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Autorinnen und Autoren


Ağaçsapan Kurtman Asuman, Anadolu-Universi- Deutsch als Fremd-/Zweitsprache, Migrationsfor-
tät schung. Redakteur und Moderator für diverse Talk
Univ.Professorin an der Anadolu-Universität in Es- sendungen und Dokumentationen im TV-Anadolu. e-
kişehir, Studium in Eskişehir, Promotion an der Mail: mcakir@anadolu.edu.tr
Hacettepe-Universität in Ankara. Arbeitsschwerpunk-
te: DaF, Linguistik, Spracherwerb, Sozioliguistik, Ste-
Koçak, Muhammet, Gazi-Universität
reotypen in Textsorten. e-Mail: aagacsap@anadolu.
Dr. phil., Studium der Germanistik an der Univer-
edu.tr
sität Ankara. Magisterstudium und Promotion an
der Gazi-Universität. Derzeit Lehrbeauftragter an der
Aktaş, Tahsin Nevşehir-Universität Gazi-Universität. Forschungsschwerpunkte: DaF, in-
Dr. phil., Univ.Prof., studierte Germanistik an der Uni- terkulturelle Kommunikation, Sprache und Migrati-
versität Ankara. Seit 2003 Professor für kontrastive on, Zwei- und Mehrsprachigkeit. e-Mail: muhammet
Linguistik an der Universität Gazi. Zurzeit ist er Dekan kocak@gazi.edu.tr
der pädagogischen Fakultät der Universität Nevşehir.
e-Mail: tahsinak@gazi.edu.tr
Serindağ, Ergün, Çukurova-Universität
Dr. phil., Studium der Germanistik an der Çukurova-
Balcı, Tahir, Çukurova-Universität Universität in Adana. Magisterstudium und Promoti-
Prof. für DaF an der Pädagogischen Fakultät in Ada- on am Institut für Sozialwissenschaften in Adana. Seit
na. Bachelor-Studium in Konya, Master-Studium in 1997 an der Çukurova-Universität tätig. Forschungs-
Eskişehir, Promotion an der Universität für Bildungs- schwerpunkte: Kontrastive Linguistik, Deutsch als
wissenschaften (UBW, heute Alpen-Adria Universi- (zweite) Fremdsprache, interkulturelle Kommunika-
tät) Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Kontrasti- tion. e-Mail: eserin@cu.edu.tr
ve Linguistik, Fremdsprachendidaktik. e-Mail: tbalci@
cu.edu.tr
Seyhan Yücel, Mukadder, Trakya-Universität
Dr. (PhD), studierte Germanistik an der Universi-
Balcı, Umut, Çanakkale-Onsekiz-Mart-Universität tät Istanbul. Magister und Promotion an der erzie-
Dr. phil., Studium an den Universitäten Ankara, hungswissenschaftlichen Fakultät. Seit 1994 Lehr-
Canakkale und Adana Çukurova (PhD). Forschungs- kraft an der Deutschlehrerausbildung der Uni-
schwerpunkte sind Kontrastive Linguistik, deutsch- versität Trakya. Forschungsschwerpunkte: Metho-
türkische Literatur, Didaktik des Deutschen. e-Mail: dik&Didaktik von DaF, Landeskunde und Interkultu-
balci_u@yahoo.de ralität, Informative und Kommunikative Technologien
in DaF. e-Mail: mukadderyucel@hotmail.com
Çakır, Gülcan, Anadolu-Universität
Dr. phil., Lehrbeauftragte für DaF an der Pädagogi-
schen Fakultät in Eskişehir. Sie promovierte an der
Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte:
Gesprochene Sprache, Linguistik, Lehr- und Lernmit-
telforschung. e-Mail: gcakir@anadolu.edu.tr

Çakır, Mustafa, Anadolu-Universität


Univ.Prof. an der Anadolu-Universität, PhD-Studium
an der Universität Wien. Forschungsschwerpunk-
te: Fremdsprachendidaktik, Sprachlehrforschung zu
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Editorial

Mit diesem Heft der tribüne wollen wir eine Serie und einen zu einem Vergleich zweier nationalen Va-
„Germanistik in anderen Ländern“ beginnen. Als ers- rietäten (österreichisches Deutsch und kanadisches
tes Heft präsentieren wir Aktuelles zu germanisti- Englisch, von St. Dollinger, Vancouver u. Kiel).
schen Studien in der Türkei, in einem der nächsten
Hefte ist die Germanistik in Polen das Thema.
Heinz-Dieter Pohl
Das vierte Heft des Jg. 2012 ist bereits in Vorberei-
tung; es wird zwei Beiträge enthalten, je einen zur
Schreibung des Buchstabens (von H. Möcker, Wien)

Nachtrag zur TRIBÜNE, Heft 2/2012, S. 25-31:

Schwierigkeiten im Umgang mit den arabischen Ziffern der Spätgotik

(von Hermann Möcker): So hätte der Titel des Bei- interessierte Leser sich nun doch zurechtfinden kann,
trages lauten sollen, nicht „. . . in der Spätgotik“. Das wird er zu folgenden Einfügungen angeregt:
„in“ ist in den Titel hineingeraten und blieb bei der
a) Die Anmerkungen auf S. 31 mögen zunächst mit
Autorkorrektur im Sommer in Vorarlberg unentdeckt.
„1“ bis „5“ durchnummeriert werden. Demnach
Die in Rede stehenden „Schwierigkeiten“ beziehen 1
) Walter Berschin & Martin Hellmann:. . . 2 ) Her-
sich nicht nur auf die Einführung der arabischen Zif-
mann Möcker:. . . 3 ) Eine Beobachtung, . . . 4 ) wie
fern in der Spätgotik , sondern auch auf Leseproble-
Anm. 2 . . . 5 ) Alphons Lhotsky: AEIOV. . .
me mit bestimmten spätgotischen Ziffern – v.a. 4, 5,
b) Sodann können die Anmerkungsziffern im Text
7 – heutzutage, deshalb nicht allein „ . . . in der Spät-
nachgetragen werden, u.zw.: Ziffer „1“ auf S. 26,
gotik“. Schwierigkeiten im Umgang . . . , auch heute,
re. Spalte unten. – Ziffer „2“ auf S. 28, li. Spalte
leider wie wahr! Nach schweren Druckfehlern in der
unten. – Ziffer „3“ auf S. 29, li. Spalte ganz oben
Erstfassung dieser Arbeit im DOM IM DORF 2008
(Zeile 1). – Ziffer „4“ auf S. 29, li. Spalte Mitte
setzte der Autor seine ganze Hoffnung auf die er-
(nach 1594). – Ziffer „5“ auf S. 29, li. Spalte un-
weiternde Überarbeitung für die TRIBÜNE. Und doch
ten.
sind nach der Schlusskorrektur in der Druckerei wei-
tere Fehler passiert: Die Anmerkungsziffern sind aus Der Autor bittet um Nachsicht wegen dieser Mühe-
dem Text verschwunden und alle Anmerkungen im waltung und wünscht besseren Lesegenuss.
Anhang (S. 31) auf „1“ gestellt worden. – Damit der
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Ein Überblick über Deutsch als Fremdsprache in


der Türkei
Prof. Dr. Tahir Balcı

In meinem Beitrag möchte ich über DaF in Grund- Amerikanisierung des Erziehungssystems ab, das
/Mittel- und höheren Schulen und über germanisti- sich mit Englisch begnügte und andere Fremdspra-
sche Abteilungen überblicklich berichten, wobei ich chen als Belästigung empfand/empfindet.
unter germanistischen Abteilungen a) die Abteilun-
Folglich begann Englisch als alleinige Fremdsprache
gen für Deutschlehrerausbildung an pädagogischen
zu herrschen; seitdem hat das Erziehungsministeri-
Fakultäten, b) die Abteilungen für deutsche Sprache
um sehr selten Deutschlehrer angestellt. Aber trotz-
und Literatur und c) die Abteilungen für Übersetzen
dem ist die Anzahl germanistischer Abteilungen ge-
und Dolmetschen (Deutsch) an philosophischen Fa-
stiegen, und sie haben hingebungsvoll versucht, ih-
kultäten verstehe.
re Existenz zu behaupten; trotz aller indirekten Hin-
dernisse hat sich die Anzahl der Studierenden ge-
Germanistische Abteilungen in der Türkei steigert. Das ist ja nicht ohne Grund: Angebot und
Anzahl Anzahl der Studie- Nachfrage widersprechen der Fremdsprachenpolitik
der Ab- renden, die 2012 der Regierungen.
teilungen zugelassen werden
Die herrschende Regierung ist seit 2002 an der
Abteilungen für 17 1002
Deutschlehreraus-
Macht. In diesem Zeitraum hat es viermal einen Mi-
bildung 1 nisterwechsel gegeben Trotz grundlegender System-
Abteilungen für 11 812 veränderungen, die nicht selten auf große negative
deutsche Sprache Reaktionen stoßen, sind die Fortschritte im Hinblick
und Literatur 2 auf die Fremdsprachenpolitik ein Tropfen auf den hei-
Abteilungen für 7 338
Übersetzen und ßen Stein. Ganz zu schweigen davon, dass Schul-
Dolmetschen 3 leitungen – den Vorschriften widersprechend – kei-
ne Deutschklassen bilde(te)n oder wenn ja, dann so,
Total 38 2152
dass der Deutschunterricht nicht von fest angestell-
ten, sondern von als Springer stundenweise honorier-
ten AbsolventInnen germanistischer Abteilungen er-
Wenn man sich vorstellt, dass das Studium min- teilt wurde/wird. Das beeinflusst die Nachfrage nach
destens 4 Jahre dauert und meistens die Vorbe- einem germanistischen Studium – im Vergleich zum
reitungsklasse hinzukommt, gibt es ungefähr 8.500 Englischstudium – negativ.
Germanistik-Studierende.
Das neue „4+4+4-System“, das im Schuljahr 2012-
Seit den sogenanten Beschlüssen am 24. Januar (24 2013 eingeführt wurde, schreibt das Fremdsprachen-
Ocak Kararları) und dem Militärputsch im Jahre 1980 lernen ab der 2. Klasse der Grundschule vor. Diese
hat sich die Stellung von DaF in der Türkei tagtäglich gesetzliche Bestimmung ist im allgemeinen Sinne er-
verschlechtert. Das hat damit zu tun, dass diese im freulich, weil schon Kinder ab dem 6. Lebensjahr mit
Grunde wirtschaftlichen Beschlüsse nicht nur radika- dem Fremdsprachenlernen beginnen können, aber
le Ausgabenkürzung und Unterdrückung elementarer im besonderen Sinne nutzlos und unangenehm, weil
Menschenrechte, sondern auch eine negative Wende die einzige Fremdsprache bis zum 8. Schuljahr aus-
in der Kulturpolitik der Türkei mit sich brachten. nahmslos Englisch sein wird, obwohl im Curriculum
Seither war/ist die Fremdsprachenpolitik aller Re- keine Fremdsprache namentlich erwähnt wird. 4
gierungen nicht pädagogisch, sondern politisch mo-
tiviert und zielt(e) stillschweigend auf die Anglo-
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Fremdsprachen in Grundschulen so wie man auch an der Tabelle erlesen kann, fällt
1. Klas- 2. Klas- 3. Klas- 4. Klas- auf, dass die Schüler theoretisch bis zu vier Fremd-
se (WS) se (WS) se (WS) se (WS) sprachen – eine Pflicht- und drei Wahl-Fremdsprache
Obliga- 0 2 2 2 – lernen dürfen. Die Praxis sagt aber etwas anderes
torisch als die Theorie. Wenn eine Fremsprache als Wahl-
fach angeboten wird, so ist diese Sprache wieder-
um Englisch, oder die Schüler werden gelenkt, keine
Fremdsprachen in Mittelschulen und İmam- Fremdsprache zu wählen, weil sonst Deutsch oder
Hatip-Schulen Französisch in Frage kommen. In allen Gymnasien
1. Klas- 2. Klas- 3. Klas- 4. Klas- hat also Englisch als 1. Fremdsprache eine klare Mo-
se (WS) se (WS) se (WS) se (WS) nopolstellung. Als 2. Fremdsprache kommt in den
Obliga- 4 4 4 4 meisten Fällen nur Deutsch in Frage.
torisch
Es wäre aber völlig unrecht, diese falsche Fremd-
Wahl- 2 2 2 2
fach sprachenpolitik nur dem Ministerium zuzuschreiben.
Das Ministerium stellt es meistens dem Belieben der
Schuldirektoren frei, eine Klasse mit Deutsch als 1.
Die Gesamtzahl der Grund- und Mittelschulen be- Fremdsprache zu eröffnen. Bei persönlichen Gesprä-
trägt 32797. Schätzungsweise ist die Hälfte davon chen mit Schuldirektoren entlarven sich die folgenden
Mittelschulen. 5 Wir glauben, dass die zweite Frem- unwissenschaftlichen Gründe für die Vermeidung ei-
sprache in Mittelschulen überwiegend Deutsch sein ner Deutsch-Klasse:
und das Erziehungsministerium dieser Nachfrage Schuldirektoren haben meistens kein Fremdspra-
nach Deutschlehrern nachkommen wird. chenbewussutsein. Selbst Direktoren (in Adana), die
Deutschlehrer von Beruf sind, haben kein Interesse
1 Fremdsprachen in Gymnasien 6 an der Bildung einer Klasse mit Deutsch als 1. Fremd-
sprache gezeigt. Sie versuchen das damit erklären,
In der Türkei gibt es 31 Arten von Gymnasien, de- dass sie Probleme bei Räumlichkeiten oder bei An-
ren Anzahl sich auf 9281 beläuft. In die naturwis- stellung von Deutschlehrern durch das Ministerium
senschftlichen (Fen Lisesi), sozialwissenschaftlichen erleben könnten. In Wirklichkeit gibt es in den meis-
und die sog. Anadolu-Gymnasien bzw. berufsbilden- ten Schulen viele unbesetzte Lehrer-Stellen, die das
de Anadolu-Gymansien werden die Schüler durch Erziehungsministerium nicht besetzt. Die Direktoren
Aufnahmeprüfung zugelassen. Die meisten Gymna- fühlen es wahrscheinlich als Belästigung, Honorar-
sien sind Anadolu Lisesi (Anadolu-Gymnasien), und Lehrer zu beschäftigen.
ihre Anzahl ist die größte: 1818. 7 Nur an 30 Anadolu-
Gymnasien ist Deutsch die 1. Fremdsprache. An allen
Deutschlehrer-Stellen in Adana
anderen Anadolu-Gymnasien ist meistens Deutsch,
seltener auch Französisch die 2. Fremdsprache. Gesamtzahl 83
Deutsch als obligatorische 2. Fremdsprache gibt es besetzte Stellen 32
in: Anadolu-Gymnasien (Anadolu L.), Gymnasien für unbesetzte Stellen (Bedarf) 51
Sozialwissenschaften (Sosyal Bilimler L.), Anadolu-
Lehrer-Gymnasien (Anadolu Öğretmen L.) und in
naturwissenschaftlichen Gymnasien (Fen L.). Aus Wenn man diese Angaben in Bezug auf 81 Provinzen
den Dokumenten des Erziehungsministeriums 8 geht der Türkei verallgemeinert, kann man sich die Diskre-
hervor, dass in allen anderen Gymnasien (düz li- panz zwischen Angebot vs. Nachfrage in der türki-
se, imam-hatip usw.) zwei Fremdsprachen und auch schen Fremdsprachenpolitik vorstellen. Diese Anga-
deutsche Literatur als Wahlfach angeboten werden. ben betreffen nur die Gymnasien. Hier fehlen noch
Die Anzahl der Wochenstuden sieht so aus: die Zahlen von Mittelschulen, deren Anzahl enorm
groß ist und in denen größtwahrscheinlich Deutsch
Wenn man die Arten/Namen der Unterrichtsgegen- die erste Position erlangen wird.
stände auf der Webseite des Ministeriums analysiert,
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2 Die Situation der germanistischen Abteilungen Arbeit finden? Die Antwort ist ein deutliches Nein! Ich
nehme an, dass die Arbeitslosigkeit nach dem Studi-
Wenn man die Anstellung als Deutschlehrer als einzi-
um mehr oder minder alle Fächer angeht.
ges Kriterium betrachten würde, könnte man sagen,
dass sich germanistische Studiengänge in einer Krise In letzten Jahren hat es an Relevanz gewonnen, ei-
befinden, wie es fast in allen Ländern der Fall ist. Aber ne grundlegende universitäre Bildung – egal welches
wie steht es wohl mit anderen Studiengängen? Kön- Fach – zu genießen, die durch zusätzliche Fähigkei-
nen die Absolventen anderer Fächer problemlos eine ten, Fertigkeiten und Zertifikate gestärkt und aufge-
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baut werden muss. Um in diesem Sinne Flexibilität Balcı, T. (1998): Türkiye’de Germanistik ve Turizm
und Interesse am Deutschstudium zu wecken, wur- Eğitimi. Sorunlar ve Somut Çözüm Önerileri. ÇÜ
den mehrere curriculare Versuche unternommen (Ku- Eğitim Fakültesi Yay. Nr. 15. Adana.
la 1991; Polat 1996; Balcı 1998), die das Germa- Kula, O. B. (1991): Hochschul- und fachdidaktische
nistikstudium den Anforderungen des Arbeitsmarktes Überlegungen zur Analyse und Reform der Ger-
entsprechend umzustrukturieren wollten. manistik und Deutschlehrerausbildung in der Tür-
kei. In: Ankaraner Beiträge zur Germanistik. An-
Mancher könnte sich die Frage stellen, warum kara/Istanbul. S. 13-23
Deutsch für die Türkei sehr wichtig ist oder ob man Polat, T. (1996): Der interkulturelle Ansatz und einige
sich nur mit Englisch nicht begnügen kann. Man kann Überlegungen zum Deutschunterricht in der Tür-
hierzu Folgendes sagen: kei. In: Almanca Dil Dergisí. AÖD Yay. S. 125-133.
Uzuntaş, A. (2011). Deutsch als Fremdsprache in der
– Die Türkei hat sich der europäischen Zollunion an- Türkei. Gesellschaftlich-kulturelle, pädagogische,
geschlossen und bezweckt die Vollmitgliedschaft in fachliche Perspektiven des Faches. Deutsch als
der EU. Außerdem ist Deutsch die größte Sprache Fremdsprache. Deutschunterricht in Theorie und
der EU, die als Muttersprache gesprochen wird. Praxis (DTP), hg. v. W. Ulrich.. Baltmannsweiler
– In deutschsprachigen Ländern leben über drei Mil- (im Druck). Schneider Hohengehren
lionen Türkisch- Deutsche; das setzt intensive bila-
terale Beziehunen voraus.
– Aufgrund des geringen Preisniveaus touristischer Anmerkungen
Dienstleistungen ist die Türkei das bevorzugte Rei- 1
In: Adana, Hakkari, Ankara (2), İstanbul (2), Kon-
seland deutschsprachiger Europäer, die meistens ya, Edirne, Samsun, Kayseri, Diyarbakır, Muğla,
in Deutsch kommunizieren wollen. Daher wird der İzmir, Eskişehir, Bursa, Erzurum, Çanakkale.
Bedarf des touristischen Arbeitsmarktes fast aus- 2
In: Antalya, Ankara (2), İstanbul (2), Konya, İzmir,
schliesslich mit DaF-Absolventen gedeckt, weil die
Sivas, Elazığ, Tekirdağ, Sakarya.
Absolventen der Fachhochschulen für Hotellerie
3
meistens nicht in der Lage sind, in einer Fremd- In: İzmir (2), İstanbul (2), Mersin, Edirne, Ankara.
sprache angemessen zu kommunizieren. 4
Siehe: http://ttkb.meb.gov.tr/www/ilkogretim-kuru
– Rückkehrerkinder, die das studentische Potential
mlari-ilkokul-ve-ortaokul-haftalik-ders-cizelgesi-
für DaF sind, wollen einerseits ihre Deutschkennt- ve-kurul-karari/icerik/76. Zugriff am 19.07.2012.
nisse bewahren, andererseits möchten sie ihr Wis-
5
sen um Kenntnisse ergänzen, die auf dem Arbeits- Siehe: http://sgb.meb.gov.tr/eurydice/kitaplar/Tu
markt gefragt sind. rk_Egitim_sistemi_2011/Turk_Egitim_Sisteminin_
Orgutlenmesi_2011.pdf. Zugriff am 20.07.2012).
Zum Schluss noch einige Worte: An dieser Szene 6
sind auch die deutschsprachigen Länder schuld, weil Siehe: http://ttkb.meb.gov.tr/www/201076-orta-
sie nicht selten in ihren kulturellen Veranstaltungen, ogretim-kurumlari-haftalik-ders-cizelgeleri-ve-
aciklamalari/icerik/9. Zugriff am 19.07.2012.
Broschüren usw. statt Deutsch Englisch verwenden.
7
Abgesehen von Privatschulen.
Das verletzt die Glaubwürdigkeit unserer Bemühun-
8
gen. Auch die Regierungen deutschsprachiger Län- Siehe: http://dogm.meb.gov.tr/www/haftalik-ders-
der müssen sich intensiver darum bemühen, die cizelgeleri/icerik/11. Zugriff am 20.07.2012.
Alleinherrschaft des Englischen zu beseitigen und
Deutsch mindestens als 2. Fremdsprache zu verbrei-
ten.

Literatur

Ammon, U. (1991): Die internationale Stellung der


deutschen Sprache, Berlin: de Gruyter
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Herausforderung oder doch die bitterste


Enttäuschung? Was bietet ein Studium im
Studiengang Deutsch als Fremdsprache mit
Lehramtbezug in der Türkei?
Dr. Gülcan Çakır

1 Einleitende Gedanken Um die erwähnte Situation etwas einzugrenzen, soll-


te zunächst betont werden, dass sich diese Feststel-
Soziales Engagement, fachliche Kompetenz, Mut Ei-
lungen teils auf introspektive Beobachtungen sowohl
geninitiative zu ergreifen und Innovationen zu schöp-
während der Vorlesungszeit als auch während der
fen sind einige von mehreren Idealitätsprofilen, die
Sprechzeiten der Betreuung von Studenten stützen
meist junge Menschen am Anfang ihrer zukünftigen
und teils auf zuweilen auftretende Unwohlsattacken
Berufswahl als Herausforderung in Anspruch nehmen
der Studenten, die an
oder nehmen sollten. Sowie jeder Anfang in gewisser
Weise auf dem bisher Erlebten basiert, ist auch je- der Anadolu-Universität den Studiengang Deutsch
der Anfang mit schweren Aufgaben verbunden, die als Fremdsprache mit Lehramtbezug studieren, zu-
korrelierend sowohl der Zukunft als auch der be- rückzuführen sind. 2 Es ist keineswegs die Absicht
vorstehenden Vergangenheit ihren Lauf geben wird. dieses Beitrags unrealisierbare virtuelle Zaubersprü-
Wenn ein künftiger Student sich auf eine akademi- che hervorzubringen, die als Allheilmittel der derzei-
sche Laufbahn einlässt und die entsprechende Qua- tigen Lage einen hundertprozentigen Wundheilungs-
lifikation seiner Fachrichtung aufgrund einer univer- prozess versprechen. Vielmehr erhoffen sich die-
sitären Ausbildung anzueignen hofft, gibt es seiner- se unverhohlenen Gedankengänge als derzeit herr-
seits bestimmte Hürden zu überwinden. Es ist nicht schende Notlage Akzeptanz zu finden. Andererseits
besonders einfach den bisher erworbenen Lernge- sollten sie als Impuls dienen in diesem Bereich weite-
wohnheitsmaßstab auf eine ganz andere Ebene zu re empirische Studien durchzuführen, die darauf ab-
übertragen: nämlich die Ebene der Eigenverantwor- zielen, aus den Konsequenzen optimale Lösungsan-
tung und Eigenanteilnahme, was für ein Studium an sätze zu schaffen.
der Universität ausschlaggebend ist bzw. sein sollte.
Das türkische gymnasiale Erziehungserbe 1 hinter- 2 Bemerkungen zu Zugangsvoraussetzungen und
lässt deutliche Spuren bei jedem einzelnen Schü- zum Vorlesungsverzeichnis für den Studiengang
ler, sodass die akademische Laufbahn mit einem Mi- Deutsch als Fremdsprache mit Lehramtbezug
nuspunkt den Anfang versucht. Traditionelles Lern-
Der Studiengang Deutsch als Fremdsprache mit
verhalten und unselbstständiges Wahrnehmungsver-
Lehramtbezug kann an der pädagogischen Fakultät
mögen prägen die Persönlichkeit der Schüler derma-
der Anadolu-Universität im Rahmen von 8 Semestern
ßen, dass eine Umorientierung bzw. Versuche, neue
studiert werden. Grundvoraussetzung zur Aufnahme
Denkalternativen zu entwickeln, meist dem Scheitern
in das Studium bildet die Teilnahme an der Hoch-
überlassen bleiben. Auf einer ganz anderen Ebene
schulzugangsprüfung mit dem Schwerpunkt „Sprach-
kann man komplementär dazu auch von einer schier
kenntnisse“, die durch den Hochschulrat organisiert
untolerierbaren Demotivation auf Seiten der Lerner
und bewertet wird. Leider darf man an dieser Sprach-
sprechen, deren Ursprung leider bislang keinen ge-
prüfung mit Fremdsprachen wie Französisch, Eng-
nauen Definitionsversuch verdient hat. Hätte es einen
lisch oder Deutsch teilnehmen; d.h. nicht alle Stu-
solchen gegeben, wäre es sicherlich möglich gewe-
dienanwerber besitzen somit Kenntnisse im Bereich
sen, der Sache ernsthaft auf den Grund zu gehen.
des Deutschen. Zum Studium sind diejenigen An-
8 tribüne 4 2012

werber berechtigt, deren Prüfungsbewertung mindes- Semester) mit einer Zwischenprüfung, einer Hausar-
tens die entsprechende Punktzahl, die für den jewei- beit und einer so genannten Finalprüfung am Semes-
ligen Studiengang festgelegt wurde, in einer der oben terende als bestanden nachweisen. Ein Leistungs-
erwähnten Sprachen erreicht. Nach der Immatriku- nachweis ist in dem Falle als bestanden zu akzep-
lation findet eine Prüfung zur Einstufung deutscher tieren, wenn die für das entsprechende Fach vorge-
Sprachkenntnisse statt, die diesmal durch die Univer- sehene Mindestnote bzw. der Mindestwert erreicht
sität oder deren Einrichtung durchgeführt wird. Ein ist. Abgesehen von den Pflichtfächern müssen die
Student, der diese Prüfung besteht, kann mit seinem Studenten innerhalb ihres Studiums Wahlfächer ab-
Studium beginnen, doch wird die Prüfung nicht be- legen, die teils auch von anderen Fakultäten gewählt
standen, so muss der Student durch Besuch einer und angerechnet werden können. In dem Vorlesungs-
Vorbereitungsklasse seine Sprachkenntnisse auf ein verzeichnis werden hauptsächlich Wahlfächer aufge-
bestimmtes höheres Niveau (bzw. B2) bringen, so- listet, die vom entsprechenden Fachbereich angebo-
dann darf er mit der Teilnahme an den vorgesehenen ten werden und größtenteils in türkischer Sprache
Lehrveranstaltungen des ersten Studienjahres rech- stattfinden. In diesem Zusammenhang ist in erster Li-
nen. Das Studium sieht vor, Deutschlehrer auszubil- nie entscheidend, dass die Studenten 2 Wahlfächer
den, die zukünftig Möglichkeit finden, ihren Beruf an mit 2 ECTS, 6 Wahlfächer mit 3 ECTS und 3 Wahlfä-
staatlichen Schulen im Bereich Deutsch als zweite cher mit 4 ECTS am Ende des Studiums als bestan-
Fremdsprache und an privaten Schulen im Bereich den nachweisen und insgesamt 240 ECTS belegen.
Deutsch als Fremdsprache auszuüben. 3 Die Kombination und Auswahl der Wahlfächer bleibt
den Studenten überlassen, die fast ausschließlich ih-
Abgesehen von einem so genannten Bachelorstudi-
ren Interessen nachgehende Fächer belegen und da-
engang 4 wird zusätzlich die Erlangung des Master-
bei keinen Lehramtbezug als Auswahlkriterium her-
und Doktorgrades ermöglicht. Beide Studiengänge
anziehen.
sind ordentliche Studiengänge, die mindestens 4-6
Semester betragen und abschließend eine wissen- Das Vorlesungsverzeichnis wiederspiegelt auf den
schaftlich fundierte Arbeit verlangen. ersten Blick eine weitreichende und qualitative Ausbil-
dungsmöglichkeit im curricularen Sinne. Wenn man
Die Pädagogische Fakultät der Anadolu-Universität,
jedoch das Vorlesungsverzeichnis näher betrachtet,
die sich im Jahre 1982 als 4-jährige Bildungsein-
wird auffällig, dass vielmehr ein oberflächliches Wis-
richtung etabliert hat, bietet in ihrer Abteilung für
sen von vielen einzelnen Bereichen, weniger eine
Deutschlehrerausbildung derzeit (Studienjahr 2012-
Vertiefung in Einzelbereiche vermittelt wird. Dies be-
2013) mit ihren 5 Professoren, einem habilitierten
trifft in erster Linie die Pflichtfächer, die Türkeiweit
Dozenten, 8 promovierten Lehrkräften und einer tür-
im Großen und Ganzen identisch und durch den
kischen und zwei deutschsprachigen wissenschaftli-
Hochschulrat vorgeschrieben sind. Sakarya-Maden
chen Mitarbeiterinnen ein Lehrangebot im Rahmen
(2000, S. 45) macht komplementär dazu Bemerkun-
diverser Lehrveranstaltungen bzw. Vorlesungen, die
gen über das Curriculum, indem sie betont, dass be-
als Pflicht- und Wahlfächer zu klassifizieren sind und
sonders methodisch-didaktische Fächer das Primat
deren inhaltlicher Aufbau je nach Semester und fort-
haben. Ausschlaggebend für dieses Primat war auch
schreitender Ausbildung variiert. 5
die Reform 1997, im Bereich Fremdsprachenunter-
Nach dem eventuellen Besuch oder direkten Über- richt ab Klasse 4 in der Grundschule und im Be-
gang in das erste Semester werden zunächst die vier reich Fremdsprachenlehrerausbildung mit dem Mot-
sprachlichen Grundfertigkeiten in der Fremdsprache to „Frühes Fremdsprachenlernen / Erziehung zur
ausgebildet bzw. im zweiten Semester erweitert – Mehrsprachigkeit“. 6 Mit diesem Schwerpunkt gewin-
analog zu dem Vorbereitungskurs, der aus 25 Wo- nen die Unterrichtsbeobachtung und materialbezoge-
chenstunden pro Semester besteht und Anwesen- ne Analysen in Lehrveranstaltungen wie Lehrwerk-
heitspflicht verlangt – wobei auch in diesem Kurs die analyse und -bewertung, Materialbewertung und Ad-
Fertigkeiten in separaten Unterrichtsstunden vermit- aptation etc. an Bedeutung, da sie auch einer Er-
telt werden. Insgesamt ist von den Studenten hierbei neuerung unterliegen.
zu erwarten, dass sie die Pflichtfächer (30 ECTS pro
tribüne 4 2012 9

Wenn man auf die einzelnen Semester eingeht, kann sprache in literarischen, didaktischen wie auch lin-
man feststellen, dass es für das zweite Studienjahr guistischen Lehrveranstaltungen benutzt. Dies wird
fachbezogene Lehrveranstaltungen gibt, die auf fach- aufgrund studentischer Nachfrage realisiert, zumal
wissenschaftlicher Ebene zur Grundausbildung der angeblich die deutschsprachige Vermittlung zu Ver-
angehenden Lehrer dienen sollen. Diese beiden Se- ständnisschwierigkeiten führen soll.
mester zielen mit den folgenden beiden Semestern
darauf ab, eine fachliche Kompetenz bei den Studen-
4 Realien und Schlussfolgerung
ten aufzubauen, die sodann in den letzten beiden Se-
mestern durch Praktikum an Schulen erprobt wird. In Wirklichkeit hat man den Wunsch, dass alles,
Die letzten beiden Semester bieten mit ihren weni- was die Ausbildung von Deutschlehrern betrifft, so
gen Pflichtfächern einen abschließenden und praxis- weit wie möglich reibungslos verläuft, aber einen rei-
bezogenen Arbeitsraum, der durch Hospitation im 7. bungslosen Verlauf gibt es in Sachen „Mensch und
Semester und Schulpraktikum im 8. Semester ihren Erziehung“ leider nicht oder sehr selten. Wenn nun
Niederschlag findet. der Anspruch und die Realität auseinander klaffen,
gibt es nur den Versuch alles wieder grade zu biegen.
Da es in diesem Beitrag darum ging darzustellen,
3 Bemerkungen zu den Inhalten der
was ein Studium im Studiengang Deutsch als Fremd-
Lehrveranstaltungen
sprache mit Lehramtbezug an der Anadolu Universi-
Das allgemeine Ziel einen gut ausgerüsteten Fremd- tät bietet, steht in der Schlussfolgerung auch nichts
sprachenlehrer im Bereich Deutsch als Fremdspra- mehr als positive Schlussfolgerungen und Optimie-
che auszubilden, wird leider nicht nur durch ein gut rungsvorschläge. Man kann davon ausgehen, dass
formuliertes bzw. durchdachtes Vorlesungsverzeich- Lehrer – seien es nun Professoren, habilitierte Wis-
nis gewährleistet. senschaftler oder Lektoren, die Fremdsprachenlehrer
ausbilden, in erster Linie nie aufhören sollten, weiter
Da die neue Generation von Lernern, die besonders
zu lernen, d.h. dem Konzept „lebenslanges Lernen“
durch virtuelle Umgebungen bzw. Kommunikations-
gerecht zu handeln; denn so wie sich die Welt ändert,
und Informationstechnologie geprägt ist, jegliche Er-
ändern sich auch die Lehrmethoden. Wenn man sich
wartungen an das Lehrpersonal richtet, hängt vieles
nicht auf dem Laufenden hält, ist man kurz davor, als
von der Lehrkraft und ihrer vermittlungsmethodischen
altmodisch klassifiziert zu werden.
Herangehensweise ab. Einerseits muss sich die Lehr-
kraft den Erwartungen der Studenten und der Uni- Die Art, wie das Aneignen bzw. Lernen stattfindet,
versität stellen und andererseits die Lehrveranstal- ist in diesem Punkt ausschlaggebend, so wie die
tung modern gestalten. Der Hochschulrat schreibt für Feststellung, dass mehr als nur „Auswendiglernen
die einzelnen Pflichtfächer kurze Inhaltsangaben vor, zu lehren“ dazu gehört. Denn im Informations- und
aber wie diese Inhalte im Detail konkretisiert werden, Kommunikationszeitalter bedeutet Lernen nicht mehr
hängt vom Lehrpersonal selbst ab. Diese Gegeben- „als Viereck in eine Lernumgebung hineingehen und
heit lässt daher großen Spielraum zu. Normalerweise als Dreieck wieder rauskommen“, quasi Input-Output-
finden die Lehrveranstaltungen in deutscher Sprache Modell, sondern der Lernprozess wird vielmehr als
statt, jedoch kann auch das variieren, denn es gibt individuelle Konstruktion von Wissen bezeichnet und
keine bestimmten Sprachniveau-beschreibungen wie daher ist dieser Prozess relativ offen. Es gibt dem-
B2, C1, C2 etc., die als Voraussetzung für die Teilnah- nach verschiedene Perspektiven oder Sichtweisen,
me an der jeweiligen Vorlesung gilt. Daher ergibt sich aber keine richtige oder falsche Erkenntnis. Die Sicht-
in manchen Fällen eine äußerst interessante Kom- weisen sind unterschiedlich, zumal sie aus der indi-
bination aus Studenten mit sehr wenigen und sehr viduellen Erfahrungswelt der einzelnen Lerner stam-
guten bzw. muttersprachlichen Deutschkenntnissen, men. Wenn man nun bedenkt, dass persönliche Ein-
wobei Studenten mit weniger Kenntnissen eine tür- drücke bzw. Erlebnisse für die zeitgenössische Auf-
kischsprachige Vermittlung als gerechtfertigt betrach- fassung von Lernen relevant sind, sollten sich auch
tet. Die türkische Sprache wird in solchen Situationen bei der Vermittlung von Inhalten die Steuerung und
insbesondere im dritten Semester als Vermittlungs- Kontrolle vermindern, um den Studenten stattdessen
10 tribüne 4 2012

das individuell ausgerichtete selbstorganisierte Bear- tät in Beratungsgesprächen und Hospitationsver-


beiten von Inhalten zu ermöglichen (Vgl. Meir, 2012, anstaltungen bezüglich der Lehrveranstaltungen
S. 14), so wie es auch dieser Beitrag versucht hat. und deren Inhalte, indem ich Meinungen und Vor-
schläge der Studenten aus der Praxis und Theo-
rie in Form von Notizen oder eventuell E- Mailein-
Literaturverzeichnis sendungen bekomme. Diese Überlegungen ent-
Akdogan, Feruzan (2003). Deutsch als Fremdspra- stehen in größtem Umfang aus diesen Sammlun-
che in der Türkei: Bestandaufnahme und Progno- gen.
sen, in: Info DaF 30, 1, S. 46-54. 3
Hierzu gelten die Anmerkungen des Universitäts-
Balcı, Birim (2002): Öğretmen Yetiştirmede Tekno-
katalogs (2011; S. 106) auf der offiziellen Home-
loji Kullanımı. V. Ulusal fen bilimleri ve mate-
page der Anadolu Universität: http://www.anadolu.
matik eğitimi kongresi 16-18 EYLÜL 2002, Or-
edu.tr/ogrenci_isleri/catalog/egtfak.pdf
ta Doğu Teknik Üniversitesi, Bildiri kitabı, S. 323-
4
325. www.fedu.metu.edu.tr/ufbmek-5/b_kitabi/.../ Die im Rahmen des Bologna-Prozesses verbreite-
Teknoloji/.../t323d.pdf te Bezeichnung wird hier der Verständlichkeit hal-
Çakır, Mustafa (2002). Die aktuelle Lage und Zu- ber verwendet, es handelt sich normalerweise um
kunftsperspektiven des Deutschen als Fremd- ein Diplomstudium und Magisterstudium.
sprache in der Türkei, in: Zeitschrift für Interkul- 5
Vgl. http://www.anadolu.edu.tr/akademik/program/
turellen Fremdsprachenunterricht [Online], 7(2),
derslerAkts/163/2557/2
14 pp. Available: http://www.ualberta.ca/ german/
6
ejournal/cakir1.htm Die aktuelle Situation des Faches Deutsch als
Maden, Sakarya Sevinç (2000). Vergleich des al- Fremdsprache in der Türkei (Vgl. dazu: Çakır,
ten und des neuen Curriculums. Berufsbezogene 2002) ist derzeit besonders geprägt durch das
Deutschlehrerausbildung, in: Nilüfer Tapan, Tü- neue Schulreformgesetz des Erziehungsministeri-
lin Polat, Werner Schmidt (Hrsg.). Berufsbezoge- ums (1997)
ne Deutschlehrerausbildung. Dokumentation zum
Workshop am 26./27.Mai 2000, Istanbul. S. 45-55.
Meir, Susanne (2012). elearning-plus. Learning in der
Schule (Zugriff am 14.11.2012) http://lehrerfortbil
dung-bw.de/moodle-info/schule/einfuehrung. Uni-
versitätskatalog der Anadolu Universität (Zugriff
am 04.01.2011) Online unter der URL: http://www.
anadolu.edu.tr/ogrenci_isleri/catalog/egtfak.pdf

Anmerkungen
1
Mit der Bezeichnung „gymnasiale Erziehungser-
be“ wird hier das gesamte voruniversitäre Stadium
gemeint, das Lerner in unserem Land zu unauto-
nomen Gewohnheiten führt wie eine autoritäre
Lehrerrolle, Arbeitsformen wie Auswendiglernen
und im Nachhinein vergessen, sowie lehrbuchge-
stützte theoretische Wissensvermittlung mit we-
nig Praxisbezug usw. (Vgl. Balcı, 2002). Es gibt in
diesem Erziehungsverständnis leider wenig Raum
den Lerner als autonomen, selbstbewussten und
an seinem Lernprozess Aktiv-Beteiligten zu be-
greifen.
2
Angefangen vom Studienjahr 2009 bis Studien-
jahr 2012 befrage und beobachte ich regelmäßig
türkische Deutschstudenten der Anadolu Universi-
tribüne 4 2012 11

Das Sprachgefühl zur Fremdsprache Deutsch der


Lehramtskandidaten der
Deutschlehrerausbildung
Dr. Mukadder Seyhan Yücel

Die Eigenschaften und Fähigkeiten, die zukünfti- ger (1927) und Henne (1982) ist zu entnehmen, dass
ge Lehrer/innen im Bereich DaF mitbringen soll- das Sprachgefühl auf der Summe der sprachlichen
ten und die curricularen Schwerpunkte der Deutsch- Erfahrungen, Beobachtungen und Erinnerungen des
lehrerausbildung (DLA) werden sowohl in der Tür- Individium beruht und diese sich immer weiterent-
kei als auch in anderen Ländern heftig diskutiert, wickeln können. Die Beherrschung einer Sprache
wobei theoretische Studien zu diesem Themenbe- sind Signale des Sprachgefühls. Sprachbewusstheit,
reich nicht zu unterschätzen sind (Vgl. Bausch, 2003; Sprachbewusstsein und Sprachbegabung haben in
Caspari, 2003; Neuner & Koithan, 2003; Nikkianen, diesem Sinne mit Sprachgefühl gemeinsame Punk-
2006). Für die DLA in der Türkei ist folgendes zu te, wobei aber mit ihren Eigenschaften und Funk-
resümieren: Die DLA beruht auf einer berufsbezo- tionen das Sprachgefühl differenziert werden kann.
genen Konzeption, in der neben der Schulung der Sprachgefühl ist im Allgemeinen die sprachliche Er-
Fertigkeiten und Grammatik, die Schwerpunkte in fahrung eines Menschen. Sprachgefühl heißt aber
Didaktik/Methodik, Literaturwissenschaft bzw. Litera- nicht (nur) Sprachkönnen, sondern vielmehr, kommu-
turdidaktik und Sprachwissenschaft liegen Mit die- nizieren zu können, wobei nicht direkt an die gram-
sen curricularen Richtlinien können die Erwartungen matischen Regeln gedacht werden. Sprachgefühl ist
von zukünftigen Deutschlehrerinnen wie folgend er- mit der kommunikativen und interkulturellen Kom-
wähnt werden: Gute bis sehr gute Sprachkompe- petenz nicht entgegenzusetzen, wobei der Sprach-
tenz in Deutsch; Wissensbasis und deren Umset- gebrauch relevant ist. Sprachgefühl reflektiert, dass
zung in Methodik/Didaktik, Literatur, Linguistik, Gram- man z.B. beim Sprechen und Formulierungen keine
matik; Kompetenz im kommunikativen und interkul- Probleme bei der Wortauswahl hat. Man hat z.B. ein
turellen Verfahren; soziale und technische Fähigkei- gutes Sprachgefühl, wenn man sich in einer Situation
ten usw. Diese Liste kann erweitert und ergänzt wer- sein Ziel sinngemäß ausdrückt (Vgl. Trad, 2009).
den, da Entwicklungen in diesem Bereich fortwäh-
Pauschal betrachtet ist zu erwähnen, das Sprach-
rend erfolgen. Dieses angestrebte Kompetenzniveau
gefühl für LA für Fremdsprachen bzw. für Deutsch
im Erwerb der deutschen Sprache der Lehramtskan-
unumgänglich ist, da Sprachgefühl als ein Ziel
didaten (LA) der DLA wird in verschiedenen Beiträ-
der Fremdsprachenbeherrschung betrachtet wer-
gen thematisiert. Allerdings wird ein Forschungsthe-
den kann. Resümierend können für Sprachge-
ma sehr gering bzw. kaum behandelt und zwar das
fühl folgende Faktoren angegeben werden, die
‚Sprachgefühl‘ der LA für Deutsch.
eng miteinander verflochten sind und das Sprach-
gefühl entwickeln können: Erstspracherwerb und
1 Zur Determinierung ‚Sprachgefühl‘: Eigenschaften Muttersprache- Sozialer Umfeld- Sprachpflege- In-
und Funktionen dividuelle Angelegenheit- Sprachgebrauch- Kommu-
nikative Kompetenz & interkulturelles Verfahren-
Eine optimale Definition für ‚Sprachgefühl‘ ist nicht
Sprachpsychologische Sicherheit und Ausdruckge-
leicht zugeben, da dieses im linguistischen, psycholo-
mäßheit. Ausgehend von diesen Erklärungsversu-
gischen, intuitiven Bereich sowohl deckend als auch
chen des Begriffes ‚Sprachgefühl‘ zielt dieser Arti-
voneinander differenziert bezeichnet wird. Anderseits
kel darauf ab, dem Sprachgefühl zur Fremdsprache
ist die Zahl der wissenschaftlichen Beiträge zu die-
Deutsch der LA der DLA nachzugehen. Diese Studie
sem Forschungsfeld gering. Den Beiträgen von Dun-
12 tribüne 4 2012

versucht dazustellen in wie weit das Sprachgefühl für 2.1 Teilnehmer und Vorbereitung
Deutsch der LA an der DLA vorhanden ist.
Für die Bestimmung der Teilnehmer wurde eine ge-
zielte kontrastive Auswahl durchgenommen. Gezielte
2 Methode: Forschungsansatz und Datenerhebung kontrastive Auswahl konstatiert, die berechtigen Kri-
terien und Bedingungen für die Forschung zu ge-
Diese Studie basiert als Forschungsansatz auf einer
währleisten. Die Teilnehmer dieser Studie sind 8
qualitativen Forschung. In qualitativen Forschungs-
LA des letzten Studienjahrgangs. Die LA der letz-
weisen wird die Erfahrungswirklichkeit abgefragt, die
ten Klasse der DLA wurden ausgewählt, da sie so-
dann interpretativ ausgewertet wird. Ziel ist zu de-
wohl in sprachlicher Kompetenz und Erfahrungsba-
taillierten, subjektiven und individuellen Erkenntnis-
sis als auch in der pädagogischen Kompetenz sowie
sen über Einstellungen und Handlungen zu gelangen
methodisch-didaktisch ein breites Spektrum besitzen.
(Lamnek, 2005). Wenn ein Gegenstand noch nicht
Der Kontakt zu den freiwilligen LA wurde frühzeitig
hinreichend erforscht ist, kann die Anwendung quali-
aufgebaut. Der Ort für das Interview wurde mit LA zu-
tativer Verfahren aufgrund der Fähigkeit zur Explora-
sammen entschieden (Tagungsraum), damit sie sich
tion geeignet sein (Wolf, 2008). Dies bedeutet, dass
wohlfühlen und ungestört fühlen. Stühle und Tische
die qualitative Forschung meist explorativ ist und die
wurden mit LA zusammen bereit gestellt, somit eine
Auswertung der Ergebnisse dementsprechend inter-
flexible Atmosphäre entsteht. Allen LA wurden Infor-
pretativ. In dieser Studie wurden die Ansichten der
mationen über das Thema, Ziel, Vorgang, Zeitdau-
LA der DLA für das Sprachgefühl zur Fremdspra-
er (ca. eine Stunde) und über die Tonbandaufnahme
che Deutsch untersucht. Zu diesem Zweck wurde
gegeben. Außerdem haben die LA die Anmerkungen
eine semi-offene Gruppeninterviewtechnik bzw. das
über das Thema und die Leitfragen für die Gruppen-
Gruppendiskussionsverfahren angewandt. Das Grup-
diskussion schriftlich vor der Durchführung des Inter-
pendiskussionsverfahren beinhaltet einen gruppen-
views durchgelesen und Unverständliches abgespro-
dynamischen Prozess, die Wirkung ist tiefgreifend
chen, damit sie ein Motiv für dieses Verfahren be-
und latente Meinungen, Einstellungen und emotiona-
kommen. Das Interview wurde am 20.09.2012 durch-
le Hintergründe können erfasst werden (Hirth &Zieg-
geführt. Einige Hintergrundinformationen zu den Teil-
ler, 2006; Yıldırım & Şimşek,2008). In diesem Hinblick
nehmern:
wurde für die Datenerhebung eine semi-offene, leit-
fadengestützte Form gewählt. Die Frageform wurden Name, Seit wann wird Deutsch gelernt
durch zwei Experten korrigiert und die notwendigen Alter
Änderungen durchgeführt. Die Fragen für das Grup- M., 23 Im Gymnasium wenig Deutsch gelernt, lernt
pendiskussionsverfahren lauten wie folgend: Deutsch seit der VB.-Klasse an der Uni.
E., 34 War 5 Jahre in Deutschland, Erasmusaufent-
1. Sprachgefühl in der Fremdsprache Deutsch. Wie halt und Stipendium in Deutschland
empfinden Sie Ihr Sprachgefühl in der Fremdspra- F., 23 Lernt Deutsch seit der VB.-Klasse an der
Uni, Erasmusaufenthalt in Deutschland (5
che Deutsch? Monate)
2. Können Sie gleich auf ein Hören, auf eine Fra- N., 23 Im Gymnasium wenig Deutsch gelernt, lernt
ge oder auf eine Situation spontan reagieren bzw. Deutsch seit der VB.-Klasse an der Uni.
gleich antworten? Ja/Nein, wie, warum.? Ş., 23 Im Gymnasium wenig Deutsch gelernt, lernt
Deutsch seit der VB.-Klasse an der Uni.
3. Machen Sie individuell irgendetwas, damit Ihr
S., 26 Lernt Deutsch seit der VB.-Klasse an der
Sprachgefühl in der deutschen Sprache entwi- Uni, Erasmusaufenthalt in Deutschland (10
ckelt? Monate)
4. Welche Aktivitäten oder Themen sollten/ müss- G., 23 Lernt Deutsch seit der VB.-Klasse an der
ten Ihrer Meinung nach im Curriculum der DLA Uni.
A., 25 Lernt Deutsch seit der VB.-Klasse an der
mit einbezogen werden, damit Sprachgefühl in der Uni.
Fremdsprache Deutsch geschult werden kann?
tribüne 4 2012 13

2.2 Auswertung und Interpretations-verfahren wendig zu lernen. . . Lehrkräfte reden viel Deutsch
aber außerhalb des Unterrichts haben wir wenig Ge-
Die vorliegende Studie basiert hauptsächlich auf Da- legenheit Deutsch zu sprechen. . . wie sollen wir uns
ten, die mit Tonband aufgenommen worden ist. Das gut fühlen? . . . “ (E.)
auf das Tonband aufgenommene Gruppeninterview
wurde mit Unterstützung des Computers wortwörtlich
und exakt transkribiert. Bei der Auswertung des Inter- Von den Aussagen der LA ergibt sich, dass LA einer-
views wurde das inhaltsanalytische Verfahren durch- seits ihr Sprachgefühl in der deutschen Sprache nicht
geführt. Anhand dieses Verfahrens wurden die Tran- hoch einschätzen, sich aber anderseits bewusst sind,
skriptionen als Daten analysiert. Demzufolge wurden warum ihr Sprachgefühl nicht auf dem gewünschten
die meist angesprochenen Themen erfasst und for- Niveau ist. Sie deuten an, das für ein gutes deut-
mulierend interpretiert, wobei diese zentralen The- sches Sprachgefühl, das kontinuierliche Kommunizie-
men mit direkten Zitaten der LA unterstützt worden ren auf Deutsch ausschlaggebend ist, die dominie-
sind (Vgl. Bohnstack, 2000; Yıldırım & Şimşek, 2008). rende türkische Denkart eine Hindernis bildet und
Die Zitate wurden grammatikalisch und syntaktisch die Angst, beim Sprechen grammatische Fehler zu
nicht korrigiert, sondern originell reflektiert. bilden oder die passende Wortauswahl nicht zu fin-
den, gleichzeitig Konsequenzen sind, die Störungen
für das Sprachgefühl Deutsch erstellen können. Dies
3 Resultate und Interpretationen bringt mit sich, dass LA Sprachhemmungen beim
Auf die Frage wie LA ihr Sprachgefühl in der deut- Ausdruck bekommen. Zusammenfassend ist zu er-
schen Sprache empfinden, verdeutlichen die Daten, kennen, dass die kommunikative Kompetenz, das so-
dass im Allgemeinen LA in der deutschen Sprache ziale Umfeld, die individuelle Situation ein Spektrum
sich nicht sehr wohl fühlen. Die zentralen Themen, für das Sprachgefühl der LA bildet.
die dafür angesprochen werden sind, sind folgende: Die zweite Leitfrage fokussierte sich darauf, ob LA
Defizite in der Grammatik, im Bereich Wortschatz und auf ein Hören, auf eine Frage oder auf eine Situa-
Aussprache, wenige Kommunikationsgelegenheit für tion spontan reagieren bzw. gleich antworten kön-
Deutsch, Türkisch Denken, aber Deutsch sprechen. nen? Die eingeholten Daten erwiesen, dass Hinter-
grundswissen, ausreichender Wortschatz bzw. Be-
„Ich finde mich nicht so wohl, weil bei Grammatik, nutzung der adäquaten Wörter, Kontext und Situati-
Wortschatz habe ich viele Mängel. . . . Gutes Sprach- on die meist erfassten Themen zu diesem Kontextbe-
gefühl heißt für mich ohne Grammatik, Grammatikre- reich sind.
geln, Wortschatz zu denken sprechen. . . . Ich denke
immer ist das richtig, ist das richtig. . . Ich habe kei-
ne Gelegenheit zu kommunizieren in Deutsch, mein „Ändert sich je nach Situation. . . z. B: bei Situationen
Sprachgefühl entwickelt sich nicht.“ (G.). die wir kennen, wissen, haben wir keine Probleme“
(G.)
„Ich möchte gut Deutsch sprechen, aber ich habe ein
bisschen Angst, weil ich kann Fehler machen, wie G. „Ein Deutschlehrer sollte spontan reagieren denke
gesagt hat. . . Ich erinnere nicht manche Wörter, ich ich. . . Ich fühle mich meistens bequem bei Deutsch
möchte etwas sagen aber ich kann nicht die Wörter und sprechen. . . aber ich habe manchmal Probleme
erinnern. . . “ (Ş.) bei Hören, manche Menschen sprechen zu schnell
„Ich muss immer nach Grammatik denken. Aber Tür- und wenn ich nicht verstehe kann ich nicht antwor-
kisch zu denken und Deutsch zu sprechen ist nicht ten“ (F.)
gut für das deutsche Sprachgefühl. . . “ (S.)
„Ich kann auf eine Frage spontan reagieren im Un-
„Ich denke wie S. wir denken vielmehr auf Türkisch terricht aber ich kann nicht spontan antworten. . . Zu-
und versuchen auf Deutsch zu reden, ist unser Basis- erst denke ich über die Antwort über die Wörter. . . Ich
problem. . . Und Grammatikregeln, Wortschatz usw. verstehe die Frage, aber ich kann nicht direkt antwor-
haben wir also Probleme, aber für mich oder für uns ten. Die Grammatik ist für mich nicht so wichtig, aber
ist das größte Problem Kommunikation. Bei uns fehlt Wortschatz ist wichtig. Wörter reichen manchmal bei
es, wir reden nicht so viel, wir versuchen vieles aus- der Antwort nicht aus“ (Ş.)
14 tribüne 4 2012

Zusammengefasst ist zu sehen, dass das Sprachge- „In Facebook gibt es viele Seiten über Deutsch. Ich
fühl von LA gestört wird, weil der gewünschte Sprach- lese Sprichwörter, Witze oder andere Dinge, das ist
gebrauch besonders im produktiven und adäquaten nicht langweilig und lerne Wörter. . . “ (Ş.)
Sinne nicht gewährleistet wird. Das Sprachverhal-
ten als Sprachgefühl wird deswegen mit Sprachwis- Diese Aussagen zeigen, das LA für das Sprachgefühl
sen bzw. Sprachkönnen oder Sprachgebrauch zu- eine Fähigkeit einsetzen. Hierbei decken sich man-
sammengestellt, wobei mit Sprachgefühl die Ansicht che, andere aber sind individuell geprägt, vor allem
vertreten wird, Wörter oder Begriffe sinngemäß und bei der Einschätzung der eigenen Kompetenzen. Er-
kontextbedingt gebrauchen zu können. Bemerkens- kennbar ist, dass sie sowohl selbständig weiterführen
wert dabei ist, dass mehrere LA zu diesem Kontext als auch kooperativ das Instrument der Medien be-
den Begriff ‚Angst‘ mehrfach zur Sprache gebracht nützen. Die individuellen Strategien reflektieren, dass
haben. Denn der begrenzte Wortschatz und der Man- LA eigene Lernstile haben, wobei sie darauf abzie-
gel an angemessener Äußerung oder das Zurückgrei- len, ihren Wortschatz zu bereichern, das Hören und
fen auf die Muttersprache, führte dazu, dass sich die die Aussprache zu schulen und ihre Kommunikation
LA an eine begrenzte fremdsprachliche Handlung an- zu erweitern. Die letzte Frage intendierte im Blick-
passen. winkel der LA festzustellen, welche Aktivitäten oder
Die 3. Frage fokussierte sich auf die Persönlichkeit Themen im Curriculum der DLA mit einbezogen wer-
der LA, wobei hinterfragt wurde, was sie individuell den können/sollen, damit Sprachgefühl in der Fremd-
für ihr Sprachgefühl in Deutsch gewährleisten. Den sprache Deutsch geschult werden kann. Die Feststel-
Aussagen zufolge lässt sich entnehmen, dass Per- lungen der LA können wie folgend zusammengefasst
sönlichkeit, Lernstrategien, Lernprozess, Bewusstheit werden: Kontinuierliche Konversationsseminare und
und Betrachtsweise zur Sprache der LA zentrale The- landeskundliche Themen als Kommunikationsverfah-
men für das individuelle Vorgehen sind. ren, Dramaveranstaltungen, Einbezug der Sozialform
Gruppenarbeit und Blog als Webseiten für Kommuni-
kation.
„ . . . Ich hatte gesagt, ich habe Probleme beim Hören
und deswegen sehe ich Nachrichten also Sportnach-
richten an, um meine Hörfertigkeit zu entwickeln.“ (F.) „Ich denke wir sollten jeden Semester Kommunika-
tionsunterricht haben, 8 Semester lang. . . . Es muss
„Ich höre Musik-CDs auf Deutsch. . . ich mache ein Platzraum geschafft werde, dass Studenten sich
Übungen für Wortschatz. Früher schrieb ich Wörter wohlfühlen und sagen können, o.k., ich kann mich ir-
auf Karten Türkisch-Deutsch. Jetzt mache ich es an- gendwie ausdrücken. Beim Sprechen wird es am An-
ders. Ich versuche auf Deutsch zu denken, vom Kon- fang Probleme geben, wie es bei mir auch war, aber
text die Bedeutung zu finden. Früher konnte ich das nach einer Zeit werden sich die Probleme geringen. . .
nicht. . . “ (A.) “ (E.)
„. . . . Ich lese Texte, finde Wörter, kreise sie und wie- „ . . . z.B. Drama oder Theater wäre nützlich in unse-
derhole die Wörter. Ich versuche mein Wortschatz zu re Ausbildung. Für Wortschatzentwicklung und Aus-
erweitern.“ (M.) sprache ist es wichtig. Das kann Sprachgefühl erwei-
tern. . . „ (Ş)
„Ich mache Eselsbrücken für Wortschatz, die nur ich
verstehe und nicht andere. . . “ (S.) „Kommunikation ist wichtig, deshalb sollten landes-
kundliche Themen mehr sein. Weil wenn wir kennen
„. . . ich versuche mitzusingen, zu schreien. Wenn
deutsche Menschen, deutsche Kultur wir können bes-
ich auch laut singe, kann ich auch selber hören, wie
ser fühlen, sprechen. . . .“ (A.)
ich es spreche. Ich lese auch deutsche Bücher auf
Deutsch und achte auf die Regeln, aha es gibt hier „. . . Ich denke wie E. Kommunikationsunterricht und
eine Präposition, sehe die Verwendung. . . “ (E.) dabei ist Gruppenarbeit wichtig. Denn mit Gruppen-
arbeit können wir viel diskutieren und sprechen. . . “
„Früher als ich im Wohnheim wohnte, kommunizier-
(F.)
te ich mit meinen Freundinnen auf Deutsch. Jetzt, ich
kommuniziere in Facebook auf Deutsch und lese vie- „. . . Webseiten erstellen, wie z.B. Blogseiten, wo
les dort auf Deutsch“ (G.) wir dort auch außerhalb des Unterrichts gegenseitig
tribüne 4 2012 15

schreiben und sprechen können. Das ist eine gute blick gegeben, dass das Sprachgefühl von mehreren
Gelegenheit. . . “ (N.) Faktoren abhängig ist, Verhältnisse mit Sprachwis-
sen bzw. Sprachkönnen hat und für die Fremdspra-
Die Relevanz der Kommunikation ist bei allen Aus- chenbeherrschung ausschlaggebend ist. Individuell
sagen zu erkennen. Kommunikation mit Konversati- geprägte Faktoren sind ein Maßstab für das Sprach-
on, Dramaeinsetzung und kommunikative Webseiten gefühl. Weil Recherchen zum Thema ‚Sprachgefühl‘
sind konkrete Beispiele dafür. Alle Beispiele reflek- sowohl auf der theoretischen als auch auf der empiri-
tieren auf Kommunikation, kommunikative Sozialfor- schen bzw. praxisorientierten Ebene ziemlich gering
men und kommunikative Technologien, wobei ein in- sind, wären Beitrage effektiv und wünschenswert, die
teraktiver, interkultureller und kommunikativer Unter- gleichfalls in der Praxis Beachtung finden können.
richt von LA bevorzugt wird. Dies signalisiert, dass LA
einerseits ein Bewusstheit besitzen, wie Sprachge- Quellenverzeichnis
fühl entwickelt werden kann, anderseits wissen, dass
Bausch, K.R. (2003). Funktionen des Curriculums für
für gute Kommunikation im Fremdsprachenbereich,
das Lernen und Lehren fremder Sprachen. In:
Sprachgebrauch und Sprachgefühl relevant sind. LA
Karl Richard Bausch, Herbert Christ & Hans Jür-
sehen ein, dass verbale und nonverbale gute fremd-
gen Krumm (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachen-
sprachliche Kenntnisse im rezeptiven und besonders
unterricht, 111-116, Francke, Tübingen.
produktiven Bereich einen breiten Maßstab für das Bohnsack, R (2000). Gruppendiskussion. In: Uwe
fremdsprachliche Sprachgefühl bilden. Dementspre- Flick, Ernst Von Kardorff & Steinke Ines (Hrsg.):
chend muss für das freie Sprechen das Motiv und Qualitative Forschung, 369-384.,Reinbek bei
der Anlass unterstützt und geschaffen werden, wobei Hamburg: Rowohlt.
Umgebung, Sprachpflege, Begabung, Interesse, Ma- Caspari, D. (2003). Fremdsprachenlehrerinnen und
terial, Technologien und Reiz wichtige Faktoren bil- Fremdsprachenlehrer: Studien zu ihren berufli-
den. chen Selbstverständnis. Günter Narr Verlag, Tü-
bingen.
Hirth,C&Ziegler,M (2006). Das Gruppendiskussi-
4 Ausblick
onsverfahren, [Online]: https://www.ph-freiburg.
Die Studie basierte hauptsächlich auf Daten, die an- de/fileadmin/dateien/fakultaet3/sozialwissenscha
hand der Gruppeninterviewtechnik mit LA der Uni- ft/Quasus/Hausarbeiten/Hausarbeit_Gruppendis
versität Trakya für das Thema ‚Sprachgefühl‘ gewon- kussion.pdf, 20.10.2012
nen wurden. Mit dem Gruppeninterview wurde in- Lamnek, S. (2005). Qualitative Sozialforschung.
tendiert, die Wahrnehmungen, Einstellungen, Per- Weinheim:Beltz.
Nikkianen, K.L. (2006). Zur Kompetenz und beruf-
spektiven und Emotionen der LA zum Sprachgefühl
lichen Entwicklung der Lehrer , [Online]: http://
Deutsch sammeln zu können. Die Befunde haben
tutkielmat.uta.fi/pdf/gradu01262.pdf, 15.09.2012
dargelegt, dass das Sprachgefühl der LA nicht auf
Neuner, G. & Koithan,U (2003). Internationales
dem Niveau ist, das sie bevorzugen. Der allgemeine Qualitätsnetz Deutsch als Fremdsprache, [On-
Ausblick stellt dar, dass das begrenzte fremdsprach- line]: http://www.uni-kassel.de/upress/online/frei/
liche Sprachgefühl mit kontinuierlicher Konversation, 978-3-89958-014-3.volltext.frei.pdf, 15.09.2012
kommunikative und interkulturelle Prozesse, Sprach- Trad, A.R.(2009). Sprachgefühl als Ziel der Fremd-
pflege und Medien unterstützt werden kann. Somit sprachenbeherrschung. Wege und Methoden,
erhält die Lehrkraft die Verantwortung und Aufgabe, Grundriss eines Glottodidaktischen Modells. Wy-
den Unterricht abwechslungsreich, kreativ, kommu- dawnicktwo Wyzsej Szkoly Lingwistycsnej
nikativ, interkulturell und mit motivierenden Übungs- Wolf, S. (2008). Der Methodenstreit quantita-
und Sozialformen zu unterstützen. Die Daten und Er- tiver und qualitativer Sozialforschung, [Onli-
gebnisse können nicht den Anspruch der Vollstän- ne]: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/files/
digkeit und Generalisierbarkeit erheben, weil sozia- Bachelorarbeit_Wolf.pdf, 20.10.2012
le Situationen nicht statisch sind und dementspre- Yıldırım, A. & Simşek, H. (2008). Sosyal bilimlerde
chend Orte, Bedingungen und Umstände sich verän- nitel araştırma, Ankara, Seçkin Yayıncılık.
dern können. Der vorliegende Beitrag hat den Aus-
16 tribüne 4 2012

Wortschatzarbeit im DaF-Unterricht: Ein


exemplarischer Vorschlag anhand von
Kollokationsinterferenzen
Doz. Dr. Ergün Serindağ

1 Einführung ne nicht eine einzige Gesprächssituation, die wegen


grammatischer Unsicherheit oder Unkenntnis zusam-
Dass der Fremdsprachenunterricht in erster Linie
mengebrochen wäre, wohl aber sehr viele Fälle, wo
die Aufgabe verfolgt, dem Lernenden eine mög-
die Kommunikation wegen unbekannter Wörter nicht
lichst vollständige zielsprachliche Kompetenz, also
zustande kam.“(Freudenstein, 1992, S. 544f.; zit.nach
die vier Grundfertigkeiten Sprechen, Hören, Schrei-
Hong/Min, 2005,59)
ben und Lesen, zu vermitteln, die dem Lerner er-
möglichen soll, sich durch Erfragen, Beantworten, Sowohl Freudensteins Argument als auch das Ergeb-
Behaupten, Begründen, Versprechen, Ablehnen usw. nis einer Umfrage in (Hong/Min, 2005) durch das Er-
mit seiner fremdsprachlichen Umwelt auseinanderzu- gebnis einer an der Abteilung für Deutschlehreraus-
setzen, wird heute von Theoretikern und Praktikern bildung an der Çukurova Universität Adana durchge-
des Fremdsprachenunterrichts als selbstverständlich führten Befragung unterstützt. Auf die Frage, worin
angesehen (vgl. Doyé, 1989, 127; Engel, 1979, 50; die Hauptursache des Scheitern bzw. Beeinträch-
Balcı, 1990, 267). Erwünscht ist jedoch dabei natür- tigung der Kommunikation in Deutsch lag, haben
lich, dass der Lernende neben einer ausgebauten 59.84 % der 254 befragten angehenden Deutschleh-
grammatischen Kompetenz auch einen reichhaltigen rer geantwortet, dass es der mangelnde Wortschatz
fremdsprachlichen Wortschatz beherrscht. Fast jeder war, während 15,35 % der befragten die Hauptursa-
im Ausland DaF unterrichtende Fremdsprachenlehrer che dafür in grammatikalischen Defiziten gefunden
weiß aber aus Erfahrung, dass dies trotz intensiven haben.
Sprachunterrichts kaum gelingt und dass Defizite im
Aus der soeben skizzierten Sachlage geht also her-
Bereich der Vokabelkenntnisse sowohl rezeptive Fer-
vor, dass die Vermittlung des Wortschatzes grundle-
tigkeiten (Hör- und Leseverständnis) als auch produk-
gendes Ziel und Aufgabe des Fremdsprachenunter-
tive Fertigkeiten (Sprechen und Schreiben) verhin-
richts ist. Aber was für ein Wortschatz?
dern. Einigkeit besteht auch darüber, abgesehen von
der schwachen Motivation, Unaufmerksamkeit, unge-
nügenden Übungen, ungeschickten Vermittlung, dass 2 Wortschatzlernen ist Kollokationslernen
wegen Mangels an entsprechendem Wortschatz die
Wenn wir unser Sprachverhalten genauer betrachten,
Kommunikation derart beeinträchtigt wird, dass es
so stellen wir fest, dass wir unsere Sätze mehr mit
zwischen dem Lehrer und den Lernenden eine asym-
semantisch zusammenhängend vernetzten Wörtern
metrische Beziehung zustande kommt, quasi ein ein-
bilden als einzelnen Wörtern, so dass wir uns in den
seitiges Fußballspiel auf ein Tor, bei dem der eine
meisten Situationen im alltäglichen Leben mit solchen
stürmt und der eine verteidigt, was die Kommunikati-
Wortkombinationen auskommen, die ja bereits im frü-
on bestenfalls auf Frage-Antwort Ebene einschränkt.
hen Kindesalter als zusammenhängende Einheiten
Hingegen verhindern aber grammatisch falsche Satz-
erworben und im mentalen Lexikon gespeichert sind.
bildungen die Kommunikation bzw. Verständigung
Genau die Beherrschung dieser bereits vorhandenen
relativ seltener als reichhaltiger fremdsprachlicher
formelhaften Sequenzen von Mehrworteinheiten, zu
Wortschatz: „Eigentlich sollte es sich ja inzwischen
denen auch Kollokationen gehören, machen unsere
herumgesprochen haben, dass die Grammatik sehr
sprachlichen Ausdrücke natürlich und flüssig. Dies-
viel weniger wichtig für die Kommunikation ist als
bezüglich meint Bohn (2000,21), „ . . . , dass es nicht
die Kenntnis eines relevanten Wortschatzes. Ich ken-
tribüne 4 2012 17

korrekt ist, nur von Wörtern zu sprechen, wenn da- 3 Unterrichtsvorschlag


mit auch Wortgruppen, idiomatische Wendungen (ein
Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, für ei-
Brett vor dem Kopf haben) und Sätze (z. B. Sprich-
ne musterbezogene Wortschatzvermittlung im DaF-
wörter) gemeint sind.“
Unterricht einen Vorschlag zu machen, der, die
Auf der anderen Seite ist es in der Fachdiskussion didaktische Nützlichkeit einer kontrastiven Analyse
fast unbestritten, dass jede Fremdsprache, die der stark berücksichtigend, traditionelle Konzepte ergän-
Muttersprache folgt, auf der Basis dieser bereits inter- zen soll. Unser Vorgehen stützt sich einerseits auf
nalisierten Muttersprache erlernt wird, so dass man- Weinrichs Schreiben, dass man nach sorgfältiger
che Fehler in der fremdsprachlichen Produktion eines Analyse von auftretenden Erscheinungen der Inter-
Lernenden, neben anderen Einflussgrößen, zum Teil ferenz, Transferenz und des Codewechsels auch dar-
auch muttersprachlich bedingt sein können (vgl. z.B. aus Regeln vernünftiger didaktischer Steuerung ab-
Rösler, 1994, 34f.; Balcı, 1990, 261; Schlak, 2003, 4). leiten kann (Weinrich, 1995, 302) , sowie auf Butz-
kamm (1986), der auf muttersprachliche Verstehens-
Von der Tatsache ausgehend, dass der Mensch ein
und Ausdruckshilfen einen großen Wert legt: „Für die
schöpferisches Wesen ist und seine diesbezügliche
Bewusstmachung von Strukturen und die Semanti-
Fähigkeit beim Umgang eigener Muttersprache intui-
sierung gilt nach dem bekannten Prinzip der aufge-
tiv und gewissermaßen selbstverständlich zeigt, neigt
klärten Zweisprachigkeit, daß Rückgriffe auf die Mut-
er dazu, in der zu lernenden Fremdsprache auch
tersprache dem Unterricht zugute kommen können,
Wortkombinationen bildet. Diese Kreativität bringt
statt ihn zu behindern.“
aber auch die Gefahr mit sich, dass die Kombina-
tionsregeln der zu lernenden Fremdsprache verletzt Im Unterricht spielen Spontaneitäten, persönliches
werden, weil sie meistens mit den Gesetzmäßigkei- Engagement der Lernenden eine zentrale Rolle. Der
ten der eigenen Muttersprache nicht übereinstimmen, Lehrer gibt den Lernenden ein Reizwort in der Mut-
z.B. im Türkischen eine Frage wird *gefragt (eine Fra- tersprache vor oder lässt das einen von den Lernen-
ge stellen), ein Vortrag wird *gegeben (einen Vortrag den sagen, als Ausgangspunkt könnte dies ein Verb
halten), ein Tor wird *geworfen (ein Tor schießen), sein, zu dem die passenden Substantive als Kombi-
Hoffnung wird *ernährt (Hoffnung machen), die Zäh- nation genannt werden sollten, die ihnen spontan ein-
ne werden *gebürstet (sich die Zähne putzen), Suppe fallen. Diese Kombinationen werden muttersprachlich
wird *getrunken (Suppe essen), Telefon wird *geöff- erfragt, indem die Lernenden sie anhand von sinnvol-
net (anrufen, telefonieren). Die Kommunikation kann len Sätzen in einem Text, bezogen auf ihre Gefühls-
noch stärker gehemmt werden, wenn ein türkischer welt, Lebenswelt, ihren Alltag, verwenden. Nach dem
Deutschlernender den eigenkulturbezogene Kolloka- freien Übersetzen in die deutsche Ausdrucksweise,
tionen direkt ins Deutsche überträgt, z.B. wobei sie erwartungsgemäß Kollokationsfehler bege-
hen, werden die richtigen Redemittel mit Hilfe von
Kollokation (türk.) – Entsprechung (dt.) – wört-
Lehrer endgültig festgestellt und in anderen Kontex-
liche Übersetzung: kafayı çekmek – sich betrin-
ten eingeübt bzw. angewendet, z.B. gegeben sei das
ken (besaufen) – *den Kopf ziehen, donup kalmak
türkische Verb „atmak“ (dt. werfen) als Kollokator und
– ganz erstaunt sein – *gefrierend bleiben, Allah
die Lernenden hätten als Basis dienende Substantive
göstermesin (korusun) – Gott bewahre! – *Gott soll
u.a. wie folgt bestimmt:
es nicht zeigen, sende iş yok! – du bist ein Tau-
genichts – * du hast keine Arbeit –, canım çekti! Kollokation (türk.) – Wörtliche Übersetzung – Ent-
– ich habe Appetit darauf bekommen – *mein Le- sprechung (dt.): tekme atmak – *Fußtritt werfen –
ben hat es angezogen –, ayvayı yemek – Nicht mehr einen Fußtritt versetzen, göz atmak – *Auge wer-
weiter wissen – *die Quitte essen, usw. fen – einen Blick werfen, dayak atmak – *Prügel
werfen – prügeln, imza atmak – *Unterschrift wer-
Diesen Darstellungen zufolge kann gesagt werden,
fen – unterschreiben, iftira atmak –*Verleumdung
dass das Wort „Wortschatz“ mehr als eine auswendig
werfen – verleumden, adım atmak – *Schritt wer-
zu lernende und zu speichernde Liste von einzelnen
fen – Schritt tun, kurşun atmak –*Kugel werfen –
Wörtern mit muttersprachlichen bzw. fremdsprachli-
schießen, göbek atmak –*Nabel werfen – Bauch-
chen Entsprechungen beinhaltet.
18 tribüne 4 2012

tanz machen, hava atmak –*Luft werfen – sich ange- Harald Weinrich (1995): Wege der Sprachkultur ,
ben (sich wichtig tun). Dabei können folgende Wör- Stuttgart
ter gelernt werden: Fußtritt (m), versetzen(V), Au- Hong, Myung-Soon, Min, Hyang-Ki(2005) Kulturspe-
ge(n), Blick(m), Prügel(m), prügeln(V), Unterschrift(f), zifische Wortschatzvermittlung für die aktive Kom-
unterschreiben(V), Verleumdung(f), verleumden(V), munikation. Electronic Journal of Foreign Langua-
Schritt(m), tun(V), Kugel(m), schießen(V), Nabel(m), ge Teaching, Vol. 2, Nu. 2, pp. 58-70. National Uni-
Bauchtanz(f), machen(V), Luft(f), sich angeben(V). versity of Singapore.
Rösler, Dietmar. (1994). Deutsch als Fremdsprache.
Durch solch ein Verfahren werden nicht zwei, sondern Stuttgart; Weimar: Metzler.
mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Zum Schlak, Torsten (2003): „Die Auswahl grammatischer
einen sind die Lernenden dessen bewusst, dass die Lernziele: Linguistische, psycholinguistische und
Bedeutung des fremdsprachlichen und muttersprach- didaktische Perspektiven“. Zeitschrift für Interkul-
lichen Wortes begrifflich nicht gleichzusetzen ist. Zum turellen Fremdsprachenunterricht [Online], 8(1),
zweiten, da die Kombinationen mit eigenen Emotio- 14 pp. Available: http://www.ualberta.ca/ german/
nen stark verknüpft sind, werden sie sofort und dau- ejournal/schlak4.htm
erhaft im episodischen Gedächtnis gespeichert. Zum
dritten werden im mentalen Lexikon der Fremdspra-
chenlerner neue Verbindungen zwischen den Wör-
tern geschaffen. Zum vierten werden die Lernenden
auf das autonome und kreative Lernen vorbereitet.
Zum fünften erhöhen sich die Motivation und Lust auf
das Fremdsprachenlernen, da der Lerner gerade die
Wörter lernt, mit denen er seine persönliche Gefühle,
seine eigenkultur- bzw. Lebensweisebezogene Inhal-
te zur Sprache bringen kann.

Literatur

Balcı, Tahir (1990): „Linguistisch-Didaktische Bear-


beitung sprachlicher Interferenzfehler bei fortge-
schrittenen Lernern des Deutschen als Fremd-
sprache unter den Sprechern des Türkischen“,
unveröffentlichteDissertation an der Universität für
Bildungswissenschaften, Klagenfurt.
Bohn, Rainer (2000): Probleme der Wortschatzarbeit.
München (= Fernstudieneinheit 22).
Butzkamm, Wolfgang (1986): Psycholinguistik des
Fremdsprachenunterrichts. Natürliche Künstlich-
keit: Von der Muttersprache zur Fremdsprache,
Tübingen
Doyé, Peter (1989): „Lehr- und Lernziele“. In: Bausch,
K.-Richard; Christ, Herbert, u.a. (Hrsg.): Hand-
buch Fremdsprachenunterricht Tübingen: Fran-
cke Verlag, S. 126-131.
Engel, Ulrich (1979): „Linguistik und Fremdsprachen-
unterricht“. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdspra-
che, Bd. 5, Heidelberg, S. 49-66.
Freudenstein, Reinhold (1992): „Wählen Sie Kanal
93!“ – Unterrichtsmaterialien für das 21. Jahrhun-
dert. Info DaF, 5, 543-550.
tribüne 4 2012 19

Morphosyntaktische Differenzierungen im
Deutschen und Türkischen
Prof. Dr. Tahsin Aktaş

Deutsch und Türkisch sind genetisch und typologisch deutsche und türkische Tempusformen üben einen
nicht verwandt. Das Türkische ist typologisch aggluti- unterschiedlichen Stellenwert verfügen. Sie haben
nierend und unterscheidet sich somit wesentlich von nicht den gleichen Aufbau. Jedes Verb wird im Türki-
dem Deutschen, das über einen flektierenden Auf- schen nach den gleichen Regeln konjugiert; und eine
bau verfügt (Lyons: 1995:191). Agglunitation bedeu- Unregelmässigkeit wie im Deutschen ist nicht zu se-
tet, dass garmmatische Formen durch eine eindeuti- hen. Noch ausführlicher ist die Konjugation von dem
ge Endung angezeigt werden. Dabei können mehrere Tempus an diesen Beispielen zu erkennen:
Endungen aufeinander folgen, wobei die Reihenfoge
festgelegt ist (Wahrig, G., 2000: 148), z. B:
1 Konjugation
Oku-yor-du-n-uz (oku: Verstamm; -yor: Präsens; du:
– Präsens: ich komm-e: gel-iyor-um
vergangenheit; -n: possessivpronom für 2. Pers. Pl.;
– Präteritum: ich kam: gel-iyor-du-m / gel-di-m
-uz: 2. Pers. Plural) – Ihr last.
– Perfekt: ich bin ge-komm-en gel-di-m
Im Gegensatz zum Türkischen, das einen synteti- – Plusquamperfekt: ich war ge-komm-en gel-miş-
schen Aufbau hat, zeigt das Deutsche wie in ande- ti-m
ren europäischen Sprachen die Tendenz zum analyti- – Futur I: ich werde komm-en: gel-eceğ-im
schen Sprachbau. Solche strukturelle Andersartigkeit – Futur II: ich werde ge-komm-en sein gel-miş-
zwischen dem Türkischen und Deutschen bereitet im olacağ-ım
Fremdsprachenunterricht den Türkisch und Deutsch schwache Verben
Lernenden grosse Schwierigkeiten. In vorliegender – Praesens: ich frag-e: sor- uyor- um
Arbeit weise ich auf solche formalen Schwierigketen – Praeteritum: ich frag-te: sor-uyor-du-m / sor-du-
hin und biete Lösungsvorschläge an. m
– Perfekt: ich habe ge-frag-t: sor-du-m
Alles, was im Deutschen durch Deklinations- und
– Plusquamperfekt: ich hatte ge-frag-t: sor-muş-
Konjugationsformen mitgeteilt wird, markiert das Tür-
tu-m
kische mit Hilfe von Suffixen. Mit anderen Worten
– Futur I: ich werde frag-en: sor-acağ-ım
drückt das Türkische jede syntaktische Information
– Futur II: ich werde ge-frag-t haben: sor-muş-
wie Tempus, Person und Nummerius eigens mit Mor-
olacağ-ım
phemen aus; diese Informationen sind an der deut-
schen Verbform nicht getrennt durch Morpheme, son- Wie diesen Beispielen zu entnehmen ist, ist der Auf-
dern durch verschiedene Faktoren markiert. bau der deutschen und türkischen Tempusformen
nicht gleich miteinander vereinbar. Während sie im
Wie auch Aksan (2003: 105) und Wendt, (1979: 20)
Deutschen je nach den starken und schwachen Ver-
hervorheben, werden im Türkischen vielfältige gram-
ben durch Stammveränderung des jeweiligen Ver-
matische Aufgaben, z. B. die Andeutung der Vergan-
bums und durch Affixe sowie durch Hilfsverben gebil-
genheit beim Verb, Beziehungen zwischen Wörtern
det werden, erfolgen sie im Türkischen durch die Her-
und Wortgruppen ausschliesslich durch Suffixe ge-
anziehung eines bestimmten und jeweils an Verbs-
leistet, die an den unveränderten Stamm gefügt wer-
tämmen angehängten Morphems, welches dasTem-
den. Dieselbe Erscheinung gibt es im Deutschen,
pus und die Person ausdrückt.
doch hat die Stammveränderung eine wichtige gram-
matische Funktion. Ziehen wir die Konjugation der Im Türkischen sind die Suffixe Träger einer bestim-
beiden Sprache in Betracht, so stellen wir fest, dass metn Aufgabe, dagegen wird eine Aufgabe im Deut-
20 tribüne 4 2012

schenn oft von mehreren Faktoren gleichzeitig oder auf die Pluralbildung ist dieser Fall auch beim Präter-
von verschiedenen Faktoren erfüllt; dazu dient folgen- itum auffällig, z. B. Die Morphemen an Verbstämmen-
des Beispiel zur Konjugierung eines komplexen Ver- e und -i ingehen und singen werden beim Präterium
bums im Türkischen (Malkoç, 2003, s. 121): zu -e und -a (d. h. ging und sang). Aus diesem Grun-
de ist es für den Türkischsprachigen, Deutsch zu ler-
nen, und auch für den Deutschsprachigen, Türkisch
zu lernen, nicht so leicht, wie man denkt. Besonders
erschwert die Andersartigkeit auf der morphosyntak-
tischen Ebene (Wort- und Satzbau, Deklination, Kon-
jugation, grammatische Strukturen beider Sprachen)
das Erlernen beider Sprachen.

3 Deklination
Ein weiteres Problem für türkische Deutschlerner
und deutsche Türkischlerner stellt die Kasusbildung
(Deklination) dar. Auch diese funktioniert im Türki-
schen grundsätzlich anders als im Deutschen (Ak-
taş, 2005:244). Wie die Beispiele in der Tabelle zei-
gen, wird der Kasus im Türkischen nur durch ein ent-
sprechendes, jeweils anhängendes Morphem mar-
kiert, das den türkischlernenden Deutschen eine
Lernschwierigkeit bereitet.Denn im Deutschen wer-
2 Mehrzahl den die Kasusformen nicht durch die Fallendungen,
Einen weiteren Unterschied stellt die Pluralbildung im sondern durch Deternative und verschiedene Präpo-
Deutscen und Türkischen dar. Im Türkischen wird bei sionen ausgedrückt:
der Wiedergabe der Mehrzahl das Morphem -ler /-lar
je nach der Vokalharmonie herangezogen. Dafür bie- Kasus Türkisch Deutsch
ten sich im Deutschen drei Möglichkeiten: durch Um- Nomi- yol, okul, yıl der Weg, die Schule,
laut, durch veschiedene Suffixe oder seltener durch nativ das Jahr
das Suffix -s. Akku- yol-u, okul- Den Weg, die Schule,
sativ u, yıl-ı das Jahr
Die Pluralisierung im Türkischen ist eindeutig: -ler
Dativ yol-a, okul-a, dem Weg, der Schule,
oder -lar: duvar-lar: Wänd-e / adam-lar: Männ-er /
yıl-a, dem Jahr
anne-er: Mütter / çicek-ler: Blume-n / gazeteci-ler :
Genetiv yol-un, okul - des Weges, der Schule,
Journalist-en / büro-lar: Büro-s
un, yıl-ın des Jahres
Wie man sieht, verfügt das Türkische über einen ganz Lokativ yol-da, okul - Auf dem Weg, in der
anderen Aufbau als das Deutsche, das innerhalb in da, yıl-da Schule, in dem Jahr
sich oft ein flektierendes Merkmal aufweist. In obi- Ablativ yol-dan, okul Von dem Weg, von der
gen türkischen Beispieln ändern die an dem Wort- -dan, yıl-dan Schule, von dem Jahr
stamm angehängten Suffixe zwar nicht den Stamm
des Wortes, aber sie fügen dem Wort die Bedeutung Es ist festzustellen, dass in diesen Beispielen der Ka-
für Mehrzahl zu (Aksan, 2003, s. 105). Auf diese Wei- sus (Denklination des Nomens) im Deutschen und
se kann man an einem Wortstamm die Grundform, Türkischen nicht identisch ist. Bekantlich geht es
Pluralform, Zugehörigkeitsform, Richtungsform, Be- beim Kasus um eine Nominalflexion. Diese wird im
stimmungsform, Ortsform und Ableitungsform verbin- Deutschen durch den Genus und Artikel des jewei-
den. Diese Aufgaben erfolgen im Deutschen, wie ge- ligen Nomens bestimmt. ImTürkischen verhält sich
sagt, durch Umlaut, d.h. durch Aenderung des Vokals die Bildung des Kasus völlig anders, da das Türki-
am Wortstamm oder durch verschiedene Affixe. Bis
tribüne 4 2012 21

sche keine Geschlechtbestimmung kennt und zu den


Artikelosen Sprachen gehört (Harald, 1976: 54-59).
Der Kasus, der die Funktion des Nomens innerhalb
eines Satzes signalisiert, entspricht in beiden Spra-
chen dem Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Abla-
tiv und Lokativ als sechs Fälle. Zu unterscheiden ist
hier besonders der Ablativ und Lokativ. Denn in der
türkischen Sprache werden diese zwei Fälle wieder
mit den Suffixen denkliniert. Für den Lokativ wird -
de/-da und für den Ablativ -den/-dan als Endsilbe af-
figiert. Dagegen bildet man den Ablativ und Lokativ
im Deutschen je nach dem Bedarf mit Praepositionen
wie aus, in, von, zu, im usw.
Es lässt sich sagen, dass die Deklination im Deut-
schen im Vergleich zum Türkischen ungleich kompli-
zierter darstellt. Es ist unter anderen damit zu erklä-
ren, dass das Deutsche über ein eigenes Genussys-
tem verfügt. welches im Türkischen nicht gibt. Für tür-
kische Lerner-/innen ergeben sich schon in diesem
Zusammenhang Lernschwierigkeiten, da es die Un-
terscheidung der Nomen wie die Kategorien „männ-
lich, weiblich und neutral“ im Türkischen gar nicht
gibt, Mit anderen Worten kennt das Türkische die Ka-
tegorie Genus nicht. Ferner wird dem detschen No-
men zur Kasusmarkierung häufig die gebeugte Form
des bestimmten Artikels vorangestellt. Auch hierzu
findet sich im Türkischen keine Entsprechung.
Allein die korrekte Kasusbildung im Deutschen macht
es also für türkische Lernende erforderlich, den selbt-
verständlichen Umgang mit zwei ihnen völlig unver-
trauten Phänomenen zu erlernen. Entsprechend ge-
hört auch dieser Bereich zu den besonders Fehler-
trächtigen, die im Unterricht Deutsch als Fremdspra- – Verb – Objekt „Monika liebt dich“ (Monika seni
che einer speziellen Berücksichtigung bedürfen. seviyor). (Eugenio Coseriu,1998: 196).
Die folgenden Tabellen verschaffen eine Übersicht Zum Abschaffen der Interferenzfehler, die durch er-
über die Möglichkeiten der Deklination des deutschen wähnte strukturelle Andersartigkeit entstehen kön-
und türkischen Nomens: nen, ist erforderlich, den Lernenden eine klare Ein-
sicht in die Unterschiede der Fremd- und Mutterspra-
4 Syntax che mit anschaulichen Beispielen zu verschaffen. Die
daraus erworbenen Kenntnisse befähigen den Ler-
Bis auf morphologische Unterschiede zeigen nenden, sich solche Konstruktionen in beiden Spra-
Deutsch und Türkisch auch andere syntaktische chen anzueignen und zu begreifen, die ihn zunächst
Sprachbauten. Türkisch ist eine SOV-Sprache und so fremd anmuten und geben gleichzeitig die Mög-
eweist die Satzstellung Subjekt – Objekt – Verb lichkeit, zu überprüfen, inwieweit er die zur Bildung
„Kızım bir çanta alıyor“ (meine Tochter kauft eines Satzgefüges notwendigen Regeln beherrscht.
eine Tasche) auf, dagegen ist Deutsch eine SVO
Sprache und verfügt über eine Satzstellung Subjekt Im türkischen Sprachgebrauch wird das Subjekt nicht
immer angewendet. „Statt eines erwiesenen Subjekts
22 tribüne 4 2012

wird öfters der Personalsuffix an das Verb angesetzt“ len vergleichend dargestellt werden. Sie werden auf
(Dauses, 1997: 19-20): diese Weise von Lernenden schnell und bewusst ge-
lernt und in verschiedenen Situationen auch richtig
Kitap okuyor-um (ich lese ein Buch)
verwendet.
Okula gidiyor-sun (du gehst in die Schule)
Aus den obigen Beispielen ist es ersichtlich, dass Bibliographie
die Objekte und auch alle anderen Bestimmungen Aksan, Doğan (2003): En Eski Türkçenin İzlerinde,
im Türkischen dem Prädikatsverb vorangehen. Der Multilingual Yabancı Dil Yayınları, Türk Dili Grame-
Satzaufbau erfolgt also gewissermaßen von rechts ri, İstanbul.
nach links – oder, zeitlich gesehen, vom Ende her, Aktaş, Tahsin (2005): Schwierigkeiten türkischer
während er im Deutschen (in den S-V-O Spra- Deutchlerner/-innen beim Erwerb grammatischer
chen im Grundprinzip von links nach rechts verläuft Strukturen, In: Muttersprache, Jahrgang 115, Ge-
(Schwenk, 2009:10). Diese strukturellen Unterschie- sellschaft für deutsche Sprache, Wiesbaden.
de erfordern naturgemäss eine gründliche Beschäf- Balcı, Tahir (1993): Abriss der Türkisch – Deutschen
tigung mit dem Vergleich der zu erlernenden Spra- Kontrastiven Grammatik Dicle Üniversitesi Yayın-
che und der Muttersprache der Lernenden im Fremd- ları, Diyarbakır.
sprachenunterricht und ermöglichen ihnen, feste und Dauses, A. (1997): Einführung in die allgemeine
gute Kenntnisse über die Fremd- und Mutterspra- Sprachwissenschaft,Franz Steiner Verlag, Stutt-
che zu haben. Hierzu meint Balcı 1993: 11), dass gart
der Vergleich der Strukturen der Fremd- und Mut- Eugenio Coseriu, J. A. (1998): Energeia und Ergon:
tersprache den Lernenden von strikten Regellernen sprachliche Variation, Sprachgeschichte, 1. cilt.
Tübingen: Narr Verlag.
und Auswendiglernen abbringt und ihm die Kogniti-
Harald, Haarmann (1976): Grundzüge der Sprachty-
ve Erfassung der Fremdsprache ermöglicht. Wie Bal-
pologie, Kohlhammer, Stuttgart.
cı bemerkte, ise es sinnvoll und nötig, vergleichende
Lyons, John (1995): Einführung in die moderne Lin-
Analysen im Deutsch- und Türkischunterricht intensiv
guistik, 8. Auflage, C. B. Beck, München.
durchzuführen. Malkoç, M. (2003): Das Tempus- und Aspektsystem
im Deutschen und Türkischen, Grin Verlag, Mün-
5 Schluss chen.
Schwenk, H. (2009): Sprachvergleich Türkisch-
In der kontrastiven Analyse wurde verdeutlicht, dass Deutsch für den pädagogischen Kontext. TU –
der morphostruktuelle Aufbau des Deutschen im Berlin Institut für Sprachen und Kommunikation.
Türkischen keine genaue Entsprechung findet, der http://fak1-alt.kgw.tu.berlin.de.
den semantischen Inhalt ausdrückt. Während je- Wendt, F., Heinz (1979): Langenscheidts Praktisches
de morphosyntaktische Information wie Konjugati- Lehrbuch Türkisch. Langenscheidt, Berlin.
on, Tempus, Mehrzahl, Person, Deklination im Deut- Wahrig, Gerhard (2000): Deutsches Wörtebuch, Ber-
schen durch verschiedene Faktoren durch Umlaut, telsmann Lexikon Verlag, München.
(d.h.Stammveränderung), durch Affixe, und durch
Determinative, sowie durch Hilfsverben markiert wird,
drückt das Türkische sie eigens mit Morphemen aus,
die an den unveränderten Stamm des Wortes gefügt
werden. Dieser grammatisch differierte und kompli-
zierte Aufbau des Deutschen führt zum Auftauchen
eines didaktischen Problems im Deutschunterricht für
türkische Jugendliche. Das Gegenteil gilt auch im
Türkisch unterricht für deutsche Jugendliche. Als Lö-
sungsvoschläge bietet sich: morphosyntaktische Dis-
krepanzen zwischen Deutsch und Türkisch sollen im
Unterricht richtig identifiziert und anhand von Beispie-
tribüne 4 2012 23

Genusfehler der Rückkehrerstudenten an den


türkischen DaF-Abteilungen
Muhammet Koçak

1 Einleitung die eine entsprechende Deutung darlegt, akzentuiert,


dass seit ein paar Jahren auch gut ausgebildete Mi-
Nach dem Anwerbeabkommen zwischen Deutsch-
granten der zweiten und dritten Generation zurück-
land und der Türkei im Jahre 1961 änderte sich das
kehren, weil sie bessere Berufschancen in der Türkei
Leben vieler Türken. Dabei entwickelte sich der Ge-
sehen. Denn nach Goldenbergs Studie (vgl. Wieder-
danke, dass Deutschland ein Land sei, in dem man
meier, 2009) sind die Jugendlichen, die doch in die
ein modernes, sicheres und bequemes Leben füh-
Türkei gehen, hochqualifizierte Leute, die dort wegen
ren kann. Nach diesen Gedanken konnte man dort
ihrer Ausbildung und ihrer Sprachkenntnisse gefragt
mit Leichtigkeit eine Arbeit finden und eine sorgenlo-
sind.
se Zukunft haben. Deswegen war es für viele Türken
ein Ideal, in Deutschland leben zu können. Viele von den jugendlichen Rückkehrern wollen an ei-
ner türkischen Hochschule studieren und wegen ih-
Die sogenannten Gastarbeiter waren aber vor al-
rer Deutschkenntnisse wird unter anderem häufig ein
lem Arbeiter, von denen die meisten keine berufliche
Studium an den Deutschabteilungen bevorzugt.
Tätigkeit hatten und über ein niedriges Bildungsni-
veau verfügten. Sie stammten aus der sozialen Unter- Aber man kann sehen, dass die Deutschkenntnisse
schicht und wurden überwiegend wegen wirtschaftli- in manchen Fällen nicht genügend oder befriedigend
cher Not, Armut und Arbeitslosigkeit zur Wanderung sind. Aus diesem Grund beschäftigt sich diese Studie
aus ihrer Heimat gezwungen (Ercan, 2003). Mit der mit den sprachlichen Fehlern dieser Rückkehrerstu-
Zeit gewöhnten sich diese Menschen an das deut- denten. Als Fallbeispiel der gesamten Rückkehrerstu-
sche Leben und wollten nicht mehr in die Türkei zu- denten wurden die an der Deutschlehrerausbildungs-
rückkehren. abteilung der Gazi Universität (Ankara) studierende
Rückkehrerstudenten ausgewählt.
Bis in den letzten Jahren zogen hauptsächlich die
Rentner zurück. An dieser Situation hat sich nicht vie-
les geändert. Wie Goldberg es zum Ausdruck bringt 2 Zustand an der Gazi-Universität
(vgl. Wiedermeier, 2009), kommen sie [die Alten] aus
Wenn man die Lage der Rückkehrer widerspiegelt,
einem bestimmten Umfeld in ihrer Heimat, haben
sieht man, dass manche in einem gewissen Zeit-
immer sehr sparsam gelebt, waren immer an einer
abschnitt ihres Lebens mit ihrer Familie zurückge-
Rückkehr orientiert und auch sprachlich haben sie
kehrt sind. Sie haben das Gymnasium in der Tür-
wenig Fortschritte erzielt.
kei beendet und die Universitätsaufnahmeprüfung
Aber mittlerweile kann man sehen, dass auch tür- (ÖSYS) bestanden. Dagegen sind andere selbstän-
kische Jugendliche, die eine gewisse Bildung in dig aus Deutschland gekommen und haben die Uni-
Deutschland genossen haben, in die Türkei zurück- versitätsaufnahmeprüfung für die Kinder der Gastar-
kehren. Hervorstehende Gründe sind neben den Zu- beiter (YÇS) bestanden. Eine dritte Gruppe bilden
kunftssorgen auch der Glaube, mit ihren sehr guten diejenigen, die eine ausländische Staatsangehörig-
Deutschkenntnissen in der Türkei noch bessere Ar- keit haben. Diese haben die Universitätsaufnahme-
beitsplätze finden zu können. Nach einer Umfrage prüfung für Ausländer (YÖS) bestanden.
über die Zukunftsabsichten der jungen Rückkehrer
Wenn wir den allgemeinen Zustand betrachten, se-
stellte man fest, dass 100 % für eine gute Stelle und
hen wir, dass sich unter diesen Studenten Absolven-
93.75 % für eine gute akademische Ausbildung zu-
ten aus allen Bereichen des deutschen Schulsystems
rückgekehrt sind (vgl. Ercan, 2003). Karasu (2010),
(Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium
24 tribüne 4 2012

etc.) befinden. Die geringere Anzahl der Gymnasien- rer werden, ist es erforderlich dass sie über sehr gute
und Realschulabsolventen zeigt uns auch ein kleines Deutschkenntnisse verfügen. Nach Krachts Deutung
Bild des Zustands in Deutschland. (2003: 38), müssen bei Grundschullehrern eindeutig
grammatikalische Grundkenntnisse vorhanden sein,
An der Deutschlehrerausbildungsabteilung der Gazi
um Fehler bei Kindern verstehen und korrigieren zu
Universität studieren neben den Rückkehrerstuden-
können.
ten auch Studenten, die nur mit Englischkenntnissen
die Universitätsaufnahmeprüfung bestanden haben. Darüber hinaus wird in Green Line New 1, ein eng-
Um das deutsche Sprachniveau B1 erreichen zu kön- lisches Lehrwerk, die Relevanz der Grammatik wie
nen, besuchen diese Studenten ein Jahr lang die Vor- folgt dargestellt (vgl. Aulmann, 2006: 8):
bereitungskasse. Hier wird versucht die Studenten
„Wenn man sich im Straßenverkehr nicht an die Re-
auf das Niveau B1 zu hieven. Unsere Studie beschäf-
geln hält, dann kracht es. Wenn man sich in einer
tigt sich aber hauptsächlich mit den 18 Rückkehrer-
Sprache nicht an die Regeln hält, dann versteht nie-
studenten der ersten Klassen, die die Einstufungsprü-
mand, was eigentlich los ist. Das kann unter Umstän-
fung bestanden haben.
den böse Folgen haben. Also: wie im Straßenverkehr
gibt es auch in einer Sprache Regeln, an die man
3 Zustand der Grammatikkenntnisse sich halten muss. Diese Regeln werden Grammatik
genannt.“
Es ist weltweit bekannt, dass Deutsch eine kompli-
zierte Sprache ist. Wie kompliziert diese ist bringt Aber man bemerkt gleich, dass die Rückkehrerstu-
Twain (1985: 528) folgendermaßen zum Ausdruck: denten ziemlich viele grammatikalische Fehler be-
gehen. Um das zu beweisen und dessen Gründe
vorlegen zu können, haben wir die Grammatikfehler
„Wer nie Deutsch gelernt hat, macht sich keinen Be-
griff, wie verwirrend diese Sprache ist. Es gibt ganz dieser Studenten bearbeitet. Weil im Geschriebenen
gewiss keine andere Sprache, die so unordentlich mehr Fehler als im Gesprochenen vorkommen, wur-
und systemlos daherkommt und dermaßen jedem den schriftliche Prüfungsunterlagen untersucht. Kili-
Zugriff entschlüpft. Aufs hilfloseste wird man in ihr hin an, der die gleiche Meinung vertritt, bezeichnet, dass
und her geschwemmt, und wenn man glaubt, man ha- Grammatikunterricht offenbar nicht zu einer direkten
be endlich eine Regel zu fassen bekommen, die fes- Verbesserung der gesprochenen Sprache führt. An-
ten Boden zum Verschnaufen im tosenden Aufruhr ders jedoch verhält sich das bei geschriebener Spra-
der zehn Redeteile verspricht, blättert man um und che, wobei es nicht im eigentlichen Sinne darum
liest: ‚Der Lernende merke sich die folgenden Aus- gehen kann, den Schriftsprachgebrauch zu „verbes-
nahmen.‘ Man überfliegt die Liste und stellt fest, dass sern“, sondern einen bestimmten Sprachgebrauch zu
diese Regel mehr Ausnahmen als Beispiele kennt. Al- lehren – Sprechen können die Schüler meist relativ
so springt man abermals über Bord, um nach einem problemlos, die Schriftsprache beherrschen viele da-
neuen Ararat zu suchen, und was man findet, ist neu- gegen weniger gut (vgl. Burghardt, 2009: 53).
er Treibsand.“
In diesem Zusammenhang wurden in dieser Studie
die Prüfungsunterlagen der Rückkehrerstudenten bei
Eine der Gründe von den geringeren Deutschkennt-
der Lehrveranstaltung „Kontrastive Landeskunde“ be-
nissen der Migrantenkinder ist, wie Aulmann es auch
arbeitet. Dabei wurde festgestellt, dass neben zahl-
bezeichnet (2006: 1), die sprachliche Zweigeteiltheit reichen Grammatikfehlern am häufigsten Genusfeh-
deren Alltag: Sie leben sowohl weiterhin im Raum
ler gemacht worden sind.
ihrer Herkunftssprache, nämlich in ihren ethnischen
Klein- und Großgruppen, aber gleichzeitig in einem
deutschsprachigen Umfeld. 4 Genusfehler der Rückkehrerkinder

Es ist auch gewiss, dass selbst die Deutschen Unter dem Begriff „Genus“ werden im geringeren
sprachliche Fehler begehen. Aber weil hier die Rede Maß die bestimmten und unbestimmten Artikel bzw.
von einen Deutschstudium ist und weil diese Studen- Geschlechtswörter verstanden. Im Wörterbuch Wah-
ten nach dem Abschluss ihres Studiums Deutschleh- rig wird diese grammatische Gattung als „Geschlecht
tribüne 4 2012 25

der Substantive und Pronomen“ (1997: 542) bezeich- Zusammenfassend kann man sagen, dass die Rück-
net. In der folgenden Tabelle sind die Genusfehler der kehrerstudenten neben ihren sehr guten Sprech-,
Studenten, die nach der Untersuchung der Prüfungs- Hör- und Lesekompetenzen sehr große grammatika-
unterlagen festgestellt worden, bemerkbar: lische Probleme haben. Die gegenwärtigen Gramma-
tikkenntnisse sind für angehende Deutschlehrer nicht
Die Durchsuchung der Tabelle zeigt, dass durchge-
ausreichend.
hend alle 18 Studenten Genusfehler gemacht haben.
Neben den Nominativ Fehlern sehen wir auch Fehler, Weil Grammatikunterricht im Curriculum nur für die
die auf die anderen Kasus (Genitiv, Dativ, Akkusativ) ersten drei Semester vorgesehen ist, ist es sehr
beruhen. Aber was hier auffällig ist, ist das die festge- schwer die ganze deutsche Grammatik in jeweils
stellten Fehler solche sind, die im alltäglichen Leben drei Wochenstunden zu lehren. Deswegen sollte der
häufig verwendet werden. Einstufungstest nicht wie gewöhnlich aus Multiple-
Choice-Fragen bestehen, sondern schriftlich und de-
skriptiv die Grammatikkenntnisse prüfen. Für diejeni-
5 Resümee
gen, deren Kenntnisse nicht ausreichend sind, wird
Fast niemand ist in der Lage, die Artikel der gan- der Besuch der Vorbereitungsklassen von großem
zen Wörter fehlerfrei zu benutzen. Es ist gewiss, dass Nutzen sein, in denen sie ein Jahr lang überwiegend
selbst die Deutschen grammatikalische- bzw. Genus- Grammatik lernen.
fehler machen. Denn wie Ramirez auch behauptet
(1997: 31), kann auch kein Muttersprachler von sich
Literaturverzeichnis
behaupten, die deutsche Sprache perfekt zu beherr-
schen. Es ist auch gewiss, dass die sogenannten Ge- Aulmann, Georg. (2006). Was macht sprachliches
nusformen in den meisten Sprachen nicht bekannt Lernen in mehrsprachigen Klassen nachhal-
sind und deswegen für viele Deutschlerner schwer tig?,Bedingungen für eine Qualitätsverbesserung
fallen. Aber, dass unter anderem besonders Genus- des Regelunterrichts. Tagung der Schulaufsichts-
beamten mit der Generale Migranten der Bezirks-
fehler bei den gewöhnlichen Wörtern gemacht wor-
regierung Köln, am 25.Januar 2006 Bonn, Haus
den ist, erregt Aufmerksamkeit.
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Da diese Studenten schon einen gewissen Bildungs- http://www.kompetenzzentrum-sprachfoerdrung.
hintergrund haben, sollten sie mindestens über die de/fileadmin/user_upload/GAulmannMigrDaZ.pdf
Artikel der wesentlichen Wörter wie „Familie, Univer- (10.08.2012).
sität, Fahne, Zeitung, Kirche etc.“ verfügen. Burghardt, Nils. (2009). Einführung in die Fachdi-
daktik Deutsch – Sprachdidaktik . Skript aus der
Hier kann man eindeutig sehen, dass sie diese Feh- Vorlesung von Prof. Dr. Jörg Kilian. http://www.
ler aus Deutschland mitgebracht haben. Denn in nibuki.de/studies/rea-de-sprachdidaktik-v3.pdf
Deutschland gibt es sowohl im Elementar- als auch (10.08.2012).
im Primärbereich ein großes professionelles Defizit in Ercan, Leyla Esentürk. (2003). Die Rückwande-
der sprachlichen Förderung und Bildung mehrspra- rung türkischer Jugendlicher in die Heimat.
chiger Kinder. Diese Feststellung kennzeichnet zu- In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwis-
nächst ein strukturelles Problem der Ausbildung und senschaften. Nr. 15/2003. http://www.inst.at/trans/
Bildung von Erzieherinnen und Pädagoginnen (vgl. 15Nr/08_1/esentuerk15.htm (15.08.2012).
Kracht, 2003:38). Karasu, Kristina. (2010). Nie mehr braver Türke. In:
Spiegel Online. http://www.spiegel.de/panorama/
Auch Rösch (2003:64) ist der gleichen Ansicht und gesellschaft/rueckkehrende-migranten-nie-mehr-
behauptet, dass die aktuellen Untersuchungen über braver-tuerke-a-716677.html (23.08.2012).
die orthografische Kompetenz in der Zweitsprache
Deutsch belegen, dass DaZ-Schüler/innen in der Se-
kundarstufe I im Durchschnitt mehr Fehler machen
als ihre einsprachigen Mitschüler/innen und dass die-
se Fehler v. a. grammatisch geprägt sind.
26 tribüne 4 2012

Student/in Angetroffene Fehler Korrekte Form


Nr. 1 Mit der Partner Mit dem Partner
In der Schulen In den Schulen
Einen Zeitung Eine Zeitung
Nach der Krieg Nach dem Krieg
Eine Wettbewerb Ein Wettbewerb
Die Gewinner wird Der Gewinner wird
Von dem Mitgliedern Von den Mitgliedern
Nach der Händeschütteln Nach dem Händeschütteln
Nr. 2 Die Händeschütteln Das Händeschütteln
zwischen die Personen zwischen den Personen
In einen anderem Kultur. In einer anderen Kultur.
Der türkische Fahne wurde nach dem Nationalhymne Die türkische Fahne wurde nach der Nationalhymne
Die deutsche Theater Das deutsche Theater
Nr. 3 haben den doppelt Staatsangehörigkeit. haben die doppelte Staatsangehörigkeit.
Der Kirche ist sehr wichtig. Die Kirche ist sehr wichtig.
Es wird von dem Mitgliedern Es wird von den Mitgliedern
Der deutsche Presse Die deutsche Presse
Es geht um dem Titel Es geht um den Titel
Nr. 4 bekommen den Zeitung bekommen die Zeitung
Nach der Gymnasium Nach dem Gymnasium.
eine Stern. ein Stern.
Wegen dem Krieg Wegen des Krieges
Für die Türkei wollte man einen Nationalhymne Für die Türkei wollte man eine Nationalhymne
Nr. 5 werden von der Staat unterschätzt. werden von dem Staat unterschätzt.
geht in den Kirche. geht in die Kirche.
Bei die Deutschen Bei den Deutschen
In der Deutschland In Deutschland
Nr. 6 Mit dem Nachrichten Mit den Nachrichten
Der türkische Fahne Die türkische Fahne
Nach eine Schlachtkampf Nach einem Schlachtkampf
Bei der Händeschütteln Bei dem Händeschütteln
Nr. 7 Für den Literatur Für die Literatur
Nach dem Grundschule Nach der Grundschule
Das ist ein normale Sache. Das ist eine normale Sache.
macht man den Abitur. macht man das Abitur.
Nr. 8 Deutschland wurde der zweite Heimatsland Deutschland wurde das zweite Heimatsland
Da nicht jeder einen Abitur machen kann Da nicht jeder ein Abitur machen kann
Das Stern Der Stern
In 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert
Nr. 9 Die Mehrheit den Ausländer Die Mehrheit der Ausländer
Mit ein Doktorarbeit Mit einer Doktorarbeit
Nach einer Krieg Nach einem Krieg
Nach der Zwang Nach dem Zwang
Nr. 10 Die sexuale Leben Das sexuale Leben
Der Nationalhymne Die Nationalhymne
Nr. 11 seinen eigenen Theater. sein eigenes Theater.
Einen Hoftheater. Ein Hoftheater.
Nr. 12 In einem Universität In einer Universität
Nach der Gymnasium Nach dem Gymnasium
Nr. 13 Wenn das Universität Wenn die Universität
Eine türkischer Soldat Ein türkischer Soldat
Nr. 14 Eine Vorstellungsgespräch Ein Vorstellungsgespräch
Nr. 15 Der Bibel Die Bibel
Nr. 16 Das Stern Der Stern
Nr. 17 Weil es das Krieg erzählt Weil es den Krieg erzählt
Nr. 18 Dann haben sie ihr Familie Dann haben sie ihre Familie
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Zur Rezeption Thomas Bernhards Roman


„Verstörung“ und ein Blick auf das
Gastarbeiterbild
Prof. Dr. Mustafa Çakır

1 Einführung 2 Zur Rezeption Thomas Bernhards Verstörung


Gastarbeiter(Innen), Ausländer(Innen), ImmigrantIn- Als ein Werk von Thomas Bernhard erschien, fiel ein
nen – es existieren verschiedenste Bezeichnungen Stein ins dunkle und unbewegte Wasser der österrei-
für Menschen, die aus unterschiedlichen Ländern chischen Gesellschaft. Auch der Roman Verstörung
nach Österreich kamen, um den Bedarf an Arbeits- war nicht der erste und vielleicht auch nicht der bes-
kräfte zu decken. Dem Traum von guter Arbeit und te, aber er war gut placiert – und zog Kriese. Sogar
gutem Geld folgten viele türkische „Gastarbeiter“. Die wurde Thomas Bernhard wegen Ehrenbeleidigung in
meisten blieben – und holten ihre Familien nach. Das seinen Werken angeklagt (Vgl. Höller 1998). Als 1967
„Fremdsein“ oder „Anderssein“ vereint bzw. begleitet Verstörung erschien, war der zweite Roman (nach
sie und steht im Verhältnis zur österreichischen Be- „Frost“) Thomas Bernhards schon ein literarisches
völkerung (Vgl. Schmiderer 2008, 8). Ereignis.
Thomas Bernhards Roman „Verstörung“ beinhaltet In seinen Werken kam die innere Polemik Bernhards
auch Gastarbeiterbilder und wird in meinem Beitrag deutlich zum Ausdruck auf alle Einwände, aber sie
deshalb auf die Frage nachgegangen, wie sich die- kam nicht in Veränderung umsetzenden Gesellschaft
se Bilder durch Lektüren eines Gastarbeiterkindes in- genau so in die Literatur, wie es eben noch als zumut-
terpretieren lassen. Zu diesem Zweck versuche ich bar empfunden wurde, eine glückliche Konstellation,
nicht nur irgendeine Interpretation, sondern auch die die Bernhard weder inszeniert hatte noch auszubeu-
Interpretation mit den kulturspezifischen Referenz- ten wünschte.
rahmen in meinem Leben in einer bedeutungskon-
An vielen Stellen seiner Werke insistiert Bernhard auf
stitutiven Qualität vorzulegen. Außerdem weiß ich
den lebensentscheidenden frühen Katastrophen des
auch, dass die Frage nach kulturell unterschiedli-
Ich (Höller 1998, 25). Immer könnte man von spä-
chen Rezeptionsweisen von Literatur und ihren me-
ter in einem Menschen eingetretenen Katastrophen
dialen, sozialen und epistemologischen Determinan-
auf frühere, meistens sehr frühe Schädigungen sei-
ten von Bedeutung ist, dass sie zum einen aus prag-
nes Körpers und seiner Seele schließen (Verstörung,
matischen Gründen, weil auch entsprechende For-
S. 53). Diese Frühgeschichte des Ich zurückreichen-
schungen helfen könnten, den weltweit an Bedeu-
den seelischen Trauma kommt in Form einer gewalti-
tung gewinnenden fremdsprachenphilologischen „Li-
gen Bildersprache zum Ausdruck der Urwahrheit der
teraturunterschied besser zu begründen, als es bis-
Trennung, der Kalte und der Finsternis. Alles ist zer-
lang gelungen ist“ (Vgl. Wierlacher/Eichheim 1992,
brochen und zerrissen und zerschlagen (Verstörung,
377), zum anderen aber auch in theoretischer Hin-
S. 112).
sicht, weil sie die noch näher auszulotende Relativi-
tät und Variabilität einer allzu oft als anthropologische Mit dem Namen Wittgenstein tritt ein großer unab-
Konstante verkannten zentralen Kulturtechnik vor Au- hängiger Denker in den Blick, der Thomas Bern-
gen führen kann. hard nachweislich fasziniert hat (van Ingen 1996, 37).
Manche Züge in seinen Werken sind an biographi-
sche Einzelheiten Wittgensteins angelehnt. Wittgen-
stein war häufig deprimiert angesichts der Zustände
der Welt und der Menschen, er war „noch tiefer ge-
28 tribüne 4 2012

quält von der Dummheit und Herzlosigkeit, wie sie tienten und Bekannten des Vaters, auf eine Art Pan-
sich täglich in der Welt offenbaren“ (Malcolm 1987, optikum verschiedener Krankheitszustande und Exis-
50). tenzweisen, die sich allesamt in Bernhards bis dahin
erarbeitetes Modell des menschlichen Daseins fügen.
Der Roman Verstörung (1967) ist in diesem Zusam-
menhang von großer Bedeutung und reflektiert die Im Roman Verstörung (1967) spielen Ärzte im Er-
innere Welt von Thomas Bernhard. Im Roman fin- zählgeschehen die entscheidende Rolle, als hätte
det man eine „stationär strukturierte Rundreise“ von sich der Autor für die Beschädigungen seines Ich ein
Vater und Sohn durch eine Landschaft angelegt, die verständiges Alter Ego erschaffen wollen, nachdem
„Modellcharakter“ hat (Herzog 1995, 104 f.) und erst- mit der Lyrik Gott bei ihm literarisch ausgespielt hat-
mals verbindet sich die literarische Pahtographie hier te. Die Texte stammen von den bei Bernhard immer
mit dem Motiv der Aufklärung einer rätselhaften ver- wieder beschworenen Meisterdenkern: Kant, Marx,
gangenen (familiären) Entwicklung: der Student hat Pascal. Und Mystifikation, die „kleine, spätentdeckte
nämlich seinen Vater brieflich nach der Schuld am Schrift“ des Diderot, die Bloch empfohlen hat (S. 26),
letzten Selbstmordversuch seiner Schwester und am handelt nicht zufällig von der Krankheit der Melancho-
frühen Tod seiner Mutter gefragt (S. 21). Als Reaktion lie und von der verhängnisvollen Fixation auf Dinge,
auf den Brief entschließt sich der Arzt den Sohn auf die mit verlorenen, einst gebliebenen Menschen in
seine „Krankenbesuche mitzunehmen“ (S. 14). „stu- Verbindung stehen (vgl. bes. Diderot 1956, 498-507
dienhalber“, wie das letzte Wort des ersten Textab- zit. n. Mittermayer 1995, 41); selbst die kleinsten li-
schnitts lautet (S. 77). Er bewegte sich „fortwahrend terarischen Hinweise bei Bernhard haben ihre Funk-
in einer kranken Welt“, die lediglich „vortausche, ei- tion. Bloch erscheint Inkarnation verstandesbezoge-
ne gesunde zu sein“, und es sei falsch, „sieh der ner Lebenskompetenz: Er „beherrsche die Kunst, das
Tatsache, dass alles krank und traurig sei, [ . . . ] zu Leben als einen [in seinen wichtigsten Funktionen
verschließen“ (S. 14). und der jugendliche Erzähler leicht zu durchschauenden] Mechanismus je nach
stellt seine Beobachtungen auf seiner Krankenvisite seinem persönlichen Bedürfnis auf eine [schnellere
an, auf der er seinen Vater, den Arzt, begleitet. oder langsamere, aber immer wieder von neuem]
brauchbare und also erträgliche Gangart einzustel-
Auffällig sind die wiederkehrenden Selbstermahnun-
len“ (S. 24-25). Der Arzt charakterisiert ihn als „einen
gen des Studenten, mit Hilfe des Verstandes seine
durch den rudimentären Übermut der sich von Jahr
Existenz unter Kontrolle zu bringen: „Sich zu beherr-
zu Jahr immer wenigstens um ein Hundert- oder Tau-
schen sei das Vergnügen, sich vom Gehirn aus zu
sendfaches beschleunigenden Geschichte nicht die
einem Mechanismus zu machen, dem man befeh-
Beherrschung Verlierenden“ (S. 26).
len kann und der gehorcht“ (S. 41). Deutlich wird die
dahinter stehende Unsicherheit erkennbar, der mit Zu den Kranken gehören die folgenden Beobach-
radikaler Organisation des Alltags begegnet werden tungsobjekte des Studenten, von denen sich nicht
muss: „Durch die geringste Abweichung von meinem selten Verbindungslinien zu anderen Texten des Au-
Stundenplan verliere ich mein Gleichgewicht“ (S. 70). tors ziehen lassen. Die Geschichte der Ebenhöh erin-
nert an Bernhards Erzählung Der Zimmerer (1965), in
Im ersten Abschnitt des Romans erlebt der Student
der ein tierhaft geschilderter Mensch (vgl. Erzählun-
zunächst eine ländliche Welt. Er sagt „Die Brutalität
gen S. 24) zum Verbrecher geworden ist und durch
in der Stadt sei nichts gegen die Brutalität auf dem
seine „Gewaltakte“ des Lebens seiner Schwester
Land und die Gewalttätigkeit in der Stadt nichts gegen
„systematisch zertrümmert“ hat (zit. n. Mittermayer
die Gewalttätigkeit auf dem Land. Die Verbrechen in
1995, 42). Die Ebenhöh hat einen „Schwerverbre-
der Stadt, die Stadtverbrechen, seien nichts gegen
cher als Bruder“ (S. 30), der seine Verlobte umge-
die Verbrechen auf dem Land, die Landverbrechen.
bracht und sich nach seiner Entlassung aufgehängt
Die städtischen Verbrechen seien lächerlich gegen
hat. Ihr Sohn ist „geistig beschrankt“ (S. 32), er kommt
die auf dem Land. [ . . . ] Alles an und in dem Men-
ihr „mehr und mehr als ein Vieh“ vor (S. 33) und er
schen sei gewalttätig und verbrecherisch“ (S. 15).
„getraue sich wegen seiner sie hassenden Frau nicht
Das Buch beginnt mit dem Totschlag an einer Gast- mehr“, seine Mutter „zu lieben“ (S. 32). Diese Kon-
wirtsfrau. Doch dann trifft er auf eine Reihe von Pa- stellation nimmt wiederum ein Motiv der Erzählung
tribüne 4 2012 29

Der Wetterfleck (1971) vorweg, wo der Besitzer ei- die Art wie sie, er solle sich aus dem Käfig heraus-
nes Bestattungswäschegeschäfts am Ende der Er- fangen, aber er weigerte sich“ (S. 67). „Alles ist die
zählung Selbstmord begeht. Realität“.
Der Lehrer in Salla trägt verbrecherische Züge, für Die Schilderung des extremsten Krankheitsfalls bil-
deren Durchbruch (in Form sexueller Verirrungen mit det das Ende des ersten Romanabschnitts, und sie
einem Knaben) ausdrücklich das kalte, feindselige enthält gleichzeitig den deutlichsten Hinweis darauf,
Klima in dem engen Gebirgstal mitverantwortlich ge- wie wenig all dies vom Beobachter abgelöst zu sehen
macht wird. Als Ausgangspunkt seines Schicksals ist. Zwischen den Pathographien steht die Beschrei-
wird ein traumatisches Kindheitserlebnis in einem bung eines Personenpaares, in dem man durchaus
„tiefen Wald“ (S. 52) angeführt: „Immer könne man wesentliche Züge aller erzählten Figuren vereinigt se-
von später in einem Menschen eingetretenen Kata- hen kann (vgl. Gößling 1987, 279). In Hauenstein lebt
strophen auf frühere, meistens sehr frühe Schädi- ein Industrieller mit seiner Halbschwester „wie Mann
gungen seines Körpers und seiner Seele schließen“ und Frau“ (S. 43) zusammen. Das Thema des Ge-
(S. 53), ist geradezu ein Fundamentalsatz von Bern- schwisterinzests hat der Autor wiederholt gestaltet,
hards literarischem System. Vor seinem Tod sei der wie z.B. in Das Kalkwerk oder im Stück Vor dem Ru-
Lehrer „zu einer erstaunlichen Kunst des Federzeich- hestand. Der Industrielle in Verstörung hat sich aller-
nens“ gelangt: „eine sich selbst vernichtende Welt“ dings aus der menschlichen Gesellschaft zurückge-
habe er wiedergegeben (S. 53), die „ganze grauen- zogen, weil er im „Kerker“ (S. 47) seines Jagdhauses
hafte Natur“ (S. 55). „Zerfetzte Vögel, auseinander an einer Studie „über ein durch und durch philosophi-
gerissene Menschenzungen, [ . . . ] von unsichtbaren sches Thema“ arbeitet (S. 42). Um dabei nicht gestört
Körpern abgerissene Extremitäten“ (S. 53-54) – die zu werden, hat er das ganze Wild in den Wildern,
Beschreibung seines „Surrealismus“, der „nichts an- „die letzte wirkliche Ablenkung“, abschießen lassen
deres als die Wirklichkeit“ sei (S. 54), greift Visionen (S. 49). Wächter müssen ihm „alle Menschen vom
wieder auf, mit deren Hilfe auch in Frost, ebenfalls in- Leib halten“ (S. 46), und auch er selbst liebt es, re-
nerhalb der Strebensgeschichte eines Künstlers, fun- gelmäßige Schießübungen abzuhalten: „Ich übe mich
damentale Ängste in Bilder übertragen wurden. da, ich weiß nicht, worauf hin“ (S. 45).
In der Fochlermühle verdichtet ein rätselhaftes Öl- Es ist zu vermuten, dass der zweite Abschnitt des
gemälde auf eindrucksvolle Weise die in Bernhards Romans, der Monolog des Fürsten Saurau, zuerst
Texten illustrierten Züge universaler Entfremdung: die geschrieben worden sein dürfte (vgl. Buchka 1974,
Dissoziation zwischen Geist und Körper und die Iso- 133). Schon durch die Topographie des Raumes
lation der einzelnen Menschen, die gleichwohl immer sind die Personen und Beschreibungen des ersten
wieder in Zweierbeziehungen aufeinander fixiert sind. Teils auf Bernhards Hauptfigur bezogen: die Orte und
Landschaften liegen etwa in einem Halbkreis rund um
Bernhard hatte auch ein Mitgefühl mit den Türken
Sauraus Burg Hochgobernitz, „wie die Peripherie um
„Wie arm muss der Türke zu Hause existiert haben,
das Zentrum“ (Donnenberg 1971, S. 19). Liest man
dass er, so jung, nach Mitteleuropa in diese Schlucht
auch diesen Roman als Inszenierung einer „inneren
hereingeht, [ . . . ] die Schlucht ist ein grauenhafter
Landschaft, so bekommt die Bemerkung, das gan-
Betrug an ihm“ (S. 58). Auch die soziale Ungleich-
ze Land habe „einmal dem Saurau gehört“ (S. 57),
heit der Türken in der Gesellschaft bzw. an der Ar-
einen ganz spezifischen Sinn (auch das Jagdhaus
beitsstelle hatte er mit der Anredeform so formuliert:
des Industriellen sei ursprünglich „Bestandteil einer
„Du stellst dir aber nur vor, dass du der Türkische
Saurauschen Befestigung“ gewesen, S. 48).
bist“ (S. 58) und die Anwesenheit der Türken spielt
auch keine Rolle, weil sie dort nur zum Arbeiten exis- Das Hirn sollte der Roman Verstörung ursprünglich
tieren „Den Namen des Türkischen können sie nicht heißen (WG 1990, 82), und Saurau ist vielleicht der
merken, [ . . . ] auch ich habe mir seinen Namen nicht extremste Repräsentant jener Abrechnung „mit dem
gemerkt, und so nennen sie ihn einfach „Türk“ [ . . . ] Körperlichen“ (S. 146), die bei Bernhard immer wie-
Immer wieder hatten Sie den Türken aufgefordert, ih- der zur wahnhaften Verselbständigung losgelöster
nen zu helfen, auch Vögel umzubringen, genau auf Rationalität führt: „Der Denkende hat immer mehr die
30 tribüne 4 2012

Bilder aus seinem Gedächtnis zu entfernen“, lautet sche. „Der Fürst sprach in fremden Sprechweisen,
sein Prinzip totaler Abstraktion (S. 185). „Wir haben die aber insgesamt seine eigene Sprechweise war.“
die Welt in unserem Denken die Welt völlig zurückge- Handke fiel auch auf, wie die Rede-Besessenheit des
lassen ist“ (S. 168). Fürsten im Roman mit seiner Erstickungsangst in Ver-
bindung gebracht wird. „Der Fürst war besessen von
Sauraus Bericht vom Hochwasser erweitert sich zu
Reden, er sprach, so sagte er, aus Angst zu ersti-
einem großangelegten Szenario von Ichzerfall und
cken“ (Handke 1970, 102).
versuchter Wiedergewinnung der Herrschaft über
sich selbst. Durchzogen wird der Abschnitt von der So brachte Handkes sprachlicher „Formalismus“
Erwähnung der Geräusche im Kopf, die das Gehirn mehr Verständnis für die konkrete, existentielle und
des Fürsten „in ein Chaos“ versetzen (S. 109) wie die soziale Dimension von Bernhards Sprache auf als die
Kreissage, von der Strauch in Frost geplagt wird: „es Kritiker, die in ihren Besprechungen immer häufiger
ist ein idealer Zersetzungsprozeß der Natur“ (S. 103). das Wort „monomanisch“ zu strapazieren begannen
Worte wie „Verfaulprozeß“ und „Diluwismus“ ausru- und nur Krankheit und Tod sahen (Höller 1998, 79).
fend, stellt er einen Bezug zwischen den Zerstörun-
Ausdrücklich nachdem er „von der äußern [ . . . ] auf
gen an den Ufern der Ache und der „noch viel grö-
die innere Mauer“ (S. 118) gewechselt hat, erzählt
ßeren Verwüstung in seinem Kopf , her (S. 104); in
Saurau von einem Traum, in dem er seinen Sohn
seinem Essay über Thomas Bernhards Verstörung
schriftlich von der Vernichtung des väterlichen Besit-
hat Peter Handke auf den Verweischarakter solcher
zers berichten sieht. Acht Monate nach dem Selbst-
Ausrufe hingewiesen: „Was er von der Außenwelt er-
mord des Träumenden sei es dem Erben gelungen,
wähnte, war nur ein Zeichen seiner Innenwelt. [ . . . ]
diesen „ungeheurenden Land- und Forstwirtschaftsa-
Die Namen für die Dinge und Vorgänge, so erkann-
nachronismus“ (S. 119) zu ruinieren, in „völlig nutz-
te ich, waren nur ein Zeichen für seine Zustände“
lose Grundstücke“ (S. 122) umzuwandeln, womit er
(Handke 1970, 102).
seine Theorien „praktiziere“ (S. 119) und „jahrtau-
Für „Die Zeit“ verfasste Peter Handke, das neue En- sendealtes Unrecht“ räche (S. 123). Wie der Erzäh-
fant terrible der Literatur, eine Besprechung, die in ler gleichnamigen Fragments „Der Italiener“ befasst
Wirklichkeit das Abenteuer seines Lebens beschrieb. sich auch Sauraus Sohn mit marxistischen und uto-
Handke vergegenwärtige sich, was ihn an Bernhards pisch sozialistischen Theoretikern (vgl. S. 124). For-
Romantext, vor allem am Monolog des Fürsten Sau- mal eingesperrt in seinem Traumbericht (vgl. Gößling
rau, dem zweiten Teil der Verstörung, nicht losließ. 1987, 260 ff.), drängt sich dem Fürsten eine Alter-
Sein Bericht geht von der emotional-affektiven Wir- native zu seinem Restaurationsversuch, den er mit
kung des Romantextes aus, der er in der Beschrei- Hilfe des Engagements seines neuen, zeitgemäßen
bung des spezifischen Zeichencharakters der Spra- Verwalters begonnen hat, ins Bewusstsein, und der
che des Fürsten auf die Spuren kommen will. Text stellt ausdrücklich eine Beziehung zwischen Va-
ter und Sohn her: „Strenggenommen“ sagt Saurau,
Mit ganz einfachen Mitteln der Beschreibung entdeckt
„sind die Methoden, mit welchen mein Sohn sich von
Handke die sprachliche Dramatik der Innenwelt der
mir entfernt, meine eigenen“ (S. 142).
Außenwelt der Innenwelt im Monolog von Bernhards
Zentralangst. „Was er von der Außenwelt erwähnte, Sauraus Vater hat vor seinem Selbstmord wochen-
war nur ein Zeichen seiner Innenwelt“ – „Die Namen lang jede Nahrung verweigert; stattdessen hat er
für die Dinge und Vorgänge. so erkannte ich, waren aus seinen Liblingsbüchern, etwa aus Schopenhau-
nur Zeichen für seine Zustände.“ ers Die Welt als Wille und Vorstellung, Seiten her-
ausgerissen und sie aufgegessen. Dann hat er je-
Handke weist darauf hin, wie der Sprach-Zustand
doch auf ein Vorblatt dieses Buches geschrieben:
des Fürsten Eigentümlichkeiten der Sprache Schizo-
„erschießen besser“ (S. 155), und sich umgebracht.
phrener aufweist, die Bildung neuer Wörter zum Bei-
Erstaunlicherweise folgt dieser Sterbensprozeß zu-
spiel, den Gebrauch von manierierten Fremdwörtern,
nächst Schopenhauers Postulat, lediglich der freiwilli-
die häufige Verwendung von Theatervergleichen, den
ge Hungertod sei als Äquivalent zu der von ihm gefor-
ständigen Wechsel von einer Sprechweise in die an-
derten Willensverneinung akzeptabel, ansonsten sei
dere, von einer philosophischen etwa in eine juristi-
tribüne 4 2012 31

der Selbstmord als eigentliche Bejahung des Willens Die Sprache dieses Romans ist die genaue, sach-
abzulehnen (vgl. Schopenhauer 1977, 11/492). liche Sprache eines genauen, sachlichen Denkens;
sie ist die distanzierte, registrierende Sprache eines
Zwischen diesen Brennpunkten entfaltet sich ein aus-
„Naturforschers“ in dem Sinne, wie man in der Spra-
ufernder Strom von meist aphoristischen Bemerkun-
che Kafkas die des „Beamten“ wiedergefunden hat
gen, in denen Saurau, Themen und Motive immer
(Schwerin 1967).
wieder von neuem aufgreifend und umkreisend, sein
leidvoll vereinzeltes Dasein kommentiert. Der Mono- Wenn man den Roman aus interkulturellen Perspekti-
log des Fürsten ist die erste zusammenfassende Dar- ven betrachtet, findet man in ihm die Umwertung, die
stellung eines individuellen Lebensgefühls und eines Umkehrung aller Werte. Das Dorf ist böse, das Land-
allgemeinen Weltzustands in Bernhards Prosa, von leben nervenaufreibend, geistzerrüttend, charakter-
der ausgehend sich seine literarische Erforschung zerstörend, das Volk durch und durch verderbenden
der Existenz weiterentwickelt hat (vgl. Mittermayer (Berger 1967). Die geheime Botschaft des Buches ist
1995, 48). nicht die Verstörung, sondern die Zerstörung; und die
Lust an ihrer exhibitionistischen Darstellung (Dittber-
Die Welt sei „eine Probebühne, auf der ununterbro-
ner 1974).
chen geprobt wird“ sagt der Fürst. „Die Menschen
nichts als Schauspieler, die uns etwas vormachen, In diesem Zusammenhang ist auch der Roman
das uns bekannt ist“ (S. 136). Die Theateralisierung Verstörung als optische Vergegenwärtigung dessen,
des gesamten Erfahrungsbereichs wird jedoch auch was in Jahrhunderten Österreichs Bedeutung ausge-
zur Voraussetzung für eine frühe modellhafte Be- macht hatte, zu betrachten.
schreibung des manipulativen Umgangs mit einer de-
Die neue Welt, die sich herausgebildet habe, sei von
realisierten Welt, wie der Autor als Strategie für sei-
jener allgemeinen Verwissenschaftlichung geprägt,
ne eigene Existenzbewältigung angegeben hat. Vom
die etwa auch in Verstörung zu den auffälligsten The-
Fenster aus sehe ich Saurau selbst im Hof stehen.
men im Monolog des Fürsten Saurau gehört: „Wir ha-
„Ich beobachte mich. Ich verstehe mich, während
ben ganz neue Systeme, wir haben eine ganz neue
ich mich beobachte, ich verstehe mich nicht [ . . . ]
Anschauung von der Welt und [ . . . ] wir haben ei-
Ich spiele mit mir, ich spiele, ich eruiere, ich denke“
ne ganz neue Moral und wir haben ganz neue Wis-
(S. 178). Dann setzt er eine vergangene familiäre Si-
senschaft und Künste. Es ist uns schwindelig und es
tuation in Szene, die gänzlich seiner Verfügung un-
ist uns kalt“ Das Leben sei „nur noch Wissenschaft“
terliegt ("die ich nach meinem Geschmack und nach
und von der „Klarheit“ dieser „Wissenschaftswelt“ sei-
meinem eigenen Willen verändere“ – S. 179).
en die Menschen zutiefst erschrocken. „Mit der Klar-
heit nimmt die Kalte zu. Diese Klarheit und diese Kal-
3 Schlussfolgerung te werden von jetzt an herrschen“ (zit.n. Mittermayer
1995, 178).
Multikulturelle Gesellschaften und Gemeinschaften
gründen sich auf dem gegenseitigen Respekt vor, wie
„Die Krankheiten führen den Menschen am kürzesten
die der intellektuellen, politischen und kulturellen Un-
zu sich selbst.“ schrieb Bernhard (S. 188) und setzte
terschiede. Gegenseitiger Respekt erfordert die Be- fort: „Es ist nichts leichter, als in die Alltäglichkeit hin-
reitschaft und Fähigkeit, Meinungsverschiedenheiten einzupflüchten [ . . . ] Wir können uns einreden, dass
zu artikulieren, unsere Meinungen vor Leuten zu ver- wir mit einem Buch nicht allein sind, wie wir uns ein-
treten, die sie nicht teilen, den Unterschied zwischen reden können, dass wir mit einem Menschen nicht al-
achtenswerten und verachtenswerten Meinungsver- lein sind.“ (S. 187-188). „Seine Werke sind in Europa
schiedenheiten zu erkennen, und er erfordert auch besonders heute ein Lehrstück zum Nachdenken, zu-
die Bereitschaft, die eigene Meinung angesichts be- mal wenn man die politischen Beziehungen der Län-
gründeter Kritik zu ändern. Die ethnische Verheißung der vor Auge halten will, denn „Das Auge ist oft vom
des Multikulturalismus steht und fällt mit dem Ge- Verstand allein gelassen“ (S. 188).
brauch, den wir im Umgang miteinander von der Tu-
gend gemeinsamen Nachdenkens machen.
32 tribüne 4 2012

Das Fazit sei dem Jean Paul überlassen: „Man kann Höller, Hans (1998). Thomas Bernhard. 5. Aufl. Rein-
eigentlich nichts real definieren als eine Definition sel- beck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag.
ber “ (zit. n. Stanzel 1993, 63). Klug, Christian (1991). Thomas Bernhards Theater-
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stein. Frankfurt/M: Bibliothek Suhrkamp 957.
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tribüne 4 2012 33

Büchners „Woyzeck“ und Brechts „Der gute


Mensch von Sezuan“: Die Entwicklung der
deutschen Dramentradition
Dr. Umut Balcı

1 Vorbemerkungen Formal ist Woyzeck ein offenes Drama, in dem


das Ganze in Ausschnitten vorkommt (vgl. Klotz,
Große technologische Entwicklungen im 19. Jahrhun-
1976:215). Es weist auch keinen Anfang und kein
dert haben in Deutschland sowohl das politische als
auch gesellschaftliche Leben tief beeindruckt. Die im Ende der Handlung auf; die Szenen sind untereinan-
ideologischen Sinn auftauchende starke Polarität und der austauschbar.
die gesellschaftliche Bewegung wurden schrittweise
Es gibt im fragmentarischen Woyzeck keine Gliede-
zum Thema der Vormärzliteratur. Die Literatur die-
rung in Akte und Szenen. Aber durch einen besonde-
ser Zeit war für alle Schriftsteller ein Mittel dazu, die
ren Stil taucht eine formal unsichtbare, jedoch inhalt-
Bevölkerung über die politische und gesellschaftliche
lich übersichtliche Gliederung auf.
Situation der Zeit aufzuklären. Die Werke des be-
rühmten Dramatikers Georg Büchner waren deshalb Die Sprache ist unter den Personen unterschiedlich
ein Vorbild, weil er die armen, unwissenden und un- verteilt. Während das Volk dialektal spricht, spre-
terdrückten Menschen als Thema gewählt hat. Des- chen die Gebildeten meist die schichtenspezifische
halb nennt man „Woyzeck“ das erste deutsche So- Hochsprache. Wiederholungen von Wörtern treten im
zialdrama (vgl. Beutin, 1994: 234). Auch das epische Stück häufig auf; rot verbindet sich mit Blut, Mes-
Theater, das lehrhafte Tendenzen in den Vordergrund ser assoziiert den Tod. Furch heiß und kalt wird
stellt, tritt bei den neuen Darstellungstechniken, die zwischen den Handlungen eine Opposition geschafft.
davon ausgehen, mit Verfremdungseffekten die Ge- Wortverdoppelungen wie immer zu, immer zu /stich,
danken der Zuschauer zu lenken, diese stets wach- tot, tot, tot / stich, stich (S. 26), Das Weib ist heiß, heiß
zuhalten und ihre dramatische Illusion zu zerstören, (S. 25), Bist du tot, tot, tot geben dem Stück einen be-
als eine Revolution hervor. sonderen Klang und Rhythmus (siehe dazu: Große
1988: 32f).
2 Woyzeck In den meisten Stücken von Büchner treten Lieder
auf, die die psychologische Situation der Figuren wi-
Woyzeck erlangt seine Bedeutung durch seine Sicht
derspiegeln den Szenen ein Moment der Volkstüm-
der Realität und die neuen dramatischen Ausdrucks-
lichkeit verleihen. Es ist im Stück ein Märchen zu se-
formen wie z.B. offene Bauform, spezifischer Sprach-
hen, das das Motiv rot aufgreift und dies mit Tod ver-
stil und Verwendung von Leitmotiven.
bindet.
1821 erstach der entlassene Soldat Johann Christian
Woyzeck tritt als sozialkritische Anklage, als psycho-
Woyzeck in Leipzig seine Geliebte Christiane Woost
pathologische Studie und als Dokument der existen-
mit sieben Messerstichen. August Claurus hat über
ziellen Nöte Büchners (Rinsum 1991: 116) auf.
diese Tat zwei Gutachten geschrieben. Das zweite
Gutachten schildert die sozialen Umstände und die Woyzeck, ein Vertreter der niedersten Gesellschafts-
Armut der Zeit. Es ist sicher, dass Büchner all die schicht, wird von seinem Vorgesetzten und von dem
Motive in seinem Stück inspiriert von dem zweiten Arzt rücksichtslos und wie eine Sache bzw. als Ver-
Gutachten von Claurus gestaltet hat (vgl. Dedner, suchsperson (vgl. Kunze/Obländer 1987: 39) behan-
2002:116-117). delt.
34 tribüne 4 2012

Sozialkritische Aspekte ergeben den Grund für den Ein Jahr später hat Brecht den ersten Entwurf un-
Untergang von Woyzeck. Hierzu Woyzecks Worte: ter dem Titel Fanny Kress oderDer Huren einziger
Wir arme Leut – Sehen Sie Herr Hauptmann: Geld, Freund vorgestellt. 1930 hat er den Titel in Die Wa-
Geld. Wer kein Geld hat- Da setz einmal einer sei- re Liebe geändert und das Thema auf Ökonomie und
nesgleichen auf die Moral in die Welt! Man hat auch Handel bezogen. Im vierten und letzten Schritt än-
sein Fleisch und Blut. (S. 16, Szene 5). Diese Worte dert Brecht den Titel in Der gute Mensch von Sezuan,
stellen das kapitalistische System, das die Spannun- aber seine Grundidee ist gleich geblieben: Doppel-
gen in den gesellschaftlichen Schichten verschärft rolle und ihre ökonomische Begründung (vgl. Jeske
und damit den Wert des Lebens verringert, eindeu- 2003: 139; Knopf 1996: 201).
tig vor Augen.
Brechts Sprache tritt mit einem didaktischen Charak-
Den Einfluss des Pauperismus und des sozialen Un- ter auf. Dialoge, Montagetechnik, Publikumsanspra-
gleichgewichts in der Zeit der Frühindustrialisierung chen, Monologe, Lieder, Mimik, Gestik und viele an-
in Deutschland sieht man in Woyzeck ganz deutlich. dere rhetorische Mittel sind auffallende Besonderhei-
Büchner stellt die Freiheit der Armen, ihre Rechte und ten seiner Sprache.
ihre Unterdrückung zur Diskussion, um damit zum
Das Stück beruht auf einem Experiment, bei dem die
Nachdenken anzuregen und damit zeigen zu können,
Welt von den drei Göttern wegen der Klage der Men-
dass auch einfache Menschen den Reichen gegen-
schen, dass die Welt schlecht sei, analysiert wird.
über nicht hilflos sein müssen.
Aus diesem Anlass kommen die drei Götter in die
Die dominierenden Richtungen der Wissenschaft im Welt. Zu Beginn setzen sie das Experiment in Gang,
frühen 19. Jahrhundert standen in der Tradition der und am Ende beurteilen sie es.
idealistischen Philosophie, die durch Descartes be-
Das Ende des Stücks, als die Götter verschwinden,
gründet und durch Kant und Fichte geprägt wurde.
ist wie eine Komödie zu bewerten. Die Darstellung
Sie betrachteten den Menschen als ein Wesen, das
der Götter wie Menschen, die lügen, lachen, leiden,
aus einem materiellen Körper und einer immateriellen
bestrafen etc, verleiht dem Stück eine komische Di-
Vernunft-Seele besteht, womit sich die Menschen von
mension. Die Technik Spiel im Spiel ist auch ein Dar-
den Tieren unterscheiden, so Dedner (2002: 167).
stellungsmittel der Komödie. Auch Pantomime und
Im Widerspruch zur idealistischen Philosophie muss
Doppelrolle stellen im Stück die Elemente der Komik
Büchner sein Motiv Versuchsperson Woyzeck ge-
dar.
schafft haben. Büchner wirft die folgende Frage auf:
Was ist moralisch und was ist unmoralisch? Da Woy- Die Doppelrolle in einer Person ist ein altes Motiv
zeck vom Doktor als ein Experimentierobjekt benutzt der Komödie zur Irreführung der Mitspieler (Sowin-
wird, bezeichnet Büchner diese Haltung des Doktors ski 1992: 37). Eine Spielerin nimmt im Stück eine
als unmoralisch. Doppelrolle. Die Zuschauer sehen dies ganz offen,
aber die Mitspieler lernen das erst ganz am Ende, als
Shen Te beim Gericht vor die Götter tritt. In diesem
3 Der gute Mensch von Sezuan
Zusammenhang symbolisiert die Spielerin zwei Per-
Als Brecht und seine beiden Freunde Arnolt Bronnen sönlichkeiten. Die eine, die als Shen Te vorkommt,
und Alfred Döblin 1926 Dresden besuchten, um an zeigt die gute Hälfte der Person. Sie spiegelt Emo-
einer Dichterlesung mit einem Gedicht teilzunehmen, tionalität, und deshalb nennt man Shen Te die nicht
stießen sie dort auf keine positive Aufnahme und nein sagen kann. Die zweite Rolle nimmt Shui Ta an,
empfanden das als Bedrohung (Knopf 1996: 201). der die schlechte Hälfte spielt und die Rolle der Logik
Die politischen Hintergründe dieses Ereignisses führ- symbolisiert.
ten Brecht dazu, über die drei Götter ein Theaterstück
Anders als das klassische verfolgt Brechts Theater
zu verfassen. Es ist durchaus möglich, dass Brecht
das Ziel, den Zuschauer zum bewussten Beobach-
die Idee der drei Götter im Stück Der gute Mensch
ter zu machen. Hierfür benutzt Brecht epische Dar-
von Sezuan aus dieser realen Situation für die drei
stellungsmittel wie Zitieren, Referieren, Überführen
Dichter in Dresden entwickelt hat.
in die dritte Person und in die Vergangenheit, Mit-
tribüne 4 2012 35

sprechen von Spielanweisungen und Kommentaren, gen und damit sie die Ursachen ihrer Mißst?nde La-
Lieder, Musik, Hinwendung zum Publikum etc. (vgl. ge einsehen können. Das immer aktuelle Motiv Ver-
Knopf 1996: 388f). Durch diese Elemente wird die gleich der Reichen und Armen ist für beide Autoren
Handlungsabfolge aufgelockert, der Zuschauer wird das wichtigste Element, die Menschen selbst zu eige-
aus seiner Illusion des Theaters befreit und erliegt ner Tätigkeit zu bewegen. Das kapitalistische System
nicht der Faszination des Spiels. und die gesellschaftliche Schichtung sind außerdem
in beiden Werken die Motive für den Untergang der
Brecht benutzt die Lieder als Mittel, die Illusion des
Menschen. In diesem Sinn stellen beide Werke die
Zuschauers zu brechen und damit das vorgeführte
Themen schnell entwickelte Technologie und Wissen-
Spiel zu verfremden. In dem Stück sind es sieben
schaft, Arme und Reiche, gesellschaftliche Schich-
Lieder, die die Funktion haben, den Handlungsver-
ten, gut und böse zur Diskussion.
lauf zu unterbrechen und diese Ziele zu realisieren.
Neben den Liedern kommt auch die Musik fast in al- Während die Lieder in Woyzeck eher das Schweigen,
len Stücken Brechts ins Spiel. Sie dient genauso wie die Einsamkeit und Hilflosigkeit symbolisieren, treten
die anderen als Verfremdungseffekte. sie in Der guten Mensch von Sezuan in zusammen-
fassender und verfremdender Rolle auf.
3.1 Sozialkritische Dimension des Dramas
In beiden Werken steht die Alltagssprache im Vor-
Thematisch geht es um folgende Fragen: Welche
dergrund. Woyzecks Sprache spiegelt sich zudem im
Möglichkeiten gibt es, in einer bösen Gesellschaft
Dialekt wider. Kurze Sätze und zerbrochene Syntax
trotzdem gut zu sein? Welche Umst?nde verführen
sind kennzeichnend. Die Dialoge sind selten, knapp
die Menschen zum Bösen? Was ist das Böse? Nach
und kurz. In diesem Sinn spiegelt die Sprache eine
welchen Kriterien könnte man irgendetwas als böse
Stille.
oder als gut bewerten? Wer hat Schuld, die Gesell-
schaft oder die Einzelperson? Wie ist die Situation In Brechts Stück gibt es eher Dialoge, eine lebhafte
der Menschen in der Natur? Soll die Welt verändert Kommunikation und lange Sätze werden verwendet.
werden? Es ist anzumerken, dass alle Szenen um Dabei spielt die Intension des Autors eine besonde-
diese Fragen kreisen. Der Zuschauer selbst soll die re Rolle. Während Büchner die politische und gesell-
Lösungen entdecken. schaftliche Situation seiner Zeit durch Woyzecks Le-
ben beschreibt, zielt Brecht eher darauf ab, die Men-
Auch sittliche Werte werden in Frage gestellt, weil sie
schen zur eigenen Tätigkeit zu führen. Er betont im-
die kritische Betrachtung der sozialen und politischen
mer wieder, dass die Menschen die Welt selbst än-
Situation der Zeit verhindern (Sowinski 1992: 62).
dern können. Kurz gesagt ragen bei Büchner die Stil-
le, aber bei Brecht die Tat hervor, was auch durch
4 Schlussfolgerung und Vergleich beider Stücke das Sprachverhalten beider Autoren und ihrer Thea-
terfiguren gestaltet wird.
InWoyzeck und Der gute Mensch von Sezuan kann
man ohne Weiteres formale Unterschiede und inhalt- Beide Werke bestehen, anders als das klassische
liche Ähnlichkeiten feststellen. Obwohl beide Werke Drama, aus offenen Bauformen. Es gibt keine zeit-
eine ganz unterschiedliche Entwicklungsgeschichte liche und keine örtliche Einheit. Jede Szene ist in
haben, haben Büchner und Brecht im Grunde thema- sich eine Ganzheit. Weder Woyzeck noch Shen Te
tisch das gleiche Ziel verfolgt. sind Helden, sondern sie kommen aus den niedrigs-
ten Gesellschaftsschichten und haben nicht die Fä-
Beide Werke beruhen auf einem realen Ereignis, das
higkeit, über die Situation, in der sie sich befinden,
in der Vergangenheit passiert ist. Büchner und Brecht
nachzudenken und sie zu beurteilen.
haben die bereits geschehenen Ereignisse an ihre
Zeit angepasst, um dem Publikum den kulturellen und Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beide Dra-
politischen Hintergrund der Zeit zu veranschaulichen. men mit ihren formalen und inhaltlichen Besonder-
heiten und Innovationen einen wichtigen Baustein in
Beide Autoren haben das Verhältnis zwischen Armen
der Tradition des modernen deutschen Dramas bil-
und Reichen thematisiert, um die Menschen über ihre
gesellschaftliche Situation zum Nachdenken zu brin-
36 tribüne 4 2012

den. Formal und inhaltlich sind sie eine Reaktion auf


den politischen Hintergrund ihrer Zeit.

Literatur
Balcı, Umut (2009). Kurzer Abriss der Deutschen
Dramengeschichte unter Besonderer Berücksich-
tigung des Vormärztheaters und des Epischen
Theaters. In: Konya Selçuk Universty, The Journal
of Institute of Social Sciences, Nr: 22, S. 43-53.
Beutin, Wolfgang (1994). Deutsche Literaturge-
schichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Stuttgart-Weimar: J.B. Metzler Verlag.
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dert. Programmschriften, Stilperioden, Reform-
modelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.
Dedner, Burghard (2002). Georg Büchner Woyzeck,
Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam
Verlag.
Grosse, Wilhelm (1988). Georg Büchner, Der hessi-
sche Landbote – Woyzeck, Interpretation. Mün-
chen: Oldenbourg Verlag.
Jeske, Wolfgang (2003). Bertolt Brecht, Der Gute
Mensch von Sezuan, Text und Kommentar. Frank-
furt am Main: Suhrkamp Verlag.
Kauffeldt, Rolf / Mainz, Werner (1995). Georg Büch-
ner: Woyzeck, Text und Materialen. Berlin: Cornel-
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Klotz, Volker (1976). Geschlossene und offene Form
im Drama. München: Carl Hanser Verlag.
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tik der Widersprüche. Stuttgart: J.B. Metzler Ver-
lag.Kunze, Karl / Obländer, Heinz (1987). Grund-
wissen Deutsche Literatur. Stuttgart: Ernst Klett
Verlag.
Rinsum, v. Annemarie und Wolfgang (1991). In-
terpretationen, Dramen. München: Bayerischer
Schulbuch-Verlag.
Sowinski, Bernhard (1992). Bertold Brecht, Der gute
Mensch von Sezuan: Interpretation von Bernhard
Sowinski und Wolf-Egmar Schneidewind. Mün-
chen: Oldenbourg Verlag.
Wiese, von Benno (1973). Die deutsche Tragödie
von Lessing bis Hebbel. Hamburg: Hoffmann und
Campe Verlag.
tribüne 4 2012 37

Großstadterfahrung und Identitätskonstitution


der Hauptfigur im Werk von Emine Sevgi
Özdamar*
Prof. Dr. Asuman Ağacsapan

In dieser Arbeit wird die literarische Darstellung von agonistin fährt fast jeden Tag von West- nach Ost-
Bewegungen der Hauptfigur im fremden Raum, de- Berlin, hin und zurück. Sie beobachtet die Stadtteile
ren Kodierungen und ihr Wechselbezug mit der Iden- vom Himmel mit der Perspektive der Sterne. Emine
titätskonstitution behandelt. Der Begriff „Identität“ be- Sevgi Özdamar kam im Jahre 1965 als Gastarbeite-
ruht hierbei auf dem Ansatz von Graf (2003: 99). rin nach West-Berlin, wo sie als Fabrikarbeiterin die
deutsche Sprache erwarb. Danach bildete sie sich zur
Dass die Hauptfigur Emine in dem behandelten Text
Schauspielerin aus. Nach Scherer bedeuten „Aus-
aus ihren Selbstverständlichkeiten in der Begegnung
und Einwanderungen“ in ihrem Fall auch Sprachmi-
mit Fremden herausfällt, wird durch die Darstellung
gration.“( 2005: 272) Berlin ist in dem behandelten
der Abgrenzung innerhalb der eigenen Gruppe deut-
Text ein Ort für Menschen, die andere Städte aus
lich. Emine hatte den Ort Istanbul verlassen, weil die-
verschiedenen Gründen verlassen haben. Dieser Ort
ser aus politischen Gründen für sie zu keinem Raum
ist ein vorläufiger Ort, an dem fast alle Figuren ih-
wurde. Graf betont in Anlehnung G. H.Mead die Ent-
nen zugeschriebene prekäre Identitäten ablehnten.
stehung der Identität durch kontinuierlichen Prozess
Die Protagonistin sucht in Berlin nach ihrer ersehnten
der symbolischen Interaktion:
Identität, deren Teile Theaterbühne, Besson, Brecht,
„Nach Georg H.Mead wird der Mensch durch den „Nutte“, alte Frauen in ihren Räumen sind. Um fi-
anderen, über dessen Antwort auf die eigene Rede, nanziell unterstützt zu werden, wurde sie zur Thea-
zum Objekt (. . . ) Die umgebende Gemeinschaft stellt terschauspielerin ernannt. Mit ihrer kurzen Rolle auf
Erwartungen an das Ich und nur derjenige, der auf der Bühne in Ost-Berlin war sie zufrieden und wurde
die sozialen Erwartungen individuell antwortet, entfal- deshalb belohnt: Visum, Unterkunft und neue Bezie-
tet Identität, indem er die Rollen, die die Gruppe ihm hungen. Die Hauptfigur Emine fühlt sich in den Räu-
zuschreibt, individuell bewertet, sie verändert über- men, die ihr zugelassen sind, gut behandelt, obwohl
nimmt oder zurückweist (ebd. 2003: 104). diese Orte manchmal eine Badewanne im Theater-
gebäude, manchmal der Platz vor der Wohnungstür
Die Identität der Hauptfigur hat keinen festen Rahmen
der Freunde oder das Sofa neben dem Tischtennis in
bzw. keinen festen Ort. Auch Kuruyazıcı stellt fest,
einer WG sind. Diese Orte werden für sie zu Räu-
dass seit 1990 in den Texten von Migranten die festen
men, weil dort soziale Beziehungen, neue Bedeu-
geographischen Räume als wichtigste Bezugspunkte
tungen aufgetaucht sind. Nach Molly Soholm entwi-
der Identität ihre Bedeutung verlieren.
ckelt sich transnationale Identität im Zuge der Glo-
In „Seltsame Sterne starren zur Erde“ sucht eine Frau balisierung von Informationen, Kulturen, Waren, My-
ihre Identität in der Großstadt Berlin, die seit 1961 then usw. (Molly Soholm 2007: 289). Die Ankunftsze-
mit der Mauer in Ost und West geteilt war. Die geteil- ne der Hauptfigur wird nicht topographisch, sondern
te Stadt verhindert sie bei ihren Bemühungen, Thea- sprachlich beschrieben. Die Protagonistin drückt sich
terassistentin zu sein, nicht. Emine Sevgi Özdamars in einer fremden Sprache aus, weil ihre Mutterspra-
Text „Seltsame Sterne starren zur Erde“ ist von Be- che und deren Wörter krank sind. Bis die Wörter ihrer
obachtungen und Integrationsversuchen in Ost-und Sprache wieder gesund sind, benutzt sie sie nicht.
Westberlin geprägt. Nach Almut Hille gehört dieser Dennoch wünscht sie sich, deutsche Theaterstücke
Text zur Berlin-Literatur wie andere Texte von Ja- ins Türkische zu übersetzen und diese den Kollegen
roslav Rudiš, Dilek Zaptcioğlu, Yade Kara. Die Prot- in der Türkei zu schicken. Sprache als wichtigster Be-
38 tribüne 4 2012

zugspunkt der Identität fällt aus ihrer Identität heraus, die den Krieg mitgemacht haben, nichts zu tun ha-
denn die Wörter seien krank und bräuchten ein Sa- ben.“ (Özdamar 2004: 66)
natorium, wie kranke Muscheln; man verliere auch im
Der Text beginnt mit der Darstellung der damaligen
eigenen Land die Muttersprache, so Özdamar (2004:
Fabriketage, wo sie wohnte. In einem alten Berli-
23) Aus diesem Grunde führt sie das Leben in Ber-
ner Arbeiterviertel liegt die WG, in der sieben Leute
lin in der für sie fremden Sprache Deutsch, die sie mit
wohnten. Der Verfremdungseffekt der ersten Begeg-
italienischen Wörtern auszudehnen versucht. Wie die
nung mit Mitbewohnern in der WG wird mit der fol-
gesprochene Sprache konstituiert der Raum, der ei-
genden Beschreibung hervorgerufen:
ner Semantisierung unterworfen ist, ihre Identität.
“Die Tabakbeutel waren jetzt fast leer, sie suchten
Die Großstadterfahrung der Hauptfigur ist kontempla-
aus mehreren Beuteln die Reste zusammen und ver-
tiv. Konkrete Raumerfahrungen und deren Vorstellun-
suchten, die Brösel in ein Zigarettenpapier zu streu-
gen werden für unbewusste Wünsche und Ängste der
en, aber das Papier riss wegen der mit Marmelade
Hauptfigur deutlich. Dementsprechend betritt sie als
beschmierten Finger und der Tabak fiel in die Eier-
Frau die Transiträume für Männer, wie z.B. Bahnhöfe.
schalen. Als die sieben ihre Finger ableckten, sah ich
Die häufige Anwesenheit der Hauptfigur in Bahnhö-
siebzig Finger, die in die Münder tauchten und hörte
fen kann als ein Verweis auf die Möglichkeit der Groß-
siebzig Lutschgeräusche.“(Özdamar 2004: 50)
stadterfahrung und die neue weibliche Identität rezi-
piert werden. Die männliche Sicht zur Stadt wird mit Emine beobachtet die Menschen ohne zu beurtei-
türkischen männlichen Figuren dargestellt. Sie su- len. Sie stellt ihnen ihre Großmutter vor, anstatt sich
chen und finden in öffentlichen Räumen sexuelle Be- selbst vorzustellen. Bei dieser Unterhaltung identifi-
ziehungen. Wie Nünning/Nünning darauf hinweisen, ziert sich Barbara mit West-Berlin: „Wir sind depres-
gilt dies auch für den zivilisatorischen Gegenpol, die siv, weil Westberlin depressiv ist.“ (ebd.: 52) Auf die-
Stadt, die als Objekt des Begehrens für den Erobe- sen Ausdruck zum Wir-Gefühl von Barbara reagiert
rer, als willige Hure für den Besucher, aber auch als sie nicht. Alles in ihrer Umgebung schildert sie sach-
Glücksversprechen sexualisiert. (Nünning / Nünning lich mit fremder Perspektive. Es gibt in der WG einen
2004, s.50) langen großen Raum, der zur Küche führt. Die Hei-
zung, die ein Symbol für die zivilisierte Stadt ist, funk-
Bahnhof, Grenzübergang, Grünanlage im Text vertre-
tioniert nicht. Der Korridor ist ein Gesprächsort für die
ten die Räume, wo bodenlose Menschen Zeit ver-
Mitbewohner der WG. Während des Gesprächs in der
bringen. Diese offenen Orte passen zur nomadischen
Küche an dem runden Tisch sieht sie Atemhauch in
Identität der Hauptfigur. Die Küche in der WG, die
der kalten Luft. Durch die sozialen Beziehungen wird
der Ankunftsort und der Erstkontaktort zu anderen ist,
die alte Fabriketage zum Raum, in dem junge Leute
gibt der Hauptfigur Emine Platz, um ihre traditionelle
Unterkunft finden. Die Lebensart der ehemaligen Be-
Rolle als Frau zu spielen. Ihre narrative Kraft am Ess-
wohner, der AA-Kommune der WG scheint die Haupt-
tisch, ihre Mutterrolle beim Geschirrspülen sind ein
figur beeinflusst zu haben.
Beweis dafür, wie die Protagonistin den Ort Küche
semantisiert. Aus einem Innenraum entwickelt sie ihre Perspekti-
ve draußen. Dieser Innenraum ist kein Haus, obwohl
Die Großstadt Berlin erweist sich als Raum neu-
er ein Schutzraum ist. Diesem Raum fehlt die famili-
er Bewegungsfreiheit zwischen Wedding- und Pan-
äre Geborgenheit, die diesem Raum einer neuen Se-
kow. Berlin bietet der Hauptfigur neue Begegnungen
mantisierung unterwirft. Der Ort und die Gegenstän-
an. Sie die – Hauptfigur – findet eine Bildungs- und
de werden aus der Erlebnisperspektive der Hauptfi-
Arbeitsmöglichkeit in Ost-Berlin. Aber die Großstadt
gur geschildert:
wird zu einem Ort der Bedrohung, so wie in Istanbul
durch Militärputsch oder die Drückermafia aus Frank- „Die Lampe, die über dem Tischtennis im großen
furt in Westberlin, oder Reiners Verweigerung zum Raum hing, hatte damals auch etwas von den Schlei-
Wehrdienst in München. West-Berlin ist für jeden an fen abgekriegt-von den fünf Glühbirnen waren drei
diesem Ort ein Ort der Flucht. „Die Leute in WG sind kaputtgeschlagen worden, und das Gestell der Lam-
nach Berlin abgehauen. Sie wollten mit ihren Eltern, pe hing noch immer krumm wie ein Denkmal der AA-
tribüne 4 2012 39

Kommune Zeit an der Decke. Niemand von uns repa- Das bedeutet für die Raumdarstellung: Nahsicht, Er-
rierte diese Lampe. Man spielt unter ihr Tischtennis, fassung von Einzelheiten und Sensibilität für die Stim-
und ab und zu wurde sie von den Bällen getroffen und mungen in der Raumdarstellung (Nünning /Nünning
wackelte.“(Özdamar 2004: 11) 2004: 65). Am Grenzübergang will sie gefragt wer-
den, was der Grund zu ihrer Einreise ist. Um ihre in-
Die Darstellung der Gegenstände in dem Raum ver-
dividuelle Identität zu gewinnen, braucht sie ein „Du“ .
deutlicht die Unordnung und Zerstörung. Die Men-
Ohne gefragt zu werden, sagt sie am Grenzübergang
schen in diesem Raum sind so arm, dass sie die von
zu den Beamten:“Ich liebe Brecht (Özdamar 2004:
der AA-Kommune hinterlassenen Kleidungsstücke
31), „Ich gehe zu Besson“ (Özdamar 2004: 33).
anziehen müssen. Die erste Beziehung zum Außen-
raum knüpft die Hauptfigur im Dachgarten durch die Um mit den Menschen Kontakte anzuknüpfen, geht
Tür an. Sie sieht den Mond über Berlin und ein sie mit denen tentativ um. In Ost-Berlin sieht sie eine
paar Sterne. Als nächstes sieht sie unter dem Mond DDR-Zigarettenschachtel der Marke „Cabinet“ . Ob-
und den Sternen den Ostberliner Fernsehturm. Erst- wohl sie davon Kopfweh bekommt, raucht sie die Zi-
genanntes Gebäude draußen ist der Puff unten im garette weiter.
Haus, an dessen Eingang das Schild „Milchladen“
Die neue Erfahrung, in Ost-Berlin als Studentin aner-
hängt. (Özdamar 2004, s.16)
kannt zu werden, macht ihr Freude und sie verkörpert
Der Raum WG ist ein Ort der Zeit, auf dessen Dach- diese Erfahrung, indem sie eine Münze am Grenz-
garten Horst Mahler und Ulrike Meinhof sich getroffen übergang herunterschluckt und diese nach West-
hatten: „Seit dem steht die Adresse auf der Liste der Berlin mitnimmt. Mit den Ambivalenzen der Stadt ver-
Polizei, sie kommen immer wieder vorbei.“ (Özdamar sucht sie tentativ umzugehen. Sie versuchte die un-
2004: 68) bekannten Menschen mit ihr bekannten Bildern zu
verbinden. Der Junge in der Kneipe ähnelt Albrecht
Die Hauptfigur orientiert sich beim Anziehen am Kli-
Dürer. Um Menschen gern zu haben, braucht sie sie
ma in Istanbul. Sie weiß nicht, was sie anziehen soll.
nicht kennenzulernen. Wie die einfachen Gegenstän-
Die kognitive innere Karte verklammerte ihre biolo-
de in den Ostberliner Schaufenstern beruhigte sie
gische individuelle Identität zur neuen Umwelt. Die
das Bett von Armin, den sie Albrecht Dürer nennt. Ihr
vertraute innere Karte wird vom kalten Wetter zer-
Bildungsziel sieht sie in Ost-Berlin, das ihre aktuel-
stört. Deshalb erinnert sie sich an Istanbul, woher
le Identität konstituiert. Die Stadt Istanbul formt ihre
sie kam. “Was soll ich anziehen? In Istanbul hat-
virtuelle Identität. Ihr Traum, mit Benno Besson zu ar-
te ich nie einen Mantel gebraucht.“ (Özdamar 2004:
beiten, verwirklichte sich in Ost-Berlin.
15) An das Klima gewöhnt sie sich mit der vertrau-
ten Handlung gegen den kalten Wind. Unter ihren Zwei geteilte Orte unter gleichem Himmel kommt
Pullover stopft sie eine Zeitung, damit sie sich nicht ihr nicht verständlich vor und deshalb stellt sie die
friert. Die intensive Beschreibung im Raum richtet deutsch-deutsche Grenze ironisch dar. Hille geht auf
sich auf Beziehungen der Menschen und auf de- diese Schilderung wie im Folgenden ein:
ren Beziehungen zu den Gegenständen im Raum.
„Die deutsch-deutsche Grenze erscheint . . . als komi-
Draußen bewegt sie sich zielgerichtet. Sie steigt in
sche Irritationen, deren fast banalisierte Darstellung
Wedding am Gesundbrunnen ein, fährt zum Grenz-
wiederum deutsche Leserinnen und Leser irritiert.“
übergang Friedrichstraße. Sie zählt die Namen der
(Hille 2008: 111)
Bahnhöfe bis zum Grenzübergang auf: Humboldhain,
Nordbahnhof, Oranienburger Straße. Der Mann, der Özdamars Blick auf die Stadt Berlin ist ein fremder
in der S-Bahn gegenüber ihr masturbiert, tauchte als Blick, der bei den verselbständigten Identitäten Irrita-
Bedrohungsobjekt auf. Die S-Bahn als Transitraum tionen auslöst. Sie staunt über den Regen: „Als ich
gehört dem männlichen Geschlecht, von dem die in Westberlin aus der S-Bahn stieg, staunte ich. Hier
Hauptfigur sich bedroht fühlt. Dabei kann eine ande- regnete es wie im Osten“ (Özdamar 2004: 40)
re Frau in der Bahn nur zuschauen. Diese emotional
Spandau, als Ort der Erinnerung an den Nazi Hess
besetzte Wirklichkeitsausschnitte werden von Nün-
wird mit Istanbul in Verbindung gebracht. Sowohl in
ning/Nünning als weibliche Erzählinstanz betrachtet.
Istanbul als auch in Spandau gibt es ein Gefängnis.
40 tribüne 4 2012

Sie betrachtet die Unterdrückung der Menschen in Sie will sich verändern, deswegen braucht sie pro-
beiden Teilen Berlins in vereinfachter Form. In der duktive Freundschaft, mit der sie die Erfahrungen mit
Wohnung von dem indischen Brechtianer, der aus der anderen teilt. (Özdamar 2004: 133) Mit Gabi hat sie
Hand lesen kann, weil sie ihre Zukunft vorhersagen Katja-Lange Müller kennengelernt. Sie besuchen die
lassen, während der indische Brechtianer mit ihr ins Schriftstellerin Monika Maron. Heiner Müller ist auch
Bett will. Sie lacht über sich selbst, weil sie sich selbst dort und alle sprechen über Politik. Gabi kritisiert die
komisch vorkommt. Der Mann ist aber irritiert, und Doppelwertigkeit im Westen.
zeigte ihr die Tür.
In Grünau am See sieht sie viele nackte Männer, die
Soziale Beziehungen und Bewegungen in Räumen sich frei bewegen. Einer unter ihnen fragt sie nach ih-
sind kulturell verschieden. In Ost-Berlin in einem rer Nationalität und will sie treffen. An nackte Frauen
Buchladen am Alexanderplatz kauft ein Arbeiter Bü- ist sie von türkischen Bädern gewöhnt. An Orten, an
cher. Die Zerstörung ihrer nationalen Identität drück- denen Menschen nackt sind, verschwindet das klas-
te die Hauptfigur mit einer Frage aus: „Würde in der senbedingte Verhalten. (ebd.:136)
Türkei ein Arbeiter sich trauen in Arbeitskleidung in
In Weimar sieht sie das Konzentrationslager Buchen-
einen Buchladen gehen? (ebd.: 87) Sie kritisiert die
wald. Dann fahren sie nach Erfurt. Nach der Exkur-
Handlungsart im Raum in der Türkei. Sie versucht,
sion übernachten sie in Jena, wo ebenfalls Goethe
ihre Identität im sozialen Netzwerk zu formen. So
übernachtet hatte. Im Hotel ist sie allein und fragt
spricht sie mit Gundula über die Frauensolidarität.
sich: „Warum schlafe ich hier mit keinem Mann? Ha-
Gundula beschränkt ihre Meinungen auf die Frauen-
be ich Schuld? Bin ich zu konservativ?“ Diese Frage
solidarität im kapitalistischen System. In Transiträu-
zu sich selbst beweist, dass ihr bewusst ist, wie sie
men sucht sie Kontakte zu den Menschen, was ihr
die anderen betrachteten. Ihr ICH ist nicht das ICH,
Freude macht. Begrüßt zu werden von den anderen,
das die anderen ihr zuschrieben. Sie will diese Dif-
die Einsamkeit, in den Kneipen zu sitzen und Wodka
ferenzen ausbalancieren. Der Klang der Orte ist ein
zu trinken, gefallen ihr in Ostberlin. In Ostberlin wird
Mittel bei der Wahrnehmung der Städte. In Istanbul
ihr bewusst, dass sie in der Türkei ihre Hand und ih-
hört man die Stimmen von Wasserkäufern, Süssig-
ren Arm nicht bewegen konnte.(ebd.: 105) Hier kann
keitenverkäufern, dem Möwengeschrei, den hupen-
sie ihre weibliche und politische Freiheit genießen.
den Schiffen am Bosporus, dem Zirpen der Grillen,
Das Hotel Stadt Berlin bietet ihr neue Beziehungen
den Gesängen aus den Minaretten. Die Stimmen von
an. (ebd.: 106) Diese Transiträume decken ihren Be-
Berlin sind andere als in Istanbul: Der Wecker, Vogel-
darf nach Unterkunft nicht. An jenem Abend, als sie
gezwitscher, Motoren, Kinder, Autos, Straßenbahnen
keine Unterkunft findet, muss sie auf einem Liege-
(ebd.:147)
stuhl in der Theatersauna übernachten. Sie beklagt
sich darüber nicht, weil sie auf der Suche nach ihrer Wenn sie von anderen schlecht behandelt wird, rea-
Identität ist. giert sie darauf wie ein Kind: sie streckt ihnen die
Zunge aus und macht sich über sie lustig. In Wed-
Der Versuch zur ironischen Konkretisierung ist für ih-
ding in einer Kneipe sagen drei Männer zu ihr: „Ab
ren Erzählstil charakteristisch: „Wenn man verliebt in
in die Gaskammer“, darauf machte sie sich lächer-
einen Bus einsteigt, sollte man dann zwei Tickets
lich. In Konfliktsituationen zeigt sie keine Reaktionen.
kaufen?“ (ebd.:125) Ein anderes Beispiel lässt uns an
Sie wohnt in der Wohnung von Gabi, die den armen
den Verfremdungseffekt erinnern:
Menschen gerne hilft und diese mit in die Wohnung
„Sie war eine dieser Frauen, die in ihren Wohnungen bringt. An dem Tag, als Gabi für den Umzug die Sa-
gerahmte Bilder ihrer im Krieg gefallenen Männer hat- chen packt, bringt die Hauptfigur drei arme Leute mit
ten und von deren Betten seit fünfunddreißig Jahren in die Wohnung. Dies macht Gabi nervös, und des-
nur eine Hälfte benutzt war. Wenn diese Frauen ih- halb beleidigte sie sie. Sie reagiert weinend.
re Bettwäsche waschen, dachte ich, waschen sie nur
Die Unterwürfigkeit der Hauptfigur wird sachlich dar-
die Wäsche ihrer Hälfte. Die Hälfte der Toten, mit de-
gestellt und ohne Zeichen zur Empfindung beschrie-
nen sie schlafen, ist sicher immer sauber.“(ebd.:17)
ben. Als Gabis Freund Gregor sie fragte, woher das
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Wort Kümmeltürke kommt, lässt sie die Frage unbe- Drenschke, die Nachbarin zu einer Untersuchung ins
antwortet. (ebd.: 212) Krankenhaus, wo Krankenhaus die Frauen ihre Bet-
ten „meine Wohnung“ nennen, weil der Raum aus der
Der Raum, in dem die Hauptfigur Anerkennung fin-
Struktur der Menschen und sozialen Güter abgeleitet
det, ist das Theatergebäude. Auf der Bühne stehen
wird (Löw 2001: 264).
die Toten auf. Die Toten wollen weiterleben, um sich
in die kommenden Geschichten der Welt einzumi- In Paris wird sie Assistentin von Besson, der sie da-
schen.(ebd.: 170) Die Bühne, als ein Ort für Toten zu ermahnt, sich vor Deutschland zu retten. In Pa-
und Lebenden, ist ein Treffpunkt des Realen mit Fik- ris wird sie in ein Hotel untergebracht. Auf dem Weg
tivem. Ihre Lage, das Dazwischensein, findet ihren zur Theaterbühne hat sie wieder keinen festen Platz.
Ausdruck auf der Bühne. Sie muss bei ihrem zwei- Die Theaterbühne als Ort kann nach Frahm als Netz-
ten Dasein in Ostberlin wieder heimlich in der Sauna werk betrachtet werden, wobei das Reale mit Fikti-
schlafen.(ebd.: 171). ven verbunden ist. Die gezielte Identität der Hauptfi-
gur liegt zwischen dem Realen und Fiktiven. Bahn-
Am Grenzübergang in der Nacht, an dem sie sich
höfe und der Grenzübergang im Text von Özdamar
wohl fühlte, sieht sie öfters Männer. Die türkischen
vertreten Transiträume, die für Beziehungen Platz
Männer halten sie für eine Prostituierte. (ebd.:180) Ei-
räumen und polare Räume wie Wertberlin-Ostberlin,
nerseits bedroht sie der Raum Grenzübergang, ande-
offene-geschlossene Räume verbinden. Der Transit-
rerseits ist er ein für sie ruhige Ort. Denn der Grenz-
raum steht für Beziehungen, das die Hauptfigur ihr
übergang lässt sich vom Rituell nicht beeinflussen:
zu Hause nennt. „Ost-Westberlin sind grundsätzlich
„Heute nacht ist Silvester. Der einzige Ort, der sich
bei gleichzeitiger Zusammengehörigkeit in ihren Dif-
von Silvester nicht beeindrucken lässt, ist der Grenz-
ferenzen untrennbar miteinander verbunden.“ (Frahm
übergang. Dort wird gearbeitet wie jeden Tag. Das
2008: 75). Die Hauptfigur versucht diese Differenzen
beruhigt mich.“ (ebd.: 185). Ein anderer Ort, an dem
beobachtend zu begreifen und darzustellen aber sie
es ihr gut geht, ist der Bahnhof. Im Bahnhof fühlte sie
gehört weder dem Ostberlin noch dem Westberlin,
sich zu Hause (ebd.: 221).
ebenso wenig der Türkei an. Die ungeklärte Identität
Ihre weiträumige Bewegung aus Istanbul nach entspricht ihrer Identität, die sich an der Grenze ver-
Deutschland verwirklichte sie mit der Bahn, was an ortet. An der Grenze genieß sie die ungeklärte Iden-
ihrem Selbstbewusstsein deutlich ist. Ihre weiträumi- tität.
ge Bewegung entreißt ihr die verankerte Identität. Im
Emine befindet sich täglich an der Grenze zwischen
Gegensatz zu Emine fühlte sich Gabi in Ostberlin Zu-
Ost-und Westberlin. Grätz definiert die Grenze wie
hause im eigenen Ort:
folgt: „Als Orte des Übergangs sind Grenzen Zonen
„Ich kann die Welt nicht grundsätzlich nach meinen ungewisser Identität und ungeklärter Zugehörigkeit,
Vorstellungen ändern, ich kann aber auf den Qua- Orte des ‹Nicht-Mehr› und ‹Noch-Nicht›. Wer eine
dratmetern, die mich umgeben, dafür sorgen, dass Grenze übertritt, der überwindet dieses Zwischensta-
die Gesetze der Welt hier nicht gelten. Ich kann dafür dium und geht ein in das Andere jenseits der Gren-
sorgen, dass die sozialen Hierarchien durchbrochen ze“ (Grätz 2006: 244) Daraus folgert meine These,
werden. Da passe ich auf.“(ebd.: 229) dass die Hauptfigur ihr Zwischenstadium, das sie in
der Türkei erwarb und in Deutschland wieder ent-
In Westberlin identifiziert sie sich, wenn sie traurig ist
deckte, beim Übergang der Grenze zu vermildern-
mit einem Vogel in der Nacht, der auf dem gebück-
auszubalancieren versucht. Der Ort-Wechsel beim
ten Baum sitzt. Wie dieser Vogel ist sie allein und hat
Übergang kommt ihr normal vor, weil sie von einem
einen vorläufigen Platz. Die Großmutter als Schutz-
politisch, sozial und kulturell differenten System in ein
metapher kommt ihr ins Gedächtnis und damit tröstet
anderes nicht überwechselt. Sie wechselt von einem
sie sich. (ebd.: 213) Die Stadt ist ein Zivilisationsort
ihr fremden Teil (von Westberlin) in einen anderen
und sie gehört zur Natur wie der Vogel auf dem ge-
fremden Teil, nach Ostberlin. Nicht die festen Räume,
bückten Baum.
sondern die Beziehungen der Menschen zu den Räu-
Sie macht sich Sorgen um die Prostituierten, die al- men werden Symbole der sich verändernden Identität
ten kranken Frauen und Männer. Sie begleitet Frau der Hauptfigur. Die Hauptfigur lehnt den festen Rah-
42 tribüne 4 2012

men der Identität ab und drückt es in den Darstellun- ne Sevgi Özdamar, Yade Kara“ in Akten des
gen ihrer Bewegungen in den Räumen und in ihrer XI. Internationalen Germanistenkongresses Pa-
Sprache aus. ris 2005, Band 6: Migrations-Emigrations-und
Remigrationskulturen-Multikulturalitaet in der zeit-
genösischen deutschsprachigen Literatur. Jahr-
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buch für Internationale Germanistik, Geihe A-
Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns Hamburg Band 82, s.273-281, Hrsg. Jean-Marie Valentin
2006.Frahm, Laura: „Jenseits der Noir-Stadt“ in Band 6 Peter Lang Bern 2007
Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguis-
tik(149)2008 Anmerkungen
Graf, Peter: Dialog zwischen den Kulturen in Zeiten

des Konflikts V&R unipress Göttingen 2003 Dieser Artikel wurde an der Jahrestagung GIG
Grätz, Katharina: Das Andere hinter der Mauer Wen- „Metropolen Als Ort von Begegnung und Isolation“
de des Erinnerns? Erich Schmidt Verlag Hrsg.: 2009 in Istanbul von mir beigetragen.
Barbara Besslich, Katharina Grätz, Olaf Hilde-
brand Berlin 2006
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(149) 2008
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toren türkischen Ursprungs“ in: Mehmet Gündoğ-
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Molly Soholm, Garbiela: Konstruktion kultureller Iden-
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ris 2005, Band 6: Migrations-Emigrations-und
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genösischen deutschsprachigen Literatur. Jahr-
buch für Internationale Germanistik, Geihe A-
Band 82, s.273-281, Hrsg. Jean-Marie Valentin
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Özdamar, Emine Sevgi: Seltsame Sterne starren zur
Erde. Wedding-Pankow 1976/1977 Köln 2004
Scherer, Gabrielle :„Brennpunkt ‚Berlin‘. Kulturdiffe-
renzen literarisch-topographisch auf den Punkt
gebracht: Barbara Honigmann, Herte Müller, Emi-

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