Sie sind auf Seite 1von 40

Wolfgang Iser

Der Akt des Lesens


Theorie ästhetischer Wirkung

4. Auflage 1994

Wilhelm Fink Verlag München


Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

!ser, Wolfgang:
Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung /
Wolfgang !ser. - 4. Aufl. - München: Fink, 1994
(UTB für Wissenschaft: Uni Taschenbücher; 636: Literaturwissenschaft)
ISBN 3-8252-0636-X (UTB)
ISBN 3-7705-1390-8 (Fink)
NE: UTB für Wissenschaft / Uni-Taschenbücher

4. Auflage 1994

2. durchgesehene und verbesserte Auflage 1984

© 1976 Wilhelm Fink Verlag GmbH & Co. KG


Ohmstraße 5, 80802 München
ISBN 3-7705-1390-8

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne
Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany
Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Freiberg am Neckar
Herstellung: Ferdinand Schäningh GmbH, Paderborn

UTB-Bestellnummer: ISBN 3-8252-0636-X


B Die passiven Synthesen des Lesevorgangs

1. Der Bildcharakter der Vorstellung

Die Erfassungsakte des wandernden Blickpunkts organISIeren den


Transfer des Textes in das Bewußtsein. Der Wechsel des Blick-
punkts zwischen den Darstellungsperspektiven fächert den Text im
Bewußtsein zur Struktur von Protention und Retention auseinan-
der, woraus sich Erwartung und Erinnerung als wechselseitige Pro-
jektionsflächen im Lektürevorgang ergeben. Der Text selbst ist we-
der Erwartung noch Erinnerung, so daß die Dialektik von Vorblick
und Rückkoppelung zum Anstoß wird, eine Synthese zu bilden,
durch die die Zeichenbeziehungen identifiziert und ihre Äquivalenz
repräsentiert werden können. Solche Synthesen indes sind von
eigentümlicher Natur. Sie sind weder in der Sprachlichkeit des Tex-
tes manifestiert, noch sind sie reines Phantasma der Einbildungs-
kraft des Lesers. Die Projektion, die sich hier vollzieht, verläuft auch
nicht eingleisig. So gewiß sie eine Projektion des Lesers ist, die von
ihm ausgeht, so gewiß. bleibt sie gelenkt durch die Zeichen, die sich
in ihn 'hineinprojizieren'. Der Anteil des Lesers und der Anteil der
Zeichen an dieser Projektion erweisen sich dann als schwer vonein-
ander zu trennen. "Genaugenommen sieht man hier eine komplexe
Realität aufsteigen, bei der der Unterschied zwischen Subjekt und
Objekt schwindet."l Komplex istcliese Realität aber niCht -aiIein
lfa~ch die Zeichen des Textes erst in den Projektionen
eines Subjekts erfüllen, - Projektionen allerdings, die ihrerseits zu
fremden Bedingungen konturiert werden - sondern auch dadurch,
daß diese Synthesen unter der Schwelle des Bewußtwerdens ver-
laufen und dadurch selbst nicht gegenständlich werden, es sei denn,
man hebt sie zum Zweck der Analyse über diese Schwelle hinweg.
Doch selbst in einem solchen Fall müssen sie erst einmal gebildet
werden, ehe sie Gegenstand der Beobachtung sein können. Weil
ihre Bildung so unabhängig von beobachtender Einstellung ist, sol-
len sie in Anlehnung an eine von Husserl gebrauchte Termino-

I Jean Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, übers. von Eckhart

Rohloff, Frankfurt 1973, p. 78.

219
logie passive Synthesen heißen, um sie von jenen zu unterscheiden,
die über Urteile und Prädikationen zustande kommen. Passive
Synthesen sind daher vorprädikative Synthesen, die sich unterhalb
der Schwelle unseres Bewußtwerdens vollziehen, weshalb wir dann
auch im Lesen in dieser synthetischen Aktivität befangen bleiben.
Es fragt sich nun, inwieweit passive Synthesen einen bestimmten
Modus besitzen, dessen Ermittlung eine Voraussetzung für die Be-
schreibung der in den passiven Synthesen geleisteten Auffassung
des Gelesenen bleibt.
Der zentrale Modus passiver Synthesen ist das Bild. "The image",
so meint Dufrenne, "which is itself a metaxu or middle term be-
tween the brute pr·esenee where the objeet is experieneed and the
thought where it beeomes ideal allows the objeet to appear, to be
present as represented."2 So bringt das Bild etwas zur Erscheinung,
das weder mit der Gegebenheit des empirischen Objekts noch mit
der Bedeutung eines repräsentierten Gegenstands identisch ist. Die
bloße Gegenstandserfahrung ist im Bild überstiegen, ohne dadurch
schon eine Prädikatisierung des im Bild zur Erscheinung Gebrachten
zu sein. Eine solche Charakteristik des Bildes läßt wieder an die
eingangs diskutierte Novelle von Henry James denken, in welcher
der Sinn des Romans weder als eine Botschaft noch als eine be-
stimmte Bedeutung zu fassen war, sondern in einem Bild: 'der Figur
im Teppich', zur Erscheinung kam. Darüber hinaus stimmt der
BHdcharakter passiver Synthesen zu einer Erfahrung der Lektüre,
die häufig von einem mehr oder minder deutlichen Bilderstrom be-
gleitet ist, ohne daß diese Bildfolgen - selbst dort, wo sie sich zu
einem ganzen Panorama zusammenschließen - für uns selbst ge-
genständlich würden.
Die konstitutiven Bedingungen solcher Bilder hat Gilbert Ryle in
seiner Analyse der Einbildungskraft einmal wie folgt beschrieben:
Auf die Frage: "How ean a person faney that he sees something,
without realizing that he is not seeing it?" gibt er die folgende
Antwort: "S eeing Helvellyn (Name eines Berges, den Ryle zur Ex-
emplifizierung seines Sachverhaltes benutzt) in one's mind's eye

2 Mikel Dufrenne, The Phenomenology of Aesthetic Experience,


trans!. by Edward S. Casey et al., Evanston 1973, p. 345.

220
does not entail, what seeing Helvellyn and seeing snapshots of
Helvellyn entail, the having of visual sensations. It does involve
the thought of having a view of Helvellyn and it is therefore a
more sophisticated operation than that of having a view of Hel-
vellyn. It is one utilization among others of the knowledge of how
Helvellyn should look, or, in one sense of the verb, it is thinking
how it should look. The expectations which are fulfilled in the
recognition at sight of Helvellyn are not indeed fulfilled in pic-
turing it, but the picturing of it is something like a rehearsal of get-
ting them fulfilled. So far from picturing involving the having of
faint sensations, or wraiths of sensations, it involves missing just
what one would be due to get, if one were seeing the mountain." 3
Gilbert Ryle ist hier nicht ohne Vorsatz zitiert worden. Denn
seine Äußerungen verkörpern eine für die empiristische Tradition
bemerkenswerte Revision des Bildbegriffs. Für die Empiristen ver-
körperte das Bild immer nur die Art, durch die sich die Gegenstände
der Außenwelt auf der Wachstafel unseres Geistes abdrücken. Bilder
also sind Dinge, soweit sie wahrgenommen werden. Bis hin zu
Bergson galten sie "als ein Inhalt, für den das Gedächtnis nur
Gefäß ist, nicht als ein lebendiger Moment geistiger Tätigkeit". 4
Als einen solchen aber begreift ihn Ryle, der dadurch auch die
folgende Diskussion des Bildes von dem Verdacht reinigt, Bilder
seien nur 'a ghost in the machine's, wie Ryle jene Phänomene be-
zeichnet, die nirgendwo, außer in den Spekulationen unseres Gei-
stes ihren Ort haben. Das Bildersehen der Einbildungskraft ist folg-
lich nicht der Abdruck von Gegenständen in unserer 'Empfindung',
wie Hume noch zu sagen pflegte; es ist auch kein optisches Sehen
im eigentlichen Sinne, sondern gerade der Versuch, sich das vorzu-
stellen, was man als solches niemals sehen kann. Der eigentümliche
Charakter solcher Bilder besteht darin, daß in ihnen Ansichten zur
Erscheinung kommen, die sich im unmittelbaren Wahrnehmen des

J Gilbert Ryle, The Concept of the Mind, Harmondsworth 1968, pp.


244 u. 255.
• Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego, übers. von Alexa Wag-
ner, Reinbek 1964, p. 82.
5 Vgl. Ryle, pp. 17 H. passim.

221
Gegenstandes nicht hätten einstellen können. So setzt das Bilder-
sehen die faktische Abwesenheit dessen voraus, was in den Bildern
zur Anschauung gelangt. Daraus folgt, daß wir zwischen Wahr-
nehmen und Vorstellen als zwei verschiedenen Weltzugängen un-
terscheiden müssen, da für die Wahrnehmung immer ein Objekt
vorgegeben sein muß, während die konstitutive Bedingung für- die
Vorstellung gerade darin besteht, daß sie sich auf Nicht-Gegebenes
oder Abwesendes bezieht, das durch sie zur Erscheinung gelangt. 6
In der Lektüre fiktionaler Texte müssen wir uns deshalb immer
Vorstellungen bilden, weil die "schematisierten Ansichten" des
Textes uns nur ein Wissen davon bieten, über welche Vorausset-
zungen der imaginäre Gegenstand erzeugt werden soll. So kommt
der Bildcharakter der Vorstellung durch das Nutzbarmachen eines
angebotenen bzw. eines im Leser aufgerufenen Wissens zustande,
und das heißt, nicht das Wissen als solches soll vorgestellt werden,
sondern die nicht-gegebene Kombination angebotener Daten soll
im Bild zur Erscheinung gelangen. Ryle sagt daher auch zu Recht,
daß das probeweise Zusammenstellen gegebenen Wissens etwas
im Bild gegenwärtig macht, das mir im Augenblick als Objekt nicht
gegeben ist.
Halten wir zunächst fest: Das Bild ist die zentrale Kategorie der
Vorstellung. Es bezieht sich auf das Nicht-Gegebene bzw. Abwe-
sende, dessen Vergegenwärtigung im Bild geleistet ist. Es macht aber
auch Innovationen vorstellbar, die dem Dementi vorgegebenen
Wissens bzw. der Ungewöhnlichkeit von Zeichenkombinationen
entspringen. "Finally, the image adheres to perception in constitu-
ting the object. It is not a piece of mental equipment in con-
sciousness but a way in which consciousness opens itself to the
object, prefiguring it from deep within itself as a function of
its implicit knowledge".7 Die Eigenart des Vorstellungsbildes läßt
• Vgl. dazu Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. PhänomenologisChe Psy·
Chologie der Einbildungskraft, übers. von H. Schöneberg, Reinbek 1971,
pp. 199 ff. u. 281; ferner die über den von Sartre skizzierten Unterschied
hinausführende Arbeit von Manfred Smuda, Konstitutionsmodalitäten
von GegenständliChkeit in bildender Kunst und Literatur (Habilitations-
schrift Konstanz 1975), der diese Differenz zur Verdeutlichung für das
Erzeugen imaginärer Objekte in der Kunst weiterentwickelt.
7 Dufrenne, p. 350.

222
sich dort besonders deutlich fassen, wo man die Verfilmung eines
gelesenen Romans sieht. Denn hier habe ich eine optische Wahr-
nehmung, die vor dem Hintergrund meiner Erinnerung an Vor-
stellungs bilder steht. Der spontane Eindruck, der sich etwa bei der
Verfilmung von Fieldings Tom Jones einstellt, beinhaltet eine ge-
wisse Enttäuschung über die relative Armut der Figur im Vergleich
zu jenem Bild, das man sich von ihr in der Lektüre gemacht hatte.
Wie immer sich ein solcher Eindruck im einzelnen auch ausnimmt,
die unmittelbare Reaktion, daß man sich diese Figur anders vorge-
stellt hat, ist allgemein und verweist auf die für die Vorstellung
geltenden Besonderheiten. Der Unterschied zwischen den beiden
Bildtypen besteht zunächst darin, daß ich im Film eine optische
Wahrnehmung habe, der ein Objekt vorgegeben ist. Objekte haben
im Gegensatz zu Vorstellungen einen höheren Bestimmtheitsgrad.
Doch es ist diese Bestimmtheit, die man als Enttäuschung, wenn
nicht gar als Verarmung empfindet. Rufe ich angesichts einer sol-
chen Erfahrung meine Vorstellungsbilder von Tom Jones wieder
hervor, so wirken sie nun im Zustand reflexiver Betrachtung eigen-
tümlich diffus, ohne daß mich dieser Eindruck dazu veranlassen
würde, die optische Wahrnehmung des Films als das bessere Bild
von der Figur zu übernehmen. Befrage ich daraufhin mein Vors tel-
lungsbild, ob Tom Jones groß oder klein, blauäugig oder schwarz-
haarig ist, so werde ich die optische Kargheit solcher Vorstellungs-
- bilder gewärtigen. Denn diese zielen nicht darauf ab, die Roman-
figur leibhaftig sehbar zu machen; vielmehr zeigt ihre optische
Kargheit an, daß durch sie die Figur nicht als Gegenstand, sondern
als Bedeutungsträger zur Erscheinung kommen soll. Das gilt auch
dort noch, wo uns eine relativ detaillierte Beschreibung von Roman-
figuren gegeben wird, die wir in der Regel nicht als pure Beschrei-
bung der Person lesen; vielmehr richten wir uns bereits durch Vor-
stellungen darauf, was durch sie bedeutet werden soll. Wahrneh-
mungsbild und Vorstellungsbild unterscheiden sich aber nicht bloß
dadurch voneinander, daß sich das eine auf ein vorgegebenes, das
andere auf ein vorenthaltenes Objekt bezieht. Gilbert Ryle hat in
der oben zitierten Stelle bereits angemerkt, daß man in der Vorstel-
lung eines Gegenstandes etwas 'sieht', was überhaupt nicht in den
Blick kommt, wenn uns der Gegenstand in Wahrnehmung gegeben

223
ist. Folglich macht die Abwesenheit des Objekts noch nicht den
ganzen Unterschied zwischen Vorstellen und Wahrnehmen aus.
Wenn wir uns Tom Jones während der Romanlektüre vorstellen,
so sind uns - im Gegensatz zum Film, wo wir die Figur in jeder
Situation immer als ganze gewärtigen - lediglich Facetten gegeben,
die wir zu einem Bild von ihr zusammensetzen müssen. Das ge-
schieht jedoch nicht als additiver Vorgang. In den jeweiligen Fa-
cetten sind immer Verweisungen auf andere enthalten, und jede
Ansicht von Tom Jones gewinnt ihre Signifikanz erst durch die Ver-
bindung mit jenen anderen, die sie überlagern, einschränken oder
modifizieren. Daraus folgt, daß das Bild des Tom Jones nicht an
einer bestimmten Ansicht festzumachen ist, denn jede durch eine
Facette vorstellbar gemachte Ansicht unterliegt latenten Modifika-
tionen, wenn die Verweisungen in der folgenden dominant wer-
den. Das Bild von Tom Jones ist daher während der Lektüre in stän-
diger Bewegung, und diese manifestiert sich darin, daß die Folge
der Facetten die jeweils gebildete Vorstellung durch neue Nuancie-
rungen umstrukturiert. Am deutlichsten verspüren wir einen sol-
chen Vorgang immer dort, wo der Held unerwartetes Verhalten
zeigt; die Facetten kollidieren, und wir sind gehalten, eine solche
Kontamination in unsere Vorstellung aufzunehmen, wodurch sich
rückwirkend das bislang geformte Bild des Helden wandelt. Denn
in der Vorstellung versuchen wir nicht, den einen oder anderen
Aspekt der Figur festzuhalten, vielmehr gewärtigen wir die Figur
stets als Synthese ihrer Aspekte. Deshalb ist auch das Bild der
Figur, das in der Vorstellung entsteht, immer mehr als die im' je-
weiligen Lektüreaugenblick gegebene Facette. Diese liefert nur
Material für die Vorstellung, die sich über viele solcher unterschied-
lichen Facetten bildet. Keine 'Teilansicht' ist daher mit der Figur
identisch; im Gegenteil, jede isolierte Facette zeigt die Figur nur im
Zustand ihrer Nicht-Identität. Das Nicht-Identische zur Gemein-
samkeit aufzuheben, erfordert die synthetischen Akte der Vorstel-
lung, die insoweit als eine passive Synthesis verläuft, als in keinem
ihrer Schritte eine explizite Prädikatisierung erfolgt, nicht zuletzt
deswegen, weil sich der ganze Vorgang unterhalb der Bewußtseins-
schwelle vollzieht. Statt dessen löst jede neue Verbindung der ein-
zelnen Facetten eine Vorstellung aus, auf die wir wiederum mit

224
einer Vorstellung reagieren, wenn es neue Aspekte zu integrieren
gilt, wodurch sich dann das Bild der Figur als Affektion im Leser
auszubreiten beginnt.
Daraus ergibt sich im Prinzip zweierlei: Durch die Vorstellung
produzieren wir ein Bild des imaginären Gegenstandes, der als sol-
cher im Unterschied zur Wahrnehmung nicht gegeben ist. Doch
indem wir uns etwas vorstellen, sind wir zugleich in der Präsenz
des Vorgestelltenj denn dieses existiert während seines Vorgestellt-
s,eins nur durch uns, so daß wir in der Gegenwart dessen sind, was
wir hervorgebracht haben. Hier hat dann auch die Enttäuschung
unserer Vorstellung beim Sehen der Romanverfilmung ihre Wurzel.
Denn im Film geschieht "(the) removing (of) the human agent from
the task of reproduction ... The reality in a photograph is present
to me while I am not present to it j and a world I know, and see,
but to which I am nevertheless not present (through no fault of my
subjectivityL is a world past."8 Das Bild der Kamera gibt nicht nur
ein Wahrnehmungsobjekt wieder, es schließt mich auch von jener
Welt aus, die ich sehe und an deren Zustandekommen ich selbst
nicht beteiligt bin. Deshalb bildet weniger die Empfindung, sich den
Romanhelden anders vorgestellt zu haben, den Grund der Enttäu-
schung. Vielmehr ist diese nur ein Epiphänomen, in dem sich die
Enttäuschung über mein Ausgeschlossensein manifestiert, das mir
allerdings auch anzeigt, was es heißt, in der Vorstellung ein Bild
nicht-gegebener Gegenständlichkeit zu produzieren und so in deren
Gegenwart zu sein, als ob diese ein Besitz wäre. Was der Film hin-
gegen verdeutlicht, ist "the camera's outsidedness to its world and
my absence from it." 9 Die Romanverfilmung hebt die Komposi-
tionsaktivität der Lektüre auf. Alles kann leibhaftig wahrgenom-
men werden, ohne daß ich mich dem Geschehen gegenwärtig ma-
chen muß. Deshalb empfinden wir dann auch die optische Genauig-
keit des Wahrnehmungsbildes im Gegensatz zur Undeutlichkeit des
Vorstellungsbildes nicht als Zuwachs, sondern als Verarmung.

• Stanley Cavell, The World Viewed, New York 1971, p. 23.


• Ibid., p. 133.

225
2. Der affektive Cbarakter des Vorstellungs bildes

Der paradoxe Umstand, daß die optische Bereicherung durch den


Film als eine Verarmung des Vorstellungsbildes empfunden wird,
ergibt sich aus der Natur solcher Bilder. In ihnen wird das Unge-
sagte, wenngleich vom Text Gemeinte, vorstellbar. "Every definite
image in the mind", so sagt William James, "is steeped and dyed
in the free water that flows round it. With it goes the sense of its
relations, ne ar and remote, the dying echo of whence it came to us,
the dawning sense of whither it is to lead. The significance, the
value, of the image is all in this halo or penumbra that surrounds
and escorts it, - or rather that is fused into one with it and has
become bone of its bone and flesh of its flesh; leaving it, it is true,
an image of the same tbing it was before, but making it an image
of that thing newly taken and freshly understood."lo Dieser eigen-
tümlich transitorische Charakter des Bildes zeigt an, in welchem
Maße durch das Bild Beziehungen und Verknüpfungen gegenwärtig
werden. Wenn das Bild daher etwas zur Erscheinung bringt, so ist
das Erscheinende der Verweisungszusammenhang der Zeichenkom-
plexe. So sehr diese durch die Anordnung auch vorgezeichnet sein
mögen, zur Einlösung gelangen ihre Beziehungen erst in solchen
Vors teIlungs bildern.
Daraus ergibt sich ein unzertrennlicher Zusammenhang von Vor-
stellungsbild und lesendem Subjekt. Das aber heißt nun nicht, daß
die im Vorstellungsbild gegenwärtige Beziehung der Zeichenkom-
plexe der Willkür der Subjektivität entspringt - so subjektiv ihre
Inhalte auch eingefärbt sein mögen; es heißt vielmehr, daß das
Subjekt durch den im Bild vorgestellten Zusammenhang seinerseits
affiziert wird. Charakterisieren sich die von uns im Lesen gebilde-
ten Vorstellungsgegenstände dadurch, daß sie Abwesendes bzw.
Nicht-Gegebenes zur Präsenz bringen, so besagt dieses immer zu-
gleich, daß wir in der Präsenz des Vorgestellten sind. Ist man aber
in einer Vorstellung, so ist man nicht in der Realität. In der Ge-
genwart einer Vorstellung zu sein bedeutet daher stets, eine gewisse

10 Williarn Tarnes, Psymo]ogy, ed. with Introduction by Ashley Mon-


tagu, New York 1963, pp. 157 f.

226
Irrealisierung zu erlebenIl j denn eine Vorstellung ist insofern eine
Irrealitätssetzung, als ich durch sie mit etwas beschäftigt bin, das mich
aus der Gegebenheit meiner Realität heraushebt. Deshalb spricht
man auch oft von den Fluchtreaktionen, die die Literatur zu ge-
währen scheint, und qualifiziert damit häufig nur jenen in der Lek-
türe geschehenden Vorgang der Irrealisierung. Wenn nun ein fik-
tionaler Text über die von ihm hervorgerufenen Vorstellungen den
Leser zumindest für die Dauer der Lektüre irrealisiert, so ist es l).ur
folgerichtig, wenn am Ende eines solchen Vorganges ein 'Erwachen'
stattfindet. Dieses hat oft den Charakter der Ernüchterung und ist
dort besonders deutlich zu verspüren, wo uns ein Text gefesselt hat.
Doch wie immer es um die Qualität eines solchen Erwachens be-
stellt sein mag, wir erwachen zu einer Realität, der wir vorüber-
gehend durch die Irrealisierung der vom Text bewirkten Vors tel-
lungsbildung entzogen waren. Diese zeitweilige Isolierung von un-
serer realen Welt indes bedeutet nicht, daß wir nun in sie gleich-
sam mit neuen Direktiven zurückkehrten. Vielmehr gestattet uns
die vom Text verursachte Irrealisierung, daß uns nach der Rück-
kehr die eigene Welt wie eine beobachtbare Realität erscheint. Die
Bedeutung eines solchen Vorganges liegt darin, daß in der Vorstel-
lungsbildung die für alle Beobachtung und für alle Wahrnehmung
unabdingbare Subjekt-Objekt-Spaltung gelöscht ist, die sich aller-
dings im Erwachen zu unserer Lebenswelt desto schärfer akzen-
tuiert. Diese Akzentuierung gibt uns die Möglichkeit, in eine Po-
sition zu unserer Welt zu geraten, und das, worin wir unverrück-
bar eingebunden sind, wie einen Beobachtungsgegenstand wahr-
zunehmen. Geschieht im Vorstellungsbild eine Irrealisierung des
Lesers, so ist diese Irrealisierung die Bedingung dafür, daß ihm im
Bild das Ungesagte der Zeichenbeziehung als Realität erscheinen
kann. Dadurch vermag die vom Leser produzierte Sinnkonfiguration
zu einer Erfahrung zu werden.

11 Vgl. dazu auch Sartre, Das Imaginäre, p. 206.

227
3. Vorstellungsbildung

Das Bild ist die Erscheinungsweise des imaginären Gegenstandes.


Dieser besitzt jedoch im Blick auf die Literatur eine Besonderheit,
die ihn von jenen Gegenständen unterscheidet, deren bloße Ab-
wesenheit im Bild vergegenwärtigt wird. An Gilbert Ryles Beispiel
des Vorstellungsbildes wurde deutlich, daß der Gegenstand - Hel-
vellyn, ein Berg im Lake District - wirklich existierte, weshalb das
Bild von ihm nur seine momentane Abwesenheit aufhob und damit
einen anderen Modus des existierenden Objekts bezeichnete. Im
lebensweltlichen Verhalten dient das Vorstellungsbild vornehmlich
einer solchen Vergegenwärtigung abwesender, aber doch existieren-
der Gegenstände, deren Erscheinungsweise natürlich von dem Wis-
sen abhängt, das man von diesem Gegenstand hat und das folglich
in die Vorstellungstätigkeit eingebracht werden muß. Dem imagi-
nären Gegenstand fiktionaler Texte aber fehlt die Qualität empi-
risch vorhandener Existenz. Hier wird nicht ein abwesender, an-
sonsten aber existierender Gegenstand vergegenwärtigt, sondern
vielmehr ein solcher erzeugt, der nicht seinesgleichen hat. Nicht
die Abwesenheit bildet den Anstoß zu seiner Hervorbringung; viel-
mehr ist seine Erscheinungsweise eher ein Zuwachs zu jenem vor-
handenen Wissen, das auch für seine Hervorbringung eine Rolle
spielt. Damit ist zugleich gesagt, daß das Vorstellungsbild eines
existierenden, wenngleich abwesenden Objekts durch die Kenntnis
des Objekts kontrolliert werden kann, während jenes Objekt, das
sich als ein Zuwachs einstellt, sich der Kontrolle eher zu entziehen
scheint. Deshalb sind die Phasen seines Zustandekommens wichtig;
denn die Vorstellungsbildung in fiktionalen Texten vollzieht sich
über bestimmte Vorgegebenheiten, die jedoch bloß eine Steuerungs-
funktion besitzen und nicht selbst im Vorstellungsbild vergegen-
wärtigt werden sollen. In den Phasen der Vorstellungsbildung voll-
ziehen sich die passiven Synthesen während der Lektüre eines fik-
tionalen Textes; in diesem Vorgang entstehen Bilder, die etwas zur
Erscheinung bringen, das es im Blick auf das vorhandene Wissen
noch nicht gegeben hat.
Als Anknüpfungspunkt für die Vorstellungsbildung kann eine
Überlegung von Wittgenstein dienen. "Im Satz", so meint Wittgen-

228
stein, "wird gleichsam eine Sachlage probeweise zusammenge-
stellt"12, die dann als wahr gelten kann, wenn ihr ein Sachverhalt
entspricht l3 . Nun kennzeichnet es aber den fiktionalen Text, daß
eine solche Zuordnung in ihm nicht gegeben ist. Denn seine "Sachla-
gen" lassen sich nicht ohne weiteres auf einen dem Text vorgegebe-
nen "Sachverhalt" beziehen. Dennoch besteht kein Zweifel, daß das
Repertoire und die Strategien des Textes - die man im Anschluß an
Wittgenstein als seine "Sachlagen" bezeichnen könnte - auf etwas
bezogen sind. Da dieses 'etwas' nicht gegeben ist, muß es entdeckt
bzw. erzeugt werden. In dieser Hinsicht nutzt der fiktionale Text
eine basale Struktur des Verstehens aus; denn mit jeder sprachlichen
Äußerung ist die Erwartung gegeben, daß diese einem Sachverhalt
entspricht. Nun bietet der literarische Text durch sein Repertoire
und seine Strategien eine Sequenz von "Sachlagen" oder- in unserer
Terminologie - von Schemata an, die den Charakter von Aspekten
jenes Sachverhalts besitzen, der im Text selbst nicht mehr ver-
sprachlicht ist. Folglich funktionieren die Schemata als Auslöser
und Lenkung für die Vorstellung dessen, wovon sie Aspekte sind l4 .
Daraus folgt, daß der Leser die Ganzheit konstituieren muß, die in
der Gegebenheit der Textschemata nur ihre Aspekte besitzt. Gleich-
zeitig richten diese Aspekte auch einen Leserblickpunkt ein. Dieser
liegt zwar "diesseits von allem Sehen"ls, und d.h., außerhalb des
Textes, er ist jedoch durch die Aspekthaftigkeit der Textschemata
insofern festgelegt, als er nicht mehr die Freiheit der Standpunkt-
wahl erlaubt, wie sie in der alltäglichen Wahrnehmung etwa immer
gegeben ist. Damit erfüllt die Sequenz der Textschemata eine dop-
pelte Funktion. Als die Aspekte einer Ganzheit sind sie Anweisung,
sich diese vorzustellen; gleichzeitig fixieren sie einen perspektivi-
schen Ort, von dem aus diese Vorstellung zu erfolgen hat. Die Ganz-

12 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, with an In-

troduction by Bertrand Russell, London '1951, Abschnitt 4.031, p. 68.


B Vgl. ibid., Abschnitt 2.11, p. 38. Diesen Argumentationsansatz ver-

danke ich dem Aufsatz von Karlheinz Stierle, "Der Gebrauch der Nega-
tion in fiktionalen Texten", in Positionen deI Negativität (Poetik und
Hermeneutik VI), ed. Harald Weinrich, München 1975, pp. 236 f.
14 Vgl. dazu StierIe, pp. 237 f.
's Merleau-Ponty, p. 117.

229
heit realisiert sich in dem Maße, in dem der Leser die ihm vorge-
zeichnete Einstellung bezieht und so über die Aspekthaftigkeit des
Textes dessen Sinn in seiner Vorstellung zur Erscheinung bringt.
Dieser Sinn ist von eigentümlicher Qualität: Er muß erzeugt wer-
den, obwohl er doch von den Sprachzeichen des Textes strukturiert
ist. Nun sind Zeichen immer Verweis auf das, was sie bezeichnen.
Im umgangssprachlichen Gebrauch sind Zeichen und Zeichenbe-
deutung durch ihre denotierende Funktion geregelt. Anders verhält
es sich in fiktionalen Texten, in denen die Zeichen nicht in der Be-
zeichnung eines Gegebenen aufgehen, sondern sich auf etwas ande-
res hin zu öffnen beginnen. Diese Veränderung ist durch den Als-Ob
Charakter des fiktionalen Textes bedingt, dessen durch Konvention
stabilisierte Fiktionssignale anzeigen, daß das Gesagte nur so ver-
standen werden soll, als ob es etwas bezeichnete. Wird die Bezeich-
nungsfunktion stillgelegt, dann verwandelt sich das Zeichen in ei-
nen figurativen Verweis, durch den die Finalität des Zeigens über-
schritten wird, um die Vorstellbarkeit dessen zu eröffnen, was sich
der Bezeichnung entzieht. Ricoeur hat diesen Vorgang einmal wie
folgt beschrieben: " ... dort, wo die Sprache sich selbst und uns ent-
gleitet, da kommt sie andererseits gerade zu sich, da verwirklicht sie
sich als Sagen. Ob ich die Beziehung von Zeigen-Verbergen nach der
Art des Psychoanalytikers oder des Religionsphänomenologen ver-
stehe (und ich glaube, daß man heute beide Möglichkeiten vereint er-
greifen muß), hier wie dort macht sich die Sprache als ein Vermögen
geltend, das enthüllt, das manifestiert und an den Tag bringt; darin
findet sie ihr eigentliches Element, sie wird sie selbst; sie hüllt sich
inSchweigen vor dem, was sie sagt" 16 . Dieses 'enthüllende Schwei-
gen' indes kann nur in der Vorstellung eine Existenz gewinnen, da es
etwas zur Erscheinung bringt, das durch die Sprache des Textes nicht
verbalisiert ist. Für den fiktionalen Text heißt dies, daß dessen Sinn
noch nicht mit der formulierten Aspekthaftigkeit seiner Schemata
identisch ist, sondern sich erst in der Vorstellung über die wechsel-
seitige Qualifizierung der im Text gegebenen Aspekte zu bilden ver-
mag. So bleibt zwar der Sinn auf das bezogen, was der Text sagt, und

16 Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus, übers. von Johan-

nes Rütsche, München 1973, pp. 86 f. .

230
ist nicht eine willkürliche Produktion des Lesers; dennoch muß er
in der Vorstellung erzeugt werden, da die Schemata des Textes nur
Aspekte dieses Sinnes sind. Darüber hinaus stehen die Aspekte in In-
teraktion miteinander, weshalb das vom jeweiligen Aspekt Inten-
dierte noch nicht der Sinn des Textes sein kann.
Daraus folgt, daß die in der Vorstellungsbildung sich vollziehende
Sinnkonstitution des Textes einen kreativen Akt darstellt, für den
allerdings jene Bedingungen gelten, die Dewey einmal im weiteren
Zusammenhang der Kunstwahrnehmung wie folgt beschrieben hat:
"For to perceive, a beholder must create his own experience. And
his ereation must include relations eomparable to those which the
original producer underwent. They are not the same in any literal
sense. But with the perceiver, as with the artist, there must be an
ordering of the elements of the whole that is in form, although not
in details, the same as the proeess of organization the creator of
the work eonsciously experienced. Without an aet of reereation
the objeet is not pereeived as a work of art.,,17

Um dem Vorgang der Vorstellungs bildung ein gewisses Maß an


Anschaulichkeit zu geben, empfiehlt es sich, die Betrachtung an
einem Beispiel zu entwickeln, dem sich paradigmatische Züge für
den Charakter der Vorstellung entnehmen lassen. Es sei daher ein
Beispiel gewählt, in dem der Autor seinen Lesern explizit aufgibt,
sich etwas vorzustellen. In Fieldings loseph Andrews findet sich
gleich zu Anfang des Romans jene Szene, in der Lady Booby, eine
Dame des Adels, ihren Diener - den sie schon dazu bewegen
konnte, sich auf ihr Bett zu setzen - zu allerlei Zärtlichkeiten er-
muntert. Vor solchen Aufforderungen indes schreckt der keusche
Joseph schließlich unter Berufung auf seine Tugend zurück. Statt
das Entsetzen der 'Potiphar' zu beschreiben, fährt Fielding auf dem
Höhepunkt der Krise fort: "You have heard, reader, poets talk of the
statue of Surprise; you have heard likewise, or else you have heard
very little, how Surprise made one of the sons of Croesus speak,
though he was dumb. You have seen the faces, in the eighteen-

17 John Dewey, Art as Experience, New York (Capricorn Books),


"1958, p. 54.

231
penny gallery, when, through the trap-door, to soft or no music,
Mr. Bridgewater, Mr. William Mills, or some other of ghostly
appeararice, hath ascended, with a face all pale with powder, and
a shirt aIl bloody with ribbonsj - but from none of these, nor from
Phidias or Praxiteles, if they should return to life - no, not from
the inimitable pencil of my friend Hogarth, could you receive such
an idea of surprise as would have entered in at your eyes had they
beheld the Lady Booby, when those last words issued out from the
lips of Joseph. 'Your virtuel' said the lady, recovering after a silence
of two minutesj 'I shall never survive it. ' ,,18
Was die Darstellung der Szene ausspart, ist die von ihr inten"
dierte Vorstellung der überraschung, die sich der Leser selbst 'aus-
malen' soll. Dafür werden ihm jedoch Schemata vorgegeben, die in
der zitierten Stelle als Sequenz von Aspekten formuliert sind. Diese
Schemata haben zunächst die Funktion, dem Leser ein bestimmtes
Wissen anzubieten, mit dessen Hilfe er sich die überraschung vor-
stellen soll. Damit konditionieren die Schemata die Einstellung des
Leserblickpunkts. Das heißt, die Blickpunktwahl wird in einem be-
stimmten Sinne festgelegt, und was immer sich der Leser im einzel-
nen konkret auch vorstellen mag, seine Vorstellungsinhalte werden
von den Schemata des Textes gelenkt. Dabei muß es uns nicht be-
kümmern, daß sich viele Leser bei der Nennung von Phidias, Pra-
xiteles oder Hogarth wahrscheinlich sehr Unterschiedliches über
deren Kunst vorstellen, die hier als eine erste Vorstellungslenkung
gedacht ist. Denn in diesem Falle gilt die gleiche Beobachtung, die
Joseph Albers aus seinen Farbkursen berichtet, als er seine Schüler
das Rot im Schild der Coca-Cola-Flasche beschreiben ließ und dabei
ebenso viele Rotnuancen erhielt, wie es Schüler in seinem Kurs
gab. 19 Selbst in der Wahrnehmung also 'bildet' sich der identische
Gegenstand nicht in identischer Weise in den ihn wahrnehmenden
Subjekten ab. In der Vorstellungsbildung wird sich eine solche
Streubreite gewiß noch stärker ausfächern. Das aber muß kein

11 Henry Fielding, Toseph Andrews, I, 8 (Everyman's Library), Londoll

1948, p. 20.
I' Josef Albers; Interaction 01 Color. Grundlegung einer Didaktik des
Sehens, übers. von Gui Bonsiepe, Köln 1970, p. 25.

232
Nachteil sein; bietet sich doch hier die Möglichkeit, die subjektiven
Sedimentierungen vorhandenen Wissens in höchst unterschi~d­
lichen Lesern zu mobilisieren, um sich ihrer dann in einer bestimm-
ten Weise zu bedienen. Eine solche Mobilisierung des Lesers gilt
für die vom Schema ausgelöste Vorstellungsbildung in fiktionalen
Texten überhaupt. Der Anteil der Subjektivität ist bei aller Schwan-
kung dennoch kontrolliert, da der vorgegebene Bezugsrahmen über
das Aufrufen des Erinnerten entscheidet. Das Schema bietet sich
durch die Kargheit seiner Formulierung als Hohlform, in die das
sedimentierte Wissen des Lesers in unterschiedlichem Umfang, aber
auch in unterschiedlicher Nuanciertheit einströmen kann. Dadurch
gibt das Schema der Vorstellung des Lesers eine Form, die zugleich
die entscheidende Funktion des Textrepertoires für die Vorstellungs-
bildung deutlich werden läßt. Soziale Normen, zeitgenössische und
literarische Anspielungen etc. erweisen sich nun als Schemata, die
den Umfang aufgerufener Erinnerung bzw. des geweckten Wissens-
vorrats konturieren.
Doch zur ästhetischen Möglichkeit wird dieser Vorgang erst da-
durch, daß die Schemata alle in einer bestimmten Weise modali-
siert sind. In der angezogenen Fieldingstelle erscheinen sie im Mo-
dus ihrer Unzulänglichkeit. Solche Modalisierurtgen lassen dann
erst die bedeutsame Rolle erkennen, die dem durch die Schemata
aufgerufenen höchst individuellen Wissen zugedacht ist. Denn nun
erscheinen dem Leser die Assoziationen seines Wissenvorrats im
Zustand des Aufgehobenseins. Damit nutzt der Text durch seine
Schemata die individuelle Erfahrungsgeschichte seiner Leser, zu-
gleich aber bedient er sich ihrer zu eigenen Bedingungen. Das ist auch
ein wesentlicher Grund dafür, weshalb die Schemata des Text-
repertoires meist negiert, aufgehoben, segmentiert oder mit durch-
gestrichener Geltung erscheinen. Daraus folgt, daß das vom Schema
aufgerufene bzw. angebotene Wissen gerade in dem Augenblick
außer Kurs gesetzt wird, in dem es dem Leser wieder erscheint. Zu-
gleich jedoch funktioniert das in seiner Geltung gelöschte Wissen
als ein Analogon, durch das hindurch der intendierte Sachverhalt
vorgestellt werden soll. Das retentionale Bewußtsein hält in sol-
chen Augenblicken das aufgerufene, zugleich aber als unzulänglich
qualifizierte Wissen fest, um nun von diesem Hintergrund die

233
Sinnrichtung abzuheben, die sich in der Modalisierung der Sche-
mata ankündigt. 20
Fielding verzichtet in der zitierten Stelle darauf, die überraschung
der Lady Booby darzustellen. Statt dessen bietet er Schemata an,
die sich alle auf Darstellungsleistungen beziehen, um sie jedoch
außer Kurs zu setzen. Darstellbarkeit überhaupt soll aufgehoben
werden, was Fielding bezeichnenderweise über die Darstellung auf-
gehobener Schemata von Darstellung zu vermitteln versuchte. Sich
das Unvorstellbare vorzustellen, kann dann nicht mehr heißen, daß
wir herumprobieren, um uns gleichsam in Konkurrenz zu den ent-
werteten Darstellungsleistungen ein Bild zu machen; vielmehr wird
diese 'Zumutung' als ein massives Aufmerksamkeitssignal virulent.
Die so erzwungene Aufmerksamkeit macht deutlich, daß die Un-
vors teIlbarkeit keinen Selbstzweck verkörpert, sondern Signal für
das Auftauchen eines neuen Themas ist. Die Vorstellung ist dann
nicht mehr darauf gerichtet, die unvorstellbare Entgeisterung der
Lady Booby vorstellbar zu machen, sondern darauf, sich das vorzu-
stellen, was sich in dieser 'Unvorstellbarkeit' zum Vorschein bringt.
Das neue Thema drängt sich in Form der Unvertrautheit auf. Dafür
sorgen die vom Text angebotenen Vorstellungs schemata, deren Ent-
wertung zum Signal für ein durch sie nicht mehr faßbares Thema
wird. Deshalb ist das Thema zunächst auch leer, weil die unvorstell-
bare Entgeisterung, die man sich 'ausmalen' soll, noch keine zurei-
chende Signifikanz besitzt. Daraus ergibt sich dann der Antrieb, die
Vorstellung auf eine solche im Text nicht versprachlichte Signifi-
kanz zu richten, für deren Vorstellbarkeit wiederum die angebote-
nen, wenngleich negierten Schemata eine nicht unwesentliche Rolle
spielen. Sie verlocken zu Assoziationen, die es zugleich wieder zu
löschen gilt, um in solcher Entleerung das Thema als den Bruch mit
Vertrautem erfahren zu können.
20 Hier ist dann auch die Ansicht Ingardens zu korrigieren, daß der
Text Schemata parat hält, durch die hindurch der intentionale Gegen-
stand visiert werden muß. Ein solcher Vorgang kommt doch· erst da-
durch in Gang, daß die Schemata in uns etwas bewirken, ehe sie zum
Analogon der Vorstellungsbildung zu werden vermögen. Die negative
Modalisierung der Schemata des Textrepertoires entrückt den aufge-
rufenen Wissensvorrat zur Vergangenheit und mobilisiert angesichfs
der durchgestrichenen Geltung die Aufmerksamkeit des Lesers.

234
Die Schemata der zitierten Stelle sind sehr unterschiedlichen Be-
reichen entnommen: der klassischen Skulptur (Phidias und Praxite-
les), dem klassischen Mythos (Croesus), der zeitgenössischen Malerei
(Hogarth) und dem zeitgenössischen Gruseltheater, dessen soziale
Implikationen durch die Preisangabe des Sitzplatzes verstärkt sind. In
den Schemata ist ein Repertoire selektiert, das starke soziale Unter-
schiede bezeichnet, je nachdem, ob man über eine klassische Bil-
dung verfügt, die zeitgenössische Malerei kennt, einen Kunstver-
stand besitzt oder sich nur mit den Belustigungen begnügt, die die
überzogenen Effekte der Schaubühne gewähren. Damit kommt in
der Selektion des Repertoires eine Differenz zur Geltung, die Fiel-
ding gleich zu Anfang seines Romans in der Unterscheidung zwi-
schen dem "classical reader" und dem "mere English reader"21
herausgehoben hat. Es werden unterschiedliche Horizonte aufge-
blendet, die auf die Systeme verweisen, denen die Elemente ent-
nommen sind, so daß sich die Vorstellungsbildung des Lesers je
nach seiner Kompetenz bzw. seinem Anteil am aufgerufenen Be-
zugssystem reguliert. Nimmt man den Extremfall an, daß die ge-
bildeten Leser keine Ahnung vom Gruseltheater haben und daß
jene, die daran Gefallen finden, nichts von klassischer Bildung wis-
sen, dann bleiben bestimmte Bereiche für die Vorstellungsbildung
inaktiv.
Es fallen damit gegebene Vororientierungen für die Signifikanz
des Themas aus, das dann schwer zu optimieren sein wird. Denn
die klassischen und zeitgenössischen Reminiszenzen haben nicht
nur eine soziale Implikation, sondern auch eine strategische. So
appellieren klassische Kunst und klassischer Mythos nicht aus-
schließlich an einen gebildeten Leser; sie evozieren auch die Attri-
bute dieser Kunst und dieses Mythos: ihre Erhabenheit und ihr
Erschrecken, die nun allerdings durch die decouvrierende Kunst des
Satirikers Hogarth unterlaufen und schließlich in den belustigenden
Schauereffekten des Gruseltheaters trivialisiert werden. Nun treibt
die im Text behauptete Gleichartigkeit, die den genannten Sche-
mata eigen sein soll, ihre Ungleich artigkeit heraus. Diese ist dann
nicht mehr auf das soziale Niveau des Lesers, sondern auf die Sig-

11 Vgl. Fielding, pp. XXVII f.

235
nifikanz des Themas bezogen. Denn die klassischen Anspielungen
lassen die Entgeisterung der Lady Booby als pathetisch, die zeitge-
nössischen hingegen als komisch, wenn nicht gar als trivial erschei-'
nen. Die Vermischung von Pathos und Komik bewirkt das Zerplat-
zen des falschen Anscheins, durch den Lady Booby ihre Lüsternheit
zu drapieren versuchte. In diesem Sinne vermögen die Schemata
die Vorstellungs tätigkeit des Lesers zu lenken, dessen Vorstellung
nun nicht die unvorstellbare Entgeisterung, sondern das Durch-
schauen einer Verstellung zum Inhalt hat, in der das Thema seine
Signifikanz gewinnt. Gewiß ist diese Signifikanz insofern noch
recht instabil, als das Durchschauen von Verstellung nicht bloßer
Selbstzweck ist, sondern wiederum nur Zeichen für etwas sein
kann. Dieses ist in der vorgestellten Signifikanz des Themas noch
nicht gegeben und läßt sich nur über die kontextuelle Einbettung
der zitierten Stelle konkretisieren. "Das thematische Feld ist je-
doch ... implizit 'im Thema' enthalten - wie es umgekehrt kein
isoliertes Thema gibt, sondern sich dieses immer von einem thema-
tischen Feld abhebt. In diesem Sinn hat das thematische Feld eine
unabänderliche, sozusagen' auferlegte' Vorgeschichte.,,22
Diese "Vorgeschichte" ist in unserem Fieldingbeispiel durch ein
explizites Signal des Erzählers an die zitierte Stelle herangebunden.
Ein paar Seiten vor der Szene zwischen Lady Booby und ihrem
Diener war Joseph den Liebeswallungen der Slipslop, einer Do-
mestike im Haushalt der Lady Booby, ausgesetzt gewesen, und wie
im Falle der Herrin erhält der Leser lediglich ein paar Schemata an-
geboten, um sich die nicht-erzählte Attacke selbst 'auszumalen'.
DieseSchemata sollen elementarische Vorstellungen wecken, so wenn
es vonSlipslop heißt, daß sieJoseph wie eine hungernde Tigerin um-
schlich, um sich schließlich auf ihn zu stürzen. Die Verknüpfung
der beiden Szenen indes geschieht durch eine Feststellung im Text;
am übergang zwischen ihnen bedeutet der Erzähler seinen Lesern:
"We hope, therefore,' a judicious reader will give himself some
pains to observe, what we have so greatly laboured to describe, the
different operations of this passion of love in the gentle and culti-
vated mind of the Lady Booby, from those which it effected in the
22 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Neu-

wied und Darmstadt 1975, p. 197.

236
less polished and coarser disposition of Mrs. Slipslop."23 Der Er-
zähler postuliert eine Differenz, derzufolge sich die Liebesleiden-
schaft in jedem sozialen Stand unterschiedlich auswirke. Die Szene
mit Lady Booby erscheint daher unter dem Vorzeichen, daß sich der
Leser die Leidenschaft einer Aristokratin anders als die einer Do-
mestike vorzustellen habe. In der expliziten Verknüpfung der bei-
den Szenen wird die Sozialstruktur der Gesellschaft des 18. Jahr-
hunderts zum Schema der Vorstellungsbildung. Dem Schema ist die
zentrale Norm dieser Sozialstruktur eingezeichnet: die Menschen
unterscheiden sich durch ihren sozialen Rang grundsätzlich vonein-
ander. Diese Affirmation herrschender Geltung aber erfolgt mit dem
Ziel, sie im Hervorkehren der Gleichartigkeit menschlicher Begier-
den zusammenbrechen zu lassen. Das explizite Textsignal weist
dem Leser Urteilsfähigkeit (judicious reader) zu, und diese kann sich
nur bewähren, wenn dieser weniger die ihm bekannte soziale Dif-
ferenz als vielmehr die von ihr verdeckte Gemeinsamkeit der
menschlichen Natur gewahrt. Hier ist der Leser selbst gehalten, das
ihm angebotene Schema der Vorstellungsbildung zusammenbrechen
zu lassen, wodurch sich die Signifikanz des Themas stabilisiert: im
Durchschauen sozialer Prätentionen die Beschaffenheit der mensch-
lichen Natur zu entdecken. Dient die Aufhebung sozialer Differen-
zen der strategischen Absicht, den Leser auf die Beschaffenheit der
menschlichen Natur zu lenken, so ist das Gewärtigen der identi-
schen Begierden gerade angesichts dieser negativen Kennzeichnung
ein Auslöser dafür, nun diese menschliche Natur - die sich in den
animalischen Begierden nicht erschöpfen kann - ihrerseits zu dif-
ferenzieren. So ist zwar die Signifikanz des Themas durch den Kon-
text stabilisiert, zugleich aber erzeugt diese Stabilisierung ein neues
Problem, das nach einer Positivierung jener zunächst negativen Be-
stimmtheit der menschlichen Natur verlangt. Denn nur so läßt sich
die im Durchschauen der Verstellung gewonnene Schärfung des Ur-
teils in seine notwendige Bewährung überführen. Damit ist wieder-
um ein 'leerer Verweis' gegeben, der zur Bedingung von Folgevor-
stellungen wird, durch die sich der 'Schneeballeffekt' der Vors tel-
lungsbildung anzeigt.

13 Fielding, p. 15.

237
Wir waren von der überlegung ausgegangen, daß der geschriebene
Text sich als eine Folge von Aspekten bietet, die eine Totalität im-
plizieren, welche selbst nicht formuliert ist, wohl aber die Struktur
dieser Aspekthaftigkeit bedingt. Folglich muß diese Totalität kon-
stituiert werden, wodurch die Aspekte ihr volles Gewicht erhalten,
da sie erst über die Einlösung ihrer Verweisung sinnvoll werden.
Aspekte indes sind sie vor allem für den Leser, der sich das vorstel-
len muß, was sie ihm vorentworfen haben. Folglich gewinnt der
Text durch die Vorstellung den notwendigen Zusammenhang im
Bewußtsein des Lesers. Das zeigte sich schon an dem Einbettungs-
verhältnis, das die zitierte Stelle der Lady Booby in der Vorstellung
entstehen ließ, wobei es im Augenblick von untergeordneter Be-
deutung ist, ob man der in der A\lsführung des Beispiels gegebenen
Interpretation in allen Einzelheiten folgt - wichtig bleibt die darin
zum Vorschein kommende Struktur der Vorstellungsbildung.
Thema, Signifikanz und Auslegung hatten wir als die zentralen
Elemente der Vorstellungsbildung erkannt. Man darf diese Zer-
legung der Vorstellung in solche Elemente jedoch nicht dahin miß-
verstehen, als ob es Vorstellungen des Themas, so dann solche der
Signifikanz und schließlich solche der Auslegung gäbe, oder daß in
einer Vorstellung zunächst das Thema und danach dessen Signifi-
kanz erscheinen würde. Vielmehr erscheinen Thema und Signifi-
kanz immer in einer Kontamination, die ihrerseits der Auslegung
bedarf und daher die Folgevorstellung motiviert. "Niemals wird
man", wie Sartre sagt, "eine Vorstellung wirklich auf ihre Elemente
reduzieren können, weil eine Vorstellung, wie übrigens alle psYchi-
schen Synthesen, etwas anderes und mehr als die Summe ihrer
Elemente ist. Was hier zählt, ist der neue Sinn, der das Ganze
durchdringt."24 Im "neuen Sinn" der Vorstellung sind Thema und
Signifikanz zusammengeschlossen. Das zeigt sich nicht zuletzt an
dem eigentümlich hybriden Charakter, den unsere Vorstellungen im
Lektüreakt besitzen; bald sind sie bildhaft, bald sind sie bedeu-
tungshaft.
Thema und Signifikanz sind folglich nur Konstituenten der Vor-
stellung. Ein Thema bildet sich für die Vorstellung über die vom

" Sartre, Das Imaginäre, p. 163.

238
problematisierten Wissen des Repertoires erzeugte Aufmerksam-
keit. Die Signifikanz des Themas bildet sich für die Vorstellung
aus der Leerstelle des Themas, die dadurch entsteht, daß das Thema
nicht Selbstzweck, sondern Zeichen für das in ihm noch nicht Ge-
gebene ist. So produziert die Vorstellung ein imaginäres Objekt, in
dem das zur Erscheinung gelangt, was der formulierte Text ver-
schweigt. Doch das Verschwiegene entsteht aus dem Gesagtenj des-
halb muß~so moiraHsleitsern~aK-das-Verschwiegene
vorstellbar wird. Zentrale Modalisierung des fiktionalen Textes ist
die latente Negativierung des Repertoires, dessen horizontale Or-
ganisation25 damit in seine volle Funktion kommt. Denn für die
Vorstellung ist der "negative Akt ... konstitutiv.,,26 Das Fielding-
beispiel hatte zwei unterschiedliche Möglichkeiten solcher negati-
ven Modalisierungen erkennen lassen. In der zitierten Stelle der
Lady Booby waren die Schemata des Repertoires, die als Analogon
der Vorstellung funktionieren sollen, als unzulänglich markiertj
das Schema des Kontextes hingegen, das der Autor mit der zitierten
Stelle explizit verknüpft hatte, war so angelegt, daß es der Leser
selbst entwerten muß. Damit wird die im Text markierte Negati-
vierung durch eine zusätzliche vom Leser selbst zu leistende Negati-
vierung verstärkt, woraus folgt, daß es hier nicht nur ein imaginäres
Objekt für die Vorstellbarkeit einer Szene, sondern ein solches zu
bilden gilt, das für die Romanintention überhaupt signifikant ist.
Diese wiederum kann sich nicht in einem einzigen Augenblick
oder gleichsam auf ein paar Seiten des TexteS verwirklichen, son-
dern manifestiert sich in dem imaginären Objekt der beschriebenen
Szene darin, daß sie sich diesem als 'leerer Verweis' einzeichnet
und damit Folgevorstellungen motiviert. In solchen poly thetisch
verlaufenden Vorstellungsakten realisiert sich das im Gesagten
Verschwiegene zu einem Vorstellungszusammenhang im Bewußt-
sein des Lesers. ~-
~
Die so verlaufende Vorstellungsbildung ist in ihrer Abfolge we-
sentlich durch die zeitliche Erstreckung der Lektüre bedingt. Das Le-
sen bringt durch seiIi-en Verlauf eil1e Zeitachse hervor,auTaer sich

25 Vgl. zu diesem Sachverhalt Kapitel Il, A, 2, pp. 99f.


26 Sartre, Das Imaginäre, pp. 284f.

239
die von der Vorstellung erzeugten imaginären Objekte im Nachein-
ander versammeln. Folglich läuft auf der Zeitachse alles zusammen,
was die Vorstellung hervorgebracht hat, so gegenläufig und hetero-
gen das im einzelnen auch sein mag. Ein solches Nacheinander er-
möglicht dann, Unterschiede, Kontraste und Oppositionen zwi-
schen den im Lektüreprozeß erzeugten Vorstellungsgegenständen
zu gewärtigen. Die Zeitachse erfährt dadurch ihre Gliederung, und
die imaginären Objekte gewinnen im Abheben voneinander ihre je-
weilige Identität. Verdeutlicht der Zeitfaktor die Differenz, die zwi-
schen den einzelnen Vorstellungs gegenständen herrscht, so ist deren
Unterscheidung voneinander für den zeitlichen Verlauf der Lektüre
wiederum Anstoß, sie aufeinander zu beziehen. "Es ist also", wie
Husserl einmal formuliert hat, "ein allgemeines Gesetz, daß an jede
gegebene Vorstellung sich von Natur aus eine kontinuierliche Reihe
von Vorstellungen anknüpft, wovon jede den Inhalt der vorhergehen-
den reproduziert, aber so, daß sie der neuen stets das Moment der
Vergangenheit anheftet. So erweist sich die Phantasie hier in eigen-
tümlicher Weise als produktiv. Es liegt hier der einzige Fall vor, wo
sie ein in Wahrheit neues Moment der Vorstellung schafft, nämlich
das Zeitmomentl/ 27 .
So erscheint in der Vorstellungsfolge der Lektüre das einzelne ima-
ginäre Objekt vor dem Hintergrund eines bereits zur Vergangenheit
entrückten. Es erhält damit seine Position in der Vorstellungsfolge,
die ihm den vollen Sinn dadurch sichert, daß es seine Abgeschlossen-
heit wieder öffnet, um es dem folgenden imaginären Objekt zu ver-
binden. Da das jeweils neue seinerseits durch die zeitliche Erstrek-
kung der Lektüre in die Vergangenheit rückt, zeichnet es sich mit der
ihm widerfahrenen Modifikation dem jeweils gegenwärtigen Vor-
stellungsobjekt ein. Jedes dieser Objekte muß zu einem vergangenen
werden, um sich auswirken zu können.
Daraus ergeben sich dann die kumulativen Modifikationen der auf
der Zeitachse zusammenlaufenden Vorstellungsgegenstände. Es
dürfte daher unmöglich sein, einzelne Phasen dieses Prozesses zu
isolieren und sie als den Sinn des Textes zu bezeichnen. Denn der

27 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins

(Gesammelte Werke X), Den Haag 1966, p. 11.

240
Sinn bildet sich erst im Ablauf der Lektüre und ist von deren gesam-
ter Erstreckung nicht abzulösen. Das produktive Moment der Phan-
tasie kommt darin zum Vorschein, daß die dem wandernden Blick-
punkt der Lektüre entspringende Zeitgliederung des Textes in Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht dessen Zerstreuung in
ausbleichende Erinnerungen und unvorhersehbare Erwartungen zur
Folge hat, sondern gerade eine Synthese all dieser Phasen bewirkt.
Wenn die Phantasie des Le~s den einzelnen Vorstellungsobjekten
das Zeitmoment hinzugewinnt, dann bildet sich Sinn aus der zeitli-
chen Modifikation der Vorstellungsgegenstände. Sinn erweist sich
dann als die Transformation der von den Zeichen vorstrukturierten,
im Lektüreaugenblick zur Gestalt erweckten und in der Zeiterstrek-
kung transformierten Vorstellungsgegenstände. Mit dem Zeitmo-
ment der Phantasie hat ihm der Leser einen Modus geschaffen, der
seine Entfaltung nicht nur ermöglicht, sondern auch reguliert. Das
aber heißt, Sinn ist eine im Text angelegte Forderung, die sich ohne
das in der Lektüre aktualisierte Zeitmoment nicht erfüllen könnte.
Der Leser bestimmt zwar nicht, was der Sinn ist; indem er ihm je-
doch die Bedingung seiner Aktualisierung schafft, vermag er das zu
erfassen, was ihm zu produzieren aufgegeben war.
In dieser Zeitqualität des Sinnes steckt eine weitere Implikation.
~ ~
Das von der PhantaSIe den Vorstellungsgegenständen hinzugewon-
nene Zeitmoment besitzt nicht den Charakter einer Referenz, die
den Verlauf der Vorstellungsbildung in einer bestimmten Weise re-
geln würde. Wenn daher der Sinn des Textes so unablösbar mit der
zeitlichen Erstreckung der Lektüre verquiClzfrst;-sowirdTede Re-ili-
sierung einen,,~-rgleichsweise hohenGrad an-Indi~idu-alität besit-
Zell:Als-Be1eguafür kann die ErfahrUilgdienen,dresIChbei der er-
~ten Lektüre des gleichen Textes ergibt. Sie wird mit der Erstlek-
türe nie ganz identisch sein, und dafür braucht man noch nicht ein-
mal die veränderten subjektiven Befindlichkeiten des Lesers ver-
antwortlich zu machen, so gewiß diese dabei auch eine Rolle spielen.
Der in der Erstlektüre konstituierte Sinn wird den Sinnbildungspro-
zeß der Zweitlektüre überschatten. Denn nun steht der Sinn der
Erstlektüre als ein Wissen bereit, das ständig in die erneute Lektüre
hineinspielt. Dieses Wissen nimmt Einfluß auf die Konstituierung
der Vorstellungsgegenstände sowie auf die Transformationen, die

241
diese auf der Zeitachse erfahren. Der in der ZweitlektÜTe realisierte
Sinn kann daher mit dem der Erstlektüre nie ganz zusammenfallen;
er ist entweder reicher oder von anderer Gestalt. Für die Literaturkri-
tik spielt eine solche Erfahrung eine wichtige Rolle, wenn etwa in
der zweitlektüre aus der Sicht des gewonnenen Sinnes die Verfahren
des Textes thematisch gemacht werden sollen, um die Bedingungen
für das Zustandekommen des in der Erstlektüre konstituierten Sin-
nes zu verdeutlichen. Dieser gezielte Einsatz des nun vorhandenen
Wissens wird sich nicht mehr darin erschöpfen, den Sinn der Erstlek-
türe plausibel zu machen; viel eher wird eine solche Plausibilität zur
Voraussetzung dafür, den besonderen Kunstcharakter des Textes
aufzuzeigen. Damit ist gleichsam ein neuer Sinn konstituiert, der in
der Erstlektüre deshalb nicht gewärtigt oder gar realisiert werden
konnte, weil dieser Kunstcharakter die Besonderheit des erfahrenen
Sinnes bedingte und folglich nicht thematisch zu werden ver-
mochte.
Wir hatten im Anschluß an Husserl festgestellt, daß das Zeitmo-
ment das einzig Neue verkörpert, das der Leser in jeder Lektüre dem
Text hinzufügt, und können nun ergänzen, daß dieses Neue statt
identische stets variierende Ausprägungen besitzt. Die im Lesen sich
bildende Zeitachse bewirkt es, daß die auf ihr zusammenlaufenden
Vorstellungsobjekte sich immer zugleich voneinander abheben und
ineinander einzeichnen. Die Art indes, in der sich Unterschiede und
Verbindungen auf die jeweiligen Vorstellungsobjekte auswirken,
entscheidet das Zeitrnoment. Durch dieses gewinnen die Vorstel-
lungsobjekte nicht allein ihren wechselseitigen Bezug, sondern er-
halten gerade durch diese Verknüpfung erst ihre jeweilige Individua-
lität. Das Zeitmoment ist folglich, wie Husserl einmal betonte, "Ur-
quell der Individualität"28, und dies in einem doppelten Sinne: Es be-
dingt nicht nur die Individualität der Vorstellungs gegenstände, es
besitzt selbst in der wiederholten Lektüre des identischen Textes
eine je andere Individualität. Denn für dieses Zeitmoment gibt es
keinen Bezugsrahmen, so daß sich in jeder Lektüre die Ablaufskonti -
nuität der Vorstellungsgegenstände immer wieder anders ausneh-
men wird. Da das Zeitmoment selbst nicht bestimmt ist, bestimmt

2. Ibid., p. 66.

242
es sich durch die von ihm erzeugte Individualität des realisierten Sin-
nes.
Sinn muß immer Prägnanz haben, wenn er Sinn sein soll, und d. h.,
daß nun der Sinn der Erstlektüre nicht etwa neben den Sinn der
Zweitlektüre rückt, sondern in die Sinnprägnanz integriert ist, die
sich aus der erneuten Lektüre ergeben hat. Die mangelnde Be-
stimmtheit des Zeitmoments bildet so die notwendige Vorausset-
zung dafür, daß jede Realisierung des Textes zu einem semantischen
Bestimmungsvorgang wird. Daraus folgt: Obwohl das Zeitmoment
immer nur in der Lektüre durch den Leser den einzelnen Vorstel-
lungsgegenständen hinzugewonnen wird, ist der Sinn als das Pro-
dukt der jeweiligen Realisation als ein identischer nicht wiederhol-
bar. Diese strukturbedingte Unwiederholbarkeit des identischen
Sinnes bedingt jedoch ihrerseits die Wiederholbarkeit von innovati-
ven Lektüren des identischen Textes. So überfremdet der Leser nicht
notwendigerweise den Text mit seinen eigenen Vorstellungen; viel-
mehr wird das dem Text hinzugewonnene Zeitmoment zur 'Refe-
renz' einer Vorstellungsfolge, deren Gliederung zugleich auch die Be-
stimmung des Zeitmoments bewirkt. Zwar hängt das Zeitmoment
nicht von dem ab, was es organisiert, obgleich es sich erst durch das
einstellt, was es zu organisieren gilt.
Das Zeitmoment erweist sich daher als Katalysator der passiven
Synthesen, durch die sich der Sinn des Textes dem Vorstellungbe-
wußtsein des Lesers erschließt. Passive Synthesen unterscheiden
sich von prädikativen darin, daß sie keine Urteile sind. Im Gegensatz
zum Urteil, das zeitunabhängig ist, entspringen passive Synthesen
der Zeitachse des Lesens.
Nun aber wäre der Sprachgebrauch von passiven Synthesen wider-
sinnig, bezeichnete er lediglich eine Kompositionsaktivität, die als
automatisierter Vorgang unterhalb der Schwelle des Bewußtseins
verliefe. Die schematische Darstellung der Sinnkonstitution hat je-
doch erkennen lassen, in welchem Maße der Leser im Verlauf der
Vorstellungsbildung zwei eng miteinander verbundene Aktivitäten
vollzieht: 1. die Entfaltung der im Text vorgegebenen Aspekte zu
Vorstellungs gegenständen, und 2. deren ständige Modifikation auf
der Zeitachse der Lektüre.
In diesem Vorgang stellt der Leser seine synthetische Aktivität ei-

243
ner fremden Realität (der des Textes) zur Verfügung und gerät da-
durch in eine Zwischenlage, die ihn für die Dauer der Lektüre aus
dem heraushebt, was er ist. Daraus folgt, daß der Leser durch den Pro-
zeß der Sinnkonstitution selbst in einer bestimmten Weise konstitu-
iert wird; durch das, was der Leser bewirkt, geschieht ihm auch im-
mer etwas.
Faßbar ist diese Erfahrung noch am ehesten in dem Wunsch, nun
die Bedeutung des Sinnes begreifen zu wollen. Die unentwegte,
weil unvermeidliche Frage nach der Bedeutung zeigt an, daß in der
Sinnkonstitution etwas mit uns geschehen ist, dessen Bedeutung
wir uns klarzumachen versuchen. Sinn und Bedeutung also sind
nicht dasselbe, wie es die eingangs kritisierte Interpretationsnorm,
die an der klassischen Kunst orientiert blieb, nahegelegt hat. "Da-
durch also, daß man einen Sinn auffaßt, hat man noch nicht mit
Sicherheit eine Bedeutung.,,29 Denn die Bedeutung des Sinnes er-
schließt sich immer nur durch die Beziehung des Sinnes auf eine
bestimmte Referenz; sie übersetzt den Sinn in ein Bezugssystem,
und sie legt ihn im Blick auf bekannte Gegebenheiten aus. Ricoeur
formulierte daher einmal im Anschluß an überlegungen Freges und
Husserls: " ... es sind darum zwei Stufen des Verstehens zu unter-
scheiden: die Stufe des 'Sinns' ... und die Stufe der 'Bedeutung',
die das Moment der übernahme des Sinns durch den Leser, d. h.
das Wirksamwerden des Sinns in der Existenz, darstellt.,,3o Daraus
folgt, daß die intersubjektive Struktur der Sinnkonstitution sehr
viele Bedeutungen haben kann, je nach dem sozio-kulturellen Code
bzw. je nach den individuellen Geltungen des Habitus, die nun die
Bedeutung des Sinnes auszulegen beginnen. Gewiß spielen sub-
jektive Dispositionen in der jeweiligen Realisierung der intersub-
jektiven Struktur der Sinnkonstitution eine Rolle. Doch vor dem
Hintergrund dieser Struktur bleiben die subjektiven Realisierungen
der Intersubjektivität zugänglich. Eine Zuschreibung von Bedeu-
tung hingegen und die damit erfolgende übernahme des Sinnes in
die Existenz wird erst wieder der intersubjektiven Diskussion fähig,

" G. Frege, "über Sinn und Bedeutung", in Zeitschrift für Philoso-


phie und philosophische Kritik 100 (1892), p. 28.
10 Ricoeur, p. 194.

244
wenn die Codes und der Habitus aufgedeckt werden, die die Aus-
legung des Sinnes gesteuert haben. Der eine Sachverhalt ist ein sol-
cher der Wirkungs theorie der Texte, der andere ein solcher der Re-
zeption, deren Theorie eher eine soziologische sein wird.

In jedem Falle aber läßt der Unterschied von Sinn und Bedeutung
erkennen, daß die eingangs kritisierte, am klassischen Kunstideal
gebildete Interpretationsnorm die Texterfahrung um eine entschei-
dende Dimension verkürzt, wenn sie immer gleich ~~Lfu:­
deutung fragte und damit eigentlich erst den Sinn meinte. Eine
s~Jes-war-~ur- solallgeangemessen, als man in der
Kunst die Wahrheit des Ganzen repräsentiert sah, weshalb man
dann auch vom Leser nur eine Kontemplationshaltung erwartete.
Wenn seither die Frage nach der Bedeutung der Texte so viel Ver-
wirrung gestiftet hat, so vorwiegend deshalb, weil die durch Codes
und Habitus gesteuerte Bedeutung immer mit dem Sinn gleichgesetzt
worden ist. Daß man sich dann wechselseitig die gefundenen 'Be-
deutungen' bestritt, war nur natürlich. Daher so!ll~~~Ilte_rschied
von Sinn und Bedeutung_festgehalten werden. eide bezeichnen
StUIeil des Verstehens, wie Rico~ur- meinte. si~~ist -diein der
Äspekthaftigke~-Te,~t~s-implitierte_fuweisu~g;g-;~~heit,-die
im Lesen konstitt;i-~rt-~~;de;-muß1Becieutun!d}g die übernahme
des Sinnes durch den Leser in seine 'Exlste~~ --lind ]fedeU:t~~g\
zusammen garantieren dann erst das Wirksamwe-ideifeiiieTEiThn:-
rung, die darin besteht, daß ich in der Konstituierung einer frem-
den Realität selbst in einer bestimmten Weise konstituiert werde.

4. Die Konstituierung des lesenden Subjekts

"Während Realitäten an sich sind, was sie sind, ohne Frage nach
Subjekten, die sich auf sie beziehen, sind Kulturobjekte in bestimm-
ter Weise subjektiv, aus subjektivem Tun' entspringend und an
Subjekte als personale Subjekte sich andererseits adressierend, sich
ihnen etwa darbietend als für sie nützlich, als für sie und für jeder-
mann unter passenden Umständen brauchbare Werkzeuge, als für
ihr ästhetisches Genießen bestimmt und dazu geeignet usw. Sie

245
haben Objektivität, eine Objektivität für 'Subjekte' und zwischen
Subjekten. Die Subjektbeziehung gehört zu ihrem eigenwesentlichen
Inhalt selbst, mit dem sie jeweils gemeint und erfahren sind ...
Und eben darum muß hier die objektive Forschung teils auf den
Kultursinn selbst und seine Wirkgestalt gehen, teils aber und kor-
relativ auf die mannigfaltige reale Persönlichkeit, die der Kultur-
sinn mit voraussetzt, auf die er selbst beständig verweist." 3! For-
dert die Sinnkonstitution des Textes die Beteiligung des Lesers, der
die ihm vorgegebene Struktur realisieren muß, um den Sinn zur
Erscheinung zu bringen, so darf man nicht vergessen, daß der Leser
immer diesseits des Textes steht. Auf diese Position muß der Text
Einfluß nehmen, um den Leserblickpunkt in einer bestimmten
Weise ins Spiel zu bringen. Denn die Sinnkonstitution ist keine
einseitige Forderung des Textes an den Leser; vielmehr gewinnt sie
ihren Sinn erst dadurch, daß in einem solchen Vorgang dem Leser
selbst etwas widerfährt. Wenn daher Texte als "Kulturobjekte"
des Subjekts bedürfen, so nicht um ihrer selbst willen, sondern um
sich im Subjekt auswirken zu können. Die Aspekthaftigkeit des
Textes impliziert folglich nicht nur einen Sinnhorizont, sondern
ebenso einen Leserblickpunkt, der vom realen Leser bezogen wer-
den muß, damit der entfaltete Sinnhorizont. auf das Subjekt zu-
rückwIrken kann. Sinnkonstitution und Konstituierung des lesen-
den Subjekts sind zwei in der Aspekthaftigkeit des Textes mitein-
ander verspannte Operationen. Es versteht sich, daß der Leserblick-
punkt nicht von der Erfahrungsgeschichte möglicher Leser bestimmt
sein kann, wenngleich eine solche auch nicht gänzlich abgeblendet
sein darf. Denn erst wenn der Leser aus seiner Erfahrungsgeschichte
herausgehoben wird, kann etwas mit ihm geschehen. Folglich muß
der Leserblickpunkt vom Text in einer bestimmten Weise mit ein-
gerichtet werden, und das heißt, daß der Sinn nicht nur für den
Text, sondern noch einmal durch diesen hindurch für die Perspek-
tive seines Aufgefaßtwerdens konstitutiv ist, die sich in der Ein-
richtung des Leserblickpunktes ausprägt. Im Prinzip kann die Ver-
ortung eines solchen Blickpunkts nicht durch das Vorkalkulieren von

"Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie (Gesammelte


Werke IX), Den Haag 1968, p. 118.

246
Urteilsnormen, Weltanschauungen, Realitätsauffassungen und Wert-
vorstellungen möglicher Leser erfolgen, deren geschichtliche Indivi-
dualität kein Text in dieser Form je zu erfassen vermöchte. Deshalb
sind immer dort, wo der Leserblickpunkt über ein solches Vorkal-
kulieren gewonnen wird - wie es sich in der publikumsbezogenen
Literatur vom mittelalterlichen Fastnachtsspiel bis zum sozialisti-
schen Song zeigt - Verständnisschwierigkeiten für den Leser gege-
ben, der den reproduzierten Code nicht mehr teilt. Wird der Leser-
blickpunkt von den gegebenen Anschauungen eines bestimmten
historischen Publikums her geprägt, dann kann er nur durch die
historische Rekonstruktion der dieses Publikum beherrschenden
Ansichten wieder lebendig werden - es sei denn, man verhält sich
zu diesem Leserblickpunkt, doch dann konstituiert man weniger
den für die Beeinflussung dieses Publikums gedachten Sinn, sondern
eher die Strategie, durch die eine solche Absicht realisiert werden
soll.
Wie stark die Justierung des Leserblickpunkts in der literarischen
Praxis selbst als ein Problem empfunden worden ist, zeigt etwa der
Roman des 18. Jahrhunderts, der als neue Gattung durch keinerlei
Poetik legitimiert war und sich daher seine Geltung nicht zuletzt
durch einen Dialog mit seinem Publikum sichern mußte. Seit dieser
Zeit kennen wir die Leserfiktion des Textes. Durch sie wird dem
Leser eine Position zugedacht, die in der Regel bestimmte zeitge-
nössische Publikumsdispositionen reproduziert. Dabei zeigt diese
Leserfiktion weniger den intendierten Leser an als vielmehr jene
Disposition im vorausgesetzten Lesepublikum, auf die es einzu-
wirken gilt. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß die Leserfiktion
in der erzählenden Prosa ja nur eine Darstellungsperspektive ver-
körpert, die mit der Erzähler-, Figuren- und Handlungsperspektive
verspannt ist. Daraus folgt, daß die in der Leserfiktion aufgerufe-
nen Publikumsdispositionen in das Spiel der Interaktion einge-
schachtelt werden, das zwischen den Darstellungsperspektiven des
Textes angelegt ist und in der Lektüre entfaltet wird. Wenn sich
daher die Leserfiktion auf bestimmte historische Erwartungen und
Gegebenheiten des intendierten Publikums bezieht, so geschieht das
in der Regel mit der Absicht, auf die so markierten Dispositionen in
der Verspannung mit den übrigen Darstellungsperspektiven einzu-

247
wirken. In dieser Hinsicht zeigt die Leserfiktion lediglich an, welches
die bevorzugten Publikumsdispositionen waren, über deren zuneh-
mende Verfremdung im Text eine Kommunikationsmöglichkeit ge-
schaffen werden soll. Durch die latente Problematisierung der in
der Leserfiktion aufgerufenen Ansichten soll der jeweilige Leser
in ein Verhältnis zu den ihn bestimmenden Ansichten gebracht
werden; das mögliche Wiedererkennen dessen, was ihn orientiert,
ist daher eher als das Gewärtigen einer Fatalität gedacht. Denn was
ihm der Text eröffnen möchte, erstreckt sich jenseits des für ihn
geltenden Horizonts; doch dafür muß der Leser in einem perspek-
tivischen Punkt situiert werden, der in der Regel über negative
Modalisierungen der ihn beherrschenden Ansichten eingerichtet
wird. Das gilt bis hin zu Beckett, der seinen frühen Romanen noch
rudimentäre Leserfiktionen einzeichnet. So heißt es in Murphy:
"The above passage is carefully calculated to deprave the cultivated
reader" 32 , und damit sind die Erwartungen des gebildeten Lesers
aufgerufen, die nun 'verhunzt' werden müssen, um ihm den Blick
für etwas zu eröffnen, das er bisher im Roman nicht für möglich
hielt.
Die Leserfiktion ist gewiß nur eine, wenngleich wichtige Dar-
stellungsstrategie, um den perspektivischen Ort des Lesers einzu-
richten. Sie läßt in jedem Falle erkennen, daß dem Leser eine Rolle
zugedacht ist, der er sich anverwandeln muß, soll der Sinn zur Be-
dingung des Textes und nicht zu der des Leserhabitus konstituiert
werden. Denn auf diesen gilt es in letzter Instanz einzuwirken, wes-
halb ihn der Text nicht einfach nur reproduzieren kann.

Um die dem Leserblickpunkt unterliegende Struktur zu fassen,


sind die von G. Poulet über das Lesen entwickelten Betrachtungen
nachdenkenswert. Bücher, so meint er, kommen erst im Leser zu
ihrer vollen Existenz. Zwar bestehen sie aus Gedanken, die ein
anderer ersonnen hat, in der Lektüre jedoch wird der Leser das
Subjekt dieser Gedanken. Damit schwindet die für alle Erkenntnis,
aber auch für alle Wahrnehmung geltende Subjekt-Objekt-Spaltung,
deren Aufhebung das Lesen, so darf man daraus folgern, als eine be-

32 Samuel Beckett, Murphy, New York o. J., p. 118.

248
sondere Kategorie für den möglichen Zugang zu Fremderfahrung
erscheinen läßt. In dieser eigentümlichen 'Verschmelzung' liegt
dann wohl auch der zentrale Grund dafür, weshalb man die Be-
ziehungen zur Welt der Texte so oft als Identifikation mißverstan-
den hat. Poulet zieht aus der Einsicht, daß wir im Lesen die Gedan-
ken eines anderen denken, den folgenden Schluß: "Whatever I
think is apart of my mental world. And yet here I am thinking a
thought which manifestly belongs to another mental world, which
is being thought in me just as though I did not exist. Already the
notion is inconceivable and seems even more so if I reflect that,
since every thought must have a subject to think it, this thought
which is alien to me and yet in me, must also have in me a sub;ect
which is alien to me ... Whenever I read, I mentally pronounce
an I, and yet the I which I pronounce is not myself.'i33
Für Poulet bildet diese Einsicht jedoch nur eine Zwischenüber-
legung, denn das fremde Subjekt, das im Leser die ihm fremden
Gedanken denkt, zeigt die potentielle Gegenwart des Autors an,
dessen Darstellung~deshaih- vom Leser iIn Lektürevorgang 'inter-
nalisiert' werden kann, weil der Leser sein Bewußtsein den Gedan-
ken des Autors zur Verfügung stellt. "Such is the characteristic con-
dition of every work which I summon back into existence by placing
my consciousness at its disposal. I give it not only existence, but
awareness of existence."34 Demnach würde das Bewußtsein den Kon-
vergenzpunkt bilden, in dem Autor und Leser zur Deckung kämen,
wodurch zugleich die zeitweilige Selbstentfremdung aufgehoben
wäre, in die der Leser während der Lektüre gerät, wenn sein Be-
wußtsein die Gedanken des Autors denkt. In diesem Vorgang ge-
schieht für Poulet Kommunikation. Sie ist jedoch von zwei Bedin-
gungen abhängig: die Lebensgeschichte des Autors muß im Werk
genauso weggeblendetsein wie die indi~iduellen Dispositionen des
Lesers im Akt der Lektüre. Denn erst dann können die Gedanken
,fes Autors im Leser ihr Subjekt finden, das etwas denkt, was es
nicht ist. Daraus folgt, daß das Werk selbst als Bewußtsein gedacht

3J Georges Poulet, "Phenomenology of Reading", in New Literary


History 1 (1969), p. 56.
J4 Ibid., p. 59.

249
werden muß, weil erst dadurch ein zureichender Grund für die Be-
ziehung zwischen Autor und Leser gegeben ist - eine Beziehung,
die sich zunächst nur durch die Negation der individuellen Lebens-
geschichte des Autors sowie der individuellen Disposition des Lesers
bestimmt. Diese Folgerung wird von Poulet in der Tat auch gezogen,
indem er das Werk als die Selbstpräsentation bzw. als die Materiali-
sation des Bewußtseins versteht: "And so I ought not to hesitate
to recognize that so long as it is animated by this vital inbreathing
inspired by the act of reading, a work of literature becomes (at the
expense of the reader whose own life it suspends) a sort of human
being, that it is a mind conscious of itself and constituting itself in
me as the subject of its own objects."35
An diesem Punkt allerdings beginnen nun die Schwierigkeiten.
Denn wie ist ein solches hypostasiertes Bewußtsein zu denken, das
im literarischen Werk zu sich selbst kommtl Das Hegelsche Schema
liegt nahe. Doch das Bewußtsein als eine absolute Größe anzusehen,
heißt, es zu verdinglichen. Denn Bewußtsein ist doch Bewußtsein
von etwas, und das besagt, "daß es für das Bewußtsein kein Sein
gibt außerhalb dieser strengen Verpflichtung, entdeckende unmittel-
bare Erkenntnis von etwas zu sein."36 Wenn das Bewußtsein nur in
einem solchen entdeckenden Prozeß seine Inhaltlichkeit gewinnt,
ist es als reines Bewußtsein leer. Was also entdeckt dann das Werk
als reines Bewußtsein 1 Nach Poulet könnte es nur sich selbst ent-
decken, da es die individuellen Dispositionen des Lesers nicht ent-
decken kann. Denn diese bleiben für Poulet abgeblendet. Als die
Selbstpräsentation des Bewußtseins könnte der Leser das Werk
lediglich kontemplieren; doch damit wäre nur das Ideal der klassi-
schen Ästhetik mit modernem Gegenstand wiederbelebt: statt
Schönheit nun Bewußtsein. - Es bleibt daher nur übrig, das so
hypostasierte Bewußtsein nach dem Modell der Strukturhomologie
zu denken, weil es die fortwährende übersetzung des Autors in das
Werk und die Rückübersetzung des Werks in den Leser garantiert.
Das aber wäre sehr mechanistisch gedacht und könnte eigentlich von

" Ibid.
36 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, übers. von K. A. Ott,
et al.l Hamburg 1962, p. 29.

250
Poulet nicht gemeint sein; zumaldie Homologie weniger ein Er-
klärungsprinzip ist, sondern eher eine Erklärungsnotwendigkeit an-
zeigt.

Gibt man aber die substantialistische Auffassung des von Poulet


postulierten Bewußtseins preis, so lassen sich bestimmte Gesichts-
punkte der von ihm geführten Diskussion festhalten, die man aller-
ding anders entfalten muß. Hebt das Lesen die für die Wahrneh-
mung und für die Erkenntnis konstitutive Subjekt-Objekt-Spaltung
auf, so erfolgt dadurch zugleich eine 'Besetzung' des Lesers durch die
Gedanken des Autors, die ihrerseits zur Bedingung für eine neue
'~den. Nun stehen sich Text und Leser nicht mehr
WIe Objekt uncr-suD)ekt gegenüber; vielmehr ereignet sich diese
'fulliltlln~Les(:~ selbst. Denkt er die Gedanken eines anderen,
dann springt er temporär aus seinen individuellen Dispositionen
heraus, denn er macht--etwa; zu seine~:Besc:hjiftigung~d~sbisher
nicht - wenigstens nicht in dieser Form - im Horizont seiner Er-
fahrungsgeschichte lag. Dies hat zur Folge, daß im Lesen eine künst-
liche Spaltung unserer Person geschieht, indem wir etwas, das wir
nicht sind, zum Thema erheben. Die Annahme einer solchen kon-
trapunktischen Struktur ergibt .sich daraus, daß unsere OrieiltJ.e:
r~a nicnTvolTIj"(verschwinden, wenn wir die Gedanken eines
anderen denken. So sehr diese Orientierungen nun auch zur Ver-
gangenheit entrückt sein mögen, so bilden sie doch den Hintergrund
für die uns nun beherrschenden Gedanken des Autors. Folglich ent-
stehen im Lesen immer zwei Ebenen, deren Beziehung zueinander
trotz wechselnder Spannungen niemals völlig abreißt. Denn wir ver-
mögen die Gedanken eines anderen nur deshalb zu einem uns be-
herrschenden Thema zu machen, weil diese dabei immer auf die
virtuell vorhandenen Orientierungenunserei: Person be~ogen blei-
~en. Es hat sichlediglicli-dre-Gewichtu-ngderEbe~en verschoben,
wenn die Gedanken eines anderen und deren Aktualisierung durch
uns ausschließlich im Vordergrund stehen.
Nun aber legt jeder Text, den wir lesen, einen anderen Schnitt
innerhalb der kontrapunktischen Struktur unserer Person, und d. h.
die von ihm organisierte Beziehung zwischen seinem Thema und
unserem Erfahrungshorizont gewinnt eine jeweils unterschiedliche

251
Ausprägung. Das einzelne Thema ruft nicht alle unsere Orientie-
rungen und Dispositionen auf, sondern nur bestimmte Ausschnitte
daraus, weshalb von Text zu Text der beanspruchte Umfang unserer
Orientierungen jeweils anders konstituiert ist. Läßt sich das Thema
des Textes erst durch seine Beziehung auf unseren virtuell geblie-
benen Erfahrungshorizont begreifen, der in unterschiedlichen Kon-
figurationen aufgerufen wird, dann können die Auffassungsakte der
Fremderfahrung für den Haushalt der Person nicht gänzlich ohne
Rückwirkungen bleiben.
Entrückt die im Lesen entstehende kontrapunktische Spaltung
unserer Person die geltenden Orientierungen zum Hintergrund, so
erfolgt in diesem Vorgang eine Abhebung des Subj ekts von sich
selbst. Indem es die fremden Gedanken denkt, muß sich das Sub-
jekt dem Text gegenwärtig machen und damit das, was es bestimmt,
hinter sich lassen. Von welcher Art diese Gegenwart ist, hat Stan-
ley Cavell einmal im Blick auf Shakespeares King Lear paradigma-
tisch formuliert: "The perception or attitude demanded in following
this drama is one which demands a continuous attention to what is
happening at each here and now, as if everything of significance is
happening at this moment, while each thing that happens turns a
leaf of time. I think of it as an experience of continuous present-
ness. Its demands are as rigorous as those of any spiritual exercise
- to let the past go and to let the future take its time; so that we
not allow the past to determine the meaning of what is now happen-
ing (something else may have come of it) and that we not anti ci-
pate what will come of what has come. Not that anything is
possible (though it is) but that we do not know what is, andis not,
next.,,37 Gegenwärtigkeit heißt Herausgehobensein aus der Zeit; die

37 Stanley Cavell, Must we Mean what we Say! New York 1969, p. 322;
Dutrenne, p. 555, bemerkt zu einem ähnlichen Sachverhalt: "The spec-
tatar also alienates hirnself in the aesthetic object, as if to sacrifice him-
self for the sake of its advent and as if this were a duty which he must
fulfill. Still, losing hirns elf in this way, the spectator finds hirnself. He
must contribute something to the aesthetic object. This does not mean
that he should add to the object a commentary consisting of images
or representations which will eventually lead hirn away from aesthetic
experience. Rather, he must be hirns elf fully by gathering hirnself to-
gether as a whole, without farcing the silent plenitude of the wark to

252
Vergangenheit ist ohne Einfluß, und die Zukunft bleibt unvor-
denklich. Eine Gegenwart, die ihre temporalen Bestimmungen ab-
gestreift hat, gewinnt für den, der in ihr ist, den Charakter des Er-
eignisses. Man muß sich vergessen, um dem Geforderten gewach-
sen zu sein. Daraus entspringt dann der Eindruck, daß man in der
Lektüre eine Verwandlung durchlebt. Diese Erfahrung ist schon alt
und vielfach bezeugt. Es sei daran erinnert, daß man in den frühen
Tagen des Romans im 17. Jahrhundert dessen Lektüre als eine Form
des Wahnsinns empfand, weil man im Lesen ein anderer wurde. 38
Zwei Jahrhunderte später bezeichnete Henry James die gleiche im
Lesen erfolgende Verwandlung als die wunderbare Erfahrung, zeit-
weilig ein anderes Leben geführt zu haben.39 Die in der kontra-
punktischen Spaltung erfolgende Abhebung des Subjekts von sich
selbst bildet die analytische Voraussetzung dieses Eindrucks.
Die Abhebung indes bewirkt nicht nur, daß sich das Subjekt dem
Text gegenwärtig macht, sie ruft auch eine Spannung hervor, die
sich in der Affektion des Subjekts niederschlägt. "Die 'Affektion' "
ist, wie Husserl formuliert, "Lebendigkeit 'als' Bedingung der Ein-
heitl/ 40, und d. h., durch sie soll der Zusammenhang wiedergewon-
nen werden, der im Subjekt durch Abhebung von seinem Habitus
gerissen ist. Ein solcher Riß indes läßt sich nicht mehr durch die er-
neute Reaktivierung des zeitweilig zur Vergangenheit verblaßten
Habitus schließen. Affektion ruft daher nicht die Orientierungs-
rahmen des Habitus auf; sie mobilisiert vielmehr die Spontaneität
des Subjekts. Die Art mobilisierter Spontaneität indes hängt von der
Beschaffenheit des Textes ab, dem wi:r; uns gegenwärtig gemacht

become explicit or extracting any representations from this treasure


trove. Thus the spectator's alienation is simply the culmination of the
process of attention by which he discovers that the world of the aesthe-
tic object into which he is plunged is also his world. He is at horne in
this world. He understands the affective quality revealed by the work
because he is that quality, just as the artist is his work."
38 Vgl. dazu Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, übers. von

Ulrich Köppen, Frankfurt 1969, pp. 378 H.


" Vgl. Henry James, Theory of Fiction, ed. James E. Miller, Jr., Lin-
coln 1972, p. 93 .
•• Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis (Gesammelte
Werke XI), Den Haag 1966, p. 388.

253
haben. Er modalisiert die Spontaneität, die ja ihrerseits nicht gänz-
lich konturlos ist. Denn es gibt "Spontaneitäten des Gemüts und
Willens, spontanes Werten und spontanes praktisches Verhahen
des Ich, wertend und wollend Sich-entscheiden, jedes in verschiede-
nen spontanen Modalitäten.,,41 Solche unterschiedlich modalisierten
Spontaneitäten sind Stellungnahmen des lesenden Subjekts, durch
die es die noch ungekannte Erfahrung der Gegenwärtigkeit im Text
mit dem eigenen Erfahrungshaushalt wieder zu verbinden trachtet.
Da aber der Text über die jeweilige Besonderheit der freigesetzten
Spontaneität des Subjekts verfügt, kommt eine bisher dem Bewußt-
sein des Subjekts entzogene Sphäre ans Licht. Die psychoanalytische
Kunsttheorie hat diesen Sachverhalt sehr deutlich in den Blick ge-
rückt. Hanns Sachs meinte zu solchen von Kunstwerken im Leser
hervorgekehrten, von der alltäglichen Bewußtseinshelle abgeschirm-
ten Seiten: "By this process an inner world is laid open to hirn
which is and always has been his own, but into which he cannot
enter without the help and stimulation coming from this particular
work of art.,,42 Die in der Abhebung des Subjekts von sich selbst
bewirkte Mobilisierung der Spontaneität wird nicht nur vom Text
modalisiert, sie wird auch zu den Bedingungen des Textes in eine
Bewußtseinsrealität transformiert. Dadurch konstituiert der Text
eine jeweilige Bestimmtheit des lesenden Subjekts. "Wir könnten
sagen, das Ich als Ich entwickelt sich fortgesetzt durch seine ur-
sprünglichen Entscheidungen und ist jeweils ein Pol. mannigfaltiger
aktueller Entschiedenheiten, Pol eines habituellen Strahlensystems
von aktualisierbaren Potenzen für positive und negative Stellung-
nahmen." 43 Darin zeichnet sich die Wechselwirkung von Sinnkon-
stitution und Bewußtseinsrealität ab, die sich nicht als eindimen-
sionaler Vorgang bloßer vom Habitus gesteuerter Projektionen voll-
zieht, sondern als dialektische Bewegung, in deren Verlauf der Ha-
bitus marginal wird, damit eine von ihm unkontrollierte Sponta-

.1 Ibid., p. 361. In diesem Zusammenhang betont Husserl auch die


enge Verbindung von Spontaneität und Rezeptivität.
" Hanns Sachs, The Creative Unconscious. Studies in the Psycho-
analysis of Art, Cambridge/Mass. 1942, p. 197.
4' Husserl, Analysen, p. 360.

254
neität zu den Formulierungen des Textes ins Bewußtsein treten
kann.
Damit verbindet sich eine von W. D. Harding beschriebene Ein-
sicht in den Charakter des Lesens: "What is sometimes called wish-
fulfilment in novels and plays can ... more plausibly be described
as wish-formulation or the definition of desires. The cultural levels
at. which it works may vary widely; the process is the same ... It
seems nearer the truth ... to say that fictions contribute to defining
the reader's or spectator's values, and perhaps stimulating his de-
sires, rather than to suppose that they gratify desire . by some me-
chanism of vicarious experience." 44 Fremdes, das wir noch nicht er-
fahren haben, im Akt der Lektüre zu denken, bedeutet daher nicht
nur, daß wir es auffassen müssen; es bedeutet darüber hinaus, daß
solche Auffassungsakte in dem Maße erfolgreich werden, in dem
durch sie etwas in uns formuliert wird. Denn die Gedanken eines
anderen lassen sich in unserem Bewußtsein nur formulieren, wenn
die vom Text in uns mobilisierte Spontaneität ihrerseits Gestalt
gewinnt. Da diese Formulierung geweckter Spontaneität nun zu
den Bedingungen eines anderen geschieht, dessen Gedanken wir im
Lesen für uns thematisch machen, formulieren wir unsere Spon-
taneität nicht zu den für uns geltenden Orientierungen, denn diese
hätten der so geweckten Spontaneität nicht zum Licht verholfen.
Die im Lesen erfolgende Sinnkonstitution besagt daher Ificht nur,
daß wir den in der Aspekthaftigkeit des. Textes implizierten Sinn-
horizont zur Erscheinung bringen; sie besagt darüber hinaus, daß
in einer solchen Formulierung des Unformulierten immer zugleich
die Möglichkeit liegt, uns selbst zu formulieren und dadurch das zu
entdecken, was unserer Bewußtheit bisher entzogen schien. In die-
sem Sinne bietet Literatur die Chance, durch Formulierung von
Unformuliertem uns selbst zu formulieren.
An diesem Punkt mündet die Phänomenologie des Lesens in die
moderne Subjektivitäts thematik ein. Schon Husserl hatte das karte-

44 D. W. Harding, "psychological Processes in the Reading of Fiction",


in Aesthetics in the Modern World, ed. HalOId Osborne, London 1968,
pp. 313 f.; vgl. dazu auch Susanne K. Langer, Feeling and Form. A Theory
01 Art, New York 1953, p. 397.

255
sianische cogito als die Selbstvergewisserung des Ich in der Be-
wußtheit seines Denkens dahingehend modifiziert, daß er die Dis-
krepanzen herausstellte, die sich zwischen den Gewißheitsgraden
des cogito und den Ungewißheitsgraden des Bewußtseins aus-
spannen. 45 Seit der Psychoanalyse wissen wir, daß es einen großen
Bereich im Subjekt gibt, der sich i;-ein~; Vielfalt von Symbolen
artikuliert und dabei gänzlich dem Bewußtsein verschlossen ist.
Solche Schranken im Subjekt machen dann die Implikation des
Freudschen Merksatzes: "Wo Es war, soll Ich werden" plausibel.
Denn sie besagen, wie es Ricoeur einmal umschrieben hat, daß
Freud nun "an die Stelle von Bewußtsein das Bewußt-werden"
setzt. "Was Ursprung war, wird zur Aufgabe oder zum Ziel."46
Nun ist das Lesen keine Therapie, die die vom Bewußtsein ab-
gesprengten und eik~I11m~nii~rten Symbole in die Kommunika-
tion wieder zurückzubringen hätte. Dennoch läßt es erkennen, wie
wenig das Subjekt eine Selbstgegebenheit, und sei es auch nur eine
solche der eigenen Bewußtheit, ist. Wenn aber die Gewißheit des
Subjekts nicht mehr ausschließlich in seiner Bewußtheit gründet, ja
noch nicht einmal in jener kartesianischen Minimalbedingung, daß
es das ist, als was es sich im Spiegel seiner Bewußtheit wahrnimmt,
dann gewinnt die Lektüre fiktionaler Literatur als Mobilisierung
von Spontaneität eine nicht unwichtige Funktion im 'Bewußt-wer-
den'. Denn diese Spontaneität des Subjekts erscheint vor dem Hin-
tergrund vorhandener Bewußtheit, deren marginale Stellung im
Lesen nur noch dazu dient, die zu anderen als den eigenen Bedin-
gungen geweckte und formulierte Spontaneität ins Bewußtsein auf-
zunehmen. Dieser Vorgang wird die vorhandene Bewußtheit selbst
nicht unberührt lassen; denn das Aufnehmen erfolgt in dem Maße,
in dem die Bewußtheit selbst eine andere Form anzunehmen be-
ginnt.

" Vgl. dazu Edmund Husserl, Cartesianisme Meditationen (Gesam-


melte Werke 11, Den Haag 21973, pp. 57 f. u. 61 ff.
.. Ricoeur, p. 142.

256

Das könnte Ihnen auch gefallen