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Dipartimento federale dell’economia,

della formazione e della ricerca DEFR


Commissione svizzera di maturità CSM

Esame svizzero di maturità Svizzera italiana Sessione estiva 2021

Tedesco Punti ottenuti: ______________


Livello di competenza superiore/opzione
specifica
Nota: ______________

Corretto da
Nome e cognome: __________________________
(firma): ______________

Numero: __________________________

Durata: 3 ore

Sussidi ammessi: nessuno

Punteggio massimo: Leseverstehen 65 punti


Schreiben 30 punti
Totale 95 punti
Esame svizzero di maturità Svizzera italiana Sessione estiva 2021

Marlene Röder
SCHERBEN

Ich bin unvorsichtig geworden. Wie schnell das geht. Zu Hause wäre mir das nie passiert.
Ich bin müde, daran liegt es. Seit ich hier bin, könnte ich die ganze Zeit nur schlafen.
Sie haben mir ein Zimmer gegeben mit Modellflugzeugen, die von der Decke hängen. An
eine Wand ist ein Regenbogen gesprayt. »Was ist denn das für ein Babyzimmer?«, hab ich
5 gefragt. Ich bin fast vierzehn, Mann.
»Das ist das Zimmer von meinem Bruder«, hat das Mädchen gesagt, und Alter, wie die
dabei geguckt hat. Als würde sie mir jeden Knochen im Leib einzeln brechen, wenn ich die
Scheißflugzeuge auch nur schief angucke 1.
»Und wo ist er, dein Bruder?«, hab ich gefragt. Weil, hey, ich hätte ein Problem damit,
10 wenn meine Alten einfach jemand in meinem Zimmer pennen 2 lassen würden, selbst
wenn es ein Babyzimmer ist. Aber diese Pfarrerskinder, die sind wohl sozial erzogen.
Nächstenliebe und so was.
»Er ist tot«, hat sie gesagt und auf den Fußboden geschaut: »Er hatte Muskel-
schwund 3.« Ich starre sie an und stelle mir einen Jungen vor, der sich langsam auflöst, die
15 Muskeln flutschen zurück wie Spaghetti, bis er nur noch ein Häufchen Knochen ist, über-
spannt von Haut.
Und auseinanderfällt.
Bestimmt hätte ich da was sagen sollen, irgendwas mit herzlich … Aber das Einzige,
was mir eingefallen ist, war herzlichen Glückwunsch, und das passte ja wohl nicht. Also
20 hab ich nur gesagt: »Toll, das Zimmer von ’nem Toten.«
Auf dem Schreibtisch steht sogar noch ein angefangenes Modellflugzeug, steht da wie
in einem Scheiß-Museum, und manchmal bastle 4 ich ein bisschen dran rum, nur um die
Pfarrersippschaft 5 zu ärgern.
Neulich kam der Pfarrer himself ins Zimmer, um irgendwelches Gerichtszeug mit mir
25 zu besprechen. Ich hab gesehen, dass er es sofort gemerkt hat, er hat auf das Flugzeug
gestarrt und ich dachte, gleich fängt er an zu flennen 6 oder scheuert 7 mir eine, aber statt-
dessen hat er mich angeguckt und dann hat er versucht zu lächeln.
Kein Wunder, dass man da lasch wird. Dass man nicht mehr aufpasst, dass man ver-
gisst, die Tür abzuschließen, wenn man morgens mit müdem Kopf ins Bad trottet. Zu
30 Hause wär mir das nie passiert.
Ich stehe in Boxershorts vorm Waschbecken und spüle mir die Zahnpasta aus dem
Mund. Als ich wieder hochgucke, sehe ich in dem großen Spiegel, dass das Mädchen hinter
mir in der offenen Tür steht. Sie starrt mich an, starrt meinen Rücken an, die Striemen 8,

1
schief angucken = misstrauisch anschauen.
2
pennen = schlafen.
3
der Muskelschwund = Krankheit, die die Muskelmasse reduziert und Probleme mit der Bewegung verursacht.
(Distrofia muscolare)
4
basteln = zusammenbauen.
5
die Pfarrersippschaft = Familie des Pfarrers.
6
flennen = weinen.
7
scheuern = schlagen.
8
die Striemen = Streifen auf der Haut (z.B. nach einem Schlag).
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wo der Arsch mich mit dem Gürtel … Und meine Mutter, die zugesehen hat, bisschen ge-
35 flennt, aber zugesehen …
Und jetzt sieht das Mädchen das alles, und ich steh da mit einem Rest Zahnpasta im
Mundwinkel und hab mich noch nie so scheißnackt gefühlt. Ich wirbel 9 herum, aber ihr
Blick geht an mir vorbei, es ist immer noch alles sichtbar im Spiegel, und wie kann das
sein, dass sie morgens schon so aussieht, mit dem langen, rotbraunen Haar, das ihr über
40 die Schulter fällt, makellos 10, ja, das ist das Wort. Ihre Augen sind geweitet, sie guckt mich
an wie etwas, was runtergefallen und kaputtgegangen ist, schade drum. Und dann gräbt
sich diese Furche 11 in ihre Stirn – oh, tut mir so leid für dich – und am liebsten würde ich
sie schlagen. Stattdessen schreie ich sie an und schmeiße 12 meine Zahnbüste nach ihr,
dass der Schreck das andere in ihren Augen auslöscht. Ich schmeiße auch den Zahnputz-
45 becher und die Cremes, den Rasierapparat und überhaupt alles, was in Reichweite ist. Aus
einem kleinen Schnitt am Kinn des Mädchens tropft Blut, aber es bleibt immer noch ste-
hen. Zuletzt knalle ich die Seifenschale aus poliertem Stein gegen den großen Wandspie-
gel. WUMM! Mit einem befriedigenden Krachen explodiert er und die Scherben regnen
glitzernd runter. Da läuft sie endlich weg.
50 Mein Herz hämmert. Mir ist so heiß. Ich will meine Haut ausziehen und das alte, zer-
knüllte Ding in den Korb für die schmutzige Wäsche schmeißen. Ich will mich hinlegen,
mit dem Gesicht auf die kühlen Fliesen 13, ’ne Runde ausruhen. Aber das geht nicht, alles
voller Scherben.
Das war’s wohl mit dem Pfarrershaus. Nachdem ich ihr Bad zerlegt habe, schmeißen
55 die mich raus. War ja klar, dass so was passiert. Aus irgendeinem Grund muss ich an das
halb fertige Modellflugzeug denken, während ich in diesem Trümmerhaufen 14 rumstehe.
Alles voller Scherben und ich bin barfuß.
Keine Ahnung, wie ich hier je wieder wegkommen soll.
Es klopft an der Badezimmertür. »Kann ich reinkommen?«, fragt eine Männerstimme.
60 »Meinetwegen.« Was soll ich auch sonst sagen? Erwachsene machen eh, was sie wollen,
egal, was du davon hältst.
Es ist der Pfarrer. Bestimmt hat seine Tochter ihn geholt, weil sie Angst vor dem Ver-
rückten im Bad hat. Bestimmt ist er wütend, weil ich sie mit Sachen beworfen habe, aber
sein Gesicht bleibt ganz ruhig. Er sieht sich in dem zertrümmerten Bad um, dann sieht er
65 mich an.
Die Scherben knirschen unter seinen Sohlen 15, als er auf mich zukommt. Er trägt
Schuhe. Mein Körper spannt sich. Da breitet er linkisch 16 die Arme aus und ich kapiere,
dass er mich hochheben will, mich über die Scherben hinwegtragen wie einen kleinen
Jungen. Aus irgendeinem Grund tut das mehr weh, als wenn er mich geschlagen hätte. Ich
70 mache einen Schritt rückwärts, suche nach Worten und finde welche, mit denen ich ihn

9
herumwirbeln = sich schnell umdrehen.
10
makellos = ohne Mangel und ohne Fehler.
11
eine Furche = eine Falte.
12
schmeissen = werfen.
13
auf die kühlen Fliesen = auf dem kühlen Fussboden.
14
der Trümmerhaufen = viele Überreste/Bruchstücke.
15
die Sohle = die untere Fläche des Schuhs.
16
linkisch = unbeholfen, hilflos, hölzern.
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schlagen kann: »Nur weil dein Sohn tot ist … Ich brauch niemanden, der mich rettet, ka-
piert!« Die Arme des Pfarrers sinken langsam herab, auch in seinem Gesicht sinkt etwas
und ich schaue weg.
»Ich hab keinen Muskelschwund! Ich hab jede Menge Muskeln!«, sage ich, denn ich bin
75 fast vierzehn.
Und dann laufe ich über die Scherben zur Tür. Ich merke, wie die Scherben in meine
nackten Füße schneiden, aber ich laufe weiter.

(930 Wörter)
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LESEVERSTEHEN 65 Punkte

Marlene Röder: SCHERBEN

AUFGABE: Beantworten und lösen Sie die folgenden Fragen und Aufgaben wie angegeben, ent-
weder mit Ankreuzen, mit Stichworten oder mit korrekten Sätzen. Es werden Inhalt
und Form bewertet. Formulieren Sie die Antworten mit eigenen Worten und fügen Sie
keine Sätze aus dem Lesetext ein. Ihre Antworten sollten aus mindestens 230 Wörtern
bestehen.

A. Textverständnis.
Lesen Sie die Geschichte einmal ganz durch. Lösen Sie dazu die folgende Aufgabe. 7 Punkte
Welche Aussagen sind richtig? – Kreuzen Sie an.

1. Der 14-jährige Ich-Erzähler … (drei Kreuze)


 ist bei einer fremden Familie in den Ferien.
 wohnt im Zimmer des Pfarrersohns.
 interessiert sich für Modellflugzeuge.
 vergisst sein Zimmer abzuschliessen.
 lebt nicht mehr bei seinen Eltern.
 verletzt die Pfarrerstochter schwer.
 versteht das Verhalten des Pfarrers nicht.
 verletzt sich mit den Glassplittern.

2. Die Pfarrerstochter … (zwei Kreuze)


 hat ihren Bruder verloren.
 ist aggressiv gegenüber dem Ich-Erzähler.
 stört den Ich-Erzähler in seinem Zimmer.
 verhält sich unsicher gegenüber dem Ich-Erzähler.

3. Der Pfarrer … (zwei Kreuze)


 hat den Ich-Erzähler schon einmal geschlagen.
 versucht dem Ich-Erzähler zu helfen.
 versteht den Ich-Erzähler überhaupt nicht.
 ist am Ende enttäuscht vom Ich-Erzähler.

B. Familiäre Situation

Schildern Sie kurz die familiäre Situation des Ich-Erzählers und der Pfarrersfamilie.
Schreiben Sie in Stichworten.

a) Ich-Erzähler 3 Punkte


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b) Pfarrersfamilie 3 Punkte

C. Sinn und Deutung


Beantworten und lösen Sie die folgenden Fragen und Aufgaben mit korrekten Sätzen.

1. Das Zimmer gefällt dem Ich-Erzähler nicht. Er fühlt sich dort nicht wohl. Warum nicht? 4 Punkte
(Geben Sie zwei Gründe an.)

2. "Aber diese Pfarrerskinder, die sind wohl sozial erzogen. Nächstenliebe und so was." (Z. 11-12) 2 Punkte
Was meint der Ich-Erzähler damit?

3. "Toll, das Zimmer von ’nem Toten." (Z. 20) Wie erklären Sie diese verbale Aggression? 2 Punkte

4. a) Warum bastelt der Junge an dem 'angefangenen Modellflugzeug'? (Z. 21-23) 2 Punkte

b) Wie reagiert der Pfarrer darauf? (Z. 24-27) 3 Punkte

5. Der Pfarrer möchte "irgendwelches Gerichtszeug" (= 'roba legale') mit dem Ich-Erzähler
besprechen. (Z. 24). Worum geht es dabei wohl? 2 Punkte

6. "Sie starrt mich an, starrt meinen Rücken an, die Striemen, wo der Arsch mich mit dem Gürtel …
Und meine Mutter, die zugesehen hat, bisschen geflennt, aber zugesehen …" (Z. 31-35)
Welche zwei zentralen Informationen über den Ich-Erzähler erhalten wir Leser in diesem 4 Punkte
Textausschnitt?
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7. Zeile 36-42:

a) Was realisiert das Mädchen, als sie den Rücken des Jungen im Spiegel sieht? 3 Punkte
Und wie reagiert sie?

b) Warum bemerkt der Ich-Erzähler die "Makellosigkeit" des Mädchens? (Z. 39-41) 2 Punkte

c) Warum möchte der Junge die Pfarrerstochter am liebsten schlagen? (Z. 42-43) 2 Punkte

8. Der Junge will seine "Haut ausziehen und das alte, zerknüllte Ding in den Korb für die schmutzige
Wäsche schmeißen." (Z. 50-51)
3 Punkte
Wie interpretieren Sie das?

9. Der Junge muss an "das halbfertige Modellflugzeug" denken. (Z. 56)


Wofür könnte es stehen? 3 Punkte

10. Zeile 59-65:


2 Punkte
a) Was (= welche Reaktion) erwartet der Ich-Erzähler vom Pfarrer?

b) Wie reagiert der Pfarrer?


2 Punkte
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11. "Aus irgendeinem Grund tut das mehr weh, als wenn er mich geschlagen hätte." (Z. 69)
Was glauben Sie: Aus welchem Grund tut das dem Ich-Erzähler mehr weh?
3 Punkte

12. "Ich mache einen Schritt rückwärts, suche nach Worten und finde welche, mit denen ich ihn schlagen
kann: »Nur weil dein Sohn tot ist … Ich brauch niemanden, der mich rettet, kapiert!«" (Z. 70-72)
Welche der drei Aussagen gibt den Sinn dieser Textstelle wieder? – Kreuzen Sie an. 2 Punkte

Der Ich-Erzähler …
 … kann sich nicht vorstellen, warum der Pfarrer ihm helfen will.
 … wehrt sich dagegen, eine Art 'Ersatzsohn' des Pfarrers zu werden.
 … hat Angst, wie der Sohn des Pfarrers zu werden – und vielleicht auch zu sterben.

13. "… und ich schaue weg." (Z. 72-73)


Warum schaut der Junge weg? 2 Punkte

14. Kommentieren und interpretieren Sie den Schluss der Geschichte:


"»Ich hab keinen Muskelschwund! Ich hab jede Menge Muskeln!«, sage ich, denn ich bin fast
vierzehn.
Und dann laufe ich über die Scherben zur Tür. Ich merke, wie die Scherben in meine nackten
Füße schneiden, aber ich laufe weiter." (Z. 74-77) 4 Punkte

15. In dieser Geschichte geht vieles in Scherben. Kommentieren Sie in diesem Zusammenhang den Titel
der Erzählung 'SCHERBEN'. 5 Punkte
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SCHREIBAUFGABE
Wählen Sie ein Thema aus den zwei folgenden Vorschlägen aus:

a) Eine Woche später


Eine Woche später schreibt der Pfarrer einen Brief an die Vormundschaftsbehörde (= autorità di protezi-
one), in dem er die Ereignisse, über die wir gelesen haben, aus seiner Sicht beschreibt und kommentiert.
Er reflektiert auch seine Rolle und versucht zu begreifen, was alles falsch gelaufen ist.
Schreiben Sie diesen Brief aus der Position des Pfarrers.

oder

b) «Entschuldigung, das wollte ich nicht.»


Sicher waren Sie auch schon in einer Situation, in der Sie sich für Ihr Handeln oder für etwas, was Sie
gesagt haben, entschuldigen mussten. Einige Menschen aber tun sich sehr schwer mit Entschuldigun-
gen: Sie wollen nicht, oder können nicht, oder es fehlt ihnen die Einsicht …
Aber wann, warum und wie soll man sich überhaupt entschuldigen? Kann man es auch übertreiben?
Schreiben Sie für einen Blog einen Eintrag zum Thema 'Entschuldigung'. Erzählen Sie auch über Ihre
persönlichen Erfahrungen damit.

oder

c) «Haut ausziehen und das alte, zerknüllte Ding in den Korb für die schmutzige Wäsche
schmeissen»
Sicher haben Sie oder eine bekannte Person sich schon einmal so gefühlt. Manchmal ist es aber schwer
aus der eigenen Haut zu kommen.
Schreiben Sie einen Blogeintrag, indem Sie ihre Erfahrungen solch einer Situation und die Gefühle be-
schreiben und erklären.

Ihr gut strukturierter Text soll rund 200 Wörter lang sein und folgenden Kriterien genügen:

Ihr Text ist ein Blogeintrag/Brief 0 1


Inhaltliche Vollständigkeit 0 1 2 3 4
Textaufbau und Kohärenz 0 1 2 3 4
Ausdrucksfähigkeit 0 1 2 3 4 5
Formale Richtigkeit 0 1 2 3 4 5 6

Total: (1.5 x 20 Punkte) 30 Punkte

Benützen Sie für die Reinschrift das folgende Blatt.


Zählen Sie bitte die geschriebenen Wörter und schreiben Sie die Zahl unter den Text.
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