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Peter Härtling

Zwischen Untergang und Aufbruch


Aufsätze, Reden, Gespräche

1
Dokumentation
Essayistik
Literaturwissenschaft Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1990
Auswahl: Günther Drommer I. Lauschend den vorauseilenden
Echos des großen Umsturzes

Härtling, Peter:
Zwischen Untergang und Aufbruch: Aufsätze, Reden, Gespräche. - 1. Aufl.
Berlin; Weimar: Aufbau-Ver!., 1990. - 510 S.
(Dokumentation, Essayistik, Literaturwissenschaft)
NE: Auswahl: Drommer, Günther

ISBN 3-351-01644-1

1. Auflage 1990
© Aufbau-Verlag Berlin und Weimar (für diese Ausgabe)
Einbandgestaltung Ines Bussenius unter Verwendung des Gemäldes
„Die Hülsenbeckschen Kinder" von Philipp Otto Runge
Mit freundlicher Genehmigung der Hamburger Kunsthalle
Farbaufnahme Elke Walford
Graphischer Großbetrieb Pößneck GmbH
Printed in the German Democratic Republic
Lizenznummer 301.120
Bestellnummer 614 193 3
Der Zeuge tritt hervor Erde und Meer gegenwärtig ... " Über diesen Hof werden wir
gehen, ein, zwei Wege.
Zu Peter Huchels Gedichtband CHAUSSEEN CHAUSSEEN In dem 1948 im Aufbau-Verlag, 1949 im Stahlberg Verlag
erschienenen Band GEDICHTE standen die vier Strophen über
Zu den Autoren, die kurz vor 1933 der Dresdner Martin die Schattenchausseen, ein Gedicht, das damals in seiner me-
Raschke um seine Zeitschrift KOLONNE scharte, gehörte auch taphorischen und metrischen Gewalt mit einem Male klar
Peter Huchel. Mit ihm schrieben für diese ebenso zurückhal- machte, was aus der Zeit gewachsene Lyrik bedeutet. Das Ge-
tend wie eigenwillig geleitete Zeitschrift Jürgen Eggebrecht, dicht einer Verfolgung, vom Verfolgten gesehen und gesagt.
Günter Eich, Hermann Kasack, Elisabeth Langgässer, Oda Ein bedrohlich drängender Rhythmus; eine verdunkelte, ver-
Schäfer, Hans Leifhelm und Paul Zech. Nicht weniges davon schattete Landschaft, diese Gegend, die der auf dem Gut sei-
wurde später unter dle Rubrik „Naturlyrik" geordnet. Die Ent- nes Großvaters in Alt-Langerwisch (Mark Brandenburg) auf-
wicklungen der Poeten sprechen dem zum Teil entgegen. gewachsene Dichter erinnert und meint. Die heuchelnde Er-
Eine Gemeinsamkeit läßt sich aber den Gedidlten aller, die in innerung verzerrt und verödet das Land. Der Auftakt des Ge-
der KOLONNE hervortraten (ausgenommen Elisabeth Langgäs- dichtes ist von finsterer Inständigkeit, unvergeßlich:
ser und Guido Zernatto) ablesen: eine melodiöse, zart und ge-
сдержанность
nau skandierende Diskretion. Das sind keine lauthals gespro- Sie spürten mich auf. Der Wind war ihr Hund.
chenen Verse. Selbst Warnung, ja Engagement drücken sich Sie schritten die Schattenchausseen.
in den frühen wie späteren Versen von Eich, Huchel und Eg-
укоризненный
gebrecht nicht schreiend und vorwurfsvoll aus eher gebiete- Die Verfolger finden ihn nicht. Der Mann schleppt sich wei-
risch leise in ihrer Beobachtung der Dinge, Menschen und ter. In ihm wächst das Wissen von dauernder Jagd, er wird un-
переплетение
Vorgänge, in ihrer Verflechtung von Gegenwart und Mythen, terwegs bleiben, er unterwirft sich den der Geschichte einge-
in überrumpelndem Singsang oder in beunruhigender Addi- brannten Zeichen, er nimmt sie wahr und nimmt sie auf. In
tion. der Verfolgung wird er die Verfolgung los. Er befreit sich in
Wir haben ein Kennwort gewählt; das Kennwort lautet: der Trauer, die alles weiß:
Chaussee. Es ruft den Charakter einer bestimmten Landschaft
auf: nördliche Ebene, durch die gerade Straßen, von Bäumen 0 schwebende Helle, du kündest den Tag
flankiert, geschnitten sind; Spiegel der Seen unter einem sehr Und auch die Schädelstätte.
weiten, bewegten Himmel. Hier greift die Erde nicht mit Ge-
birgen zum Himmel, unmerklich und wei entfernt ber~!iren Der Topos von den Chausseen als Erkennungs- und Erkennt-
sich Himmel und Erde in einer Schicht von Grau. Der Uber- nismal. Ein Signal der Bewegung: Das Auge überwacht die
gaog ist sanft, er vereint. Dorthin, zu diesem Grenzbruch, der Chausseen, wandert auf ihnen. Gegend ordnet sich zwischen
immer weiter fortläuft, je näher man zu ihm hin will, führen ihnen. Sie verbinden, sie trennen das Kärgliche und das
die Chausseen. Dorthin reichen die Ufer der Seen und heben Schöne. Und dazu die einfachen Bewegungen von Ankunft
sich auf. Landschaften in der Mark Brandenburg, in Mecklen- und Abschied. Blickschienen der Sehnsucht. All dies kann in
burg, Pommern und in Masuren. Es nistet da die Melancholie. den Gedichten angesprochen werden, unter der Vorstellung
Stimmen dämpfen sich. Witz reißt Böden auf. Es ist die Land- an eine ganz bestimmte Landschaft, die Heimat genannt wird.
schaft, die von vielen der Gedichte Huchels als Heimat aufge- Welche Metaphern verbinden sich mit den Chausseen, die
nommen wird. Und von ihr spricht auch das Motto des Augu- sich durch dieses oder jenes Land ziehen, das doch immer
stinus, das Huchel seinem Band vorangestellt hat: „ ... im gro- dasselbe ist? Licht und Mittag; Schatten, Nacht und Nebel;
ßen Hof meines Gedächtnisses. Daselbst sind mir Himmel, Kälte und Regen; Wunde und Schmerz. Das sind, bis auf die

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beiden letzten Wörter, die man unwillkürlich mitdenkt, die Es stürzt das Licht aus rissigem Spalt,
nicht verstiegen sind, keine Symbolik auftragen. Sie meinen Niederbrandend
dieses oder jenes, sie trennen diese Chaussee von jener. Aber Auf Telegrafendrähte und kahle
nur scheinbar. Es ist eine einzige Straße, gleichgi.iltig ob sie in Chausseen.
der Bretagne, in Brandenburg oder in der Nähe von Warschau
liegt. Das Licht, das in vielen Gedichten Huchels aufbrandet, Die Chaussee ist lebendig, sie selbst ist unterwegs, trägt das,
jählings einfällt, hat einen dunklen, melancholischen Rand. was auf ihr ist, in die Zeit hinein:
Der bleibt imme.t spürbar. Die Nacht die sich über seine Zel-
len senkt, hat immer einen aufgehellten Horizont. S sind Wohin, ihr Wolken, ihr Vogelschwärme?
Licht und Dunkel einander nah und trennen sich nie. Die Kalt weht die Chaussee ins Jahr,
Schatten bleiben: Sle werden erhellt und durchbrochen von Wo einst der Acker warm von der Wärme
einem kaum ausgesprochenen, doch jede Zelle bewegenden Des brütenden Rebhuhns war.
Mut, einer „großen Lauterkei " (Dieter E. Zimmer). Das Licht
wird häufig beschworen, gleich elnem lebendigen Wesen. Was Freilich, nie wird das Drama unserer Jahre vergessen. Wie
Buchel mit der Herkunft und dem Einbruch des Lichtes ver- schon in den Schattenchausseen spielt das Unheil mit, bleibt
bindet, sagt er in dem Gedicht, das er zum Gedächtnis an Paul in der Erinnerung gegenwärtig:
Eloard schrieb, der wie er, das Lich liebte und benannte das
Licht der Liebe: Erwürgt Abendröte
Stürzender Zeit!
Freiheit, mein Stern, Chausseen. Chausseen.
Nicht auf den Himmelsgrund gezeichnet, Kreuzwege der Flucht.
Über den Schmerzen der Welt Wagenspuren über den Acker,
Noch unsichtbar Der mit den Augen erschlagener Pferde
Ziehst du die Bahn Den brennenden Himmel sah.
Am Wendekreis der Zeit.
Ich weiß, mein Stern, Hier wird die dritte, benennende Zeile (es handelt sich um
Dein Licht ist unterwegs. die erste Strophe des Titelgedichts) Angelpunkt, die Metapher
springt nach beiden Sehen, öffnet sich. „Stürzende Zeit": die
Man sollte das Wort Chausseen gleichermaßen als den Begriff Straßen werden zu mörderischen .Abhängen und lassen keinen
elner Bewegung lesen, der dk Erfüllung als ein Unterwegs, als Ausweg. Das fängt sich auf und ordnet sich in „Kreuzwege
eine Erfahrung meint. Was immer über und in der Landschaft der Flucht". Die Gestik innerhalb des Gedichts läßt sich
sich ereignet, hier zieht es sich zusammen, hier wird es deut- schwer vereinbaren, sie ist diskrepant, aber in sich exakt. Das
bar, und wir erinnem uns an die Sprache der „Vogelstraßen", Gedicht drückt einen psychischen Zustand, den der Flucht,
die Loerke, einer der großen Vorgänger Huchels, zu ie en ver- der Verlorenheit, der nahen Selbstaufgabe, in für sich genom-
stand. men geradezu realistischen Bildern aus. Was die Metaphern
Die Gegenmetapher zu Chausseen, die Bedrohung und bindet, ist die Spannung der Gebärde. Die Landschaft ist uns
Schurz in sich vei·eint, Lautet Hohlweg. Sie kommt in vielen vertraut. Aber da bestürzt uns von neuem Huchels Kunst (ein
edlchcen vor. Hohlweg provoziert Überfall. Chau see hinge- gutes Beispiel für seine Poesie): die Erde nimmt die Augen
gen ist für Licht und Finsternis frei, sie bietet sich dar: der toten Pferde auf und sieht durch sie den Himmel jener
Zeit. Die Erde empfängt Leben von dem, was sterbend in sie

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einsinkt. In diesen Zeilen ballt sich der Untergang; er wird strömen sie aus. Das Ungesagte, Luftraum des Gitters,
nicht überschrien und nicht verklagt; der es sieht, fügt sich schwingt von dem Aroma einer vertrauten (oder im Gedicht
auch nicht in ihn. Er faßt zusammen. Er schafft den Kreuzweg veruaut gewordenen) Landschaft, nicht minder von der Inten-
und bekennt sich zu ihm: sität eines Geistes, der Mythen zu erneuern vermag, indem er
sie, in des Wortes genauestem Sinn, vergegenwärtigt.
Nie kam im Nebel der langen Winterchausseen Vor mehreren Jahren begann Huchel die Arbeit an der lyri-
Ein Simon von Kyrene. schen Chronik DAS GESETZ, in der er Ursprung, Verwandlung,
Qual und Fortschritt eines Landes, einer Landschaft zu schil-
Huchel schreibt eine Poesie der klarsichtigen Einsamkeit. dern sich bemühte. Nicht wenige Gedkhte aus dem nie voll-
Darum empfinden wir, lesend, die tapfere Beständigkeit, die endeten Werk stehen jetzt, ohne den Zusammenhang zu wah-
seine Zeilen kräftigt. ren, in dem Band CHAUSSEEN CHAUSSEEN. HucheJ veröffent-
lichte Teile aus der Chronik in SINN UND FoRM, der bis 1962
Vor mir v n ihm geleiteten Zeitschrlit, und in Anthologien. An
In schmerzender Helle einigen Gedichten hat er Veränderungen vorgenommen. Sie
Die stinkende Wunde der Chaussee, kennzeichnen sein Streben nach einer durchlichteten Karg-
Verkrustet und wieder aufgerissen. heit. In der Anthologie IM WERDENPEN TAG, die ünther
Deicke im Leipziger Reclam Verlag edierte, stießen wir auf
Aber ich blieb eine erste Fassung des Gedichtes Drn PAPPELN . Damals trug
an diesen Seen ... das edicht den Titel TN DER H m MAT. Es ist da noch ungleich
weitschweifiger, deskriptiver. Es spricht mehr aus. Allein die
An den wenigen Zitaten ist Huchels Stil zu erkennen. Ein Titeländerung bezeugt Huchels Wunsch durch Indirektes di -
rauhes, das Melos dennoch einschließendes Parlando. Der rekt zu sein. Das denhafte IN DER HETMA'r weicht dem signi-
Reim tritt nicht so häufig auf wie in seinen früheren Gedich- fikanten, Vorstellungen und Emotionen wie in einem schlan-
ten. Wo er ihn aufnimmt, ist er unprätentiös, manchmal fast ken Stamm zusammenpressenden Dm PAPPELN. Die vorletzte
lautlos und unscheinbar. Das Lied, das aus den Reimen Strophe des Gedichtes lautet ·in der ersten Fassung:
wächst, hört sich streng und gelassen an. Bobrowski mag hier
einiges gelernt haben. Oder ist es die Landschaft, in der beide Schön ist die Heimat,
Dichter - und beide leben im anderen Deutschland - auf- Wenn über der grünen Messingscheibe
wuchsen, die sie zu schreiben lehrte in ihrem traurigen Des Teichs der Kranich schreit
Gleichmut, in ihrer Fülle von gedämpftem, in Seen sich spie- Und das Gold sich häuft
gelndem Licht? Auch die graziöse, humane Kalligraphie Fon- Im blauen Oktobergewölbe;
tanes wird tief vor diesem Hintergrund. Beide, Huchel wie Bo- Wenn Korn und Milch in der Kammer schlafen,
browski, beherrschen den Reichtum des Enjambements, des Die rußige Schmiede des Alls
Zeilenübergangs: dadurch synkopisiert sich der Sprachfluß, Beginnt ihr Feuer zu schüren.
man hört die Wörter atmen. Vom Amboß der Nacht
Huchel hat in den letzten Gedichten immer mehr die Ver- Und fallend auf den Schatten der Fledermäuse
kürzung gesucht, das Gitter der Sprache, durch das die Land- Sprühen die Funken.
schaft gerastert wird, in das sich Schweigen einnistet. Es War es nicht immer die Nacht,
könnte zu symbolisierender Übertreibung führen. Davor be- Die das glühende Eisen
wahren sich Huchels Gedichte: sie saugen Realität ein, sie Der Morgenröte schuf?

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Die neue Fassung: aus der Existenz. Das ist, was uns erstaunt und was uns fas-
sungslos macht. Sie trachtet nicht zu erneuern; sie macht neu,
Schön ist die Heimat, was sie braucht. Endlich, nach fünfzehn Jahren schweigsamer
Wenn über der grünen Messingscheibe Arbeit, tritt dieser Mann mit einem großen Werk vor uns hin.
Des Teichs der Kranich schreit Eine humane, eine leidende und eine tröstende Stimme. Sie
Und das Gold sich häuft sagt sich bohrend in unser Gedächtnis ein. Sie schenkt uns
Im blauen Oktobergewölbe; nicht brausende Hoffnung, sie versucht nur das Licht zu über-
Wenn Korn und Milch in der Kammer schlafen, reden, irgend einmal zu kommen.
Sprühen die Funken
Vom Amboß der Nacht. Wohin du stürzt, o Seele,
Die rußige Schmiede des Alls Nicht weiß es die Nacht. Denn das ist nichts
Beginnt ihr Feuer zu schüren. Als vieler Wesen stumme Angst.
Sie schmiedet Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.
Das glühende Eisen der Morgenröte.
Und Asche fällt
Auf den Schatten der Fledermäuse.

Nicht allein die Umstellung einiger Zeilen ist wichtig, son-


dern die Wandlung des Tonfalls. Jetzt wird lakonisch gesagt.
Dennoch ist das Pathos der Urfassung nicht verschwunden:
das Schluchzen, wenn wir es hören wollen, ist nur trockener
geworden. Die Bilder stehen knapp, verknappt, nebeneinan-
der, und es ist geheimnisvoll, wie die Kluft zwischen ihnen
sich ungeheuer geweitet hat.

Ein schieres Wunder ist der Beginn dieser Strophe: Eine abge-
klapperte, verschlagene, versüßte und vollständig ausgefühlte,
ins Verlogene geratene Zeile taucht blank und hell und neu
vor uns auf. Es ist die Stimme des Dichters, die sie erneuert
hat; es sind alle Sätze, die ihr folgen: eine Antwort auf das,
was verlorenging und wiedergewonnen wurde im Anschaun
und im Anruf. „Wenn Korn und Milch in der Kammer schla-
fen" - wir haben nicht gedacht, daß irgend jemand dies noch
einmal würde schreiben können. Es ist geschehen, leicht und
lauter: Und die Finsternis, die sich dahinter aufrichtet, würgt
den Himmel, das Land und den Dichter, der dies gelassen nie-
derschreibt, es erkennend als unverloren, wenn es auch Asche
regnet.
Peter Huchel hat auch einmal ein Gedicht an Lenin ge-
schrieben. Seine Lyrik redet aber nicht von Politik, sie redet

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