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spektrumdirekt
Ausgabe vom 31. Oktober 2008

HUMANGENETIK
Das Erbe der Verdrängten
Genetische Tricks füllen Lücken der Geschichtsschreibung
[ www.wissenschaft-online.de/artikel/972180 ]

Geschichte ist schon immer die Geschichte der Sieger


gewesen - und das einst mächtige, uralte Handelsimperium
der Phönizier war vielleicht eines der ersten Opfer in dieser
uralten Saga von Aufstieg, Fall und Verleumdung der
Mächtigen. Doch es gibt immer noch Spuren, stellen
Forscher nun nach Jahrtausenden fest.

Es war zu Beginn des letzten vorchristlichen Jahrtausends, als


findige levantinische Händler aus ihren Heimatstädten wie Tyrus,
Sidon und Byblos aufbrachen, immer mehr Niederlassungen
gründeten, immer weiter Handelsbeziehungen knüpften und nach
und nach das gesamte Mittelmeer zu ihrer ureigenen Typisch Phönizisch: Ein G für ein T
ökonomischen und kulturellen Spielwiese umgestalteten. Viele der Die meisten Y-Chromosomen aller Männer
antik-globalen Niederlassungen wurden zu blühenden Städten - die weltweit tragen eine Thymin-Base (T) an der
Position M172 - bei einigen am Mittelmeer
berühmteste hieß später Karthago -, als Rom noch ein Kuhdorf und
lebenden Menschen findet sich aber hier die
die griechischen Polis ein verkrachter Haufen von Streithähnen Base Guanin (G). Gerade die von phönizischen
waren. Ahnen gezeugten männlichen Nachkommen
tragen diese Veränderung. Die Phönizier selbst,
Schon ein paar Jahrhunderte später - und bis heute - ist dann aber einst Erfinder des Alphabets, hätten die
weit mehr über Hellenen und Imperium Romanum zu hören als Buchstaben G, T, A und C allerdings noch etwas
über die einstig vorherrschende, orientalisch-phönizische anders geschrieben.
©Chris Tayler-Smith
Handelsmacht. Ursache hierfür ist wohl ein vollständiger
Untergang der Phönizier und ihrer Kultur. Gleichzeitig gibt es keine
schriftlichen Quellen, die ihre Geschichte aus eigener Sicht
erzählen könnten. Was blieb, waren Berichte aus zweiter Hand -
duftige Mythen der Griechen wie die Geschichte der ersten
punischen Herrscherin Dido, blutrünstige Verzerrungen religiöser
Praktiken (Kinderopferungen inklusive) oder biblische
Beschreibungen der einstigen israelitischen Nachbarn, in denen ab
und an Phönizier wie Hiram als versierte Handwerker und
Spezialisten für den Haus- und Tempelbau auftreten.
Ausbreitung der Phönizier
Die Karte des Mittelmeerraums verdeutlicht
Dichtung und Wahrheit
Ausbreitung und Fernhandelswege der Phönizier
im ersten Jahrtausend vor der Zeitenwende.
Wo der wahre Kern in den Überlieferungen schlummert, ist heute Gezeigt wird auch die Häufigkeit der heute noch
durch archäologische Untersuchungen allein kaum zu klären. im Genpool zu findenden genetischen Spuren
Wegen der kläglichen Quellenlage streiten sich die Forscher über dieses Volks, das seine Erbgutsignatur
das wirkliche Ausmaß und den Charakter der ehemaligen besonders entlang den frequentierten Routen
phönizischen Expansion: Hatte das Händlervolk vielleicht nur ein und Siedlungsplätzen an ihre Nachkommen
weitergegeben hat.
paar verstreute Außenposten als Anlaufstellen errichtet, von denen
©Pierre Zalloua, Rahib Hosri
nur wenige schließlich groß geworden waren, ohne dass eine
Besiedlungsstrategie dahintergesteckt hatte? Oder etablierten sie
sich in Ländereien wie dem sagenhaften "Tartessos" - die
südiberische Minenregion mit legendär reichen Silbervorkommen
war eine der vielen Kandidaten für das noch legendärere Atlantis -,
um vor Ort, wie anderswo schon, eine Provinz des wachsenden
antiken Kolonienreichs zu gründen und zu bevölkern?

Chris Tayler-Smith vom US-amerikanischen Wellcome Trust


Sanger Institute in Cambridge und eine beeindruckende Schar

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forschender Mitstreiter glauben nun, einige dieser alten Fragen mit


den neuen Mitteln der Genanalyse beantworten zu können. Die
Forscher untersuchten zu diesem Zweck das Erbgut von heute im
Mittelmeerraum lebenden Männern nach Spuren etwaiger
phönizischer Vorväter - und mussten daher erst einmal die knifflige
Frage beantworten, wie alte phönizische Genspuren eigentlich
aussehen.

Im Mittelpunkt der Forscher-Analyse standen zunächst jene großen


Gentypen, die für den südosteuropäischen und südmediterranen
Raum überhaupt typisch sind. Oft finden Genetiker hier zum
Beispiel Menschen, die in die Genschublade der so genannten
"Haplogruppe J" sortiert werden können. In den Y-Chromosom
solcher Männer finden sich typische minimale Basenabweichungen
oder auch SNPs (single nucleotide polymorphisms), die sie vom
Durchschnitt der Restmenschheit abheben - mehrere solcher SNPs,
die von Generation zu Generation gekoppelt weitervererbt werden,
definieren die Haplogruppe.

Von der für Tayler-Smiths Team interessanten Haplogruppe J war


schon bekannt, dass sie vor langer Zeit im Nahen Osten erstmals
auftrat und von dort aus nach Nordafrika, Europa, Zentralasien,
Pakistan und Indien ausstrahlte. Die Träger des Merkmals haben
sich und ihr Erbgut offensichtlich mehrfach durch
Wanderbewegungen seit der Jungsteinzeit in verschiedene
Richtungen verstreut - genauso, wie es vielleicht auch die
Phönizier getan haben könnten. Ein Beweis für phönizische
Ahnherrschaft ist die bloße Verbreitung der Haplogruppe aber noch
lange nicht - genauso gut könnte sie von weit früheren,
prähistorischen Auswanderungswellen stammen.

Alte Spurensuche

Die Genetiker schauten daher noch genauer hin und suchten


gezielt Gensignaturauffälligkeiten in jenen verschiedenen, alten
Küstenorten des Mittelmeers vom Libanon über Tunesien und
Sizilien bis Westspanien, in denen Phönizier in den Jahrhunderten
vor der Zeitenwende nachweislich gewesen waren. Zum Vergleich
testeten sie nahe gelegene Mittelmeerorte, die aber kaum für ihre
phönizischen Kontakte bekannt waren.

Nach einer Menge komplexer statistischer Auswertungen


präsentieren Tayler-Smiths computerassistierte Genanalysatoren
nun ein recht eindeutiges Ergebnis: Tatsächlich trägt die heutige
männliche Bevölkerung speziell in alten Phöniziersiedlungsgebieten
häufiger als anderswo typische Gensignaturvarianten der
Haplogruppe J2. Charakteristisch für die Söhne altphönizischer
Väter ist dabei offenbar besonders ein Austausch der Base Thymin
durch Guanin an Position M172 des Y-Chromosoms. Mehr als sechs
Prozent des Genpools in ehemaligen Phönizierniederlassungen
stammen demnach noch heute aus den alten Linien der antiken
Händler - und statistisch gesehen hat vielleicht jeder 18. lebende
Mann im Mittelmeerraum direkte phönizische Vorfahren. Ganz
offenbar brachten die Phönizier also einst nicht nur Handelswaren
mit in neu besiedelte Gebiete.

Ihre geografisch-genetische Analysemethode könnte sich auch bei


anderen bislang nur vage belegbaren Migrationswellen bewähren,

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glauben Tayler-Smith und seine Kollegen. Ohne zumindest einige


belegte historische Anhaltspunkte zu haben, bleiben aber die zur
Kompensation der fehlenden historischen Quellen gedachten
Genanalysen ohne Beweiskraft. Wissen mehren kann der neue
Ansatz aber durchaus - und Smith-Taylor und sein globales Team
möchten daher gerne gleich in mehreren anderen Weltgegenden
weiteren Genfährten nachspüren. Anbieten würde sich etwa eine
systematische Erforschung der Folgen militärischer Expansionen
wie des Asienzugs von Alexander dem Großen, des
Mongolensturms oder der Wikingerraubzüge. Verräterische
Gensignaturen finden sich aber, so hoffen die Wissenschaftler,
vielleicht noch häufiger entlang jahrhundertelang etablierten
Handelswegen - und beweisen damit endgültig, dass der Weg zur
wirklichen Nachhaltigkeit doch recht oft über die Gründung einer
Familie gelingt.

Jan Osterkamp

Zalloua, P. A. et al.: Identifying Genetic Traces of Historical


Expansions: Phoenician Footprints in the Mediterrean. In:
American Journal of Human Genetics 83(5), 2008.

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