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GRUNDBEGRIFFE
DER POETIK
ONUl]I
LYRISCHER STIL: ERINNERUNG
1.
«Ruhest du auch . . .»
13
De^ä delä,
Pareil ä la
Feuille morte.»
Der zweite Vers klingt fast wie der erste, nur daß der
Nasal — so scheint es — in nachlässigem Spiel verschoben ist.
Die Wörter «vais — mauvais, delä — ä la» können kaum
als Reime gelten; die Zunge bildet denselben Vokal, als ob
sie sinnlos lallen wollte. Das flüchtige «la» als Reimwort
nimmt der Sprache noch das letzte Gewicht. So werde, könnte
man sagen, etwas hoffnungslos Verspieltes hörbar; die Laute
schon flößen die Stimmung ein, die uns der Anblick im Winde
treibender herbstlicher Blätter bereitet.
Wenn wir unserm Gefühl für antike Verse trauen dür¬
fen, möchte man auch im Schluß der bekannten sapphischen
Strophe
’AoxEQsg fikv ä/.iqpi xälav osZawciv
in dem Adoneus
die klare und weite Ruhe hören, die der volle Mond über
Land und Meer legt.
In solchen Beobachtungen gefällt sich die Stilkritik. Es
läßt sich nichts dagegen sagen. Der Laie jedoch, der
schlichte Freund der Dichtung, ist unangenehm berührt. Er
meint, man wolle dem Dichter eine Absicht unterschieben,
wo das Absichtslose erfreut und jede Spur von Absicht
verstimmt.
Der sogenannte Kenner hat Grund, das Urteil des Lieb¬
habers nicht zu verachten. Denn wahr ist auch sein Erkennen
nur, solang er zugleich Liebhaber bleibt. Doch es ist viel¬
leicht möglich, den Streit zu schlichten. Der Kenner müßte
14
nur zugeben, daß hier keine Lautmalerei vorliegt. Laut¬
malerische Verse sind uns in großer Zahl aus den Epen
Homers bekannt, etwa aus Vossens Übertragung der viel¬
zitierte, vielgerühmte und angefochtene Hexameter:
«Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.»
Oder das «Dumpfhin kracht’ er im Fall», das ausgezeichnet
das griechische öovnrioev zs neod>v auf deutsch wiedergibt;
oder der Vers, der das Liebeswerben Kalypsos um Odysseus
schildert:
Alei öe [AdhaxoloL xai alixv^ioiai Xöyoiot . . .
15
Stimmung auf, der Abend in der Sprache. Deshalb muß der
Nachweis einzelner lautlicher Bezüge verstimmen. Die Deu¬
tung nimmt auseinander, was im Ursprung unbegreiflich
v
eins ist. Auch kann sie das Rätsel nie ganz entschleiern. Denn
das Einssein ist inniger, als der schärfste Spürsinn es je
bemerkt, so wie ein Antlitz sprechender ist als jeder physio-
gnomische Nachweis, eine Seele tiefer als jeder Erklärungs¬
versuch der Psychologie.
16
Das ist es, was die Übertragung in fremde Sprachen
erschwert oder ausschließt. Bei Lautmalereien mag sich
ein findiger Übersetzer vielleicht behelfen. Ganz unwahr¬
scheinlich ist es aber, daß gleichbedeutende Wörter ver¬
schiedener Sprachen dieselbe lyrische Einheit der Laute
und ihrer Bedeutung ergeben. Ein Beispiel führt Ernst
Jünger im «Lobe der Vokale»4 an. Es ist die lateinische
Strophe:
«Nulla unda
Tarn profunda
Quam vis amoris
Furibunda.»
Wenn die Gewalt der Liebe hier mit dem Wasser ver¬
glichen wird, so beschwören die Reimworte «unda, pro¬
funda, furibunda» die Brunnentiefe des Gefühls, aus der
das Unerhörte, das wir selbst nicht kennen, aufsteigen kann.
Die deutsche Übersetzung lautet:
«Keine Quelle
So tief und schnelle
Als der Liebe
Reißende Welle.»
Dem dunklen «u» entspricht das «e», dem «nd» das ver¬
doppelte «1». Wir meinen wieder, das Wasser zu hören,
aber nun nicht die Brunnentiefe, sondern die eilig strö¬
mende Flut. Und dies ist eine andere Liebe, nicht verhal¬
tene Dämonie, sondern hinreißende Leidenschaft. Dem ent¬
sprechen die neuen oder veränderten Wortbedeutungen.
«Schnelle» stand nicht im lateinischen Text, auch «reißende»
2 17
nicht. Der Einklang von Laut und Bedeutung ist also eben¬
so rein wie im Original. Das Ganze jedoch ist völlig ver¬
wandelt.
Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmög¬
lich ist, ist sie auch eher entbehrlich als die von epischen und
dramatischen Versen. Denn jedermann glaubt doch etwas
zu fühlen oder zu ahnen, auch wenn er die fremde Sprache
nicht kennt. Er hört die Laute und Rhythmen und wird,
diesseits des diskursiven Verstehens, von der Stimmung des
Dichters berührt. Die Möglichkeit einer Verständigung ohne
Begriffe deutet sich an. Ein Rest des paradiesischen Daseins
scheint im Lyrischen bewahrt.
Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte, die
auch mit Worten angestimmt werden kann. Der Dichter
selber gibt das zu im Lied, das er für den Gesang bestimmt.
Beim Singen nämlich wird die melodische Kurve, der
Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte achtet der
Hörer weniger; ja sogar der Singende selbst weiß manch¬
mal nicht recht, wovon im Text die Rede ist. Liebe — Tod
— Wasser, irgendein holdes Ungefähr genügt ihm. Da¬
zwischen singt er gedankenlos fort und ist doch völlig bei
der Sache. Er wäre verletzt, wenn ihm bedeutet würde, er
habe das Lied nicht verstanden. Freilich wird er so dem
Ganzen des Kunstwerks nicht gerecht. Denn auch die Wort-
und Satzbedeutungen gehören selbstverständlich zum Lied.
Nicht die Musik der Worte allein und nicht ihre Bedeutung
allein, sondern beide als eines machen das Wunder der
Lyrik aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich
mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt. Denn
schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen einen
gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht gelegentlich von
18
den Gesetzen und Gepflogenheiten der auf den Sinn gerich¬
teten Sprache ab, dem Tonfall oder dem Reim zulieb. Das
Endungs-e wird synkopiert, die Folge der Worte verändert,
grammatisch Unentbehrliches ausgelassen:
2* 19
bloß an die Empfindung, an die Worte, an die Verse. Daß
aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der
Situation, in den Motiven besteht, daran denkt niemand.
Und aus diesem Grunde werden denn auch Tausende von
Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die
bloß durch Empfindungen und klingende Verse eine Art
von Existenz vorspiegeln.»
20
Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus der
späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte, die er
sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet hatte.
Dieselben Begriffe wurden zur Basis der deutschen Litera¬
turgeschichte, zumal der heikle Begriff der Form, der, wie
man ihn auch wenden mag, doch immer ein zu Formendes
und eine formende Kraft oder eine Art Hohlform, mit der
geformt wird, voraussetzt. Eben dieses Gegenüber einer
Form und eines zu Formenden öffnet in lyrischer Dichtung
sich nicht. Im Epischen mag man den Ausdruck verwenden,
wo das Verschiedenste, Schmerz und Lust, Waffengetöse
und Heimkehr des Helden, in die eine «Form», den Hexa¬
meter, der unverrückbar in allem Wechsel besteht, hinein¬
gegossen wird. In lyrischer Dichtung dagegen entstehen die
Metren, Reime und Rhythmen in eins mit den Sätzen. Keins
ist vom andern zu lösen, und also sind diese nicht Inhalt und
jene nicht Form.
21
sondern jedes Lied seinen eigenen Ton, seine eigene
Strophe, sein eigenes Maß hat. So ist es denn auch in den
kurzen Liedern aus Goethes ersten Weimarer Jahren, in
«Rastlose Liebe», «Herbstgefühl», vollkommener noch in
«Wanderers Nachtlied», in «Über allen Gipfeln ist Ruh’»,
weil dieses wunderbare Gedicht nicht nur in jeder Zeile die
feinste metrische Schmiegsamkeit verrät, sondern überhaupt
in keiner metrischen Rechnung mehr aufgeht und also vor
jeglicher Nachahmung geschützt ist. Ferner wären hier
die kurzen Lieder Mörikes zu nennen: «Er ist’s», «In der
Frühe», «Septembermorgen», «Um Mitternacht», «Auf den
Tod eines Vogels».
Dennoch ist es falsch, der Einzigartigkeit des metrischen
Rahmens zu große Bedeutung beizumessen und die un¬
gezählten Gedichte, die sich in gleichgebauten jambischen
und trochäischen Versen bewegen, von vornherein minder
lyrisch zu nennen. Auch innerhalb desselben metrischen
Rahmens sind rhythmische Wandlungen möglich, die jeder
Individualität der Stimmung vollkommen Genüge tun.
Mörikes «Verborgenheit» zum Beispiel ist in den landes¬
üblichen trochäischen Vierzeilern gehalten:
22
Es ist, als ob der Dichter dem Liebeswerben der Welt zu¬
vorkommen wollte. Der dreimalige Einsatz mit «1» mag
noch das seine zu diesem Gefühl beitragen — auch hier
sind nur Andeutungen möglich; dann geht es gelassener
weiter; die Abwehr hat genügt; die Welt läßt dieses Herz
nun sein.
Ganz anders klingt die dritte Strophe:
«Oft bin ich mir kaum bewußt,
Und die helle Freude zücket
Durch die Schwere, so mich drücket,
Wonniglich in meiner Brust.»
Der metrische Rahmen bleibt sich gleich. Die Melodie ist
jetzt aber steigend. Die ersten Silben «oft» und «durch»
haben jedenfalls nicht den Nachdruck von «laß», «locket»,
«laßt». Dagegen gewinnt das Ende der Verse. «Bewußt»,
«zücket», «drücket» ist betonter als «sein», «haben» und als
die beiden letzten Silben von «Liebesgaben». Weil der Ton
sich gegen das Ende steigert, ist diese Strophe zart be¬
schwingt, während die erste mit ihrem sinkenden Ton
gleichsam zurückweicht. Hugo Wolf hat dies gewürdigt und
die dritte Strophe mit einer besonderen Melodie bedacht.
Seine Komposition enthüllt den Sinn der Verse so, daß auch
der empfindlichste Liebhaber nicht verstimmt ist.
2.
Gedichte wie «Wanderers Nachtlied», «Er ist’s», «In der
Frühe» geben den reinsten Begriff von dem, was Fr. Th.
Vischer das «punktuelle Zünden der Welt im lyrischen Sub¬
jekt» nennt6. Es sind Gedichte von wenigen Zeilen. Alle echt
lyrische Dichtung dürfte nur von beschränktem Umfang sein.
23
Das geht schon aus dem Gesagten hervor und wird sich
im Folgenden wieder bewähren. Der lyrische Dichter leistet
nichts. Er überläßt sich — das will buchstäblich verstanden
sein — der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit
Sprache wird ihm eingegeben. Er ist nicht imstande, der
einen oder der anderen gegenüberzutreten. Sein Dichten
ist unwillkürlich. «Wes das Herz voll ist, des geht der Mund
über.» Gerade Mörike hat freilich an seinen Gedichten
lange gefeilt. Doch dieses Feilen ist etwas anderes, als wenn
ein Dramatiker seinen Plan überdenkt oder wenn ein Epi¬
ker neue Episoden einfügt oder das Alte noch deutlicher
zu gestalten versucht. Der Lyriker lauscht immer wieder in
die einmal angetönte Stimmung hinein, er erzeugt sie aufs
neue, so wie er sie auch im Leser erzeugt. Und schließlich
gewinnt er den unterwegs verlorenen Zauber der Eingebung
zurück oder gibt doch mindestens — wie viele Dichter sinken¬
der Zeiten, denen ein großes Erbe ward — den Schein des
Unwillkürlichen. Conrad Ferdinand Meyer hat diesen Weg
sehr oft vom ersten Entwurf bis zur letzten Fassung zurück¬
gelegt. Meyer kann aber schwerlich als Prototyp des Lyri¬
kers gelten. Anders hat Clemens Brentano gedichtet, über
die Laute gebeugt und improvisierend zum Erstaunen der
Freunde. Wir hören es seinen Liedern an, wie sie von selber
aufklingen in ihm:
24
Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren
selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht sich ge¬
nötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen, sie aus¬
zuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu erklären.
Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und aus dem Raum
der Gnade heraus. Zwar kann er sich weiterhelfen, indem
er auf seinen in früheren Liedern geäufneten Schatz der
Sprache zurückgreift — Brentano hat dies ausgiebig getan;
aber ein Epigone, auch ein Epigone seiner selbst, täuscht
feinere Ohren nicht.
25
«Auf dem See.
Und frische Nahrung, neues Blut
Saug ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unserm Lauf.
Das Ganze ist in drei Teile gesondert: der erste, mit Auf¬
takt, klingt kedt und frisch; der zweite, mit den längeren
Versen, ist eine Erinnerung, die zurückhält; im dritten wird
die Fahrt mit leicht gedämpftem Entzücken fortgesetzt.
Dreimal findet das «punktuelle Zünden der Welt» im Dich¬
ter statt, jedesmal anders, so daß nicht eigentlich von drei
Strophen die Rede sein kann. Die Eingebungen werden nur
aneinandergereiht, weil sie sachlich und zeitlich zusammen¬
gehören. Wir wissen nun aber nicht recht, ob ein Gedicht
26
oder ob ein Zyklus vorliegt. Für einen Zyklus ist der Ab¬
stand der Teile zu gering, für ein Gedicht zu groß. Es sind
lyrische Momente einer Fahrt. Was die Momente einigt, ist
nicht in Stimmung und Sprache ausgeprägt, sondern ist ein
Zusammenhang, der nur biographisch besteht und, gebüh¬
rend erweitert, alle Gedichte Goethes als «Bruchstücke einer
Konfession» zusammenschließt.
So bleibt die Frage noch immer in Kraft: Wie kommen
längere Lieder zustande, die in sich selbst geschlossen sind?
Was lyrische Dichtung vor dem Zerfließen bewahrt, ist
einzig die Wiederholung. Doch irgendwelche Wieder¬
holung eignet aller Poesie. Die allgemeinste ist der Takt
als Wiederholung gleicher Zeiteinheiten. Hegel vergleicht
den Takt mit den Säulen- und Fensterreihen der Architek¬
tur und weist darauf hin, daß das Ich nicht unbestimmtes
Fortbestehen und haltungslose Dauer sei, sondern sich erst
durch Sammlung und Rückkehr in sich selbst als Selbst
gewinne:
«Die Befriedigung aber, welche das Ich durch den Takt
in diesem Wiederfinden seiner selbst erhält, ist um so voll¬
ständiger, als die Einheit und Gleichförmigkeit weder der
Zeit noch den Tönen als solchen zukommt, sondern etwas
ist, das nur dem Ich angehört und von demselben zu seiner
Selbstbefriedigung in die Zeit hineingesetzt ist»7.
Das gilt für den Blankvers sowohl wie für den Hexa¬
meter oder das Maß eines Liedes, sofern ein solches fixier¬
bar ist. Wenn Hegel, gemäß den Voraussetzungen seiner
Metaphysik, erklärt, die Gleichförmigkeit gehöre nicht der
Zeit und den Tönen, sondern dem Ich an, so meint er damit,
27
daß «in Wirklichkeit» ja niemals — es sei denn in metro-
nomischem Vortrag — gleiche Takte fallen, sondern die
Gleichheit nur als eine über mehr oder minder großen
Schwankungen sich behauptende regulative Idee vernom¬
men wird. Es ist der Widerstreit von Takt und Rhythmus,
wie ihn auch Heusler beschreibt8. Ob Takt und Rhythmus
bei natürlichem Vortrag sich einander nähern oder weit aus¬
einandergehen, ist wesentlich für den Stil eines Dichters. In
Schillers Balladen nähert der Rhythmus sich nicht selten so
sehr dem Takt, daß die Verse abgehackt klingen. In Mörikes
«Verborgenheit» tritt die Gleichheit des Taktes in den ein¬
zelnen Strophen hinter dem Wechsel des Rhythmus zurück
und scheint nur noch wie ein Auge zu sein, das unauffällig
die Verse bewacht und vor Auflösung behütet. In «Wan¬
derers Nachtlied» aber ist der Takt überhaupt nicht mehr
deutlich erkennbar; verschiedene Regelungen sind möglich,
je nachdem die Dauer der Silben und der Pausen einge¬
schätzt wird. Längere Gedichte in einem so vagen Tonfall
würden zerrinnen.
28
Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere
Wiederholungen möglich? Eichendorffs «Nachts» besteht aus
den beiden metrisch gleichgebauten Strophen:
O wunderbarer Nachtgesang:
Von fern im Land der Ströme Gang,
Leis Schauern in den dunklen Bäumen —
Wirrst die Gedanken mir,
Mein irres Singen hier
Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.»
29
Daß weitere, nicht mehr faßliche Unterschiede bestehen, sei
nicht bestritten. Sie kommen aber gegen die rhythmische
Ähnlichkeit im ganzen nicht auf. Das heißt: Die Musik der
ersten Strophe wird in der zweiten wiederholt. Dieselbe
Saite klingt noch einmal, gibt einen zweiten, ganz ähnlichen
Ton, dessen Schwingung sogar die Unterschiede der Aussage
zu verschleiern scheint wie ein mit Pedal gehaltener Akkord,
über dem eine Melodie sich fortsetzt.
30
allmählich schwindenden Widerstand der Rede, die sich
fortsetzen möchte, die Unterschiede der Aussage auf.
Solche Wiederholung ist einzig in lyrischer Dichtung mög¬
lich. Man sage nicht, auch in Epen Homers würden Verse
wörtlich wiederholt. Wir lesen freilich immer wieder:
31
ladenhafter Vorgang oder auch ein Erlebnis in ziemlich
saloppen Versen erzählt und gleichsam kapitelweise durch
einen bezaubernden Kehrreim abgeschlossen:
32
Brentano ahmt hier wieder die Volkslieder aus «Des Kna¬
ben Wunderhorn» nach. Und diese Beispiele zeigen wohl am
deutlichsten, was der Kehrreim leistet. Der Dichter schlägt
die Saite, die unwillkürlich in seinem Herzen erklang, mit
Wissen und Willen abermals an und lauscht dem Ton zum
zweiten, dritten, vierten und fünften Male nach. Was sich
als Sprache von ihm gelöst hat, erzeugt dieselbe Stimmung
wieder, ermöglicht eine Rückkehr in den Moment der lyri¬
schen Eingebung. Dazwischen mag er erzählen oder über die
Stimmung reflektieren. Das Ganze bleibt doch lyrisch ge¬
bunden. Der Kehrreim am Strophenende ist davon nicht
grundsätzlich unterschieden. Das Lyrische wird nur künstlich
zurückgestellt, und es ist sinngemäß, wenn der Kehrreim
dann in der Überschrift erscheint, wie in «Treulieb, Treulieb
ist verloren». Denn damit beginnt es in Wahrheit auch hier.
Der Kehrreim ist die musikalische Quelle des ganzen Ge¬
dichts.
Als Wiederholungen anderer Art sind noch die Gebilde
zu nennen, die, wie das Rondell, eine Kreisbewegung be¬
schreiben oder in irgendwelcher Verflechtung auf frühere
Verse zurückkommen:
3 33
Ganze in der Tat eine lyrische Färbung. Der Zuschauer wird
nicht hingerissen (vgl. Seite 149), sondern, ähnlich wie im
«Traumspiel», eingewiegt.
Die lyrische Wiederholung drängt sich nun weiter bis ins
einzelne vor. Ein besonders aufschlußreiches Beispiel bietet
wieder Brentano:
34
«0 Lieb, o Liebe! so golden schön ...» (Goethe)
«Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus . ..»
«Aveva gli occhi neri, neri, neri. . .»
Z* 35
Eine der wunderbarsten Proben sind die Reime und Asso¬
nanzen in Brentanos «Romanzen vom Rosenkranz»:
3.
36
hypotaktischer Fügung, von Adverbien zu Konjunktionen,
von temporalen Konjunktionen zu kausalen in Richtung auf
logische Deutlichkeit gewonnen hat.
37
«Wir wollen Erdbeern pflücken,
Es ist nicht weit zum Wald,
Und junge Rosen brechen,
Rosen verwelken so bald .. .»
38
Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere roman¬
tischer Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche Romantik
einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds und damit der
reinsten lyrischen Dichtung erreicht. Denselben Satzbau fin¬
den wir aber auch in Goethes Lied «An den Mond», in
«Über allen Gipfeln ist Ruh’», bei Verlaine, ja weiter zurück
sogar auf lyrischen Höhepunkten des Barock, des sonst so
leidenschaftlich auf logische Fugen erpichten Jahrhunderts,
wie etwa in Hofmannswaldaus Gedicht «Wo sind die Stun¬
den der süßen Zeit». Freilich ist es nicht unwillkürliches
Dichten, sondern der feinste Kunstverstand, was hier, zumal
in der letzten Strophe, die lyrische Sprache schafft:
39
Doch mit dem Begriff «parataktisch» ist lyrische Sprache
noch nicht genügend bestimmt. Denn auch die epische ist
parataktisch, so daß man ebenso sagen könnte: je paratak¬
tischer, desto epischer (vergleiche Seite 112). Im Epischen
aber sind die Teile selbständig, im Lyrischen sind sie es nicht.
Das zeigt sich in neuerer Dichtung schon orthographisch,
indem hier ganze Sätze oft nur durch Komma abgetrennt
werden. Es wäre nicht nur öde Pedanterie, sondern Stil¬
widrigkeit, in Eichendorffs «Rückkehr» oder in Goethes «An
den Mond» nach dem Duden verfahren zu wollen. Der
lyrische Fluß geriete ins Stocken. Noch deutlicher wird der
Unterschied, wenn wir etwa die Prosa Eichendorffs mit der
Prosa Kleists oder Lessings vergleichen. Hier die reichste
Interpunktion, dort eine Scheu, schärfer trennende Zeichen
zu setzen, die an die Gepflogenheit im Briefstil von Frauen
gemahnt. Es sind dieselben «Frauenzimmer», die Goethe in
den Gesprächen mit Eckermann wegen ihrer Neigung zu
bloß musikalischen Gedichten so unfreundlich tadelt. Viel¬
leicht, daß hier sich schon ein weiblicher Zug der lyrischen
Dichtung oder ein lyrischer Zug der Frau anzeigt.
Außerdem aber erhellt die Unselbständigkeit der Teile
daraus, daß oft sogar der geschlossene Satz noch einer loseren
Folge von Satzteilen oder gar einzelnen Wörtern weicht:
Der letzte Vers ist so wenig ein Satz wie gleich der Anfang
der zweiten Strophe:
«0 wunderbarer Nachtgesang:
Von fern im Land der Ströme Gang,
Leis Schauern in den dunklen Bäumen . ..»
40
Satzfragmente erscheinen hier, die nicht für sich bestehen,
sondern nur Wellen im lyrischen Strom sind: noch ehe die
Krone sich bildet, ist die Welle schon wieder zerronnen. Das
stetige Fließen verhindert den Abschluß eines einzelnen
Teils. So auch in Annette von Drostes «Im Grase»:
«Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras,
Von des Krautes Arome umhaucht,
Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut,
Wenn die Wolk’ am Azure verraucht,
Wenn aufs müde, schwimmende Haupt
Süßes Lachen gaukelt herab,
Liebe Stimme säuselt und träuft
Wie die Lindenblüt’ auf ein Grab.»
41
Nicht selten bleiben sogar nur einzelne unverbundene
Wörter zurück:
«Tote Lieb’, tote Lust, tote Zeit»
wie Wasser des Lebens zu sein, das sich der Dichter durch
die Hand rinnen läßt: Es bleibt nichts Ganzes, Umrissenes,
nur diese flüchtigen, aber ahnungsvollen Worte kehren im¬
mer wieder als Ertrag eines lyrischen Daseins.
Wo immer auch in einer Erzählung das Band des Satzes
aufgelöst ist, empfinden wir die Stelle als lyrisch, in Eichen¬
dorffs «Julian», einer kleineren Verserzählung, etwa die
Verse:
«Drauf von neuem tiefes Schweigen,
Und der Ritter schritt voll Hast. . .»
42
pretieren wollte. Der Begriff Ellipse besagt, daß in einem
grammatischen Gefüge etwas fehlt, was zwar zum Satz ge¬
hört, doch zum Verständnis entbehrlich ist. Setzt man das
Fehlende ein, so deckt sich die grammatische Fügung des
Satzes mit seiner Bedeutung. In unseren Beispielen aber
wäre es unmöglich, etwas einzusetzen, ohne den lyrischen
Sinn zu fälschen.
43
unbekümmert um die Zusammenhänge des Raumes und der
Zeit. Und wo die Bilder fester stehen, wie in vielen Ge¬
dichten Gottfried Kellers, fühlen wir uns schon weit vom
innersten Kreis des Lyrischen abgerückt. In Goethes Lied
«An den Mond» fließt räumlich und zeitlich Nächstes und
Fernstes zusammen, nicht anders in Mörikes «Im Frühling»
und in der «Durchwachten Nacht» der Droste. Wir nennen
das Sprünge der Einbildungskraft, so wie wir in der Sprache
von grammatischen Sprüngen zu reden geneigt sind. Doch
Sprünge sind solche Bewegungen nur für die Anschauung
und den denkenden Geist. Die Seele springt nicht, sondern
sie gleitet. All das Entlegene ist in ihr so nahe beisammen,
wie es sich zeigt. Und der Verbindungsglieder bedarf sie
nicht, da alle Teile in der Stimmung bereits verbunden sind.
4.
44
Eine Situation, in der diese Worte möglich sind, mag sich
der Leser beliebig aus dem Titel ergänzen, wenn er dazu ein
Bedürfnis fühlt und den Auftritt im «Leben eines Tauge¬
nichts», aus dem die Verse in die Liedersammlung über¬
gegangen sind, nicht kennt. Ein Gedicht von C. F. Meyer
hebt an:
45
Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen
Brauch, mit «und», «denn», «aber» und ähnlichen Konjunk¬
tionen beginnen:
«Und frische Nahrung neues Blut.. .»
«Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ...»
«Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne . . .»
Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen einer
Begründung auf sich hat. An irgendeiner Stelle im Lauf
eines gleichgültigen Tages verwandelt das Dasein sich in
Musik. Das ist die «Gelegenheit», die Goethe veranlaßt hat,
jedes echt lyrische Stück ein Gelegenheitsgedicht zu nennen.
Die Gelegenheit als solche steht in einem lebensgeschicht¬
lichen Zusammenhang. Sie läßt sich biographisch, psycho¬
logisch, soziologisch, historisch oder biologisch begründen.
Goethe hat in «Dichtung und Wahrheit» nachträglich selbst
die Gelegenheit zu vielen Gedichten aus dem Zusammen¬
hang seines Lebens erklärt, und die Goetheforschung hat
dies mit Sorgfalt weitergeführt. Doch die Lieder verzichten
auf eine Begründung. Sie müssen darauf verzichten, weil
der Dichter sich während der Eingebung der Herkunft selber
nicht bewußt ist; und sie dürfen darauf verzichten, weil sie
unmittelbar verständlich sind. Die unmittelbare Verständ¬
lichkeit beruht jedoch nicht etwa darauf, daß der Leser die
Worte auf eine ähnliche Gelegenheit seines eigenen Lebens
bezieht. Wo dies geschieht, findet gerade keine reine Auf¬
nahme statt. Was eine Beziehung erlaubt, wird überschätzt,
anderes mißachtet. Oft ist keine Beziehung möglich, und
wenn sie besteht, kann auch der Leser sich erst nachträglich
Rechenschaft geben, daß ihm Verse Freude oder Trost ge¬
spendet haben, weil er in ähnlichen Voraussetzungen lebt.
Bei wahrem Lesen schwingt er mit, ohne zu begreifen — im
46
weitesten Sinne des Wortes ohne Grund. Nur wer nicht mit¬
schwingt, fordert Gründe. Nur wer die Stimmung nicht un¬
mittelbar zu teilen vermag, muß sie möglich finden und ist
auf Begreiflichkeit angewiesen.
47
fast bestürzt, daß ein großer Dichter spricht. Das ist die Wir¬
kung einer Kunst, die weder, wie die epische, fesselt, noch,
wie die dramatische, aufregt und spannt. Das Lyrische wird
eingeflößt. Wenn das Einflößen gelingen soll, muß der Leser
offen sein. Er ist offen, wenn seine Seele gestimmt ist wie die
Seele des Dichters. Und also erweist sich lyrische Poesie als
Kunst der Einsamkeit, die rein nur von Gleichgestimmten
in der Einsamkeit erhört wird.
Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit Du
anredet, muß hier einbezogen werden. Ein lyrisches Du-
sagen ist nur möglich, wenn die Geliebte und der Dichter
«ein Herz und eine Seele» sind. Klage um unerwiderte Liebe
aber spricht ein Du, von dem das Ich weiß, daß es nicht
eingeht.
Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet
werden. Das ist, vom Dichter aus betrachtet, der Sinn der
Komposition eines Lieds. Schubert, Schumann, Brahms, Hugo
Wolf und Schoeck sind Meister der Kunst, in wenigen, ein¬
leitenden Takten eine Beschwörungsformel zu geben, die
alles, was nicht zum Text gehört, verbannt und die Trägheit
des Herzens löst. Sie haben mit ihrer Musik den Menschen
deutscher Zunge unermeßliche Schätze der lyrischen Dich¬
tung erschlossen, Hugo Wolf zumal, der immer auf treueste
Auslegung bedacht ist und kaum je über das Wort des Dich¬
ters hinwegmusiziert.
Aber auch im Konzertsaal bleibt der Hörer für sich allein
mit dem Lied. Es schließt die Einzelnen nicht zusammen wie
eine Symphonie von Haydn, wo jeder sich zu verbindlicher
Neigung zu seinem Nachbarn genötigt fühlt, oder wie ein
Finale Beethovens, dem man zutraut, daß es alle zum Auf¬
stehen in einem entschlossenen Ruck zu bewegen ver-
48
möchte. Der Beifall, der bei solcher Musik am Platz ist, ver¬
letzt uns nach lyrischen Liedern. Denn da waren wir einsam
und sollen nun auf einmal wieder mit anderen sein.
4 49
ist fast nicht möglich. Ja, das Urteil wird gerade den lyri¬
schen Wert kaum je betreffen und sich an anderes halten,
was in jedem Gedicht immer auch noch da ist, an die Be¬
deutung des Motivs zum Beispiel oder ein kühnes Gleichnis.
Der Unterschied zur dramatischen Poesie tritt hier ins hellste
Licht. Ein Drama von Ibsen, Hebbel oder Kleist zu ver¬
stehen und bis ins einzelne zu durchschauen, ist nicht leicht.
Doch wenn es verstanden ist, fällt die Begründung der Er¬
kenntnis nicht mehr schwer. Denn der Gegenstand selber ist
nach allen Seiten begründet. Er gehört derselben Schicht an
wie die Sprache, die erklärt und schließt. Deshalb nimmt
sich die Ästhetik mit Vorliebe des Dramas an, während die
Lyrik oft ein apokryphes Dasein führt oder mit Verlegen¬
heit behandelt wird. Daher auch die große Uneinigkeit in
der Würdigung von Gedichten. Die Meister der Klassik
und Romantik sind heute zwar allem Zweifel entrückt. Doch
über neue, noch unausgewiesene Dichter entbrennt jeweils
ein Streit, der in um so seltsamere Formen ausartet, als
niemand Gründe annehmen will. Der Unerfahrene wird
Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so fühle er
ungefähr auch; also seien die Verse gut. Doch echte lyrische
Poesie ist einzigartig, unwiederholbar. Sie schließt, ein indi-
viduum ineffabile, völlig neue, noch niemals dagewesene
Stimmungen auf. Und dennoch muß sie vernehmlich sein
und den Leser mit der Einsicht beglücken, daß seine Seele
reicher ist, als er selber bis jetzt geahnt hat. Gegensätzlichen
Ansprüchen also muß die lyrische Dichtung genügen. Erfah¬
rene Leser finden darum fast alles, was ihnen gezeigt wird,
schlecht. Stoßen sie auf ein gutes Gedicht, so möchten sie
Mirakel schreien — mit Fug und Recht! Denn ein unerklär¬
liches Wunder ist jeder echte lyrische Vers, der sich durch
50
Jahrtausende erhält. Alles Gemeinschaftbildende, wohl¬
begründete Wahrheit, überredende Kraft oder Evidenz geht
ihm ab. Er ist das Privateste, Allerbesonderste, was sich auf
Erden finden läßt. Dennoch vereint er die Hörenden inniger
als jedwedes andere Wort. Sofern aber alle echte Dichtung
in die Tiefe des Lyrischen hinabreicht und die Feuchte dieses
Ursprungs an ihr glänzt (vergleiche Seite 207), gründet alle
Dichtung im Unergründlichen, einem «sunder warumbe»
eigener Art, wo keine Erklärung der Schönheit und der
Richtigkeit mehr möglich, aber auch keine Erklärung mehr
nötig ist.
5.
Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe allen
bisher beschriebenen Stilphänomenen zugrunde liegt, so
muß sich dies Eine als solches erweisen und nennen lassen.
Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung, un¬
mittelbare Wirkung des Lyrischen ohne ausdrückliches Ver¬
stehen (1); Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehr¬
reim und Wiederholungen anderer Art (2); Verzicht auf
grammatischen, logischen und anschaulichen Zusammen¬
hang (3); Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen
Gleichgestimmten erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in
lyrischer Dichtung keinerlei Abstand besteht.
Dieser Satz will näher untersucht und durch neue Befunde
ergänzt sein.
Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen
Abstand nimmt. Es ist nicht möglich, sich mit dem Lyrischen
eines Gedichts «auseinander-zu-setzen». Es spricht uns an
oder läßt uns kühl. Wir werden davon bewegt, sofern wir
uns in der gleichen Stimmung befinden. Dann klingen die
4*
51
Verse in uns auf, als kämen sie aus der eigenen Brust. Vor
epischer und dramatischer Dichtung scheint eher Bewunde¬
rung am Platz. Der Anteil an lyrischer Poesie verdient den
intimeren Namen Liebe.
52
lyrisch. Ob bei einer Fuge ein Abstand bestehe, und welchen
besonderen Sinn dies habe, kann hier nicht ausgeführt wer¬
den. Lyrisch ist aber jene Musik, die Schiller in der Schrift
vom Erhabenen mit so scharfen Worten verurteilt:
Und lyrisch ist jene Musik der Sprache, die Herder, ganz
ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten Worten be¬
schreibt:
«Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge
der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde
Stimme — was weiß ich mehr? Bei Kindern und dem Volk
der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefühl, bei
Kranken, Einsamen, Betrübten, würken sie tausendmal mehr,
53
als die Wahrheit selbst würken würde, wenn ihre leise,
feine Stimme vom Himmel tönte. Diese Worte, dieser Ton,
die Wendung dieser grausenden Romanze usw. drangen in
unsrer Kindheit, da wir sie das erstemal hörten, ich weiß
nicht, mit welchem Heere von Nebenbegriffen des Schau¬
ders, der Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude in
unsre Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Gei¬
stern stehen sie alle mit Einmal in ihrer dunklen Majestät
aus dem Grabe der Seele auf. Sie verdunkeln den reinen,
hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden
konnte: das Wort ist weg, und der Ton der Empfindung
tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der Leichtsinnige
grauset und zittert — nicht über Gedanken, sondern über
Silben, über Töne der Kindheit; und es war Zauberkraft des
Redners, des Dichters, uns wieder zum Kinde zu machen.
Kein Bedacht, keine Überlegung, das bloße Naturgesetz lag
zum Grunde: <Ton der Empfindung soll das sympathetische
Geschöpf in denselben Ton versetzen!)»14
54
Rechenschaft über soeben verbrachte Stunden ablegt. Nur
scheinbar, nur in der Zeit, die nach der Uhr gemessen wird,
liegt das Thema hier näher als in der Selbstbiographie.
Denn wer ein Tagebuch schreibt, macht sich zum Gegen¬
stand einer Reflexion. Er reflektiert, er beugt sich auf das
eben Vergangene zurück. Damit er sich zurückbeugen kann,
muß er sich vorher weggebeugt haben. Und in der Tat! Der
Begriff bewährt sich in wörtlichster Bedeutung. Der Tage¬
buchschreiber befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand
nimmt und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht,
spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch aus.
55
unbegriffen bewegt es sich noch und bewegt den Dichter
und uns mit jener Magie, die Goethes Lied «An den Mond»
ausstrahlt, die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken»
preist:
«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,
Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,
Wo die Silbersaite, angeschlagen,
Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,
Der mein Leben lang,
Erst heut noch, widerklang,
Ob die Saite längst zerrissen schon.»
56
innerung das Gedächtnis nach; wir können sagen, wo dieser
Duft uns früher einmal die Sinne betäubte. Daß Düfte so
sehr der Erinnerung und so wenig dem Gedächtnis gehören,
hängt zweifellos damit zusammen, daß wir sie nicht gestal¬
ten, ja oft genug sogar kaum benennen können. Ungestal¬
tet, unbenannt, werden sie nicht zu Gegenständen. Und nur
von dem, was Anschauung oder Begriff zum Gegenstand
macht, sind wir frei. Nur dazu haben wir «Stellung be¬
zogen» 16.
Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er gleitet
mit im Strom des Daseins. Das Momentane gewinnt für ihn
eine ausschließliche Mächtigkeit — jetzt dieser Ton, jetzt
wieder ein andrer. Jeder Vers erfüllt ihn so, daß er nicht
angeben kann, wie das Spätere sich zum Früheren verhält.
Wo deshalb ein Zusammenhang ausdrücklich hergestellt,
Konturen ausgezogen oder gar Teile durch logische Kon¬
junktionen, wie «weil», «demnach» aufeinander bezogen
werden, da ist das Gleiten unterbrochen. Wir fühlen uns
ernüchtert oder, was dasselbe heißt, unbewegt, ans feste
Ufer abgesetzt, da wir uns doch lieber vom Flüssigen hätten
weitertragen lassen und dazu eingeladen waren.
57
So hat Goethe «Lied und Gebilde» einander gegenüber¬
gestellt. Wenn die dritte Strophe dann freilich vom geball¬
ten Wasser in der reinen Hand des Künstlers spricht, so
scheint sich klassische Ästhetik doch wieder gegen die Lyrik
behaupten zu wollen, es sei denn, der Vers bedeute nur das
Wunder, daß dies Flüssige in der Lyrik dennoch Sprache
werden kann, ein Rätsel, an dessen Lösung sich erst ein
späterer Abschnitt versuchen wird. Hier genügt uns, einzu¬
sehen, daß die Ungehörigkeit des Begriffs der Form, die
parataktische Folge ohne scharfe Begrenzung der Teile, die
Nötigung, durch den Kehrreim und Wiederholungen ande¬
rer Art die sonst unerreichbare Einheit zu gewinnen, sich
wieder aus dem Fehlen des Abstands begreift, das alle
lyrischen Phänomene charakterisiert.
58
ein. So wird etwa die Objektivität des Epos dahin aus¬
gelegt, daß es die Wirklichkeit darstelle, wie sie unabhängig
von der Person des Dichters bestehe. «Objektiv» heißt dann
soviel wie «sachlich» und weiterhin «allgemeingültig». Die
Lyrik dagegen soll die Spiegelung der Dinge und Ereig¬
nisse im individuellen Bewußtsein zeigen. Schon hier ver¬
wirren sich die Begriffe. Wenn «unabhängig von der Per¬
son» so viel wie «an sich» bedeuten soll, so ist die Bestim¬
mung offenbar falsch. Kein Gegenstand ist «an sich» zu¬
gänglich. Gerade weil er Gegenstand ist, gegenüber steht,
kann er nur von einem Standpunkt aus betrachtet werden,
in einer Perspektive, die eben die Perspektive des Dichters,
seiner Zeit oder seines Volkes ist (vergleiche Seite 84).
«Objektiv» ist also nicht identisch mit «unabhängig vom
Dichter».
59
jedermann gegen diese Vorstellung ereifert, sie wurzelt
tief in unserem Geist und läßt sich kaum je ganz über¬
winden. Der Anblick des Menschen, der vor uns wandelt
und körperlich scharf Umrissen ist, aus dessen Augen die
Seele leuchtet, legt sie uns immer wieder nahe. Und freilich,
ganz sinnlos ist sie nicht. Daß wir durch den Körper von
einer Außenwelt geschieden sind, ist eine Erfahrung, die
zu einer bestimmten — der epischen — Stufe gehört (ver¬
gleiche Seite 96). Im Epischen stellt sich der Körper dar.
Deshalb gehen uns im epischen Dasein die Dinge als Außen¬
welt auf. Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch
keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände,
noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt.
Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwir¬
rung verschuldet. Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist,
so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn
sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine
Innenwelt dar. Sondern «innen» und «außen», «subjektiv»
und «objektiv» sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht
geschieden.
Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese Ein¬
sicht aufblitzt, dann aber wieder von seinem Begriff der
Subjektivität verdunkelt wird. Er führt die Lyrik ein mit
den Worten:
«Die einfache Synthese des Subjekts mit dem Objekte,
worin jenes diesem sich unterordnet (im Epos), kann dem
Geiste der Kunst nicht genügen; er fordert eine weitere
Stufe, auf welcher dem Wesen nach die Welt in das Subjekt
eingeht und von ihm durchdrungen wird»17.
60
Dieser Zusatz ist bedeutend, wird aber im folgenden
kaum beachtet. Der «Eingang der Welt in das Subjekt» gilt
fast ausschließlich als Wesen der Lyrik. Ähnlich schildert er
das Gefühl in der Darstellung der Musik:
18 a. a. O. Bd. V, S. 10.
61
ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von der Stim¬
mung des Abends wie von der Stimmung der Seele redet19.
Beide sind ununterscheidbar eins. Durchaus bewährt sich
Amiels Wort «Un paysage quelconque est un etat de Tarne».
Nicht nur von Landschaften gilt dieses Wort. Alles Seiende
vielmehr ist in der Stimmung nicht Gegenstand, sondern
Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von Mensch und
Natur in der lyrischen Poesie.
62
daß man ebenso sagen könnte: der Dichter erinnert die
Natur, wie: die Natur erinnert den Dichter. Das zweite
würde vielleicht sogar der Erfahrung vieler lyrischer Dichter
mehr entsprechen als das erste. Die Gnade oder der Fluch
der Stimmung zum mindesten wäre besser gewürdigt.
63
es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.
Zwar — unser <Selbst>! Das Wort ist solch eine Metapher.
Regungen kehren zurück, die schon einmal früher hier ge¬
nistet haben. Und sind sie’s auch wirklich selber wieder? Ist
es nicht vielmehr nur ihre Brut, die von einem dunklen
Heimatgefühl hierher zurückgetrieben wird? Genug, etwas
kehrt wieder. Und etwas begegnet sich in uns mit anderem.
Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag»21.
Später wird noch hinzugefügt, daß «wir und die Welt
nichts Verschiedenes sind». Was heißt aber «Welt»? Hier
offenbar so viel wie «das Seiende insgesamt». Mit diesem
All, das ewig und göttlich ist, fühlt der Mystiker sich
identisch. Er schließt die Augen — [jlvel — vor dem Vielen,
zieht die Fülle in Eines und hebt die Zeit im Ewigen als dem
«sunder warumbe» Gottes auf.
Das «sunder warumbe» des lyrisch gestimmten Menschen
dagegen ist eng begrenzt. Er fühlt sich eins mit dieser Land¬
schaft, mit diesem Lächeln, mit diesem Ton, nicht also mit
dem Ewigen, sondern gerade mit dem Vergänglichsten. Die
Wolke zerfließt, das Lächeln erstirbt.
Und also wandelt sich auch die Seele. Der lyrische Dichter
ist bewegt, indes der Mystiker eine unanfechtbare Ruhe in
Gott bewahrt. Wohl kann es sein, daß sich die lyrische Stim¬
mung zur mystischen Ruhe klärt, wie immer im Leben eins
unmerklich ins andere übergeht. Die Wissenschaft aber, die
zur Scheidung der Begriffe genötigt und verpflichtet ist, muß
deutlich sagen, was «lyrisch», was «mystisch» heißen soll,
64
damit im fließenden, schwankenden Dasein Orientierung
möglich sei.
6.
Was hier in abstrakter Sprache ausgeführt wurde, ist den
lyrischen Dichtern längst viel unmittelbarer bekannt. Wir
müssen uns nur gewöhnen, ernst zu nehmen, was in Gedich¬
ten steht, und ein lyrisches Wort ebenso als Zeugnis des
Menschen gelten zu lassen wie eine dramatische Sentenz.
Wieder dürfen wir uns zunächst auf Vischer, den feinsten
Kenner des Lyrischen unter den Lehrern der Ästhetik, be¬
rufen. Er macht darauf aufmerksam, daß der Lyriker, um
den dunklen Seelenzustand auszusprechen, die Bilder der
leiblichen Sphäre entnehme.
5 65
«... schau ich
Flüchtig nur hinüber zu dir, versagt der
Ton in der Kehle,
Und es ist die Zunge gelähmt, ein feines
Feuer unterläuft mir die Haut urplötzlich;
Mit den Augen sehe ich nichts, ein Dröhnen
Füllt mir die Ohren,
Und der Schweiß rinnt nieder, und meinen ganzen
Leib befällt ein Zittern, und bleicher bin ich
Als das Gras, und nahe bereits dem Tode
Schein’ ich, Agallis . . .»
66
weh» oder der Wollustschauer Sapphos. Solche «Sensationen»
oder «Gefühle» sind die leibliche Realität der Stimmung, die,
diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch Schleier^
machers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben.» Der Ly¬
riker nimmt nicht Bilder aus der Sphäre des Körpers, um
etwas anderes, den Seelenzustand, auszusprechen; sondern
die Seele selbst ist leiblich und wandelt sich in den Gefühlen,
die nicht den Körper, aber den Leib heimsuchen. Auch damit
wird die Stimmung nicht ins Innere hineingenommen. Nur
der Körper ist begrenzt und stellt sich dar als eine Form, in
die man von außen eindringen kann. Leib dagegen sei die
Bezeichnung für alles, was den Abstand zwischen uns und
der Außenwelt aufhebt. Wenn Sappho der Schweiß aus¬
bricht und wenn sie der Schauer befällt, dann ist sie gerade
nicht «in sich», sondern «außer sich». Im brennenden Ein¬
geweide fühlt Mignon die Ferne des geliebten Landes. Leib¬
lich fühlen wir also nicht uns als Individualität oder als
Person oder lebensgeschichtlich bestimmtes Selbst. Wir füh¬
len die Landschaft, den Abend, die Liebste — oder, genauer
noch: Wir fühlen uns im Abend und in der Geliebten. Wir
gehen im Gefühlten auf.
5* 67
gegenwärtig»; und es läßt sich kein Unterschied ausfindig
machen zu jenen Erinnerungen des im Raume gegenwärtigen
Lebens, bei denen nun auch in der schlichten Sprache der
Dichter das Ineinander mehr oder weniger rein zum Aus¬
druck kommt.
«O Lieb’, o Liebe,
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn ...»
«Du in mir, ich in dir»: Der Dichter weiß noch, daß Ich
und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und weiß
zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt nicht gilt. So
geht es weiter. Von «Du in mir» ist der Vers von den «Fisch-
68
lein im Busen» bestimmt, von «Ich in dir» dann etwa das
Fliegen der Seele, so weit der Himmel reicht. Und wieder in
dem Gedicht «Im Frühling», wo die Wolke «mein Flügel»
wird und wo sich der Atem der Frühlingslandschaft mit
dem Atem der Seele zu einem wohligen Auf und Nieder
vereint.
69
epische Dichter ist, oft schon in jungen Jahren, ein alter
Mann. An großen Dramatikern, etwa an Kleist oder Hebbel,
erschrecken, zumal im Umgang mit Frauen, harte und
grausame Züge. Der lyrische Dichter dagegen ist «weich».
«Weich» bedeutet, daß die Konturen des Selbst, des eigenen
Daseins nicht fest sind:
70
den Namen des Felsens bei Bacharach. Ihr Name ist schmel¬
zend wie ihre Augen, und wie ihre Augen schmelzt ihr Ge¬
sang. Ein Dämon des flüssigen Elements, wohnt sie im
Strom, im Rauschen des Walds, in allem, was gleitet, wogt
und schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schim¬
mern sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist keine
Freiheit mehr, kein Eigenwille — wie denn der lyrische
Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben, außer sich,
getragen von Wogen des Gefühls.
Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische
Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch bewahrt und
so der Liebe erst Dauer verleiht23. Aber die Liebe trunkner
Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt und alles Eigene
ausschütten mag, gehört zur Sphäre des lyrischen Daseins.
Von ihr erzählt Gottfried Keller am Schluß der Novelle
«Romeo und Julia auf dem Dorfe», wo die Liebenden die
auseinandergesetzte Welt verlassen, dem gleitenden Strom
sich anvertrauen und in der Umarmung untergehen. Der
Tod und solche Liebe gehören zusammen als Untergang des
Selbst.
7.
71
nicht übereinstimmt, ist es bereits, wenn den im Abendfrie¬
den beruhigten Dichter plötzlich ein Hase aufschreckt, wenn
ihm ein Tropfen auf die Hand fällt. Der Epiker würde eine
solche Störung höchstens als Zeitverlust buchen. Der Lyriker
findet die unwiederholbare Stimmung für immer vernichtet
— eine tragikomische Gebrechlichkeit, die der Humor von
jeher bemerkt und belächelt hat, etwa in Büschs «Balduin
Bählamm», der sich in den Himmel vertieft und plötzlich
das Krabbeln des Ohrwurms spürt. Dabei bedürfte es nicht
einmal des lästigen Insekts und jener anderen lustig erdach¬
ten Unglücksfälle, um sein Gedicht zu vereiteln. Auch der
Himmel, der Mond, der Baum kann plötzlich gegenständlich
werden — er braucht nur genauer hinzusehen. Dann stimmt
die Landschaft nicht mehr und stimmt mit der Seele nicht
mehr überein. Der Mond stimmt nicht als astronomischer
Körper oder als Kraterfeld, sondern etwa als Silbergondel;
der Hügel stimmt als duftiger Streifen, der Wald als Rau¬
schen oder als Schimmern von Lichtern und Schatten, der
See als Glanz. Lyrisch ist das Flüchtigste; und wird das
Feste, Gegenständliche wahrnehmbar, so endet die flüchtigste
Dichtung, das Lied.
72
Eingewachsen Bart und Haare,
Und versteinert Brust und Krause,
Sitzt er viele hundert Jahre
Oben in der stillen Klause.
Draußen ist es still und friedlich,
Alle sind ins Tal gezogen,
Waldesvögel einsam singen
In den leeren Fensterbogen.
Eine Hochzeit fährt da unten
Auf dem Rhein im Sonnenscheine,
Musikanten spielen munter,
Und die schöne Braut die weinet.»
Das ist ein ganz beliebiger Ausschnitt aus der Stimmung
einer Landschaft. Im letzten Vers zwar scheint sich das Ge¬
fühl ein wenig zu verdichten. Vielleicht genügte das, um den
Dichter aufzuwecken und ihn etwa an die Geschichte des
Mädchens denken zu lassen. Doch es könnte noch lange so
weitergehen. Dieses Gedicht schließt nicht eigentlich ab.
Anders «Im Grase» der Annette von Droste. Nach den
ersten beiden Strophen, die zum Wunderbarsten der lyri¬
schen Weltliteratur gehören, wo die Dichterin sich mit ihrem
müden, schwimmenden Haupt in der sommermüden, schwim¬
menden Luft, das Niedersinken ihres Daseins im Nieder¬
gaukeln von Düften und Stimmen fühlt — nach diesen Stro¬
phen fährt sie fort:
«Stunden, flüchtger ihr als der Kuß
Eines Strahls auf den trauernden See . ..»
redet nun über ihr Gefühl und denkt über ihre Lage nach.
Sie verläßt damit die Sphäre des Lieds. Die zweite Hälfte
ist nüchtern und, um die Nüchternheit zu verschleiern, ein
wenig rhetorisch aufgehöht.
73
Was aber hier bedauerlich ist, weil es zu früh eintritt und
noch zu lang durchgehalten wird, das kann in wenigen
Versen oder auch nur in einer Zeile ein Gedicht unter Um¬
ständen sinnvoll beschließen. Auch dafür ist «Wanderers
Nachtlied» ein Beispiel:
Hier wird dem Dichter selbst der seelische Sinn der Abend¬
landschaft klar. Im Augenblick des Verstehens aber hört das
lyrische Dichten auf; der Zustand wird zum Gegenstand.
Auch Eichendorff sagt oft zuletzt, wo es mit der Erinnerung
hinauswill, so im «Zwielicht», wo sich als Einheit der schein¬
bar disparaten Traumbilder am Schluß, nach einem Ge¬
dankenstrich der Besinnung, plötzlich ergibt:
74
Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, wird
man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung so zu¬
sammen, weil er schließen wolle. Wo die Eingebung, das
Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt eher das Umgekehrte:
Weil der Dichter die Stimmung nun übersieht und benennen
kann, ist das Lied zu Ende.
«Wunderlicher Bau,
In sich bewegt und von sich selbst gehalten,
Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten
und Hochgebirge vor den ersten Sternen
und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,
wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»
75
möglich. Der Künstler stellt sich auf den Standpunkt, alle
Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was nicht ausgesprochen
werde, sei überhaupt keine Poesie. Er macht damit auf den
Widerspruch im Begriff des «stummen Wortes», des «unge¬
sprochenen Verses» aufmerksam und behält — als Dichter —
zweifellos recht. Der führende Dilettant jedoch hat gleich¬
falls recht, wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Spra¬
che fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:
76
die als solche ein Gegenüber bildet, und ihrer «Logik», wenn
Adyog (von Aeyro) «Zusammengerafftsein des Vielen» besagt.
Wenn er sich lyrisch äußern will, muß es ihm deshalb ge¬
lingen, gerade diese Wesenszüge der Sprache nach Möglich¬
keit zu verdunkeln. Wir haben dergleichen bemerkt in der
Auflösung des syntaktischen Gefüges (3), in der Reduktion
der Sätze auf einzelne unzusammenhängende Worte (3), in
einer Scheu vor der allzu deutlich feststellenden Kraft des
Hilfszeitworts «ist» (3), vor allem in der Musik der Sprache,
die ihre Intentionalität oder Gegenständlichkeit gleichsam
aufsaugt24. Ganz gelingt dies freilich nie, es sei denn in jenen
wenigen Silben, die nichts mehr bedeuten und nur noch klin¬
gen, wie «eia popeia, aUwov, om». Solche Silben aber er¬
geben nie und nimmer ein Gedicht, sowenig wie eine Folge
von Akkorden schon eine Symphonie, von Farbtönen ein
Gemälde ergibt. Drum, weil sogar die reinste lyrische Art,
ein Lied, schon Dichtung ist, kann selbst ein Lied die Idee des
Lyrischen nie ausschließlich realisieren. Es besteht aus Wör¬
tern, die immer zugleich Begriffe sind, nicht nur aus Silben;
aus Sätzen, die immer zugleich einen objektiven Zusammen¬
hang bedeuten, obwohl ein solcher jetzt nicht gemeint ist.
Und es beginnt und führt irgendwo hin, wenngleich ein Ziel
des Gleitens nicht in der Natur des Lyrischen liegt. In den
Gedichten, die mit einer Klärung der Gefühle enden, treten
die verschleierten Hintergründe der Sprache, zumal die be¬
grifflichen Kräfte, wieder in Erscheinung: Das lyrische
Gedicht hört auf. In den Gedichten, denen am Ende die
Sprache versagt, überbordet dagegen die Innigkeit der Seele,
die keinerlei Auseinandersetzung kennt: das lyrische Ge-
77
dicht hört auf. Lyrisches Dichten aber ist jenes an
sich unmögliche Sprechen der Seele, das nicht «beim Wort
genommen» sein will, bei dem die Sprache selber noch ihre
eigene feste Wirklichkeit scheut und lieber sich jedem lo¬
gischen und grammatischen Zugriff entzieht. Es wird sich
zeigen, daß in epischer und dramatischer Poesie die hier
verwischten Wesenszüge der Sprache deutlich ausgeprägt
sind. Und dies besagt, daß jede Dichtung an allen drei Gat¬
tungsideen mehr oder minder beteiligt ist, da sich keine, als
Sprachkunstwerk, dem vollen Wesen der Sprache ganz zu
entziehen vermag.
8.
78
nicht der Kunstverstand ein Lied herstellt — was freilich
auch möglich ist — können auch neue Nuancen nur aus neuen
Eingebungen hervorgehen.
79
Moment vergißt, der also keinen Zusammenhang herstellt,
wird auch des Widerspruchs nicht gewahr. In einem Gedicht
Brentanos heißt es:
Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütter¬
licher Schoß. Ich sehe nie genug, ich sehe viel zuviel in ihre
Augen. Das steht unvermittelt nebeneinander. Es stört den
Dichter nicht, denn er denkt nicht, und er setzt nichts voraus.
Ein einzelnes Lied beweist darum nichts. Ein Epos,
ein Drama beweist zunächst, daß sein Schöpfer eine dichte¬
rische Existenz ist. Ein einzelnes Lied dagegen, wie es in jeder
Hinsicht ein Zufall bleibt, kann auch einmal Unbegabten
gelingen. Es gibt in der deutschen Dichtung manche Zufälle
dieser Art, etwa die wenigen Lieder Luise Hensels, Ma¬
rianne von Willemers oder das «Zu spät» Friedrich Theodor
Vischers. — Doch Epen und Dramen beweisen noch mehr.
Ein Epos beweist eine Einheit des Daseins, weiterhin eine
Einheit des Volks (vergleiche Seite 131). Ein Drama kann
beweisen, daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (ver-
80
gleiche Seite 183). Epen und Dramen haben also eine ge¬
schichtliche Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es
wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe einzelner.
Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied bestimmen
lassen, wie man sich wohl aus Epen und Dramen einen Hel¬
den wählen mag. Es gibt kein Vorbild und schreckt nicht ab.
Wir finden keinen Rat bei ihm, wenn wir uns entscheiden
müssen, während uns eine Sentenz doch wohl in schwerer
Stunde stärken mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen
keine Probleme. Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer
wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches je als
Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied kann uns
trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine Geliebte als
ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu Werken und
Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher als die Frau, die
mit dem Manne dauernd verbunden ist. All dies geht daraus
hervor, daß lyrische Dichtung nichts bewältigt, daß sie keinen
Gegenstand hat, um etwas wie Kraft daran zu erproben, daß
sie, um es kurz zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.
Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des Lieds
begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts vor». Wie
sollten sie Geschichte machen oder irgend verläßlich sein?
Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir wissen nun aber, wie
die Kürze zum Wesen des Lyrischen gehört. Jedes Lied ist
kurz, weil es nur so lange dauert, als das Seiende mit dem
Dichter übereinstimmt. Das heißt jedoch mit anderen Wor¬
ten: Der lyrische Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das
Schicksal, der Widerstand eines fremden Daseins einsetzen
könnte, hört sein Dichten jeweils auf. Er bedenkt nicht, was
dieses Aufhören bedeutet; daß jenes Leben, das Musik war,
nun wieder fremd und äußerlich ist. Er spürt es wohl und
6 81
trauert darüber. Aber so lang er es spürt, vermag er sich
nicht als Dichter zu äußern. Ihm bleibt nur übrig, neue Gunst
der Übereinstimmung zu erwarten. Dann singt er abermals
einige Verse, um alsbald wieder zu verstummen. Ein unge¬
heuerliches Dasein, das die Beseligungen der Gnade mit
einer erschütternden Hilflosigkeit in allem, was Verdienst
ist, erkauft, das Glück der Übereinstimmung mit einer im
Alltag blutenden Wunde, für die auf Erden kein Heilkraut
blüht.
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