrat des Sports, aber sie fließen jetzt
stellt. nach Malta oder in andere Steueroasen.
LEMRICH / DER SPIEGEL

Wenn es so weitergeht, werden Ham- Wahler saß früher, als die Bilanzen noch
burg und die übrigen zwei Dutzend Bah- stimmten, gern mit den Mitgliedern des
nen bald folgen. Für Politiker wie Scholz Internationalen Clubs, der von 1872 an die
ist ein Besuch längst unwichtig geworden. Rennen in Baden-Baden ausrichtete, auf
Sie gehen zum Fußball. Wer geht schon der Tribüne. Die vielen adligen Mitglieder
zu Veranstaltungen, die dem Niedergang Hamburger Rennbahnchef Wahler hatten Manieren, sie sprachen seine Spra-
geweiht sind? „Hals und Bein, mein Mädchen“ che. Als sich der Klub vor einigen Jahren
98 DER SPIEGEL 42 / 2017
FOTOS: LEMRICH / DER SPIEGEL

Rennwoche in Iffezheim im September: Nur noch wenige Strohhüte auf der Tribüne

finanziell mit dem Bau einer teilverglasten und lud die Leute auf der Tribüne ab. Dort kurz über die Rennbahn, brachte sie ins
Tribüne verhob, konnte der Verein die stand schon ein Kübel mit Sekt bereit. Hotel, zu Verhandlungen kam es nie.
Rechnungen nicht mehr bezahlen. Bern- Betteltouren nennt ein anderer Renn- Die Katarer investierten lieber in England,
hard Prinz von Baden, der Klubpräsident, sportfunktionär diese Art der Sponsoren- den USA und Frankreich, wo der Sport im-
machte sich aus dem Staub. betreuung. Sie gehören dazu, um den La- mer noch ein Millionenpublikum anzieht.
Am Ende rettete Andreas Jacobs, 53, den zu retten. Wahler weiß: Große Geld- Dort wird bei großen Rennen das bis zu
den Rennbetrieb, der zweite Vertreter ei- geber wie BMW steigen nicht mehr ein, Zehnfache an Preisgeldern ausgeschüttet.
ner Kaffeedynastie im Sport. Jacobs sieht da braucht er gar nicht zu fragen. Kein Seit dem Fiasko springt Albert Darbo-
sich als Sanierer, andere Rennbahnen kom- Potenzial, wenig Perspektive, würde die ven mit seiner Marke „Idee-Kaffee“ („Der
men ohne Gönner nicht aus: In Köln ist es Marketingabteilung in München in diesem Menschenfreundliche“) als Sponsor ein,
ein Dachfondsmanager, in Hannover der Fall sagen. damit rettet der 81-jährige das Derby. Wah-
Betreiber von 80 Burger-King-Filialen, und Wahler hätte 2008, nach dem Ausstieg ler und Darboven kennen sich gut. In die-
in Hamburg sponsert Albert Darboven, 81, von BMW nach 18 Jahren, nicht auf die sem Jahr fährt die Veranstaltung nur einen
das prestigeträchtige Derby. Scheichs aus Arabien setzen dürfen. Ver- geringen vierstelligen Verlust ein. Damit
Dort, wo auf der Hamburger Rennbahn treter aus Katar hatten angekündigt, groß muss man zufrieden sein.
die dampfenden Vollblüter nach dem Ren- einsteigen zu wollen. Es endete damals in Als wäre das Geschäft nicht schon
nen abgeduscht werden, steht Wahler im einem riesigen Chaos. Wahler und Darbo- schwer genug, belastet jetzt noch eine Peit-
Juli beim Derby und starrt auf die Video- ven bekamen eine Einladung nach Katar, schenaffäre die Branche. Und dabei muss
wand. Das Rennen läuft, aber der Chef sie flogen im Januar 2009 nach Doha, doch sich Wahler, der nebenher auch Vorsitzen-
schaut gar nicht richtig hin, kümmert sich im Palast fühlte sich niemand so richtig zu- der des Oberen Renngerichts im Direkto-
nicht um das Getrappel beim Einlauf. Sei- ständig, man führte die beiden Männer rium für Vollblutzucht und Rennen ist, aus-
ne Gedanken sind bei der Delegation der gerechnet mit Horst Julius Pudwill herum-
Sparkasse Holstein. Video: schlagen – einem Mann, der noch nie auf
Vor fünf Minuten war deren Vertreter Ein Sport stirbt einer deutschen Rennbahn war.
über das Gras auf ihn zugerauscht, bedank- spiegel.de/sp422017galopp Der Selfmade-Milliardär ist der reichste
te sich für den Renntag. Wahler lächelte oder in der App DER SPIEGEL Deutsche in Asien und hat keine Ahnung
DER SPIEGEL 42 / 2017 99
Sport

von Wahlers Überlebenskampf in schleudert entnervt ihr Handy in die


Hamburg. Das Büro des 72-Jähri- Handtasche, der Hammer fällt bei
gen in einem Hongkonger Wolken- 500 000 Euro. Wahler links unten in
kratzer liegt nur wenige Meter Reihe zwei schaut müde durch seine
vom Perlfluss und der Rennbahn Lesebrille, notiert sich den Preis und
Happy Valley entfernt. Hier sitzt blättert zu Nummer 183.
der Hongkong Jockey Club, der mit Eigentlich müsste sich Wahler
seinen 23 Milliarden Euro jährlich freuen, dass Pudwill deutsche Pfer-
fast tausendmal so viel Umsatz de kauft. Denn damit unterstützt
macht wie alle deutschen Rennbah- er defizitäre Zuchtbetriebe. In den
nen zusammen. In dieser glitzern- vergangenen Jahren wurden immer

LEMRICH / DER SPIEGEL


den Rennfabrik wurde offenbar mehr Pferde abgeschafft. Mit 1450
Pudwills Appetit nach Rennpferden Stuten ist die deutsche Zucht im
geweckt. internationalen Vergleich nur noch
Weil die Pferde aber selten so lau- winzig. Viele Besitzer sind ausge-
fen, wie sie laufen sollen, gilt in der stiegen, seitdem sich Rennpferde in
Szene ein Ehrenkodex: „In unse- Auktion in Iffezheim im September der Regel nicht mehr über das eige-
rem Sport brauchst du Demut“, Vollblüter sind nicht mehr von der Steuer absetzbar ne Unternehmen steuerlich abset-
sagt Wahler bei Windbeuteln und zen lassen.
Kaffee im heimischen Medingen. Und Und so sitzt Jordan Anfang September Für Wahler sind inzwischen die Besuche
offensichtlich entspricht dem nicht, wie in der Iffezheimer Auktionshalle, als die di- auf Rennbahnen wie in Bad Harzburg
Pudwill sich vergangenes Jahr nach dem cken Geschäfte aufgerufen werden. Jedes Highlights geworden. Fährt man durch den
mit 650 000 Euro dotierten Derby verhal- Jahr werden hier hinter der Rennbahn die Ort, sieht man als Jockeys verkleidete
ten hat. Jährlinge aus den deutschen Gestüten ver- Strohpuppen in den Schaufenstern. Hier
Nachdem am 10. Juli die ersten beiden kauft. Schon Tage vor der Auktion drücken im Harz ist sie noch zu spüren, die Begeis-
Pferde im engen Zieleinlauf regelwidrig sich die Agenten von Box zu Box, beäugen terung für den Rennsport.
mit zu vielen Peitschenhieben ins Ziel ge- potenzielle Neuerwerbungen. Die deutsche Über der Bahn hängt an Renntagen der
ritten worden waren und Pudwills Pferd Zucht ist immer noch von hoher Qualität. Geruch von Thüringer Rostbratwurst und
Dschingis Secret knapp unterlegen war, ließ Pferd Nummer 182. Mit langen Schritten Bier. Tausende Zuschauer in kurzen Hosen
der Milliardär, der das Rennen 9000 Kilo- trottet der Hengst über den Sand. Beim und Sandalen drängen sich an den Gelän-
meter von Hamburg entfernt im Internet Gebot von 400 000 Euro wird es still in der dern oder stehen vor den Wettschaltern
verfolgt hatte, wutentbrannt durch seine Halle, auch die Touristen in der letzten Schlange, Kinder spielen auf der Hüpfburg.
Anwälte Protest einlegen und forderte die Reihe verstummen. Nur noch Jordan und Bad Harzburg ist der einzige Rennverein
Disqualifizierung der ersten beiden Pferde. eine asiatische Agentin sind im Rennen. in Deutschland, der wirklich noch Gewin-
Monatelang wurde durch die Instanzen Die hält über ein Headset Kontakt zum ne abwirft. Die Preise werden von der
des Verbandes gestritten, Richtern wurde Auftraggeber, wedelt mit der linken Hand Landschlachterei oder dem Baumwipfel-
Befangenheit vorgeworfen, einige traten Richtung Auktionator. pfad gespendet. „Das hier ist Volksfest
nach einem Urteil zurück. Mal war Pudwill 480 000, 490 000 Euro. Jordan richtet sich pur“, sagt Wahler beim Betreten der knar-
der Sieger, mal blieb es beim ursprüng- jetzt auf, nickt ein letztes Mal, die Asiatin zenden Holztribüne.
lichen Einlauf. Wahler wies als Vorsitzen- Gleich im Hürdenrennen über 3400 Me-
der des Oberen Renngerichts den Protest ter wird sein letztes Rennpferd, ein zier-
schließlich Mitte Juli zurück. Abgehalftert licher brauner Wallach, starten. Es geht
Letztlich drohte der Milliardär damit, Galoppsport in Deutschland nicht um 650 000 Euro Preisgeld wie beim
seine Pferde ins Ausland zu schaffen, und Derby in Hamburg, sondern um 14 000.
legte Ende August Klage vor einem Zivil- Rennpferde im Training Wahler ist nervös, fummelt am Revers
gericht ein. seines Sportsakkos. Er steht im Führring
Der Fall Pudwill zeigt, in welchen Zwän- 2000: 4700 und macht sich Sorgen um sein Pferd. No-
gen sich der Galoppsport befindet. Die Ab- valis, der fünfjährige Wallach eines Kölner
hängigkeit von finanzkräftigen Gönnern Fondsmanagers, ist Favorit und macht ei-
ist so groß geworden, dass der Sport es sich 2016: 2486 nen fantastischen Eindruck. Die Trainer
nicht leisten kann, die „Großen Männer“, geben noch kurz Rennanweisungen, dann
wie sie genannt werden, zu verprellen. ertönt die Glocke zum Aufsatteln.
Männer wie Pudwill könnten einen Renn- Rennen pro Jahr Wahler umarmt die kleine Reiterin mit
verein sanieren, aber der Milliardär hat dem dicken Gipsverband auf der Nase.
offensichtlich nicht viel übrig für den ehr- 2000 2916 „Hals und Bein, mein Mädchen“, sagt er.
pusseligen Überlebenskampf in Deutsch- Eine Stunde später steht Wahler umringt
2016 1226
land. Er will in der günstigen deutschen von Trainern in T-Shirts mit seinen groben
Rennsportprovinz investieren, wie er das Budapestern im Schlamm am Bierwagen.
nennt. Er hat gewonnen, Pferd und Reiterin sind
Seit Jahren gehen auf der Auktion in Umsatz* in Mio. € unbeschadet über die Sprünge gekommen.
Iffezheim teuerste Vollblüter an den Mil- *Bahnumsatz zuzüglich Außenwetten Es ist sein neunter Sieg als Besitzer. Wahler
liardär. Auch dort erledigen andere für schaut beseelt aus den kleinen Augen, als
Pudwill die Arbeit: Sein Bevollmächtigter würde eine Riesenlast von ihm abfallen.
ist ein Waffenhersteller aus München, der „Kleine Bahnen wie Bad Harzburg sind
sich wiederum von Thomas Jordan vertre- 2000 2005 2010 2016 toll“, sagt er. Es ist der entspannteste Renn-
ten lässt, der in der Szene nicht den besten tag der Saison, kein Betteln, kein lästiges
Ruf genießt. 125,1 59,4 31,7 26,4 Händeschütteln. Jesko zu Dohna

100 DER SPIEGEL 42 / 2017


Attrappen?
Motorsport Die Tourenwagen-
meisterschaft präsentierte sich als
umweltfreundliche Rennserie.
Nun muss sie Probleme mit den
Abgasfiltern zugeben.

A
m 27. September ging die DTM mit
einer Pressemitteilung an die Öf-
fentlichkeit. Die Organisatoren der
Tourenwagenmeisterschaft verkündeten,
die Abgasreinigung bei Rennmotoren sei
derzeit „noch eine Herausforderung“, aber
die DTM wolle ihr Augenmerk in Zukunft
mehr auf den „Umgang mit Emissionen“
richten. Deshalb solle mit neuen Systemen
„eine deutliche Verbesserung in der Ab-
gasreinigung erreicht werden“.

HOCHZWEI / IMAGO
Die DTM sah sich offenbar in Erklä-
rungsnot. Wenige Tage zuvor hatte der
SPIEGEL die Hersteller der Rennwagen so-
wie den Deutschen Motor Sport Bund
(DMSB) als Hoheitsträger der DTM und DTM-Rennwagen in Spielberg: „Prozesse hinterfragen“
die Dekra als Kontrolleur des technischen
Reglements mit den Informationen eines DTM angeblich Katalysator-Attrappen ein- Auch die Aussage, die Rennserie setze
Insiders konfrontiert, der seit Jahren in gesetzt werden, musste die Beteiligten des- geregelte Katalysatoren ein, stimmt offen-
der Motorsportabteilung eines Werks ar- halb in Alarmbereitschaft versetzen. sichtlich nicht. Audi und BMW erklären
beitet. In die Rennautos der DTM, so Ein Katalysator wandelt durch chemi- auf Anfrage, HJS habe „ungeregelte Kata-
dieser Fachmann, sei zum Schein „eine sche Reaktionen giftige Abgase in un- lysatoren“ geliefert.
Art Katalysator-Attrappe“ eingebaut wor- giftiges Kohlenstoffdioxid, Stickstoff und Moderne Autos haben in der Abgas-
den. Auf diese Weise werde der Öffent- Wasser um. Autos mit geregeltem Kataly- reinigungsanlage eine Messsonde. Erst
lichkeit Sauberkeit vorgetäuscht, in Wahr- sator filtern bis zu 95 Prozent der Umwelt- diese macht aus einem ungeregelten ei-
heit aber kräftig Dreck aus den Auspuffen gifte heraus. nen geregelten Katalysator, der deutlich
geblasen. Die DTM-Hersteller – Audi, Mercedes mehr umweltschädliche Abgase heraus-
Die DTM ist ein Marketinginstrument und BMW – erhalten ihre Katalysatoren filtert. Mercedes mochte sich nicht äußern,
der Hersteller, potenzielle Käufer sollen von einem führenden Anbieter, HJS im ob und welche Katalysatoren das Werk in
Lust auf die Kraftmaschinen bekommen. Sauerland, der „innovative Technik“ und der DTM einsetzt.
Aufheulende Motoren mit mehr als 500 PS einen „wichtigen Beitrag zum Schutz von Nach den Anfragen des SPIEGEL nahm
und wilde Überholmanöver, die Ende Sep- Mensch und Umwelt“ verspricht. der Motorsportbund nun Stellung. Er wol-
tember im österreichischen Spielberg schon Aber werden diese modernen Filter- le „die Prozesse rund um die Katalysa-
in der ersten Kurve zu einer Kollision führ- systeme tatsächlich eingebaut? toren in der DTM hinterfragen“, man
ten, sind die Markenzeichen der DTM. Der DMSB antwortete dem SPIEGEL, bitte aber um Verständnis dafür, „dass
Je lauter es ist, je penetranter der Ge- von Attrappen könne nicht die Rede sein. dies einige Zeit in Anspruch nehmen“ wer-
stank von verkohltem Gummi und Benzin, Die Funktionäre gaben aber zu: „Da es in de. An diesem Wochenende findet auf
desto besser finden es die Fans. Mehr als der Vergangenheit unter den extremen Be- dem Hockenheimring das Saisonfinale
35 000 Zuschauer waren bei der Veranstal- lastungen eines DTM-Fahrzeugs teilweise statt.
tung in Spielberg, 1,1 Millionen saßen in zu extremer Hitzebildung gekommen ist, Offensichtlich hat die DTM seit gerau-
Deutschland vor dem Fernseher. Die ARD werden aus den Katalysatoren aus Sicher- mer Zeit in ihren Hightech-Rennern eine
überträgt alle 18 Rennen live. heitsgründen seit Jahren entzündliche Schwachstelle, über die sie bislang nicht
Die Ausrichter der Rennserie haben ver- Teile entfernt.“ Darauf hätten sich alle reden mochte. Und wenn nun über Kat-
sprochen, strenge Umweltauflagen einzu- Parteien der DTM verständigt. Probleme debattiert wird, trifft das die
halten. Neben der Power der Motoren war Die Aussagen verwundern, da Kataly- Veranstalter zu einem ungünstigen Zeit-
der Umweltschutz für die Organisatoren satoren erst ihr volles Potenzial ausspielen, punkt. Die Rennserie verliert seit Jahren
der DTM ein Marketingargument – ähnlich wenn sie richtig heiß laufen. Zudem ist Aufmerksamkeit, Mercedes hat für 2019
wie der angeblich umweltfreundliche Diesel fraglich, welche Teile überhaupt Feuer bereits seinen Rückzug bekannt gegeben.
für die deutsche Automobilindustrie. Die fangen können. Auf die Frage, welche ent- In der Formel E für elektrisch betriebene
Entlastung der Umwelt funktioniere „aus- zündlichen Teile im Kat verbaut seien, ant- Boliden ist der DTM ein Konkurrent er-
gezeichnet“, schwärmte schon 1991 ein Mo- wortete HJS: „Keine. Das ‚Katalysator- wachsen.
torsportmanager von Mercedes-Benz, „mit Innenleben‘ besteht aus einer beschichte- Nun will die DTM durch ein neues Re-
Schalldämpfer und dem geregelten Drei- ten dünnen Metallfolie, 0,11 mm, die im glement nicht nur sauberer, sondern auch
Wege-Katalysator“. Die Konfrontation mit Motorbetrieb Temperaturen von bis zu noch schneller werden. Allerdings erst ab
den SPIEGEL-Informationen, dass in der 1150 Grad Celsius standhält.“ der Saison 2019. Jesko zu Dohna

DER SPIEGEL 42/ 2017 101


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von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Wissenschaft + Technik
Pädagogik Und wie das geschieht, ist SPIEGEL: Wissen Lehrer, was
„Jetzt kannst du’s!“ sehr, sehr wichtig. sie mit solchen Vergleichen
SPIEGEL: Inwiefern? anrichten können?
In der Grundschule noch eifrig Dickhäuser: Lehrer betonen Dickhäuser: Ja, das wird in
dabei, verlieren etliche Kinder entweder den individuellen der Ausbildung thematisiert.
im Lauf der fünften und sechs- Lernfortschritt des Schülers, Dennoch glauben viele Leh-
ten Klasse viel von ihrer Lust etwa indem sie sagen: „Das rer immer noch, dass sich
am Lernen. Oliver Dickhäuser, hast du letzte Woche noch Leistung nur über Noten be-
46, Professor für Pädagogische nicht gekonnt. Jetzt kannst werten lässt. Dabei hilft den
Psychologie an der Universität du’s.“ Oder sie vergleichen Schülern auch besagte Rück-
Mannheim, hat die Leistungen mit dem Rest meldung im Unterricht. Oder
in einer großen der Klasse. Da fallen dann ein kurzer Satz unter einer
Studie beob- Sätze wie: „Du bist die Erste, benoteten Klassenarbeit, so
achtet, mit wel- die das wusste.“ etwas wie: „Das hast du jetzt
chen Strate- SPIEGEL: Was bewirkt das bei besser gemacht.“ Oder auch:
gien Lehrer die den Schülern? „Du stagnierst.“
Motivation ihrer Dickhäuser: Wir haben 1641 SPIEGEL: Wie hilft man Schü-
Schüler befeu- Gymnasialschüler über die lern, die bereits fest davon
ern können. fünfte und sechste Klasse hin- überzeugt sind, der oder die
weg befragt, wie sehr sie Schlechteste zu sein?
SPIEGEL: Was ist zu tun gegen sich zum Beispiel Inhalte im Dickhäuser: Lernen in der
die grassierende Unlust – Fach Mathematik zutrauen. Schule heißt in der Regel:
gnädigere Noten verteilen? Kommen die Kinder frisch Am Ende weiß man mehr als
Dickhäuser: Das denken viele: von der Grundschule, sind sie vorher. Das ist den Kindern
dass Noten für die abnehmen- noch sehr zuversichtlich. Im aber die meiste Zeit über gar
de Motivation von Schülern Lauf von zwei Schuljahren nicht bewusst. Man kann
verantwortlich seien. Lehrer lässt dieser Optimismus gezielt nach Situationen su-
können aber unabhängig von nach – bei allen. Wesentlich chen, in denen den Schülern
Noten die Motivation der weniger aber bei denjenigen, dieser Kompetenzzuwachs
Schüler positiv beeinflussen. deren Lehrer vor allem auf vor Augen geführt wird, und
Leistungen werden zum Bei- die individuelle Leistungsent- ihnen deutlich machen:
spiel auch während des Unter- wicklung der Schüler einge- Schaut, wo ihr damals gestan-
richts bewertet, über das Feed- hen und sie nicht so stark mit den habt – und wo ihr jetzt
back, das die Lehrkraft gibt. den Mitschülern vergleichen. angekommen seid. kk

Medizin die Zahl der an Diabetes und das klein genug ist, um es in
Mobile Blutwäsche Bluthochdruck Erkrankten den Körper zu implantieren,
zunimmt. Eine künstliche und das weder eine Pumpe
In Deutschland sind etwa Niere könnte die für die Pa- noch einen elektrischen An-
80 000 Patienten von der Blut- tienten sehr anstrengende trieb braucht, um Blut reini-
reinigung durch Dialyse Blutreinigung übernehmen. gen zu können. Dieses artifi-
Fußnote

70
abhängig, die Zahl könnte im Forscher der University of zielle Organ hat die Größe ei-
Jahr 2020 auf über 100 000 California in San Francisco nes Kaffeebechers; es wird an
steigen. Unter anderem weil entwickeln jetzt ein Gerät, den Blutkreislauf angeschlos-
sen. Das Blut durchläuft zu- Kilometer
nächst einen Silikonfilter mit
winzigsten Poren, wodurch breit ist der Ring, der Hau-
ein wässriges Filtrat entsteht, mea umgibt, einen Zwerg-
darin gelöst sind Gifte sowie planeten, der außerhalb
Zucker und Salze. In einem der Neptunbahn seine
zweiten Modul leitet ein soge- Kreise zieht. Spanische
nannter Bioreaktor aus ge- Astronomen haben jetzt
züchteten Nierenzellen Zu- Haumeas Größe, Form
cker, Salze und Wasser zu- und Dichte berechnet. Rin-
rück ins Blut – und Abfälle in ge kennt man von Plane-
die Blase. 2018 will das Team ten, allen voran Saturn;
die ersten klinischen Versu- unbekannt war, dass auch
che starten. Die Forscher ihre kleinen Geschwister
glauben, dass das Gerät nicht solche Gürtel aus Eis und
nur die Lebensqualität der Stein tragen können. Hau-
Patienten verbessern wird, mea ähnelt einem Ei, ist
sondern auch die Kosten, die 2322 Kilometer lang und
Modell einer künstlichen Niere Dialysen heute verursachen, dreht sich in vier Stunden
UCSF

um die Hälfte senkt. kk um sich selbst.

104 DER SPIEGEL 42 / 2017


MIKE KOROSTELEV / 2017 NATIONAL GEOGRAPHIC NATURE PHOTOGRAPHER OF THE YEAR CONTEST / NATGEO.COM/PHOTOCONTEST
Pfoten weg!
Der Kamtschatka-Bär lebt auf der
namensgebenden Halbinsel weit im
Osten Russlands und ist die größte
Unterart der Braunbären in Eura-
sien: Die Männchen wiegen bis zu
700 Kilogramm. Äußerst geschickt
stellen sich die Bären bei der Jagd
auf Lachse an – wobei dieses Exem-
plar sich gerade eher für den Foto-
grafen zu interessieren scheint: Der
heißt Mike Korostelev und überleb-
te den Stups mit der Pranke – in
einem eigens angefertigten Käfig.

Kommentar

Hosianna aufs Spaghettimonster


Wem Beten hilft
Es wird wieder viel gebetet. Terroranschläge, Naturkatastro- Ob Gebete den Weltenlauf verändern, lässt sich wissenschaft-
phen, es gibt genügend Gründe. Nicht nur, aber vor allem lich so wenig untersuchen wie die Existenz eines Gottes oder des
dann beten Menschen füreinander. Gebete, sagen Psycholo- Fliegenden Spaghettimonsters. Was sie den Kranken und Leiden-
gen, seien eine natürliche Reaktion auf eine Tragödie. Eine den bringen, aber wohl. Forscher der Harvard Medical School be-
wie reflexartig ausgeführte Handlung, auf die der Mensch obachteten an 1800 Herzkranken die Auswirkungen von Fürbit-
zurückgreift, wenn er nicht weiß, wie er sich verhalten soll. ten. Ergebnis: Die Gebete hatten keinen Einfluss auf die Gene-
Beten tröstet. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Leute sung. Wussten die Patienten, dass für sie gebetet wurde, litten sie
sich in schweren Zeiten auf ein altes Ritual besinnen. sogar unter mehr Komplikationen. Dennoch, Beten ist gesund –
1571 bat Papst Pius V. um Rosenkranzgebete für den Sieg für den, der es tut. Forscher der amerikanischen Vanderbilt Uni-
in der Schlacht bei Lepanto, Christen gegen Muslime. Die versity untersuchten 5500 Erwachsene und stellten fest: Kirchgän-
Kirchen Roms blieben dafür Tag und Nacht geöffnet. Don ger sind weniger gestresst als Atheisten – und haben daher ein
Juan de Austria bezwang schließlich den Großwesir Sokollu deutlich geringeres Risiko, frühzeitig zu sterben.
Mehmed zur See. Auch für den Niedergang des Kommunis- Die Erkenntnis der Wissenschaftler: Das Gefühl, Teil von et-
mus wurde gebetet: Auf Initiative eines Pfarrers aus New was zu sein, das größer ist als man selbst, wirkt wie ein Boost
Jersey rezitierten Millionen Mitglieder der „Blauen Armee für Körper und Seele. So gesehen hilft es ebenso, allabendlich
Mariens“ von 1947 an regelmäßig Rosenkränze gegen die ein Hosianna aufs Spaghettimonster zu jubeln. Man muss nur
Rote Armee. 1991 war es dann so weit. dran glauben. Kerstin Kullmann

DER SPIEGEL 42 / 2017 105


Markierte Bienen in
Seeleys Schaukasten

BRIAN FINKE / DER SPIEGEL

Honig im Kopf
Tiere Tausende Stunden hat der US-Biologe Thomas Seeley damit verbracht, Bienen
zu beobachten, bis sich ihm in ihrem Gewusel Muster offenbarten. Sie zeigen:
Da ist eine verblüffende Intelligenz am Werk – Menschen können davon lernen.

106 DER SPIEGEL 42 / 2017


Wissenschaft

H
inten, am kleinen Weiher, da blüht nicht sattsehen am Kommen und Gehen volks mal hierhin, mal dorthin wendete.
etwas. Thomas Seeley weiß das, der unermüdlichen Tierchen. Und plötzlich wurde ihm klar: Im Zentrum
ohne nachzusehen. Schließlich stu- Irgendwann gelang es Seeley, selbst ei- des Sterns, im Bienenstock, saß ein intelli-
diert er seit mehr als 40 Jahren die Sprache nen Schwarm einzufangen, den er daheim gentes Wesen, das unermüdlich den Wert
der Bienen. in einer zusammengezimmerten Kiste an- der Futterquellen abwog gegen den aktu-
„Hier unten, wo es am meisten wimmelt, siedelte. Sein großer Bruder Dan schenkte ellen Bedarf und den Aufwand, den es kos-
ist ihre Jobbörse“, sagt der Forscher. „Da ihm dazu ein Buch des bayerischen Ver- tete, sie abzuernten. Und dieses Wesen
holen sich die Arbeiterinnen ihre Aufträge haltensforschers Martin Lindauer. entsandte dann die Arbeitskräfte dorthin,
ab.“ Im Moment tänzeln gerade vier oder Dort lernte Seeley den Schwänzeltanz wo die Pollen- oder Nektarernte den größ-
fünf der heimkehrenden Bienen aufgeregt kennen. Er las, wie diese Insekten in ihren ten Gewinn versprach.
in einer Richtung, die „Nordwest“ bedeu- Bewegungen Richtung und Entfernung co- Seeley beschreibt es als Perspektivwech-
tet. Im Nordwesten also, wo der kleine dieren und dass sie dabei sogar den jewei- sel: Eben noch hatte er das Bienenvolk als
Fischteich liegt, haben sie offenbar eine ligen Sonnenstand einzuberechnen wissen. Schar von Individuen betrachtet, doch
reichhaltige Futterquelle aufgespürt. Noch heute steht in Seeleys Bücherregal plötzlich bekam das Kollektiv ein Gesicht:
Seeley ist ein weltweit bedeutender Bie- das Wörterbuch, mit dem er sich einst Das Volk selbst war das denkende, han-
nenforscher. In einer Baracke am Rand des durch Lindauers deutschsprachige Origi- delnde Individuum, die einzelne Biene nur
Universitätsstädtchens Ithaca im US-Bun- nalveröffentlichungen kämpfte. dessen ausführendes Organ.
desstaat New York hat er sich sein Dass die Vorstellung vom intelli-
Reich eingerichtet. Hier kann er un- genten Bienenstock mehr ist als eine
gestört in die Welt der Bienen ein- bloße Metapher, zeigte sich Jahre
tauchen. später, als Seeley einen Anruf vom
Hinten am Schotterplatz stehen sei- Georgia Institute of Technology be-
ne Bienenstöcke. Weitere Völker kam. Der Anrufer stellte sich als Sys-
wohnen in Schaukästen im Haus. In temingenieur vor. Er sagte, er habe
die Wand sind Rohre eingelassen, einen Auftritt Seeleys im Radio ge-
durch die die Bienen Zugang zu ih- hört. Er wolle mehr erfahren über
rem Nest haben. Jedes Insekt ist mit das, was er dort erzählt hatte. Denn
Nummer und Farbe markiert. So kön- in seiner Arbeit als Optimierungsbe-
nen Seeley und seine Mitarbeiter die rater habe er es mit ganz ähnlichen
Aktivitäten jedes Tiers verfolgen und Fragen zu tun. Nur dass es bei ihm
protokollieren. nicht darum gehe, die Arbeitskraft
Oben krabbeln die Ammen über von Nektarsammlerinnen auf Futter-
BRIAN FINKE / DER SPIEGEL
die Waben. Unten, auf dem Tanz- quellen zu verteilen, sondern Re-
platz, tauschen sich die Nektarsamm- chenzeit und -leistung auf Kunden.
lerinnen aus. Probleme gibt es derzeit Seeley lud den Mann ein, in sein
mit der Königin. „Sie haben sie getö- Labor zu kommen. Zusammen zogen
tet“, berichtet eine von Seeleys Dok- sie hinaus in den Wald, um die Bie-
torandinnen. Es erfordert viel Ge- Forscher Seeley nen zu studieren. Es wurde ein ge-
schick, in ein Bienenvolk eine fremde „Das Schatzkästlein wird kaum mehr angeflogen“ meinschaftliches Forschungsprojekt
Königin einzuschleusen. „Du musst daraus. Am Ende stand der „Honig-
es eben noch einmal versuchen“, sagt See- Die frühe Lektüre und die vielen Stun- bienen-Algorithmus“, den heute Serverfar-
ley. Geduld zählt zu den Tugenden, die er den im Bann ein- und ausschwirrender Bie- men weltweit verwenden, um ihre Rechen-
seinen Mitarbeitern abverlangt. nen bereiteten Seeley vor auf seine große zeit möglichst profitabel an Großkunden
Zigtausende Stunden hat Seeley im Lau- Erkenntnis, sein Heureka – er kann sich zu verkaufen. Es hatte sich gezeigt, dass
fe seines Forscherlebens damit verbracht, noch gut daran erinnern. die Bienen das Verteilungsproblem besser
dem Gewusel von Apis mellifera zuzu- Als junger Wissenschaftler hatte er Glä- lösten als alle handelsüblichen Programme.
schauen, wie die Europäische Honigbiene ser mit Zuckerwasser im Wald verteilt – Nach seinen Erfolgen bei der Erfor-
mit wissenschaftlichem Namen heißt. Er „Schatzkästlein“, wie er sie nannte. Nun schung des Futtersuchverhaltens wagte
ist dabei einem der großen Wunder dieser wollte er sehen, wie lange es dauern wür- sich Seeley an ein Rätsel, das ihn beschäf-
Spezies auf die Spur gekommen: „Das de, bis die Bienen diese Futterquellen ent- tigte, seit er bei Lindauer davon gelesen
Ganze ist eine kognitive Einheit“, erklärt deckten, wie viele Arbeiterinnen dorthin hatte: Wie wählen Bienen ihren Nistplatz?
er. Ein Bienenvolk lasse sich als eine Art ausschwärmen würden und wann ihr Inte- Meist im Frühsommer schwärmen Kö-
biologischer Computer verstehen. resse wieder erlahmen würde. niginnen mit einem Gefolge von jeweils
Ähnlich, wie die Intelligenz eines Die Erleuchtung kam bei der Auswer- rund 10 000 Artgenossinnen aus dem hei-
menschlichen Gehirns auf dem Wechsel- tung. Noch heute blättert Seeley gern mischen Nest aus, um sich nicht weit ent-
spiel von Milliarden Nervenzellen beruhe, durch die sternförmigen Diagramme, die fernt niederzulassen. Mitunter zwei, drei
gehe auch aus dem Austausch mehrerer er damals angefertigt hat: „Hier oben ha- Tage lang hängt das Volk an einem Baum
10 000 Bienen in einem Stock ein intelli- ben sie gerade etwas entdeckt“, sagt er oder in einer Hecke, bis es sich plötzlich
gentes Ganzes hervor. Das erkannt zu ha- und zeigt auf einen dicken Balken, der laut sirrend erhebt, um zielgenau eine neue
ben, betrachtet Seeley als seinen bedeu- vom Zentrum eines Sterns nach oben führt. Heimstatt anzusteuern. Doch wer lenkt den
tendsten Beitrag zur Wissenschaft. Zwei Stunden später ein ganz anderes Bild: Schwarm ins Ziel? Wer entscheidet, welche
Schon als Teenager faszinierte ihn die „Nun wird das Schatzkästlein oben kaum Höhle die beste ist? Und vor allem: Wie ist
geheimnisvolle Eintracht der Bienen. Wäh- mehr angeflogen“, erklärt Seeley. „Die es möglich, dass ein Pulk von Insekten eine
rend seine Klassenkameraden begannen, zwei Futterquellen hier rechts scheinen ih- solche Entscheidung fällt, während er doch
sich für Mädchen zu interessieren, ver- nen wohl attraktiver.“ scheinbar untätig im Baum hängt?
brachte Seeley seine Nachmittage vor den Stunde für Stunde protokollierte Seeley, Bei Lindauer hatte Seeley gelesen, dass
Bienenkörben eines Imkers. Er konnte sich wie sich die Aufmerksamkeit des Bienen- das Bienenvolk Kundschafterinnen in die
DER SPIEGEL 42 / 2017 107
Wissenschaft

Umgebung entsendet. Im verwüsteten Erst wenn sich eine Mehrheit aller Kund-
Nachkriegsmünchen hatte der deutsche schafterinnen geeinigt hatte, machten sich
Forscher beobachtet, wie diese Bienen eif- die Bienen bereit für den Abflug. Und fast
rig schwänzelnd von ihren Entdeckungen immer fiel die Wahl tatsächlich auf jenen
in der Ruinenlandschaft kündeten. Nistkasten, der das für Bienen optimale
Lange zögerte Seeley, das Phänomen Volumen von rund 40 Litern und eine klei-
genauer zu untersuchen, denn er wusste ne Eingangsöffnung hatte.
um die Schwierigkeiten: Das Ausschwär- „Demokratisch“ nennt Seeley diese Art
men zur Nestsuche lässt sich nur wenige der Entscheidungsfindung. Auch Men-
Male im Jahr beobachten. Zudem ist es schen könnten davon lernen. Denn immer
kaum möglich, die Kundschafter bei ihren wieder hätten Experimente gezeigt, dass
Flügen zu verfolgen. Dann aber bot sich die Weisheit der Masse oft selbst diejenige
Seeley eine einzigartige Gelegenheit: Er von Experten übertrifft. Schwarmintelli-
konnte seine Bienenforschung auf eine Fel- genz wird das Phänomen genannt.
seninsel an der Küste des Bundesstaats Das einzelne Insekt muss dabei den
Maine verlegen. Dort gab es keine natür- Sinn des eigenen Handelns gar nicht ver-
lichen Nistplätze, deshalb konnte Seeley stehen. Wenn eine Kundschafterin ihren
sicher sein, dass seine Bienen sich aus- Schwänzeltanz aufführt, ist es unerheblich,
schließlich für die Kisten interessieren wür- ob sie weiß, warum sie dies macht. Und
den, die er auf der Insel verteilte. wenn sie eine Höhle inspiziert, hat sie
Seeley stellte schuhkartonkleine und um- vermutlich keinerlei Vorstellung davon,
zugskistengroße Kästen auf, mit kleinen wozu diese ihrem Volk einmal dienen
Eingängen oder weit klaffenden Löchern, könnte. Ein inneres Programm befiehlt
die sich mal nach Norden, mal nach Süden ihr, umherzulaufen und Schritte zu zählen.
öffneten. Gespannt wartete der Forscher, Das reicht.
wie sich die Bienen entscheiden würden. So befremdlich das anmuten mag – Ähn-
Auf diese Weise wurde Seeley Zeuge, liches kommt auch beim Homo sapiens
wie die Insekten über die Qualität der ver- vor. Eine Sprache beispielsweise ist ein
schiedenen Hohlräume diskutierten. Das Produkt, das Menschen gemeinsam er-
Volk selbst verharrte dabei träge am Ort. schaffen, ohne dass sich der Einzelne des-
Zum Kundschaften schwärmten nur die sen bewusst wäre. Sie entsteht, sie wandelt
dienstältesten Arbeiterinnen aus. und entwickelt sich, und doch gibt es nie-
Jetzt brauchten sie die Erfahrung, die manden, der die Regeln ersinnt. Indem je-
sie in ihrem Leben erst als Amme, dann der Einzelne die Sprache benutzt, trägt er
als Nektarsammlerin erworben hatten, bei zu deren Anpassung, Entwicklung und
denn sie mussten für ihr Volk eine Schick- Optimierung.
salsentscheidung fällen. Den richtigen Nist- Bei den Bienen endet die Nistplatzsuche
platz zu wählen ist für Bienen eine Über- mit einem Phänomen, das Seeley als „das
ISBN 9783548377490 lebensfrage. Das Nest muss windgeschützt wundersamste von allen“ bezeichnet.
sein und geräumig genug für die Winter- Denn nun wird augenscheinlich, wie sich
vorräte. Der Eingang sollte eher klein sein die Masse der Insekten in ein handelndes
und möglichst so hoch gelegen, dass Bären Ganzes verwandelt. Unvermittelt kommt
ihn nicht erreichen. Leben in die im Baum hängende Traube.
Wie würden die Tiere ihre Wahl treffen? Mit kurzen Pfeiftönen bereiten die Kund-
Seeley sah zu, wie die Kundschafterinnen schafterinnen ihr Volk auf den Abflug vor.
die aufgestellten Kästen inspizierten. Em- Angespornt von diesen Weckrufen, werfen
sig marschierten sie die Wände eines Hohl- die Arbeiterinnen ihre Muskeln an, um
raums auf und ab, unterbrochen von se- ihren Körper auf die Flugtemperatur von
kundenkurzen hüpfenden Flügen. Offen- 35 Grad aufzuheizen.
sichtlich vermaßen sie so deren Größe und Am Ende folgt der Aufbruch – ein Vor-
Geometrie. Seeley vermutet, dass sie die gang, der Seeley auch nach vier Jahrzehn-
Schritte zählen, die sie brauchen, bis sie ten der Bienenforschung noch Ehrfurcht
wieder auf die eigene Geruchsspur stoßen. einflößt: Kaum 60 Sekunden dauert es,
Nach der Heimkehr zu ihrem Volk dien- dann hat sich die Traube von 10 000 Insek-
te ihnen die Traube der Schwestern als ten in einen Schwarm verwandelt, der in
Tanzboden, auf dem sie schwänzelnd Be- geordnetem Flug hin zur gewählten Nist-
richt erstatteten – und zwar umso aufge- höhle verschwunden ist. Johann Grolle
regter, je besser ihnen der Hohlraum ge-
fallen hatte. So animierten sie andere Lesen Sie zum Thema auch
Kundschafterinnen, sich auch einen Ein- das aktuelle Heft
druck von dem Nistplatz zu verschaffen. SPIEGEL WISSEN
Meist dauerte es nicht lange, bis die Bie- Tiere verstehen.
nen alle Kisten entdeckt hatten. Gleichzei- Was sie denken, fühlen
tig und konkurrierend wurden diese nun und brauchen
beworben. Oft tagelang währte die Debat- Ab Dienstag am Kiosk, im Buch-
te, bei der mal der eine, mal der andere handel oder im SPIEGEL SHOP
Ort in der Gunst vorn zu liegen schien. unter www.spiegel.de/shop

108 DER SPIEGEL 42 / 2017


Foto: © Erwin Olaf
Verdunstungskraftwerk künstlerische Visualisierung
US-Forscher wollen zur Energiegewinnung bestimmte Bakteriensporen nutzen, die
sich, je nach Luftfeuchtigkeit, entweder rasch ausdehnen oder zusammenziehen.
Auf Folie aufgebracht, entsteht aus Myriaden dieser Sporen eine Art künstlicher
Muskel. Im Labor ließ sich mit diesen Sporenbändern ein kleines Rad in Gang setzen. In trockener Außenluft rollen
Zukünftige Verdunstungskraftwerke könnten auf gleiche Weise funktionieren. sich die Sporenbänder ein.

Sporen

In der Halle herrscht durch Verdunstung


hohe Luftfeuchtigkeit: Die Sporenbänder
strecken sich. Der Masseschwerpunkt
verlagert sich nach außen, das Rad
beginnt, sich zu drehen.

Derzeit existieren noch keine Anlagen, gespannt. Die eine Hälfte des Rads ist in

Die Kraft der die verdunstendes Wasser in nennenswerte


Mengen Strom verwandeln. Das Potenzial
der Tröpfchenenergie jedoch erscheint ge-
einer Kapsel eingeschlossen, in der durch
Verdunstung eine hohe Luftfeuchtigkeit
aufrechterhalten wird. Dadurch dehnen

Tröpfchen waltig. Knapp die Hälfte der an der Erd-


oberfläche absorbierten Sonnenenergie
lässt Wasser verdunsten. Ständig steigt es
sich die Sporen. Ein Ungleichgewicht stellt
sich ein, es versetzt das Rad in eine Dreh-
bewegung. Sahin hat mit dem Prinzip be-
Physik Forscher entwickeln eine auf aus Seen und Flüssen, aus Feldern und reits ein Spielzeugauto zum Fahren ge-
Wäldern. Diesen Energieschatz zu bergen, bracht. Eine andere, an Solarzellen erin-
neue Art grüner Energie. daran arbeiten Forscher weltweit. nernde Konstruktion lässt LEDs leuchten.
Lässt sich aus Verdunstung Einen direkten Weg, Energie mithilfe Derzeit arbeitet das Team an kraftvolle-
der Verdunstungskraft zu erzeugen, ent- ren Sporenbändern. Mit den Bakterien-
Strom gewinnen? deckten Forscher um Wanlin Guo von der sporen zu arbeiten, hält der Forscher für
Nanjing-Universität für Luft- und Raum- einen Vorteil gegenüber Hightech-Lösun-

W
enn Wasser siedet, kann es Ge- fahrt in China. Sie benetzten mit Nano- gen. Biologisches Material lasse sich leicht
waltiges bewegen: Auf bis zu strukturen versehene Karbonplättchen. vermehren und sei billiger.
3600 Umdrehungen pro Minute Verblüfft stellten sie fest: Sobald das Was- Aber ist es wirklich denkbar, landauf,
können moderne Turbinen beschleunigen, ser verdunstete, floss Strom. Es ließ sich landab Tümpel und Seen mit solchen Ma-
wenn heißer Dampf sie durchströmt. eine Spannung von einem Volt generieren. schinen zu überspannen? „Freie Wasser-
Der sanfte Bruder des Siedens heißt Ver- Oder Forscher des Massachusetts Insti- flächen sind wichtig für Wildtiere, für
dunstung. Wer schwitzt oder gerade tropf- tute of Technology in Cambridge bei Menschen und Landschaft“, räumt Sahin
nass aus der Dusche kommt, spürt, wie Boston: Sie entwickelten eine flexible ein. Trotzdem glaubt er an die Technolo-
auch dabei Energie umgewandelt wird: Die Kunststofffolie, die sich bei hoher Luft- gie. Denn auch über Agrarflächen, vor al-
Haut kühlt ab. Kann es gelingen, diesen feuchtigkeit ausdehnt und bei niedriger lem aber über dem Meer könnte die Tröpf-
Vorgang technisch zu nutzen? Ja, sagt zusammenzieht. Aus diesem Material an- chenenergie künftig gewonnen werden.
Ozgur Sahin von der Columbia University gefertigte Bänder heben Gewichte, die 380- Und an Wasserspeichern, die der Be-
in New York. Seine These: Auch wenn nor- mal so schwer sind wie sie selbst. wässerung trockener Landstriche dienen:
mal temperiertes Wasser in Luft aufgeht, Noch raffinierter gehen Sahin und sein 178 Megawatt Leistung ließen sich bei-
lässt sich daraus Energie gewinnen. Team vor. Sie nutzen Sporen, winzige spielsweise bereitstellen, wenn man das
Sahin und Kollegen haben gerade im Ruhestadien des Heubakteriums Bacillus texanische E. V. Spence Reservoir in ein
Fachblatt „Nature Communications“ vor- subtilis, um die Verdunstungsenergie ern- Verdunstungskraftwerk verwandeln wür-
gerechnet, wie kraftvoll die Verdunstung ten zu können. Diese Sporen haben eine de, rechnet Sahin vor. Das ist so viel, wie
ist. Wenn zum Beispiel alle Seen und Was- Eigenart: Je nach Luftfeuchtigkeit nehmen 50 große Windkraftanlagen schaffen.
serspeicher der USA (mit Ausnahme der sie Wasser auf oder geben es ab. Dabei Die Anlage direkt über dem Wasser hätte
Great Lakes) für die Ökoenergie genutzt verändert sich ihre Größe. Die Forscher einen Nebeneffekt: „Sie würde gleichzeitig
würden, ließen sich 325 Gigawatt bereit- bringen nun Myriaden dieser Sporen auf die Verdunstung aus dem Reservoir verrin-
stellen. Das ist mehr, als in den USA der- dünne Folienstreifen auf. Sobald die Spo- gern“, sagt Sahin. So löse man zwei Proble-
zeit von Kohlekraftwerken geleistet wird. ren trocknen, schrumpfen sie; die Folie me zugleich: „Wir sparen Wasser und produ-
„Die Verdunstung ist eine spannende Al- wellt sich. Wird’s feucht, dehnen sich die zieren dabei grüne Energie.“ Philip Bethge
ternative zu Wind- und Sonnenenergie“, Sporen aus. Die Folie streckt sich. Mail: philip.bethge@spiegel.de
sagt Sahin. Die Kraft der Tröpfchen hätte „Der Prozess ähnelt einer Muskelbewe-
sogar einen großen Vorteil: Verdunstung gung“, sagt Sahin. Der Formwechsel lasse Video: So funktioniert ein
ist weniger wetterabhängig. Die Energie sich in Energie umwandeln. Zum Beispiel Verdunstungskraftwerk
könnte kontinuierlicher geerntet werden in der „Feuchtigkeitsmühle“: Dabei sind spiegel.de/sp422017verdunstung
als Solar- oder Windenergie. die Sporenbänder in einer Art Mühlrad ein- oder in der App DER SPIEGEL

110 DER SPIEGEL 42 / 2017


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Flugzeugträger „Graf Zeppelin“
Länge 262,5 m
Breite 36 m Auf der Aufbauteninsel waren Quer über das Flugdeck
Gewicht 31 400 t unter anderem der Flugleitstand gespannte Bremsseile
und die Kommandozentrale sollten die eingefangenen
Tiefgang 7m geplant. Flieger nach maximal
Bauzeit von 1935 bis 1943 32 Metern zum Stehen bringen.
Crew über 1700
einer von drei
Kosten ca. 93 Mio. RM* Flugzeugaufzügen

Zwei Katapulte sollten die Flugabwehr-


Flugzeuge über die Vorderkante geschütze
des Flugdecks schießen.

Das Flugdeck wäre im


normalen Betrieb von
Flugzeugen frei gehalten.
Kesselraum Die Turbinenräume sollten
mit bis zu 30 mm dicker
Beplattung gepanzert
In den Hallendecks hätten nach einem Bauplan von 1939 werden.
bis zu 43 Flieger Platz gefunden, darunter:

Seezielgeschütze

20 Fieseler Fi 167 13 Junkers Ju 87 C 10 Messerschmitt Bf 109 T


*entspricht einer heutigen Kaufkraft von ca. 400 Mio. Euro (Torpedobomber und Aufklärungsflugzeuge) (Sturzkampfbomber) (Jagdflugzeuge)

Treffer, versenkt
Militärgeschichte Auf dem Grund der Ostsee liegt ein gewaltiges Wrack: die „Graf Zeppelin“.
Hitlers einziger Flugzeugträger kam nie zum Einsatz.

D
ie Ostsee heißt unter Tauchern nur licher Länge versenkt, eine gewaltige Me- auf dem Grund der Ostsee, erkennbar sind
das „Meer der Wracks“. Es ist tallruine in 80 Meter Tiefe. die einzelnen Planken des Decks. Darun-
schwer, einen Ort auf der Welt zu Die „Graf Zeppelin“ liegt in einer Zone ter tun sich gewaltige Hallen auf, die Han-
finden, wo mehr gesunkene Schiffe liegen, ewiger Dunkelheit, umspült von vier Grad gars für die Messerschmitt- und Junkers-
Experten vermuten mehrere Zehntausend. kaltem Wasser. Lange galt sie als verschol- Maschinen, die auf dem Schiff stationiert
Das kalte, relativ ruhige Wasser hat Hanse- len. Stalin habe sie ins Chinesische Meer werden sollten. Die Geschütze sind ver-
koggen konserviert und Segler aus der schleppen lassen, lautete eine Legende. schwunden, sie wurden noch von den
Schwedenzeit, sowjetische U-Boote, deut- Erst 2006 orteten polnische Ölsucher das Deutschen abmontiert und in Norwegen
sche Minenleger, polnische Fischkutter und Wrack per Sonar. Diesen Sommer dann in Stellung gebracht.
die Autofähre „Estonia“. tauchte ein Expeditionsteam mit ausgefeil- Das Wrack erzählt von Größenwahn
Die Wracks sind historische Denkmäler ter Filmtechnik zu dem Schiff hinab und und ideologischer Verblendung, von tech-
und Friedhöfe in einem. Die „Wilhelm brachte düstere Bilder mit, die derzeit für nischen Höchstleistungen, chaotischer Pla-
Gustloff“ rottet da am Meeresgrund, den Sender SPIEGEL GESCHICHTE zu ei- nung und Untergang. Es erzählt die Ge-
die „Steuben“ und die „Goya“, alles ner Fernsehdoku geschnitten und voraus- schichte des „Dritten Reichs“.
Flüchtlingsschiffe, versenkt in den letzten sichtlich gegen Ende des Jahres gesendet Der Versailler Vertrag hatte Deutschland
Tagen des Zweiten Weltkriegs – Mahn- werden („Hitlers Superschiff – Expedition bei Kriegsschiffen Rüstungsbeschränkun-
male von Tragödien, bei denen mehr Men- in der Ostsee“). gen auferlegt; eines von Hitlers wichtigsten
schen umkamen als beim Untergang der Nur Profis können so tief tauchen; es Zielen war es, dieses als Schmach empfun-
„Titanic“. braucht dafür einen Mix aus Atemgasen dene „Diktat“ zu revidieren. So erklärte
Nur sechs Meter kürzer als der Luxus- und dicke Trockenanzüge mit Elektrohei- er 1935, Deutschland sei zu „voller Wehr-
dampfer ist die „Graf Zeppelin“, Adolf Hit- zung im Neopren. Der Druckausgleich hoheit“ zurückgekehrt. Dieses forsche Vor-
lers einziger Flugzeugträger. Er wurde nie beim Wiederaufstieg dauert Stunden. gehen trug ihm nicht etwa Sanktionen ein,
in Betrieb genommen und 1947 von den Die „Graf Zeppelin“ ist hervorragend es wurde, im Gegenteil, sogar belohnt:
Sowjets auf 55° 31’ 03” Nord, 18° 17’ 09” öst- erhalten. Sie ruht leicht nach rechts geneigt Großbritannien stieg in Verhandlungen
112 DER SPIEGEL 42 / 2017
Technik

ein, an deren Ende ein Flottenabkommen


stand, das Deutschland eine Seekriegs- Stapellauf der „Graf Zeppelin“ 1938
macht von bis zu 35 Prozent der britischen
erlaubte – und damit einen Einstieg in den
Rüstungswettlauf zur See.
Weil die Briten, aber auch die Franzosen
bereits über Flugzeugträger verfügten,
wollten die Deutschen bei dieser Schiffs-
gattung nicht hinterherschwimmen. Be-
reits am 16. November 1935 erging der Bau-
auftrag für „Flugzeugträger A“ an den
Werftbetrieb Deutsche Werke in Kiel.
Dabei war sich die Marineführung sicher,
dass Deutschland „in absehbarer Zeit nicht
in der Lage“ sei, eine „für die Schlachtent-

BERLINER VERLAG / PICTURE ALLIANCE / DPA


scheidung mit England ausreichende Flotte
zu erreichen“, notierte Fregattenkapitän
Hellmuth Heye. Ein Flugzeugträger sei teu-
er und verletzlich, gab er zu bedenken.
Die „Graf Zeppelin“ wurde dennoch
konstruiert. Die Idee war, dass sie mit ih-
ren Jägern einen Flottenverband schützt,
der um Schottland herumkurven, Konvois
verfolgen und den Briten den Nachschub
abschneiden sollte.
93 Millionen Reichsmark plante Berlin Mit Beginn des Krieges wurde bei Luft- tergekommen, die Marine ließ brauchbare
für den Bau ein; das Schiff wurde 262,5 waffe und Marine schnell klar, dass die Metallteile abbauen.
Meter lang und 36 Meter breit. Mit seiner Kräfte des „Dritten Reichs“ bereits über- Als im April 1945 die Rote Armee auf Stet-
200 000-PS-Maschine sollte es bis zu 63 strapaziert waren. Als Erstes lösten die Mi- tin marschierte, setzte ein deutsches Spreng-
Stundenkilometer schnell werden und litärs die eigentlich für die „Graf Zeppelin“ kommando die „Graf Zeppelin“ an ihrem
rund 40 Flugzeuge tragen können: Sturz- gedachten Fliegerverbände auf, um Lü- Liegeplatz auf Grund. 1947 hoben Spezia-
kampfbomber, Jäger, Aufklärungs- und cken bei der Luftwaffe zu füllen. listen der sowjetischen Marine den Rumpf.
Torpedoflugzeuge vom Typ Fi 167. Im Frühjahr 1940 erging der Befehl, die Ihnen fielen Pläne und Skizzen in die Hände,
Die Flieger mussten für den Betrieb an Flugabwehrkanonen des immer noch im die zur Auswertung nach Moskau geschafft
Bord mit Klappflügeln ausgerüstet werden. Bau befindlichen Trägers zu demontieren. wurden. Nach der Wende gelangte vieles
Zudem erhielten sie einen ausfahrbaren Man brauchte die Artillerie dringend wo- davon wieder zurück nach Deutschland. Die
Fanghaken. Die Piloten konnten damit bei anders. Wenig später kam der Vorschlag, meisten Originaldokumente tragen Stempel
der Landung ein Stahlseil aufgabeln, das die Arbeiten an der „Graf Zeppelin“ ganz und Notizen in Kyrillisch.
ihr Flugzeug zum Stehen bringt. Wie sie abzubrechen, Hitler war einverstanden. Eine Weile nutzte die Rote Armee ihre
abheben sollten, war indes noch unklar, Im Juli ließ die Marine den Flugzeugträ- Beute als Wohnschiff, es hieß jetzt sowje-
Ingenieure erprobten Pressluftkatapulte. ger gen Osten schleppen. Der wehrlose tisch freudlos „PB10“. Schließlich wurde
Am Morgen des 8. Dezember 1938 traf Rumpf in der Kieler Werft, so die Furcht, der Kahn zur Seekriegszielscheibe degra-
am Kieler Bahnhof ein Sonderzug aus Ber- fiele sonst alliierten Bombern zum Opfer. diert und 50 Kilometer nördlich des polni-
lin ein. Hitler wollte mit großem Gefolge Im Mai 1941 torpedierten britische Fai- schen Ortes Władysławowo wohl mit Tor-
zugegen sein, wenn sein Monumentalschiff rey-Swordfish-Doppeldecker das deutsche pedoschüssen versenkt.
vom Stapel läuft. Helene Gräfin von Bran- Schlachtschiff „Bismarck“ im Nordatlantik. Sprunghaftigkeit, Kompetenzgerangel
denstein-Zeppelin, Tochter des Luftschiff- Sie waren von Flugzeugträgern aus gestar- und schlichte Überforderung hatten dazu ge-
pioniers, durfte eine Flasche Schaumwein tet – der Erfolg der Briten führte der See- führt, dass Hitlers Armee auch in mehr als
am Bug zerdeppern, die Taufrede hielt kriegsleitung drastisch vor Augen, dass den sechs Jahren Bauzeit die „Graf Zeppelin“
Luftwaffenchef Hermann Göring: „Fahre Trägern die Zukunft gehört. nicht fertigstellen konnte.
stets glücklich, stolzes Schiff, sei ein Hort Nun sollte die „Graf Zeppelin“ doch Militärexperten wie der Historiker Ul-
kühnen Fliegergeistes und zäher See- weitergebaut werden. In Bremerhaven ho- rich Israel sind allerdings der Meinung, der
mannsart und mehre Macht und Ansehen ben Bagger ein Hafenbecken für den Ko- Flugzeugträger hätte am Ausgang des Krie-
des Reiches.“ loss aus. Im Januar 1943 war der Flotten- ges nichts geändert. Es sei sogar gut, dass
Der eitle Göring wollte die Gelegenheit bau Thema bei den Beratungen in der er niemals einsatzbereit war – vor allem
nicht fahren lassen, beim ehrgeizigen Rüs- Wolfsschanze. Nur Tage vorher hatten die für die Besatzungen: Mehr als 1700 Mann
tungsprojekt aufzutrumpfen. Ohnehin be- Deutschen beim Kampf um den alliierten sollten an Bord der „Graf Zeppelin“ die-
anspruchte er die Befehlsgewalt über das Geleitzug JW 51B einen Zerstörer verlo- nen, sie wären alle dem Tode geweiht ge-
fliegende Personal und deren Maschinen. ren. Hitler zweifelte am militärischen Nut- wesen. Denn, so Israel: „Die Engländer
Der Rumpf mit Geschützen und Maschi- zen „schwerer Überwassereinheiten“. hätten ihre Versenkung zur Prestigefrage
nenraum unterstand also der Marine, wäh- Schlachtschiffe und Zerstörer seien leichte erklärt und sie mit 100-prozentiger Sicher-
rend auf den Flugdecks die Luftwaffe das Ziele für die Briten. Schließlich verhängte heit gestellt und vernichtet.“ Jan Puhl
Sagen hatte – eine bizarre Situation: Die er 1943 einen endgültigen Baustopp, der
Flugzeuge operierten schließlich nicht un- auch für die „Graf Zeppelin“ galt. Video: Tauchgang
abhängig vom Schiff, das seine Manöver Wieder wurde der Rumpf nach Osten zur „Graf Zeppelin“
allein schon für Starts und Landungen nach gezogen und in Stettin geankert. Das Pres- spiegel.de/sp422017zeppelin
deren Bedürfnissen ausrichten musste. tigeobjekt war zum Ersatzteillager herun- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 42 / 2017 113


Wissenschaft

Hungern mit vollem Magen


Klima Mehr CO² in der Luft lässt Pflanzen besser wachsen. Die Kehrseite: Sie liefern weniger
Proteine und Mineralstoffe. Gefährdet der Nährstoffschwund die Weltgesundheit?

A
usgerechnet ein Mathematiker schöpf- recht. Sie sind früh in der Evolution ent- Noch ist unklar, wie es zu der schlei-
te frühzeitig Verdacht. Schon 2002 standen, als das Kohlendioxid in der Erd- chenden Auszehrung kommt. Sind die
warnte Irakli Loladze, damals an der atmosphäre noch überreich verfügbar war. Pflanzen gut mit CO² versorgt, bilden sie
Princeton University, vor einer bis dahin Selbst das heutige CO²-Angebot erleben sie damit vermehrt Zucker und Stärke. Mög-
kaum beachteten Folge des Klimawandels: als Mangel. Eine steigende Dosis wirkt auf licherweise geht dann der Anteil der an-
In Zukunft, sagte er voraus, würden die diese Hungerleider wie Dünger: Sie fördert deren Substanzen einfach entsprechend
wichtigen Nahrungspflanzen – Getreide und ihr Wachstum. zurück.
Kartoffeln, Früchte und Blattgemüse – an Im Gegenzug aber – Pech für den Men- Das Treibhausgas senkt zudem den Was-
Nährwert verlieren. schen – sparen die Pflanzen Proteine ein. serbedarf, weil über die Blätter dann we-
Loladze fand seither eine Menge Indizien „Sie produzieren davon immer nur so viel, niger verdunstet – nicht schlecht in Dürre-
dafür, dass der Anteil von Eisen, Zink und wie sie brauchen“, sagt Andreas Fang- zeiten. Doch damit nehmen die Wurzeln
Proteinen bereits sinkt. Er glaubte auch, die meier, Biologe an der Universität Hohen- vermutlich auch weniger Mineralstoffe aus
Ursache zu kennen: die steigende Konzen- heim. „Die Faustregel lautet: je höher der dem Erdreich auf.
tration des Treibhausgases Kohlendioxid in Ertrag, desto weniger Proteine.“ Die Folgen betreffen kaum den wohl-
der Atmosphäre. Versuche haben gezeigt, welcher Rück- genährten Westen; hier wäre ein mäßiger
Heute gilt der Mathematiker mit den son- gang bei Weizen und Reis, bei Gerste und Rückgang der Pflanzenqualität zu ver-
derlichen Thesen als Pionier. Sein Verdacht Kartoffeln zu erwarten ist. Sie kamen auf kraften. Zu leiden haben aber die Bewoh-
hat sich bestätigt. Verluste von bis zu 15 Prozent. Im Schnitt ner ohnehin schon gebeutelter Weltgegen-
Der klimabedingte Rückgang der Pro- sind es mehr als 8 Prozent. Nur bei weni- den, die sich mehr schlecht als recht er-
teine ist gut belegt. Vor wenigen Wochen gen Nutzpflanzen, darunter Mais oder Hir- nähren.
haben Forscher der Harvard University aus- se, zeigt sich kaum ein Effekt. Diese Arten Die Rede ist oft von „verstecktem Hun-
gerechnet, was das für die globale Ernäh- sind entwicklungsgeschichtlich jünger und ger“: Die Menschen dort werden zwar
rung bedeuten könnte. Probleme sehen sie kommen mit weniger CO² aus. halbwegs satt, sie bekommen genügend
vor allem in Regionen, in denen die Ver- Mehr als zwei Drittel der Weltbevölke- Kalorien, aber es fehlt ihnen an Proteinen
sorgung schon heute schlecht ist. Bis 2050 rung sind jedoch auf Proteine aus Weizen und Mineralien. Jeder weitere Rückgang
könnten demnach weitere 148 Millionen oder Reis angewiesen. Obendrein liefern des Nährwerts schlägt voll auf sie durch.
Menschen mit Proteinmangel zu kämpfen die betroffenen Pflanzen in Zukunft wohl Schon jetzt sind weltweit rund zwei Mil-
haben – 53 Millionen allein in Indien. auch weniger Mineralstoffe. In ähnlichem liarden Menschen mangelhaft mit Eisen
Mögliche Folgen: Muskelschwäche und Umfang wie bei den Proteinen sinkt der und Zink versorgt. Allein der klima-
verschlechterte Wundheilung. Neugeborene Gehalt an Kalzium und Magnesium, vor bedingte Schwund beim Zink dürfte bis
wiegen weniger, Kinder bleiben im Wachs- allem aber an Zink und Eisen. „Wir erzeu- 2050 weitere 138 Millionen Menschen in
tum zurück. gen immer mehr Biomasse, aber der Ge- Not bringen, vor allem in Afrika und im
Umso besser gedeihen die Pflanzen – halt an Mikronährstoffen kommt nicht südlichen Asien. Das hat eine Modell-
und ebendas ist das Problem. Den meisten mit“, bestätigt der Braunschweiger Biologe rechnung des Harvard-Forschers Samuel
Arten kommt das Treibhausgas gerade Hans-Joachim Weigel. Myers ergeben.

Treibhaus Erde Wachstum Nährwert


Auswirkungen des steigenden Bei zunehmender Konzentration des Klimagases Im Gegenzug benötigt die Pflanze
CO2-Gehalts der Atmosphäre kann die Pflanze mehr Stärke und andere Kohlen- weniger Proteine für ihren Stoffwechsel:
hydrate produzieren. Der Ernteertrag steigt. bis zu 15 Prozent Verlust bei Weizen,
auf den Stoffwechsel wichtiger Reis, Gerste und Kartoffeln.
Nutzpflanzen im Experiment
CO2
Sonne
H20 Fe Mg Ca Zn
Mithilfe von Sonnenenergie baut die Wasserbedarf
Pflanze aus energiearmen anorganischen Die Pflanze kommt mit weniger Wasser aus. Auch der Anteil der für den Menschen
Stoffen wie Kohlendioxid (CO2) energie- Vermutlich nehmen die Wurzeln dann aber wichtigen Mineralstoffe wie Eisen,
reiche organische Stoffe. auch weniger Mineralstoffe aus dem Boden auf. Magnesium, Kalzium und Zink sinkt.

114 DER SPIEGEL 42 / 2017


Der Düngeeffekt des CO² galt lange als
einer der wenigen Vorzüge des Klimawan-
dels. Die Konzentration des Treibhausgases
ist bereits von 280 ppm (Teile pro Million)
vor der industriellen Revolution auf gut
400 ppm angestiegen; in wenigen Jahr-
zehnten könnten 550 ppm erreicht sein.
In manchen Gewächshäusern wird der
Anteil des Gases heute schon zwecks Er-
tragssteigerung künstlich erhöht. Unter
Glas sind die Folgen freilich gut beherrsch-
bar: Mit ausgeklügelten Düngergaben und
optimaler Bewässerung lassen sich trotz

AZIM KHAN / PACIFIC PRESS / PICTURE-ALLIANCE / DPA


hohen Ertrags noch passable Nährwerte
erzielen. Aber was im Treibhaus funktio-
niert, kann unter freiem Himmel ganz an-
ders verlaufen.
Das gilt auch für die Forschung. Bislang
beschränkten sich die meisten Versuche
auf eingetopfte Pflanzen in Klimakam-
mern. Dort sind Feuchte oder Temperatur
exakt zu regulieren – gut für verlässliche
Befunde, aber nicht sehr praxisnah. In sol-
chen Laborstudien fallen die Nährstoffver-
luste vergleichsweise hoch aus. Arbeiterinnen beim Reistrocknen in Bangladesch: „Da ist gerade sehr viel im Gang“
Realistischer sind Freilandversuche, bei
denen die Pflanzen den Launen von Wind ner Zukunft, in der auf den Feldern nur trialisierung hat der Proteingehalt der Gold-
und Wetter ausgesetzt sind. Erhöht wird noch Junkfood wächst. „Ich halte das für rutenpollen um ein Drittel abgenommen.
dort zumeist nur der CO²-Gehalt der Luft übertrieben“, sagt Thünen-Forscher Man- Bekannt ist, dass schlechte Pollenquali-
– das Gas strömt aus großflächig verteilten derscheid. Der Mehrertrag pro Quadrat- tät den Bienen zusetzt; unter anderem
Düsen, Sensoren messen beständig die Kon- meter gleiche die Nährstoffverluste unterm sinkt dadurch ihre Lebenserwartung. Mög-
zentration über dem Feld. Im Freiland mes- Strich ja fast aus. licherweise ist also „versteckter Hunger“
sen die Forscher in der Regel einen deutlich Das hilft allerdings dem indischen Land- ein weiterer Grund, warum so viele Bie-
geringeren Schwund an Proteinen und Mi- arbeiter nicht, dessen Reisportion bei glei- nenvölker nicht mehr über den Winter
neralstoffen. chem Gewicht weniger Proteine und Mi- kommen.
Das Braunschweiger Thünen-Institut für neralien liefert. Auch für Manderscheid Als Nächstes will Ziska herausfinden,
Biodiversität hat gerade eine Studie mit steht deshalb außer Zweifel, dass es für ob die Pflanzen mit dem CO²-Anstieg
Winterweizen veröffentlicht. „Bei uns sank Leute mit jetzt schon prekärer Versorgung auch wichtige Vitamine einbüßen. Erstaun-
der Proteingehalt um höchstens 5 Pro- nicht gut aussieht. licherweise ist darüber fast nichts bekannt.
zent“, sagt der Biologe Remy Mander- Zu rechnen ist zudem mit versteckten Ein internationales Forscherteam soll die
scheid. „Dafür stieg der Ertrag pro Qua- Effekten, die womöglich indirekt auch auf Lücke schließen; auch der Mathematiker
dratmeter um 15 Prozent.“ den Rest der Menschheit rückwirken. Un- Loladze macht mit. Geplant ist ein Groß-
Freilich sagt so ein Versuch allein nicht gewiss ist zum Beispiel die künftige Quali- versuch mit 18 Reissorten.
viel aus. Im Freiland schwankt das Wetter tät von Bau- und Möbelholz, wenn die Solche Vorhaben stehen für eine über-
stark, keine Saison ist wie die andere. Für Bäume ihren CO²-Stoffwechsel umstellen. fällige Wende. Lange Zeit habe die Wis-
solide Mittelwerte wäre eine ganze Reihe Selbst das Schicksal der Wild- und Ho- senschaft sich fast ausschließlich um mehr
von Experimenten nötig. Die sind jedoch nigbienen könnte mit der Zusammenset- Biomasse und höhere Erträge gekümmert,
aufwendig und teuer. Rund 350 Tonnen zung der Luft zu tun haben. Sie decken sagt Biologe Weigel. Seit aber eine Steige-
Kohlendioxid bläst allein das Thünen-In- ihren Bedarf an Proteinen ausschließlich rung mit herkömmlichen Mitteln kaum
stitut jedes Jahr in die Luft. über Blütenpollen. Der amerikanische mehr möglich sei, komme vermehrt die
Dennoch sind sich die Forscher einig, Pflanzenphysiologe Lewis Ziska ging des- Güte der Ernährung in den Blick: „Da ist
dass es mehr solcher Versuche brauche. halb der Frage nach, wie es um die Ernäh- gerade sehr viel im Gang.“
Noch ist nicht gut genug verstanden, wie rung der emsigen Bestäuber steht. Zumindest bei den offenkundigen Pro-
die Pflanzen ihre Regelkreise dem gewan- Ziska sah sich stellvertretend die Kana- blemen drängt inzwischen auch die Zeit.
delten Klima anpassen. dische Goldrute an, die bis in den Oktober Etliche Forscher arbeiten immerhin schon
Manderscheids Kollege Hans-Joachim hinein oft üppig blüht. Für die Bienen, die an einer Lösung. Ihr Ziel ist es, die Pflan-
Weigel glaubt, dass es nicht mehr genügt, sich im Herbst aufs Überwintern vorberei- zen zu überlisten. Trotz steigender Versor-
Versuchsfelder einfach nur zu begasen. ten, sind die goldgelben Blüten eine wich- gung mit CO² sollen diese sich wieder be-
Man müsse das Klima der Zukunft mög- tige Proteinquelle. quemen, ihre Früchte, Körner oder Knollen
lichst vollständig simulieren, sagt er, soweit Zum Glück für den Forscher ist die Ge- verstärkt mit gesunden Inhaltsstoffen an-
das im Freiland möglich sei: „Wir können schichte der Goldrute bestens dokumen- zureichern.
mit lichtdurchlässigen Regendächern für tiert: Das Smithsonian-Naturkundemuseum Fachleute sprechen von „Biofortifika-
Dürre sorgen und mit Infrarotstrahlern die verwahrt eine Sammlung von Hunderten tion“. Zu den Mitteln der Wahl gehören
Pflanzen unter Hitzestress setzen.“ gepressten Pflanzen, die bis 1842 zurück- züchterische Tricks und – hierzulande
Solange aber das Wissen so lückenhaft reicht. Ziska beschaffte sich Pollenproben nicht so beliebt – die grüne Gentechnik.
ist, haben Interpreten freies Spiel. Schwarz- und unterzog sie einer chemischen Analyse. Manfred Dworschak
malerische Berichte warnten schon vor ei- Sein Befund: Seit dem Beginn der Indus- Mail: manfred.dworschak@spiegel.de

DER SPIEGEL 42 / 2017 115


MANFRED SEGERER / IMAGO
Besucher auf der Frankfurter Buchmesse

Einwurf

Solisten der literarischen Kultur


In Frankfurt am Main lebt der Weltgeist in der Plastiktüte.
Er war Ministerpräsident, Bundesminister, zwischenzeitlich ihrer Zeit. Nach jeder Veranstaltung, auch am SPIEGEL-Stand,
auch mal Wahlkampfmanager der SPD. Heute ist Reinhard melden sich Leser, die sich als Deuter der Zeit verstehen
Klimmt zwischen Büchern zu finden. Auf der Buchmesse und ihre übers Jahr insgeheim erarbeitete Theorie über
ist er mit einem eigenen Stand antiquarischer Bücher vertre- den Lauf der Welt nun im Gespräch prüfen wollen. Oft kom-
ten. Geld verdient er damit keins, es ist ein Zuschussgeschäft. men sie auch in Begleitung eines Manuskripts, das sie nur
Er nennt es seinen Abenteuerurlaub: kostet so viel wie eine zögernd ans Licht befördern. Der Stapel bedruckten Papiers
Reise, macht aber viel bessere Laune. in der Plastiktüte ist das wahre Symbol der Messe.
Auf der Frankfurter Buchmesse geht es eben nur zum Teil Stars und Thrillerfabriken hat fast jede Ecke der zivilisier-
um das große Geld, die Themen der Zeit, die Preise, die Stars ten Welt, aber der Querulant mit dem Privatverlag, der seinen
der literarischen Welt. Es ist vielmehr ein Fest der Marotten. Mitmenschen einmal seine Wahrheit mitteilen möchte, der
Manche Besucherin lässt sich freudestrahlend vor einem Regal schüchterne Bücherdieb und die passionierte Leserin histori-
mit Kochbüchern fotografieren, nimmt eines davon in den scher Regionalkrimis – diese singulären, meistens nicht rei-
Arm wie ein Haustier. Der Grund der Begeisterung bleibt uns chen, manchmal belächelten Solisten der literarischen Kultur
anderen verborgen, aber das macht nichts. Auf so einer Messe verkörpern den Geist Europas, und die Buchmesse ist ihr Fest.
treffen sich schon seit dem späten Mittelalter die Originale Nils Minkmar

Kino sei alles nicht so gewesen McEnroe gegen Borg und


Ziemlich schlechte (Kinostart: 19. Oktober). leitete eine neue Ära im
Borg, verkörpert von Sverrir Welttennis ein. Der Film von
Verlierer Guðnason, und McEnroe, Metz macht nun leider aus
Es war eines der größten Ten- gespielt von Shia LaBeouf, dem ersten großen Event auf
nismatches aller Zeiten und seien sich in Wahrheit – so dem Tennisolymp ein stre-
ein Clash zweier gegensätz- lautet die These – sehr ähn- ckenweise recht tristes See-
licher Temperamente: Als der lich, beides zornige junge lendrama. Etwas mehr Sport
Schwede Björn Borg 1980 im Männer und ziemlich schlech- und etwas weniger Psycho-
JULIE VRABELOVA / UNIVERSUM FILM

Finale von Wimbledon gegen te Verlierer. Nur dass der eine logie hätten dem Film
den Amerikaner John Mc- seine Gefühle zu kontrollie- gutgetan. Verwirrende Rück-
Enroe antrat, traf der blonde ren lernte und der andere blenden-Kaskaden und
Mr Cool auf den gelockten ihnen immer freien Lauf ließ. zusammengetackerte Tennis-
Hitzkopf, die Ballmaschine Es war, so oder so, eine szenen machen es dem Zu-
auf das Rumpelstilzchen. Der Zeitenwende, ein Epochen- schauer eher schwer, den
Spielfilm Borg/McEnroe von Ja- bruch der Sportgeschichte: Figuren nahezukommen und
Guðnason nus Metz behauptet nun, das Ein Jahr später gewann beim Spiel mitzufiebern. lob

116 DER SPIEGEL 42 / 2017


Kultur
Literatur der Lemminge. Die Moti- Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
„Bisschen verrückt“ vation für meine diesjährige
Preisverleihung ist aber Furioses Verschwinden
Helmut Meier, 66, hat mehr als absolut gegenläufig zum Kauf
30 Jahre in einer internationa- eines Buchs nur für mich. Die Berliner Mauer ist bald so lange weg,
len Unternehmensberatung ge- SPIEGEL: Was glauben Sie, wa- wie sie da war. Anfang November
arbeitet. Aber Geld, sagt er, rum Wondratschek so gut wird es so weit sein; rund 160 Kilo-
„ist immer eine Begleiterschei- wie keine Preise bekommt? meter Beton und Minenfeld sind zur
nung des Erfolgs, nie das Ziel. In Deutschland und Öster- historischen Episode geworden: Wer
Darum kann ich mich auch gut reich gibt es doch eine Menge sich daran nicht erinnern kann, ist
davon trennen, wenn mir Außer- Ehrungen für Schriftsteller längst erwachsen – allerdings ist diese
gewöhnliches begegnet“. aller Genres. Generation in unserer alten Gesell-
Meier: Es soll Begabte und schaft von viel mehr Menschen umgeben,
SPIEGEL: Herr Meier, wie kom- Genies geben, die es schaffen, die von diesem Damals noch erzählen, als wäre es gestern
men Sie auf die Idee, Wolf alle Nicht-Wohlmeinenden gewesen. Mich beispielsweise hat diese Rechnung kalt
Wondratschek den „Alterna- und auch sogar die Wohl- erwischt. Die Mauer war die Hälfte meines Lebens eine
tiven Büchnerpreis“ zu ver- meinenden vor den Kopf zu selbstverständliche Grenze des Reisens und der Wahr-
leihen und mit 50 000 Euro zu stoßen. Dies scheint Wolf nehmung, zugleich eine Art unthematisierter Hintergrund,
dotieren? Wondratschek im Establish- so wie Schlagbäume an den europäischen Grenzen, Dauer-
Meier: Der Schriftsteller Wolf ment der Preisverteiler gelun- wellen beim Friseur und analoge Ablagesysteme, Haus-
Wondratschek ist ein Meister gen zu sein. Seine eigenstän- frauen und männliche Chefs, die fragen, ob man auch
der deutschen Sprache, ein dige und eckige Art erfordert Kaffee kochen kann. (Vergleichsweise harmlos, wenn man
Solitär der Literatur. Ich eben ein entsprechendes an Hollywood denkt.) Man gewöhnt sich an beinahe jedes
möchte ihn für sein umfang- selbstbewusstes, aber wohl- Verschwinden, indem man es nicht bemerkt.
reiches Lebenswerk auszeich- meinendes Gegenüber. Die Übergangsregierung der DDR hatte am Jahresende
nen, das leider nur wenigen SPIEGEL: Soll das eine Tra- 1989, keine acht Wochen nach dem Mauerfall, entschie-
Connaisseurs bekannt ist. dition werden, der „Alterna- den, das mögliche größte politische Denkmal der Welt na-
SPIEGEL: Sie haben seinen vor- tive Büchnerpreis“? Wer hezu restlos vom Erdboden zu tilgen. Es gab eine wilde,
letzten Roman gekauft, nicht wäre Ihr nächster Kandidat? euphorische Entschlossenheit, der außer ein paar Histori-
um ihn zu veröffentlichen, Meier: Es wäre schön, wenn kern und Bürgerrechtlern kaum jemand widersprach; die
sondern um ihn ganz für sich dies ein Anstoß wäre, unor- Bundesregierung unterstützte den Abriss auch, weil das
zu haben. Sind Sie auch ein thodoxe literarische Leistung eine sinnvolle Aufgabe für rund 160 000 arbeitslose Mit-
bisschen verrückt? mittels privaten Mäzenaten- glieder der Nationalen Volksarmee zu sein schien.
Meier: Wenn man das nicht tums auszuzeichnen. Ich wer- Türme, Stacheldraht und Beton: in kürzester Zeit per-
Offensichtliche umsetzt, kann de jedenfalls meine Energie du. Das Unansehnliche zu Granulat zermahlen und für
es passieren, dass man wohl daransetzen, eine Fortset- den Straßenbau verwendet; das Ansehnliche und Bunte
als „ein bisschen verrückt“ zung zu erreichen. Über wei- nahmen Touristen und Berliner für kleines Geld mit nach
gesehen wird. Dabei handelt tere Namen möchte ich jetzt Hause: bemalte oder beschriftete Stücke Beton – echte
man nur nicht im Mainstream aber noch nicht sprechen. vw und vermutlich auch gefälschte, das Angebot war so un-
wahrscheinlich wie unermesslich –, die Widerstand und
Lebenslust, den Schrecken der anderen und ein zuver-
Feminismus sichtliches Morgen amalgamierten. Es wurde von vielen
Männerfreie Zone Leuten viel Geld mit dem Material verdient, sogar ein
paar medizinische Geräte für ein Brandenburger Kran-
Was haltet ihr davon, fragte kenhaus fielen dabei ab. Ein beachtlicher Torso steht seit
die schwedische Comedienne 1992 vor dem CIA-Hauptquartier im amerikanischen
OSKAR OMNE

Emma Knyckare auf Twitter, Langley dem Personal im Weg, ein anderer wird im Land-
„ein cooles Festival zu organi- Bråvalla-Festival haus der Cognac-Dynastie Hennessy präsentiert. Unend-
sieren, bei dem nur Nicht- lich weit verstreut sind diese putzigen Trophäen vom
Männer willkommen sind, bis Vorfälle hatten sich im Vor- friedlichen Ende des Kalten Krieges; sie liegen in Bücher-
ALLE Männer gelernt haben, jahr nicht nur auf schwedi- regalen oder hocken unter Glasstürzen, sind eingerahmt
sich zu benehmen?“ – und schen Festivals ereignet. Wäh- und angestrahlt oder verstaubt und im Kram der Jahr-
rief dafür eine Crowdfunding- rend das Bråvalla-Festival zehnte vergessen.
Kampagne ins Leben, die für das nächste Jahr abgesagt Die wütende Energie, mit der man damals das Monu-
jetzt erfolgreich beendet wur- wurde, sind Knyckare und ment der Teilung vernichtete, hatte etwas Exorzistisches
de: Im Sommer 2018 soll das ihre Helfer dabei, ihr männer- und war in beiden Staaten einvernehmlich – der regie-
Statement Festival stattfinden, loses Festival zu organisieren. rungsamtliche Ausdruck, glaube ich, des gleichen Impul-
das erste Musikfestival „ohne Gut 50 000 Euro haben sie ses, mit dem marmorierte Jeansjacken, Gurkengläser und
Cis-Männer“, die, so die De- bislang eingesammelt, unter- russische Romane verabschiedet oder gegen westdeutsche
finition, als Mann geboren stützt wurden sie bei Kick- Entsprechungen ausgetauscht wurden. Die Kehrseite des
wurden und auch als solcher starter von 3300 Menschen. Aufbruchs, des Alles-hinter-sich-Lassens, der pionier-
leben. Warum? Beim Bråval- „Wir behaupten nicht, dass haften Eroberung der Zukunft war die Selbstentwertung.
la-Festival waren in diesem dieses Festival eine Lösung Nun gibt es fast nichts mehr, woran man sich, buchstäb-
Jahr vier Vergewaltigungen für die Probleme sexueller Ge- lich, abarbeiten könnte.
und 23 sexuelle Übergriffe ge- walt ist, sondern eine Reak-
meldet worden, ähnliche tion darauf.“ red An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.

DER SPIEGEL 42 / 2017 117


Nation ohne Schatten
Kulturpolitik Das wiederaufgebaute Berliner Stadtschloss und das geplante
Humboldt Forum sollten für ein weltoffenes Deutschland stehen.
Derzeit bedeuten sie vor allem Ärger – nicht nur mit der Vergangenheit.

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF

Schlossbaustelle in Berlin: Echo des alten Machtzentrums

118 DER SPIEGEL 42 / 2017


Kultur

D
as neue alte Schloss in Berlin, fast ter aus Nigeria, Federmosaike aus Mexiko Gebiete waren dennoch riesig. Und die
vollendet. Die Aussicht vom Dach ausgestellt werden. Grausamkeit reichte bis zum Völkermord.
ist eindrucksvoll. Von hier wirkt es Das Sammeln an sich wird dann gefeiert, Das Ausstellen anderer Kulturen in der
so, als dehnte sich die Stadt endlos aus. viele sollen sich angesprochen fühlen. Hat alten Mitte der Hauptstadt, in einem ar-
Manche finden die Nahsicht vielleicht nicht jeder mal irgendwas zusammenge- chitektonischen Echo des alten Machtzen-
attraktiver. Gleich gegenüber, auf der an- tragen und wie einen Schatz gehütet, viel- trums, könnte als große, geschichtsverges-
deren Straßenseite, liegt altes Preußen: das leicht als Kind? Man will die Neugier zele- sene Überheblichkeit verstanden werden.
ehemalige Zeughaus, Museumsinsel, Dom. brieren, die alltägliche und die wissen- Vor allem die Herkunft der ethnologi-
Dazu jetzt das kolossale Stadtschloss schaftliche. Und in diesem Rahmen soll schen Objekte ist zu einem Kernthema
oder zumindest seine 600-Millionen-Euro- daran erinnert werden, dass die Deutschen der Debatte geworden. Vieles kam in
Kopie. Viel wurde über das Äuße- den kolonialen Zeiten nach Berlin,
re diskutiert, doch inzwischen ist und das heißt, dass in vielen
der geplante Inhalt zum großen, Fällen nicht ausgeschlossen wer-
zum beherrschenden Thema ge- den kann, sogar vorausgesetzt
worden. werden muss, dass die Stücke er-
Hauptnutzer wird das Hum- beutet wurden, mit Gewalt abge-
boldt Forum sein, und das soll, so presst. Alte Akten künden von ei-
hat es die Politik angepriesen, ein ner „Zusammenarbeit“ der Wis-
„Kulturort neuen Typs“ werden, senschaftler mit dem Kommando
im Grunde soll es ein Museum der deutschen „Schutztruppen“,
sein, das mehr und besser ist als manchmal wünschten sich die For-
ein Museum, ein Treffpunkt der scher eher noch mehr „Interesse“
Bildungs- und Welthungrigen. der Kolonialbeamten an der Völ-
Die Anhänger bezeichnen die- kerkunde.
ses Forum als Schritt zur „Vervoll- Der prunkvolle Thron eines
kommnung“ der Mitte Berlins, Herrschers aus Kamerun wurde
meinen aber im Grunde die Ver- sicher nicht so freiwillig von ihm
vollkommnung der gesamten Re- verschenkt, wie im Ethnologischen
publik. Vokabeln wie „national“ Museum lange unterstellt. Auch
und „identitätsstiftend“ fallen oft. die heute so berühmten Benin-
Jahrelang hat man nur die An- Bronzen sind Raubgut; die Berli-
hänger vernommen – doch jetzt ner haben sie bei den Briten er-
hört man auch immer mehr Geg- worben, die sie in großer Zahl aus
ner. „Reaktionär“ nennen sie das einem Palast geholt hatten.
Projekt, und sie meinen damit Doch Zoologen schickten ja
auch und vor allem das Forum. sogar Menschen aus Afrika nach
ARCHIV SZEMETHY / WIEN

Eine Nation ohne Schatten stelle Deutschland, wo sie in Völker-


sich dort dar, sagen sie. Ihnen er- schauen ausgestellt wurden. Man
scheinen Schloss und Forum (vor nahm die Lebenden und die Toten
allem in dieser Kombination) wie mit, etwa – laut Akten – einen „ex-
eine Verklärung der Geschichte, humierten Zwerg“ oder die Kör-
und so etwas halten sie in einer Berliner Forscher Luschan um 1910 perteile „gehenkter Afrikaner“.
AfD-Gegenwart für besonders Gier nach menschlichem Material Leichenteile waren Massenware.
gefährlich. So werden auch in Berlin viele
Gestritten wird auf allen Kanälen, pau- früh von Wissensdurst und antiprovinziel- Überreste menschlicher Körper aus den Ko-
senlos: auf immer neuen Podiumsdiskus- ler Neugier auf die weite Welt getrieben lonien verwahrt, Schädel, Skelette.
sionen, Tagungen, auf Twitter, in Inter- waren. Solche „Human Remains“ sollen in den
views und Blogs. Die Debatte hat Orkan- Tatsächlich ist das der Grundgedanke. geplanten Dauerausstellungen nicht ge-
stärke erreicht, sie könnte das Image des Die Kulturstaatsministerin und CDU-Poli- zeigt werden. Aber all das ist da, liegt in
Vorhabens beschädigen, bevor das Schloss tikerin Monika Grütters holte den berühm- den Depots und gehört zur Geschichte, so-
auch nur eingerichtet ist. ten britischen Museumsmann Neil Mac- zusagen zur DNA der Wissenschaft und
Von Ende 2019 an zieht also – nicht Gregor als einen von drei sogenannten der Museen. Die Ethnologie, aber auch die
allein, aber als Herzstück der Komposi- Gründungsintendanten, auf dass der für Anthropologie – als Menschenkunde – wa-
tion – das Humboldt Forum ein. In An- eine fesselnde Inszenierung sorge – dem ren die Wissenschaftszweige der Koloni-
knüpfung an eine alte, auch preußische SPIEGEL sagte er einmal, jeder solle sich sierung. Durch das „Sammeln“ sah die Er-
Tradition wird der museale Teil wie eine hier als Weltbürger fühlen. oberung aus wie eine Expedition.
Kunstkammer mit ungewöhnlichen Schau- Nur stimmt schon der Ausgangspunkt Kann man das im Schloss, in der Wun-
stücken gestaltet. nicht, die Deutschen waren nie so nett glo- derkammer, alles ausblenden? Oder wird
Die Bestände, auf die man zurückgrei- balisiert, wie es vielleicht aussehen soll. diese Kammer so nicht erst recht zum Gru-
fen kann, sind umfangreich. Zwei Institu- Der Große Kurfürst aus dem Hause Hohen- selkabinett, weil alle wissen, dass unter
tionen werden im Forum aufgehen: das zollern, der auch im Schloss residierte, han- der schönen Oberfläche so viel Unheimli-
Museum für Asiatische Kunst und das Eth- delte jedenfalls Ende des 17. Jahrhunderts ches steckt?
nologische Museum, 1886 als Königliches mit Sklaven. Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy
Museum für Völkerkunde gegründet. Aus Die Deutschen haben zwar dann, im hat das Humboldt Forum im Sommer als
seinem Besitz sollen unter anderem Boote Vergleich zu anderen europäischen Län- kulturelles „Tschernobyl“ bezeichnet, sie
aus der Südsee, ein Thronsessel aus Ka- dern, erst spät Kolonien gegründet, haben war da gerade aus dem Expertenbeirat aus-
merun, der Gedenkkopf einer Königinmut- sie auch weniger lang beherrscht, aber die getreten. Sie ist immer noch der Meinung,
DER SPIEGEL 42 / 2017 119
Kultur

STEFFEN JAENICKE / DER SPIEGEL


HERMANN BREDEHORST

Intendanten Parzinger, MacGregor, Bredekamp, Aktivistin Mayen: Wer darf sich deutsch fühlen?

ein „konstruktiver Dissens“ könne hilf- nette Snoep, bei den Staatlichen Kunst- lagen offen auf einem Haufen gestapelt,
reich sein, aber inzwischen spüre sie bei sammlungen in Dresden zuständig für die ungeschützt und nicht verwahrt.“
allen, die am Forum beteiligt seien, eine Ethnologie, sagt, man müsse die Museen Die Leute von der Stiftung Preußischer
kafkaeske Angst. erst einmal in die Psychoanalyse schicken, Kulturbesitz betonen, dass es sich bei den
Der für die erste Gestaltung zuständige alles ans Licht bringen, was verdrängt wird. Fotos um eine Leihgabe einer alten wis-
Brite MacGregor sagt, das Humboldt Fo- Man brauchte viele Analytiker. senschaftlichen Gesellschaft handle. Heute
rum solle auch ein Ort der Debatte sein, Im Depot des Berliner Ethnologischen könne man „nur möglichst respektvoll mit
und da, wo man die Geschichte der Ob- Museums liegen historische Fotografien, solchem, die Opfer entwürdigendem Ma-
jekte kenne, müsse man sie benennen. So die abgetrennte Köpfe zeigen. Man sieht terial umgehen“. Auch würden sie diese
sei es etwa undenkbar, die Umstände des deren Haut, und da, wo diese entfernt wur- Aufnahmen nie öffentlich ausstellen.
Erwerbs zu verschweigen, wenn sie be- de, erkennt man Teile des Schädels, man Genau das ist das Dilemma des Forums
kannt seien. Die Forschung selbst sei al- sieht Haar, auch die geschlossenen Augen. und vieler ethnologischer Museen insge-
lerdings Sache der Museen, nicht der Grün- Eine der Beschriftungen lautet „Neger von samt. Gerade das Unzeigbare enthält Er-
dungsintendanz des Humboldt Forums. Angola (14 bis 16 Jahre alt)“. hellendes. Außer dem Unzeigbaren gibt
Plötzlich, im Jahr 2017, ist der Druck Die Köpfe selbst sind verschollen. Aber es das Unsichtbare, viele Bestände sind
groß geworden, plötzlich muss man mit zu Beginn des 20. Jahrhunderts müssen sie noch nicht ausreichend erforscht.
dieser Geschichte umgehen. Und plötzlich sich in Berlin befunden haben, dort wur- Manche Ethnologen fordern diese de-
erscheint auch die Zeit bis zum Einzug den sie 1906 abgelichtet. Der Mediziner taillierte Aufarbeitung öffentlich ein; sie
knapp, man hat nur noch zwei Jahre, um Hans Virchow ließ gern solche Abbildun- wissen, welch virulentes Thema die deut-
den Ruf des Schlosses zu retten. gen anfertigen, manche wurden koloriert. sche Kolonialherrschaft in den verschiede-
Hermann Parzinger gehört ebenfalls der Er zeigte sie dann auf Sitzungen und nen Ländern noch immer ist, welche Rolle
ersten Intendanz an, er ist aber auch Prä- lobte das fachmännische Präparieren der es in den Familien spielt, etwa in Namibia.
sident der Stiftung Preußischer Kulturbe- Antlitze, weil man so „physiognomische Doch die Menschen dort wüssten nicht,
sitz, der die beiden ins Schloss zu über- Feinheiten“ erhalte, die man „für ethno- was aus ihrer Kultur nach Berlin gelangt
führenden Museen unterstellt sind. Ver- logische Fragen nutzbar“ machen könne. sei, sagt auch die Ethnologin Larissa Förs-
gangene Woche kündigte er ein auf zwei Nutzbar gemacht wurden auch „Chinesen- ter. Wissenschaftler wie sie gehen längst
Jahre angelegtes Forschungsprojekt zu tau- köpfe“ oder „Tasmanier Schädel“. Das al- kritisch mit den Ursprüngen ihres Faches,
send menschlichen Schädeln aus dem ehe- les diente einem Interesse, das man genau- mit dessen Institutionen um, aber in der
maligen Deutsch-Ostafrika an. Insgesamt so gut als rassistischen Voyeurismus be- Leitung des Humboldt Forums sitzt kein
liegen noch mehrere Tausend Schädel in zeichnen kann. Ethnologe. Dort sitzen Leute, die sagen,
den staatlichen Museen Berlins – für sie Der Berliner Autor und Schauspieler jegliche Schuld solle zwar unbedingt auf-
alle die Zusammenhänge des Erwerbs zu Hanns Zischler hatte die Bilder vor ein gearbeitet werden, aber das deutsche
erforschen würde sicher zehn Jahre dau- paar Jahren im Depot des Museums ent- Selbstbewusstsein müsse doch nicht allein
ern. Und das sind eben nur die Schädel. deckt, reiner Zufall, er war wegen eines auf Schuld und Scham aufgebaut sein.
Die Wissenschaftler konnten einst nicht Buchprojekts auf der Suche nach anderen Die Geschichte bestehe aus vielen Ka-
genug bekommen, und eigentlich müsste Dingen. Zischler erinnert sich daran, wie piteln. So jedenfalls kann man auch den
man ihre kalte Gier auch zum Thema eines geschockt er von den Bildern selbst war Kunsthistoriker Horst Bredekamp verste-
Museums machen. Die Niederländerin Na- und davon, wie er sie vorfand: „Die Fotos hen, den dritten Gründungsintendanten.
120 DER SPIEGEL 42 / 2017
Die Idee einer Kunstkammer und die Wis-
sensvermittlung sind zwei seiner Lebens-
wart zu tun, mit dem erlernten Blick auf
Menschen.
Steuern?
themen, er wollte das Schloss positiv auf-
laden. Und nun?
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz
aber hat bestimmte Begriffe eher noch wei-
Lass ich machen.
Man spürt in vielen Gesprächen tatsäch- hevoll aufgeladen. Ihr Präsident Parzinger
lich Nervosität, die wird noch deutlicher, formulierte es so: Von Berlins Mitte aus
wenn von möglicher Restitution die Rede habe sich früh die „wissenschaftliche Neu-
ist. Denn darf man überhaupt behalten, gier auf das Fremde und das andere in der
was geraubt ist? Welt“ gerichtet.
Es wurde so viel diskutiert, und doch Tatsächlich also sieht es so aus, als rutsch-
merkt man, wenn man mit einigen Geg- te mit dem Schlossneubau das Weltbild in
nern des Projekts redet: Es geht um noch die Vergangenheit zurück.
viel mehr, es geht um das Selbstbild dieses Spät erst gab die Bundesrepublik den
Landes, das eben auch in Museen, in Ar- einstigen Völkermord an den Herero und
chitektur gefestigt wird, das auf viele Arten Nama zu. Beide Volksgruppen reichten
in die Alltagswelt hineinwirkt. 2017 in den USA Klage ein, es geht auch
Jacqueline Mayen, 33, nennt das Schloss um Wiedergutmachung. Die Deutschen
und alles, was es vermittelt, „zynisch“. versuchen, dem Verfahren auszuweichen.
Die gebürtige Berlinerin ist Bildungs- Mindert das nicht ebenso die Glaubwür-
referentin und Aktivistin. Sie engagiert digkeit des Berliner Humboldt-Projekts?
sich bei „Berlin Postkolonial“, einer Grup- Das ist – nicht nur weil es vom Bundestag
pe, die Berlins koloniale Vergangenheit abgesegnet wurde – hochpolitisch.
erforscht. Mayen veranstaltet dazu Füh- Gibt es eine Chance? Für das Schloss,
rungen. Man findet diese Vergangenheit das Forum, für die Deutschen und ihr
zum Beispiel in einem Gebäude am Ansehen?
Landwehrkanal, dort hatte der Frauen- Es wäre schon ein erster wichtiger
bund der Deutschen Kolonialgesellschaft Schritt, in die Peripherie Berlins zu blicken.
seinen Sitz. Das kleine Museum Treptow, das sich
Mayen bezeichnet sich als afrodeutsch, der örtlichen Geschichte widmet, hat gera-
auch als schwarze Deutsche; ihr Vater, ein de eine Ausstellung zur Kolonialgeschichte
Künstler, stammt aus Ghana, ihre Mutter, des Berliner Stadtteils eröffnet. Sie handelt
eine Erzieherin, aus Deutschland. Sie von der „Völkerschau“ des Jahres 1896. Da-
selbst hat Anthropologie und Afrikawis- mals wurden 106 Bewohner der deutschen
senschaft studiert, während ihrer Zeit an Kolonien in die deutsche Hauptstadt ge-
der Universität erlebte sie, dass Dozenten bracht und mussten sich im Treptower Park
aus Afrika angekündigt waren und dann von den Besuchern begaffen lassen.
nicht einmal ein Visum erhielten. Sie Zwei Millionen Menschen sahen sich das
glaubt nicht an die nun so viel beschwore- Spektakel an. Felix von Luschan, ein da-
nen Begegnungen auf Augenhöhe. mals geschätzter Wissenschaftler, nutzte
Der Schlossbau und was darin zu sehen die Gelegenheit, diese menschlichen Ex-
sein solle, sei Teil einer Erinnerungspraxis, ponate zu vermessen. Im Laufe der Aus-
die das positive Gedenken an eine hege- stellung verstarben drei Afrikaner an Lun-
moniale Macht einschließe, sagt Mayen. genentzündung. Luschan sorgte dafür, dass
„Schwarzen Menschen wird damit ideolo- ihre Leichname ebenfalls untersucht und
gisch und auch physisch immer wieder sug-
geriert, sie gehörten nicht zur deutschen
Geschichte und Gesellschaft.“ Auch das
Humboldt Forum sei eher für eine weiße
obduziert wurden.
Es ist schwierig, das alles heute ange-
messen darzustellen. Die Kuratoren jeden-
falls hatten Zweifel an den eigenen Plänen
VLH.
Mittelschicht gemacht, nicht für sie, auch bekommen und daher verschiedene Grup-
nicht für Flüchtlinge. pen um Hilfe gebeten, auch die Initiative
Was Kritiker wie sie oder der in Paris
lebende Autor und Kurator Simon Njami
Schwarze Menschen in Deutschland. Jeder
Text, jedes Foto wurde neu diskutiert. Das
Wir machen Ihre
vor allem beanstanden, ist die notorische
Betonung des Fremden, die Teilung der
Konzept wurde geändert, die meisten Ex-
ponate wurden an die Leihgeber zurück- Steuererklärung.
Welt in ein „Wir“ und in ein „die ande- gegeben. Auch einen Häuptlingshocker
ren“, die mit diesem Berliner Projekt aus Togo strich man von der Liste der Ob-
einhergingen. jekte. Mnyaka Sururu Mboro, gebürtig in
Njami ist Experte für die Kunst und Tansania, hatte dazu gesagt: „Kein Häupt-
Kultur Afrikas, aber auch dafür, wie Euro- ling würde jemals seinen Thron freiwillig www.vlh.de
päer das wahrnehmen, was ihnen uneuro- hergeben. Natürlich wurde der geraubt.“
päisch erscheint. Er sagt, die Beschwörung Statt Artefakte auszustellen, haben die
des Fremden durch die frühe Ethnologie Kuratoren vor allem die Biografien der
habe einst dazu geführt, diese „anderen“ Menschen recherchiert, die an den Blicken
Menschen im Grunde nicht einmal mehr der Berliner zerbrachen.
als Menschen wahrzunehmen, sondern Es gibt also angemessene Wege, mit der
als „jedermanns Besitz“. Das alles sei lan- Geschichte umzugehen.
ge her und habe doch viel mit der Gegen- Xaver von Cranach, Ulrike Knöfel

DER SPIEGEL 42 / 2017 121


Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Männer, denen die Kraft ausgeht
Kino Der schwedische Regisseur Ruben Östlund gewann für seinen Film „The Square“ die Goldene
Palme. Eine Begegnung mit einem Künstler, der nicht an Helden glaubt.

S
päter wird der Regisseur Ruben Öst- zum Sex kommt, schließt die Frau die ziert natürlich nicht zufällig durchs Bild.
lund im Interview sagen, dass seine Schlafzimmertür, damit der Affe nicht zu- „Als Menschen betrachten wir uns doch
Filme eine Sammlung von Momenten schaut. Nachher weigert sich Christian, der ständig selbst, wir bewerten unser Verhal-
seien. Dass es ihm um Situationen gehe, Frau das benutzte Kondom zu überlassen. ten, wollen fair und gut sein, aber wir ge-
in denen etwas deutlich werde. Auf dem Sie will es wegschmeißen, aber er traut ihr raten immer wieder in Konflikt mit unse-
Weg zu Östlund nach Göteborg, noch in nicht. Könnte ja sein, dass sie heimlich von ren Instinkten und unseren unbewussten
Hamburg, steht an einer Ampel ein Mann ihm schwanger werden will. Ganz eindeu- Bedürfnissen. Das ist unser Dilemma“, sagt
mit einem Roller. Es ist ein Roller, wie ihn tig hält er sich für einen Mann, der solche Östlund.
Kinder auf dem Weg zum Kindergarten Wünsche auslöst. Christian und die Frau Was dem Kurator Christian wirklich
benutzen, nur etwas größer und mit einem ziehen an dem Kondom, jeder an einem wichtig ist, das zeigt sich im Laufe des
kleinen Elektromotor. Als die Ampel auf anderen Zipfel, erstaunlich, wie weit sich Films, sind seine beiden Töchter und ein
Grün springt, holt er mit dem linken Bein so ein Gummi dehnen lässt. Kunstprojekt mit dem Titel „The Square“,
Schwung, im Seitenspiegel des Taxis ist zu „The Square“ gilt als Satire, es ist aber das dem Film auch den Titel gibt.
sehen, wie der erwachsene Mann vor sich viel mehr eine Tragödie mit abgründigem An diesem Punkt greifen Östlunds Le-
hin rollert und dabei immer kleiner wird. Humor. Der Film erzählt Christians Leben ben und das Leben der fiktiven Figur Chris-
Im Flugzeug nach Skandinavien dann jun- als Privatmann und als Museumsdirektor, tian ineinander. Bevor er mit der Arbeit
ge Männer mit mächtigen Vollbärten; An- beide Rollen entgleiten ihm. Als ob ihm an dem Film „The Square“ begann, hatte
zugträger, die bis kurz vor dem Start in Östlund gemeinsam mit einem Freund die
ihre Handys brüllen. Und natürlich die Idee für ein Kunstprojekt: Sie wollten
Drängler. Drängler kennen keine Höflich- Warum ist das Vertrauen einen Ort schaffen, egal wie groß, der je-
keit, sie müssen dringend als Erste sitzen, dem Schutz gewährt, der sich dort aufhält.
um sofort ihren Laptop aufzuklappen. in die Gesellschaft so Auslöser dafür waren Situationen, die Öst-
Ein gutes Kunstwerk schafft es, den schwach geworden? Woher lund nicht mehr aus dem Kopf gingen: In
Blick des Betrachters zu schärfen. Es ver- einem Göteborger Einkaufzentrum waren
schiebt für eine kurze Weile die eigene
kommt die Paranoia? Jugendliche von anderen Jugendlichen sys-
Perspektive auf die Welt. Wer aus einem tematisch ausgeraubt worden, ohne dass
Film von Ruben Östlund kommt, fragt sich: einfach die Kraft ausgehen würde. Aller- die erwachsenen Besucher ihnen geholfen
Was macht einen Mann heute eigentlich dings ist der kraftlose Christian am Ende hätten. Zudem wusste Östlund von seinem
zu einem Mann? Und warum wirken man- des Films wesentlich sympathischer als der Vater, dass dieser als Kind auf den Straßen
che so angestrengt männlich? strahlende Direktor, dem zu Beginn des Stockholms gespielt hatte, mit einem Na-
Östlund, 43, hat in diesem Jahr für sei- Films das Handy und die Brieftasche ge- mensschild um den Hals, damit ihn jemand
nen Film „The Square“ die Goldene Palme stohlen werden. Sein Assistent bringt ihn nach Hause bringen konnte, falls er sich
in Cannes gewonnen. „Wir spielen alle Rol- auf die Idee, das Telefon zu orten. Es be- verirren sollte.
len“, sagt er, „mich interessieren die Kon- findet sich in einem Wohnblock irgendwo Östlund fragte sich, warum das Vertrau-
flikte, in die wir dabei geraten. Die Mo- am Rande der Stadt, in einer Gegend, in en zueinander in der westlichen Gesell-
mente, in denen wir Angst bekommen, das die Christian sonst nie kommt. Er könne schaft so schwach geworden ist. Wann die
Gesicht zu verlieren.“ Und weil er selbst doch in dem Haus Drohbriefe einwerfen, Paranoia begonnen habe, dass überall eine
ein Mann ist, ein Künstler, ein Vater, Sport- in jeden einzelnen Briefkasten, schlägt der potenzielle Bedrohung lauern würde. Das
ler, jemand, der sich den Kopf zerbricht Assistent vor, Briefe, die den Dieb auffor- Projekt „The Square“ wurde in Schweden
über die Gesellschaft, in der er idealerwei- dern, Handy und Brieftasche zu hinterle- und Norwegen mittlerweile an vier Orten
se leben möchte, kreisen seine Filme um gen. Christian lässt sich auf die Idee ein. verwirklicht. Östlunds preisgekrönter Film
genau diese Themen. In seinem Tesla fahren sie zu dem Haus, macht die Idee nun international publik.
Im Mittelpunkt von „The Square“ (Ki- die Sache geht nicht gut. Aber sie geht Im Gespräch mit Östlund fallen die Wor-
nostart am 19. Oktober) steht Christian. auch nicht völlig schief. Am Ende erwächst te Vertrauen und Verantwortung auffällig
Er ist Direktor eines großen staatlichen sogar etwas Gutes daraus. Wie es Östlund häufig. Das Treffen mit ihm findet im
Kunstmuseums in Schweden. Ein Anfang gelingt, die Vielschichtigkeit von Handlun- schmucklosen Büro seiner Filmproduk-
vierzigjähriger, gut aussehender Mann (ge- gen einzufangen, mögliche Konsequenzen tionsfirma in Göteborg statt. Er hat Blät-
spielt von Claes Bang), der in Interviews nur anzudeuten und Raum für Assoziatio- terteiggebäck mitgebracht und kocht Kaf-
und bei Ausstellungseröffnungen mühelos nen zu öffnen, ist große Klasse. fee. Ein Mann, Anfang vierzig, Jeanshemd,
jenes Kunsttheorie-Kauderwelsch abspu- Christian ist getrieben von der Vorstel- blaue Hose, der wach und engagiert redet.
len kann, das sein Gegenüber einschüch- lung, ein erfolgreicher Mann zu sein. Zu- Er brennt für seine Arbeit, das ist zu spü-
tert. Christian lebt getrennt von seiner mindest will er dieses Bild abgeben, auch ren, trotzdem muss er nicht unentwegt
Frau, er hat zwei Töchter, die einige Tage vor sich selbst. Doch Erfolg zu haben um über sich sprechen.
im Monat bei ihm verbringen. des Geldes und des Glanzes willen ist eine Er berichtet von einem schwedischen
Einmal lässt er sich auf einen One-Night- jener Fallen, in denen die Männer in Öst- Wissenschaftler, der das Vertrauen inner-
Stand mit einer Journalistin ein. Eine groß- lunds Filmen gefangen sind. Hinzu kom- halb einer Gesellschaft mit einem Koral-
artige Szene. Denn in der Wohnung der men Sprachlosigkeit und das große Hadern lenriff verglichen hat. Beide könnten viele
Journalistin lebt auch ein Affe. Bevor es mit den eigenen Instinkten. Der Affe spa- Beschädigungen hinnehmen, aber wenn
122 DER SPIEGEL 42 / 2017
Kultur

er diesen Sport. Eine Menge Vertrauen ist


nötig, um sich in die steilen Hänge zu wa-
gen. „Ich war fanatisch“, sagt Östlund.
Bis er 25 war, verbrachte er jeden Win-
ter mindestens hundert Tage auf der Piste.
Irgendwann begann er, die besseren Fahrer
zu filmen. Alle arbeiteten mit voller Kon-
zentration, die Skifahrer, die Salti spran-
gen und unberührte Pisten hinabwedelten,
und Östlund, der ihnen mit der Kamera
folgte. „Jeder wollte zeigen, dass er der
Beste ist. Es war eine starke Konkurrenz,
aber auf eine gute Art. Es ging uns darum,
den perfekten Moment einzufangen.“ Die-
sen Anspruch hat er beibehalten. Bei der
Premiere von „The Square“ in Cannes sag-
ten die Hauptdarsteller in kurzen Inter-
views auf dem roten Teppich, es sei sehr
inspirierend, mit Östlund zu arbeiten, aber
auch herausfordernd.
Als Regisseur vertraut Östlund auf die
Intelligenz seiner Zuschauer. Davon zeugt
auch sein Film „Höhere Gewalt“ (2014),
dem die Bergwelt und das Skifahren als
Handlungsrahmen dienen. Es ist die Ge-
schichte eines Familienvaters, der mit sei-
ner Frau und seinen Kindern Urlaub in
den französischen Alpen macht. Er ist ein
typischer Östlund-Mann, einer, der seine
Erwartungen an sich selbst nicht erfüllen
kann. Als er mit seiner Familie auf einer
Hütte sitzt, geht neben ihnen eine kontrol-
lierte Lawine ab, die allerdings ein so be-
drohliches Ausmaß annimmt, dass der
Mann sein Handy schnappt, seine Familie
im Stich lässt und sich in Sicherheit bringt.
Niemandem passiert etwas. Doch von die-
sem Moment an entspricht er auch den
Vorstellungen seiner Frau nicht mehr. Die
beiden haben ein Problem.
„Höhere Gewalt“ ist fast schon ein er-
zählerischer Essay – großartig gefilmt – da-
rüber, wie die Idee männlichen Helden-
tums bis heute in unserem Kopf spukt und
nicht wenigen Männern das Gefühl gibt,
sich ständig anstrengen zu müssen. Vor al-
lem Hollywoodfilme würden wieder und
KALLE SANNER / DER SPIEGEL

wieder zeigen, wie sich Männer für ihr


Land, für ihre Familie, für ihre Überzeu-
gungen aufopferten. Nur seien die Männer
eben nicht so. Östlund kennt Statistiken
über den Untergang der „Estonia“, als
nicht etwa Frauen und Kinder gerettet
Filmemacher Östlund: Sohn einer feministischen Mutter wurden, sondern die Männer sich in Si-
cherheit brachten. Aber das sind Zahlen.
Als Filmemacher erschafft er Bilder, Mo-
ein bestimmter Punkt überschritten werde, ten teilweise wieder aufgab. Das hat ihn mente, Szenen, die im Kopf bleiben. Sie
seien die Schäden irreparabel. Und die Le- auch als Filmemacher geprägt. Doch eben- entlarven eine klischeehafte, langweilige
bensqualität eines Landes werde von dem so wichtig war seine Begeisterung fürs Ski- Männlichkeit und erzählen von Wider-
Vertrauen der Bewohner zueinander ent- fahren. sprüchlichkeit. Das ist mindestens die Gol-
scheidend beeinflusst, davon ist Östlund Als Teenager guckte Östlund sich nach dene Palme wert. Claudia Voigt
überzeugt. der Schule Skifilme auf VHS-Kassetten an.
Er wuchs als Sohn einer alleinerziehen- Hunderte Male denselben Film, viel Aus-
den, feministischen Mutter auf, einer Leh- wahl gab es nicht. Kaum hatte er seinen Video: Ausschnitte aus
rerin, die an ihrer Schule erlebte, wie das Schulabschluss, verbrachte er ganze Win- „The Square“
sozialdemokratisch und pädagogisch fort- ter in den Alpen. Auch wenn er nicht zu spiegel.de/sp422017oestlund
schrittliche Schweden seine Errungenschaf- den allerbesten Freeridern gehörte, liebte oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 42 / 2017 123


YIORGIS YEROLYMBOS
Kulturzentrum mit Nationalbibliothek und Nationaloper in der Athener Vorstadt Kallithea: Stiftung eines Reeders in Geberlaune

Lernen von Athen


Oper In der Hauptstadt des Beinahe-Pleitestaats Griechenland wird am Sonntag ein neuer Kultur-
palast eröffnet. Der Chef nennt das 600-Millionen-Projekt „Symbol eines Neuanfangs“.

D
as Stadtzentrum von Athen ist Piano, hingestellt in einer für derlei Projekte vergönnt ist. Für künstlerische Arbeit un-
immer noch ein Riesenschlafplatz erstaunlich kurzen Bauzeit. Der Zuschlag ter bestmöglichen Bedingungen.“
unter freiem Himmel. Unter den an Piano erfolgte im Januar 2009. Auf dem Koumendakis ist international bekannt
Bögen der sandfarben getünchten Agia-Iri- Gipfel eines künstlichen Hügels, inmitten geworden als Komponist. Er hat unter an-
ni-Kirche im Stadtteil Monastiraki zum Bei- eines eigens angelegten Parks aus Oliven- derem die Musik für die Eröffnungsfeier
spiel legen sich jeden Abend Männer auf bäumen, Rasenflächen und einem 400 Me- der Olympischen Spiele in Athen im Jahr
Pappkartons zum Schlafen hin, so wie es ter langen Kanal, ragt heute ein Palast aus 2004 komponiert. Zum künstlerischen Lei-
Hunderte andere Erschöpfte vor Athener Glas, Stahl und Beton auf, von dessen Aus- ter der Nationaloper machte ihn im Februar
Ladeneingängen, Einkaufspassagen und Kir- sichtsplattform aus man einen grandiosen die griechische Kulturministerin Lydía
chen auch im Jahr sieben der sogenannten Blick auf den Saronischen Golf hat. Die zur Koniórdou , eine Frau der Syriza-Partei von
europäischen Schuldenkrise halten. Manche Athener Innenstadt hin gelegene Hälfte des Ministerpräsident Alexis Tsipras, der auf-
der Straßenschläfer sind Griechen, manche Palasts beherbergt die griechische National- grund des griechischen Schuldendramas zu
Rumänen, manche Syrer. Abend für Abend bibliothek, die näher am Meer liegende Europas umstrittensten Politikern zählt.
bekommen sie kurz vor Mitternacht Besuch Hälfte die Nationaloper. Mit dem Bau des Architekten Piano für
von einem kleinen Trupp Studentinnen Der Operndirektor ist ein schmaler, sehr Nationalbibliothek und Nationaloper haben
und Studenten, die für eine Hilfsorganisa- ruhiger Mann namens Giorgos Koumen- weder Koumendakis noch griechische Poli-
tion durchs Quartier streifen und Wasser, dakis. Er sagt über sein 1400 Menschen tiker viel zu tun. Der Palast wurde ausge-
Kekstüten und Wärmedecken verteilen. Platz bietendes Theater, zu dem ein großes schrieben, hochgezogen und komplett be-
Unten am Meer, nur sechs Kilometer von Café, zwei hallengroße Ballettprobenräu- zahlt von einer Stiftung, und er ist auch nach
Monastiraki entfernt, wird an diesem Sonn- me mit Meerblick, Orchesterprobensäle, ihr benannt. Nicht „Nationaloper“ oder „Na-
tag die neue griechische Nationaloper er- ein Tonstudio und viel mehr großzügiges tionalbibliothek“ steht auf den Straßenschil-
öffnet – in einem Bau im südlich von Athen Interieur gehören: „Die neue griechische dern an den Ausfahrten der Stadtauto-
gelegenen Kallithea, der rund 600 Millionen Nationaloper ist das Symbol eines Neuan- bahnen von Athen, die hierherführen,
Euro gekostet hat. Es ist ein Riesengebäude fangs. Sie steht für eine Freiheit, die leider sondern SNFCC, das Kürzel für Stavros
des italienischen Großarchitekten Renzo nicht vielen Menschen in unserem Land Niarchos Foundation Cultural Center.
124 DER SPIEGEL 42 / 2017
Kultur

ANDREAS SIMOPOULOS

Szene aus „Elektra“-Proben in der Nationaloper: „Erst essen, aber dann Kultur“

Betreiber der Stiftung sind die Erben des Hauses, dann muss der griechische Hugo von Hofmannsthal für den deut-
des zu Lebzeiten legendären Reeders. Stav- Staat, dessen Amtsträger bis heute oft er- schen Komponisten Strauss neu gedichtet
ros Niarchos, gestorben 1996, war ein bittert über Sparpläne und Rentenkürzun- hat. „Ich halte es für ein herausragendes,
Freund, Konkurrent und Jetset-Spielge- gen streiten, ganz übernehmen. Fürs Erste den Hörer bis heute herausforderndes
fährte von Aristoteles Onassis (1906 bis unterstützt der Staat die Nationaloper – Werk der Musikgeschichte“, sagt Intendant
1975) und hat wie dieser sehr viel Geld das einzige öffentlich subventionierte Koumendakis begeistert. Ihm sei „Elektra“
mit Schiffen verdient, die meist unter Bil- Musiktheater des Landes – mit jährlich eine der liebsten Opern überhaupt. Min-
ligflaggen über die Weltmeere tuckerten. 12,5 Millionen Euro. Zum Vergleich: Die destens so wichtig für die Stückwahl dürfte
Er hat für die Milliarden, die er über Jahr- Bayerische Staatsoper in München erhält gewesen sein, dass er es geschafft hat, eine
zehnte anhäufte, weder in Griechenland jährlich 68 Millionen Euro an öffentlichen weltbekannte, aus Griechenland stammen-
noch sonst wo nennenswert Steuern be- Geldern. „Unser Ziel ist es, eine wichtige de Opernsängerin für die Mezzosopran-
zahlt; von der bis zum Ende des Kalten Adresse unter den Musiktheatern Europas Rolle der Klytämnestra zu gewinnen: die
Kriegs währenden Dominanz von Niar- zu werden“, sagt Koumendakis. große Agnes Baltsa.
chos, Onassis und einigen ihrer Landsleute In der Vergangenheit pflegte das 1940 ge- Baltsa wurde vor 72 Jahren auf der Insel
im weltweiten Reedergeschäft durften die gründete nationale Opernhaus, zuletzt in Levkas geboren und hat erst in Athen und
Griechen zu Hause also kaum profitieren. einem eher tristen Bau in der Athener In- dann in Deutschland studiert, sie ist nicht
Insofern kann man einen Akt ausglei- nenstadt untergebracht, vor allem das ita- nur für ihre Stimme berühmt, sondern
chender Finanzgerechtigkeit darin sehen, lienische Repertoire des 19. Jahrhunderts. auch für ihr zupackendes, munteres Tem-
dass Stiftungen der Reedernachfahren heu- Der neue Chef will es nun „für zeitgenös- perament. Ihre Karriere hat sie an den gro-
te in Athen als Wohltäter auftreten. Die sische Musik öffnen, die für griechische ßen Opernhäusern in Wien, Mailand und
Stiftung der Onassis-Erben bewirtschaftet Besucher vielleicht ungewohnt ist“. New York, weit weg von Athen gemacht.
die beste Herzklinik der Stadt und ein schi- Zur Galapremiere im neuen Haus hätte Ihr Auftritt in der „Elektra“, für den sie
ckes Kulturzentrum namens Stegi, die Ni- Koumendakis irgendein bekömmliches kein Honorar verlangt, ist ihr Debüt in der
archos Foundation klotzt nun mit dem Ren- Musiktheater-Medley ansetzen können – griechischen Nationaloper. Was bedeutet
zo-Piano-Bau für Nationalbibliothek und so wie es in Berlin Jürgen Flimm vor Kur- ihr die Gala in Athen? Sie antwortet mit
Nationaloper. In Zeitungen wird der Palast zem tat, als er zur Eröffnung der für 400 heiterem Understatement: „Ich bin dank-
im Park bereits als „neue Akropolis“ be- Millionen Euro renovierten Staatsoper bar für alles, was mir in meinem Berufsle-
jubelt. Operndirektor Koumendakis nennt Unter den Linden bunt bebilderte „Faust“- ben passiert ist. Das gilt auch für diese Ar-
sie „ein großartiges Geschenk“. Szenen von Robert Schumann ansetzte. beit an einem wunderschönen neuen Ort.“
Tatsächlich hat die Niarchos Foundation In Athen startet man am Sonntag mit Im Übrigen schätze sie den Intellekt und
das Gebäude im Frühjahr dem Staat über- der „Elektra“ von Richard Strauss. Das die ehrgeizigen Pläne des Opernchefs Kou-
geben, schlüsselfertig, wie man bei derlei soll den Anspruch der neuen Nationaloper mendakis, der sie mit dem Rollenangebot
Gelegenheiten sagt. In den ersten fünf Jah- demonstrieren. Griechischer Tragödien- überrascht habe, sagt die Sängerin. Und,
ren bezahlt die Stiftung die Betriebskosten stoff, den der österreichische Schriftsteller zarter Verweis auf ihr Alter: „Ich musste
DER SPIEGEL 42 / 2017 125
Kultur

schon nachdenken, ob ich die Rolle der


Klytämnestra wirklich annehmen soll.
Aber jetzt bin ich glücklich, dass ich es ge-
tan habe.“
Auch der Regisseur und der Dirigent der
DER SPIEGEL live im „Elektra“ sind international geachtete Mu-
siktheaterkünstler mit griechischen Wur-
zeln. Yannis Kokkos ist 73 und hat die
Deutschen Historischen Museum meiste Zeit seines Lebens in Frankreich
verbracht, Vassilis Christopoulos ist 42, in
München geboren und hat unter anderem
Die rote Utopie. Wie das kommunistische in Konstanz und Wiesbaden dirigiert.
Kokkos trägt prachtvolles graues Wal-
lehaar und sprintet während der Proben
Experiment das 20. Jahrhundert prägte lustig durch den in kräftigem Rot getäfel-
ten Zuschauersaal der neuen National-
oper. Von einer über den Orchestergraben
führenden Stahlbrücke aus gibt er den

Thomas Grabka
beiden deutschen Sängerinnen Sabine Ho-
grefe als Elektra und Gun-Brit Barkmin
als deren Schwester Chrysothemis ein
paar Anweisungen. Über den Sängerinnen
sieht man einen monströsen Pappmaschee-
krieger vom Bühnenhimmel baumeln, der
den gemordeten Agamemnon symboli-
siert, neben ihnen ragt ein monströser
blutroter Quader auf. Das Bühnenbild hat
Regisseur Kokkos selbst entworfen. „Die
Wucht der antiken Tragödie“, erklärt er,
Wolf Biermann „die Poesie von Hofmannsthal und der
sehr deutsche Feinsinn von Richard
Strauss – wir wollen mit dieser ,Elektra‘
Die neu gegründete Sowjetunion veränderte die Weltpolitik, Modell zeigen, wofür die neue Nationaloper steht:
für die einen, Feindbild für die anderen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts für Traditionsbewusstsein, für Fantasie
und für Modernität.“
eroberte Moskau einen enormen Machtbereich, nicht bloß Der Dirigent Vassilis Christopoulos ist
durch Zwang, sondern auch durch die Faszination der roten Utopie. ein nervöser freundlicher Mann, der einen
kühlen Humor kultiviert. Er hat häufig in
Welche Lehren können wir daraus heute ziehen? Ist der der alten Nationaloper gearbeitet. Die Er-
Sozialismus ein für allemal gescheitert? öffnungsaufführung sei ein echtes Wagnis.
„Mir kommt es so vor, als versuchten die
Es diskutieren der Schriftsteller Wolf Biermann, die „Stern“-Autorin Griechen, mal schnell 110 Jahre Musikge-
Katja Gloger, Irina Scherbakowa, Leiterin der Bildungsprogramme schichte nachzuholen mit dieser Premiere.“
Christopoulos schwärmt von der Akustik
der Gesellschaft „Memorial“, und Arnulf Scriba, Projektleiter der und dem Raumkonzept des neuen Gebäu-
Ausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“. des, sie machten die Nationaloper für ihn
zu einem „Wunder an Opernhaus“. Als
Moderation: SPIEGEL-Autor Dietmar Pieper Deutscher, der oft in Griechenland arbeite,
kenne er die Verhältnisse im Land gut und
Dienstag, 7. November 2017, 19.00 Uhr habe sich doch einen Blick von außen be-
wahrt. „Das, was in Griechenland funktio-
Schlüterhof, Deutsches Historisches Museum, niert, ist fast immer ohne Beteiligung des
Staates entstanden.“
Unter den Linden 2, 10117 Berlin Tatsächlich ist der luxuriöse Opernbau
zu Kallithea eine nicht bloß spektakuläre,
Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung bis zum 31.10. unter sondern auch überzeugende Demonstra-
https://events.dhm.de ist erforderlich. tion der Strahlkraft, die Kultur im besten
Weitere Informationen unter www.spiegel-live.de. Fall besitzen kann. Die diesjährige Kasse-
Einlass ist ab 18.00 Uhr, eine kostenfreie Besichtigung der Ausstellung „1917. Revolution. ler Documenta, die teilweise in Griechen-
Russland und Europa“ ist vorab möglich. Änderungen vorbehalten. land stattfand, trug das oft verlachte Motto
„Von Athen lernen“. Im Fall der neuen grie-
chischen Nationaloper darf man dieses
Motto mal ernst nehmen. Der Dirigent
Christopoulos formuliert es so: „Selbstver-
ständlich muss man den Menschen erst
zu essen geben. Aber dann kommt die
Kultur.“ Wolfgang Höbel

126 DER SPIEGEL 42 / 2017


Was, wenn
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

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Dan Brown Peter Wohlleben Das geheime
1 (–)
Origin Lübbe; 28 Euro
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(1)

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Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro

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falschen
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Das Fundament der Ewigkeit
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Frage, wie wir miteinander umgehen
Kunstmann; 18 Euro Moment
3 (2) Jo Nesbø 3 (3) Thorsten Schulte
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4 (3) Maja Lunde 4 (4) Peter Wohlleben Das geheime


Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro

5 (4) Marc-Uwe Kling


QualityLand Ullstein; 18 Euro
5 (7) Susanne Fröhlich / Constanze Kleis
Kann weg! Gräfe und Unzer; 17,99 Euro Entscheidung
6 (5) Walter Moers Prinzessin Insomnia 6 (12) Alexander Gorkow
& der alptraumfarbene Nachtmahr
Knaus; 24,99 Euro 7 (6)
Hotel Laguna Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Andreas Michalsen Heilen mit
der Kraft der Natur Insel; 19,95 Euro
triffst?
7 (6) Elena Ferrante Die Geschichte
der getrennten Wege Suhrkamp; 24 Euro 8 (9) Yuval Noah Harari
Homo Deus
8 (7) Sven Regener C. H. Beck; 24,95 Euro
Wiener Straße Galiani; 22 Euro
In der Fortsetzung des Best-
9 (8) David Lagercrantz sellers „Eine kurze Geschich-
Verfolgung Heyne; 22,99 Euro te der Menschheit“ sucht
Yuval Noah Harari nach den
10 (11) Mariana Leky Was man von Grundlagen unserer Zukunft
hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro
9 (8) Eckart von Hirschhausen Wunder
11 (9) Elena Ferrante Meine wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
geniale Freundin Suhrkamp; 22 Euro
10 (5) Souad Mekhennet Nur wenn
12 (14) Paulo Coelho
du allein kommst C. H. Beck; 24,95 Euro

Der Weg des Bogens Diogenes; 18 Euro


11 (–) Flake Heute hat die
Welt Geburtstag S. Fischer; 20 Euro
13 (10) Carmen Korn
Zeiten des Aufbruchs Kindler; 19,95 Euro 12 (–) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
Zukunft Kiepenheuer&Witsch; 22 Euro
14 (12) Marion Poschmann
Die Kieferninseln 13 (–) Gabriele Henkel Die Zeit ist
Suhrkamp; 20 Euro ein Augenblick DVA; 25 Euro

Das literarische Genre des 14 (20) Ulrich Wickert Frankreich muss man
Bäume-Umarmens ist derzeit lieben, um es zu verstehen
groß in Mode – und Marion Hoffmann und Campe; 22 Euro
Poschmann ist klar die Prosa-
meisterin der Naturliebhaber 15 (14) Andrea Wulf Alexander von Humboldt
und die Erfindung der Natur
15 (15) Robert Menasse C. Bertelsmann; 24,99 Euro
Die Hauptstadt Suhrkamp; 24 Euro
16 (16) Arun Gandhi
16 (16) Colson Whitehead Wut ist ein Geschenk DuMont; 20 Euro
Underground Railroad Hanser; 24 Euro
17 (–) Christian Peter Dogs/Nina Poelchau
17 (18) Elena Ferrante Die Geschichte Gefühle sind keine Krankheit
eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro Ullstein; 20 Euro

18 (19) Uwe Timm 18 (17) Boris Palmer Wir können nicht 576 Seiten | € 9,99 [D]
Ikarien Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro allen helfen Siedler; 18 Euro Auch als E-Book
und Hörbuch erhältlich
19 (–) LeÏla Slimani Dann schlaf 19 (–) Gregor Gysi
auch du Luchterhand; 20 Euro Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro

20 (–) Jan Fleischhauer Alles ist besser 20 (19) Ijoma Mangold


als noch ein Tag mit dir Knaus; 20 Euro Das deutsche Krokodil Rowohlt; 19,95 Euro

DER SPIEGEL 42 / 2017 127


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Martin Schulz und die Medien Wie ist er zu erklären, der freie Fall Story“, die den Wahlkampf aus dem Zentrum der Partei heraus
des Kanzleranwärters der SPD von einer leuchtenden Hoffnungs- beschreibt, folgt eine Debatte darüber, wer das Wahldebakel zu
gestalt zu einem Mann, dem niemand mehr etwas zuzutrauen verantworten hat. Die Autorin Eva Menasse und der Medien-
schien? Im Anschluss an die SPIEGEL-Titelgeschichte „Die Schulz- experte Sascha Lobo kommen zu unterschiedlichen Schlüssen.

Zwischen Schweigen und Pöbeln


Der Kanzlerkandidat der SPD ist auch an journalistischer Häme
gescheitert. Die Sachlichkeit war für die AfD reserviert. Von Eva Menasse

E
s gibt einen Skandal des vergangenen Wahlkampfs, ger, erst riesige Hoffnung auf einen Wechsel, auf etwas
der sich sogar über den Wahltag hinaus fortzeugt: Neues, Frischeres gehabt haben und man dem, der die
die gedankenlose, affektgesteuerte und von nahezu eigenen Hoffnungen enttäuscht, automatisch viel böser
allen Leitmedien im Gleichklang betriebene Demontage ist als dem, von dem man nichts mehr erwartet hat. Doch
des Martin Schulz. Qualitätsmedien dürfen keine Stimmungsverstärker, sie
Ein Marsmensch oder ein von sämtlicher Vorbildung müssen Instanzen der Vernunft sein. Warum also waren
freier Bewohner einer fernen Pazifikinsel, der in den ver- Fluten von Krokodilstränen und all der überzogene Hohn
gangenen Wochen die deut- ausschließlich für Schulz
sche Presse konsumiert hät- reserviert?
te, würde den Eindruck „Wem es zu heiß ist in
gewonnen haben, dass die- der Küche, sollte gar nicht
ser eine Mitbewerber durch erst reingehen“, pflegte in
einen grässlichen Betriebs- solchem Zusammenhang
unfall in den Wahlkampf Peer Steinbrück zu sagen,
geraten ist, ein armer Narr, der – remember? – zu Be-
ein Clown, der Nackte, ginn der globalen Finanz-
der bei Bayern München krise ein umsichtiger Fi-
manchmal übers Spielfeld nanzminister an Angela
rennt. Vielleicht hätte sich Merkels Seite war und von
der ferne Besucher die Sa- dem heute, den Medien sei
che so erklärt, dass es im- Dank, vor allem sein Stin-
mer einen geben muss, an kefinger in Erinnerung ge-
dem sich alle abreagieren. blieben ist. Der Küchen-
Vielleicht sitzt der Mars- spruch stimmt natürlich:
mensch, nach Hause zu- Wer in die Spitzenpolitik
rückgekehrt, bereits an der geht, braucht eine Menge
ersten Marsstudie zum Phä- seelische Hornhaut. Den-
nomen des Sündenbocks. noch hat der Umgang mit
Was die deutsche Presse Martin Schulz ein demokra-
HERMANN BREDEHORST

– womöglich ohne es zu tisch bedenkliches Niveau


merken! – in diesem Wahl- erreicht: auf seriöse Bewer-
kampf vollbracht hat, scho- ber einprügeln, die Rech-
ckiert mich mehr als der ten aber nur mit der Kneif-
Aufstieg der AfD. Und ich zange anfassen.
gehe so weit zu unterstel- Wahlkämpfer Schulz im August Der den deutschen Wahl-
len, dass beides subtil zu- Und alle haben mitgemacht kampf beobachtende Mars-
sammenhängt. Die wenigs- mensch wäre jedenfalls
ten Martin-Schulz-Artikel kamen ohne Bild eines im nicht auf die Idee gekommen, dass derjenige, auf den da
Dreck liegenden roten Luftballons, ohne beschmiertes überall hochmütig heruntergelacht wurde, ein internatio-
Schulz-Plakat, ohne Formulierungen wie „verpatzt“, nal angesehener, krisenerprobter Spitzenpolitiker ist, je-
„Luft raus“, „bemitleidenswert“, „der Kandidat, der um mand, der viele Jahre lang sach- und fachkundig, tempe-
seine Erlösung zu betteln schien“ aus. Nicht zu reden ramentvoll und angriffslustig dem Europäischen Parlament
von dem, was Gabor Steingart im „Handelsblatt“ trieb: vorgestanden hat. Jemand, der die Europäische Union
vendettaartige Schmähungen des Ex-Alkoholikers ohne und alle ihre Mitgliedstaaten so genau kennt wie die deut-
Abitur. Als der Schulz-Hype des Frühjahrs vorüber war, sche Politik, der dazu kunst- und literaturaffin ist wie we-
war der SPD-Kandidat zum menschlich-moralischen Ab- nige Politiker. Jemand, der fünf Fremdsprachen spricht
schuss freigegeben. Und alle haben mitgemacht – ver- und auch die schlechteste davon noch besser als mancher
mutlich weil auch die Journalisten, wie viele Normalbür- Provinzpolitiker Hochdeutsch. Ja, der SPD-Wahlkampf

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Kultur

mag verzagt und widersprüchlich gewesen sein – doch „Bild“-Zeitung, müsse erst recht zu Schulz’ Untergang
die Häme war, angesichts des unverändert stumpfen Auf- beitragen: ein Politiker, der sich verletzlich zeigt? Der gar
tretens der Kanzlerin, auffallend ungleich verteilt. Und an sich zweifelt? Hinweg mit ihm! Die krachende Banalität,
das kontrastierte auf unheimliche Weise mit der Bericht- dass nämlich auch ein in den Umfragen zurückliegender
erstattung über die AfD. Politiker weiter wahlkämpfen muss, versucht der Bran-
Diese war weitgehend frei von Spott, als wollte man chendienst Meedia geifernd zum Dolchstoß umzudichten:
sich hier auf keinen Fall dem Vorwurf der Ungleichbe- „Wie glaubwürdig kann ein Politiker noch sein, der sich
handlung aussetzen. Inzwischen wird Gaulands mediale gegenüber dem Reporter als totaler Loser outete, während
Menschwerdung vorangetrieben, indem man zartfühlend er potenziellen Wählern gegenüber auf Marktplätzen und
über seine früheren Depressionen berichtet. Das ist offen- im TV noch den Daueroptimis-
bar weniger problematisch als ein Jahrzehnte überwun- ten Martin Schulz andrehte?“
denes Alkoholproblem. Und wenn Gauland nun be- Dass es in der „Schulz-Story“ Ein Politiker, der
schwichtigend sagt, er werde als „76-Jähriger doch nicht keinen Satz gibt, der die Zusam-
die Kanzlerin mit der Flinte durch das Land jagen“, dann menfassung „sich als totaler
sich verletzlich
sind alle gleich beruhigt, ohne zu bedenken, dass junge Loser outet“ rechtfertigt, ist zeigt, einer, der so-
Rechtsradikale diesen Satz auch ganz anders verstehen dabei kein Detail am Rande,
könnten. Oder dass ein Satz, in dem die Worte „Kanz- sondern genau die infame Sys- gar an sich zweifelt?
lerin“, „Flinte“ und „durchs Land jagen“ nebeneinander- tematik, die ich meine. Hinweg mit ihm!
stehen, für sich genommen ein Tabubruch ist – daran Ja, dieses Deutschland hat
ändert die Verneinung gar nichts. Und so ähnelt die AfD- sich seine genial (oder hilflos?)
Berichterstattung im Tenor weiterhin den Wettervorher- schweigende Kanzlerin wohl verdient und die demnächst
sagen in Florida: Man sieht eine Naturkatastrophe kom- auch im Bundestag pöbelnden Rabauken vom rechtsradi-
men und berichtet mit angemessenem Grusel darüber. In kalen Rand. Zwischen den Extremen Schweigen und
jenem Grusel steckt aber immer auch vorauseilende Pöbeln ist offenbar für niemanden mehr Platz. Eine Hor-
Unterwerfung – huhu, seht her, was da Gewaltiges auf rorvorstellung: Die Wirklichkeit verwandelt sich der digi-
uns zukommt. talen Blase an – statt umgekehrt.
Nun erschien im SPIEGEL „Die Schulz-Story“, eine Daran sind auch die guten „alten Medien“ schuld. Auf
Langzeitbeobachtung, wie sie in Journalismus und Lite- volksfesthafte Weise machen sie sich gerade als intellek-
ratur (etwa Yasmina Reza über Nicolas Sarkozy) begehrt tuelles Gegengift überflüssig – indem viele erfahrene
und üblich ist. Es ist ein ehrlicher Text, der das Auf und Journalisten nicht mehr zu bemerken scheinen, wie sehr
Ab eines ziemlich wirren Wahlkampfs schildert, Martin ihnen die in der Luft liegenden Emotionen in ihre Texte
Schulz aber nicht verzerrt, ihn vielmehr selbstkritisch, rinnen. Dabei würden wir sie gerade jetzt so dringend
nachdenklich und immer wieder bewunderswert kämpfe- brauchen, in einer Zeit größter medialer und politischer
risch zeigt. Verunsicherung durch den in den Glasfaserkabeln toben-
Gerade dieses Porträt aber, so behaupten nun etliche den Lügenhurrikan, dem wir sonst ohne jede Gegenwehr
Pharisäer, so trommelt die wieder besonders widerliche ausgesetzt sind.

Inszenierungsdesaster
Das Scheitern des Kandidaten ist selbst verschuldet. Niemand in der SPD-Zentrale
fand einen Ausweg aus der medialen Unmündigkeit. Von Sascha Lobo

I
m SPIEGEL-Titel „Die Schulz-Story“ geht es vorder- Jahrzehnten angewendeten Rezepten zu folgen. Der wich-
gründig um die Wahlkampfgeschichte des SPD-Kan- tigste Absatz des Artikels lautet:
didaten. Doch eigentlich geht es um den heutigen
Zustand der deutschen Politik und um deren Inszenie- In der Politik wird die innere Überzeugung zunehmend
rung – die bei den großen Parteien noch immer den Regeln durch die Demoskopie ersetzt. Es gibt kaum noch Forde-
der Öffentlichkeit des vergangenen Jahrhunderts folgt. rungen, Strategien, Kandidaten, die nicht zuvor auf ihre
Auch 2017 hat die Politik in Deutschland noch den Cha- Gefälligkeit geprüft werden. Seine Kandidatur verdankt
rakter einer Aufführung für klassische, redaktionelle Schulz ebenfalls dem Umstand, dass er laut Umfragen
Medien. Und zwischen den Zeilen der Großreportage von monatelang beliebter war als Sigmar Gabriel.
Markus Feldenkirchen über den scheiternden Kanzler-
kandidaten wird deutlich, wie diese Aufführung nicht nur, Demoskopie hat durchaus ihren Sinn. Allerdings stammt
aber vor allem im Netz zerschellt. sie aus einer Zeit, in der es keinen inhaltlichen Massen-
„Die Schulz-Story“ ist die Geschichte eines offenen, rückkanal gab. Eine ungünstige Wechselwirkung hat sich
gradlinigen Politikers, der mit einem Apparat von gestern entwickelt: Politiker fragen, Meinungsforscher antworten
und Mitteln von vorgestern versucht, eine Öffentlichkeit – in einer behaupteten Vertretung der Bevölkerung. Weil
zu überzeugen, die es so nicht mehr gibt. Der sein Bauch- die Vorhersagen der Wahlergebnisse in Deutschland ver-
gefühl unterdrückt, um den im Willy-Brandt-Haus seit gleichsweise präzise sind, glaubt man in der Politik, die

DER SPIEGEL 42 / 2017 129


Kultur

Demoskopie könne auch Antworten auf inhaltliche Fra- die SPD inhaltlich werben sollte – aber es war der extre-
gen liefern. Als würde man einen Schiedsrichter fragen, me Ausdruck einer weitverbreiteten Haltung: um Gottes
wie man Tore schießt. willen keine GroKo mehr! Schon ein einziger Tag Stim-
mungsrecherche in sozialen Medien hätte offenbart: Die

V
or 65 Jahren stellte Theodor W. Adorno in seiner AfD wird gewählt als maximaler Tritt in die Fresse der
Rede „Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Regierungsparteien. Doch nicht nur die Rechten und
Sozialforschung in Deutschland“ (1952) über De- Rechtsoffenen hatten die Empfindung, man müsse per
mokratie und Meinungsforschung fest: „Wir haben uns Wahl die Regierung abstrafen. Alle Parteien, die nicht
davor zu hüten, die Menschen, mit denen wir uns befassen, an der Regierung beteiligt waren, haben Stimmen gewon-
als bloße Quanten zu sehen, deren Denken und Verhalten nen, selbst mit so unüberzeugenden Nichtkampagnen
blinden Gesetzen unterliegt.“ Die Erkenntnis, dass man wie der von den Grünen. Sogar die Linke, die im Ver-
von Umfragezahlen kaum direkt auf Denk- und Verhal- hältnis am meisten Wähler an die AfD verloren hat, konn-
tensweisen schließen kann, ist also uralt. Im Willy-Brandt- te zulegen. Aber die SPD trat auf als eine Partei, die seit
Haus ist sie noch nicht angekommen. Jahren Teil der Regierung ist – und eben auch stolz ist
Im Porträt wird das besonders deutlich, als Schulz’ auf ihre Leistungen.
Berater darüber diskutieren, ob er Merkel offen angreifen Diese Ablehnung der Regierung hängt mit einem Ge-
solle. Diese zentrale Frage wird nicht politisch beantwor- fühl zusammen, das durch das Internet gewachsen ist.
tet – sondern mithilfe von Umfragen. Hier glauben Leute Das Netz wirkt als Transparenzmaschine, weil es so viel
eher an die Unfehlbarkeit von Daten als an ihr eigenes Unsichtbares sichtbar macht. Diese Transparenz wirkt
politisches Gespür. auf die allgemeine Erwartungshaltung. Die massive Ab-
Man muss sich die sozialen Medien vorstellen wie eine lehnung von TTIP lag weniger an irgendwelchen Chlor-
bundesweite, ständig bewegte Mischung aus Stammtisch hühnchen als an dem Gefühl, dass der Vertragsprozess
und Fußgängerzone, in der jede Kommunikation rezipiert, nicht so transparent ablief, wie es heute gefordert wird.
emotionalisiert, verarbeitet und vor allem weiterverbreitet Zugleich ist die Zahl der Medienalternativen mit dem
wird. Ein riesiger Resonanzraum, der für die Politik essen- Netz exponentiell gewachsen. Und diese Entwicklungen
ziell geworden ist. Auch deshalb mutet die Fixierung von haben eine immer größere Aversion gegen erkennbar
Schulz’ Kampagne auf Schlagzeilen und Umfragewerte so konstruierte, künstliche und intransparente Vorführungen
gestrig an – als wäre die SPD-Strategie darauf ausgerichtet, ausgelöst.
vor allem Leitartikler und Meinungsforscher samt Fokus- Als Merkels Wahlprogramm erscheint, glaubt Schulz,
gruppen zu überzeugen. Statt den Wähler. die CDU habe es von der SPD regelrecht abgeschrieben.
Seine Berater verbieten ihm nicht nur, das zu thematisie-
„Auf allen Kanälen läuft: ‚Die SPD versteckt Schulz!‘ Das ren. Er soll sogar das Gegenteil behaupten.
ist ein Fehler.“
Wo das denn stehe, fragt Kampagnenleiter Engels. „Gut“, sagt Schulz. „Sie haben zwar abgeschrieben, aber
„Überall. Das ganze Netz ist voll mit diesem Mist. Meine wir müssen so tun, als wäre all das zu 100 Prozent das
Frau behauptet, in allen Netzwerken gebe es eine regel- Gegenteil von uns.“ Es widerspreche zwar seiner Über-
rechte Hetzkampagne.“ … zeugung, aber okay.
„Leute, wir sind schon in ’ner

I
beschissenen Lage.“ Lange Pause. n Zeiten des Internets funktionieren Lügen in der
Die Masse scheint „Vielleicht guck ich auch die fal- Öffentlichkeit anders, aber mindestens so gut wie
doof zu sein, schen Medien.“ „Ich würde gar
keine mehr gucken“, rät Engels.
zuvor. Schlechte Inszenierungen jedoch fallen viel
schneller auf, schon durch die schiere Flut der Infor-
aber die Leute sind … „Irgendwas machen wir doch mationen, die irgendwie nicht recht zur Vorführung pas-
es nicht. Es gibt falsch! Oder es ist wirklich eine sen. Man muss Martin Schulz dankbar sein für seine
Kampagne gegen uns? Ich weiß Offenheit, für diesen Einblick in Machtmaschine und
ein präzises politi- es nicht.“ Parteipolitik, den Markus Feldenkirchen aufgeschrie-
ben hat. Es ist die wichtigste Dokumentation des Nie-
sches Gespür. Man könnte über diesen kurzen dergangs einer Form von Parteipolitik, die nicht nur die
Dialog und die dahinterstehen- SPD praktiziert. Eine Politik, die Massenmedien und
den Überzeugungen, Parteipolitiken und Verwicklungen Umfragen mit den tatsächlichen Wählern verwechselt.
Doktorarbeiten schreiben, in Politologie, Medienwissen- Eine Politik, die dazu neigt, in negativem Feedback im
schaft, Psychologie. Aber eigentlich genügt zu sehen, dass Netz „Hetzkampagnen“ zu sehen. Eine Politik, die mit
dieser Beraterkreis das direkte, ungefilterte Feedback der Daten und den vielen Unzulänglichkeiten von Daten
Wähler als „Hetzkampagne“ begreift. „Die SPD versteckt kaum umgehen kann – auch weil sie prädigital geprägt
Schulz“: Weniger Hetzkampagne geht im Internet gar wurde. Man kann diesen Text als Fanal, als letzte War-
nicht. Das meist undifferenzierte, ängstliche Gerede von nung zur Erneuerung lesen: Es braucht eine neue
Fake News hat in der Politik offenbar dazu geführt, die Generation in den Parteien, die nicht in die alten Fallen
Sphäre des Netzes zu generalisieren – oder als Rückkanal tappt.
ganz auszublenden. Die Masse scheint oft doof zu sein, aber die Leute sind
Im Februar und März, auf dem Höhepunkt des Schulz- es nicht. Es gibt so etwas wie ein weitverbreitetes poli-
Feuers, habe ich eine Vielzahl politischer Facebook-Seiten tisches Gespür. Und wenn jemand schauspielern muss,
und Blogs beobachtet. Selbst auf rechten Seiten gab es gegen die eigene Überzeugung, dann merken das: wirklich
zumindest eine positive Irritation in Richtung Schulz: alle. Am 7. Mai sagte Schulz: „Mein größtes Plus ist die
Wenn die als Maximalfeindin begriffene Merkel nur so Authentizität.“ Ja. Und doch hat er sich in die Partei-
abgesetzt werden könne, dann könne man sich vorstellen, schablone K wie Kanzlerkandidat pressen lassen, die noch
die SPD zu wählen. Das sind nicht die Wähler, um die übrig war.

130 DER SPIEGEL 42 / 2017


elegischen guten Laune, wie sie in den Achtzigerjahren
zum Beispiel Giorgio Moroder für Blondie produzierte –
sie funktioniert auch als Botschafterin aus der Zukunft,
die längst hier ist.
Und so ist ihr neues Album „Masseduction“ dann ein
Schritt weiter als das Album „St. Vincent“, für das sie 2015
Stil und Verschwendung einen Grammy bekommen hat. Damals war die Verwun-
derung über die schnelle neue Welt noch roher und frischer,
und in Songs wie „Digital Witness“ oder „Psychopath“
Popkritik Das neue Album von war dieses Zittern im Lauf der Dinge schon im Titel spürbar.
St. Vincent, dem Superstar für alle, Die Songs selbst erzählten auf einer zweiten Ebene die
untergründige Geschichte einer Frau, die fast alle Verwüs-
die Superstars nicht mögen tungen der Gegenwart kennt, das Kokain auf dem Klo und
den Sex, der dazugehört, und die den Blick auf das Indivi-

J
e greller das Licht, desto schwärzer die Schatten, je duum behält, das diese Geschichte durchlebt.
peitschender die Lust, desto peinigender die Einsam- „Masseduction“ nun berichtet von einer Welt, in der
keit, je mehr Menschen sich unterhalten, desto lauter die mediale und medizinische Medikation eine neue Form
das Schweigen, je verführerischer die virtuellen Möglich- angenommen hat. Es ist dabei kein dystopisches Album
keiten, desto verführerischer die Verfügbarkeit des im Sinne einer dunklen Beschreibung der Zukunft, es ist
menschlichen Körpers, je komplexer die Welt, desto di- eher das Porträt einer Zeit, die viele verstört und die doch
rekter die Frage: Was bedeuten Liebe, Schmerz und Sehn- ihre Schönheit kennt in Zuständen, die mal im Rausch
sucht im digitalen Zeitalter? liegen und mal im Nebel der Narkose.
Annie Clark, die Aphoristikerin im kurzen Plastikrock In dieser Welt der „Masseduction“, also der Massen-
und mit Gitarre in den Händen, hat ein paar schöne und verführung, gibt es Pillen für Sex und Pillen für den Schlaf
durchaus verstörende Antworten auf diese Frage parat, und Pillen für alles. Der hektische Beat, der die Musik
es ist geradezu der Stoff, aus dem ihr paranoider Psycho- von St. Vincent meist vorantreibt, ist auch hier gleich von
Pop gemacht ist: Wie eine Rückwärtsgeburt fühle sich das Anfang an präsent, diese Mischung aus dem Computer-
Leben im immer noch jungen und doch schon so alten Pop des New Wave und der Elektrogitarre, die sie aus
und müden 21. Jahrhundert dem Punk hinüber in den Fe-
an, „like a birth in reverse“, minismus transportiert. „Fear
singt sie auf ihrem letzten the Future“, so heißt einer der
Album. Songs auf dem Album, das ist
Und weil diese Zeile von eine andere Bedrohungslage
ihrem harten Gitarrenstak- als das „No Future“ des Punk.
kato begleitet wird, Blitze Wenn man also, was sich
blendender Wut und Ver- bei ausgewählten Werken der
zweiflung und gleichzeitig die Kultur durchaus anbietet, die-
Abwehr dieser Wut und Ver- ses Album als eine Antwort
zweiflung – deshalb ist es auf die Frage betrachtet, wie
keine sanfte Melancholie, die es um die Welt bestellt ist,
sich hier ausbreitet, sondern dann lassen sich die zeittypi-
der Glamour von Stil und Ver- schen Wechselwirkungen von
schwendung, für den Annie Depression und Ekstase auf
Clark, 35, dunkelhaarig und „Masseduction“ fast muster-
besser bekannt unter dem gültig studieren. Es ist dabei
Künstlernamen St. Vincent, der Triumph von St. Vincent
mittlerweile einigermaßen be- – und der Grund, warum sie
rühmt ist. zu einem Symbol unserer
Jedenfalls bei all denen, die Zeit wurde –, dass sie sexy
sich dafür interessieren, wie bleibt, selbst im Scheitern.
Musik und Mode und Image Johnny etwa, dieser wie-
NEDDA AFSARI

zu etwas verschmelzen, das derkehrende Begleiter von


man früher Popkultur ge- St. Vincent, dem sie auf ihren
nannt hat und das heute ein- Alben Songs widmet, be-
fach Teil der Welt ist, die uns Musikerin Clark: Wechselwirkung von Depression und Ekstase kommt von ihr dieses Mal ein
umgibt. Also zum Beispiel bei Geburtstagslied geschenkt,
denen, die sich die Werbekampagne für die Schmuckfirma ein trauriges Lied von einem Mann, der alles hatte und al-
Tiffany ausdenken und Annie Clark alias St. Vincent zu les verspielte. Nun lebt er auf der Straße, St. Vincent auf
ihrem neuen Gesicht gemacht haben. Oder bei denen, die dem Cover der Magazine. „When you get free, Johnny“,
es für fünf Minuten beschäftigt, dass Annie Clark mit dem singt sie, „I hope you find peace.“
Model Cara Delevingne zusammen war und danach mit Vor dreieinhalb Jahren, auf dem letzten Album, war er
der Schauspielerin Kristen Stewart. noch begehrt, aber schon da hatte sie ihn gewarnt: Die
St. Vincent ist, mit anderen Worten, nicht nur ein Su- Lust hält nicht ewig, die Liebe welkt. Je greller das Licht,
perstar für all die, die keine Superstars mögen, sie bedeu- desto schwärzer die Schatten. Die Traurigkeit der digitalen
tet nicht nur flirrende Erotik und zeitgemäße Liebesfrei- Welt, sagt St. Vincent, sei tiefer als die der analogen. Und
heit, sie bietet nicht nur eine Kunstfigur der euphorisch- einsam sind wir alle zusammen. Georg Diez

DER SPIEGEL 42 / 2017 131


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132 DER SPIEGEL 42 / 2017


Nachrufe
PAUL VOGT, 91 seiner Heimat Waldshut dem
Während seiner Kindheit Landgericht als Präsident vor.
plünderten die Nazis das Mu- In seinem Kommentar, aber
seum Folkwang brutal aus. auch in anderen Publikatio-
Nach dem Krieg sorgte der nen, vertrat er eine unbeirrt
Kunsthistoriker Paul Vogt da- konservativ-katholische Hal-
für, dass das Essener Museum tung. So stritt er vehement für
wieder glänzen konnte. Der die Strafbarkeit homosexuel-
langjährige Museumsdirektor ler Handlungen, den alten
(von 1963 bis 1988) wurde als Abtreibungsparagrafen 218

ALVARO BARRIENTOS / AP
„Retter der Sammlung“ gefei- und die Bestrafung von Sitz-
ert, zu Recht, denn Vogt kauf- blockierern, auch gegen die
te 20 zentrale Werke aus der Rechtsprechung des Bundes-
Sammlung von Museumsgrün- verfassungsgerichts. Bei aller
der Karl Ernst Osthaus wieder Unbelehrbarkeit zeichnete ihn
ein, die als „entartete Kunst“ aus, dass er auch die Gegen-
JEAN ROCHEFORT, 87 von den Nazis beschlagnahmt positionen akribisch wieder-
Es ging etwas Undurchschaubares von ihm aus, das er meist worden waren. Damit hatte gab. Herbert Tröndle starb am
mit einem verschmitzten Lächeln kaschierte. Der fran- er eines seiner Ziele erreicht: 1. Oktober in Waldshut. hip
zösische Schauspieler Jean Rochefort hat über Jahrzehnte „das Verlorene, soweit es ging,
hinweg mit Stars wie Pierre Richard oder Louis de Funès, zurückzuholen“. Zu den ge- ULRIKE VON MÖLLENDORFF, 78
mit Jean-Paul Belmondo und Philippe Noiret gearbeitet. retteten Bildern gehört Paul Am 3. Oktober 1990 moderier-
Auch wenn Rochefort anderen den großen Auftritt überließ, Cézannes „Der Steinbruch te die langjährige „heute“-
durch seine Zurückhaltung vermochte er das Interesse auf Bibémus“. Und im Laufe sei- Frontfrau mehrere Sendungen
die Figuren zu lenken, die er verkörperte – zum Beispiel ner Karriere machte er es über die Feierlichkeiten zur
als intriganter Geheimdienstchef in „Der große Blonde mit auch möglich, „die eigentliche deutschen Wiedervereinigung
dem schwarzen Schuh“. Seine komödiantische Noblesse in Berlin, da überkam sie die
wurde von Film zu Film charakteristischer für ihn. Und dann Sehnsucht – nach ihrer Hei-
war da natürlich noch sein Markenzeichen – der graue matstadt und danach, wieder
Schnurrbart. Rochefort war in mehr als 150 Kino- und Fern- direkt vom Ort des Gesche-
sehfilmen zu sehen, vielen Zuschauern wird er vor allem als hens zu berichten. Kurz darauf
„Der Mann der Friseuse“ in Erinnerung bleiben. In einem wechselte Möllendorff, die
Fernsehinterview nach seinen Begabungen befragt, antwor- in den Achtzigerjahren eines

FRANK VINKEN / WAZ


tete der Schauspieler: Freunde finden. Dieses Talent hat der prominentesten ZDF-
er in seinen späteren Jahren mit dem Wunsch verbunden, Gesichter gewesen war, zum
selbst hinter der Kamera zu stehen. Er drehte kürzere Berliner Regionalfernsehen,
Dokumentarfilme, zum Beispiel über einen Schuster, der wo sie ihre Karriere begonnen
in Rocheforts Nachbarschaft ein kleines Ladengeschäft hatte. Die Journalistin,
betrieb. Jean Rochefort starb am 9. Oktober in Paris. clv Aufgabe, die das Folkwang die von 1973 an für das ZDF
ja immer hatte“, zu erfüllen, die „Drehscheibe“ moderiert
nämlich „ein Museum der hatte, wurde gern als Modera-
SYLKE TEMPEL, 54 Gegenwart zu sein“. Vogt hol- torin angefragt, wenn neue
Wenige Menschen ver- te Claude Monet nach Essen, Formate ausprobiert wurden,
standen mehr vom Nahen Salvador Dalí, Max Beckmann sie präsentierte auch Radio-
Osten und der Welt als und Jackson Pollock. Schon sendungen wie die NDR-
die Journalistin und 1969, damals war das reine „Plattenkiste“. Auf die Frage,
Politologin Sylke Tempel. Avantgarde, richtete er ein Vi- warum sie nicht wie andere
Wer wollte, konnte deostudio im Folkwang ein, Fernsehkollegen eine Ge-
dies nachlesen in der Zeit- 1979 begründete er die Foto- sprächssendung übernommen
ULLSTEIN BILD

schrift „IP“ der Deut- grafische Sammlung, die heu- habe, antwortete Möllendorff,
schen Gesellschaft für te als eine der wichtigsten sie wolle nicht die Inflation
Auswärtige Politik, deren weltweit gilt. Paul Vogt starb der Talkshows fortsetzen –
Chefredakteurin sie am 1. Oktober in Münster. ks „wer soll sich die denn alle an-
war. Tempel vereinte die Souveränität einer Weitgereisten sehen?“. Ulrike von Möllen-
mit dem wachen Blick einer Analystin, die verstand, dass HERBERT TRÖNDLE, 98 dorff starb am 24. September
die Interessen von Staaten die Politik bestimmen, aber Jahrzehntelang war er Heraus- in Berlin an Krebs. smo
eines immer gleich bleibt: das Interesse der meisten Men- geber des Standardkommen-
schen, die in Frieden leben und ihre Kinder großziehen tars zum Strafgesetzbuch, jeder
wollen, gleich ob Christen, Muslime oder Juden. Tempel, Jurastudent kannte seinen
die auch Judaistik studiert hatte, kannte Israel und seine Namen. Herbert Tröndle über-
fragile geografische Lage gut. Sie verteidigte das Land und nahm die Aufgabe 1978 von
das westliche Bündnis, ohne über Probleme hinwegzu- Eduard Dreher, dem ehema-
reden. Tempels Scharfsinn, ihre freundliche Ironie und ihre ligen NS-Staatsanwalt an ei-
Freiheit des Urteils machten sie auf dem außenpolitischen nem Sondergericht und späte-
Parkett zu einer Ausnahmeerscheinung. Sylke Tempel ren Ministerialbeamten im
starb am 5. Oktober in Berlin an den Folgen eines Unfalls Bundesjustizministerium. Von
DPA

während des Sturms „Xavier“. suk 1968 bis 1985 stand Tröndle in
DER SPIEGEL 42 / 2017 133
Scheue
Kollegen
Mehr als zwei Jahre ist es her,
dass der Sänger Stromae
(„Alors on danse“) eine Tour-
nee durch Afrika abbrach –
ein Medikament zur Malaria-
prophylaxe hatte bei ihm
Angstzustände ausgelöst. Da-
nach mied der 32-jährige Paul
Van Haver, wie der Belgier
mit ruandischen Wurzeln bür-
gerlich heißt, den öffentlichen
Auftritt – und macht seitdem
vor allem Mode. Mit seiner
Frau Coralie betreibt er das
Label Mosaert. Im Gespräch
mit dem Couture-Kollegen
Karl Lagerfeld, 84, zu dem die
Zeitung „Libération“ geladen
hatte, sprach Stromae über
die Panikattacken, die ihn
nach wie vor heimsuchen:
„Ich drehe komplett durch.“
Ob er je wieder professionell
Musik macht, lässt er offen.
Auch sein Gesprächspartner
ist öffentlichkeitsscheu: „Seit
es Selfies gibt, gehe ich nicht
mehr raus“, sagt Lagerfeld.
Eine Pause von der Arbeit
sei für ihn allerdings undenk-

AUDOIN DESFORGES / PASCO


bar, wer pausiere, habe es
schwer zurückzukommen. Im
Gegensatz zu Stromae sei
er Frühaufsteher: Um halb
acht wecke ihn seine Katze
Choupette. smo

der erfolgreichsten Künstle- Aguilera. „Ich kann das Spiel,


Kantige Realistin rinnen der Branche. Die gan- auf jedes Titelblatt zu kom-
Die amerikanische Popsän- ze Zeit war sie eine Größe, men, nicht gewinnen“, sagte
gerin Pink, 38, hat die Erfolgs- es gab keine längere Auszeit, Pink der „New York Times“.
formel für ihre lange und verlässlich lieferte sie Songs, Sie sei einfach nicht die Hüb-
ELIZABETH WEINBERG / NYT / REDUX / LAIF

eindrucksvolle Karriere ver- die es in die Top 10 oder Top scheste, die beste Sängerin
raten: niemals zu angepasst 40 schafften, als Live-Perfor- oder beste Tänzerin. Dieser
sein, immer Kante zeigen. merin war sie immer gefragt. Realismus half ihr offenbar,
Seit fast zwei Jahrzehnten ist Sie glaubt, diese Kontinuität einen mehr als soliden Platz
die als Alecia Beth Moore in hänge auch damit zusammen, im Pop-Universum zu be-
Pennsylvania geborene Musi- dass sie „nie den Popularitäts- setzten – und zu halten: Ihr
kerin im Geschäft, mit rund wettbewerb gewonnen“ habe. siebtes Album „Beautiful
hundert Millionen verkauften Nie war sie so berühmt wie Trauma“ wurde diese Woche
Tonträgern gilt sie als eine Britney Spears oder Christina veröffentlicht. ks

134 DER SPIEGEL 42 / 2017


Personalien
Haus vermieten. In der Ver-
Bieber ohne Bau gangenheit hinterließ Bieber
Fremden Besitz sollte man mehrere Mietobjekte der ge-
idealerweise so behandeln, hobenen Klasse in desolatem
als wäre es der eigene – dieses Zustand. Obwohl er jetzt
Prinzip hat der kanadische offenbar mehr Geld bietet,
Popstar Justin Bieber, 23, offen- als die Vermieter verlangen,
sichtlich nicht verinnerlicht. muss er seit einiger Zeit in
In Beverly Hills will ihm des- einem Luxushotel in Beverly
wegen niemand mehr ein Hills ausharren. Bieber, der
mit 13 Jahren von einer Plat-

CHRISTIAN THIEL / IMAGO


tenfirma auf YouTube ent-
deckt wurde, bewarf 2014 das
Haus seines damaligen Nach-
barn in Calabasas, dem no-
blen Vorort von Los Angeles,
mit Eiern. Wegen Van-
dalismus wurde der Teenie- Der Augenzeuge
schwarm zu zwei Jahren
Gefängnis auf Bewährung
und einer Geldstrafe von
„Konsequenzen ziehen!“
80 900 Dollar verurteilt. red Diego Faßnacht, 26, ist Vorsitzender der Jungen Union (JU)
PLANET PHOTOS / DDP IMAGES
im Rheinisch-Bergischen Kreis. Auf einem bundesweiten Tref-
fen der CDU/CSU-Nachwuchsorganisation forderte er einen
prominenten Gast zum Rücktritt auf: Kanzlerin Angela Merkel.
(„Mama arbeitet“). Darin
Vorbild Mama befasste sie sich mit alltägli- „Dass ich so deutlich geworden bin, war eher spontan,
Die französische Staatssekre- chen Themen berufstätiger aber es gibt eine Vorgeschichte zu meinem Auftritt: Ich
tärin für Gleichberechtigung, Mütter: „Milcheinschuss am hatte mit Unterstützung anderer JUler rund 150 Plakate
Marlène Schiappa, 34, seit Arbeitsplatz“ oder „Wie zum Deutschlandtag in Dresden mitgebracht, darauf
wenigen Monaten im Amt, ist bringe ich Geschäftsreise stand: ‚Ergebnis aufarbeiten! Konsequenzen ziehen!‘ und
Lieblingsziel bösartiger Kri- und Scheidungstermin unter ‚Inhaltlicher und personeller Neuanfang jetzt!‘ Vorher
tik. „Königin der Schlampen“ einen Hut?“. Als Staatssekre- wurde uns gesagt, dass es in Ordnung sei, Plakate mitzu-
wird die junge Frau in der tärin hat sie in ihrem Ministe- bringen und hochzuhalten. Wir hatten schnell 110 Stück
rechten Onlinezeitung „Atlan- rium ein „Kinderbüro“ nach verteilt, dann wurde es offenbar ein paar JU-Freunden
tico“ beschimpft, ihr wird un- deutschem Vorbild eingerich- zu viel. Delegierte berichteten mir, dass ihnen die Plaka-
terstellt, sie habe unter Pseu- tet: Mitarbeiter dürfen ihre te abgenommen worden seien. Das hat mich wütend
donym erotische Romane Kinder mitbringen, wenn gemacht, ich halte das für keinen guten Weg, mit Proble-
veröffentlicht. Die Politikerin die Krippe streikt. Schiappa men umzugehen. Und davon gibt es gerade viele.
setzt sich für das Recht auf rät berufstätigen Müttern, Die CDU hat ihr konservatives Profil komplett schleifen
künstliche Befruchtung für nicht alles allein zu machen, lassen. Es geht mir zum Beispiel um Abschiebungen:
lesbische Paare ein und will und lebt das selbst vor: „Die Zehntausende in Deutschland sind unmittelbar ausreise-
Geldstrafen gegen Männer Schule ruft mich nicht an. pflichtig, aber nur wenige von ihnen müssen das Land
verhängen, die Frauen auf Die Lehrer wissen genau: verlassen. Oder um unsere Familienpolitik: Da wünsche
der Straße sexuell belästigen. Ich gehe nicht ans Telefon. ich mir ein viel stärkeres Eintreten der CDU für Maßnah-
Bis vor Kurzem schrieb sie Sie rufen gleich beim men wie ein Landesbetreuungsgeld. Angela Merkel sym-
das Blog „Maman Travaille“ Papa an.“ pe bolisiert die alte Politik, deswegen habe ich sie in Dres-
den gefragt, ob sie bereit sei, den Weg freizumachen
für einen Neuanfang. Einige JUler haben mich dafür aus-
gebuht. In den Tagen danach aber habe ich mehr als
300 Nachrichten per E-Mail, WhatsApp und Facebook er-
halten, von Kollegen aus der CDU und der JU, aber auch
von Fremden. Die Leute schrieben, sie freuten sich, dass
da jemand aufgestanden sei. Schon in Dresden kamen
geschätzte 30 bis 50 andere JUler und schüttelten mir die
Hand, sie sagten: Ich sehe das genauso wie du. Aller-
dings unterstützten viele von ihnen mich nicht offen,
sondern am Rande der Sitzung, außerhalb der Halle, bei
der Party. Ich erkläre es mir damit, dass von einigen
Spitzenfunktionären nicht gewollt war, dass wir vor der
Landtagswahl in Niedersachsen über einen möglichen
Rücktritt Merkels diskutieren.
Die Kanzlerin beantwortete meine Frage leider nur
ULLSTEIN BILD

mit dem Hinweis, dass sie demokratisch legitimiert


sei, eine Regierung zu bilden. Ich glaube trotzdem, dass
sich meine Frage gelohnt hat.“ Aufgezeichnet von Lukas Eberle

DER SPIEGEL 42 / 2017 135


„Das öffentlich-rechtliche Fernsehen darf auf keinen Fall
verschwinden, aber es muss sich in vielerlei Hinsicht verbessern
und anpassen.“
Hanspeter Gühne, Bonn

Gesunder Masochismus Ich zahle gern Gebühren für das öffent- schaft einen Maßstab zur Preisfindung von
lich-rechtliche Fernsehen und hoffe, dass Spots zu bieten, und zudem ist die Art,
Nr. 41/2017 Die unheimliche Macht – es noch lange allen Angriffen von politi- wie sie erfasst wird, problematisch.
Wie ARD und ZDF Politik betreiben
schen Gegnern und Marktkonkurrenten Berndt Welz, Eching am Ammersee
Ich habe mich immer gewundert, wie jah- trotzt. Die Nachrichten in den Privatsen-
relang über die Geldverschwendung bei dern und im Internet können an Seriosität Der Rundfunkbeitrag ist ein Unding. Wer
ARD und ZDF geschwiegen wurde. Nun nicht mit denen von ARD und ZDF mit- bestellt, bezahlt – aber bitte nur, wer be-
hat dieser Artikel wunderbar zusammen- halten. Auch viele Unterhaltungssendun- stellt! Etwas anderes wäre eine Steuer. Die
gefasst, was sicherlich ein großer Teil der gen sind besser: Krimis wie „Tatort“ und müsste aber gerecht sein und alle gleicher-
Zuschauer empfindet. Es stören nicht nur „Polizeiruf 110“ bieten gute Alternativen maßen betreffen.
die peinlich seichten Filme, der zu große zu den dumpfen Gewaltorgien amerikani- Frank Mäder, Erfurt
Anteil von Sportsendungen und gleiche scher Krimis.
Nachrichten im Stundentakt, sondern auch Dr. Bettina Wegner-Reimers, Gundelfingen (Bad.-Württ.) Bei der Bemessung der Rundfunkgebüh-
die Werbeblöcke. Wer so viel Geld zur ren wird nicht nur außer Acht gelassen,
Verfügung hat, sollte niveauvoller senden. Die Diskussion um die Berechtigung von wie viel jemand besitzt und verdient, son-
Fritz Furkert, Schwabach (Bayern) ARD und ZDF macht mir Sorgen. In einer dern noch dazu, wie viele Personen einem
Zeit des wirtschaftlich bedingten Ausein- Haushalt angehören: Der alleinstehende
Ein Rundumschlag gegen alle Programme anderdriftens der Gesellschaft und eines Kleinverdiener zahlt genauso viel wie eine
von ARD und ZDF! Dabei ist nicht alles Anstiegs des Populismus in der politischen Familie aus Multimillionären.
schlecht, was die öffentlichen Sender zu Diskussion halte ich die Existenz von öf- Ekkehard Cardoso, Berlin
bieten haben. Besonders ärgerlich: Ihr Plä- fentlich-rechtlichen Medien, die nicht den
doyer für die Bezahlsender. Die deutsche Kräften und Zwängen des Marktes unter- Was wollt ihr, Zustände wie in den USA
Fußballnationalmannschaft künftig nur liegen, für wesentlich. Unsere Zeit ist so mit Fox News und Breitbart? Noch mehr
noch im Bezahlfernsehen? Ein Albtraum! kompliziert, dass man unabhängige Fach- nervenden Werbemist, Gewalt, Sensation
Jörg Christian, Kirtorf (Hessen) leute braucht, um sie zu erklären. und Trash von privaten Sendern, die ge-
Rainer Ludwig, Düsseldorf gebenenfalls Fake News gezielt in ihrem
Statt wieder mit der großen Summe zu politischen Sinn verbreiten? Seid doch
jonglieren, sollten Sie mal die Kosten-Nut- froh, dass wir hier noch einen gewissen
zen-Rechnung für den Verbraucher aufma- Qualitätsjournalismus vorfinden. Kann es
chen. Hier in München: fünf öffentlich- sein, dass gerade der Interneterfolg von
rechtliche TV-Sender, sieben Radiopro- ARD und ZDF von den Printmedien nur
gramme, zwei große Orchester – alles von aus Neid so beklagt wird?
MARTIN SPECHT / AGENTUR FOCUS

mir genutzt und finanziert mit knapp Friedrich Kaune, Gerdau (Nieders.)
60 Cent am Tag. Darüber hinaus fördere
ich von diesem Betrag auch noch erfolg- Einen nicht unerheblichen Beitrag zur sys-
reiche, sogar oscarprämierte Spielfilme. tematischen Verblödung der TV-Konsu-
Wenn man mir künftig die Gebühren er- menten leisten auch die unzähligen Krimi-
lassen würde, könnte ich mir von dem serien deutscher Provenienz. An manchen
eingespartem Geld drei SPIEGEL-Hefte TV-Abenden laufen bis zu sechs Folgen
monatlich leisten. Oder eine Woche lang Regieraum des „heute-journal“-Studios des staatlich verordneten Stumpfsinns.
die „Süddeutsche Zeitung“. Horst Albrecht, Düsseldorf
Bob Borrink, München Ihr Titel weckte in mir die Neugier auf
eine investigative Geschichte über die Ma- Als einer, der sowohl im privaten Zeitungs-
Dieser Artikel ist einseitig und eine Steil- chenschaften der Öffentlich-Rechtlichen, gewerbe als auch im öffentlich-rechtlichen
vorlage für die AfD! Einseitig, weil der über geheime Absprachen mit der Politik, Fernsehen tätig war, kommt mir die De-
SPIEGEL Konkurrenten kritisiert, einseitig über die Meinungsmacht, über Seilschaf- batte völlig überdreht vor. Es geht nicht
auch, weil die anderen Medien nicht ge- ten und Abzocker. Doch leider erfüllt sie um den Endkampf zwischen zwei Medien.
genübergestellt werden. Werden sie das nichts von dem. Stattdessen hieven Sie Im Internet ist für beide Platz. Die Verle-
aber, sind die Öffentlich-Rechtlichen im- Claus Strunz, einen rechtspopulistischen ger bieten die Vielfalt ihrer Produkte an,
mer noch meilenweit besser als die meisten „Kollegen“ mit fast schon paranoidem Gel- die Öffentlich-Rechtlichen die schriftliche
privaten Medien à la Springer-Presse und tungsbewusstsein, auf ein seriöses Niveau Ergänzung ihrer Sendungen. Der SPIEGEL
private Fernsehkanäle, weil diese viel und lassen sich von den „Hart aber fair“- schlägt sich in diesem Gespensterkrieg auf
mehr durch die (politischen und wirtschaft- Machern in deren TV-Weltsicht einlullen. eine Seite und holt zu einem General-
lichen) Interessen der privaten Gruppen Es ist doch Unsinn, wie Herr Plasberg zu angriff auf die öffentlich-rechtlichen Sen-
beeinflusst werden, die hinter ihnen ste- behaupten, Talkshows hätten keinen Ein- der aus. Und damit wird’s vollends bizarr.
hen. Einige Ihrer Kritikpunkte sind aber fluss auf AfD-Wähler gehabt. Im Übrigen Ausführlich zitieren Sie rechtspopulistische
richtig: Beide Sender sollten weniger Kri- finde ich seine Aussage Quatsch, nur dann Parolen: „gleichgeschaltete Medienland-
mis produzieren und das eingesparte Geld sei eine Sendung erfolgreich, wenn sie viel schaft“, „vorgegebene Denkweise“. Das
in mehr guten Journalismus investieren! Quote bringe. Die Quote wurde von den Zerrbild von einem Medium im Würgegriff
Vasco Esteves, Berlin Privaten eingeführt, um der Werbewirt- der Parteien. Aber ARD und ZDF stehen
136 DER SPIEGEL 42 / 2017
Briefe

Das Öffentlich-Rechtliche ist wie die De- das Leben kann zur Hölle werden, man
mokratie – manchmal mies, aber grund- muss eben „nur“ immer wieder aufstehen
sätzlich besser als alles andere. Sport-, können. Sehr gute Beschreibung!
Quiz- und Krimihasser sollten allerdings Matthias Jeschke, Hennigsdorf (Brandenb.)
einen gesunden Masochismus mitbringen.
Peter Limburg, Ralingen (Rhld.-Pf.) Ist Ihre Redaktion ohne vorherige Ankün-
digung zum Ponyhof geworden? Darf jetzt
Ein Thema habe ich vermisst. Muss der ein jeder seine Befindlichkeiten, Phobien
Intendant einer einzigen Anstalt mehr und vermeintlichen Schicksalsschläge vor

WDR
verdienen als die Bundeskanzlerin? den Lesern ausbreiten? Scheidungen sind
„Tatort“-Vorspann Wolfgang Maschner, Herdecke (NRW) nur vermeidbar, wenn man nicht heiratet.
Hans Schuka, Waldkirch (Bad.-Württ.)
für verlässliche, weil unabhängige Bericht-
erstattung, für kritische Magazine, manch
1940 mit Elektrofahrzeug Herr Fleischhauer ist, wie sein zweiter An-
furchtlosen Kommentar, für hochgelobte Nr. 40/2017 Deutsche-Post-Vorstand Jürgen Gerdes lauf beweist, ein unverbesserlicher Roman-
erklärt, wie und warum der Konzern den Bau eigener
Dokumentationen. Für engagierte zeitge- tiker. Männer und Frauen sind verschieden
Elektroautos vorantreibt
schichtliche Fernsehspiele, für lebendige und haben unterschiedliche Interessen, die
Talkshows und mutige satirische Sendun- Es ist erfreulich, dass immer mehr Fahr- auf die Dauer schwer unter einen Hut zu
gen. Und sonst nur Tralala? Der Unterhal- zeuge der Post mit Elektroantrieb ausge- bringen sind. Eine Ehe ist deshalb eine
tungsdschungel der privaten Sender wird stattet werden. Nur – dies war alles schon große Koalition. Man geht sie ein, um Auf-
vorsichtshalber nicht erwähnt. einmal da. In meiner Heimatstadt Stuttgart gaben zu bewältigen, die allein nur sehr
Klaus Bresser, von 1988 bis 2000 ZDF-Chefredakteur, Berlin war mein Vater von 1937 bis 1940 bei der schwer zu bewerkstelligen sind, wie das
damaligen Reichspost als Paketzusteller tä- Großziehen von Kindern. Anschließend
ZDF und ARD sind unter anderem bei ih- tig. Sein Dienstfahrzeug war ein Elektro- verliert sie ihre Daseinsberechtigung. Wie
ren aktuellen Nachrichtensendungen – so- fahrzeug. Der Antrieb erfolgte von einem in allen anderen Beziehungen gibt es glück-
wie bei den Berichten aus Berlin – auch liche Ausnahmen davon. Diesen muss man
für das verantwortlich, was weggelassen von Herzen gratulieren.
wird. Unterbliebene Nachrichten und In- Guido Hasel, Sindelfingen (Bad.-Württ.)
formationen häufen sich. Nicht wertende

ARMIN WEIGEL / PICTURE ALLIANCE / DPA


und sachliche Darstellungen politischer Der Autor inszeniert sich als Opfer seiner
Sachverhalte haben auch bei den Öffent- Scheidung, die für ihn anscheinend einem
lich-Rechtlichen immer mehr Seltenheits- Wetterphänomen gleich vom Himmel fiel
wert, und das bedauere ich zutiefst. und für die er keine Verantwortung über-
Dieter Hooge, ehemaliger Vorsitzender des Rundfunkrats des nimmt. Als wäre es ein Naturgesetz, an-
Hessischen Rundfunks, Frankfurt am Main schließend von einer Depression befallen
zu werden, die er ebenfalls dem medizini-
Ein schnöder Vergleich zwischen dem schen Modell gemäß „erleidet“ und gegen
Proll-TV der Kommerzsender und der E-Fahrzeuge der Post in Passau die man angeblich nur Psychopharmaka
ARD zeigt, wie abwegig die Unterstellung einsetzen kann. Meine anfängliche Freude
ist, hier habe sich ein „Staatsfunk“ etab- akkugetriebenen Elektromotor über einen über die vermeintliche Offenheit des Au-
liert, ein ähnlicher Kampfbegriff wie offenen Zahnkettentrieb auf die Hinter- tors wich zunehmend dem Eindruck, dass
„Zwangsgebühr“, der durch andauernde achse. Größere Steigungen konnten nicht dieser Artikel eine klare, selbstkritische
Wiederholung nicht wahrer wird. Die Do- überwunden werden, der Aktionsradius Position vermissen lässt.
kumentationen über die Quandts, Serien war begrenzt. Das Fahrzeug wurde des- Astrid Polivka, Psychotherapeutin, Nürnberg
wie „Charité“ und die vorzüglichen Kor- halb nur im Innenstadtbereich eingesetzt.
respondentenberichte aus allen Erdteilen Rudolf Hähnle, Nagold (Bad.-Württ.) „Es gibt ja auch Italiener, die ihr Geld zu-
belegen die hohe Professionalität des öf- sammenhalten.“ Was bitte soll das denn?
fentlich-rechtlichen Systems. Und sich aus-
gerechnet am Rechercheverbund von
Unverbesserlicher Romantiker Es soll ja auch SPIEGEL-Artikel ohne frem-
denfeindliche Konnotation geben.
NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ Nr. 40/2017 Wie SPIEGEL-Redakteur Jan Fleischhauer Daniel Bayer, Münster
seine Trennung überlebte
abzuarbeiten offenbart, wie sehr es das
Hamburger Magazin schmerzen muss, sei- Die Leiden des Autors nach der Trennung Der Trennungsschmerz und die meist da-
ne Kompetenz als investigatives Medium von seiner Frau kann ich gut verstehen – mit einhergehende depressive Stimmung,
inzwischen teilen zu müssen. Die Rund- als Verlassende habe ich diese nämlich die oft monate-, ja fast jahrelang andauern
funkratssitzungen des RBB sind übrigens während meiner Ehe auch durchlebt, un- kann, ist in unserer Gesellschaft leider ein
öffentlich, also auch für Journalisten zu- bemerkt von meinem damaligen Mann. Tabuthema. Eine „Regenerationszeit“ wird
gänglich. Herzlich willkommen. Auch meine Hilfeschreie als damals emo- oft belächelt und fast unmöglich gemacht.
Dieter Pienkny, Vorsitzender des RBB-Programmausschusses tional Verlassene sind ungehört verhallt. Es wird erwartet, dass man einfach wieder
und Mitglied des Arte-Programmbeirats, Berlin Trotzdem fühlt man sich als Verlassender „funktioniert“. Wie eine Maschine. Die
mehr oder weniger als Täter, und der Ver- Gesellschaft sollte offener für derartige
Das Deutschlandradio bietet Hörfunk der lassene steht als Opfer da – nicht ganz fair. Themen sein.
Spitzenklasse mit Journalisten, die fair und Petra Bertolotti, Bad Bentheim (Nieders.) Hatun Aktas, Müllheim (Bad.-Württ.)
ausgewogen berichten. Die Sinfonieorches-
ter der ARD sind weltweit angesehen, der Bravo, Herr Fleischhauer! Ich bin nicht der Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Eintritt zu ihren Konzerten bezahlbar. Die Einzige, der so was durchmachen musste. (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
ARD besteht nicht nur aus TV-Kanälen. Nichts zieht einem so den Boden unter sowie digital zu veröffentlichen und unter
Klaus Bernicke, Hamburg den Füßen weg wie eine Scheidung. Ja, www.spiegel.de zu archivieren.
DER SPIEGEL 42 / 2017 137
Hohlspiegel Rückspiegel

JETZT IM HANDEL:
Aus der „Hamburger Morgenpost“:
„Alkoholleichen, verspeiste Ochsen, ver- EDITION Zitate
lorene Kinder – die Bilanz des diesjähri-
gen Oktoberfests fällt recht positiv aus.“
AGILES Der Fachdienst epd medien zum
SPIEGEL-Titel „Die unheimliche Macht“

MANAGEMENT
(Nr. 41/2017):

Die Reaktion der ARD auf den SPIEGEL-


Titel … sprach Bände. Der Sender-
verband scheint wirklich angeschossen
Von SPIEGEL ONLINE und sieht sich genötigt, auf einen –
gemessen am sonstigen Stil der Debatte –
recht differenziert argumentierenden
Aus der „Augsburger Allgemeinen“: Beitrag mit scharfer Kritik zu
„Ryanair streicht im Winterflugplan antworten.
von November bis März 18 000 von rund
8000 Flügen.“ Die „taz“ über das Buch von SPIEGEL-
Redakteur Nils Minkmar „Das geheime
Frankreich“:
Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Wann
das Endlager zur Verfügung steht, ist Über allem liegt ein Hauch von Melan-
offen. Experten sagen, dass es frühestens cholie über die … Schläge, die der
im 21. Jahrhundert in Betrieb geht.“ islamistische Terror der Republik zuge-
fügt hat. Minkmar zeigt Frankreichs
unzerstörbare Essenz, um nicht zu sagen:
Seele. Die der Barbarei die Stirn
bietet und uns mehr abnötigen sollte als
ein kostenloses „Wir sind Charlie“.

Die „Bild am Sonntag“ (BamS) inter-


Aus den Ebay-Kleinanzeigen viewt Martin Schulz zum SPIEGEL-Titel
ORGANISATION „Die Schulz-Story“ (Nr. 41/2017):

Aus den „Kieler Nachrichten“: „Ein So werden Marketing und BamS: Sie haben sich im Wahlkampf
Segelflugzeug ist nach technischen vom SPIEGEL begleiten lassen. Der
Problemen im Kreis Pinneberg notgelan- Vertrieb beweglicher Reporter zitiert Sie mit mehreren Sätzen,
det … Offensichtlich gab es Probleme die nach großer Verzweiflung klingen.
mit dem Motor.“
BEST PRACTICE So haben Sie angesichts der … sinken-
den Umfragewerte gesagt: „Die Leute
Wie Vodafone seine Kunden- finden mich peinlich. Die lachen.“ Wie
kam es dazu?
betreuung modernisierte Schulz: Wenn man sich ganz nüchtern
die Realität anschaut, fanden mich
die Leute nicht peinlich und haben auch
FALLSTUDIE nicht gelacht. Das Gegenteil war der
Fall. Wir hatten volle Plätze, enthu-
Ein Bauunternehmen will siastische Zuhörer bei meinen Reden.
dezentral arbeiten. Droht nun Aber ich bin auch ein emotionaler
Mensch. Und natürlich reagiere ich dann
der Kontrollverlust? auch auf sinkende Umfragewerte. Ich
bin, so wie ich bin …
BamS: Der SPIEGEL-Reporter durfte bei
Aus dem Werbeprospekt eines Teppich- internen Sitzungen dabei sein. Bereuen
bodengeschäfts in Kempten Sie es, einen Journalisten so nah an sich
rangelassen zu haben?
Schulz: Nein. Ich habe gezeigt, dass ich
Aus dem „Schwäbischen Tagblatt“:
„Genau genommen ist es kein Ratgeber
! ein ganz normaler Mensch bin … Und
manchmal mache ich das, was alle
in gedruckter Form, für den Vortrag Auch als digitale Ausgabe erhältlich: anderen Menschen auch machen: flu-
hatte die Stabsstelle das Internet ausge- harvardbusinessmanager.de chen, enttäuscht sein, euphorisch jubeln.
druckt und die 56 Seiten den fünf Wollen Sie an der Spitze des Staates
Interessenten als Broschüre zugänglich Maschinen oder Menschen?
gemacht.“
Der „Focus“ zum selben Thema:

Aus der „Offenbach-Post“: Für den Journalisten war diese Story


„Frauen dürfen in Österreich ihr Gesicht eine Glanzleistung, für den Politiker
nicht nicht mehr verhüllen.“ Schulz eine folgenschwere Dämlichkeit.
138 DER SPIEGEL 42 / 2017
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IBAN und TAN


sind Aal-Martin
völlig Lachs.
Das Aroma von frischem Fisch weht um die Nase, derbe
Sprüche und lautes Gelächter dringen an die Ohren – wir
stehen mitten auf dem Hamburger Fischmarkt.

Schon mal einen Fisch mobil bezahlt? phone und tippt kurz etwas ein. Aal-Mar- Was bringt der beste Service, wenn man
Bereits von Weitem hören wir Aal-Martins tin bedankt sich gut gelaunt und reicht ihr ihn nicht nutzt?
rauchige Stimme: „Aale, Aale, Aale, so frisch eine prall gefüllte Tüte mit Fisch: „Zack und Probieren Sie die zahlreichen Leistungen
kommt ihr nicht mehr zusammen!“ Mit bezahlt, so einfach wie eine Nachricht doch mal aus, zum Beispiel mit der
zwei Handgriffen verpackt er den Fisch in senden geht das! Danke, mein Sonnen- VR-BankingApp, die Sie kostenlos im App
Papier. „Und wenn ihr kein Bargeld dabei- schein! Hier, die Tüte geht aufs Haus.“ Ein Store und im Google Play Store herunter-
habt, ist das jetzt auch keine Ausrede mehr, Aal nach dem anderen wandert über Aal- laden können. Alle Informationen zu den
bei mir könnt ihr mit der VR-BankingApp Martins Theke. Das Geschäft läuft wie am zahlreichen Leistungen erhalten Sie zu-
der Volksbanken Raiffeisenbanken bargeld- Schnürchen, denn dank dem neuen Bezahl- sätzlich auf vr.de/kannwas oder direkt
los zahlen. 10 € die Tüte, das ist doch ein vorgang geht es heute besonders schnell. vor Ort in einer von über 11.500 Filialen
Angebot!“ Eine Kundin zückt ihr Smart- Lange nach dem Kleingeld zu kramen kön- der Volksbanken Raiffeisenbanken.
nen sich die Kunden jetzt sparen und dem
* Voraussetzungen: funktioniert nur zwischen Kunden der
hanseatischen Fischverkäufer das Geld ein- Volksbanken Raiffeisenbanken, die sich für die Geld senden &
anfordern Funktion freigeschaltet haben und sich gegenseitig
fach wie eine Nachricht zuschicken mit der als Kontakt im elektronischen Adressbuch gespeichert haben.
Funktion Geld senden und anfordern der
VR-BankingApp von den Volksbanken
Raiffeisenbanken.* Dank der Funktion ist
keine IBAN-Eingabe und bis zu 30 € auch
keine TAN nötig, was das mühsame
Tippen von Zahlenkombinationen erspart.

Was die Volksbanken Raiffeisenbanken


alles können.
Welche Funktionen und Services das Leben
noch einfacher machen, zeigt Aal-Martin
gemeinsam mit Blumenverkäuferin Gitte
und Obstverkäufer Didi, zu sehen auf
vr.de/kannwas

VR-BankingApp
MARCUS
NIEHAVES

Im Dienste
Seiner Majestät
König Kunde.
WISO
das Wirtschafts- und Verbrauchermagazin
montags | 19:25 wiso.zdf.de

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