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Von Klagenfurt nach Rom, das war für die damals 44-jährige Autorin ein langer, strapaziöser Weg
gewesen. Die Stationen dazwischen: Innsbruck, Graz, Wien, Ischia, Rom, München. Dazwischen
immer wieder Neapel, wo sie ihren engsten Freund, den Komponisten Hans Werner Henze,
besuchte, und auch Aufenthalte in Paris bei ihrer Lebens-Liebe, dem Lyriker Paul Celan. Es folgten
Zürich und Rom (mit Max Frisch), dann für gut zwei Jahre Berlin, schließlich wieder Rom. Den
Plan, Anfang der 1970er Jahre dauerhaft an den einstigen Studienort Wien zurückzukehren, konnte
sie nicht mehr verwirklichen. Am 17. Oktober 1973 starb Ingeborg Bachmann in einem
Krankenhaus in Rom, nachdem sie sich bei einem nächtlichen Brand in ihrer Wohnung schwere
Verletzungen zugezogen hatte.
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Die hochgerühmte Librettistin dreier Opern von Hans Werner Henze war sie obendrein. Und blieb
doch in alldem eine politisch wache, im Denken auch und gerade in ihrer Literatur nicht
nachlassende Intellektuelle. Es war die Verbindung dieser widerstreitenden Anteile, die ihre
Zeitgenossen mehr und mehr irritierte: Ingeborg Bachmann war durch Klischees nicht zu fassen, so
schön dies zunächst auch zu funktionieren schien.
Während ihrer Wiener Studienzeit - in jenen Nachkriegsjahren, in denen Carol Reeds Thriller "Der
dritte Mann" das unter alliierter Besatzung stehende Wien als einen Schauplatz ungeheuerlicher
Verbrechen porträtierte - war sie eine junge Frau gewesen, die sowohl an einem Roman wie auch an
Gedichtenund ihrem ersten Hörspiel arbeitete, ihr Geld nach dem Studium aber im amerikanischen
Sender "Rot-Weiß-Rot" verdiente, als Autorin der enorm beliebten Radio-Soap "Die Radiofamilie"
und als Redakteurin.
Sie hatte aber auch rasch Zugang zum Autorenkreis um den jüdischen Re-Migranten Hans Weigel
gefunden und mit ihm, dem zu dieser Zeit einflussreichsten Kulturmacher der Stadt, alsbald ein
Verhältnis begonnen. Was dieser ihr 1951 wiederum mit dem Schlüsselroman "Unvollendete
Symphonie" entgalt, in dem er sich selbst als kulturelles Zentralgestirn und begüterten jüdischen
Geschäftsmann zeichnete, seine Geliebte aber als eine in nahezu allem ahnungslose junge Malerin
aus der Provinz, die, durch ihn sexuell initiiert, überhaupt erst begreift, was Kunst ist.
Doch wäre es auch hier weniger als die halbe Wahrheit, wollte man diese vielschichtigen
Prosaprojekte als literarische Rachefeldzüge einer Gekränkten lesen. Zwar sind ihre eigenen
Erfahrungen den Büchern unübersehbar eingeschrieben, doch bilden sie nur die Oberfläche eines in
Ingeborg Bachmanns Augen allgemeinen "Faschismus zwischen Männern und Frauen": eines
genuin mörderischen, im Nationalsozialismus wurzelndenGeschlechterverhältnisses. Wie die
Schauspielerin Lila in Frischs "Gantenbein"-Roman hatte sich freilich auch die junge Bachmann als
Meisterin der Selbstinszenierung erwiesen. Der "Mythos Bachmann", von dem seit Mitte der
1950er Jahre die Rede war, und dem "Der Spiegel" im August 1954 eine Cover-Story widmete,
kam durchaus nicht ohne ihreaktive Mitwirkung zustande.
Ingeborg Bachmann ist die erste Frau der Nachkriegsliteratur des deutschsprachigen Raumes, die
mit radikal poetischen Mitteln das Weiterwirken des Krieges, der Folter, der Vernichtung in der
Gesellschaft, in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen beschrieben hat."
(Elfriede Jelinek)
Legion sind die von männlichen Kollegen kolportierten Szenen, wie die auratische Dichterin (die
nach ihrer ersten, mit versagenderStimme vorgetragenen Lesung vor der "Gruppe 47" ohnmächtig
vom Stuhl gesunken und darauf von mehreren Herren auf ihrem Zimmer versorgtworden war) stets
zum rechten Zeitpunkt Handtasche, Taschentuch oder Manuskript fallen ließ, woraufhin die Köpfe
etlicher Männer beim Versuch,das zu Boden Gegangene zu bergen, unter dem Tisch
zusammenstießen.
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Der tastende Auftritt, der allerdings auf einen schweren Sehfehler der brillenlosen Poetin
zurückging, die flüsternden Lesungen, kurz: all die das Publikum verführenden Attribute einer diva
assoluta der Dichtkunst waren Bestandteile einer Performance, die auf die Wirkung ihrer
Weiblichkeit ebenso setzte wie auf das tradierte Bild einer weltentrückten Seherin. Doch markiert
diese Rolle mitsamt dem zunehmend glamourös-modischen Äußeren zugleich eine
Grundschwierigkeit für Frauen der Bachmann-Jahre:
Sobald sie die Veröffentlichung von Gedichten einstellte, und 1961 ihr Erzählungsband "Das
dreißigste Jahr" erschien, fiel die Kritik mit ungehemmter Bösartigkeit über sie her. Wortführer
Marcel Reich-Ranicki geißelte die "gefallene Lyrikerin", ihren 1971 erschienenen Roman
"Malina"verglich er mit der amerikanischen Schmonzette "Love Story" und nannte ihn "ein trübes
Gewässer". Als im Oktober 1972 dann neue Erzählungen unter dem Titel "Simultan" erschienen -
die ebenso wie "Malina" zum Bestseller wurden -, sah er darin "Lesestoff für jene Damen, die beim
Friseur oder imWartezimmer des Zahnarztes in Illustrierten blättern". Seine rhetorische Frage:
"Bewusst und zynisch angestrebte Trivialliteratur also?"
Für die Namensgeberin des Preises bedeutete das ein gleich dreifaches Daneben: in einer Stadt, die
sie ablehnte, in der Form des Wettlesens, das ihrselbst wie ihrer Kunstauffassung widerstrebte, in
der Öffentlichkeit vertreten von einem Mann, der ihre literarische Arbeit zuletzt hämisch
herabgewürdigt hatte. Und doch: Wenn die "Tage der deutschsprachigen Literatur" als wichtigster
Nachwuchswettbewerb für österreichische, schweizerische und deutsche Autorinnen und Autoren
2016 zum 40. Mal stattfinden, lohnt es sich, noch einmal kurz auf die literarischen Anfänge der
Namenspatronin zurückzuschauen.Würde sich eine heute junge, unter den aktuellen Bedingungen
literarischen Ruhm suchende Ingeborg Bachmann weigern, im "Bewerb" zu lesen? Ganz sicher
nicht.
Genau wie 1953 vor der "Gruppe 47" würde sie ihre Chance erkennen und die Bedingungen -
ängstlich und selbstbewusst zugleich - auf sich nehmen. Womöglich hätte die junge Anfängerin von
2016 dabei einen Leitsatz der großen Vorgängerin aus dem Jahr 1972 im Ohr: "Eine neue Sprache
muss eine neue Gangart haben, und diese Gangart hat sie nur, wenn ein neuer Geist sie bewohnt."
Das wäre schön, vor allem für die Literatur.
3
Frauke Meyer-Gosau ist Belletristik-Lektorin des Verlags C.H. Beck und schreibt unter anderem
für die "Süddeutsche Zeitung". Dieser Artikel wurde für das "3sat-Magazin" verfasst.
Elisabeth ist Fotoreporterin und lebt zur Zeit in Paris, wobei sie jedoch aufgrund ihres Berufes ständig
in der ganzen Welt herumreist und so quasi überall zu Hause ist. Während sie nun nach der Hochzeit
ihres Bruders dem Vater in ihrer Heimatstadt Klagenfurt einen der regelmäßigen Pflichtbesuche
abstattet und hofft, sich dort von den Strapazen der vergangenen Tage erholen und auf den
Spaziergängen durch den Kärntner Wald hin zum See, in dem sie in ihrer Jugend oft gebadet hatte,
etwas zur Ruhe kommen zu können, läßt sie in Gedanken verschiedene Stationen ihres Lebens Revue
passieren. Szenen aus ihrer früheren Kindheit, in der sie geglaubt hatte, mit der Mutter um die Liebe
ihres Bruders konkurrieren zu müssen, die Tage ihres Lebens in Wien, verschiedene Stadien ihrer
Karriere und die Erinnerungen an zahlreiche, mehr oder weniger enge Männerbeziehungen,
insbesondere an die zu einem bestimmten Mann, nämlich Franz Joseph Trotta, der für ihr Leben eine
außergewöhnliche Bedeutung gehabt hatte, treten ebenso wieder in ihr Bewußtsein, wie die letzten
Tage, die sie mit ihrem Bruder und seiner zukünftigen Frau Liz in England verbracht hatte. Aufgrund
dieser gedanklichen Rückblicke und der gleichzeitigen Schwierigkeiten, die für Elisabeth auftreten, als
sie versucht, den See ihrer Kindheit wieder zu erreichen, wird deutlich, daß diese Frau, die nach außen
hin so überaus beliebt und erfolgreich scheint, innerlich im Grunde zutiefst vereinsamt und von
Selbstzweifeln geplagt ist. So stellt denn auch am Ende, als sie überstürzt abreist und am Flughafen
ihrer einzig wahren Liebe begegnet, die sie ihr Leben lang übersehen hatte und die jetzt für sie verloren
ist, ihr Beruf das einzige dar, was ihr noch geblieben ist.
Formal zeichnet sich die Erzählung durch eine recht komplizierte Strukturierung aus, da die Autorin
durchgehend zwischen den umfangreichen, rückblickartigen Erinnerungssequenzen und der knappen
Schilderung der Ereignisse in Klagenfurt gleichsam hin- und herspringt. Es besteht also sowohl formal,
wie auch inhaltlich ein deutlicher Unterschied zwischen konkreter Romanhandlung und der Handlung
auf poetologischer Ebene, die in der Erinnerung wieder-gegeben wird. Während nämlich die eigentliche
Handlung der Erzählung lediglich die zehn Tage des Aufenthalts Elisabeths bei ihrem Vater umfaßt,
schließt die Schilderung auf poetologischer Ebene, hier eben in Form der geistigen Rückblicke auf
vergangene Ereignisse, fast das gesamte bisherige Leben der fünfzigjährigen Protagonistin ein.
Daß dieser Zustand jedoch, wie man vielleicht vermuten könnte, nicht erst gerade durch diesen Beruf,
der sie ja ihrer eigentlichen Heimat, nämlich Klagenfurt, entrissen hatte, entstanden ist bzw.
hervorgerufen wurde, zeigt sich daran, daß, zumindest aus Elisabeths Sicht, die gesamte Familie Matrei
von demselben Problem betroffen ist:
„Aber was sie zu Fremden machte überall, war ihre Empfindlichkeit, weil sie von der Peripherie kamen
und daher ihr Geist, ihr Fühlen und Handeln hoffnungslos diesem Geisterreich von einer riesigen
Ausdehnung gehörten, und es gab nur die richtigen Pässe für sie nicht mehr, weil dieses Land keine
Pässe ausstellte.“(399)
So liegt es also anscheinend keineswegs an Elisabeth selbst, daß sie sich überall fremd und unwohl
fühlt, sondern sie ist quasi erblich vorbelastet, denn auch ihr alter Vater ist nur noch ein Relikt, ein
Überbleibsel des alten Österreich, wie es schon lange nicht mehr existiert.
Nun ist das Gefühl der Heimatlosigkeit aber keineswegs nur so zu verstehen, daß es für Elisabeth eben
einfach keinen Ort gibt, an dem sie sich wirklich heimisch fühlt. Bei ihr reicht es, wenn auch unbewußt,
viel tiefer und führt zu regelrechter innerer Isolation. So ist sie bei allen ihren Erlebnissen zwar
körperlich anwesend, sieht alles und erlebt alles mit, ist aber dabei nicht eigentlich innerlich bewegt
und läßt all diese Dinge nicht eigentlich an sich heran. Ihr Leben verläuft daneben anders, „wie einem
Zuschauer, der Tag für Tag ins Kino geht und sich narkotisieren läßt von einer Gegenwelt“(447).
Macht man sich diesen Zustand der inneren Isolation, unter dem Elisabeth offensichtlich leidet,
bewußt, wird deutlich, daß der Begriff der Heimatlosigkeit in „Drei Wege zum See“ sozusagen eine
zweifache Konnotation erfährt: Im Gegensatz zum Vater nämlich, der die Heimatlosigkeit als Verlust
der alten Heimat, in seinem Fall also des monarchischen Österreich mit seinen alten Werten und
Bräuchen, empfindet und, der sich in der modernen Zivilisation, die von Konsumgütern, neuen
Technologien und Erfolgsstreben beherrscht wird, wie ein Exilierter fühlt, hat der Begriff im Falle
Elisabeths eine andere, tiefergehende Bedeutung. Hier ist die Heimatlosigkeit, das Verlorensein in einer
fremden Welt vielmehr im übertragenen Sinn zu verstehen, nämlich als Verlust der Fähigkeit, mit der
Außenwelt zu kommunizieren bzw. dem inneren Empfinden gemäß auf sie zu reagieren. Elisabeths
eigentliches Problem besteht hier demnach darin, „daß sie das Verhältnis von Innen- und Außenwelt als
disharmonisch
empfindet“8. Sie lebt in ihrem Innern ein Leben, das von dem, was um sie herum geschieht, nahezu
völlig abgegrenzt ist, nimmt so also am normalen Leben ihrer Umwelt nur äußerlich teil und ist dabei
innerlich isoliert und somit gleichsam heimatlos in einer äußeren Welt, die ihr fremd ist und die
wiederum letztlich auch sie in ihrem wahren Wesen nicht versteht.
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2.2. Unerfüllbare Bruderliebe
Die zweite bedeutende Problematik, die neben der Heimatlosigkeit in „Drei Wege zum See“ auftritt,
manifestiert sich in dem außergewöhnlichen Verhältnis Elisabeths zu ihrem jüngeren Bruder Robert.
Betrachtet man dieses genauer, erkennt man deutlich einen für das Bachmannsche Werk typischen
Wesenszug, nämlich, daß „die Geschwisterliebe alle übrigen zwischen-menschlichen Beziehungen durch
das Maß an Vertrautheit und durch die Möglichkeit absoluten Verstehens übertrifft, daß sie aber auch
die Gefahr des Inzests in sich birgt“9.
So geht auch hier die innige und vertraute Beziehung der Geschwister so weit, daß sie geradezu
inzestuöse Züge annimmt oder zumindest kurz davor steht, was besonders an folgender Stelle deutlich
wird:
„An diesem Abend warf sie Robert aus ihrem Bett, der, etwas benebelt vom ersten Pernod seines
Lebens, anfing, ihre Haare und ihr Gesicht zu streicheln, denn das mußte nun endgültig aufhören, oder
es durfte vielmehr gar nicht erst beginnen.“(457)
Schließlich kann es nicht als normal angesehen werden, wenn ein Sechzehnjähriger das Bett mit seiner
erwachsenen Schwester teilt und, daß es sich an diesem Abend nicht um eine Ausnahme gehandelt
hatte, wird wohl aufgrund der Formulierung „das mußte endgültig aufhören“ mehr als deutlich.