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EMIL STAIGER

GRUNDBEGRIFFE
DER POETIK

ATLANTIS VERLAG ZÜRICH


Ludwig Binswanger gewidmet

Zürich und Freiburg i. Br.


Sechste Auflage 1963
© 19+6 Atlantis Verlag AG. Zürich
Gesamtherstellung Uombach & Co GmbH Freiburg i. Br.

ONUl]I
LYRISCHER STIL: ERINNERUNG

1.

Als eines der reinsten Beispiele lyrischen Stils gilt «Wan¬


derers Nachtlied» von Goethe. Es ist schon oft beschrieben
worden, wie in den ersten beiden Versen

«Über allen Gipfeln


Ist Ruh ...»

in dem langen «u» und der folgenden Pause die schweigende


Dämmerung hörbar wird, wie in den Zeilen

«In allen Wipfeln


Spürest du . . .»

das Reimwort auf «Ruh» nicht ebenso tief beschwichtigt, weil


der Satz nicht schließt, die Stimme also gehoben bleibt, und
dies der angedeuteten letzten Regung in den Bäumen ent¬
spricht; wie endlich die Pause nach

«Warte nur, balde . . .»

gleichsam das Warten selber sei, bis im Schlußvers

«Ruhest du auch . . .»

in den beiden letzten langgezogenen Worten sich alles be¬


ruhigt, sogar das unruhigste Wesen, der Mensch.
Ähnliche Betrachtungen ließen sich anstellen über die
Strophe Verlaines:

«Et je m’en vais


Au vent mauvais,
Qui m’emporte

13
De^ä delä,
Pareil ä la
Feuille morte.»

Der zweite Vers klingt fast wie der erste, nur daß der
Nasal — so scheint es — in nachlässigem Spiel verschoben ist.
Die Wörter «vais — mauvais, delä — ä la» können kaum
als Reime gelten; die Zunge bildet denselben Vokal, als ob
sie sinnlos lallen wollte. Das flüchtige «la» als Reimwort
nimmt der Sprache noch das letzte Gewicht. So werde, könnte
man sagen, etwas hoffnungslos Verspieltes hörbar; die Laute
schon flößen die Stimmung ein, die uns der Anblick im Winde
treibender herbstlicher Blätter bereitet.
Wenn wir unserm Gefühl für antike Verse trauen dür¬
fen, möchte man auch im Schluß der bekannten sapphischen
Strophe
’AoxEQsg fikv ä/.iqpi xälav osZawciv

in dem Adoneus

Aatzf.i' ent xai y&v

die klare und weite Ruhe hören, die der volle Mond über
Land und Meer legt.
In solchen Beobachtungen gefällt sich die Stilkritik. Es
läßt sich nichts dagegen sagen. Der Laie jedoch, der
schlichte Freund der Dichtung, ist unangenehm berührt. Er
meint, man wolle dem Dichter eine Absicht unterschieben,
wo das Absichtslose erfreut und jede Spur von Absicht
verstimmt.
Der sogenannte Kenner hat Grund, das Urteil des Lieb¬
habers nicht zu verachten. Denn wahr ist auch sein Erkennen
nur, solang er zugleich Liebhaber bleibt. Doch es ist viel¬
leicht möglich, den Streit zu schlichten. Der Kenner müßte

14
nur zugeben, daß hier keine Lautmalerei vorliegt. Laut¬
malerische Verse sind uns in großer Zahl aus den Epen
Homers bekannt, etwa aus Vossens Übertragung der viel¬
zitierte, vielgerühmte und angefochtene Hexameter:
«Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.»
Oder das «Dumpfhin kracht’ er im Fall», das ausgezeichnet
das griechische öovnrioev zs neod>v auf deutsch wiedergibt;
oder der Vers, der das Liebeswerben Kalypsos um Odysseus
schildert:
Alei öe [AdhaxoloL xai alixv^ioiai Xöyoiot . . .

Hier werden lautliche Mittel der Sprache auf einen Vor¬


gang angewandt. «Anwenden auf . ..» bedeutet, daß die
Sprache und der beschriebene Vorgang voneinander ge¬
schieden sind. Wir sagen deshalb mit Recht, die Sprache
gebe den Vorgang «wieder». Der Begriff «imitatio» ist am
Platz. Das sprachliche Nachahmen ist eine Leistung, von
der sich einigermaßen Rechenschaft ablegen läßt: diese
Folge von lauter Daktylen gibt das Gepolter des Marmors
wieder, dieser Reichtum von Vokalen die Verführungs¬
künste Kalypsos. Solche Nachweise verstimmen kaum, weil
der Leser die Absicht voraussetzt oder doch immerhin für
möglich hält, und weil der Nachweis nur die Freude des
Dichters an dem, was ihm so hübsch gelungen ist, zu be¬
stätigen scheint.
Im lyrischen Stil dagegen wird nicht ein Vorgang sprach¬
lich «wieder»-gegeben. Es ist nicht so, daß in «Wanderers
Nachtlied» hier die Abendstimmung wäre, und dort die
Sprache mit ihren Lauten zur Verfügung stünde und auf den
Gegenstand angewandt würde. Sondern der Abend erklingt
als Sprache von selber; der Dichter «leistet» nichts. Es gibt
hier noch kein Gegenüber. Die Sprache geht in der Abend-

15
Stimmung auf, der Abend in der Sprache. Deshalb muß der
Nachweis einzelner lautlicher Bezüge verstimmen. Die Deu¬
tung nimmt auseinander, was im Ursprung unbegreiflich
v

eins ist. Auch kann sie das Rätsel nie ganz entschleiern. Denn
das Einssein ist inniger, als der schärfste Spürsinn es je
bemerkt, so wie ein Antlitz sprechender ist als jeder physio-
gnomische Nachweis, eine Seele tiefer als jeder Erklärungs¬
versuch der Psychologie.

Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in


dieser Einheit der Bedeutung der Worte und ihrer Musik.
Es ist eine unmittelbare Musik, während die Lautmalerei
— mutatis mutandis und ohne Werturteil — der Programm¬
musik zu vergleichen wäre. Nichts kann heikler sein als ein
solches unmittelbares Verlauten von Stimmung. Daher ist
jedes Wort, ja jede Silbe in einem lyrischen Gedicht ganz
unentbehrlich und unersetzlich. Wen es nicht ekelt, der setze
in «Wanderers Nachtlied» statt «.spürest* «merkest* ein: er
streiche nur das «e* in «Vögelein» und frage sich, ob die
Zeile damit nicht ernstlich beeinträchtigt sei. Wohl sind
nicht alle Gedichte so empfindlich wie gerade dieses. Aber
je lyrischer ein Gedicht ist. desto unantastbarer ist es. Kaum
wagt man es vorzulesen, aus Scheu, die Silben, im Wider¬
spruch zum 1 on des Dichters, zu dehnen oder zu kürzen, zu
leise oder zu stark zu betonen. Epische Hexameter sind viel
robuster. Ihr \ ortrag ist. in gewissen Grenzen wenigstens,
lernbar. Lyrische \ erse aber, wenn sie schon vorgetragen
werden sollen, tönen nur richtig, sofern sie aus tiefer Ver¬
senkung, aus einer weltabgeschiedenen Stille neu erstehen
— selbst wenn es heitere Verse sind. Sie brauchen den
Zauber der Eingebung, und alles, was den Verdacht der
Absicht erregen könnte, verstimmt auch hier.

16
Das ist es, was die Übertragung in fremde Sprachen
erschwert oder ausschließt. Bei Lautmalereien mag sich
ein findiger Übersetzer vielleicht behelfen. Ganz unwahr¬
scheinlich ist es aber, daß gleichbedeutende Wörter ver¬
schiedener Sprachen dieselbe lyrische Einheit der Laute
und ihrer Bedeutung ergeben. Ein Beispiel führt Ernst
Jünger im «Lobe der Vokale»4 an. Es ist die lateinische
Strophe:
«Nulla unda
Tarn profunda
Quam vis amoris
Furibunda.»

Wenn die Gewalt der Liebe hier mit dem Wasser ver¬
glichen wird, so beschwören die Reimworte «unda, pro¬
funda, furibunda» die Brunnentiefe des Gefühls, aus der
das Unerhörte, das wir selbst nicht kennen, aufsteigen kann.
Die deutsche Übersetzung lautet:

«Keine Quelle
So tief und schnelle
Als der Liebe
Reißende Welle.»

Dem dunklen «u» entspricht das «e», dem «nd» das ver¬
doppelte «1». Wir meinen wieder, das Wasser zu hören,
aber nun nicht die Brunnentiefe, sondern die eilig strö¬
mende Flut. Und dies ist eine andere Liebe, nicht verhal¬
tene Dämonie, sondern hinreißende Leidenschaft. Dem ent¬
sprechen die neuen oder veränderten Wortbedeutungen.
«Schnelle» stand nicht im lateinischen Text, auch «reißende»

4 In «Blätter und Steine», Hamburg 1934.

2 17
nicht. Der Einklang von Laut und Bedeutung ist also eben¬
so rein wie im Original. Das Ganze jedoch ist völlig ver¬
wandelt.
Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmög¬
lich ist, ist sie auch eher entbehrlich als die von epischen und
dramatischen Versen. Denn jedermann glaubt doch etwas
zu fühlen oder zu ahnen, auch wenn er die fremde Sprache
nicht kennt. Er hört die Laute und Rhythmen und wird,
diesseits des diskursiven Verstehens, von der Stimmung des
Dichters berührt. Die Möglichkeit einer Verständigung ohne
Begriffe deutet sich an. Ein Rest des paradiesischen Daseins
scheint im Lyrischen bewahrt.

Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte, die
auch mit Worten angestimmt werden kann. Der Dichter
selber gibt das zu im Lied, das er für den Gesang bestimmt.
Beim Singen nämlich wird die melodische Kurve, der
Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte achtet der
Hörer weniger; ja sogar der Singende selbst weiß manch¬
mal nicht recht, wovon im Text die Rede ist. Liebe — Tod
— Wasser, irgendein holdes Ungefähr genügt ihm. Da¬
zwischen singt er gedankenlos fort und ist doch völlig bei
der Sache. Er wäre verletzt, wenn ihm bedeutet würde, er
habe das Lied nicht verstanden. Freilich wird er so dem
Ganzen des Kunstwerks nicht gerecht. Denn auch die Wort-
und Satzbedeutungen gehören selbstverständlich zum Lied.
Nicht die Musik der Worte allein und nicht ihre Bedeutung
allein, sondern beide als eines machen das Wunder der
Lyrik aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich
mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt. Denn
schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen einen
gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht gelegentlich von

18
den Gesetzen und Gepflogenheiten der auf den Sinn gerich¬
teten Sprache ab, dem Tonfall oder dem Reim zulieb. Das
Endungs-e wird synkopiert, die Folge der Worte verändert,
grammatisch Unentbehrliches ausgelassen:

«Viel Wandrer lustig schwenken


Die Hüt’ im Morgenstrahl. ..»
«Weg, du Traum! so gold du bist;
Hier auch Lieb und Leben ist. . .»
«Was soll all der Schmerz und Lust?»

In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen


nimmt man es ohne Anstoß hin, weil die musikalischen
Kräftefelder, nach denen die Worte sich ordnen, offenbar
mächtiger sind als der Zwang zum grammatisch Richtigen
und Gewohnten.
Außerdem gibt es nun aber Gedichte, deren Motiv oder
Sinn sehr dürftig, sogar belanglos ist, und die doch unver-
welklich Jahrhunderte lang in der Seele des Volkes blühen.
Goethe hat dies zwar bestritten. In den Gesprächen mit
Eckermann ist einmal von serbischen Liedern die Rede5.
Eckermann freut sich an den Motiven, die Goethe in Worte
gefaßt hat: «Mädchen will den Ungeliebten nicht», «Liebes-
freuden verschwatzt», «die schöne Kellnerin; ihr Geliebter
ist nicht mit unter den Gästen». Er bemerkt dazu, die Motive
seien an sich schon so lebendig, daß er kaum noch nach dem
Gedicht verlange. Darauf gibt ihm Goethe zur Antwort:
«Sie haben ganz recht, es ist so. Aber Sie sehen daraus die
große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen will.
Unsere Frauenzimmer haben davon nun vollends keine
Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen sie und denken dabei

518. Januar 1825.

2* 19
bloß an die Empfindung, an die Worte, an die Verse. Daß
aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der
Situation, in den Motiven besteht, daran denkt niemand.
Und aus diesem Grunde werden denn auch Tausende von
Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die
bloß durch Empfindungen und klingende Verse eine Art
von Existenz vorspiegeln.»

Dieselbe Schätzung des Motivs hat Goethe auch in der


bildenden Kunst, zum Verdruß der romantischen Maler,
bezeugt. Er hat es sogar gewagt, zu erklären, erst eine Über¬
tragung in Prosa zeige, was in einem Gedicht an echtem
Leben enthalten sei. Das könnte man bei Dramen oder
epischen Werken zur Not verstehen. Die Fahrten des Odys¬
seus vermögen audi in den «Sagen des klassischen Alter¬
tums» von Schwab den Leser zu fesseln. Eine kräftige Nach¬
erzählung von Schillers «Wallenstein» wäre denkbar. Lieder
aber büßen mit den Versen das Wesentlichste ein, und
umgekehrt kann ein Nichts von Motiv in lyrischer Sprache
den Wert eines Kunstwerks ersten Ranges gewinnen. Bei
vielen Gedichten Eichendorffs hielte es schwer, ein Motiv
herauszuschälen. Und widerlegt nicht eines der berühm¬
testen Gedichte Goethes, das Lied «An den Mond», sein
schroffes Urteil? Seit über hundert Jahren wissen sich die
Kenner nicht zu einigen über die Situation, die dem Gedicht
zugrunde liegen soll. Ist es an eine Frau gerichtet, an einen
Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist, ist es ein Rollen¬
gedicht? Oder soll es vielmehr ein Zwiegesang sein? Und
wenn es ein Zwiegesang ist, wie verteilen die Strophen sich
auf die beiden Partner? Alles wurde erwogen und alles ver¬
worfen, nur das eine nicht, daß dieses unverständliche Lied
zum Schönsten der Weltliteratur gehöre.

20
Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus der
späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte, die er
sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet hatte.
Dieselben Begriffe wurden zur Basis der deutschen Litera¬
turgeschichte, zumal der heikle Begriff der Form, der, wie
man ihn auch wenden mag, doch immer ein zu Formendes
und eine formende Kraft oder eine Art Hohlform, mit der
geformt wird, voraussetzt. Eben dieses Gegenüber einer
Form und eines zu Formenden öffnet in lyrischer Dichtung
sich nicht. Im Epischen mag man den Ausdruck verwenden,
wo das Verschiedenste, Schmerz und Lust, Waffengetöse
und Heimkehr des Helden, in die eine «Form», den Hexa¬
meter, der unverrückbar in allem Wechsel besteht, hinein¬
gegossen wird. In lyrischer Dichtung dagegen entstehen die
Metren, Reime und Rhythmen in eins mit den Sätzen. Keins
ist vom andern zu lösen, und also sind diese nicht Inhalt und
jene nicht Form.

Daraus scheint nun aber zu folgen, daß in lyrischer Dich¬


tung so viele metrische Gebilde vorliegen müssen, als Stim¬
mungen ausgesprochen werden. Eine Spur davon ist aller¬
dings in der historischen Lyrik sichtbar. Der alten Poetik,
welche die Gattung nach metrischem Kennzeichen zu bestim¬
men versucht, bereitet die Lyrik nämlich gerade durch die
Verschiedenheit der Maße, «varietate carminum», Schwie¬
rigkeiten. Es bleibt ihr am Ende nichts anderes übrig, als
eben diese «varietas» kennzeichnend für die Gattung zu fin¬
den. Die Namen «Asclepiadeus», «alkäische», «sapphische»
Strophen zeigen zudem, daß, ursprünglich wenigstens, jeder
Meister des Melos seinen eigenen Ton singt, ein Ideal, das
im Mittelalter wieder zu neuer Geltung gelangt. Das Höchste
jedoch scheint erst erreicht, wenn nicht nur jeder Dichter,

21
sondern jedes Lied seinen eigenen Ton, seine eigene
Strophe, sein eigenes Maß hat. So ist es denn auch in den
kurzen Liedern aus Goethes ersten Weimarer Jahren, in
«Rastlose Liebe», «Herbstgefühl», vollkommener noch in
«Wanderers Nachtlied», in «Über allen Gipfeln ist Ruh’»,
weil dieses wunderbare Gedicht nicht nur in jeder Zeile die
feinste metrische Schmiegsamkeit verrät, sondern überhaupt
in keiner metrischen Rechnung mehr aufgeht und also vor
jeglicher Nachahmung geschützt ist. Ferner wären hier
die kurzen Lieder Mörikes zu nennen: «Er ist’s», «In der
Frühe», «Septembermorgen», «Um Mitternacht», «Auf den
Tod eines Vogels».
Dennoch ist es falsch, der Einzigartigkeit des metrischen
Rahmens zu große Bedeutung beizumessen und die un¬
gezählten Gedichte, die sich in gleichgebauten jambischen
und trochäischen Versen bewegen, von vornherein minder
lyrisch zu nennen. Auch innerhalb desselben metrischen
Rahmens sind rhythmische Wandlungen möglich, die jeder
Individualität der Stimmung vollkommen Genüge tun.
Mörikes «Verborgenheit» zum Beispiel ist in den landes¬
üblichen trochäischen Vierzeilern gehalten:

«Laß, o Welt, o laß mich sein!


Locket nicht mit Liebesgaben,
Laßt dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein!»

Dennoch stimmt der Ton vollkommen mit der Aussage über¬


ein! Eine sanft abwehrende Gebärde, ein Zurückweichen
wird vernehmlich in dem leisen Nachdruck, der auf der
ersten Silbe liegt, und in der folgenden, durch das Komma
markierten scheuen Pause:
«Laß, o Welt, o laß mich sein!»

22
Es ist, als ob der Dichter dem Liebeswerben der Welt zu¬
vorkommen wollte. Der dreimalige Einsatz mit «1» mag
noch das seine zu diesem Gefühl beitragen — auch hier
sind nur Andeutungen möglich; dann geht es gelassener
weiter; die Abwehr hat genügt; die Welt läßt dieses Herz
nun sein.
Ganz anders klingt die dritte Strophe:
«Oft bin ich mir kaum bewußt,
Und die helle Freude zücket
Durch die Schwere, so mich drücket,
Wonniglich in meiner Brust.»
Der metrische Rahmen bleibt sich gleich. Die Melodie ist
jetzt aber steigend. Die ersten Silben «oft» und «durch»
haben jedenfalls nicht den Nachdruck von «laß», «locket»,
«laßt». Dagegen gewinnt das Ende der Verse. «Bewußt»,
«zücket», «drücket» ist betonter als «sein», «haben» und als
die beiden letzten Silben von «Liebesgaben». Weil der Ton
sich gegen das Ende steigert, ist diese Strophe zart be¬
schwingt, während die erste mit ihrem sinkenden Ton
gleichsam zurückweicht. Hugo Wolf hat dies gewürdigt und
die dritte Strophe mit einer besonderen Melodie bedacht.
Seine Komposition enthüllt den Sinn der Verse so, daß auch
der empfindlichste Liebhaber nicht verstimmt ist.

2.
Gedichte wie «Wanderers Nachtlied», «Er ist’s», «In der
Frühe» geben den reinsten Begriff von dem, was Fr. Th.
Vischer das «punktuelle Zünden der Welt im lyrischen Sub¬
jekt» nennt6. Es sind Gedichte von wenigen Zeilen. Alle echt
lyrische Dichtung dürfte nur von beschränktem Umfang sein.

6 Ästhetik, 2. Aufl. München 1923, Bd. VI, S. 208.

23
Das geht schon aus dem Gesagten hervor und wird sich
im Folgenden wieder bewähren. Der lyrische Dichter leistet
nichts. Er überläßt sich — das will buchstäblich verstanden
sein — der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit
Sprache wird ihm eingegeben. Er ist nicht imstande, der
einen oder der anderen gegenüberzutreten. Sein Dichten
ist unwillkürlich. «Wes das Herz voll ist, des geht der Mund
über.» Gerade Mörike hat freilich an seinen Gedichten
lange gefeilt. Doch dieses Feilen ist etwas anderes, als wenn
ein Dramatiker seinen Plan überdenkt oder wenn ein Epi¬
ker neue Episoden einfügt oder das Alte noch deutlicher
zu gestalten versucht. Der Lyriker lauscht immer wieder in
die einmal angetönte Stimmung hinein, er erzeugt sie aufs
neue, so wie er sie auch im Leser erzeugt. Und schließlich
gewinnt er den unterwegs verlorenen Zauber der Eingebung
zurück oder gibt doch mindestens — wie viele Dichter sinken¬
der Zeiten, denen ein großes Erbe ward — den Schein des
Unwillkürlichen. Conrad Ferdinand Meyer hat diesen Weg
sehr oft vom ersten Entwurf bis zur letzten Fassung zurück¬
gelegt. Meyer kann aber schwerlich als Prototyp des Lyri¬
kers gelten. Anders hat Clemens Brentano gedichtet, über
die Laute gebeugt und improvisierend zum Erstaunen der
Freunde. Wir hören es seinen Liedern an, wie sie von selber
aufklingen in ihm:

«Von der Mauern Widerklang —


Ach! — im Herzen frägt es bang:
Ist es ihre Stimme?»
«Wie klinget die Welle!
Wie wehet ein Wind!
O selige Schwelle,
Wo wir geboren sind!»

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Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren
selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht sich ge¬
nötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen, sie aus¬
zuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu erklären.
Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und aus dem Raum
der Gnade heraus. Zwar kann er sich weiterhelfen, indem
er auf seinen in früheren Liedern geäufneten Schatz der
Sprache zurückgreift — Brentano hat dies ausgiebig getan;
aber ein Epigone, auch ein Epigone seiner selbst, täuscht
feinere Ohren nicht.

Hier meldet sich eine Not, die später genauer betrachtet


sei, wenn es gilt, zu zeigen, daß das Lyrische eine Idee ist,
die sich — nicht aus menschlicher Schwäche des Dichters,
sondern ihrem Wesen nach — als Dichtung nie rein ver¬
wirklichen läßt und des Ausgleichs durch das Epische oder
Dramatische bedarf.
Die Stimmung nämlich ist ein Moment, ein einziger Auf¬
klang, dem die Ernüchterung folgt oder wieder ein neuer
Klang. Wenn aber die Stimmungen sich aneinanderreihen,
wenn der Dichter dahintreibt im Auf und Nieder des seeli¬
schen Stroms und seine Verse limnographisch dem Wechsel
folgen, wo bleibt dann die Einheit, deren das Kunstwerk
als solches bedarf? Es gibt Gedichte dieser Art, in freien
Rhythmen, wo jede Zeile den Anschein des Unmittelbaren
hat und wo das Ganze dahinströmt, uferlos, ohne Anfang
und ohne Ende. Da wird ein Ideal des ununterbrochenen
lyrischen Daseins erstrebt, das künstlerisch nicht mehr mög¬
lich ist und zu völliger Selbstauflösung führt.
So bliebe die lyrische Dichtung also auf den engsten
Raum beschränkt? Ich füge ein Zwischenbeispiel ein, Goethes
Gedicht

25
«Auf dem See.
Und frische Nahrung, neues Blut
Saug ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unserm Lauf.

Aug, mein Aug, was sinkst du nieder


Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so gold du bist;
Hier auch Lieb und Leben ist.

Auf der Welle blinken


Tausend schwebende Sterne,
Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.»

Das Ganze ist in drei Teile gesondert: der erste, mit Auf¬
takt, klingt kedt und frisch; der zweite, mit den längeren
Versen, ist eine Erinnerung, die zurückhält; im dritten wird
die Fahrt mit leicht gedämpftem Entzücken fortgesetzt.
Dreimal findet das «punktuelle Zünden der Welt» im Dich¬
ter statt, jedesmal anders, so daß nicht eigentlich von drei
Strophen die Rede sein kann. Die Eingebungen werden nur
aneinandergereiht, weil sie sachlich und zeitlich zusammen¬
gehören. Wir wissen nun aber nicht recht, ob ein Gedicht

26
oder ob ein Zyklus vorliegt. Für einen Zyklus ist der Ab¬
stand der Teile zu gering, für ein Gedicht zu groß. Es sind
lyrische Momente einer Fahrt. Was die Momente einigt, ist
nicht in Stimmung und Sprache ausgeprägt, sondern ist ein
Zusammenhang, der nur biographisch besteht und, gebüh¬
rend erweitert, alle Gedichte Goethes als «Bruchstücke einer
Konfession» zusammenschließt.
So bleibt die Frage noch immer in Kraft: Wie kommen
längere Lieder zustande, die in sich selbst geschlossen sind?
Was lyrische Dichtung vor dem Zerfließen bewahrt, ist
einzig die Wiederholung. Doch irgendwelche Wieder¬
holung eignet aller Poesie. Die allgemeinste ist der Takt
als Wiederholung gleicher Zeiteinheiten. Hegel vergleicht
den Takt mit den Säulen- und Fensterreihen der Architek¬
tur und weist darauf hin, daß das Ich nicht unbestimmtes
Fortbestehen und haltungslose Dauer sei, sondern sich erst
durch Sammlung und Rückkehr in sich selbst als Selbst
gewinne:
«Die Befriedigung aber, welche das Ich durch den Takt
in diesem Wiederfinden seiner selbst erhält, ist um so voll¬
ständiger, als die Einheit und Gleichförmigkeit weder der
Zeit noch den Tönen als solchen zukommt, sondern etwas
ist, das nur dem Ich angehört und von demselben zu seiner
Selbstbefriedigung in die Zeit hineingesetzt ist»7.
Das gilt für den Blankvers sowohl wie für den Hexa¬
meter oder das Maß eines Liedes, sofern ein solches fixier¬
bar ist. Wenn Hegel, gemäß den Voraussetzungen seiner
Metaphysik, erklärt, die Gleichförmigkeit gehöre nicht der
Zeit und den Tönen, sondern dem Ich an, so meint er damit,

7 Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe Stuttgart 1928, Bd. XIV,


S. 161.

27
daß «in Wirklichkeit» ja niemals — es sei denn in metro-
nomischem Vortrag — gleiche Takte fallen, sondern die
Gleichheit nur als eine über mehr oder minder großen
Schwankungen sich behauptende regulative Idee vernom¬
men wird. Es ist der Widerstreit von Takt und Rhythmus,
wie ihn auch Heusler beschreibt8. Ob Takt und Rhythmus
bei natürlichem Vortrag sich einander nähern oder weit aus¬
einandergehen, ist wesentlich für den Stil eines Dichters. In
Schillers Balladen nähert der Rhythmus sich nicht selten so
sehr dem Takt, daß die Verse abgehackt klingen. In Mörikes
«Verborgenheit» tritt die Gleichheit des Taktes in den ein¬
zelnen Strophen hinter dem Wechsel des Rhythmus zurück
und scheint nur noch wie ein Auge zu sein, das unauffällig
die Verse bewacht und vor Auflösung behütet. In «Wan¬
derers Nachtlied» aber ist der Takt überhaupt nicht mehr
deutlich erkennbar; verschiedene Regelungen sind möglich,
je nachdem die Dauer der Silben und der Pausen einge¬
schätzt wird. Längere Gedichte in einem so vagen Tonfall
würden zerrinnen.

Je reiner lyrisch ein Gedicht ist, desto mehr verleugnet


es die neutrale Wiederholung des Takts, nicht in Richtung
auf die Prosa, sondern zugunsten eines im Einklang mit der
Stimmung sich wandelnden Rhythmus. Das ist nur der
metrische Ausdruck dafür, daß in lyrischer Dichtung ein Ich
und ein Gegenstand einander noch kaum gegenüberstehen.
Bei Schiller dagegen ist der Abstand besonders groß, was
der schroffen Antithese einer in allem Wandel identischen
Person und eines wandelbaren Zustands in seiner Ästhetik
entspricht.

8 Deutsche Versgeschichte, Bd. I, Berlin und Leipzig 1925, S. 17 ff.

28
Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere
Wiederholungen möglich? Eichendorffs «Nachts» besteht aus
den beiden metrisch gleichgebauten Strophen:

«Ich wandre durch die stille Nacht,


Da schleicht der Mond so heimlich sacht
Oft aus der dunklen Wolkenhülle,
Und hin und her im Tal
Erwacht die Nachtigall,
Dann wieder alles grau und stille.

O wunderbarer Nachtgesang:
Von fern im Land der Ströme Gang,
Leis Schauern in den dunklen Bäumen —
Wirrst die Gedanken mir,
Mein irres Singen hier
Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.»

Metrische Unterschiede finden sich hier so wenig wie in


den vier Strophen von Mörikes «Verborgenheit». Doch auch
in rhythmischer Hinsicht unterscheiden sich diese Strophen
kaum. Der etwas schwere Auftakt in der ersten wiederholt
sich an derselben Stelle in der zweiten:

«Oft aus der dunklen Wolkenhülle . ..»


«Leis Schauern in den dunklen Bäumen ...»

ebenso im letzten Vers der etwas leichtere, aber immer noch


fast unmerklich akzentuierte Auftakt:

«Dann wieder alles grau und stille . ..»


«I s t wie ein Rufen nur aus Träumen . . .»

Die Gewichte sind auffallend ähnlich verteilt. Einzig im


vierten Vers ist der Rhythmus empfindlich verändert:

«Und hin und her im Tal. . .»


«Wirrst die Gedanken mir . ..»

29
Daß weitere, nicht mehr faßliche Unterschiede bestehen, sei
nicht bestritten. Sie kommen aber gegen die rhythmische
Ähnlichkeit im ganzen nicht auf. Das heißt: Die Musik der
ersten Strophe wird in der zweiten wiederholt. Dieselbe
Saite klingt noch einmal, gibt einen zweiten, ganz ähnlichen
Ton, dessen Schwingung sogar die Unterschiede der Aussage
zu verschleiern scheint wie ein mit Pedal gehaltener Akkord,
über dem eine Melodie sich fortsetzt.

Noch einen Schritt weiter führt uns Mörikes «Um Mitter¬


nacht».

«Gelassen stieg die Nacht ans Land,


Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.

Das uralt alte Schlummerlied,


Sie achtets nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der llüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.»

Im selben Vers ist von dem gleichgeschwungnen Joch der


Zeit die Rede, im selben Verspaar von den Quellen; und
endlich münden die beiden Strophen sogar in dieselben
Worte aus. Die rhythmische Wiederholung hebt, wie gegen

30
allmählich schwindenden Widerstand der Rede, die sich
fortsetzen möchte, die Unterschiede der Aussage auf.
Solche Wiederholung ist einzig in lyrischer Dichtung mög¬
lich. Man sage nicht, auch in Epen Homers würden Verse
wörtlich wiederholt. Wir lesen freilich immer wieder:

«Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte»


«Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten
Mahle . ..»

Hier aber werden nur dieselben Worte, die der Dichter


schon früher brauchte, für eine neue Mahlzeit und einen
neuen Morgen gewählt. Die lyrische Wiederholung dagegen
meint mit denselben Worten nichts Neues, sondern dieselbe
einzigartige Stimmung klingt noch einmal auf.
Die verschleierte Wiederholung wie in Eichendorffs
«Nachts» kommt seltener vor und kann die lyrische Stim¬
mung höchstens über zwei, drei Strophen ausdehnen. Was
weitergeht, ermüdet. So läßt man sich in Brentanos «Spinne¬
rin» die Wiederholung das erste Mal gern gefallen; die
zweite wirkt bereits monoton. Die wörtliche Wiederholung
dagegen heißt Kehrreim und ist in jüngster und ältester
Dichtung vieler Völker üblich. Freilich sind die meisten
Kehrreime anders angeschlossen als in Mörikes «Um Mitter¬
nacht». In diesem Gedicht ist nämlich der Ton lyrisch vom
Anfang bis zum Schluß. Der Kehrreim unterscheidet sich in
seinem Aggregatzustand kaum von den ersten Versen der
Strophe. Meist aber, zumal in Volksliedern und in volks¬
liedmäßigen Gedichten, fällt er auf durch musikalische Dik¬
tion. Ja, er scheint nicht selten alles Lyrische in sich zu sam¬
meln, während die übrigen Verse mehr zum Epischen oder
Dramatischen neigen. Unzählige Beispiele gibt Brentano.
In seinen längeren Gedichten wird immer wieder ein bal-

31
ladenhafter Vorgang oder auch ein Erlebnis in ziemlich
saloppen Versen erzählt und gleichsam kapitelweise durch
einen bezaubernden Kehrreim abgeschlossen:

«O wie blinkte ihr Krönlein schön,


Eh die Sonne wollt untergehn.»

«O Stern und Blume, Geist und Kleid,


Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.»

Im Zusammenhang der Strophen:

«Ich träumte hinaus in das dunkle Tal


Auf engen Felsenstufen,
Und hab mein Liebchen ohne Zahl
Bald hier, bald da gerufen.

Treulieb, Treulieb ist verloren!


Mein lieber Hirt, nun sage mir,
Hast du Treulieb gesehen?
Sie wollte zu den Lämmern hier
Und dann zum Brunnen gehen. —
Treulieb, Treulieb ist verloren .. .»

Die wechselnden Verse solcher Lieder werden meist in


einer mehr rezitativischen Weise vorgetragen, von einem
Einzelsänger womöglich, damit die «Geschichte» verstanden
wird. Beim Kehrreim fallen die Zuhörer ein. Der Gesang
schwillt an. Das Musikalische überwiegt die Bedeutung der
Worte.

Der Kehrreim kommt aber auch am Anfang und in der


Mitte der Strophen vor:

«Nach Sevilla, nach Sevilla . ..»


«Einsam will ich untergehen ...»
«Nun soll ich in die Fremde ziehen . . .»

32
Brentano ahmt hier wieder die Volkslieder aus «Des Kna¬
ben Wunderhorn» nach. Und diese Beispiele zeigen wohl am
deutlichsten, was der Kehrreim leistet. Der Dichter schlägt
die Saite, die unwillkürlich in seinem Herzen erklang, mit
Wissen und Willen abermals an und lauscht dem Ton zum
zweiten, dritten, vierten und fünften Male nach. Was sich
als Sprache von ihm gelöst hat, erzeugt dieselbe Stimmung
wieder, ermöglicht eine Rückkehr in den Moment der lyri¬
schen Eingebung. Dazwischen mag er erzählen oder über die
Stimmung reflektieren. Das Ganze bleibt doch lyrisch ge¬
bunden. Der Kehrreim am Strophenende ist davon nicht
grundsätzlich unterschieden. Das Lyrische wird nur künstlich
zurückgestellt, und es ist sinngemäß, wenn der Kehrreim
dann in der Überschrift erscheint, wie in «Treulieb, Treulieb
ist verloren». Denn damit beginnt es in Wahrheit auch hier.
Der Kehrreim ist die musikalische Quelle des ganzen Ge¬
dichts.
Als Wiederholungen anderer Art sind noch die Gebilde
zu nennen, die, wie das Rondell, eine Kreisbewegung be¬
schreiben oder in irgendwelcher Verflechtung auf frühere
Verse zurückkommen:

«Verflossen ist das Gold der Tage,


Des Abends braun und blaue Farben:
Des Hirten sanfte Flöten starben,
Des Abends blau und braune Farben;
Verflossen ist das Gold der Tage.»

In größerem Rahmen ist Strindbergs Bühnenstück «Nach


Damaskus» so angelegt. Wenn der Dichter von der Mitte
an die Bühnenbilder in umgekehrter Folge wiederholt und
schließlich wieder zum ersten zurückkommt, gewinnt das

3 33
Ganze in der Tat eine lyrische Färbung. Der Zuschauer wird
nicht hingerissen (vgl. Seite 149), sondern, ähnlich wie im
«Traumspiel», eingewiegt.
Die lyrische Wiederholung drängt sich nun weiter bis ins
einzelne vor. Ein besonders aufschlußreiches Beispiel bietet
wieder Brentano:

«Die Welt war mir zuwider,


Die Berge lagen auf mir,
Der Himmel war mir zu nieder,
Ich sehnte mich nach dir, nach dir!
0 lieb Mädel, wie schlecht bist du!

Ich trieb wohl durch die Gassen


Zwei lange Jahre mich;
An den Ecken mußt ich passen
Und harren nur auf dich, auf dich!
O lieb Mädel, wie schlecht bist du!»

Das wiederholte «nach dir», «auf dich» leitet deutlich von


den mehr rezitativischen Versen zum Kehrreim über. Eine
Komposition drängt sich geradezu auf. Die ersten drei Verse
dürften melodisch wenig ausgeprägt sein. Der vierte würde
sich gegen den Schluß zu schmerzlich-innigem Gesang er¬
heben, zu einer Musik, die dann im Kehrreim, völlig ent¬
bunden, ausströmen könnte. Das Lyrische verdichtet sich in
dieser Strophe gegen das Ende. Es verdichtet sich immer,
wo einzelne Wörter oder Wortgruppen wiederholt sind:

«Nach seinem Lenze sucht das Herz


In einem fort, in einem fort.. .» (G. F. Meyer)

«Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut...»


(A. v. Droste)

34
«0 Lieb, o Liebe! so golden schön ...» (Goethe)
«Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus . ..»
«Aveva gli occhi neri, neri, neri. . .»

Auch solche Wiederholungen sind allein in lyrischer Spra¬


che möglich, oder, anders ausgedrückt: wo immer wir solchen
Wiederholungen begegnen, empfinden wir die Stelle als
lyrisch9. Der Sinn ist derselbe wie beim Kehrreim. Das
«punktuelle Zünden der Welt» wiederholt sich; der ange¬
schlagenen Saite lauscht der Dichter noch einmal nach.

Das leitet uns schließlich über zum Reim. Es kann sich


freilich nicht darum handeln, dem Reim, dessen Bedeutung
sich in der Geschichte der Dichtung immerzu wandelt, nach
allen Seiten gerecht zu werden. Wir müssen nur wissen, daß
seine Vieldeutigkeit die größte Vorsicht gebietet.

Der Reim kommt erst in der christlichen Dichtung auf und


scheint bestimmt, die metrische Vielgestaltigkeit der antiken
Lyrik, die allmählich schwindet, zu ersetzen. Es ist, als
würde die Musik aus einer anderen Quelle geschöpft. Ge¬
dichte, die beides verbinden, gereimte sapphische Strophen
zum Beispiel, wirken darum nicht eben erfreulich, als sei des
Guten zuviel getan. Dennoch kann der Reim, indem er das
Ende der Verse markiert, vorwiegend metrische Qualitäten
besitzen. Humboldt hat gerade dies an Schillers Versen ge¬
rühmt10. Hier aber stehen jetzt nur die Reime mit klang¬
magischer Wirkung in Frage; Reime, die also nicht so sehr
gliedern, als vielmehr magnetisch weiterziehen und über die
Unterschiede der Aussage hinwegzutäuschen geeignet sind.

9 Vgl. aber schon hier die ganz anderen Wiederholungen im patheti¬


schen Stil, Beispiele Seite 148.
10 An Schiller, 18. August 1795.

Z* 35
Eine der wunderbarsten Proben sind die Reime und Asso¬
nanzen in Brentanos «Romanzen vom Rosenkranz»:

«Allem Tagewerk sei Frieden!


Keine Axt erschall im Wald!
Alle Farbe ist geschieden,
Und es raget die Gestalt.

Tauberauschte Blumen schließen


Ihrer Kelche süßen Kranz,
Und die schlummertrunknen Wiesen
Wiegen sich in Traumes Glanz.

Wo die wilden Quellen zielen


Nieder von dem Felsenrand,
Ziehn die Hirsche frei und spielen
Freudig in dem blanken Sand . ..»

So geht es weiter, dreiundsechzig Strophen lang, in dem


immer gleichen hypnotischen Wechsel von «i» und «a». Die¬
selben Laute heben immer wieder dieselbe Stimmung her¬
auf. Und es müßte schon ein musikalisch unempfindlicher
Leser sein, der nach dem ersten Lesen anzugeben wüßte,
wovon der Dichter im einzelnen spricht. Abend — Frieden —
Schlaf: das bleibt im Gemüt erhalten als das Eine, während
das Viele darunter weiterfließt, ein unaufhaltsamer Strom.

3.

Die Einheitlichkeit der Stimmung ist im Lyrischen um so


nötiger, als der Zusammenhang, den wir sonst von einer
sprachlichen Äußerung erwarten, hier manchmal nur un¬
genau und oft genug überhaupt nicht ausgeprägt ist. Die
Sprache scheint im Lyrischen auf vieles wieder zu verzichten,
was sie in allmählicher Entwicklung von parataktischer zu

36
hypotaktischer Fügung, von Adverbien zu Konjunktionen,
von temporalen Konjunktionen zu kausalen in Richtung auf
logische Deutlichkeit gewonnen hat.

Spittelers «Bescheidenes Wünschlein» beginnt:

«Damals, ganz zuerst am Anfang,


wenn ich hätte sagen sollen,
Was, im Fall ich wünschen dürfte,
ich mir würde wünschen wollen ...»

Das ist anmutig, aber nur deshalb, weil es in freundlicher


Ironie der wahren Natur des Lyrischen spottet. Spitteier
macht aus der Not eine Tugend und unterscheidet mit über¬
triebenen logischen Konstruktionen seinen Mangel an lyri¬
scher Begabung. Doch wenn ein Liederdichter sich ernsthaft
in so deutlicher Logik ausspricht, vermissen wir an dem Lied
die Musik. Denn Denken und Singen vertragen sich nicht.
Ein Gedicht Hebbels, das «Lied» überschrieben ist, beginnt
mit den Strophen:

«Komm, wir wollen Erdbeern pflücken,


Ist es doch nicht weit zum Wald,
Wollen junge Rosen brechen,
Sie verwelken ja so bald!

Droben jene Wetterwolke,


Die dich ängstigt, fürcht ich nicht;
Nein, sie ist mir sehr willkommen,
Denn die Mittagssonne sticht.»

Die Schuld an dem frostigen Eindruck tragen vor allem die


scheinbar harmlosen Wörtlein «doch», «ja», «nein», «denn».
Fallen sie weg, so nähern sich diese belehrenden Verse schon
eher dem Lied:

37
«Wir wollen Erdbeern pflücken,
Es ist nicht weit zum Wald,
Und junge Rosen brechen,
Rosen verwelken so bald .. .»

Nicht gegen alle Konjunktionen sind Lieder gleich emp¬


findlich. Am unangenehmsten scheinen die kausalen und
finalen zu wirken. Gelegentlich ein «wenn» oder «aber» be¬
einträchtigt die Stimmung kaum. Das Selbstverständlichste
jedoch ist eine schlichte Parataxe, wie etwa in Eichendorffs
«Rückkehr»:
«Mit meinem Saitenspiele,
Das schön geklungen hat,
Komm ich durch Länder viele
Zurück in diese Stadt.

Ich ziehe durch die Gassen,


So finster ist die Nacht,
Und alles so verlassen,
Hatt’s anders mir gedacht.

Am Brunnen steh ich lange,


Der rauscht fort, wie vorher,
Kommt mancher wohl gegangen,
Es kennt mich keiner mehr.

Da hört’ ich geigen, pfeifen,


Die Fenster glänzten weit,
Dazwischen drehn und schleifen
Viel fremde, fröhliche Leut’.

Und Herz und Sinne mir brannten,


Mich trieb’s in die weite Welt,
Es spielten die Musikanten,
Da fiel ich hin im Feld.»

38
Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere roman¬
tischer Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche Romantik
einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds und damit der
reinsten lyrischen Dichtung erreicht. Denselben Satzbau fin¬
den wir aber auch in Goethes Lied «An den Mond», in
«Über allen Gipfeln ist Ruh’», bei Verlaine, ja weiter zurück
sogar auf lyrischen Höhepunkten des Barock, des sonst so
leidenschaftlich auf logische Fugen erpichten Jahrhunderts,
wie etwa in Hofmannswaldaus Gedicht «Wo sind die Stun¬
den der süßen Zeit». Freilich ist es nicht unwillkürliches
Dichten, sondern der feinste Kunstverstand, was hier, zumal
in der letzten Strophe, die lyrische Sprache schafft:

«Ich schwamm in Freude,


Der Liebe Hand
Spann mir ein Kleid von Seide,
Das Blatt hat sich gewandt,
Ich geh’ im Leide,
Ich wein’ itzund, daß Lieb’ und Sonnenschein
Stets voller Angst und Wolken sein.»

Ein einziger Nebensatz steht am Schluß. Gerade hier läßt


aber auch die lyrische Wirkung fühlbar nach und geht das
Singen in Sprechen über. Ein solches «daß» gehört offenbar
zu den unlyrischen Konjunktionen. Die Volkslieder schließen
sich hier an, und aus der Antike sei wieder Sappho erwähnt,
jener lyrische Urlaut, der aus der Ferne von zweieinhalb
Jahrtausenden als vertrautes Geheimnis herübertönt:

Aeövxe fAsv ä oeXavva


xal nXrjCaösg' iieaat de
vbxzeg, nagä d’egxez’ &ga'
eyco (5e uöva xazetidco.

39
Doch mit dem Begriff «parataktisch» ist lyrische Sprache
noch nicht genügend bestimmt. Denn auch die epische ist
parataktisch, so daß man ebenso sagen könnte: je paratak¬
tischer, desto epischer (vergleiche Seite 112). Im Epischen
aber sind die Teile selbständig, im Lyrischen sind sie es nicht.
Das zeigt sich in neuerer Dichtung schon orthographisch,
indem hier ganze Sätze oft nur durch Komma abgetrennt
werden. Es wäre nicht nur öde Pedanterie, sondern Stil¬
widrigkeit, in Eichendorffs «Rückkehr» oder in Goethes «An
den Mond» nach dem Duden verfahren zu wollen. Der
lyrische Fluß geriete ins Stocken. Noch deutlicher wird der
Unterschied, wenn wir etwa die Prosa Eichendorffs mit der
Prosa Kleists oder Lessings vergleichen. Hier die reichste
Interpunktion, dort eine Scheu, schärfer trennende Zeichen
zu setzen, die an die Gepflogenheit im Briefstil von Frauen
gemahnt. Es sind dieselben «Frauenzimmer», die Goethe in
den Gesprächen mit Eckermann wegen ihrer Neigung zu
bloß musikalischen Gedichten so unfreundlich tadelt. Viel¬
leicht, daß hier sich schon ein weiblicher Zug der lyrischen
Dichtung oder ein lyrischer Zug der Frau anzeigt.
Außerdem aber erhellt die Unselbständigkeit der Teile
daraus, daß oft sogar der geschlossene Satz noch einer loseren
Folge von Satzteilen oder gar einzelnen Wörtern weicht:

«Und hin und her im Tal


Erwacht die Nachtigall,
Dann wieder alles grau und stille . . .»

Der letzte Vers ist so wenig ein Satz wie gleich der Anfang
der zweiten Strophe:
«0 wunderbarer Nachtgesang:
Von fern im Land der Ströme Gang,
Leis Schauern in den dunklen Bäumen . ..»

40
Satzfragmente erscheinen hier, die nicht für sich bestehen,
sondern nur Wellen im lyrischen Strom sind: noch ehe die
Krone sich bildet, ist die Welle schon wieder zerronnen. Das
stetige Fließen verhindert den Abschluß eines einzelnen
Teils. So auch in Annette von Drostes «Im Grase»:
«Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras,
Von des Krautes Arome umhaucht,
Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut,
Wenn die Wolk’ am Azure verraucht,
Wenn aufs müde, schwimmende Haupt
Süßes Lachen gaukelt herab,
Liebe Stimme säuselt und träuft
Wie die Lindenblüt’ auf ein Grab.»

Oder bei Goethe:

«Dämmrung senkte sich von oben,


Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!»
Manchmal ist eine grammatische Beziehung der Teile zwar zu
finden, aber sie wird, vom unbefangenen Leser mindestens,
nicht gesucht, zum Beispiel in Eichendorffs «Wanderlied»:
«Durch Feld und Buchenhallen,
Bald singend, bald fröhlich still,
Recht lustig sei vor allen,
Wer’s Reisen wählen will!»
Das wäre grammatisch so zu fassen: Wer’s Reisen wählen
will, der sei durch Feld und Buchenhallen bald singend, bald
fröhlich still, vor allen recht lustig. — Über die Sinnlosigkeit
einer solchen Erklärung des grammatischen Sinns braucht
wohl kein Wort verloren zu werden.

41
Nicht selten bleiben sogar nur einzelne unverbundene
Wörter zurück:
«Tote Lieb’, tote Lust, tote Zeit»

steht in der zweiten Strophe von Annette von Drostes «Im


Grase» ohne jeden Bezug nach vorwärts und rückwärts. Und
vollends scheint Brentanos berühmter Kehrreim:

«O Stern und Blume, Geist und Kleid,


Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit. ..»

wie Wasser des Lebens zu sein, das sich der Dichter durch
die Hand rinnen läßt: Es bleibt nichts Ganzes, Umrissenes,
nur diese flüchtigen, aber ahnungsvollen Worte kehren im¬
mer wieder als Ertrag eines lyrischen Daseins.
Wo immer auch in einer Erzählung das Band des Satzes
aufgelöst ist, empfinden wir die Stelle als lyrisch, in Eichen¬
dorffs «Julian», einer kleineren Verserzählung, etwa die
Verse:
«Drauf von neuem tiefes Schweigen,
Und der Ritter schritt voll Hast. . .»

Oder im «Spiritus familiaris des Roßtäuschers» der Annette


von Droste:
«Tiefe tiefe Nacht, am Schreine nur der Maus geheimes
Nagen rüttelt!»
Einzig im pathetischen Stil sind gleichfalls unvollständige
Sätze und sogar einzelne Wörter möglich. Ihr Sinn ist aber
ein ganz anderer. Pathetische Unvollständigkeit bedeutet
eine Forderung (vergleiche Seite 152). Der Lyriker fordert
nichts; im Gegenteil, er gibt nach; er läßt sich treiben, wohin
die Flut der Stimmung ihn trägt.
Es hieße darum, genau genommen, diese sprachlichen
Befunde mißverstehen, wenn man sie als Ellipsen inter-

42
pretieren wollte. Der Begriff Ellipse besagt, daß in einem
grammatischen Gefüge etwas fehlt, was zwar zum Satz ge¬
hört, doch zum Verständnis entbehrlich ist. Setzt man das
Fehlende ein, so deckt sich die grammatische Fügung des
Satzes mit seiner Bedeutung. In unseren Beispielen aber
wäre es unmöglich, etwas einzusetzen, ohne den lyrischen
Sinn zu fälschen.

«Von fern im Land der Ströme Gang»:

Wird hier «rauscht» eingefügt, so gewinnt der Satz schon


eine Deutlichkeit, die der Meinung des Dichters fern liegt.
Und soll in der ersten Strophe von «Im Grase» der Haupt¬
satz zu dem Wenn-Satz dadurch gewonnen werden, daß wir
ergänzen: «Süße Ruh ist im Grase; tiefe Flut ist, wenn
die Wolk’ am Azure verraucht», so leuchtet uns ein, daß der
lyrische Ton gerade diesem «ist» widerstrebt und daß auch
dort, wo der Dichter «ist» sagt, schwerlich ein Sein im Sinne
des bestehenden Daseins gemeint sein dürfte. Ohne den
pessimistischen Klang gilt für den Lyriker Werthers Wort:
«Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht...?»
Mit anderen Worten: Es gibt für den Lyriker keine Sub¬
stanz, nur Akzidenzien, nichts Dauerndes, nur Vergängliches.
Eine Frau hat keinen «Körper» für ihn, nichts Widerstän¬
diges, keine Konturen. Sie hat vielleicht eine Glut der Augen
und einen Busen, der ihn verwirrt, aber keine Brust im
Sinne einer plastischen Form und keine fest geprägte Phy¬
siognomie. Eine Landschaft hat Farben und Lichter und
Düfte, aber keinen Boden, keine Erde als Fundament. Wenn
wir deshalb in der lyrischen Dichtung von Bildern sprechen,
so dürfen wir niemals an Gemälde, sondern höchstens an
Traumbilder denken, die auftauchen und wieder zerrinnen,

43
unbekümmert um die Zusammenhänge des Raumes und der
Zeit. Und wo die Bilder fester stehen, wie in vielen Ge¬
dichten Gottfried Kellers, fühlen wir uns schon weit vom
innersten Kreis des Lyrischen abgerückt. In Goethes Lied
«An den Mond» fließt räumlich und zeitlich Nächstes und
Fernstes zusammen, nicht anders in Mörikes «Im Frühling»
und in der «Durchwachten Nacht» der Droste. Wir nennen
das Sprünge der Einbildungskraft, so wie wir in der Sprache
von grammatischen Sprüngen zu reden geneigt sind. Doch
Sprünge sind solche Bewegungen nur für die Anschauung
und den denkenden Geist. Die Seele springt nicht, sondern
sie gleitet. All das Entlegene ist in ihr so nahe beisammen,
wie es sich zeigt. Und der Verbindungsglieder bedarf sie
nicht, da alle Teile in der Stimmung bereits verbunden sind.

4.

So wenig innerhalb eines Gedichts logische Fugen nötig


sind, so wenig bedarf das Ganze einer Begründung. In epi¬
scher Dichtung muß Wann, Wo und Wer doch einigermaßen
klargestellt sein, bevor die Geschichte anheben kann. Erst
recht setzt der Dramatiker einen Schauplatz voraus, und was
an Begründung des Ganzen noch mangelt, das trägt er nach.
Auch ein Gedicht kann zwar mit einer Art Exposition be¬
ginnen. Mörike zum Beispiel teilt gern den Anlaß eines
Gefühls mit:

«Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel. ..»

Nötig ist dies aber nicht. Eichendorffs «Gärtner» beginnt


gleich mit dem vollen Geständnis der Liebe:

«Wohin ich geh und schaue . ..»

44
Eine Situation, in der diese Worte möglich sind, mag sich
der Leser beliebig aus dem Titel ergänzen, wenn er dazu ein
Bedürfnis fühlt und den Auftritt im «Leben eines Tauge¬
nichts», aus dem die Verse in die Liedersammlung über¬
gegangen sind, nicht kennt. Ein Gedicht von C. F. Meyer
hebt an:

«Geh nicht, die Gott für mich erschuf!


Laß scharren deiner Rosse Huf
Den Reiseruf!»

Wer will eine Reise antreten? Wer versucht die Scheidende


zurückzuhalten? Wir erfahren es nur ganz unbestimmt, so,
daß viele mögliche Situationen zugrunde gelegt werden
können. Bei Marianne von Willemers Versen:

«Was bedeutet die Bewegung?


Bringt der Ost mir frohe Kunde?»

gibt die Biographie die Auskunft, daß Goethe von Frank¬


furt abgereist ist und nun der Wind wie ein Bote von ihm
herüberweht. Eine solche Auskunft mag die Freude an einem
Gedicht erhöhen. Dennoch ist sie entbehrlich und wird von
den meisten Lesern nicht verlangt. Noch weniger wird sich
jemand einfallen lassen, zu fragen, welche Himmelsrichtung
gemeint sei in Mignons Versen:

«Allein und abgetrennt


Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite.»

Mignons Lieder sind ja durchaus nicht auf den Zusammen¬


hang von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» angewiesen. Wie
viele lieben und singen sie, ohne den Roman zu kennen!

45
Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen
Brauch, mit «und», «denn», «aber» und ähnlichen Konjunk¬
tionen beginnen:
«Und frische Nahrung neues Blut.. .»
«Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ...»
«Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne . . .»
Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen einer
Begründung auf sich hat. An irgendeiner Stelle im Lauf
eines gleichgültigen Tages verwandelt das Dasein sich in
Musik. Das ist die «Gelegenheit», die Goethe veranlaßt hat,
jedes echt lyrische Stück ein Gelegenheitsgedicht zu nennen.
Die Gelegenheit als solche steht in einem lebensgeschicht¬
lichen Zusammenhang. Sie läßt sich biographisch, psycho¬
logisch, soziologisch, historisch oder biologisch begründen.
Goethe hat in «Dichtung und Wahrheit» nachträglich selbst
die Gelegenheit zu vielen Gedichten aus dem Zusammen¬
hang seines Lebens erklärt, und die Goetheforschung hat
dies mit Sorgfalt weitergeführt. Doch die Lieder verzichten
auf eine Begründung. Sie müssen darauf verzichten, weil
der Dichter sich während der Eingebung der Herkunft selber
nicht bewußt ist; und sie dürfen darauf verzichten, weil sie
unmittelbar verständlich sind. Die unmittelbare Verständ¬
lichkeit beruht jedoch nicht etwa darauf, daß der Leser die
Worte auf eine ähnliche Gelegenheit seines eigenen Lebens
bezieht. Wo dies geschieht, findet gerade keine reine Auf¬
nahme statt. Was eine Beziehung erlaubt, wird überschätzt,
anderes mißachtet. Oft ist keine Beziehung möglich, und
wenn sie besteht, kann auch der Leser sich erst nachträglich
Rechenschaft geben, daß ihm Verse Freude oder Trost ge¬
spendet haben, weil er in ähnlichen Voraussetzungen lebt.
Bei wahrem Lesen schwingt er mit, ohne zu begreifen — im

46
weitesten Sinne des Wortes ohne Grund. Nur wer nicht mit¬
schwingt, fordert Gründe. Nur wer die Stimmung nicht un¬
mittelbar zu teilen vermag, muß sie möglich finden und ist
auf Begreiflichkeit angewiesen.

Ob aber ein Leser mitschwingt, ob er die Wahrheit einer


Stimmung bestreitet, das kümmert den Lyriker selber nicht.
Denn er ist einsam, weiß von keinem Publikum und dichtet
für sich. Doch eine solche Behauptung will erläutert sein.
Auch Lyrisches wird ja veröffentlicht. Die Ernte von Jahren
wird gesammelt und einem Publikum vorgelegt. Gewiß!
Doch hier schon, in einem Gedichtband, nimmt sich, mit
Goethe zu reden, das «leidenschaftliche Gestammel geschrie¬
ben gar so seltsam aus». Und das Sammeln der losen Blätter
hat nicht nur Goethe als widersinnig empfunden. Wenn der
Gedichtband vorliegt, was fängt das Publikum damit an?
Man kann lyrische Gedichte vortragen, aber nur so, wie man
ein theatersicheres Drama auch lesen kann. Sie kommen im
Vortrag nicht zu ihrem Recht. Ein Rezitator, der vor vollem
Saal ausgesprochen lyrische Dichtung vorträgt, macht fast
immer einen peinlichen Eindruck. Schon eher möglich ist der
Vortrag im kleinen Kreis, vor Menschen, auf deren Herz wir
uns verlassen dürfen. Ganz aber blüht ein lyrisches Stück
nur in der Stille einsamen Lebens auf. Lind auch dieses Auf¬
blühen ist ein Glück, das dem Leser nicht alle Tage beschert
wird. Wir blättern in einer Liedersammlung. Nichts spricht
uns an. Die Verse klingen leer, und wir wundern uns über
den eitlen Dichter, der sich die Mühe nahm, dergleichen auf¬
zuschreiben, zusammenzustellen und seinen Zeitgenossen
oder der Nachwelt zuzumuten. Auf einmal aber, in einer
besonderen Stunde, ergreift uns eine Strophe, ein ganzes
Gedicht. Später schließen sich weitere an; und wir erkennen

47
fast bestürzt, daß ein großer Dichter spricht. Das ist die Wir¬
kung einer Kunst, die weder, wie die epische, fesselt, noch,
wie die dramatische, aufregt und spannt. Das Lyrische wird
eingeflößt. Wenn das Einflößen gelingen soll, muß der Leser
offen sein. Er ist offen, wenn seine Seele gestimmt ist wie die
Seele des Dichters. Und also erweist sich lyrische Poesie als
Kunst der Einsamkeit, die rein nur von Gleichgestimmten
in der Einsamkeit erhört wird.
Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit Du
anredet, muß hier einbezogen werden. Ein lyrisches Du-
sagen ist nur möglich, wenn die Geliebte und der Dichter
«ein Herz und eine Seele» sind. Klage um unerwiderte Liebe
aber spricht ein Du, von dem das Ich weiß, daß es nicht
eingeht.
Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet
werden. Das ist, vom Dichter aus betrachtet, der Sinn der
Komposition eines Lieds. Schubert, Schumann, Brahms, Hugo
Wolf und Schoeck sind Meister der Kunst, in wenigen, ein¬
leitenden Takten eine Beschwörungsformel zu geben, die
alles, was nicht zum Text gehört, verbannt und die Trägheit
des Herzens löst. Sie haben mit ihrer Musik den Menschen
deutscher Zunge unermeßliche Schätze der lyrischen Dich¬
tung erschlossen, Hugo Wolf zumal, der immer auf treueste
Auslegung bedacht ist und kaum je über das Wort des Dich¬
ters hinwegmusiziert.
Aber auch im Konzertsaal bleibt der Hörer für sich allein
mit dem Lied. Es schließt die Einzelnen nicht zusammen wie
eine Symphonie von Haydn, wo jeder sich zu verbindlicher
Neigung zu seinem Nachbarn genötigt fühlt, oder wie ein
Finale Beethovens, dem man zutraut, daß es alle zum Auf¬
stehen in einem entschlossenen Ruck zu bewegen ver-

48
möchte. Der Beifall, der bei solcher Musik am Platz ist, ver¬
letzt uns nach lyrischen Liedern. Denn da waren wir einsam
und sollen nun auf einmal wieder mit anderen sein.

Goethe und Schiller sind, im Bestreben, die Gattungs¬


gesetze der epischen und dramatischen Poesie zu finden, vom
Verhältnis des Rhapsoden und Mimen zum Publikum aus¬
gegangen11. Ähnliches ließe sich für die Lyrik, die sie nicht
berühren, leisten:

Wer sich an niemand wendet und nur einzelne Gleich¬


gestimmte angeht, braucht keine Überredungskunst. Die
Idee des Lyrischen schließt alle rhetorische Wirkung aus.
Wer nur von Gleichgestimmten vernommen werden soll,
braucht nicht zu begründen. Begründen in lyrischer Dich¬
tung ist unfein, so unfein, wie wenn ein Liebender der Ge¬
liebten die Liebe mit Gründen erklärt. Und ebensowenig,
wie er genötigt ist, zu begründen, muß er bestrebt sein,
dunkle Worte aufzuhellen. Wer in der gleichen Stimmung
ist, besitzt einen Schlüssel, der mehr erschließt, als geordnete
Anschauung und folgerichtiges Denken. Es wird dem Leser
zumute sein, als habe er selbst das Lied verfaßt. Er wieder¬
holte es im stillen, kann es auswendig, ohne es zu lernen,
und spricht die Verse vor sich hin, als kämen sie aus der
eigenen Brust.
Doch eben weil uns lyrische Dichtung so unmittelbar
erschlossen ist, bereitet die mittelbare, diskursive Erkennt¬
nis Schwierigkeiten. Das heißt: Es ist leicht, ein Gedicht zu
erfassen, genauer: es ist weder leicht noch schwer, sondern
es macht sich von selbst oder gar nicht. Doch über lyrische
Verse reden, sie beurteilen und das Urteil gar begründen,

11 Briefwechsel vom 23. und 26. Dezember 1797.

4 49
ist fast nicht möglich. Ja, das Urteil wird gerade den lyri¬
schen Wert kaum je betreffen und sich an anderes halten,
was in jedem Gedicht immer auch noch da ist, an die Be¬
deutung des Motivs zum Beispiel oder ein kühnes Gleichnis.
Der Unterschied zur dramatischen Poesie tritt hier ins hellste
Licht. Ein Drama von Ibsen, Hebbel oder Kleist zu ver¬
stehen und bis ins einzelne zu durchschauen, ist nicht leicht.
Doch wenn es verstanden ist, fällt die Begründung der Er¬
kenntnis nicht mehr schwer. Denn der Gegenstand selber ist
nach allen Seiten begründet. Er gehört derselben Schicht an
wie die Sprache, die erklärt und schließt. Deshalb nimmt
sich die Ästhetik mit Vorliebe des Dramas an, während die
Lyrik oft ein apokryphes Dasein führt oder mit Verlegen¬
heit behandelt wird. Daher auch die große Uneinigkeit in
der Würdigung von Gedichten. Die Meister der Klassik
und Romantik sind heute zwar allem Zweifel entrückt. Doch
über neue, noch unausgewiesene Dichter entbrennt jeweils
ein Streit, der in um so seltsamere Formen ausartet, als
niemand Gründe annehmen will. Der Unerfahrene wird
Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so fühle er
ungefähr auch; also seien die Verse gut. Doch echte lyrische
Poesie ist einzigartig, unwiederholbar. Sie schließt, ein indi-
viduum ineffabile, völlig neue, noch niemals dagewesene
Stimmungen auf. Und dennoch muß sie vernehmlich sein
und den Leser mit der Einsicht beglücken, daß seine Seele
reicher ist, als er selber bis jetzt geahnt hat. Gegensätzlichen
Ansprüchen also muß die lyrische Dichtung genügen. Erfah¬
rene Leser finden darum fast alles, was ihnen gezeigt wird,
schlecht. Stoßen sie auf ein gutes Gedicht, so möchten sie
Mirakel schreien — mit Fug und Recht! Denn ein unerklär¬
liches Wunder ist jeder echte lyrische Vers, der sich durch

50
Jahrtausende erhält. Alles Gemeinschaftbildende, wohl¬
begründete Wahrheit, überredende Kraft oder Evidenz geht
ihm ab. Er ist das Privateste, Allerbesonderste, was sich auf
Erden finden läßt. Dennoch vereint er die Hörenden inniger
als jedwedes andere Wort. Sofern aber alle echte Dichtung
in die Tiefe des Lyrischen hinabreicht und die Feuchte dieses
Ursprungs an ihr glänzt (vergleiche Seite 207), gründet alle
Dichtung im Unergründlichen, einem «sunder warumbe»
eigener Art, wo keine Erklärung der Schönheit und der
Richtigkeit mehr möglich, aber auch keine Erklärung mehr
nötig ist.

5.

Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe allen
bisher beschriebenen Stilphänomenen zugrunde liegt, so
muß sich dies Eine als solches erweisen und nennen lassen.
Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung, un¬
mittelbare Wirkung des Lyrischen ohne ausdrückliches Ver¬
stehen (1); Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehr¬
reim und Wiederholungen anderer Art (2); Verzicht auf
grammatischen, logischen und anschaulichen Zusammen¬
hang (3); Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen
Gleichgestimmten erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in
lyrischer Dichtung keinerlei Abstand besteht.
Dieser Satz will näher untersucht und durch neue Befunde
ergänzt sein.
Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen
Abstand nimmt. Es ist nicht möglich, sich mit dem Lyrischen
eines Gedichts «auseinander-zu-setzen». Es spricht uns an
oder läßt uns kühl. Wir werden davon bewegt, sofern wir
uns in der gleichen Stimmung befinden. Dann klingen die

4*
51
Verse in uns auf, als kämen sie aus der eigenen Brust. Vor
epischer und dramatischer Dichtung scheint eher Bewunde¬
rung am Platz. Der Anteil an lyrischer Poesie verdient den
intimeren Namen Liebe.

In lyrischer Poesie gewinnt die Musik der Sprache größte


Bedeutung. Musik wendet sich an das Gehör. Im Hören
setzen wir uns jedoch dem Gehörten nicht eigentlich — nicht
wie im Sehen, dem Gesehenen — gegenüber. Die Phäno¬
menologie der Sinne ist zwar noch wenig ausgebildet; und
eben in diesen Bereichen finden wir uns von Mehrdeutig¬
keiten verwirrt. Immerhin läßt sich wohl soviel sagen: Wenn
wir ein Bild betrachten wollen, treten wir ein wenig zurück,
damit wir es übersehen und das im Raum Verteilte als ein
Ganzes aufzufassen imstande sind. Der Abstand ist hier
wesentlich. Beim Plören von Musik spielt Nähe und Ferne
nur insofern eine Rolle, als die Instrumente aus einer be¬
stimmten Entfernung am besten klingen. Der richtige Ab¬
stand vom Instrument ist etwa mit der günstigsten Beleuch¬
tung von Bildern zu vergleichen. Er schafft jedoch kein
Gegenüber wie beim Bild, das uns «vor-gestellt» wird und
das wir uns wieder, wenn es nicht mehr da ist, vorzustellen
vermögen. Vielmehr gilt von der Musik das Wort Paul
Valerys, der erklärt, Musik hebe den Raum auf. Wir seien
in ihr, sie sei in uns. Der wahre Hörer sei «esclave de la
presence generale de la musique», eingeschlossen mit ihr
wie eine Pythia in der Kammer voll Rauch12. Das Gleichnis,
auf das Lyrisch-Intime bezogen, scheint vielleicht zu mäch¬
tig. Und freilich wäre beizufügen, daß nicht alle Musik als
lyrisch bezeichnet werden darf. Eine Fuge von Bach ist nicht

12 Paul Valery, Eupalinos, Paris 1924, S. 126.

52
lyrisch. Ob bei einer Fuge ein Abstand bestehe, und welchen
besonderen Sinn dies habe, kann hier nicht ausgeführt wer¬
den. Lyrisch ist aber jene Musik, die Schiller in der Schrift
vom Erhabenen mit so scharfen Worten verurteilt:

«Auch die Musik der Neuern scheint es vorzüglich nur


auf die Sinnlichkeit anzulegen und schmeichelt dadurch dem
herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, nicht
ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben sein will.
Alles Schmelzende wird daher vorgezogen, und wenn
noch so großer Lärm in einem Konzertsaal ist, so wird plötz¬
lich alles Ohr, wenn eine schmelzende Passage vorgetragen
wird. Ein bis ins Tierische gehender Ausdruck der Sinnlich¬
keit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die
trunkenen Augen schwimmen, der offene Mund ist ganz
Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Kör¬
per, der Atem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome
der Berauschung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise,
daß die Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip
der Freiheit im Menschen der Gewalt des sinnlichen Ein¬
drucks zum Raube wird13.»

Und lyrisch ist jene Musik der Sprache, die Herder, ganz
ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten Worten be¬
schreibt:
«Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge
der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde
Stimme — was weiß ich mehr? Bei Kindern und dem Volk
der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefühl, bei
Kranken, Einsamen, Betrübten, würken sie tausendmal mehr,

13 Schillers Werke, vollständige historisch-kritische Ausgabe, Leipzig


1910, Bd. XVII, S. 402.

53
als die Wahrheit selbst würken würde, wenn ihre leise,
feine Stimme vom Himmel tönte. Diese Worte, dieser Ton,
die Wendung dieser grausenden Romanze usw. drangen in
unsrer Kindheit, da wir sie das erstemal hörten, ich weiß
nicht, mit welchem Heere von Nebenbegriffen des Schau¬
ders, der Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude in
unsre Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Gei¬
stern stehen sie alle mit Einmal in ihrer dunklen Majestät
aus dem Grabe der Seele auf. Sie verdunkeln den reinen,
hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden
konnte: das Wort ist weg, und der Ton der Empfindung
tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der Leichtsinnige
grauset und zittert — nicht über Gedanken, sondern über
Silben, über Töne der Kindheit; und es war Zauberkraft des
Redners, des Dichters, uns wieder zum Kinde zu machen.
Kein Bedacht, keine Überlegung, das bloße Naturgesetz lag
zum Grunde: <Ton der Empfindung soll das sympathetische
Geschöpf in denselben Ton versetzen!)»14

Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer ver¬


schwindet, fehlt auch zwischen dem Dichter und dem, wovon
er spricht. Der lyrische Dichter sagt meist «ich». Er sagt es
aber anders als der Verfasser einer Selbstbiographie. Vom
eigenen Leben erzählen kann man erst, wenn eine Epoche
zurückliegt. Dann wird das Ich von höherer Warte aus über¬
blickt und gestaltet. Der lyrische Dichter «gestaltet» sich so
wenig, wie er sich «begreift». Die Worte «gestalten» und
«begreifen» setzen ein Gegenüber voraus. Wenn jenes für
selbstbiographische Darstellungen am Platz sein mag, so
dieses vielleicht für ein Tagebuch, in dem ein Mensch sich

14 Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, 5. Bd. Berlin 1891, S. 16 f.

54
Rechenschaft über soeben verbrachte Stunden ablegt. Nur
scheinbar, nur in der Zeit, die nach der Uhr gemessen wird,
liegt das Thema hier näher als in der Selbstbiographie.
Denn wer ein Tagebuch schreibt, macht sich zum Gegen¬
stand einer Reflexion. Er reflektiert, er beugt sich auf das
eben Vergangene zurück. Damit er sich zurückbeugen kann,
muß er sich vorher weggebeugt haben. Und in der Tat! Der
Begriff bewährt sich in wörtlichster Bedeutung. Der Tage¬
buchschreiber befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand
nimmt und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht,
spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch aus.

Das macht uns weiterhin auf das grammatische Tempus


des Lyrischen aufmerksam. Im Lyrischen herrscht das Prä¬
sens vor, so sehr, daß es verlorene Mühe wäre, Beispiele
aufzuzählen. Lehrreicher ist die Beobachtung, daß auch das
Präteritum einen anderen Sinn hat als im Epischen. Wir
lesen noch einmal Eichendorffs «Rückkehr» (Seite 38). Selt¬
sam schwankt der Dichter zwischen Präsens und Präteritum,
als komme es nicht so genau darauf an. Einzig im letzten
Vers:

«Da fiel ich hin im Feld»

ließe sich das Präteritum kaum mit dem Präsens vertau¬


schen. Denn dieser Vers erzählt ein Ereignis, das zurück¬
liegt und deutlich in seinem zeitlichen Abstand aufgefaßt
wird. Doch dieser Vers «klingt» auch nicht mehr. Eichen¬
dorff ist aus dem Zauber erwacht und spricht ihn wie ver¬
stört vor sich hin; das Lied ist aus. Die anderen Präterita
aber, die mit dem Präsens vertauscht werden könnten,
stellen keinen zeitlichen Abstand her. Das Vergangene, das
sie meinen, ist nicht fern und nicht vorbei. Ungestaltet,

55
unbegriffen bewegt es sich noch und bewegt den Dichter
und uns mit jener Magie, die Goethes Lied «An den Mond»
ausstrahlt, die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken»
preist:
«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,
Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,
Wo die Silbersaite, angeschlagen,
Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,
Der mein Leben lang,
Erst heut noch, widerklang,
Ob die Saite längst zerrissen schon.»

Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört dem


Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen ist
ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte Goethe: «Ich
statuiere keine Erinnerung»15, und meint damit, er räume
dem Vergangenen keine Macht über die Gegenwart ein.
Die lyrischen Momente aber aus Goethes späteren Jahren
entstammen alle doch der Erinnerung, «Dem aufgehenden
Vollmond» zum Beispiel, wo die Begegnung mit Marianne
von Willemer, die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder
die Seele erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:

«Und da duftet’s wie vor alters,


Da wir noch von Liebe litten . ..»

Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung


an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht im Ge¬
dächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung. Wenn er
wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes Ereig¬
nis fühlbar; das Herz klopft, und schließlich zieht die Er-

15 Zu F. 0. Müller, 4. November 1823.

56
innerung das Gedächtnis nach; wir können sagen, wo dieser
Duft uns früher einmal die Sinne betäubte. Daß Düfte so
sehr der Erinnerung und so wenig dem Gedächtnis gehören,
hängt zweifellos damit zusammen, daß wir sie nicht gestal¬
ten, ja oft genug sogar kaum benennen können. Ungestal¬
tet, unbenannt, werden sie nicht zu Gegenständen. Und nur
von dem, was Anschauung oder Begriff zum Gegenstand
macht, sind wir frei. Nur dazu haben wir «Stellung be¬
zogen» 16.
Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er gleitet
mit im Strom des Daseins. Das Momentane gewinnt für ihn
eine ausschließliche Mächtigkeit — jetzt dieser Ton, jetzt
wieder ein andrer. Jeder Vers erfüllt ihn so, daß er nicht
angeben kann, wie das Spätere sich zum Früheren verhält.
Wo deshalb ein Zusammenhang ausdrücklich hergestellt,
Konturen ausgezogen oder gar Teile durch logische Kon¬
junktionen, wie «weil», «demnach» aufeinander bezogen
werden, da ist das Gleiten unterbrochen. Wir fühlen uns
ernüchtert oder, was dasselbe heißt, unbewegt, ans feste
Ufer abgesetzt, da wir uns doch lieber vom Flüssigen hätten
weitertragen lassen und dazu eingeladen waren.

«Mag der Grieche seinen Ton


Zu Gestalten drücken,
An der eignen Hände Sohn
Steigern sein Entzücken;

Aber uns ist wonnereich,


In den Euphrat greifen
Und im flüßgen Element
Hin und wider schweifen ...»

16 Vgl. dazu Schiller a. a. 0. Bd. XVIII, S. 51.

57
So hat Goethe «Lied und Gebilde» einander gegenüber¬
gestellt. Wenn die dritte Strophe dann freilich vom geball¬
ten Wasser in der reinen Hand des Künstlers spricht, so
scheint sich klassische Ästhetik doch wieder gegen die Lyrik
behaupten zu wollen, es sei denn, der Vers bedeute nur das
Wunder, daß dies Flüssige in der Lyrik dennoch Sprache
werden kann, ein Rätsel, an dessen Lösung sich erst ein
späterer Abschnitt versuchen wird. Hier genügt uns, einzu¬
sehen, daß die Ungehörigkeit des Begriffs der Form, die
parataktische Folge ohne scharfe Begrenzung der Teile, die
Nötigung, durch den Kehrreim und Wiederholungen ande¬
rer Art die sonst unerreichbare Einheit zu gewinnen, sich
wieder aus dem Fehlen des Abstands begreift, das alle
lyrischen Phänomene charakterisiert.

Immer ist es derselbe Abstand, der in der lyrischen Dich¬


tung fehlt. Wir hätten ihn schon längst als Subjekt-Objekt-
Abstand bezeichnen können, wenn die Begriffe Subjekt
und Objekt nicht ebenso mißverständlich und mehrdeutig
wären wie der Begriff der Form. «Das Lyrische ist nicht
objektiv»: so lautet die Formel, die seit der idealistischen
Ästhetik gang und gäbe ist. Dieselbe Formel, positiv ge¬
wendet, scheint lauten zu müssen: «Das Lyrische ist sub¬
jektiv.» Daraus ergibt sich dann leicht eine Dreiteilung der
Poesie nach folgendem Schema: Lyrik — subjektive, Epos
— objektive Poesie; das Drama — eine Synthese von bei¬
den, worin sich das idealistische Denken nach dem Gegen¬
satz Ich — Nicht-Ich, Geist — Natur oder die Hegelsche
Dialektik bestätigt findet. Als System oder Metaphysik ist
der Idealismus für die Geisteswissenschaften längst nicht
mehr verbindlich. Die Begriffe «subjektive» und «objektive
Poesie» sind aber geblieben und gehen neue Verbindungen

58
ein. So wird etwa die Objektivität des Epos dahin aus¬
gelegt, daß es die Wirklichkeit darstelle, wie sie unabhängig
von der Person des Dichters bestehe. «Objektiv» heißt dann
soviel wie «sachlich» und weiterhin «allgemeingültig». Die
Lyrik dagegen soll die Spiegelung der Dinge und Ereig¬
nisse im individuellen Bewußtsein zeigen. Schon hier ver¬
wirren sich die Begriffe. Wenn «unabhängig von der Per¬
son» so viel wie «an sich» bedeuten soll, so ist die Bestim¬
mung offenbar falsch. Kein Gegenstand ist «an sich» zu¬
gänglich. Gerade weil er Gegenstand ist, gegenüber steht,
kann er nur von einem Standpunkt aus betrachtet werden,
in einer Perspektive, die eben die Perspektive des Dichters,
seiner Zeit oder seines Volkes ist (vergleiche Seite 84).
«Objektiv» ist also nicht identisch mit «unabhängig vom
Dichter».

Der Gegensatz wird aber auch noch in anderem Sinne


ausgelegt. Der Epiker stelle die Außenwelt, der Lyriker
seine Innenwelt dar. Lyrische Dichtung sei innerlich. Was
heißt das? Im Epischen besteht, wie sich zeigen wird, ein
Gegenüber: hier das unbewegte Gemüt des Erzählers, dort
das bewegte Geschehen. Was soll aber «innerlich» besagen?
Etwa so viel wie «introvertiert»? Dies würde das Wesen
des Lyrischen fälschen. Der psychologische Gegensatz von
«introvertiert» und «extravertiert» hat nichts mit dem von
«lyrisch» und «episch» zu schaffen. Ein so ausgesprochen
epischer Dichter wie Spitteier ist introvertiert. Bei Brentano
deutet alles auf den extravertierten Typus.

Die Rede von «innen» und «außen» entsteht aus der


Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die Seele
haust im Körper und läßt durch die Sinne die Außenwelt,
zumal durch die Augen die Bilder herein. Sosehr sich heute

59
jedermann gegen diese Vorstellung ereifert, sie wurzelt
tief in unserem Geist und läßt sich kaum je ganz über¬
winden. Der Anblick des Menschen, der vor uns wandelt
und körperlich scharf Umrissen ist, aus dessen Augen die
Seele leuchtet, legt sie uns immer wieder nahe. Und freilich,
ganz sinnlos ist sie nicht. Daß wir durch den Körper von
einer Außenwelt geschieden sind, ist eine Erfahrung, die
zu einer bestimmten — der epischen — Stufe gehört (ver¬
gleiche Seite 96). Im Epischen stellt sich der Körper dar.
Deshalb gehen uns im epischen Dasein die Dinge als Außen¬
welt auf. Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch
keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände,
noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt.
Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwir¬
rung verschuldet. Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist,
so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn
sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine
Innenwelt dar. Sondern «innen» und «außen», «subjektiv»
und «objektiv» sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht
geschieden.
Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese Ein¬
sicht aufblitzt, dann aber wieder von seinem Begriff der
Subjektivität verdunkelt wird. Er führt die Lyrik ein mit
den Worten:
«Die einfache Synthese des Subjekts mit dem Objekte,
worin jenes diesem sich unterordnet (im Epos), kann dem
Geiste der Kunst nicht genügen; er fordert eine weitere
Stufe, auf welcher dem Wesen nach die Welt in das Subjekt
eingeht und von ihm durchdrungen wird»17.

17 Fr. T. Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 2. Aufl.


München 1922-23, Bd. VI, S. 197.

60
Dieser Zusatz ist bedeutend, wird aber im folgenden
kaum beachtet. Der «Eingang der Welt in das Subjekt» gilt
fast ausschließlich als Wesen der Lyrik. Ähnlich schildert er
das Gefühl in der Darstellung der Musik:

«Dem Gefühle fehlt das Licht des Gegenschlags von Sub¬


jekt und Objekt; es verhält sich zum Bewußtsein wie Schlaf
zum Wachen, das Subjekt sinkt in sich hinein und verliert
den Gegensatz zur Außenwelt»18.

Das Gegenüber fällt weg, gewiß! Nicht aber deshalb,


wie Vischer sagt, weil das Subjekt in sich hineinsinkt. Es
wäre ebenso richtig und falsch, zu sagen, es sinkt in die
Außenwelt. Denn «ich» bin im Lyrischen nicht ein «moi»,
das sich in seiner Identität bewußt bleibt, sondern ein «je»,
das sich nicht bewahrt, das in jedem Moment des Daseins
aufgeht.

Hier ist nun der Ort, den fundamentalen Begriff der


Stimmung zu erklären. «Stimmung» bedeutet nicht das Vor¬
finden einer seelischen Situation. Als seelische Situation ist
eine Stimmung bereits begriffen, künstlicher Gegenstand
der Beobachtung. Ursprünglich aber ist eine Stimmung ge¬
rade nichts, was «in» uns besteht. Sondern in der Stimmung
sind wir in ausgezeichneter Weise «draußen», nicht den
Dingen gegenüber, sondern i n ihnen und sie in uns. Die
Stimmung erschließt das Dasein unmittelbarer als jede An¬
schauung oder jedes Begreifen. Wir sind gestimmt, das heißt
durchwaltet vom Entzücken des Frühlings oder verloren
an die Angst des Dunkels, liebestrunken oder beklommen,
immer aber «eingenommen» von dem, was uns als körper¬
liches Wesen — in Raum oder Zeit — gegenübersteht. Es

18 a. a. O. Bd. V, S. 10.

61
ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von der Stim¬
mung des Abends wie von der Stimmung der Seele redet19.
Beide sind ununterscheidbar eins. Durchaus bewährt sich
Amiels Wort «Un paysage quelconque est un etat de Tarne».
Nicht nur von Landschaften gilt dieses Wort. Alles Seiende
vielmehr ist in der Stimmung nicht Gegenstand, sondern
Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von Mensch und
Natur in der lyrischen Poesie.

Was die Stimmung erschließt, ist nicht «gegenwärtig»,


weder längst verrauschter Scherz und Kuß noch der Nebel¬
glanz, der jetzt eben, da der Dichter spricht, Busch und Tal
füllt. Denn der Begriff «gegenwärtig» soll buchstäblich
genommen werden. Er soll ein Gegenüber bezeichnen. So
dürfen wir sagen, daß der Erzähler Vergangenes vergegen¬
wärtigt. Der lyrische Dichter vergegenwärtigt das Ver¬
gangene so wenig wie das, was jetzt geschieht. Beides viel¬
mehr ist ihm gleich nah und näher als alle Gegenwart.
Er geht darin auf, das heißt er «erinnert». «Erinnerung»
soll der Name sein für das Fehlen des Abstands zwischen
Subjekt und Objekt, für das lyrische Ineinander. Gegen¬
wärtiges, Vergangenes, ja sogar Künftiges kann in lyrischer
Dichtung erinnert werden. Goethes «Mailied» erinnert, was,
von außen gesehen, Gegenwart ist; Mörikes «Im Frühling»
erinnert am Schluß «alte unnennbare Tage»; manche Oden
Klopstocks erinnern die künftige Geliebte oder das Grab.

Nicht als ob nun dennoch die «lyrische Innenwelt» er¬


neuert würde! «Erinnerung» bedeutet nicht den «Eingang
der Welt in das Subjekt», sondern stets das Ineinander, so

19 Vgl. dazu: O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt


am Main 1941, S. 17-36.

62
daß man ebenso sagen könnte: der Dichter erinnert die
Natur, wie: die Natur erinnert den Dichter. Das zweite
würde vielleicht sogar der Erfahrung vieler lyrischer Dichter
mehr entsprechen als das erste. Die Gnade oder der Fluch
der Stimmung zum mindesten wäre besser gewürdigt.

Doch nähert sich in dieser Erklärung das Lyrische nicht


dem Mystischen? In Hofmannsthals «Gespräch über Ge¬
dichte» finden sich Sätze, die dem hier Vorgetragenen nahe¬
stehen und ebenso nahe jener Mystik, von der im «Traum
von großer Magie» und in «Ad me ipsum»20 die Rede ist:

«Sind nicht die Gefühle, die Halbgefühle, alle die ge¬


heimsten und tiefsten Zustände unseres Inneren in der selt¬
samsten Weise mit einer Landschaft verflochten, mit einer
Jahreszeit, mit einer Beschaffenheit der Luft, mit einem
Hauch? Eine gewisse Bewegung, mit der du von einem hohen
Wagen abspringst; eine schwüle sternlose Sommernacht; der
Geruch feuchter Steine in einem Hausflur; das Gefühl eisigen
Wassers, das aus einem Laufbrunnen über deine Hände
sprüht: an ein paar tausend solcher Erdendinge ist dein gan¬
zer innerer Besitz geknüpft, alle deine Aufschwünge, alle
deine Sehnsucht, alle deine Trunkenheit. Mehr als geknüpft:
mit den Wurzeln ihres Lebens festgewachsen daran, daß —
schnittest du sie mit dem Messer von diesem Grunde ab, sie
in sich zusammenschrumpften und dir zwischen den Händen
zu nichts vergingen. Wollen wir uns finden, so dürfen wir
nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu
finden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen spannt sich
unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins.
Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an,

20 Hg. von W. Brecht, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1930.

63
es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.
Zwar — unser <Selbst>! Das Wort ist solch eine Metapher.
Regungen kehren zurück, die schon einmal früher hier ge¬
nistet haben. Und sind sie’s auch wirklich selber wieder? Ist
es nicht vielmehr nur ihre Brut, die von einem dunklen
Heimatgefühl hierher zurückgetrieben wird? Genug, etwas
kehrt wieder. Und etwas begegnet sich in uns mit anderem.
Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag»21.
Später wird noch hinzugefügt, daß «wir und die Welt
nichts Verschiedenes sind». Was heißt aber «Welt»? Hier
offenbar so viel wie «das Seiende insgesamt». Mit diesem
All, das ewig und göttlich ist, fühlt der Mystiker sich
identisch. Er schließt die Augen — [jlvel — vor dem Vielen,
zieht die Fülle in Eines und hebt die Zeit im Ewigen als dem
«sunder warumbe» Gottes auf.
Das «sunder warumbe» des lyrisch gestimmten Menschen
dagegen ist eng begrenzt. Er fühlt sich eins mit dieser Land¬
schaft, mit diesem Lächeln, mit diesem Ton, nicht also mit
dem Ewigen, sondern gerade mit dem Vergänglichsten. Die
Wolke zerfließt, das Lächeln erstirbt.

«Es wandelt, was wir schauen,


Tag sinkt ins Abendrot. . .»

Und also wandelt sich auch die Seele. Der lyrische Dichter
ist bewegt, indes der Mystiker eine unanfechtbare Ruhe in
Gott bewahrt. Wohl kann es sein, daß sich die lyrische Stim¬
mung zur mystischen Ruhe klärt, wie immer im Leben eins
unmerklich ins andere übergeht. Die Wissenschaft aber, die
zur Scheidung der Begriffe genötigt und verpflichtet ist, muß
deutlich sagen, was «lyrisch», was «mystisch» heißen soll,

21 Gesammelte Werke, Bd. II, 2. Teil, Berlin 1934, S. 236.

64
damit im fließenden, schwankenden Dasein Orientierung
möglich sei.

6.
Was hier in abstrakter Sprache ausgeführt wurde, ist den
lyrischen Dichtern längst viel unmittelbarer bekannt. Wir
müssen uns nur gewöhnen, ernst zu nehmen, was in Gedich¬
ten steht, und ein lyrisches Wort ebenso als Zeugnis des
Menschen gelten zu lassen wie eine dramatische Sentenz.
Wieder dürfen wir uns zunächst auf Vischer, den feinsten
Kenner des Lyrischen unter den Lehrern der Ästhetik, be¬
rufen. Er macht darauf aufmerksam, daß der Lyriker, um
den dunklen Seelenzustand auszusprechen, die Bilder der
leiblichen Sphäre entnehme.

«Meine Ruh’ ist hin,


Mein Herz ist schwer . ..
Mein armer Kopf
Ist mir verrückt,
Mein armer Sinn
Ist mir zerstückt...»
«Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide .. .»

Alle neueren Beispiele sind aber schon überboten von Sapphos


Gedicht:
’Qg öS yäg Idco ßgöxe’, üg /.es qoävag
oddev er’ elxet,
äXXä xäfx [isv yXäöoä fi’ ea.ye, Xinzov
d’avzixa XQ® 'bnaöedQÖfxaixev,
önnäzeööi ö’ ofidev ögrux/x’, £juqq6[x-
ßetöi d’äxovai,
ä di fx’ lÖQcog xaxxeeTcu, rgö/xog de
nalaav äygeo, xXoxqoziga de notag
ef-i/M, ze,&växr)v d’öXtyeo ’mdevrjg
epatvoix', ’AyaXXi . . .

5 65
«... schau ich
Flüchtig nur hinüber zu dir, versagt der
Ton in der Kehle,
Und es ist die Zunge gelähmt, ein feines
Feuer unterläuft mir die Haut urplötzlich;
Mit den Augen sehe ich nichts, ein Dröhnen
Füllt mir die Ohren,
Und der Schweiß rinnt nieder, und meinen ganzen
Leib befällt ein Zittern, und bleicher bin ich
Als das Gras, und nahe bereits dem Tode
Schein’ ich, Agallis . . .»

Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik,


wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand reflek¬
tiert»22. Wie in der Schilderung des Gefühls und der Subjek¬
tivität der Lyrik sieht er das Phänomen genau und verfälscht
es durch seine Begrifflichkeit. Gerade von Reflexion nämlich
werden wir hier nicht sprechen dürfen, ebensowenig von
«dunkler Symbolik». So kann nur reden, wer Leib und Seele
künstlich scheidet. Doch jeder, der sagt: «Mir ist weh!», und
jeder, der «Tränen der Schmerzen und Freude» weint, weiß
von dieser künstlichen Scheidung nichts.
Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe
«Körper» und «Leib» anbietet, ist eine Verständigung wohl
leicht möglich. Ein körperlicher Schmerz, zum Beispiel von
einer Wunde oder Zahnweh, bleibt freilich außerhalb der
seelischen Zone. Er kann uns stören, sogar verdüstern und
so vielleicht, wenn er lange währt, auf das Seelische Einfluß
gewinnen. Die Seele selber jedoch geht nicht in solchen kör¬
perlichen Schmerzen auf. Ganz anders aber Hamlets «Herz-

22 a. a. O. Bd. VI, S. 204.

66
weh» oder der Wollustschauer Sapphos. Solche «Sensationen»
oder «Gefühle» sind die leibliche Realität der Stimmung, die,
diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch Schleier^
machers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben.» Der Ly¬
riker nimmt nicht Bilder aus der Sphäre des Körpers, um
etwas anderes, den Seelenzustand, auszusprechen; sondern
die Seele selbst ist leiblich und wandelt sich in den Gefühlen,
die nicht den Körper, aber den Leib heimsuchen. Auch damit
wird die Stimmung nicht ins Innere hineingenommen. Nur
der Körper ist begrenzt und stellt sich dar als eine Form, in
die man von außen eindringen kann. Leib dagegen sei die
Bezeichnung für alles, was den Abstand zwischen uns und
der Außenwelt aufhebt. Wenn Sappho der Schweiß aus¬
bricht und wenn sie der Schauer befällt, dann ist sie gerade
nicht «in sich», sondern «außer sich». Im brennenden Ein¬
geweide fühlt Mignon die Ferne des geliebten Landes. Leib¬
lich fühlen wir also nicht uns als Individualität oder als
Person oder lebensgeschichtlich bestimmtes Selbst. Wir füh¬
len die Landschaft, den Abend, die Liebste — oder, genauer
noch: Wir fühlen uns im Abend und in der Geliebten. Wir
gehen im Gefühlten auf.

Dennoch redet natürlich auch der Lyriker, befangen im


allgemeingültigen epischen Sprachgebrauch, oft von Innen-
und Außenwelt. Und zwar nennt er «innerlich» insbesondere
jenes Erinnerte, das ihm nicht gleichzeitig vor Augen steht,
das Vergangene und das Künftige. «Durch das Labyrinth
der Brust» wandeln vergangene unaussprechliche Tage der
Liebe. «Im Herzen die Gedanken» (Eichendorff) sind gleich¬
falls Erinnerungen des Vergangenen. Aber auch dieses mehr
lokale «innen», das die Brust, das Herz als eine Art Hohl¬
form deutet, heißt schließlich doch wieder so viel wie «nicht

5* 67
gegenwärtig»; und es läßt sich kein Unterschied ausfindig
machen zu jenen Erinnerungen des im Raume gegenwärtigen
Lebens, bei denen nun auch in der schlichten Sprache der
Dichter das Ineinander mehr oder weniger rein zum Aus¬
druck kommt.
«O Lieb’, o Liebe,
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn ...»

In diesen Versen aus Goethes «Mailied» hält das «wie»


noch eine leise Spur des Gegenübers fest. Wenn wir aber
versuchen, es ernsthaft als homerisches «gleichwie», das ein
Gleichnis einleitet, aufzufassen, so sehen wir leicht, daß dies
nicht angeht. Die Vergleichspartikel ist nicht viel mehr als
eine Redensart, vielleicht auch schon eine fast unmerkliche
Vorbedeutung des späteren Goethe, der sich zwar der
Natur gegenüber, doch beide im Grund als identisch er¬
kennt und damit ebenso dem Lyrischen wie dem Epischen
offenbleibt. Am nächsten liegt es aber, zu sagen, daß die
Liebe sich in den goldenen schönen Morgenwolken fühlt. So
spricht sich dann Mörike aus in «An einem Wintermorgen
vor Sonnenaufgang»:

«0 flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe!


Welch neue Welt bewegest du in mir?
Was ist’s, daß ich auf einmal nun in dir
Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?»

«Du in mir, ich in dir»: Der Dichter weiß noch, daß Ich
und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und weiß
zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt nicht gilt. So
geht es weiter. Von «Du in mir» ist der Vers von den «Fisch-

68
lein im Busen» bestimmt, von «Ich in dir» dann etwa das
Fliegen der Seele, so weit der Himmel reicht. Und wieder in
dem Gedicht «Im Frühling», wo die Wolke «mein Flügel»
wird und wo sich der Atem der Frühlingslandschaft mit
dem Atem der Seele zu einem wohligen Auf und Nieder
vereint.

Im «Wanderer in der Sägemühle» träumt Kerner, was


ihm vor Augen steht, erinnert die Landschaft und die Mühle;
und solche Erinnerung ist möglich, weil er in dem Rinnsal,
das die Schaufelkammern füllt und senkt, die Schwermut sei¬
nes versiegenden Lebens, in dem schönen Ton der Schneide,
die schmerzhaft durch das Tannenholz fährt, den schmerz¬
lichen Ursprung seines Dichtens, und in der Bereitung des
Sarges, des Todes, den letzten Sinn seines Lebens fühlt.
Am kühnsten spricht sich wohl Eichendorff aus:

«Schweigt der Menschen laute Lust:


Rauscht die Erde wie in Träumen
Wunderbar mit allen Bäumen,
Was dem Herzen kaum bewußt,
Alte Zeiten, linde Trauer,
Und es schweifen leise Schauer
Wetterleuchtend durch die Brust.»

Die Erde rauscht — erstaunlich ist der Akkusativ — alte


Zeiten. Sie rauscht, was dem Herzen kaum bewußt ist. Die
Seele geht restlos in der Landschaft, die Landschaft in der
Seele auf.

Von allen Seiten winkt nun aber bereits das unerschöpf¬


lichste Thema lyrischer Poesie, die Liebe. Die meisten gro¬
ßen Lyriker sind große Liebende gewesen — um nur erste
Namen zu nennen: Sappho, Petrarca, Goethe, Keats. Der

69
epische Dichter ist, oft schon in jungen Jahren, ein alter
Mann. An großen Dramatikern, etwa an Kleist oder Hebbel,
erschrecken, zumal im Umgang mit Frauen, harte und
grausame Züge. Der lyrische Dichter dagegen ist «weich».
«Weich» bedeutet, daß die Konturen des Selbst, des eigenen
Daseins nicht fest sind:

«Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten,


Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften,
Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,
Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften;
Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,
Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.»

Der Selbstsinn schmilzt. So rühmen wir an der lyrischen


Sprache den «Schmelz». Schmelz ist Verflüssigung des Festen.
Uns schmelzt die Liebe und das Lied. Drum ist Musik, nach
Shakespeares Wort in «Was ihr wollt», «der Liebe Nah¬
rung», und «denkt die Liebe», nach Tieck, «in Tönen». Die
Sprache entfaltet hier den ganzen Reichtum des lyrischen
Ineinander. Die altbewährte Formel lautet: «Du bist min,
ich bin din.» Darin spricht sich «Hingabe» aus. Der Liebende
«vertieft sich» — welch ein Wort! — ins Antlitz der Ge¬
liebten. Die Liebenden sind eins im Frühling und in der
Nacht, die beide umfängt, den störenden Körper dem Blick
entzieht und die Fühlbarkeit des Leibes, der in der Um¬
armung nur einer ist, erhöht.

Alle Momente des Lyrischen: Musik, Verflüssigung, In¬


einander, hat Brentano im Mythos von der Loreley zusam¬
mengefaßt und der späteren Romantik anvertraut. Ihr Name
schon, bestehend aus Vokalen und Liquiden, tönenden und
flüssigen Lauten, ist Musik und als solche eingegeben durch

70
den Namen des Felsens bei Bacharach. Ihr Name ist schmel¬
zend wie ihre Augen, und wie ihre Augen schmelzt ihr Ge¬
sang. Ein Dämon des flüssigen Elements, wohnt sie im
Strom, im Rauschen des Walds, in allem, was gleitet, wogt
und schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schim¬
mern sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist keine
Freiheit mehr, kein Eigenwille — wie denn der lyrische
Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben, außer sich,
getragen von Wogen des Gefühls.
Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische
Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch bewahrt und
so der Liebe erst Dauer verleiht23. Aber die Liebe trunkner
Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt und alles Eigene
ausschütten mag, gehört zur Sphäre des lyrischen Daseins.
Von ihr erzählt Gottfried Keller am Schluß der Novelle
«Romeo und Julia auf dem Dorfe», wo die Liebenden die
auseinandergesetzte Welt verlassen, dem gleitenden Strom
sich anvertrauen und in der Umarmung untergehen. Der
Tod und solche Liebe gehören zusammen als Untergang des
Selbst.

7.

Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung


aufmerksam. Wir haben früher schon vom Momentanen der
Stimmung gesprochen (2) und verstehen dies Momentane
jetzt besser aus der Natur des Ineinander, das heikel und
allzeit gefährdet ist. Jeder Widerstand löscht es aus und
stellt das Gegenüber her. Ein Widerstand aber, etwas, das

23 Vgl. dazu Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis


menschlichen Daseins, Zürich 1942.

71
nicht übereinstimmt, ist es bereits, wenn den im Abendfrie¬
den beruhigten Dichter plötzlich ein Hase aufschreckt, wenn
ihm ein Tropfen auf die Hand fällt. Der Epiker würde eine
solche Störung höchstens als Zeitverlust buchen. Der Lyriker
findet die unwiederholbare Stimmung für immer vernichtet
— eine tragikomische Gebrechlichkeit, die der Humor von
jeher bemerkt und belächelt hat, etwa in Büschs «Balduin
Bählamm», der sich in den Himmel vertieft und plötzlich
das Krabbeln des Ohrwurms spürt. Dabei bedürfte es nicht
einmal des lästigen Insekts und jener anderen lustig erdach¬
ten Unglücksfälle, um sein Gedicht zu vereiteln. Auch der
Himmel, der Mond, der Baum kann plötzlich gegenständlich
werden — er braucht nur genauer hinzusehen. Dann stimmt
die Landschaft nicht mehr und stimmt mit der Seele nicht
mehr überein. Der Mond stimmt nicht als astronomischer
Körper oder als Kraterfeld, sondern etwa als Silbergondel;
der Hügel stimmt als duftiger Streifen, der Wald als Rau¬
schen oder als Schimmern von Lichtern und Schatten, der
See als Glanz. Lyrisch ist das Flüchtigste; und wird das
Feste, Gegenständliche wahrnehmbar, so endet die flüchtigste
Dichtung, das Lied.

Soll aber dieses Enden selbst noch ausgesprochen werden,


oder bricht der Lyriker einfach ab? Wir haben gesehen, wie
er anhebt (4), oft unvermittelt mit «und» oder «auch». Die
Frage nach einem möglichen Schluß gewährt vielleicht noch
tiefere Einsicht. Wir lesen Eichendorffs «Auf einer Burg»:

«Eingeschlafen auf der Lauer


Oben ist der alte Ritter;
Drüben gehen Regenschauer,
Und der Wald rauscht durch das Gitter.

72
Eingewachsen Bart und Haare,
Und versteinert Brust und Krause,
Sitzt er viele hundert Jahre
Oben in der stillen Klause.
Draußen ist es still und friedlich,
Alle sind ins Tal gezogen,
Waldesvögel einsam singen
In den leeren Fensterbogen.
Eine Hochzeit fährt da unten
Auf dem Rhein im Sonnenscheine,
Musikanten spielen munter,
Und die schöne Braut die weinet.»
Das ist ein ganz beliebiger Ausschnitt aus der Stimmung
einer Landschaft. Im letzten Vers zwar scheint sich das Ge¬
fühl ein wenig zu verdichten. Vielleicht genügte das, um den
Dichter aufzuwecken und ihn etwa an die Geschichte des
Mädchens denken zu lassen. Doch es könnte noch lange so
weitergehen. Dieses Gedicht schließt nicht eigentlich ab.
Anders «Im Grase» der Annette von Droste. Nach den
ersten beiden Strophen, die zum Wunderbarsten der lyri¬
schen Weltliteratur gehören, wo die Dichterin sich mit ihrem
müden, schwimmenden Haupt in der sommermüden, schwim¬
menden Luft, das Niedersinken ihres Daseins im Nieder¬
gaukeln von Düften und Stimmen fühlt — nach diesen Stro¬
phen fährt sie fort:
«Stunden, flüchtger ihr als der Kuß
Eines Strahls auf den trauernden See . ..»
redet nun über ihr Gefühl und denkt über ihre Lage nach.
Sie verläßt damit die Sphäre des Lieds. Die zweite Hälfte
ist nüchtern und, um die Nüchternheit zu verschleiern, ein
wenig rhetorisch aufgehöht.

73
Was aber hier bedauerlich ist, weil es zu früh eintritt und
noch zu lang durchgehalten wird, das kann in wenigen
Versen oder auch nur in einer Zeile ein Gedicht unter Um¬
ständen sinnvoll beschließen. Auch dafür ist «Wanderers
Nachtlied» ein Beispiel:

«Warte nur, balde


Ruhest du auch.»

Hier wird dem Dichter selbst der seelische Sinn der Abend¬
landschaft klar. Im Augenblick des Verstehens aber hört das
lyrische Dichten auf; der Zustand wird zum Gegenstand.
Auch Eichendorff sagt oft zuletzt, wo es mit der Erinnerung
hinauswill, so im «Zwielicht», wo sich als Einheit der schein¬
bar disparaten Traumbilder am Schluß, nach einem Ge¬
dankenstrich der Besinnung, plötzlich ergibt:

«Hüte dich, bleib wach und munter!»

Dies war in jeder Zeile verborgen. Es tritt hervor, und


das Lied ist aus. Ebenso in der «Frühlingsnacht!»:

«Über’n Garten, durch die Lüfte


Hört’ ich Wandervögel zieh’n,
Das bedeutet Frühlingsdüfte,
Unten fängt’s schon an zu blühn.

Jauchzen möcht’ ich, möchte weinen,


Ist mir’s doch, als könnt’s nicht sein!
Alte Wunder wieder scheinen
Mit dem Mondesglanz herein.

Mit dem Mond, die Sterne sagen’s,


Und in Träumen rauscht’s der Hain,
Und die Nachtigallen schlagen’s:
Sie ist deine, sie ist dein!»

74
Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, wird
man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung so zu¬
sammen, weil er schließen wolle. Wo die Eingebung, das
Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt eher das Umgekehrte:
Weil der Dichter die Stimmung nun übersieht und benennen
kann, ist das Lied zu Ende.

In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte aus,


denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese Möglich¬
keit manieristisch immer wieder erprobt, etwa im «Abend
in Skane» (nach der Fassung im «Buch der Bilder»), wo es
zuletzt von dem abendlichen Himmel heißt:

«Wunderlicher Bau,
In sich bewegt und von sich selbst gehalten,
Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten
und Hochgebirge vor den ersten Sternen
und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,
wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»

Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas noch


gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf «kennen»
reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei. Eine Gebärde der
Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu Innigen, der uns bei
Rilke manchmal geziert anmutet, der aber doch zweifellos
tief im Wesen des Lyrischen begründet ist. Der Dichter, der
den Bereich des in der Sprache Faßlichen unter den Neueren
wohl am meisten erweitert hat, gefällt sich darin, denen
Recht zu geben, die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche
Verse seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst
die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts und
jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl nicht aus¬
zusprechen imstande sind. Eine Verständigung scheint un-

75
möglich. Der Künstler stellt sich auf den Standpunkt, alle
Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was nicht ausgesprochen
werde, sei überhaupt keine Poesie. Er macht damit auf den
Widerspruch im Begriff des «stummen Wortes», des «unge¬
sprochenen Verses» aufmerksam und behält — als Dichter —
zweifellos recht. Der führende Dilettant jedoch hat gleich¬
falls recht, wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Spra¬
che fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:

«Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele


nicht mehr.»

Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung


geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer Grund¬
legung der Poetik trifft (Seite 10) und die der Leser sich
jederzeit vor Augen zu halten gebeten ist: Der Künstler
redet vom lyrischen Gedicht, der Dilettant jedoch vom
Phänomen des Lyrischen. Wir lesen an lyrischen Ge¬
dichten das Phänomen des Lyrischen ab. So konnte es nicht
fehlen, daß wir auf einen Widerspruch zwischen dem Lyri¬
schen und dem vollen Wesen der Sprache aufmerksam wer¬
den mußten. In der Sprache nämlich als Organ der Erkennt¬
nis setzen wir uns mit allem Dasein auseinander und stellen
bestimmte Zusammenhänge der Dinge her. Die Sprache
selbst setzt auseinander, um das Auseinandergesetzte im
Satzgefüge wieder zu einen. Die lyrische Stimmung dagegen
wurde als Ineinander charakterisiert, das keiner Zusammen¬
hänge bedarf, weil alles bereits in der Stimmung geeinigt
ist. Jedes einzelne Wort stellt fest (vergleiche Seite 92) und
ordnet die vergänglichen Erscheinungen in ein Dauerndes
ein. Der lyrisch Gestimmte aber gleitet; sobald er feststellt,
ist er ernüchtert. So findet er sich tatsächlich von einigem,
was die Sprache leistet, bedrängt, von ihrer Intentionalität,

76
die als solche ein Gegenüber bildet, und ihrer «Logik», wenn
Adyog (von Aeyro) «Zusammengerafftsein des Vielen» besagt.
Wenn er sich lyrisch äußern will, muß es ihm deshalb ge¬
lingen, gerade diese Wesenszüge der Sprache nach Möglich¬
keit zu verdunkeln. Wir haben dergleichen bemerkt in der
Auflösung des syntaktischen Gefüges (3), in der Reduktion
der Sätze auf einzelne unzusammenhängende Worte (3), in
einer Scheu vor der allzu deutlich feststellenden Kraft des
Hilfszeitworts «ist» (3), vor allem in der Musik der Sprache,
die ihre Intentionalität oder Gegenständlichkeit gleichsam
aufsaugt24. Ganz gelingt dies freilich nie, es sei denn in jenen
wenigen Silben, die nichts mehr bedeuten und nur noch klin¬
gen, wie «eia popeia, aUwov, om». Solche Silben aber er¬
geben nie und nimmer ein Gedicht, sowenig wie eine Folge
von Akkorden schon eine Symphonie, von Farbtönen ein
Gemälde ergibt. Drum, weil sogar die reinste lyrische Art,
ein Lied, schon Dichtung ist, kann selbst ein Lied die Idee des
Lyrischen nie ausschließlich realisieren. Es besteht aus Wör¬
tern, die immer zugleich Begriffe sind, nicht nur aus Silben;
aus Sätzen, die immer zugleich einen objektiven Zusammen¬
hang bedeuten, obwohl ein solcher jetzt nicht gemeint ist.
Und es beginnt und führt irgendwo hin, wenngleich ein Ziel
des Gleitens nicht in der Natur des Lyrischen liegt. In den
Gedichten, die mit einer Klärung der Gefühle enden, treten
die verschleierten Hintergründe der Sprache, zumal die be¬
grifflichen Kräfte, wieder in Erscheinung: Das lyrische
Gedicht hört auf. In den Gedichten, denen am Ende die
Sprache versagt, überbordet dagegen die Innigkeit der Seele,
die keinerlei Auseinandersetzung kennt: das lyrische Ge-

24 Vgl. dazu insbesondere auch die Seite 53 zitierten Worte Herders.

77
dicht hört auf. Lyrisches Dichten aber ist jenes an
sich unmögliche Sprechen der Seele, das nicht «beim Wort
genommen» sein will, bei dem die Sprache selber noch ihre
eigene feste Wirklichkeit scheut und lieber sich jedem lo¬
gischen und grammatischen Zugriff entzieht. Es wird sich
zeigen, daß in epischer und dramatischer Poesie die hier
verwischten Wesenszüge der Sprache deutlich ausgeprägt
sind. Und dies besagt, daß jede Dichtung an allen drei Gat¬
tungsideen mehr oder minder beteiligt ist, da sich keine, als
Sprachkunstwerk, dem vollen Wesen der Sprache ganz zu
entziehen vermag.

8.

Es bleibt noch übrig, von den Grenzen der lyrischen Poesie


zu sprechen und zu sagen, was sie dem Dichter und Leser
schuldig bleiben muß. öfter fanden wir uns genötigt, vom
«Wunder» der lyrischen Sprache zu reden. Sie ist unbe¬
greiflich und kein Verdienst, da niemand sie zu erzwingen
vermag. So gilt auch von ihr Duhamels Satz: «Miracle n’est
pas ceuvre»25. Der lyrische Dichter leistet nichts (1). Drum,
wenn der Epiker fleißig, der Dramatiker gar verbissen sein
muß, darf er so träge sein wie Mörike oder so willenlos wie
Brentano. Episches nämlich will gesammelt, Dramatisches
will erzwungen sein. Lyrisches aber wird eingegeben. Auf
die Eingebung warten, ist das einzige, was der Lyriker tun
kann. Wer jedoch stets der Gnade harrt, der darf sich auch
nur auf Gnade verlassen und keiner Wirkung der Kraft,
des Willens und der Geduld gewärtig sein. Selbst das ängst¬
liche Feilen von Liedern ist davon nicht ausgenommen. Wo

Eintrag im Gästebuch der Berner Freistudenten.

78
nicht der Kunstverstand ein Lied herstellt — was freilich
auch möglich ist — können auch neue Nuancen nur aus neuen
Eingebungen hervorgehen.

«Miracle n’est pas ceuvre» heißt ferner: «Gedichte sind


Küsse, die man der Welt gibt; aber aus bloßen Küssen ent¬
stehen keine Kinder.» Das ist so scherzhaft und ergiebig wie
vieles, was Goethe in ästhetisdien Fragen zum besten ge¬
geben hat. Er meint zunächst — um im Bilde zu bleiben —,
daß Lyrisches nicht gezeugt, nicht ausgetragen und nicht
geboren wird. Zeugen, Austragen und Gebären, das träfe
nur zu auf ein Dichten, das im «Stoff» den Keim des Lebens
weckt und ein Geschöpf allmählich bildet. Goethe meint aber
weiterhin, es werde im Lyrischen nichts begründet. Wir ha¬
ben gesehen, daß die lyrische Stimmung selbst grundlos ist
und daß sie auch keiner Begründung bedarf (4). Eben des¬
halb aber legt sie auch in den Hörern keinen Grund und
stiftet keine Tradition. Der Stil jedes Lieds ist einzigartig
und soll grundsätzlich nicht nachgeahmt werden. Die Stim¬
mung ist durchaus individuell und kann nur Gleichgestimmte
vereinigen, aber keine Gemeinschaft, im umfassenden Sinne
des Wortes, bilden. Es ist auch nicht möglich, auf Grund
eines Liedes eine Erfahrung zu gewinnen, die sich ander¬
wärts wieder bewährt. Man kann nicht reifen an reiner
Lyrik, weil sie durchaus zufällig ist. Ein Zufall hat keine
Verantwortung. Auch Verantwortung findet ja immer nur
statt, wo ein Gegenüber besteht.

Der Lyriker also baut nichts auf, aber freilich zerstört er


auch nichts. Eine Tragödie kann den Glauben zerstören, in¬
dem sie Widersprüche im Weltbild eines Geschlechts auf¬
deckt (vergleiche Seite 188). Der Lyriker, der vom Strom des
Daseins getragen wird und in jedem Moment den früheren

79
Moment vergißt, der also keinen Zusammenhang herstellt,
wird auch des Widerspruchs nicht gewahr. In einem Gedicht
Brentanos heißt es:

«Nacht ist voller Lug und Trug,


Nimmer sehen wir genug
In den schwarzen Augen;
Heiß ist Liebe, Nacht ist kühl,
Ach! Ich seh ihr viel zuviel
In die schwarzen Augen!

Sonne wollt’ nicht untergehn,


Blieb am Berg neugierig stehn;
Kam die Nacht gegangen;
Stille Nacht, in deinem Schoß
Liegt der Menschen höchstes Los
Mütterlich umfangen.»

Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütter¬
licher Schoß. Ich sehe nie genug, ich sehe viel zuviel in ihre
Augen. Das steht unvermittelt nebeneinander. Es stört den
Dichter nicht, denn er denkt nicht, und er setzt nichts voraus.
Ein einzelnes Lied beweist darum nichts. Ein Epos,
ein Drama beweist zunächst, daß sein Schöpfer eine dichte¬
rische Existenz ist. Ein einzelnes Lied dagegen, wie es in jeder
Hinsicht ein Zufall bleibt, kann auch einmal Unbegabten
gelingen. Es gibt in der deutschen Dichtung manche Zufälle
dieser Art, etwa die wenigen Lieder Luise Hensels, Ma¬
rianne von Willemers oder das «Zu spät» Friedrich Theodor
Vischers. — Doch Epen und Dramen beweisen noch mehr.
Ein Epos beweist eine Einheit des Daseins, weiterhin eine
Einheit des Volks (vergleiche Seite 131). Ein Drama kann
beweisen, daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (ver-

80
gleiche Seite 183). Epen und Dramen haben also eine ge¬
schichtliche Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es
wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe einzelner.
Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied bestimmen
lassen, wie man sich wohl aus Epen und Dramen einen Hel¬
den wählen mag. Es gibt kein Vorbild und schreckt nicht ab.
Wir finden keinen Rat bei ihm, wenn wir uns entscheiden
müssen, während uns eine Sentenz doch wohl in schwerer
Stunde stärken mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen
keine Probleme. Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer
wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches je als
Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied kann uns
trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine Geliebte als
ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu Werken und
Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher als die Frau, die
mit dem Manne dauernd verbunden ist. All dies geht daraus
hervor, daß lyrische Dichtung nichts bewältigt, daß sie keinen
Gegenstand hat, um etwas wie Kraft daran zu erproben, daß
sie, um es kurz zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.

Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des Lieds
begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts vor». Wie
sollten sie Geschichte machen oder irgend verläßlich sein?
Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir wissen nun aber, wie
die Kürze zum Wesen des Lyrischen gehört. Jedes Lied ist
kurz, weil es nur so lange dauert, als das Seiende mit dem
Dichter übereinstimmt. Das heißt jedoch mit anderen Wor¬
ten: Der lyrische Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das
Schicksal, der Widerstand eines fremden Daseins einsetzen
könnte, hört sein Dichten jeweils auf. Er bedenkt nicht, was
dieses Aufhören bedeutet; daß jenes Leben, das Musik war,
nun wieder fremd und äußerlich ist. Er spürt es wohl und

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trauert darüber. Aber so lang er es spürt, vermag er sich
nicht als Dichter zu äußern. Ihm bleibt nur übrig, neue Gunst
der Übereinstimmung zu erwarten. Dann singt er abermals
einige Verse, um alsbald wieder zu verstummen. Ein unge¬
heuerliches Dasein, das die Beseligungen der Gnade mit
einer erschütternden Hilflosigkeit in allem, was Verdienst
ist, erkauft, das Glück der Übereinstimmung mit einer im
Alltag blutenden Wunde, für die auf Erden kein Heilkraut
blüht.

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