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Licht, das aus der Nacht des Auges hervorgeht, exakt gegenläu- sein, wie Homer sagt, dass die Götter den Sterblichen das Un-
figen Bewegung die Nacht bringt) in die Augenhöhle des Toreros, glück schickten, damit sie davon erzählen können, und dass in
den es blendet und tötet, eindringt, macht Simone jene Geste, die diesem Vermögen das Sprechen seinen unendlichen Rohstoff fin-
wir bereits kennen, und verschlingt einen bleichen und enthäute- det. Wahrscheinlich hinterlässt das Nahen des Todes, seine sou-
ten Hoden und erstattet so ihrer ursprünglichen Nacht die große veräne Geste und der mit ihm verbundene Bruch im Gedächtnis
lichtvolle Männlichkeit zurück, die gerade ihren Mord begangen der Menschen die Leere im Sein und in der Gegenwart, von der
hat. Das Auge wird zurückgebracht in seine Nacht, das Rund der aus und auf die hin gesprochen wird. Die Odyssee, die dieses
Arena dreht sich und kippt um; doch ist das genau der Moment, in Geschenk der Sprache im Tod bestätigt, berichtet jedoch im Ge-
dem das Sein unverzüglich erscheint, und in dem die Geste, die die genteil, wie Odysseus nach Hause zurückgekehrt ist: Jedes Mal,
Grenzen durchbricht, an die Abwesenheit selbst rührt: »Zwei Ku- wenn ihm der Tod drohte, wiederholte er, um den Tod zu bannen,
geln von gleicher Größe und Konsistenz wurden von gegensätz- wie – durch welche Listen und Abenteuer – es ihm gelungen war,
lichen gleichzeitigen Bewegungen zum Leben erweckt. Der weiße das Eintreten des Todes aufzuschieben; dieses Eintreten, das, so-
Hoden eines Stieres war in das schwarze und rosafarbene Fleisch wie er gerade das Wort ergriffen hatte, in einer drohenden Geste
von Simone eingedrungen; ein Auge war aus dem Kopf des jungen oder in einer neuen Gefahr jedes Mal aufs Neue wiederkehrt . . .
Mannes hervorgetreten. Diese Koinzidenz, die bis in den Tod mit Und wenn er, als Fremder bei den Phäaken, aus dem Munde eines
einer Art Verflüssigung des Himmels zu Urin verbunden war, gab anderen die schon tausendjährige Stimme seiner eigenen Ge-
mir einen Augenblick lang Marcelle zurück. Es schien mir, als ob schichte hört, so hört er gleichsam seinen eigenen Tod: Er verhüllt
ich sie in diesem ungreifbaren Augenblick berührte.«13 sein Gesicht und weint. Dies ist eigentlich die Geste derjenigen
Frauen, denen man nach der Schlacht den Leichnam des getöteten
Übersetzt von Hans-Dieter Gondek Helden bringt. Gegen dieses Sprechen, das ihm seinen Tod ver-
kündet und das man auf dem Grunde der neuen Odyssee als ein
Sprechen von einst vernimmt, muss Odysseus den Gesang seiner
eigenen Identität anstimmen, seine Missgeschicke berichten, um
14 das Schicksal abzuwenden, das ihm von einer Sprache vor der
Die Sprache, unendlich Sprache zugetragen wird. Und er setzt dieses fiktive Sprechen
fort, bestätigt und bannt es zugleich in diesem Raum, in dem
»Le langage à l’infini«, in: Tel quel, Nr. 15, Herbst 1963, S. 44-53. das Erzählen, dem Tod benachbart und doch gegen ihn gerichtet,
seinen ihm eigentümlichen Ort hat. Die Götter schicken den
Schreiben, um nicht zu sterben, wie Blanchot sagte, oder vielleicht Sterblichen die Missgeschicke, damit sie davon erzählen; die
sogar sprechen, um nicht zu sterben, ist eine Aufgabe, die gewiss Sterblichen jedoch erzählen, damit diese Missgeschicke niemals
so alt ist wie das Sprechen selbst. Für die Zeit noch einer Erzäh- zu ihrem Ende gelangen und damit ihre Erfüllung in der Ferne
lung bleiben Entscheidungen mit tödlichen Konsequenzen unver- der Wörter verschleiert wird, dort, wo sie, die nicht schweigen
meidlich in der Schwebe. Der Diskurs hat, wie man weiß, die wollen, schließlich enden werden. Das unsägliche Missgeschick,
Macht, den bereits abgeschossenen Pfeil in einem Rückzug der diese lärmende Gabe der Götter, bezeichnet die Stelle, an der die
Zeit, die sein eigener Raum ist, zurückzuhalten. Es mag durchaus Sprache beginnt. Die Grenze des Todes jedoch eröffnet gegenüber
der Sprache oder vielmehr in ihr einen unendlichen Raum. Ange-
13 [Bataille, G., Historie de l’œil: sous le soleil de Séville (nouvelle version, in:
sichts des drohenden Todes macht sie in äußerster Hast weiter,
Œuvres complètes, Bd. I, Paris 1970, Anhang, S. 598; dt. »Die Geschichte des
Auges«, in: Das obszöne Werk, Reinbek 1977, S. 39 (Übersetzung leicht verän- beginnt wieder von vorn, erzählt sich selbst, entdeckt die Erzäh-
dert. A. d. Ü.).] lung der Erzählung und damit die Einschachtelung, die mög-
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licherweise niemals an ihr Ende kommt. Auf der Linie zum Tod Grenze und ihr Zentrum): Von dem Tag an, da man zum Tode
reflektiert sich die Sprache selbst: Sie begegnet darin gleichsam und gegen ihn sprach, um ihn aufzuhalten und um ihn einzu-
einem Spiegel; und um diesen Tod aufzuhalten, der sie anhalten schließen, ist etwas entstanden, ein Gemurmel, das sich wieder-
wird, gibt es nur eine Macht: die Macht, in ihr selbst ihr eigenes holt und sich selbst erzählt und sich endlos verdoppelt in einer
Bild in einem Spiel von Spiegeln entstehen zu lassen, das selbst phantastischen Vervielfältigung und Verdichtung, in der sich un-
keine Grenzen hat. Auf dem Grund des Spiegels, wo sie aufs Neue sere heutige Sprache einnistet und verbirgt.
anhebt, um dann erneut an der Stelle anzukommen, zu der sie (Eine Hypothese, die nicht ganz überflüssig ist: Die alphabeti-
bereits gelangt ist (derjenigen des Todes), doch um ihn wieder sche Schrift ist bereits in sich eine Form von Verdopplung, da sie
zurückzuweisen, wird man einer anderen Sprache gewahr – Bild nicht das Signifikat repräsentiert, sondern die phonetischen Ele-
der gegenwärtigen Sprache, doch genauso ihr winziges, inneres mente, die es bedeuten. Das Ideogramm dagegen repräsentiert
und virtuelles Modell. Dies ist der Gesang des Sängers, der Odys- direkt das Signifikat, unabhängig vom phonetischen System, das
seus bereits vor der Odyssee und vor Odysseus selbst besang eine andere Art der Repräsentation ist. Für die abendländische
(denn Odysseus hört ihn ja), der ihn freilich auch nach seinem Kultur hieß schreiben, sich von Beginn an in den virtuellen Raum
Tod endlos besingen wird (denn für ihn ist Odysseus bereits wie der Selbstrepräsentation und der Verdopplung zu stellen; wenn
tot); und der lebende Odysseus empfängt ihn, diesen Gesang, wie die Schrift nicht das Ding, sondern das Sprechen repräsentiert,
die Frau den tödlich getroffenen Gatten empfängt. dann würde das sprachliche Kunstwerk nichts anderes tun als sich
Vielleicht gibt es im Sprechen eine wesentliche Zusammenge- tiefer in diese ungreifbare Dichte des Spiegels vorzuwagen; es
hörigkeit zwischen dem Tod, der endlosen Fortsetzung, und der würde das Doppel dieses Doppels hervorbringen, welches die
Repräsentation der Sprache durch sich selbst. Die gegen die Schrift seit jeher ist, auf die Weise ein mögliches und unmögliches
schwarze Wand des Todes gerichtete Form der unendlichen Spie- Unendliches entdecken; ohne Ende das Sprechen fortsetzen, es
gelung ist vielleicht wesentlich für jede Sprache von dem Moment über den Tod hinaus, der es verurteilt, aufrechterhalten und das
an, da diese nicht länger spurlos verschwinden will. Nicht erst, Rinnen eines Gemurmels freisetzen. Diese Anwesenheit des in der
seitdem man die Schrift erfunden hat, erhebt die Sprache den An- Schrift wiederholten Sprechens gibt dem, was wir ein Werk nen-
spruch, sich unendlich fortzusetzen; doch ebensowenig entschied nen, zweifelsohne einen ontologischen Status, der jenen Kulturen
sie eines Tages, weil sie nicht sterben wollte, sich in sichtbaren unbekannt ist, in denen es, wenn man schreibt, die Sache selbst ist,
und unauslöschlichen Zeichen zu verkörpern. Es ist eher so: Et- die man bezeichnet, als eigenen Körper, sichtbar, und auf hart-
was im Hintergrund der Schrift – den Raum eröffnend, in dem sie näckige Weise unempfänglich für die Zeit.)
sich ausdehnen und festigen konnte –, ist wohl etwas entstanden, Borges erzählt die Geschichte eines verurteilten Schriftstellers,
das Homer uns in seiner ursprünglichsten wie auch symbolisch- dem Gott in genau dem Augenblick, da er erschossen wird, eine
sten Gestalt zeigt und das für uns gleichsam eines von mehreren Frist von einem Jahr gewährt, um das begonnene Werk zu voll-
großen ontologischen Ereignissen der Sprache darstellt: ihre Spie- enden; dieses im Aufschub des Todes in der Schwebe bleibende
gelung des Todes, ihr Nachdenken über ihn, und davon ausge- Werk ist ein Drama, in dem sich alles wiederholt und das (noch zu
hend die Bildung eines virtuellen Raumes, in dem die Sprache die schreibende) Ende Wort für Wort den (bereits geschriebenen)
unbegrenzte Möglichkeit ihres eigenen Bildes findet und in dem Anfang wiederaufnimmt, jedoch so, dass gezeigt wird, dass die
sie sich unendlich repräsentieren kann; wo sie schon hinter sich Figur, die man kennt und die seit den ersten Szenen spricht, nicht
selbst zurückgehen und über sich selbst hinausgehen kann. Die sie selbst ist, sondern eine, die sich dafür hält. Im unmittelbaren
Möglichkeit eines sprachlichen Werkes findet in dieser Doppe- Bevorstehen des Todes, während des einen Jahres, das so lange
lung ihre ursprüngliche Falle. In diesem Sinne ist der Tod zwei- dauert, wie ein Regentropfen seine Wange hinunterrollt und der
fellos der wesentlichste unter den Unfällen der Sprache (ihre Rauch einer letzten Zigarette verweht ist, schreibt Hladik, doch
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mit Worten, die niemand je wird lesen können, nicht einmal Gott, Beleg für die Zerstreutheit Diderots. Vor allem aber ein Zeichen
das große unsichtbare Labyrinth der Wiederholung, der Sprache, dafür, dass die Sprache sich selbst erzählt: dass der Brief nicht der
die sich zweiteilt und zum Spiegel ihrer selbst wird. Und wenn Brief ist, sondern die Sprache, die ihn im selben System von Ak-
das letzte Epitheton gefunden ist (zweifellos dürfte es auch das tualisierungen verdoppelt (denn die Sprache spricht in derselben
erste sein, da das Drama aufs Neue beginnt), hämmern ihm die Zeit wie der Brief, sie gebraucht dieselben Wörter und hat genau
weniger als eine Sekunde zuvor abgefeuerten Kugeln ihr Schwei- denselben Körper: Sie ist selbst der leibhaft anwesende Brief); und
gen in die Brust. doch ist sie darin abwesend, aber nicht kraft jener Souveränität, die
Ich frage mich, ob man nicht ausgehend von diesen Phänome- man dem Schriftsteller verleiht. Sie macht sich vielmehr abwesend,
nen einer Selbstrepräsentation der Sprache eine Ontologie der indem sie den virtuellen Raum durchquert, in dem die Sprache sich
Literatur schreiben oder zumindest von ferne umreißen könnte; selbst zum Bild wird und die Grenze zum Tod durch die Verdop-
ausgehend von solchen Figuren, die offenbar zum Bereich der List pelung im Spiegel durchbricht. Diderots »handwerklicher Schnit-
oder der Belustigung gehören, und die den Bezug, den die Sprache zer« geht nicht auf ein übereiltes Eingreifen des Autors zurück,
zum Tod unterhält, verbergen, das heißt verraten – Bezug der sondern folgt unmittelbar aus der Öffnung der Sprache auf ihr
Sprache zu jener Grenze, an die sie sich richtet und gegen die System der Selbstrepräsentation: Der Brief aus La Religieuse ist
sie errichtet wird. Anzufangen wäre mit einer allgemeinen Analy- nur das Analogon des Briefes, ist ihm in allem ähnlich, außer dass
tik sämtlicher Formen von Verdoppelung der Sprache, für die sich er sein unmerklich versetztes Doppel ist (wobei die Versetzung
in der abendländischen Literatur Beispiele finden lassen. Diese allein durch den Regelverstoß der Sprache sichtbar wird). Dieser
Formen sind, daran besteht kein Zweifel, von endlicher Zahl, Lapsus (im exakten Sinne des Wortes) ähnelt einer Figur, die man
und es lässt sich für sie ein umfassendes Verzeichnis erstellen. Ihre in Tausendundeiner Nacht findet (wenn auch genau umgekehrt),
häufig extreme Unauffälligkeit, die Tatsache, dass sie zuweilen wo Scheherazade eine Episode erzählt, wie Scheherazade selbst in
verborgen und wie zufällig oder aus Versehen dahingeworfen tausendundeiner Nacht gezwungen war, und so weiter. Die Spie-
sind, sollten nicht zu irgendwelchen Illusionen führen: oder bes- gelstruktur ist hier ausdrücklich gegeben: In der Mitte seiner selbst
ser, in ihnen muss man die eigentliche Macht der Illusion erken- stellt das Werk einen beweglichen Spiegel [»psyché«] auf (fiktiver
nen, die der Sprache (als einsträngiger Kette) gegebene Möglich- Raum, wirkliche Seele), in dem es als Miniatur und sich selbst vor-
keit, sich als ein Werk zu zeigen. Selbst wenn die Verdoppelung ausgehend erscheint, da es sich als eines unter vielen weiteren ver-
der Sprache verborgen bleibt, so ist sie doch konstitutiv für ihr gangenen Märchen, als eine unter so vielen weiteren Nächten er-
Sein als Werk, und die Zeichen, die davon erscheinen können, zählt. Und in dieser bevorzugten und doch den anderen so
muss man als ontologische Hinweise lesen. ähnlichen Nacht öffnet sich ein Raum, ähnlich dem, in welchem
Diese Zeichen sind oft kaum wahrzunehmen und nahezu flüch- es nur einen unendlich kleinen Regelverstoß bildet, und deckt am
tig. Sie können auch wie Fehler aussehen – einfache Verstöße an selben Himmel dieselben Sterne auf. Man könnte sagen, dass es
der Oberfläche des Werkes: Man könnte sagen, dass es dort gleich- eine Nacht zuviel gibt und dass tausend genügt hätten; man könnte
sam eine unwillentliche Öffnung gibt hin auf den unerschöpflichen umgekehrt sagen, dass in La Religieuse ein Brief fehlt (der Brief, in
Grund, aus dem das Werk bis zu uns kommt. Ich denke an eine dem die Geschichte des Briefes erzählt werden müsste, der dann
Episode aus La Religieuse, in der Suzanne ihrem Briefpartner die nicht mehr sein eigenes Abenteuer mitzuteilen hätte). In der Tat
Geschichte eines Briefes erzählt (seine Abfassung; das Versteck, in spürt man durchaus, dass in derselben Dimension es hier einen Tag
dem man ihn unterbrachte; ein Versuch, ihn zu stehlen, und zuwenig und dort eine Nacht zuviel gibt: der tödliche Raum, in
schließlich seine Hinterlegung bei einem Vertrauten, der ihn zu- dem die Sprache von sich spricht.
stellen konnte), und zwar die Geschichte eben dieses Briefes, in Es könnte sein, dass in jedem Werk die Sprache sich in einer
dem sie ihrem Briefpartner dies erzählt, und so weiter. Wohl ein geheimen Vertikalität über sich selbst legt, in der das Doppel
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exakt dasselbe ist bis auf eine Winzigkeit – eine feine schwarze um in einem Schweigen zu verstummen, in dem das unendliche
Linie, die kein Blick zu entdecken vermag außer in jenen zufäl- Sprechen seine Souveränität wieder bekäme. Im Werk schützte
ligen oder verabredeten Momenten einer Verwirrung, in der Sche- sich die Sprache vor dem Tod durch jenes unsichtbare Sprechen,
herazades Anwesenheit von Nebel umgeben ist, auf den Grund jenes Sprechen diesseits und jenseits aller Zeiten, zu dessen schnell
der Zeit zurückweicht und verschwindend klein in der Mitte einer abgebrochener Spiegelung es wurde. Der unendliche Spiegel, den
glitzernden, tiefen und virtuellen Scheibe auftauchen kann. Das jede Sprache entstehen lässt, sobald sie sich gegen den Tod auf-
Werk aus Sprache ist der Körper der Sprache selbst, den der Tod richtet, zeigt das Werk nicht, ohne ihm auszuweichen. Es stellte
durchquert, um ihr jenen unendlichen Raum zu eröffnen, in dem das Unendliche außerhalb seiner selbst – ein majestätisches und
die Doppel widerhallen. Und die für jedes Werk konstitutiven wirkliches Unendliches, zu dessen virtuellen, zirkulären, in einer
Formen dieser Überlagerung lassen sich zweifellos nur in diesen schönen geschlossenen Form vollendeten Spiegel es sich machte.
leicht danebenliegenden, fragilen und etwas missgestalteten Figu- Schreiben ist heute seiner Quelle unendlich nahe, das heißt die-
ren entziffern, in denen die Verdopplung sich zeigt. Ihre genaue sem beunruhigenden Lärm, auf dem Grund der Sprache, der ver-
Auflistung, ihre Klassifizierung und die Untersuchung ihrer kündet, sobald man nur ein wenig das Ohr spitzt, wovor man sich
Funktions- oder Transformationsgesetze könnten eine Einfüh- schützt und woran man sich zugleich wendet. Wie das Kafkasche
rung in eine formale Ontologie der Literatur sein. Tier hört die Sprache jetzt auf dem Grunde ihres Baus diesen
Ich habe den Eindruck, dass es in dieser Beziehung der Sprache unvermeidlichen und weiter anwachsenden Lärm. Und um sich
zu ihrer endlosen Wiederholung am Ende des 18. Jahrhunderts zu davor zu schützen, muss sie eben dessen Bewegungen folgen, muss
einer Veränderung gekommen ist – die in etwa mit dem Moment sie sich ihren treuen Feind erschaffen, darf sie zwischen ihnen nur
zusammenfällt, da das Werk aus Sprache zu dem geworden ist, mehr eine dünne Wand zulassen, die sowohl durchscheinend als
was es jetzt für uns ist, nämlich zu Literatur. Es ist der Moment auch unzerbrechlich ist. Man muss ohne Unterlass sprechen, so
(bzw. nur wenig fehlt daran), da Hölderlin beinahe von der Er- lange und so laut wie dieser unendliche und betäubende Lärm –
kenntnis geblendet wurde, dass er nur noch in dem von der Ab- länger und lauter noch, damit man dadurch, dass die eigene Stim-
wendung der Götter gekennzeichneten Raum sprechen konnte me sich mit ihm mischt, es schafft – wenn schon nicht, ihn zum
und dass es die Sprache nur noch ihrer eigenen Macht verdankte, Schweigen zu bringen und zu bezwingen –, zumindest seine
dass sie den Tod auf Abstand halten kann. Nun zeichnete sich am Nutzlosigkeit in jenes Gemurmel ohne Ende zu verwandeln, das
Horizont diese Öffnung ab, auf die unser Sprechen unaufhörlich man Literatur nennt. Seit jenem Moment ist kein Werk mehr
weiter zuging. möglich, dessen Sinn darin bestünde, sich über sich selbst zu ver-
Lange Zeit – seit dem Erscheinen der homerischen Götter bis schließen, damit allein sein Ruhm spricht.
zum Verschwinden des Göttlichen im Empedokles-Fragment – Das gleichzeitige Erscheinen des Werkes von Sade und der
hatte sprechen, um nicht zu sterben, einen Sinn, der uns jetzt Schauerliteratur in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts mar-
fremd ist. Vom Helden oder als Held zu sprechen, so etwas wie kiert ziemlich genau dieses Datum. Es geht dabei weder um eine
ein Werk verfassen wollen, sprechen, damit die anderen unendlich Verwandtschaft in der Grausamkeit noch um die Entdeckung einer
davon sprechen, sprechen um des »Ruhmes« willen, damit stieß Verbindung zwischen der Literatur und dem Bösen. Sondern um
man auf oder gegen jenen Tod, den die Sprache aufrechterhält. etwas Dunkleres und auf den ersten Blick Paradoxes: Diese Spra-
Und wenn die heiligen Redner sprechen, um den Tod zu verkün- chen, die ständig über sich hinausweisen durch das Unzählbare
den, um den Menschen mit dem Ende zu drohen, das jeden Ruhm und das Unsagbare, durch Schauder, Bestürzung und Ekstase,
vergehen lässt, wenden sie immer noch den Tod ab und verheißen das Verstummen, die reine Gewalt, die wortlose Geste, die mit
dem Menschen eine Unsterblichkeit. Zum anderen wird damit der größten Ökonomie und der größten Präzision auf die Wirkung
gesagt, dass jedes Werk verfasst wurde, um sich zu vollenden, hin berechnet sind (so dass sie für diese Grenze der Sprache, der sie
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entgegeneilen, soweit wie möglich transparent werden und sich findet sich in diesem zweiten Diskurs, und zwar in einem anderen
dabei in ihrer Schrift allein um der Souveränität dessen willen, Modus, nicht mehr jede zukünftige Sprache, aber doch jede wirk-
was sie sagen möchten und was außerhalb der Wörter ist, an- lich gesprochene Sprache verbraucht: All das, was vor Sade und
nullieren), sind seltsamerweise Sprachen, die sich selbst in einer während seiner Zeit vom Menschen, von Gott, der Seele, dem
langsamen, peinlich genauen und ins Unendliche verlängerten Ze- Körper, dem Geschlecht, der Natur, dem Priester und der Frau
remonie repräsentieren. Diese einfachen Sprachen, Sprachen, die gedacht, gesagt, vollbracht, gewünscht, geschätzt, verhöhnt und
benennen und die zeigen, sind seltsam verdoppelte Sprachen. verdammt werden konnte, findet sich akribisch wiederholt (daher
Mit Sicherheit wird man noch viel Zeit brauchen, um zu wissen, diese endlosen Aufzählungen zu geschichtlichen oder volkskund-
was für eine Sprache die Sprache von Sade ist, so wie sie uns vor lichen Dingen, die zwar nicht den Gedankengang Sades stützen,
Augen bleibt: Ich spreche nicht davon, was das endlose Schreiben aber doch den Raum seiner Vernunft vorzeichnen) – wiederholt,
von Texten, die niemals gelesen werden konnten, für diesen ge- zusammengesetzt, auseinandergenommen, umgedreht, dann von
fangengehaltenen Mann bedeutet haben mag (ein wenig wie die neuem umgedreht, und zwar nicht mit dem Ziel einer dialekti-
Figur von Borges, die durch die Sprache einer Wiederholung, die schen Belohnung, sondern einer radikalen Ausschöpfung. Saint-
sich an niemanden richtete, die Sekunde seines Todes über jedes Fonds märchenhafte negative Kosmologie; die Bestrafung, die sie
Maß hinaus ausdehnen konnte); ich spreche von dem, was diese zum Schweigen bringt; der in den Vulkan geworfene Clairwil und
Worte gegenwärtig sind, und von der Existenz, in der sie sich bis Juliettes wortlose Apotheose bezeichnen die Momente des Aus-
hin zu uns verlängern. In dieser Sprache besteht die Anmaßung, glühens jeder Sprache. Sades unmögliches Buch steht für alle Bü-
alles zu sagen, nicht nur darin, die Verbote zu durchbrechen, cher – all jene Bücher, die es vom Anbeginn bis zum Ende aller
sondern bis ans Ende dessen zu gehen, was möglich ist. Es geht Zeiten unmöglich macht: Und unter einer leicht zu durchschau-
um die sorgfältige Aufstellung sämtlicher in Frage kommender enden Schicht sämtlicher Philosophien und sämtlicher Erzählun-
Konfigurationen, die Skizzierung, in einem systematisch transfor- gen des 18. Jahrhunderts, unter diesem gigantischen Doppel, das
mierten Netz, sämtlicher von den Kristallstrukturen des Men- nicht ohne Analogie zum Don Quijote ist, ist es die Sprache als
schen zugelassener Verzweigungen, Einfügungen und Einschach- Ganze, die sich – in einer einzigen Bewegung mit ihren zwei
telungen, um daraus die großen schillernden, beweglichen und untrennbaren Figuren, der strikten und verkehrenden Wiederho-
unendlich verlängerbaren Formationen entstehen zu lassen; es lung des bereits Gesagten und der bloßen Benennung dessen, was
ist der lange Weg in die unterirdischen Bereiche der Natur bis als Äußerstes gesagt werden kann –, als unfruchtbar erweist.
hin zum doppelten Aufblitzen des Geistes (der eine, lächerliche Das exakte Objekt des »Sadismus« ist weder der Andere noch
und dramatische, Blitz, der Justine erschlägt, und der Andere, sein Körper, noch seine Souveränität: Es ist alles, was gesagt wer-
unsichtbar, absolut langsam, der Juliette ohne Leichengrube in den konnte. Weiter noch und noch weiter im Hintergrund ist es
einer Art dem Tode asymptotischer Ewigkeit verschwinden lässt). der stumme Zirkel, in dem sich die Sprache entfaltet: Dieser gan-
All dies ist bezeichnend für das Vorhaben, jede mögliche Sprache, zen Welt gefangener Leser entzieht der gefangene Sade die Mög-
jede zukünftige Sprache auf die aktuelle Souveränität jenes ein- lichkeit zu lesen. Und zwar so weitgehend, dass es auf die Frage,
zigartigen Diskurses zurückzuführen, den vielleicht niemand je an wen Sades Werk sich richtete (und sich in unseren Tagen rich-
wird vernehmen können. Durch so viele in ihrer tatsächlichen tet), nur eine Antwort gibt: an niemanden. Sades Werk hat seinen
Existenz verbrauchte Körper hindurch werden alle noch mögli- Ort an einer eigentümlichen Grenze, die es dennoch (oder besser
chen Wörter, alle noch zur Welt kommenden Wörter von dieser aus eben diesem Grund, weil es spricht) unaufhörlich überschrei-
saturnischen Sprache verschlungen. Und wenn jede Szene in dem, tet: Es entzieht sich selbst den Raum seiner Sprache – doch so,
was sie zeigt, durch einen Beweis verdoppelt wird, der sie wie- dass es ihn in einer Geste wiederholender Aneignung mit Beschlag
derholt und sie im Element des Universellen geltend macht, so belegt; und es umgeht nicht nur seinen Sinn (was es jeden Augen-
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blick unweigerlich tut), sondern auch sein Wesen: Das unentzif- gab, der den unbestimmten Raum ihres eigenen Bildes hätte öff-
ferbare Spiel des Zweideutigen in ihm ist nichts anderes als das in nen können. Sie hob sich vielmehr zwischen dem, was sie sagte,
anderer Weise ernste Zeichen dieser Bestreitung, die es dazu nö- und dem, zu dem sie es sagte, auf, indem sie ihre Rolle einer
tigt, das Doppel jeder Sprache (die es wiederholt, indem es sie horizontalen Sprache nach den Grundsätzen einer strikten Öko-
verbrennt) und seiner eigenen Abwesenheit (die es unaufhörlich nomie absolut ernst nahm: ihre Mitteilungsfunktion.
bezeigt) zu sein. Das Werk könnte und müsste im strikten Sinne Nun werden die Schauerromane jedoch von einer ironischen
ohne Halt weitermachen, in einem Gemurmel, das keinen anderen Wendung begleitet, die sie verdoppelt und zweiteilt: Ironie, die
Seinsstatus hat als den einer solchen Bestreitung. keine historische Nachwirkung, kein Effekt einer Ermüdung ist.
Die Naivität der Schauerromane geht, dem Anschein zum Als ein recht seltenes Phänomen in der Geschichte der literari-
Trotz, in keine andere Richtung. Sie sollten gelesen werden, und schen Sprache ist die Satire genau zeitgleich mit dem, dessen lä-
sie wurden es auch: Von Coelina ou l’Enfant du mystère,1 1798 cherliches Gesicht sie spiegelt.2 Als ob gemeinsam und vom sel-
veröffentlicht, wurden bis zur Restauration eine Million und ben zentralen Punkt aus zwei komplementäre und zwillingshafte
zweihunderttausend Exemplare verkauft. Das heißt, dass jede Sprachen entstünden: die eine, die ganz in ihrer Unbefangenheit
Person, die lesen konnte und wenigstens einmal in ihrem Leben aufgeht, die andere in der Parodie; die eine, die nur für den Blick
ein Buch aufgeschlagen hatte, Coelina gelesen hatte. Es war das existiert, der sie liest, die andere, die von der schwachen Faszina-
Buch – der absolute Text, dessen Verbreitung den gesamten Be- tion des Lesers zu den behutsamen Listen des Schriftstellers zu-
reich der möglichen Leser exakt abdeckte. Ein Buch ohne eine rückführt. Doch in Wirklichkeit sind diese beiden Sprachen nicht
Spur von Taubheit und auch ohne Zukunft, da es in einer einzigen bloß zeitgleich; sie gehören zusammen, bewohnen denselben Ort,
Bewegung und beinahe unmittelbar an sein Ziel gelangte. Damit überkreuzen sich unaufhörlich, bilden ein einziges Wortgewebe
ein so neuartiges Phänomen (und ich nehme an, dass es sich nie- und gleichsam eine gegabelte, innerhalb ihrer selbst gegen sich
mals wiederholte) möglich war, bedurfte es historischer Vorberei- selbst gekehrte, sich in ihrem eigenen Körper zerstörende, in ihrer
tungen. Vor allem musste das Buch eine genau bestimmte funk- eigentlichen Dichte giftige Sprache.
tionale Effizienz besitzen, und es musste ohne Abschirmung oder Die naive Dürftigkeit der Erzählung ist vielleicht gerade an eine
Verstümmelung, ohne Halbierung mit seinem beabsichtigten Ziel heimliche Vernichtung, an einen inneren Widerspruch gebunden,
zusammenfallen, nämlich einfach gelesen zu werden. Freilich ging der das eigentliche Gesetz ihrer Entwicklung, ihres Wucherns und
es für Romane dieses Genres nicht darum, auf dem Niveau ihrer ihrer unerschöpflichen Flora ist. Dieses »Zuviel« funktioniert ein
Schreibweise [»écriture«] und in den spezifischen Dimensionen wenig wie der Exzess bei Sade: Freilich bezieht sich dieser bei
ihrer Sprache gelesen zu werden; sie wollten gelesen werden we- Sade auf den bloßen Benennungsakt und die Überlagerung jeder
gen dem, was sie erzählten, wegen der Emotion, der Furcht, dem Sprache, während das »Zuviel« sich auf zwei verschiedene Figu-
Grauen oder dem Mitleid, das die Worte durch ihre reine und ren stützt. Die eine Figur ist die der ornamentalen Plethora, bei
einfache Transparenz übermitteln sollten. Die Sprache sollte die der nichts gezeigt wird außer in der ausdrücklichen, gleichzeitigen
Dürftigkeit und die absolute Ernsthaftigkeit einer Erzählung ha- und widersprüchlichen Verwendung sämtlicher Attribute auf ein-
ben. Sie musste, indem sie sich so grau wie möglich machte, ein mal: nicht die Waffe, die das Wort durchquert und unter ihm
Ereignis bis zu seiner fügsamen und in Schrecken versetzenden sichtbar wird, sondern die harmlose vollständige Waffensamm-
Lektüre vorantragen; diese durfte nichts anderes sein als das neu- lung (nennen wir diese Figur nach einer vielfach wiederaufgenom-
trale Element des Pathetischen. Das heißt, dass sie sich niemals an menen Episode den Effekt des »blutenden Gerippes«: Die Gegen-
sich darbot; dass es in der Dichte ihres Diskurses keinen Spiegel
2 Ein Text wie der von Bellin de la Liborlière (La Nuit anglaise, Paris 1800) will für
die Schauerromane das sein, was Don Quijote für die Ritterromane war, nur dass er
1 [Ducray-Duminil, F.-G., Coelina ou l’Enfant du mystère, Paris 1798, 3 Bde.] aus exakt derselben Zeit stammt wie diese.
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wart des Todes wird durch das Weiße der klappernden Knochen eröffnen? Es ist das gegenwärtige Unendliche des Trugbildes, das
und zugleich durch das trübe und unmittelbar widersprechende in seiner Nichtigkeit die Dichte des Werkes konstituiert – diese
Rinnen des Blutes auf diesem doch glatten Skelett angezeigt). Die Abwesenheit innerhalb des Werkes, in der dieses paradoxerweise
andere Figur ist die der »unendlichen Wellenbewegung«: Jede emporragt.
Episode muss der vorangehenden gemäß dem einfachen, aber ab- *
solut notwendigen Gesetz der Steigerung folgen. Es gilt, sich
mehr und mehr dem Moment zu nähern, in dem die Sprache ihre Vielleicht hat das, was man in aller Strenge »Literatur« nennen
absolute Macht zeigen wird und aus allen ihren armseligen Wor- muss, ihren Anfang genau dort, am Ende des 18. Jahrhunderts, als
ten den Schrecken hervorgehen lässt; doch ist dieser Moment eine Sprache erschien, die in ihrem Blitzschlag jede andere Spra-
genau derjenige, in dem die Sprache eben nichts mehr wird tun che wiederaufnimmt und verzehrt und so eine dunkle, aber be-
können, in dem sie außer Atem sein wird, in dem sie wird schwei- herrschende Figur entstehen lässt, in der der Tod, der Spiegel und
gen müssen und noch nicht einmal wird sagen können, dass sie das Doppel, die unendliche Wellenbewegung der Wörter regieren.
schweigt. Endlos muss die Sprache vor dieser Grenze zurückwei- In Die Bibliothek von Babel ist alles, was gesagt werden kann,
chen, die sie mit sich führt und die sowohl ihr Reich als auch bereits gesagt worden: Man findet darin alle erdachten und vor-
dessen Grenze bezeichnet. Deshalb in jedem Roman eine expo- gestellten und sogar die denk- und vorstellbaren Sprachen; alles ist
nentielle und endlose Reihe von Episoden, darüber hinaus dann gesagt worden, selbst das, was keinen Sinn hat, so dass die Ent-
eine endlose Reihe von Romanen . . . Die Sprache des Schreckens deckung des kleinsten formalen Zusammenhangs ein höchst un-
ist, obgleich sie sich vornimmt, nur eine bestimmte Wirkung zu wahrscheinlicher Zufall ist, dessen Gunst manche, und selbst die
erzielen, einer unendlichen Verausgabung bestimmt. Sie nimmt Beharrlichsten, niemals erfahren haben.3 Und dennoch legt sich
sich selbst jede mögliche Ruhe. über all diese Wörter eine souveräne und strenge Sprache, die sie
Mit Sade und den Schauerromanen bekommen literarische erzählt und in Wirklichkeit entstehen lässt: eine gegen den Tod
Werke ein wesentliches Ungleichgewicht: Sie stürzen es in die gestemmte Sprache, denn in dem Moment, da sie in den Schacht
Notwendigkeit, stets überschüssig oder mangelhaft zu sein. Über- des unendlichen Sechsecks fällt, entdeckt der hellsichtigste (und
schüssig, da die Sprache es nicht mehr vermeiden kann, sich durch folglich letzte) der Bibliothekare, dass selbst das Unendliche der
sich selbst zu vervielfachen – als wäre sie von einer inneren Wu- Sprache sich unendlich vervielfältigt und sich ohne Ende in den
cherung befallen; sie ist im Verhältnis zu sich selbst immer jenseits zweigeteilten Figuren des Selben wiederholt.
der Grenze; sie spricht nur als Ergänzung aus einer Verschiebung Dies ist eine Konfiguration, die genau das Gegenteil der klassi-
heraus, so dass die Sprache, von der sie sich trennt und die sie schen Rhetorik darstellt. Jene teilte nicht die Gesetze oder die
wiedererlangt, selbst als unnütz, als überflüssig erscheint und nur Formen einer Sprache mit, sondern setzte zweierlei Sprechen in
dazu da ist, gestrichen zu werden. Doch eben durch diese Ver- Beziehung. Das eine, stumm, unentzifferbar, voll und ganz sich
schiebung befreit sie sich ihrerseits von jedem ontologischen Bal- selbst gegenwärtig und absolut; das andere geschwätzige, hatte
last; sie ist in solchem Maße exzessiv und von so geringer Dichte, nur mehr dieses erste Sprechen zu sprechen, gemäß den Formen,
dass sie dazu bestimmt ist, sich unendlich zu verlängern, ohne den Spielen und den Überkreuzungen, deren Raum die Entfer-
jemals die Schwere zu erlangen, die sie unbeweglich machen wür- nung des ersten und unhörbaren Textes ausmessen würde. Die
de. Doch wird damit nicht auch gesagt, dass ihr etwas fehlt, oder Rhetorik wiederholte für endliche Geschöpfe und Menschen,
dass sie vielmehr vom Doppel verletzt wird? Dass sie die Sprache welche sterben würden, unaufhörlich das Sprechen des Unend-
bestreitet, um sie im virtuellen Raum (in der wirklichen Über- lichen, das niemals vergehen würde. Jede rhetorische Figur verriet
schreitung) des Spiegels zu reproduzieren und um in diesem einen 3 [Borges, J. L., »Die Bibliothek von Babel«, in: Gesammelte Werke. Erzählungen
neuen Spiegel und noch einen weiteren und immer noch einen zu Band I, München – Wien 1981, S. 145-154.]
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eine Distanz, indem sie aber auf das erste Wort verwies, verlieh sie
dem zweiten ein vorläufiges Gewicht durch die Enthüllung: Die-
ses Wort zeigte. Heute ist der Raum der Sprache nicht mehr durch
die Rhetorik, sondern durch die Bibliothek bestimmt: Durch die
unendliche Aneinanderreihung fragmentarischer Sprachen, die an
die Stelle der Doppelkette der Rhetorik die einfache, kontinuier-
liche und eintönige Linie einer sich selbst überlassenen Sprache
setzt, einer Sprache, die dazu verurteilt ist, unendlich zu sein, weil
sie sich nicht mehr auf das Sprechen des Unendlichen stützen
kann. Doch sie findet in sich die Möglichkeit, sich zweizuteilen,
sich zu wiederholen, das vertikale System von Spiegeln, Bildern
ihrer selbst und Analogien entstehen zu lassen. Eine Sprache, die
kein Sprechen, keine Verheißung wiederholt, sondern endlos vor
dem Tod zurückweicht und dabei unaufhörlich einen Raum er-
öffnet, in dem sie stets Analogon ihrer selbst ist.
Die Bibliotheken sind der verzauberte Ort von zwei besonderen
Schwierigkeiten. Die Mathematiker und die Tyrannen haben sie
bekanntlich gelöst (doch vielleicht nicht ganz). Es gibt ein Dilem-
ma: Entweder sind alle diese Bücher bereits im Sprechen, und man
muss sie verbrennen; oder sie sind sein genaues Gegenteil, und
man muss sie ebenfalls verbrennen. Die Rhetorik ist das Mittel,
um für einen Augenblick den Brand der Bibliotheken zu bannen
(doch verheißt sie ihn auf bald, das heißt für das Ende der Zeit).
Und dies genau ist das Paradox: Wenn man ein Buch schreibt, das
alle anderen Bücher erzählt, ist es dann selbst ein Buch oder nicht?
Muss es sich selbst erzählen, als wäre es ein Buch unter den an-
deren? Und wenn es sich nicht erzählt, was kann es dann sein,
dieses Buch, dessen Absicht es war, ein Buch zu sein, und warum
sollte es sich in seinem Erzählen vergessen, wo es ihm doch auf-
gegeben ist, sämtliche Bücher mitzuteilen? Die Literatur beginnt,
wenn dieses Paradox an die Stelle jenes Dilemmas tritt, wenn das
Buch nicht mehr der Raum ist, in dem das Sprechen zur Figur
(Stilfiguren, rhetorische Figuren, Sprachfiguren) wird, sondern
der Ort, an dem die Bücher allesamt wiederaufgenommen und
verzehrt werden: ein ortloser Ort, da er alle vergangenen Bücher
in diesem unmöglichen »Band« [»volume«] unterbringt, der sein
Gemurmel unter so viele andere einreiht – nach all den anderen,
vor all den anderen.

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