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Archiv für Musikwissenschaft
von
PETER GULKE
The article offers an interpretation of Richard Strauss's song "1m Abendrot"—the last of the co
Vier letzte Lieder, set to a poem by Eichendorff. The song is viewed within the tension resulting
epigonic style and the historical context from which it sprang.
Wir sind durch Not und Freude / Tritt her, und laB sie schwirren, /
Gegangen Hand in Hand, / Bald ist es Schlafenszeit, /
Vom Wandern ruhn wir beide / DaB wir uns nicht verirren /
Nun iiberm stillen Land. In dieser Einsamkeit.
Wie ruht man „iiberm Land", so weit oben, dass man „die
Kônnen Lerchen „nachtraumend... steigen... in den Duft
„Luft" herbeigezogen hat? Welche „Einsamkeit" ist es, in
stillem Frieden" verirrt?
Wie immer Eichendorff das Gedicht Im Abendrot uberschrieb und nicht „Abendrot"
(womit er eine Situation bzw. Befindlichkeit, nicht eine Sache benannte) und Beginn wie
Ende keinen Zweifel am metaphorischen Durchblick erlauben - gerade der verlangt ein
konsistentes Bild als Grund, von dem er ausgehen kann. Der aber ist schon von sich aus
porôs: „Tritt her, und laB sie schwirren" geht mit der Bitte an die Angesprochene, eng
zur Seite zu sein, iiber das einfuhrende „Wir" der ersten Strophe hinaus, halb tritt der
Sprechende dem beschriebenen Bild gegeniiber. Doch ist das zugleich als Voraussetzung
der folgenden Zeile („Bald ist es Schlafenszeit") vonnôten und halt das Ganze in der
Schwebe zwischen Beschreibung und Gleichnis fest. „So tief im Abendrot" erscheint
als direkte Ergânzung zu „0 weiter, stiller Friede", wird hiervon jedoch durch das Aus
rufezeichen getrennt; hingegen fehlt ein Satzzeichen zum anschlieBenden „Wie sind
wir wandermude", wozu es ebenso passt - als erstes Glied eines dreiversigen Satzes,
Die „Weite" des Friedens ist nicht nur die der imaginierten Abendlandschaft, der
Abend nicht nur der des Tages, die Schlafenszeit nicht nur die der bevorstehenden Nacht,
die Miidigkeit mehr als die nach der Wanderung, auf der die beiden heute gewesen sind.
Indes zwingt der Doppelbezug - gibt es doch „nachtraumend" auffliegende Lerchen? -,
es immer neu zu vergegenwârtigen und ein ausschlieBlich metaphorisches, auf ein
„eigentlich" Gemeintes ausgehendes Verstândnis zu meiden. Auch nimmt die Schwebe
dem Zulauf auf den Schluss das Odium geradliniger Konsequenz, sie entlastet, ihn in
„weiten, stillen Frieden" hineinstellend, den „Tod". Wie nahe der, dessen „Seele" in
einem beriihmteren Gedicht „weit ihre Fliigel" ausspannt!
Unangestrengt vereint das Gedicht Intimitât und hohen Ton: „Wir sind durch Not
und Freude / Gegangen Fland in Hand" - da vergegenwârtigt es nicht weniger als einen
Lebenshorizont. An ihn zunâchst, weniger an Eichendorffs „Ton", scheint der vierund
achtzigjâhrige Strauss anzukniipfen, er wirft sich ins Tutti, da es oflfenbar ein Testament
gilt, wie in eine letzte Beschwôrung des luxurierenden Orchesters aus anderen Zeiten.
25 Takte lang halt er den volltônend groBen Zug fest, als drohe beim geringsten Nach
lassen der Abbruch, fast, als vergaBe er daruber Sàngerin und Gedicht. Das erscheint,
wenngleich vor den anderen drei Liedern komponiert - beendet am 27. April 1947, diese
erst im folgenden Jahr -, wie von vornherein als Finale gedacht; dazu gab das Ende des
Gedichts eben genug Anlass. Kaum zufâllig handelt es sich innerhalb der Lieder um das
umfangreichste Vorspiel, auch scheint es vom danach Gesungenen weiter ab zu sein als
die anderen Einleitungen - die ersten beiden von vornherein begleitend, wie auf den
Eintritt der Stimme wartend, das dritte sogleich „sprechend" und motivisch konkret, in
der dritten Strophe („Und die Seele unbewacht") im Gesang uberdies direkt eingelôst.
Das legt die Vermutung nahe, die drei Hesse-Lieder seien nachtràglich hinzugekommen,
weil Strauss sie als Vorspann zum vierten und iiberhaupt ein werkhaftes Ganzes brauchte.
Wie immer Worte und Tone in sicher getroffenen Losungen zu der Vorstellung ein
laden, sie seien als Emanationen ein und desselben „Tonuntergrundes" (Nietzsche) in
irgendeiner Ursprachentiefe vordem verbunden, zumindest fïireinander bestimmt gewe
sen - Medialitât, Gegenstand und Sprechweise unterscheiden sich, aller Gleichklânge
unerachtet, dennoch fundamental. Sie miissen erst zusammengebracht werden. Hat
Strauss dies, inspiriert von der bei Eichendorff hinterlegten Wanderung - in den Abend,
durch den Tag, durchs Leben - bewusst wahrgenommen und als Wegstrecke, hat er, von
der Materialitât spâtromantischer Mittel und der Distanz zu neueren Entwicklungen
des Komponierens abgesehen, von vornherein und bewusst Retrospektive komponiert?
Spâtestens beim Zitat von Tod und Verklârung tritt es unverstellt zutage - und nimmt
dem Bedenken viel von seinem Gewicht, das opulente Aufgebot iiberspule Eichendorffs
still-andâchtigen Schauder in der Frage nach dem Tod. Um dort ankommen zu kônnen,
muss die Musik von woanders hergekommen sein, sie schafft dem Gedichtverlauf eine
weit ausholende Hullkurve.
Beispiel la bis c
Beispiel 2a und b
Zudem schliebt der Abgang im Nachspiel an das Zitat aus Tod und
spiel 3a). Strauss wollte wohl verhindern, dass es etikettenhaft herau
begegnen Anspielungen und Vorformen (4 vor A, 2 vor A, 3 nach A
D, 5 vor Ε etc., vgl. Beispiel 3b bis h), um es wie aus dem neuen
hervorgegangen hinzustellen. Andererseits ist es als Zitat vonnôten,
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Beispiel 4
Auch auf andere Weise: In den beiden ersten Liedern gab es etliche, teils ausladende
Melismen, im vierten kaum noch, in dessen letzten beiden Strophen keine mehr. Das in
Worten Gesagte wiegt zunehmend schwer; nicht zufallig redet am Beginn der dritten
Strophe, da der Sprechende die Gefahrtin anspricht, die Solo-Violine wie eine vox huma
na mit. Zur letzten Strophe (5 vor E) fiihrt eine feierlich ôffnende, hier neue Ûberleitung
hin, und deren vier Verse werden jeweils durch hinleitende Takte vorbereitet, als hâtte
jeder das Gewicht einer Strophe.
Sicherlich holt Strauss das Vorspiel auch der formalen Rundung zuliebe in den Schluss
herein: Je enger die Mundung des Textes, desto mehr Tuchfuhlung wird hergestellt mit
dem, was zunâchst exterritorial schien - schlieBende Rtickkehr zudem umso mehr, als
die zweite Strophe, verlockt durch „dunkelnde Luft", harmonisch und in „luftigen"
Klangkonfigurationen weitab fuhrte. Wohl steigen die Lerchen als trillernde Flôten
programmatisch konkret, doch halten sie sich nahe bei der Singstimme; zu unverstellter
Illustration kommt es nicht, Strauss deutet mit spitzem Griffel nur an, erinnert mehr, als
Ein alter Mann, vordem ein Gluckskind an Begabung und im Lebensgang, nun bedrângt
von der Frage, weshalb er die letzten Jahre hat erleben mussen, lâsst sich vom Dich
ter Stichworte liefern fur ein Zeugnis, dass er sich selbst historisch wird. Neben dem
Ruckzug nach innen, der Konfrontation mit der letzten, persônlichsten Frage bietet sich,
u. a. angesichts weit zuriickliegender kompositorischer Entwicklungen wie der eben
verrauchten Kriegskatastrophe, die Formel „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"
an. Freilich benennt sie mehr als sie erklârt - und versperrt die Frage, inwiefern auch
diese in ihrer Materialitât anscheinend seit fast einem Halbjahrhundert tiberholte Musik
zeitgenôssisch, mehr als das Lamento des Alten sei, der die Welt nicht mehr versteht,
mehr als ein Refugium derer, die sich dem Grauen und Problemen der Nachkriegszeit
verschlieBen wollen.
Das lâsst sich in die Frage verlângern, ob im Inneren der Musik, die nach MaBgabe
eines grob begriffenen „Materialstands" von vorgestern ist, nicht eine „Logik des Zer
falls" nage, die sehr wohl authentische Auskunft iiber die Zeit gibt, da sie geschrieben
wurde. Môglicherweise fanden gar Adornos Spâtstil-Kriterien Anhalt, etwa in den
Anstrengungen, den hochgespannten Bogen des Vorspiels durchzuhalten, jâhe harmo
nische UmbrUche als Sprungbrett weiterer Fortspinnungen zu bemuhen, oder im „anti
diatonischen" Umgang mit einem Material, das nach diatonischer Ordnung sucht und
sie selten bekommt - am ehesten am Anfang und Ende. Sind dem zâhen Widerstand, der
bei aller Meisterschaft schwierigen Verteidigung gegen zerbrôselnde Verbindlichkeiten
nicht mindestens ebenso starke Wahrheitsmomente eigen wie einer moderneren Musik
sprache, die derlei Anstrengung nicht bedarf und Schàrfungen, die einstmals wehtaten,
ins bequeme Mittelfeld ihrer Wirkungen holt? Gewiss geraten bei derlei Fragen nicht
nur die MaBgaben eines einseitig indizierenden Materialstands ins Zwielicht, sondern
auch diejenigen âsthetischer Stimmigkeit und kompositorischen Vermôgens. Sie dûrften
jedoch nicht isoliert gestellt werden. Im „farbigen Abglanz" des groBen Abschieds wie in
etlichen Passagen des Liedes erscheint ein „Verirren... in dieser Einsamkeit" reflektiert,
an dem auch die Wahrheiten der Nachkriegszeit teilhaben, erst recht am Anfang und am
Ende die - sei's trotzige, sei's resignative - Stutzung der schwankenden Fassade.