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Studienvorbereitender Deutschkurs

Im Netz

Digitale Medien wie Computer, Spielekonsolen (Playstation) und Smartphone verändern


unser Leben. In den USA verbringen Jugendliche mittlerweile 7,5 Stunden am Tag mit digitalen
Medien – mehr Zeit als mit Schlafen. Hierzulande sind es etwa 5,5 Stunden täglich, mehr als
5 der Unterricht in der Schule, der im Durchschnitt knapp 4 Stunden täglich dauert.

Nicht allen scheint diese zeitintensive Beschäftigung zu gefallen. So kritisiert Nicolas Carr die
negativen Folgen des Internetgebrauchs: „Das Netz scheint meine Fähigkeit zur Konzentration
zu zerstören. Von mir wird erwartet, Informationen in genau der Weise aufzunehmen, wie sie
im Netz geliefert werden: in Form eines rasch bewegten Stroms kleiner Teilchen. Meine
10 Freunde sagen dasselbe: Je mehr sie das Netz benutzen, desto mehr müssen sie kämpfen, um
sich auf das Schreiben längerer Abschnitte zu konzentrieren.“

Ein 17 Jahre alter Jugendlicher schildert seinen Alltag beim Medienkonsum: „Jede Sekunde,
die ich online verbringe, bin ich am Multitasken. Jetzt gerade schaue ich fern, checke meine
E-Mails alle zwei Minuten, lese Nachrichten, brenne Musik auf eine CD und schreibe diese
15 Nachricht.“

Im digitalen Zeitalter verbringen viele Menschen fast ihre gesamte wache Zeit online; sie
werden permanent mit neuen Texten und Bildern konfrontiert. Die Auswirkungen dieser
digitalen Revolution auf die Bildung wurden zunächst ausschließlich positiv beurteilt und als
psychologischer, sozialer und ökonomischer Fortschritt dargestellt. Der ungehinderte Zugang
20 zu allen möglichen Informationsquellen eröffnete grenzenlose Bildungschancen für alle. Vor
einem halben Jahrhundert hatte man Gleiches schon einmal bei der Verbreitung des
Fernsehens als Massenkommuniktionsmittel behauptet.

Inzwischen haben die Zweifel zugenommen. Man weiß heute, dass die Bildungsrevolution
nicht stattgefunden hat. Im Gegenteil: je höher der Fernsehkonsum, desto geringer die
25 Bildung, behaupten die Gegner der Massenkommunikation. Und bei den Internetmedien
verhalte es sich ähnlich. Eine Untersuchung zum Lernverhalten bei 15 Jahre alten Jugendlichen
hat ergeben, dass ein Computer zu Hause oft von schlechten Schulleistungen begleitet wird.
Eine Spielekonsole – eine Playstation – führe schon nach vier Monaten dazu, dass die
Leistungen in der Schule sinken.

30 Neben Studien zum Lernverhalten wurden auch in der Gehirnforschung Untersuchungen zum
Umgang mit digitalen Medien durchgeführt. Die wichtigste Erkenntnis der Neurobiologie ist,
dass sich das Gehirn durch seinen Gebrauch permanent verändert. So hinterlässt z.B. jedes
Denken, Erleben, Fühlen oder Handeln Spuren, so genannte Gedächtnisspuren. Diese können
die Forscher sichbar machen, indem die Verbindungen der Nervenzellen fotografiert oder
35 sogar gefilmt werden.

In einem Experiment mit neun bis elf Monate alten Kindern wurde festgestellt, dass diese
chinesische Laute von einer Chinesin lernen, wenn sie den Kindern etwas auf Chinesisch
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vorlas. Wenn dieselbe Chinesin aber auf einem Bildschirm erschien und die Laute vorlas,
40 lernten die Kinder nichts. Offenbar brauchten die Säuglinge den direkten sozialen Kontakt mit
ihrer Lehrerin. Sie lernten sozusagen „mit allen Sinnen“. Die verschiedenen Eindrücke, die das
Kind über das Auge, das Ohr oder den Körperkontakt aufnimmt, kommen bei ihm gleichzeitig
an und bilden für den Lernprozess eine Einheit. Man sagt, das Kind lernt ganzheitlich. Diese
Einheit ist beim digitalen Medium offenbar nicht gegeben. Bis zu einem Alter von 2 bis 3
45 Jahren können Kinder von digitalen Medien nichts lernen und ihre intellektuelle Entwicklung
leidet. Die Sprachentwicklung ist aber der Grundpfeiler für die kognitive Entwicklung, für die
Intelligenz schlechthin. Deshalb wird in der Diskussion über schulische Bildung von Migrations-
kindern auch immer wieder gefordert, dass die Kinder die Sprache des Landes lernen müssen,
wenn sie erfolgreich in diesem Land leben wollen. Ohne sozialen Kontakt, der über die Sprache
50 hergestellt wird, kann dieses Ziel nicht erreicht werden.

Das ganzheitliche Lernen ist nicht nur für Kinder wichtig. Auch Erwachsene lernen mit Herz,
Hirn und Hand. Etwa ein Drittel unseres Gehirn ist für die Planung, Koordination und
Ausführung von Bewegungen zuständig. Wenn Gegenstände neu gelernt werden müssen und
der Lernprozess gleichzeitig durch eine zum Gegenstand passende Bewegung unterstützt
55 wird, ist der Lernerfolg deutlich größer. Das Gelernte wird dadurch im Gedächtnis verankert.
Konsolidierung heißt dieser Prozess, für den eine gewisse Zeit der Wiederholung und des
Nachdenkens erforderlich ist.

Dieser ganzheitliche Ansatz fehlt beim online-Lernen zumeist. Die ständige „Online-Existenz“
wirkt sich negativ aus, weil dem Gehirn Zeit für die Konsolidierung fehlt. Besonders beim
60 medialen Multitasken wird dies deutlich. Das gleichzeitige Bearbeiten mehrerer Aufgaben und
das damit verbundene gleichzeitige Benutzen mehrerer Medien hat negative Folgen. „Zwei
Dinge gleichzeitig zu tun, bedeutet, beide nicht zu tun.“, heißt es schon bei Publilius Syrus vor
2000 Jahren. Menschen, die häufiger mehrere Medien gleichzeitig benutzen, haben Probleme
mit der Kontrolle ihres Denkens. Sie können sich bei der Vielzahl der gleichzeitigen Reize
65 weniger gut auf die für die Konsolidierung im Gedächtnis wichtigen Informationen
konzentrieren. Sie lernen schlechter. Man kann sich auf diese Weise sogar eine Aufmerksam-
keitsstörung antrainieren. Die Folge für den Lernprozess ist, dass die im Internet angebotenen
Informationen nur noch abgeschöpft (geskimmt), aber nicht mehr verarbeitet werden. Ein
Lernprozess findet nicht mehr statt. Im schlimmsten Fall findet sich dann in einer Doktorarbeit
70 eine gescimmte Information aus dem Internet, aber der Verfasser weiß nichts mehr davon.

(Nach: Manfred Spitzer: Im Netz, FAZ, 22.09.2010 (bearbeitet und gekürzt))

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