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Veröffentlichungen der Unabhängigen

Historikerkommission zur
Erforschung der Geschichte des
Bundesnachrichtendienstes
1945-1968

Herausgegeben von Jost Dülffer,


Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang
Krieger und Rolf-Dieter Müller

BAND 7.1
Rolf-Dieter Müller

Reinhard Gehlen
Geheimdienstchef im Hintergrund
der Bonner Republik
Die Biografie. Teil 1:1902-1950

Ch. Links Verlag, Berlin


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, November 2017


© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36,10435 Berlin, Tel.; (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Reinhard Gehlen
als Generalmajor, Dezember 1944; Bundesarchiv, Bild-Nr. GN13-08-24
Lektorat: Dr. Stephan Lahrem, Dr. Daniel Bussenius
Satz: Buch und Gestaltung, Andrea Päch
Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-86153-966-7
Inhalt

BAND 1

Vorbemerkung 7

Einleitung 9

I. Der General 19

1. Familiengeheimnisse (1902-1919) 21
2. Der junge Artillerieoffizier (1920-1932) 39
3. Ausbildung zum »Führungsgehilfen« (1933-1935) 73
4. Kriegsvorbereitungen im Generalstab des Heeres(1935-1939) 90
5. Erste Erfahrungen im Krieg (1939/40) 117
6. Planung und operative Führung des Unternehmens
»Barbarossa« (1940/41) 180
7. Neuer Abteilungsleiter von Fremde Heere Ost (1942) 233
8. Reorganisation der Abteilung nach Stalingrad (1943) 270
9. Exkurs zur Geschichte des militärischen Nachrichtendienstes
in Deutschland 301
10. Rückzugsgefechte (1943/44) 311
11. Vorbereitungen auf das Ende (1944/45) 359

Zwischenbilanz: Erfahrungshorizont am Ende


seiner militärischen Karriere 411

II. In US-Diensten 419

1. Von der »Alpenfestung« zur US Army (1945/46) 421


2. Vom »Basket« nach Pullach (1946/47) 470
3. Erste Führungskrisen in Pullach (1948) 513
4. Übernahme durch die CIA (1948/49) 545
5. Erste Kontakte zur Bundesregierung (1949/50) 586
BAND 2

III. Auf dem Weg zum Bundesnachrichtendienst 655

1. Der Koreakrieg sichert die Kontinuität der Organisation


Gehlen (1950) 657
2. Gehlens Mehrfrontenkrieg (1951) 693
3. Gehlens Kampf um Bonn (1952) 721
4. Stalin-Note und Ausbau der politischen Aufklärung (1952/53) 760
5. Nach dem Volksaufstand in der DDR (1953/54) 814
6. Irritationen und Endspurt (1954/55) 854

IV. Der Präsident 899

1. Der »Doktor« wird Präsident (1956) 901


2. Ausbau des BND und der Partnerschaft mit der CIA (1957-1959) 933
3. Berlinkrise und Kampf gegen den Weltkommunismus (1959-1961) 981
4. Gehlen vor dem Absturz: Felfe und die Spiegel-Affäre (1961/62) 1018
5. Adenauers Bruch mit Gehlen (1962-1965) 1035
6. Die Versuchung des Gaullismus (1965/66) 1089
7. Wann geht Gehlen? (1966-1968) 1112
8. Ein glanzloser Abgang (1968) 1163
9. Nachwirkungen: Entfremdung vom BND und Kampf gegen
die neue Ostpolitik (1968-1971) 1200
10. Misslungene publizistische Paukenschläge (1971-1974) 1227
11. Guillaume-Affäre und Mercker-Bericht: das Ende Gehlens
(1974-1979) 1261

Persönlichkeit, Führungsstil und Weltanschauung -


Bemerkungen zur historischen Bedeutung von
Reinhard Gehlen 1301

Anhang 1330
Quellen und Literatur 1330
Abkürzungen 1349
Bildnachweis 1354
Personenregister 1356
Der Autor 1373
Vorbemerkung

Die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968


Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des
Bundesnachrichtendienstes 1945 -1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen
und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finan­
ziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mit­
arbeiter, denen zuallererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im
Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten
und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach
vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergeb­
nisse nun in mehreren Monografien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die
Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch rele­
vante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch
bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.
Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von
ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personel­
len Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine
breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unter­
schiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem
BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer
Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschrän­
kungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Aus­
landsoperationen des Dienstes.
Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn
Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsiden­
ten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es för­
derte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission
auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es
eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben
konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deut­
schen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer
selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.

Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),


Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller

7
Einleitung

Nach dem Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 zogen es manche Deutsche vor,
mit falschem Namen unterzutauchen. Zu ihnen gehörte Generalmajor Reinhard
Gehlen, bisheriger Chef der Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) im Generalstab
des Heeres. Der suchte nicht die Anonymität, sondern ein sicheres Versteck und
einen neuen Dienstherrn, der ihm eine Abdeckung gegenüber der Öffentlich­
keit und vor allem gegenüber den Häschern des sowjetischen Geheimdienstes
bieten konnte. Gehlen war davon überzeugt, der beste Kenner der Sowjetarmee
und ihrer Kriegführung zu sein. Schließlich hatte er am Plan für den Krieg gegen
die Sowjetunion an entscheidender Stelle mitgearbeitet und war noch immer
überzeugt davon, dass die Rote Armee militärisch hätte besiegt werden können,
wenn man nur auf seinen Rat gehört hätte. Weil Hitler ihn verschmäht hatte,
sei der Krieg verloren gegangen. Nun bot Reinhard Gehlen den amerikanischen
Siegern an, seine Kompetenz und die von ihm versteckten Akten zu nutzen,
um in dem sich abzeichnenden Kalten Krieg zwischen den Siegermächten den
Kampf gegen den bolschewistischen Weltfeind fortzusetzen.
Die skeptischen US-Militärs nahmen den feindlichen General erst einmal
gefangen und ließen sich dann von der Nützlichkeit des deutschen Kollabora­
teurs überzeugen. In den folgenden zehn Jahren dirigierten und finanzierten
sie die von Gehlen aufgebaute Hilfstruppe, die hauptsächlich in der militäri­
schen Aufklärung gegen den Osten eingesetzt wurde. Sie ließen »Dr. Schnei­
der« unter allerlei Decknamen im Dunkeln des west-östlichen Spionagekrieges
und hinter den Kulissen der Bonner Bühne wirken. Als Chef einer Schatten­
armee von Spionen jenseits des Eisernen Vorhangs und einer von ehemaligen
Generalstabsoffizieren der Wehrmacht geführten Geheimorganisation spielte
er zugleich eine wesentliche Rolle bei der bundesdeutschen Wiederbewaff­
nung sowie als Akteur in der westdeutschen Innenpolitik. Er wirkte im Ver­
borgenen als ein Mann, der scheinbar kein Gesicht hatte und das Licht der
Öffentlichkeit scheute. Wie sein Gegenspieler aufseiten der DDR, Markus Wolf,
verhinderte er über Jahre, dass sein Foto bekannt wurde.
Die Amerikaner unterstützten Gehlens Bestrebungen, mit der nach ihm
benannten »Organisation Gehlen« (kurz: Org) in den Dienst der jungen Bun­
desrepublik übernommen zu werden und einen mächtigen Nachrichtendienst
als Instrument in der Hand des Kanzlers aufzubauen. Denn damit schien
gewährleistet, dass dieser neue deutsche Geheimdienst unter US-Kontrolle
bleiben würde. Der 1956 gegründete Bundesnachrichtendienst erlebte bis 1968

9
unter der Leitung seines ersten Präsidenten Reinhard Gehlen Höhen und Tie­
fen. Über den Mann mit dem Decknamen (DN) »Doktor« erfuhr man bis zu
seiner Pensionierung wenig. Eine Vielzahl von Legenden, die teilweise bis in
die Gegenwart hineinwirken, schützte seinen Ruf. Seine Persönlichkeit blieb
dabei zu großen Teilen im Dunkeln. Einige wenige Informationen zu Lebens­
weg und Werk platzierte Gehlen selbst, sodass sein Bild in der westdeutschen
Öffentlichkeit und in den Medien bis in die 1960er-Jahre weitgehend intakt
blieb, trotz der Enthüllungen und Verleumdungen durch die DDR-Propaganda.
Drei Jahre nach seiner Pensionierung publizierte Gehlen 1971 überstürzt
seine Memoiren Der Dienst,1 parallel zu einer Spiegel-Serie über den BND, die
von den Journalisten Hermann Zolling und Heinz Höhne recherchiert worden
war und anschließend als Buch erschien und noch heute als bahnbrechendes
Werk zur Geschichte des BND gilt.2 Unter tätiger Mithilfe aus der Pullacher
Geheimdienstzentrale und nach Kommentaren von Gehlen zum Textentwurf
gewährte die Publikation einige Einblicke in Gehlens Karriere, allerdings oft
auf nicht überprüfbare Aussagen von Zeitzeugen gestützt. Der »Doktor«, der
schon früh an einer Autobiografie gebastelt hatte,3 ließ seinen Ghostwriter,
Wilfried Hertz-Eichenrode, die Schilderung des Werdegangs als Berufssoldat
verkürzen und begann nach einem kurzen Vorspann mit seiner legendären
Tätigkeit als Chef FHO im Zweiten Weltkrieg. Bis dahin habe er den »Lebens­
gang jedes beliebigen Generalstabsoffiziers« durchschritten. Da Anfang der
1970er-Jahre noch Millionen ehemaliger Wehrmachtsoldaten lebten, konnte
er unterstellen, dass eine solche Laufbahn den meisten Lesern bekannt war.
Diese erste prägende Hälfte seines Lebens konnte er also kurzfassen, wirkliche
Einblicke vermeiden und recht tiefstapeln – im Gegensatz zum Hauptteil, in
dem er einen legendengespickten Überblick über die Geschichte der Org und
des BND präsentierte. So wurde Gehlens Autobiografie hauptsächlich zu einer
politischen Kampfschrift gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregie­
rung, was er anschließend in zwei weiteren Büchern4 vertiefte.
Von den Vermutungen über das abenteuerliche Leben des vermeintlichen
Superspions angetrieben, erschien 1971 ebenfalls die Gehlen-Biografie des
britischen Geheimdienstlers Edward Spiro (DN »E.H. Cookridge«).5 Sie war

1 Reinhard Gehlen: Der Dienst. Erinnerungen 1942-1971, Mainz 1971.


2 Hermann Zolling und Heinz Höhne: Pullach intern. General Gehlen und die Geschichte
des Bundesnachrichtendienstes, Hamburg 1971.
3 Gehlen, Gliederung für geplante Erinnerungen »Eindrücke und Erlebnisse als Offizier und
Chef eines Auslands-Nachrichtendienstes«, BND-Archiv, N 13/2, S. 107-116.
4 Reinhard Gehlen: Zeichen der Zeit. Gedanken und Analysen zur weltpolitischen Entwick­
lung, Mainz 1973 und Verschlußsache, Mainz 1980.
5 E. H. Cookridge (d. i. Edward Spiro): Gehlen. Spy of the Century, London 1971.

10
eine Melange aus Erzählungen, die er in Pullach sowie durch einen Besuch im
Hause Gehlen aufgeschnappt hatte, und enthielt mancherlei Spekulationen
sowie Fehlinformationen, die Gehlen schließlich veranlassten, das Buch für
ein Produkt sowjetischer Desinformation zu halten.6 Ein gewisses Aufsehen
erregte dann 1972 die englische Übersetzung der Erinnerungen von Gehlen,
in die er zusätzliche Informationen eingefugt hatte, die hauptsächlich seinen
Kampf gegen die neue Ostpolitik und die Veränderungen im BND betrafen.7 In
einer ihm wohlgesinnten US-Schrift wurde er sogar als deutscher Meisterspion
bezeichnet.8 Reinhard Gehlen wurde endgültig zu einer umstrittenen Figur der
Zeitgeschichte, als durch Enthüllungen im Zusammenhang mit seinem Auftritt
vor dem Guillaume-Untersuchungsausschuss 1975 die Kritik an seiner Person
noch stärker wurde. Zudem äußerte bereits damals ein jüngerer Historiker
begründete Zweifel an Gehlens angeblicher Erfolgsgeschichte in seiner Zeit als
Chef FHO, was diesen umso mehr ins Zwielicht setzte.9 Zwei Jahrzehnte später
trug die junge Amerikanerin Mary Ellen Reese die inzwischen hauptsächlich
aus amerikanischen Quellen verfügbaren Informationen über die Frühphase
der Org zusammen. Die deutsche Übersetzung der kleinen Schrift erschien
1992, steuerte zur Bewertung der Rolle Gehlens allerdings nicht viel Neues bei.10
Der glanzlose und skandalumwitterte Abgang Reinhard Gehlens hatte
seine reale Persönlichkeit und seine historische Bedeutung im Zweiten Welt­
krieg sowie in der Frühgeschichte der Bundesrepublik weitgehend verdeckt.
Lange nach seinem Tod 1979 fiel zum Beginn des neuen Jahrtausends mehr
Licht zumindest in die Phase seiner Übernahme durch die Amerikaner, als
eine Reihe von Akten durch den Nazi War Crimes Disclosure Act (1998) in den
USA zugänglich gemacht wurde.11 Hinzu kamen die Erinnerungen von James

6 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 4.1.1972, IfZ ED 100-69-100.


7 Reinhard Gehlen: The Service. The Memoirs of General Reinhard Gehlen, New York 1972.
8 Charles Whiting: Gehlen. Germany’s Master Spy, New York 1972, ähnlich schon zuvor
Alain Guérin: Le Général gris. Comment le général Gehlen peut-il diriger, depuis 26 ans,
l’espionnage allemand?, Paris 1968.
9 Hans-Heinrich Wilhelm: Die Prognosen der Abteilung Fremde Heere Ost 1942-1945; in:
Hans-Heinrich Wilhelm und Louis de Jong: Zwei Legenden aus dem Dritten Reich, Stutt­
gart 1974, S.7-75.
10 Mary Ellen Reese: Organisation Gehlen. Der Kalte Krieg und der Aufbau des deutschen
Geheimdienstes, Berlin 1992.
11 Dieter Krüger: Reinhard Gehlen (1902-1979). Der BND-Chef als Schattenmann der Ära
Adenauer; in: Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg,
hg. von Dieter Krüger und Armin Wagner, Berlin 2003, S. 207-236, 264-283; Wolfgang
Krieger: »Dr. Schneider« und der BND; in: Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spio­
nage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Wolfgang Krie­
ger, München 2003, S. 230-247; Jens Wegener: Die Organisation Gehlen und die USA.
Deutsch-amerikanische Geheimdienstbeziehungen 1945-1949, Berlin 2008.

11
H. Critchfield, dem ehemaligen CIA-Führungsoffizier in Pullach, der das span­
nungsreiche Verhältnis zu dem ehemaligen deutschen General zumindest
andeutete, auch wenn er ihm im Rückblick einigen Respekt erwies und die nach
seinem Tod erschienene Schrift offenbar einige Glättungen von berufener Hand
erfuhr.12 Die Erinnerungen seines unmittelbaren Vorgesetzten und langjährigen
Deutschlandchefs der CIA, Gordon Stewart, sind bis heute unter Verschluss.
Als dann 2006 eine geheime Dokumentensammlung der CIA über die Zusam­
menarbeit mit der Org teilweise zugänglich gemacht wurde,13 schien die Erfor­
schung dieser Phase der Ära Gehlen und seines wichtigsten beruflichen Erfolgs
zumindest von amerikanischer Seite endlich auf eine breitere Quellengrund­
lage gestellt zu werden. Für die Amerikaner war die Bewertung Gehlens inzwi­
schen ein Gegenstand bei der Neuauflage des historisch-politischen Streits um
den Umgang der USA mit früheren Nazis in der Nachkriegszeit.14 Vereinzelte
Enthüllungen über Aktionen, für die Gehlen Verantwortung getragen hat, etwa
im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem oder im Zuge der
Spiegel-Affäre, fügten sich bislang nicht zu einem Gesamtbild. Wenn Gehlen
in seinen Memoiren eine angeblich missverstandene Pressefreiheit mit Verfäl­
schungen und Indiskretionen gegenüber dem Nachrichtendienst beklagte, die
es in keinem anderen Land gäbe,15 so betraf das nur wenige kritische Enthül­
lungen. Was hinter den streng bewachten Mauern von Pullach tatsächlich pas­
sierte – oder versäumt wurde -, blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.
Die 2011 eingesetzte Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung
der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968 (UHK), zu der
auch der Autor gehört, erkannte die Notwendigkeit, erstmals auch eine wis­
senschaftlich fundierte Biografie des ersten Präsidenten des BND vorzulegen,
dessen Persönlichkeit ab 1945 die Vorläuferorganisation und dann seit 1956 die
Geschichte des BND entscheidend geprägt hat und der noch heute vielfach als
Schöpfer und Traditionsfigur des deutschen Auslandsnachrichtendienstes gilt.
Die Forschung konnte unter einmalig günstigen Bedingungen erfolgen, weil
ein uneingeschränkter Aktenzugang zugesichert wurde. Es ist ein weltweit ein­
zigartiger Vorgang, dass ein Geheimdienst, der von seinen Geheimnissen lebt
und diese möglichst zu verbergen sucht, seine kompletten Unterlagen aus zwei
Jahrzehnten für einen Forschungsauftrag an externe Historiker zur Verfügung
stellte. Die Möglichkeit der Einsichtnahme wurde selbstverständlich im Hin­

12 James H. Critchfield: Auftrag Pullach. Die Organisation Gehlen 1948-1956, Hamburg 2005.
13 Kevin C. Ruffner (Hg.): Forging an Intelligence Partnership: CIA and the Origins of the
BND, 1949-56, 2 Bde., Europe Division National Clandestine Service, o. O. 2006.
14 Timothy J. Naftali: Reinhard Gehlen and the United States; in: U.S. Intelligence and the
Nazis, hg. von Richard Breitman et al., Cambridge, Mass. 2005, S. 375-418.
15 Gehlen, Der Dienst, S. 13.

12
blick auf die Veröffentlichungen durch ein Freigabeverfahren ergänzt. Dabei
waren auf gesetzlicher Grundlage die »Staatswohlinteressen« zu berücksichti­
gen. Das betraf die Bewahrung der Funktionsfähigkeit des BND, unter anderem
im Hinblick auf die weitere Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichten­
diensten, und den Quellenschutz. Kompromisse sind in diesem Projekt nicht
über jene Grenzen hinausgegangen, die vom wissenschaftlichen Ethos des His­
torikers gesetzt werden. Die Unterstützung aus dem politischen Raum, insbe­
sondere des Bundeskanzleramts und des Parlaments, sowie die wohlwollende
Haltung mehrerer Präsidenten des BND sicherten dem Unternehmen den
Erfolg, auch über spürbare interne Widerstände einer Großbehörde hinweg.
Den Anstoß für den Auftrag an die UHK lieferte ein Beschluss des Deutschen
Bundestages, NS-Kontinuitäten in der Nachkriegszeit und den Umgang mit der
eigenen NS-Vergangenheit in allen oberen Bundesbehörden und Ministerien
aufarbeiten zu lassen. Das hatte mit einiger Verzögerung auch den BND erfasst.
Nachdem die erste Beauftragung eines renommierten Historikers gescheitert
war, weil der damals desolate Zustand des BND-Archivs befürchten ließ, dass
eine gründliche historische Aufarbeitung nicht möglich sein würde, setzte die
UHK in eigener Zuständigkeit ein umfassendes Forschungsprogramm durch.
Es stellte die Frage nach der NS-Belastung in den Zusammenhang einer
Gesamtgeschichte des BND und seiner Vorläuferorganisation von 1945 bis
zum Ende der Ära Gehlen 1968. Im Zuge der Erarbeitung einer umfassenden
Übersicht über die vorhandenen, bislang meist unerschlossenen Akten stellte
sich heraus, dass die umfangreichen Präsidentenakten offenbar weitgehend
erhalten sind, obwohl Gehlen nach seiner Pensionierung zunächst versucht
hatte, wichtige Unterlagen und Dossiers zu verstecken. Es erwies sich, dass
bei einer vom BND für den Notfall vorgenommenen Aktenverfilmung in den
frühen 1960er-Jahren auch Massen von geheimen Unterlagen erfasst worden
waren. So ließen sich in späteren Jahren nicht auffindbare Dokumente rekon­
struieren, als man im BND begann, zumindest die eigene Frühgeschichte, die
Zeit der Org, systematisch zu dokumentieren.
Im Zuge dieser Arbeiten entstand Ende der 1960er-Jahre eine Chronik, die
zu einem Überblick über wichtige Daten und Ereignisse verhilft. Sie war eine
erste Schneise in dem Wust von Unterlagen, als Gehlen nach seinem Ausschei­
den aus dem BND im Rahmen eines Werkvertrags durch die »Gruppe Bohlen«
dabei unterstützt wurde, alte Akten aufzubereiten und Erfahrungsberichte
aller Bereiche des BND einzuholen. Das half Gehlen, der anschließend seine
Memoiren verfassen ließ. Aber diese Anfänge einer historischen Aufarbeitung
dienten noch immer ausschließlich der internen Erkenntnis. Die Einrichtung
eines eigenen Archivs bot dann Anfang der 1980er-Jahre die Gelegenheit, ehe­
malige leitende Mitarbeiter des BND um Stellungnahmen zu offenen Fragen
der Frühgeschichte, Tagebücher und Erlebnisberichte zu bitten.

13
Aus den umfangreich erhaltenen Präsidentenakten und den mehr als
80 Nachlässen ergibt sich ein deutlich konturiertes Bild – natürlich aus
der Perspektive der Zentrale in Pullach. Darin spiegelt sich nur bedingt
die Gesamtgeschichte des BND in allen Facetten. Sein bewusst gepflegtes
Abschottungssystem im Dienst macht schon die Rekonstruktion der jewei­
ligen Arbeitsgliederung zu einem kaum lösbaren Problem. Die »organisierte
Desorganisation« sollte es einem möglicherweise eingedrungenen Gegner
erschweren, sich über das Ganze zu orientieren – um den Preis, dass auch die
eigenen Mitarbeiter keinen Überblick erhielten. »Deckung vor Wirkung« lau­
tete die Maxime des gelernten Artilleristen. Es gab zudem in seiner Amtszeit
nur selten und unregelmäßig gemeinsame Besprechungen der Abteilungslei­
ter. Hinzu kamen häufige Änderungen der Decknamen, Bezeichnungen und
Kompetenzen. Zu Details der Arbeit des BND und für tiefer gehende kritische
Forschungen zu einzelnen Sachgebieten sollten daher auch die anderen Bände
der UHK-Publikationsreihe hinzugezogen werden.
Gespräche mit einigen wenigen noch lebenden Zeitzeugen vermittelten
einen atmosphärischen Eindruck von Personen und Ereignissen. Dazu hatte
sich zunächst auch die Familie Gehlen bereit erklärt. Zwei Kinder des Gene­
rals (Christoph und Dorothee) beantworteten Fragen und kommentierten in
offenen Gesprächen vorläufige Erkenntnisse und Hinweise. Das wertvollste
Ergebnis dieser Bemühungen war das »plötzliche Auffinden« zweier Holzkis­
ten mit dienstlichen Dokumenten des Generals, sinnigerweise einer original
Wehrmacht- und einer US-Army-Kiste. Es handelt sich dabei um Unterlagen
aus dem Zeitraum 1927 bis 1946, die Gehlen als Pensionär zurückbehielt, als
er unter dem Druck des Kanzleramts, des BND und des Bundesarchiv-Militär­
archivs Mitte der 1970er-Jahre größere Mengen von Dokumenten zurückgab,
manche davon unter der Maßgabe, dass sie nicht dem damals SPD-geführten
Kanzleramt, sondern dem BND- bzw. dem Militärarchiv übergeben werden
sollten. Angeblich soll es sieben weitere Kisten mit Unterlagen aus der BND-
Zeit geben, die ein Journalist gesehen haben will.
Christoph Gehlen überließ die beiden historisch wertvollen Kisten zur
Auswertung der UHK, ebenso eine Kopie des Teilentwurfs (etwa 50 Seiten)
seines Vaters für die ursprünglich geplanten Erinnerungen. Er umfasst Kind­
heit, Jugend und seine Ausbildung zum Generalstabsoffizier bis zum Beginn
des Zweiten Weltkriegs. Diese Episoden finden sich nicht in Der Dienst, wur­
den aber damals auch für Interviews des Expräsidenten, zum Beispiel in der
IIIustrierten Quick, verwendet. Außerdem wurde das Kopieren von alten Fotos
aus dem Familienalbum erlaubt. Privates Schrifttum, Briefe oder Tagebücher
seien nicht vorhanden, hieß es. Als die Familie dann Einblick in den Rohent­
wurf der Biografie für den Zeitraum bis 1945 erhielt, reagierte sie empört über
das gezeichnete Bild, obwohl es sich auf eine gut erforschte militärhistorische

14
Gehlens Geheimnisse: eine Original-Wehrmacht-Transportkiste aus seinem Nachlass

Grundlage stützen kann. Es entsprach offenbar nicht den eigenen Erinnerun­


gen an die Erzählungen des Vaters. Sie brachen daraufhin alle Gespräche ab
und verlangten die zur Verfügung gestellten Materialien zurück. Die bereits im
Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Potsdam archivmä­
ßig verzeichneten Akten in den Gehlen-Kisten wurden von der Familie 2015
für Ausstellungszwecke dem Militärhistorischen Museum in Dresden zur Ver­
fügung gestellt, ebenso die Fotoalben, deren Zugänglichkeit aber für fünf Jahre
gesperrt.16 Es sollte auf diese Weise »ein Zeichen« gesetzt werden, wie dem
Autor mitgeteilt wurde. So konnte der Eindruck entstehen, dass die wissen­
schaftliche Arbeit der UHK nicht unterstützt werden sollte.

16 Die Abbildungen der Kisten und von Teilen ihres Inhalts im Ausstellungskatalog Mag­
nus Pahl, Gorch Pieken und Matthias Rogg (Hg.): Achtung Spione! Geheimdienste in
Deutschland 1945 bis 1956, Dresden 2016, S. 20-26, zeigen deutlich, dass es sich um
dienstliche Unterlagen und Geheimdokumente der Wehrmacht handelt. Die Angabe
»Leihgabe, Privatbesitz« kann sich daher meines Erachtens nicht auf legitime Besitzan­
sprüche stützen. Die Forderung nach Unterlassung ihrer Auswertung ist zurückzuwei­
sen. Auf den Abdruck von Fotos aus dem Familienalbum, die wohl künftig in Dresden
zugänglich sein werden, wurde hingegen verzichtet. Einige der Fotos werden als Zitate
der Quick-Serie entnommen, die Reinhard Gehlen 1971 unterstützt hat; siehe Wilfried
Ahrens und Paul Limbach: Die Gehlen-Story, in: Quick 41/1971 bis 48/1971. Nach einer
Zeitungsmeldung hat er damals die Weltrechte an seinen Fotos an die Quick verkauft.
Das Erscheinen der IIIustrierten wurde 1992 eingestellt.

15
Eine Biografie Gehlens als Geheimdienstchef nach 1945 wäre ohne Quel­
len seines ersten Auftraggebers nicht denkbar gewesen. Die 2006 von Ruffner
editierte Quellensammlung der CIA wird hier erstmals im Blick auf Gehlen in
der Frühphase seiner Organisation umfassend ausgewertet. Sie stellt allerdings
nur eine zensierte Auswahl dar, ebenso wie neu zugängliche CIA-Dokumente
aus den National Archives der USA in Maryland. Das lässt zumindest für die
US-Kontrollgruppe in Pullach und andere CIA-Ebenen in Deutschland sowie
für den zuständigen Bereich in der Zentrale wichtige Einblicke zu. Trotz der
Fürsprache des BND blieb der UHK ein Zugriff auf weitere Dokumente und
Informationen der höchsten strategischen Ebene versperrt. Berichte über Geh­
lens Dienstreisen in die USA und seine Gespräche mit den CIA-Chefs bilden
eine Ausnahme. Dennoch erwiesen sich die US-Materialien als wertvolle Ergän­
zung zu den BND-Akten über die Zusammenarbeit mit den Amerikanern. Noch
restriktiver verhielten sich andere angesprochene Nachrichtendienste, die
zwar Interesse für das ungewöhnliche historische Experiment der Deutschen
bekundeten, aber keine Kooperationsbereitschaft beim Aktenzugang zeigten.
Materialien aus anderen deutschen Archiven, insbesondere dem Bundes­
archiv-Militärarchiv, ergänzten die Pullacher Unterlagen. Da die Org in den
frühen Jahren westdeutsche politische Institutionen und wichtige Behörden
»unterwandert« hatte und auch als BND bis zum Ende der Ära Gehlen starke
innenpolitische Aktivitäten entwickelte, finden sich vielfach Spuren, die auf
Gehlens dicht gesponnenes Netz an Informanten verweisen. Ein Gegenbild fin­
det sich in den Akten des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats­
sicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Dabei zeigt sich, dass sich die Stasi
nur sporadisch mit ihrem Gegenspieler beschäftigte und zur Person nur von
Zeit zu Zeit Berichte aus Gehlens engster Umgebung sammelte. Von zentra­
ler Bedeutung für die Forschungsarbeit der UHK und damit auch für diese
Gehlen-Biografie ist die umfassende Einsichtnahme in die Verschlusssachen-
Registratur des Bundeskanzleramts. Das betrifft zum einen die enge Zusam­
menarbeit zwischen Gehlen und der rechten Hand Adenauers, Hans Globke,
deren schmale Überlieferung vonseiten Globkes nun aus den Unterlagen Geh­
lens ergänzt werden kann. Zum anderen werden die Bemühungen des Kanz­
leramts besser erkennbar, Gehlen und den BND nach dem Abgang von Globke
1963 stärker zu kontrollieren und dem politischen Primat zu unterwerfen.
Es ist auffällig, dass in der Memoiren- bzw. biografischen Literatur der
damaligen Gesprächspartner Gehlens sein Name nur selten auftaucht. Man
ließ sich offensichtlich auch nicht mit ihm zusammen ablichten. Das gilt nicht
nur für Adenauer und Globke, seine wichtigsten Auftraggeber, sondern zum
Beispiel auch für Franz Josef Strauß, Willy Brandt und viele andere Repräsen­
tanten der Bonner Republik. Nach seinem unrühmlichen Abgang galt Rein­
hard Gehlen ihnen anscheinend als nützlicher Zuarbeiter, den sie aber wohl

16
zeitweilig überschätzt hatten und der aus dem Ruder gelaufen war. Viele, die
ihn zuzeiten öffentlich gelobt hatten, wie etwa die Grande Dame des west­
deutschen Journalismus, Marion Gräfin Dönhoff, schwiegen. Schon bei seinem
Begräbnis 1979 reagierte selbst die konservative Presse verhalten.
Im Hinblick auf die quantitative Verteilung der verfügbaren Quellen zu
Gehlen im BND-Archiv überrascht es nicht, dass die Org-Jahre (1945-1956)
reichhaltiger sprudeln als seine Präsidentschaft des BND (1956-1968). In
den ersten »wilden« Jahren in amerikanischen Diensten wurde von Tag zu
Tag um die Weiterführung der Arbeit und um konzeptionelle und personelle
Probleme gerungen, mussten die Erwartungen auf eine rasche Übernahme
durch die Bonner Regierung immer wieder gebremst werden. Das fand seinen
Niederschlag in zahlreichen Memoranden, Entwürfen, Berichten und Tage­
buchaufzeichnungen, die es ermöglichen, die Rolle und das Selbstverständnis
der Organisation Gehlen auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und während
der Aufbauphase der Bundesrepublik genauer zu bestimmen – ebenso die teil­
weise konträren Auffassungen der amerikanischen Geldgeber und der Bonner
Politik.17
Nachdem die Org als BND institutionalisiert worden war, brachen ab 1956
ruhigere Jahre des Ausbaus und der Festigung an, auch eine Zeit der Büro­
kratisierung und Verrechtlichung, wie Gehlen oft beklagte. Das erhöhte aber
im Präsidentenbüro nicht die Aktenproduktion, weil sich der »Doktor« aus
Teilen seines Verantwortungsbereichs zurückzog und sich vor allem um seine
geheimnisumwitterten »Sonderverbindungen« sowie um politische Ränke in
Bonn kümmerte. Umfangreicher wurden damals hauptsächlich die von ihm
persönlich geführten Dossiers, die offenbar nach seiner Pensionierung größ­
tenteils vernichtet wurden bzw. verschwanden.18
Als er Anfang der 1960er-Jahre Adenauers Wohlwollen verlor und nach des­
sen Abgang von der politischen Bühne 1963 geriet Reinhard Gehlen als Präsi­
dent des BND immer stärker in die Isolation. Es entwickelte sich das persön­
liche Drama eines ehemals einflussreichen Mannes hinter den Kulissen der
Bonner Republik, der den Anschluss an die neue Zeit und zu seinem Dienst
verlor und um sein Bild in der Geschichte kämpfte. Dabei nutzte er skrupel­
los alle Mittel, um Medien und Öffentlichkeit in seinem Sinne zu beeinflussen,

17 Für die späten 1950er- und 1960er-Jahre bildet das Tagebuch von Kurt Weiß, enger Ver­
trauter und Mitarbeiter von Gehlen, eine wichtige Quelle, allerdings ist zu berücksich­
tigen, dass es sich um eine von ihm selbst in den 1980er-Jahren besorgte Transkription
handelt; BND-Archiv, N 10/8.
18 Siehe Bodo Hechelhammer: Die »Dossiers«. Reinhard Gehlens geheime Sonderkartei; in:
Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945-1968. Umrisse und Einblicke.
Dokumentation der Tagung am 2. Dezember 2013, Studien der UHK Nr. 2, Marburg 2014.

17
bis an den »Abgrund von Landesverrat«, wie man im Kanzleramt befürchtete.
In Pullach stöhnte manch einer seiner früheren Mitarbeiter: »si tacuisses«.
Gleich nach seiner Pensionierung begann eine geheime Untersuchungskom­
mission des Kanzleramts, eine Fülle von Beschwerden und kritischen Eingaben
von BND-Mitarbeitern über die Amtszeit Gehlens aufzuarbeiten. Der geheim
gehaltene Mercker-Bericht von 1969, den selbst Gehlen nicht zur Kenntnis
erhielt, wirft ebenso wie die Protokolle über seine Vernehmung 1974 durch den
Guillaume-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags grelle Schlag­
lichter auf die Spätphase der Ära Gehlen im BND. Für die letzten Jahre vermit­
teln vor allem die Berichte der Münchener CIA-Residenten über Begegnungen
mit Gehlen wichtige Eindrücke von einer herausragenden Persönlichkeit, die
in den frühen Jahren der Bundesrepublik Zeitgeschichte mitgeschrieben hat.
Sein Lebensweg als Soldat und Generalstabsoffizier hat ihn bis zur Lebens­
mitte entscheidend geprägt. Dieser Teil der Biografie verdient schon deshalb
größere Beachtung, weil sich durch ihn viele Bezüge öffnen zur Mentalität und
zum Erfahrungshintergrund jener Männer, die sich über die militärische Lauf­
bahn mit Gehlen verbunden fühlten und ab 1945 bis zum Ende der 1960er-Jahre
den Leitungskader der Org und des BND bildeten. Das Porträt Reinhard Gehlens
in seinem Dienst für die CIA und für Kanzler Adenauer wäre ohne diese militä­
rische Prägung und die Erfahrung der Niederlage von 1945 nicht verständlich.
Die Biografie folgt seinem Lebensweg überwiegend in breit angelegten
chronologischen Etappen. Sie ist keine episodenhafte Chronique scandaleuse,
sondern verfolgt die Absicht, die ganze Bandbreite seines Handelns und seiner
persönlichen Verantwortung erkennbar zu machen. Nur so wird ein differen­
ziertes Urteil ermöglicht. Der abschließende Essay zielt auf seinen Charakter,
Führungsstil und seine Weltanschauung ab, weil sich darin seine Erfahrungen
und Denkweisen widerspiegeln, die ihn mit der Kriegs- und Aufbaugeneration
verbinden, aber auch seine Individualität und das »Besondere« seines Lebens­
weges hervorheben. Das Interesse gilt einem früheren General der Wehrmacht,
der sich nach 1945 zunächst erfolgreich in der Politik behauptete und kräftige
Spuren in der Geschichte der frühen Bundesrepublik hinterlassen hat, obwohl
er von Anfang an eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Bonner Repu­
blik war. Ob er sich dabei tatsächlich zu einem »höchst gerissenen Hochstap­
ler, Glücksritter und Rufmörder« entwickelte, wird zu prüfen sein.19 Seine Bio­
grafie bietet jedenfalls einen einzigartigen Einblick in die verborgene Welt der
Geheimdienste.

19 Rainer Blasius: Anfänge des BND. Fadenkreuz, Feuerwerk, Futtertrog, Frankfurter Allge­
meine Zeitung vom 24.10.2016.

18
I. Der General
1. Familiengeheimnisse (1902-1919)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das Deutsche Kaiserreich in seiner
höchsten politischen und wirtschaftlichen Blüte. Alles schien darauf hinzu­
deuten, dass ihm auch künftig ein »Platz an der Sonne« gewiss sein würde.
Unter dem jungen Kaiser Wilhelm II. präsentierte sich das Reich als kraftstrot­
zende Großmacht mit globalen Ambitionen, selbstbewusst bis zur Arroganz.
Seine weltweit bewunderten technischen Innovationen sicherten ihm einen
Spitzenplatz in der Weltwirtschaft und damit einen steigenden Wohlstand sei­
ner wachsenden Bevölkerung. Das half, die Masse der Arbeiterschaft politisch
zu integrieren, deren sozialistisch orientierte Vertreter auf eine Demokratisie­
rung von Staat und Gesellschaft hofften. Monarchie und Adel spielten noch
eine zentrale Rolle, unterstützt von einem aufstrebenden, machtbewussten
Bürgertum, zu dem auch die Familie im thüringischen Erfurt gehörte, in die
Reinhard Gehlen am 3. April 1902 hineingeboren wurde.1
Die Familie Gehlen entstammte dem Geschlecht des Gaugrafen Johannes
Geylener (Gehlen), der im 15. Jahrhundert in Paderborn residierte.2 Für eine
gutbürgerliche Familie im wilhelminischen Kaiserreich befestigte ein solches
Wissen um die Herkunft das eigene Sozialprestige und prägte das Selbstver­
ständnis. Der Dienst für den Staat ist in der Familie auch für das 19. Jahrhun­
dert belegt. Franz Gehlen (1793 -1879) war zuletzt Kreisgerichtsrat in Warburg.
Sein ältester Sohn Reinhard Christopherus Gehlen (1832-1873) diente bei sei­
nem Vater als Referendar am Kreisgericht, wurde 1868 Mitglied der Königli­
chen Eisenbahndirektion der oberschlesischen Eisenbahn in Breslau und war
als Verwaltungschef während der deutschen Kriege 1866 und 1870 mit der
Organisation von Truppentransporten betraut. Der Großvater des späteren
BND-Chefs starb früh im Alter von 41 Jahren als Preußischer Regierungsrat
und Präsident der Eisenbahndirektion Saarbrücken.
Die Familie ruhte fest in ihrem sozialen Milieu. Die Ehefrau von Reinhard
Gehlen sen., Luise, geb. Wiede, Tochter eines Siegener Maschinenfabrikanten,
heiratete nach dem Tod ihres Ehemanns wieder einen nachmaligen Eisen­
bahndirektionspräsidenten und starb 1909 in Erfurt. Gemeinsam mit ihrem
ersten Ehemann hatte sie vier Kinder: Theodora, Natalie, Max und Walther.
Ihre älteste Tochter, Theodora, machte ihr Glück durch die Heirat mit Karl
von Rabenau (1845-1908), der als Secondelieutenant der Reserve bei der Feld­
artillerie am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 teilgenommen hatte. Der

1 Kopie der Urkunde in BStU, MfS, HA II, Nr. 41478, Blatt 16.
2 Information aus der Familienchronik derer von Rabenau. Für die Überlassung danke ich
Herrn Wolf-Teja von Rabenau, dem Vorsitzenden des Familienverbands.

21
studierte Jurist wurde Präsident der preußisch-hessischen Staatsbahn. Der
jüngste Sohn aus dieser Ehe war Friedrich von Rabenau, der spätere General
der Artillerie und Chef der Heeresarchive in der Wehrmacht.
Die zweite Tochter von Reinhard und Luise Gehlen – Natalie – heiratete
einen Geheimen Justizrat und lebte danach in Erfurt. Der älteste Sohn Max,
von ihm wird noch die Rede sein, wurde ebenfalls Jurist. Der jüngste Sohn war
Benno Erwin Felix Walther Gehlen. Da sein Vater bereits zwei Jahre nach der
Geburt starb, wuchs Walther vaterlos auf und war vermutlich stark auf seine
Mutter fixiert, was seine langjährige Neigung zu älteren, starken Frauen und
seinen ausgeprägten Familiensinn erklären mag.
Coblenz (heute Koblenz), Erfurt und Breslau waren Großstädte und Regie­
rungszentren, mit denen die Familie Gehlen verbunden gewesen ist. Reinhard
Gehlens Vater Walther kam in Coblenz am 24. Juli 1871 zur Welt, kurz nach
dem deutschen Sieg über Frankreich, und starb in Breslau wenige Tage nach
der katastrophalen deutschen Niederlage in Stalingrad. Die Daten kennzeich­
nen die historische Spannweite einer Generation, in die der spätere BND-
Präsident eingebunden war.
Walther Gehlen war der erste Berufsoffizier in der langen bürgerlichen
Familientradition. Dazu wurde er vermutlich auch ermutigt, weil das Geheime
Militärkabinett im März 1890 angeordnet hatte, den Kreis der offiziersfähigen
Familien zu erweitern. Der Adel der Gesinnung ergänzte den Adel der Geburt
und trug der zunehmenden Verbürgerlichung des Offizierskorps Rechnung.3
Die Wahl der Feldartillerie entsprach der damals üblichen Präferenz von Offi­
ziersbewerbern »gutbürgerlicher« Herkunft. Seit ihrer Entstehung im 16. Jahr­
hundert galt die Artillerie als eine bürgerliche Domäne. Im 19. Jahrhundert
schätzte man die (reitende) Feldartillerie als eine zumindest halbfeudale
Waffengattung. Die von den Offizieren selbst aufzubringenden Kosten waren
geringer als bei der Kavallerie, die das höchste Ansehen besaß. Aber wer als
Offizier bei der Feldartillerie diente, musste ein hervorragender Reiter sein
und gab sich deshalb gern im Familienkreis als Kavallerist aus. Auch Walther
Gehlen wurde später so gehandelt.
Seine militärische Karriere scheint allerdings nicht sonderlich erfolgreich
gewesen zu sein. Als der 30-jährige Oberleutnant beim 1. Thüringischen Feld­
artillerie-Regiment Nr. 19 in Erfurt4 am 8. Dezember 1900 heiratete, war die

3 Siehe Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Deutsche Militärgeschichte in sechs


Bänden 1648-1939, Bd. V, Herrsching 1983, S. 85-91.
4 Zur Formationsgeschichte siehe Hauptmann Forst: Geschichte des Königlich Preußi­
schen Thüringischen Feldartillerie-Regiments (FAR) Nr. 19, Berlin 1897 (verfasst von
einem Batteriechef des Regiments anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Regiments).
Gehlen ist dort als Secondelieutenant seit dem 17. Mai 1892 beim Regiment aufgeführt.

22
Beförderung zum Hauptmann eigentlich längst fällig. Immerhin war es ihm
gelungen, eine adlige Braut heimzuführen: Die aus flämischem Adelshaus
stammende Katharine (Käthi) von Vaernewyck – geboren am 19. Juni 1878 in
Bremen, gestorben am 1. März 1922 in Breslau – war entfernt verwandt mit
dem späteren General der Infanterie und Kommandeur der Schutztruppe für
Deutsch-Ostafrika im Ersten Weltkrieg, Paul von Lettow-Vorbeck.5
Eine größere Mitgift hatte Katharine vermutlich nicht vorzuweisen, denn
ihr Vater soll als Arzt durch die kostenlose Behandlung von Armen fast sein
gesamtes Vermögen aufgebraucht haben. Seine fürsorgliche und sozial enga­
gierte Haltung hat die Tochter sicher nicht unberührt gelassen. Zwar konnte
auch der Bräutigam nicht gerade als vermögend gelten, als Offizier aber gab
er eine standesgemäße Partie ab. So verwundert es nicht, dass ein Foto von
Walther Gehlen am Tag vor seiner Hochzeit einen eher jovial und entspannt
wirkenden königlichen Oberleutnant zeigt.
Aber es gab ein Problem: Die Braut war im sechsten Monat schwanger.
Nach den moralischen Prinzipien jener Zeit und Gesellschaftsschicht waren
solche Umstände nicht comme il faut, aber auch nicht unbedingt eine Kata­
strophe. Nach der Familienüberlieferung ist eine verzögerte Heiratsgeneh­
migung daran schuld gewesen. Als Offizier musste Walther Gehlen über den
Regimentskommandeur Oberst Fritsch die Genehmigung des Preußischen
Königs einholen. Das dauerte regulär nur vier Wochen und war im Falle Geh­
lens eigentlich bloß eine Formsache. Der Bräutigam war älter als 27 Jahre,
konnte sicher auch den Nachweis erbringen, eine Familie ernähren zu können,
die Braut stammte aus erwünschten Kreisen – und sollte »einen einwand­
freien Ruf genießen«.
Zwar hatte es vorehelichen Verkehr mit Folgen gegeben, was durch die Hei­
rat aber legitimiert werden konnte. Fragt sich nur, warum dies so spät geschah?
Schwer vorstellbar, dass die Braut und Arzttochter mehrere Monate gebraucht
haben sollte, um festzustellen, dass sie schwanger ist, und Walther Gehlen war
sicherlich kein Schwerenöter und skrupelloser Verführer, der erst durch lan­
ges Ringen zu seiner Verantwortung gezwungen werden musste. Gleichwohl
kam es zu der Verzögerung und das junge Paar gab sich zudem alle Mühe, den
Zustand der Braut zu verbergen, offenbar auch vor den eigenen Eltern. Ver­
mutlich hat der Oberleutnant bei seinem offiziellen Antrag auf Heiratsgeneh­
migung seinem Regimentskommandeur gegenüber falsche Angaben gemacht
und die Schwangerschaft verschwiegen.

5 Nach Angabe der Familie war der Bruder von Katharine mit Elisabeth von Lettow-Vor­
beck verheiratet, die eine Cousine des Generals gewesen ist.

23
Die Gründe sind bis heute unklar. Sogar von einem Halbbruder ist die Rede.6
Könnte es sein, dass Walther für einen anderen eingesprungen ist und die Ehe
arrangiert wurde? Vielleicht hat z. B. ein Regimentskamerad Käthi geschwän­
gert. Dass es allein eine romantische Liebesbeziehung zwischen Walther und
Katharine war, die beide zusammenführte, ist schwer vorstellbar angesichts
des Schicksals, das sie später ihrem erstgeborenen Sohn zufügten und von
dem noch ausführlich die Rede sein wird. Materielle Motive scheiden aus. Dass
die Braut außer ihrer adligen Herkunft nicht viel mehr in die Ehe einbrachte,
gereichte dem beruflich nicht sonderlich erfolgreichen Bräutigam auch kaum
zur Ehre. Ganz anders stand sein drei Jahre älterer Bruder Max – geboren am
31. August 1868 in Breslau, gestorben am 20. März 1931 in Leipzig – da, der sich
als promovierter Jurist am Beginn einer geschäftlich erfolgreichen Karriere
befand. Als frisch berufener Geschäftsführer des renommierten Leipziger Ver­
lagshauses Hirt & Sohn hatte er sich »ordentlich« verlobt und heiratete zehn
Monate später als Walther Margarete Ege, Tochter eines hoch angesehenen
Reichsgerichtsrats und Mitverfassers des Bürgerlichen Gesetzbuches. Neben
den Vorlieben für Jurisprudenz und dem Eisenbahnwesen wurde der Verlag
für die Familie Gehlen bald zum wirtschaftlichen Standbein. Davon profitierte
schließlich auch Walther.
Der von Ferdinand Hirt 1822 in Breslau gegründete Verlag hatte sich von
einer Sortimentsbuchhandlung für die »gelehrten und vornehmen Kreise« zu
einem Verlagsimperium entwickelt, in dem bald auch Jugendschriften, Land­
karten und Schulbücher eine herausragende Rolle spielten. Dem 1843 gebo­
renen Sohn und Erben Arnold Hirt stand seit Anfang 1900 mit Dr. Max Geh­
len ein Geschäftsführer zur Seite, unter dessen tatkräftiger und energischer
Leitung der alte Ruf der Firma aufrechterhalten werden konnte. Max Gehlen
wurde Mitinhaber und überführte einen Teil des Sortiments in einen eigenen
Leipziger Verlag.7

6 Siehe Matthias Ritzi und Erich Schmidt-Eenboom: Im Schatten des Dritten Reiches. Der
BND und sein Agent Richard Christmann, Berlin 2011, S. 121. Auch später im BND wurde
davon gesprochen. In einer biografischen Aufstellung des CIA ist davon die Rede, dass
Reinhard Gehlen einen Bruder, einen Halbbruder und zwei Stiefbrüder gehabt habe. In
einem Treffbericht der BND-Dienststelle in Rom, die bis Anfang der 1970er-Jahre Johannes
Gehlen geleitet hatte, hieß es am 31. Juli 1970, Johannes sei der »Halbbruder« von Rein­
hard Gehlen; BND-Archiv, 150544. Schmidt-Eenboom beharrt in einer kürzlich erschie­
nenen Darstellung darauf, dass Johannes zwar in nahezu allen Quellen als Halbbruder
Reinhards bezeichnet werde, was aber ein Irrtum sei: Christoph Franceschini, Thomas
Wegener Friis und Erich Schmidt-Eenboom: Spionage unter Freunden. Partnerdienstbe­
ziehungen und Westaufklärung der Organisation Gehlen und des BND, Berlin 2017, S. 53.
7 Der Verlag Dr. Max Gehlen ging nach 1945 nach Bad Homburg und ist dort noch heute im
Schulbuchbereich tätig.

24
Zurück zu Walther und Katharine, die der Familie in der Vorweihnachtszeit
des Jahres 1900 eine heile Welt vorspielten, obwohl sich hinter der Kulisse eine
mittlere private Katastrophe entwickelte. Das frischgebackene Ehepaar unter­
nahm über den Jahreswechsel eine Hochzeitsreise nach Rom. Dort fand die
heimliche Entbindung am 15. März 1901 statt, nachdem Walther bei seinem
Regiment eine Verlängerung des Heiratsurlaubs erbeten hatte. Der erstgebo­
rene Sohn erhielt den Namen Johannes (1901-1986), ebenfalls ein Abweichen
von der »Norm«. Erst ein Jahr später wurde der offiziell »erstgeborene« Rein­
hard mit dem Namen des Großvaters versehen und in der Militär-Kirche evan­
gelisch getauft.8 Der zweite (eigentlich dritte) Sohn erhielt dann den Namen des
Vaters: Walther (geb. 1905). Es kam später noch die Tochter Barbara (geb. 1912)
hinzu.
Der heimlich im katholischen Rom zur Welt gebrachte Sohn des protestan­
tisch-preußischen Offiziers wurde evangelisch getauft, sofort einer deutsch­
jüdischen Pflegefamilie übergeben, samt einer ordentlichen finanziellen Aus­
stattung.9 Mit einer verspäteten Heiratsgenehmigung und der Sorge vor dem
»Gerede der Leute« ist dieses Verhalten gegenüber dem Erstgeborenen kaum
verständlich zu erklären. Denn die Lüge fand eine merkwürdige Fortsetzung,
die dem tradierten Bild einer liebevollen, fürsorglichen Familie des Oberleut­
nants Walther Gehlen nur bedingt entspricht.
Anna Baum, eine gute Bekannte von Käthi, Zahnärztin, verheiratet mit einem
Gynäkologen, nahm den kleinen Johannes als Ersatz für den unerfüllt gebliebe­
nen eigenen Kinderwunsch zu sich. Er wuchs in den nächsten zwei Jahrzehnten
als ihr Sohn auf und besuchte, mit heimlichen Zuwendungen aus Breslau, die
Deutsche Schule in Rom bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Dann – sicher
wegen des deutsch-italienischen Kriegszustands – folgten Schuljahre und die
Reifeprüfung im schweizerischen Schiers im Kanton Graubünden. Im Gegen­
satz zu seinem jüngeren Bruder Reinhard, der ein humanistisches Gymnasium
in Breslau besuchte (Latein/Griechisch mit etwas Französischkenntnissen),
besaß Johannes ein außergewöhnliches Sprachtalent (Französisch, Englisch,
Italienisch perfekt, später Schwedisch sehr gut sowie gute Kenntnisse in Spa­
nisch, Dänisch und Norwegisch). 1919 trat er als Bankangestellter in die römi­
sche Filiale der Barclays Bank ein und entschloss sich, parallel dazu ein Stu­
dium der Handels- und Wirtschaftswissenschaften in Rom zu beginnen.
Als er sich für die Immatrikulation eine Geburtsurkunde besorgen wollte,
stellte man fest, dass es für das angegebene Geburtsdatum keinen Eintrag für

8 Kopie der Urkunde in BStU, MfS, ZAIG, Nr. 11438, Blatt 182.
9 Zum Werdegang von Johannes siehe auch die Aussagen seiner Tochter 2002 vor einem
römischen Gericht, in: Franceschini/Wegener Friis/Schmidt-Eenboom, Spionage, S. 53 – 58.

25
einen Johannes Baum, wohl aber für einen Johannes Gehlen gab. Zur Rede
gestellt, gab Anna Baum ihrem Sohn gegenüber zu, dass er ein angenomme­
nes Kind war. Johannes setzte daraufhin alles daran, seine leiblichen Eltern in
Breslau kennenzulernen. In der Odermetropole angelangt, begegnete er sei­
nem Vater Walther zum ersten Mal. Der fing Johannes am Bahnhof ab, um
ihm zu erklären, dass er ihn »zu Hause« nicht als Sohn vorstellen könne. Es
gebe noch die achtjährige Schwester Barbara, die das nicht verstehen würde.
Deshalb werde er ihn als römischen Vetter präsentieren. Genau betrachtet
war das eine merkwürdige Erklärung, denn wenn auf diese Weise die kleine
Schwester in ihrem Glauben an die Enthaltsamkeit bis zur Hochzeitsnacht
(auch ihrer Eltern) nicht erschüttert werden sollte, stellte sich bei jedem neu­
gierigen Familienmitglied doch die Frage nach der Abstammung des ominö­
sen Vetters. Es gab ja keinen Onkel in Rom. Johannes haderte sehr mit seinen
Eltern, vor allem mit dem Vater, wie es heißt, und kehrte bald nach Rom zu
seiner geliebten »Mama Baum« zurück, die bis zu ihrem Tod 1939 in der ita­
lienischen Hauptstadt lebte. Mehr als zwei Jahrzehnte blieb er in Breslau der
»römische Vetter«.
Johannes stürzte sich in Rom mit Feuereifer in das Studium. Am Ende hatte
er mehrere Doktortitel erworben. Den ersten in Bankwissenschaften. Da er
tagsüber in der Bank arbeitete, blieb für das Lernen nicht viel Zeit. Was Fleiß
betrifft, so stand er zu dieser Zeit seinem jüngeren Bruder Reinhard offen­
bar nicht nach. 1928 wurde Johannes Prokurist, Reinhard war Oberleutnant.
Ein Jahr später lernte Johannes die Schwedin Agda Torborg Paulson, gebo­
ren am 24. April 1908 in Norrköping, kennen. Sie heirateten am 18. Mai 1933
in Rom, nicht in Breslau. Sein Bruder Reinhard, inzwischen auf der Kriegs­
akademie, reiste mit seiner jungen Ehefrau an. Johannes wollte unbedingt
weiterstudieren. Eine kleine Erbschaft seiner Frau gab ihm die Möglichkeit,
den Bankdienst zu quittieren und 1935 ein Zweitstudium in Mathematik und
Physik in Leipzig zu beginnen. Er promovierte in beiden Fächern und wurde
1940 Assistent an der Universität Leipzig bei dem Nobelpreisträger Werner
Heisenberg (1901-1976), für den er angeblich einige Publikationen vorberei­
tete. 1942 ging Johannes Gehlen als außerordentlicher Assistent ans Kaiser-
Wilhelm-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg. Anfangs unab­
kömmlich gestellt, erhielt er in den letzten Kriegstagen noch die Einberufung
zum Volkssturm. Nach Kriegsende gelangte er mithilfe seines Bruders zurück
nach Rom und erhielt einen Posten im Außenamt des Malteserordens, was
zahlreiche Auslandsreisen als Tarnung für die Tätigkeit im Auftrag der Orga­
nisation Gehlen (kurz Org genannt) ermöglichte.10 Erst 1947 soll Reinhard

10 Aus dem Lebenslauf vom Februar 1953 für das Kanzleramt, BND-Archiv, 1110, S. 405.

26
Gehlen seinen eigenen Kindern Johannes als seinen Bruder vorgestellt haben,
obwohl sich dieser schon seit mehr als einem Jahrzehnt wieder in Deutsch­
land befand.11
War es wirklich Rheuma, was den königlichen Oberleutnant Walther Geh­
len 1903 dazu zwang, die Uniform an den Nagel zu hängen? Reinhard, der
legitime Sohn, blieb zeitlebens bei der offiziellen Version, sein Vater habe aus
gesundheitlichen Gründen den Abschied nehmen müssen, auch wenn es ihm
sehr schwergefallen sei.12 Die medizinische Begründung (chronischer Gelenk­
rheumatismus) kann natürlich stimmen, aber auch die dem Sohn vertraute
offizielle Formel gewesen sein, die man bei einem arrangierten Abschied vom
Militär benutzte. Der Rekurs auf die angeschlagene Gesundheit kann jedenfalls
nicht recht überzeugen, denn Walther Gehlen, ein leidenschaftlicher Reiter,
leitete danach noch in Breslau die Reitausbildung der Reserveoffiziere und
übernahm als Offizier im »Beurlaubtenstand« eine Reihe anderer militäri­
scher Pflichten, neben seiner zivilen Tätigkeit. Schließlich diente er als Offizier
vier Jahre lang im Ersten Weltkrieg.
Völlig abwegig ist auch die Spekulation, der Oberleutnant Walther Gehlen
habe das Interesse am Offiziersberuf verloren. Sein Bruder Max habe dann
»dem müden Artilleristen den Weg ins Buchgeschäft« geebnet.13 Sein Sohn
erlebte dagegen immer wieder, wie der Vater mit großer Trauer seiner Regi­
mentszeit nachhing.
Ob die Braut tatsächlich von einem anderen schwanger gewesen ist, lässt
sich heute nicht mehr klären. Es heißt, dass sich Reinhard und Johannes sehr
ähnlich gesehen hätten, was spätere Fotos andeuten. Ihrem Wesen nach sind
sie aber doch sehr unterschiedlich gewesen: Reinhard, geprägt von der Mili­
tärakademie, wurde als Familienoberhaupt auch von dem älteren Johannes
anerkannt, den Reinhard wegen seiner italienischen Lebensart beneidete, die
sich der Chef des BND nicht erlauben konnte.
Vielleicht hat Walther Gehlen aber auch nur schlicht von seinen berufli­
chen Fähigkeiten her nicht die Voraussetzungen für den längst anstehenden
nächsthöheren Dienstgrad erfüllt. Das hätte ebenfalls zur Entlassung füh­
ren können. Jedenfalls hat er ein Jahr nach der Geburt von Reinhard seinen
Abschied genommen. In der Rangliste wurde er bereits 1903 als Reserveoffizier
geführt, zugewiesen der 2. Landwehr-Division, zunächst in Bitterfeld, dann ab
1904 in Halle an der Saale. Walther Gehlen arbeitete dort vermutlich in einer

11 Schreiben der Familie vom 4.12.2014, S. 1.


12 So von Reinhard Gehlen oft berichtet, u. a. in der Artikelserie der IIIustrierten Quick;
siehe Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, in: Quick 42/1971, S. 20.
13 So bei Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 22 (ohne Beleg).

27
Im Haus Königsplatz 1 (Bildmitte) wohnte die Familie Gehlen; im Erdgeschoss befanden
sich die Räume des Hirt-Verlages; historische Postkarte um 1900

Ein Programmschwerpunkt des Hirt-


Verlages waren Schulbücher;
Titelseite einer Veröffentlichung aus
dem Jahr 1904

28
Filiale des Ferdinand-Hirt-Verlags, bevor er als Verlagsdirektor und Mitinhaber
den Schulbuch-Verlag Ferdinand Hirt in Breslau übernahm. Die Familie zählte
dort zu den »streng soliden Patrizierhäusern der alten Odermetropole« und
bewohnte das »hochherrschaftliche« Haus Königsplatz 1, in dessen Räumen
im Erdgeschoss die Filiale des Verlags untergebracht war.
1904 erhielt der zweijährige Reinhard einen Cousin Arnold (1904-1976),
der ein bedeutender deutscher Philosoph und Soziologe werden sollte.14
Arnold war der Sohn des Verlegers Max Gehlen. Arnold Gehlen heiratete am
7. Juli 1937 in Pasing Veronika Reichsfreiin von Wolff. Ihre Tochter Caroline
Gehlen kam ein Jahr später, am 5. Juli 1938, im ostpreußischen Königsberg zur
Welt. Reinhard blieb Breslau und Schlesien verbunden, sein Vetter Arnold sei­
nem Geburtsort Leipzig. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler studierte
Arnold zwischen 1924 und 1927 in Leipzig und Köln, während sein Vetter Rein­
hard seine Leutnantszeit im schlesischen Schweidnitz verbrachte. Arnold Geh­
len trat als Privatdozent für Philosophie der NSDAP bei und gehörte zu den
Unterzeichnern des »Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Uni­
versitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen
Staat«.15 Dass zahlreiche Professoren aus politischen und rassischen Gründen
an den Universitäten entlassen wurden, beförderte seine eigene akademische
Laufbahn. Seine philosophische Anthropologie blieb allerdings frei von Anti­
semitismus. Er gehörte zu jenen Rechtsintellektuellen, die nach anfänglicher
Nähe nach 1933 von der offenen Unterstützung des Nationalsozialismus wie­
der abrückten, »abgestoßen vom plebejischen Habitus« und enttäuscht vom
Mittelmaß seiner »geistigen« Repräsentanten.16
Der Wissenschaftler Johannes Gehlen war mit Arnold gut und eng befreun­
det. Man traf sich später öfters in Rom. Ob sich der Offizier Reinhard Gehlen
ausführlich mit dem Werk seines Vetters beschäftigt hat, ist nicht bekannt.
Seine eigenen Neigungen gingen jedenfalls nicht in diese Richtung, wenngleich
man Anklänge an die Philosophie Arnold Gehlens in seiner Lebenseinstellung
durchaus erkennen kann. Dessen These vom Menschen als einem »Mängel­
wesen«, der starker Institutionen wie Familie, Kirche und Staat bedürfe, war
Reinhard Gehlen zeitlebens einsichtig. Als »historisch gewachsene Wirklich­
keiten« sind Institutionen nach Arnold Gehlens Verständnis eine selbststän­
dige »Macht, die ihre eigenen Gesetze wiederum bis in ihr Herz hinein geltend
macht«. Der Mensch müsse sich als geschichtliches Wesen von den Institutio­

14 Siehe Karlheinz Weissmann: Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus, Bad Vil­
bel 2000.
15 Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 22005, S. 176.
16 Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, München 2000, S. 45.

29
nen »konsumieren lassen«.17 Als Arnold 1940 sein Hauptwerk »Der Mensch,
seine Natur und seine Stellung in der Welt« veröffentlichte,18 bereitete Rein­
hard den Überfall auf die UdSSR vor. Im Oktober 1941, als Arnold zur Wehr­
macht einberufen wurde, konnte der Vetter im Oberkommando des Heeres
womöglich helfen. Arnold Gehlen erhielt jedenfalls einen ruhigen Etappenpos­
ten als Kriegsverwaltungsrat in der Personalprüfstelle des Heerespsychologi­
schen Amtes im schönen Prag. Reinhard verschaffte seinem Vetter noch im
August 1944 den Auftrag zu einer kriegswichtigen gemeinsamen Ȇbersicht
über höhere militärische Führer der Roten Armee«,19 konnte dann aber doch
nicht verhindern, dass Arnold in den letzten Kriegstagen seinen Verwaltungs­
posten in Prag verlor und als Leutnant schwer verwundet wurde.
Reinhard Gehlens Erinnerungen an die Kindheit in Erfurt beschränkten
sich, abgesehen von einzelnen späteren Besuchen, auf das Haus der Großmut­
ter, bei der die jungen Eltern einige Jahre wohnten. Großmutter Luise starb
1909. Als Dreijähriger sei er dort einmal eine Kellertreppe hinuntergefallen,
was helle Aufregung bei der ganzen Familie ausgelöst habe.
Auch ein ähnliches Erlebnis, das seine Eltern schockierte, war ihm noch
mehr als sechs Jahrzehnte später in allen Einzelheiten im Gedächtnis. An
einem Herbsttag des Jahres 1905, als Vater Walther und Mutter Katharine am
gedeckten Mittagstisch auf den dreieinhalbjährigen Reinhard warteten, ließ
dieser zwei Stunden auf sich warten.20 Reinhard war kurz vor dem Mittagessen
aus der Wohnung weggelaufen zu dem zwei Stockwerke höher lebenden Haus­
wirt, den er sehr mochte. Das war ein alter Herr, der für die Kinder des Miets­
hauses immer eine lustige Geschichte parat hatte und – das war die besondere
Attraktion – einen großen Musikschrank besaß, wie er um die Jahrhundert­
wende in vielen Haushalten stand: ein Ungetüm aus Mahagoni mit riesigen
durchlöcherten Messingplatten. Gehlen erzählte einem Freund:

Damals, als meine Eltern mit dem Essen auf mich warteten, was ich natür­
lich schon vergessen hatte als ich die Wohnungstür hinter mir schloß, ver­
suchte ich mich an dem Musikschrank hochzuhangeln. Und dann passierte

17 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Wiesbaden 51986, S. 8. Siehe auch Patrick
Wöhrle: Metamorphosen des Mängelwesens. Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens,
Frankfurt a. M. 2010.
18 Arnold Gehlen: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.
19 Reinhard Gehlen und Arnold Gehlen: Übersicht über höhere militärische Führer der
Roten Armee, Stand August 1944, o. O., zit. nach: Steffen Dietzsch und Wilfried Lehrke:
Zur Politischen Theologie des Kommunismus. Konstantin Paustowski und die falsche
Schuld, in: »Der Mensch, das ist die Welt des Menschen ...«. Eine Diskussion über die
menschliche Natur, hg. von Hanns-Werner Heister und Lars Lambrecht, Berlin 2013, S. 79.
20 Vgl. für das Folgende Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, in: Quick 42/1971, S. 20.

30
es: Der Schrank kippte um, stürzte auf mich, und nur durch einen glücklichen
Umstand kam ich heil davon. Der Musikschrank war vorn durch eine Glastür
verschlossen, die zwar zerbrach, aber in dem Hohlraum dahinter blieb ich
unverletzt, obwohl der Schrank nun über mir lag.

Der erschrockene Hauswirt brachte Reinhard zu den Eltern hinunter. Der


Vater nahm ihn wortlos in Empfang. Und dann erhielt der Junge eine ordent­
liche Tracht Prügel.

Mein Vater stand auf dem Standpunkt, daß jedes Kind einmal im Leben –
natürlich nur aus wirklich berechtigtem und schwerwiegendem Anlaß –
gründlich Prügel kriegen mußte, aber nur einmal, damit dieser Fall fest im
Gedächtnis haftete.

Bei Reinhard hatte es die erwünschte Wirkung: Die Lektion behielt er zeitle­
bens. Man sagte ihm später nach, dass er persönliche Konfrontationen scheute
und nur im äußersten Notfall heftig werden konnte, wenn Gehorsam nicht mit
guten Worten zu erreichen war.
Walther Gehlen hatte den stärksten Einfluss auf die Erziehung seines
Sohnes, für den freilich die Mutter das warmherzigste Wesen war, das ihm
jemals begegnet ist, wie er beteuerte. Für ihre Kinder habe sie alles Verständ­
nis gehabt und sie mit Liebe zu nehmen gewusst. Ihr Erstgeborener in Rom
scheint davon ausgenommen gewesen zu sein. Von Reinhard ist keine Äuße­
rung über diese Grausamkeit überliefert. Dass er sich später immer wieder
um seinen älteren Bruder gekümmert hat, spricht jedoch dafür, dass er das
Unrecht durchaus empfunden hat, aber offenbar nicht die Mutter dafür ver­
antwortlich machte.
An der familiären Mittagstafel bezogen die Eltern ihre Kinder auch in
Gespräche über allgemeine politische Fragen ein. Dabei handelte es sich häu­
fig um Pflichten des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat. Die Pflichterfül­
lung sollte in erster Linie nicht dem Monarchen, sondern dem Staat gelten.
Der Vater hob die Auffassung des älteren Moltke hervor, dass ein Armeeführer
nicht nur seinem Vorgesetzten gegenüber, sondern dem ganzen Volke gegen­
über die Verantwortung für seine Handlungsweise trage – eine Maxime, die
Gehlen drei Jahrzehnte später im Zweiten Weltkrieg auf seine ganz persönliche
Weise interpretierte.
In der wöchentlichen Tafelrunde mit Freunden und Geschäftspartnern
bekam der junge Reinhard viel von der Lebensphilosophie seines Vaters mit.
Nach seiner Erinnerung sei der Vater zwar konservativ gewesen, aber dem
Fortschritt gegenüber aufgeschlossen. Sein Vorbild war in dieser Hinsicht
Friedrich der Große, der sich als erster Diener seines Staates bezeichnet hatte

31
(Gehlen residierte später in seinem Dienstzimmer unter einem Bild von der
Totenmaske des Preußenkönigs). Gehlen erinnerte sich:

Mein Vater unterstrich nicht selten, daß ein richtig verstandener Konserva­
tismus und die Auffassungen der Sozialdemokratie im Grunde verhältnis-
mäßig nah beieinander wohnten. So hatte mein Vater damals auch einzelne
Freunde, die der Sozialdemokratischen Partei angehörten und denen ich in
meinem Elternhaus auch oft begegnet bin. Es gab dann öfters Streitgesprä­
che, die aber in durchaus freundschaftlichem Geiste geführt wurden. Ich
habe später noch sehr oft wehmütig an diese Tatsache zurückgedacht. Denn
wie oft mußte ich in den zwanziger Jahren, geschweige denn in der Zeit des
sogenannten Dritten Reiches, aber auch in der Nachkriegszeit erleben, daß
politische Gegnerschaft bei uns Deutschen sehr oft in persönliche Feind­
schaft ausartet.21

Sein Vater sei ein lebenskluger Mann gewesen, der an die Notwendigkeit einer
klaren Autorität glaubte, die im Staat dem Bürger die nötige Gedankenfreiheit
lässt und in der Familie nicht in verständnislose Strenge ausartet, sondern die
Eigenarten der Kinder berücksichtigt. Das Geheimnis seiner Erziehung sei
es gewesen, dass er konsequent, aber sensibel handelte. Er habe die Kinder
beim Gedankenaustausch immer als gleichberechtigte, wenn auch noch nicht
fertige Mitmenschen gesehen. Man habe natürlich Streiche verübt und Unfug
gemacht, aber es sei nie zu ernsthaften Spannungen mit den Eltern gekom­
men, sofern es sich nicht um Boshaftigkeit handelte. Der Begriff »anständige
Gesinnung« sollte für Gehlens späteres Leben eine Schlüsselrolle spielen,
wenngleich in seiner ganz individuellen Auslegung.
Seine Eltern, so erinnerte sich Gehlen später, hätten versucht, die Kinder
zu Idealisten zu erziehen. Geld und materielle Güter, so lehrten sie, seien zwar
als Lebensgrundlagen notwendig, dürften aber nicht als lebensentscheidend
gewertet werden. Notfalls müsse man auf sie zugunsten seiner Ideale verzich­
ten. Auch hier fand Gehlen Anlehnung an ein positiv verstandenes Preußen­
tum. Ihn fesselte die Gestalt Friedrichs des Großen, wie sie damals allerorten
popularisiert wurde: moderne Staatsauffassung, gewisse Pressefreiheit, geord­
nete Staatsverwaltung. Friedrich als Soldatenkönig kam ihm näher, als er vor

21 Ebd. Hierbei ist natürlich zu berücksichtigen, dass Gehlen bei der Anfertigung seiner
Memoiren offenbar Wert darauf gelegt hat, zu betonen, dass er kein grundsätzlicher
Gegner der SPD sei und in der Nachkriegszeit eng mit führenden Sozialdemokraten
zusammengearbeitet habe. Das hatte sich nach seinem Eindruck durch die Brandt-
Regierung und die Durchdringung der Führung des BND mit Sozialdemokraten grund­
legend geändert.

32
Jahrhunderthalle in Breslau; historische Postkarte von 1915

dem Ersten Weltkrieg – wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Wechsel


auf das Gymnasium – als Zehnjähriger in den konservativen »Jungdeutsch­
landbund« eintrat. Hier erlebte er eine Art von Pfadfindergemeinschaft. Jedes
Wochenende erwanderte man die Natur, übernachtete in Zelten und bereitete
das Essen in Kochgräben zu. Das zusammen dürfte den späteren Entschluss
gefördert haben, Soldat werden zu wollen, nicht aus einem kriegerischen Geist
heraus, sondern aus der Auffassung, dass man in diesem Beruf Staat und Volk
am besten dienen könne. Eine solche Haltung fand sich auch in »Preußens
Heer – Preußens Ehr! Militär- und kulturgeschichtliche Bilder aus drei Jahr­
hunderten«, vier populären Bänden von Oskar Höcker, die um 1910 bereits in
der 9. Auflage vom väterlichen Hirt-Verlag verkauft wurden. In diesem Zusam­
menhang sind auch die Feierlichkeiten in Breslau 1913 zu sehen, die anläss­
lich des 100. Jahrestags der Befreiungskriege stattfanden und bei denen mit
großem Aufwand eine prächtige Ausstellungshalle eingeweiht wurde, die noch
heute das Stadtbild prägt. Der preußische Kronprinz als Schirmherr eröffnete
zugleich eine großartige historische Ausstellung, die Preußens kriegerischen
Ruhm und den Sieg gegen Napoleon gebührend feierte.22 Das wird auf den
damals Elfjährigen nicht ohne Eindruck geblieben sein.

22 Siehe Die Historische Ausstellung zur Jahrhundertfeier der Freiheitskriege Breslau 1913
(Katalog), hg. von Karl Masner und Erwin Hintze, Breslau 1916.

33
Reinhard Gehlen besuchte zunächst die Volksschule und wechselte 1912
in das renommierte König-Wilhelm-Gymnasium in Breslau. Seine Schulzeit
blieb ihm als eine gute Zeit in Erinnerung.23 Das Lernen fiel ihm offenbar nicht
schwer. Auf die Lehrer verstand er sich einzustellen. Nicht auszuschließen, dass
er aus ihrer Sicht sogar zeitweilig ein Musterschüler gewesen ist. Er galt als
überdurchschnittlich begabt und fleißig. Oft war er bei der Zeugnisvergabe der
Klassenbeste, mit Ausnahme des Schuljahres 1914/15, was besondere Gründe
hatte, über die noch zu sprechen sein wird. Schulbücher waren für den Pennäler
Reinhard Gehlen von Hause aus vertraut, für die Familie ein sicheres Geschäft,
die geistig-politische Nähe zum Staat zwar selbstverständlich, nicht jedoch die
zu rechtsextremistischen Zirkeln wie den Alldeutschen. Obwohl er in Breslau
aufgewachsen ist, einer alten Universitätsstadt, einem geistigen Zentrum, das
Strömungen aus ganz Europa in sich vereinte24 und in dem der Hirt-Verlag sei­
nes Vaters eine herausragende Rolle in einem vielfältigen Verlags- und Biblio­
thekswesen spielte, hat Reinhard Gehlen wenig Zugang zu den geistig-kulturel­
len Schätzen gefunden. Er ist zeitlebens kein »Bücherwurm« gewesen, der sich
in schöngeistiger oder philosophischer Literatur vergraben hätte.
Ein besonders gutes Verhältnis hatte er als Schüler zu seinem Lateinlehrer
Sylvius Kreuzwendedich von Monsterberg-Münkenach, von den Schülern in
Analogie zu Mons »Berg« genannt. Gehlens Faible für Logik und Systematik
mag von dieser Seite angeregt worden sein. Dass ihm der Name des Latein­
lehrers in Erinnerung blieb, hängt wohl mit der auffälligen Namensgebung
zusammen. Vielleicht war er auch ein schrulliger Lehrer, wie man ihn aus
vielen Erzählungen kennt. In dieser Begegnung lag aber zugleich auch eine
besondere Symbolik. Kreuzwendedich war ein schon damals selten gebrauch­
ter männlicher Vorname für Kinder, deren ältere Geschwister zuvor gestorben
waren. Traf das nicht in gewisser Weise auch für den Schüler Reinhard zu, der
nicht wusste, dass es einen älteren Bruder in Rom gab, der für die Breslauer
Familie gleichsam nicht mehr existierte? Mit Mathematik und speziell Arith­
metik beschäftigte er sich am liebsten, was dem späteren Artilleristen zugute­

23 Für die Schulzeit von Reinhard Gehlen sind neben seinen eigenen Erinnerungen Auf­
zeichnungen von Herbert Urban, einem Klassenkameraden, erhalten, der mit ihm
von der Sexta bis zur Oberprima zusammen gewesen ist; Herbert Urban: General a. D.
Reinhard Gehlen, o.O. o.J. [ca. 1970]. Die kurze Aufzeichnung bildete die Grundlage für
die Darstellung bei Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 22. Außerdem gab es einen wei­
teren, namentlich nicht bekannten Klassenkameraden, der später für die Quick-Serie
Auskünfte erteilte. Und schließlich ist der bislang unbekannte spätere Briefwechsel mit
seinem jüdischen Mitschüler Theodor Eckstein überliefert; Stadtarchiv Haifa, Nachlass
Even-Pinnah, 1450.
24 Siehe umfassend Klaus Garber: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metro­
pole, Köln 2014.

34
kam. Aber auch Altgriechisch hat ihn fasziniert. Die Schulferien verbrachte die
Familie zumeist in Eisenach bei einem Bruder der Großmutter. Dessen Haus
lag in der Nähe der Wartburg in einer idyllischen Landschaft. Reinhard und
sein Vetter Arnold planten fleißig Geländespiele und organisierten z. B. zwi­
schen der Eisenacher Burg und Breitengescheid eine Blinkverbindung unter
Verwendung von Morsezeichen.
Im August 1914 wurde Walther Gehlen im Alter von 43 Jahren reaktiviert
und als Adjutant der 22. Schlesischen Landwehr-Brigade eingesetzt.25 Sie
gehörte zum Landwehrkorps Schlesiens, das Generalfeldmarschall Remus von
Woyrsch führte, der als ein alter, allseitig beliebter Herr galt. Sein Stabschef
war der damalige Oberst i. G. Wilhelm Heye, später Chef der Heeresleitung und
darin Nachfolger Hans von Seeckts. Gehlen machte zehn Jahre danach als jun­
ger Oberleutnant über seinen Vater die nähere Bekanntschaft Heyes.
Die Familie befand sich 1914 in den Sommerferien wieder in Eisenach. Als
der Vater die Mobilmachungsorder erhielt, verließ er sofort die Familie. Das
schlesische Landwehrkorps drang bis zur Weichsel vor und deckte dann in
einer dreitägigen schweren Schlacht bei Tarnawka den Rückzug der verbün­
deten Österreicher. Ein Vierteljahrhundert später betrat Reinhard Gehlen als
Stabschef einer Landwehrdivision das Schlachtfeld, auf dem sein Vater als
Adjutant gedient hatte. 1914 blieb die besorgte Mutter Katharine mit den Kin­
dern noch für einige Wochen in Eisenach. Der zwölfjährige Reinhard betätigte
sich als Helfer beim Roten Kreuz.
Nach der Rückkehr gab es Schwierigkeiten in der Schule. Der Gymnasial­
professor eröffnete dem Jungen, dass seine Versetzung im Frühjahr 1915
gefährdet sei, weil er so lange gefehlt und auch sonst keine besonderen Leis­
tungen gezeigt habe. Es drohte Reinhard der erste Rückschlag seines Lebens,
und das in einem Augenblick, in dem der Vater an der Front war. Ihn wollte
und durfte er nicht enttäuschen. Jeden Morgen um sechs Uhr stand er nun
auf, arbeitete vor dem Frühstück eine Stunde und hielt sich strikt an einen
täglichen Stundenplan, der den ganzen Tag ausfüllte, bis zum Abendessen.
Gehlen meinte später als Pensionär, er habe selten in seinem Leben so inten­
siv gearbeitet wie in dieser Zeit und sich zum Ziel gesetzt, Lücken zu schlie­
ßen und Versäumtes nachzuholen. Sein schwächstes Fach sei Französisch

25 Nach Ehren-Rangliste des ehemaligen deutschen Heeres 1914-1918, Berlin 1926, S. 721:
Major Gehlen – FAR 19, seinem alten Regiment – gehörte zum Schluss zum Stab der
Etappen-Inspektion der 18. Armee an (diese wurde im Dezember 1917 aufgestellt für die
Frühjahrsoffensive »Michael« 1918), im Zweiten Weltkrieg dann noch einmal reaktiviert
als Major z. V., zuletzt wohnhaft in der Hohenzollernstraße 25. Er wird dort beim Stand­
ortkommando tätig gewesen sein. Walter Gehlen hat also auch als Reserveoffizier keine
herausragende Karriere gemacht.

35
Der Gymnasiast Reinhard Gehlen, ca. 1918

gewesen, wo ihm eine Fünf drohte. Nach den Herbstferien bekam er erstmals
für eine Französischarbeit die Note »gut«, zugleich eine Verwarnung wegen
Abschreibens, weil es nach der Ansicht des Lehrers unmöglich sei, dass er in
den dreiwöchigen Ferien so viel gelernt haben könnte. Bei der nächsten Arbeit
habe er am Katheder Platz nehmen müssen, sodass sich kein Mitschüler in
der Nähe befand, der ihm hätte helfen können. Diese Arbeit ergab wieder ein
»gut«, die nicht mehr angezweifelt werden konnte. Das war der Anfang, seine
schulischen Leistungen verbesserten sich in allen Fächern, was ihm im Früh­
jahr doch die Versetzung einbrachte.26
Reinhard wurde nicht nur versetzt, sondern rückte auch zu den Besten
seiner Klasse auf. Ein namentlich nicht bekannter Freund erinnerte sich spä­
ter, Gehlen habe damals die Erfahrung gemacht, dass sorgfältig geplante und
intensive Arbeit zum Erfolg führt – das sei für sein weiteres Leben entschei­
dend gewesen. Seine Lehrer hätten einen scharfen, analytischen Verstand bei
ihm entdeckt und seine Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften
gefördert. Sie sagten ihm sogar eine glänzende Karriere als Akademiker vor­

26 Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, Quick 42/1971, S. 22.

36
In der Schweidnitzer Vorstadt verbrachte Reinhard Gehlen einen Großteil seiner Jugend;
Stadtplan von Breslau, 1909 (Ausschnitt)

aus.27 Er sei in allen Fächern dank einer gewissenhaften, gründlichen Arbeit


»so im Bilde« gewesen, dass er in den höheren Klassen, als ein großer Teil des
Stoffs wiederholt und vertieft wurde, nur verhältnismäßig wenig zu arbeiten
hatte. Damit konnte er sich anderen »erfreulichen Dingen des Lebens wid­
men«, wie der ersten Tanzstunde, dem Sport und Reiten.
Bis 1911 ging Reinhard gewöhnlich mit einem jüdischen Klassenkamera­
den, der in der Nähe wohnte, von der Schule nach Hause. Der Weg führte durch
die Siebenhufener Straße, dann am Stadtgraben entlang. Theodor Eckstein
wohnte damals in der Reuschestraße 51 und hatte, nachdem sich Reinhard
gewöhnlich am Bismarck-Brunnen verabschiedete, noch ein kleines Stück wei­
ter zu gehen.28
Theodor Eckstein hatte im Alter von sechs Jahren seinen Vater verloren.
Seine mittellose Mutter scheute keine Arbeit, »um ihren beiden Kindern eine

27 Ebd., S. 13.
28 Erster Kontaktbrief Ecksteins mit Gehlen vom 14.12.1971, Stadtarchiv Haifa, Nachlass
Even-Pinnah, 1433. Einen Eindruck von den Lebensverhältnissen in Gehlens Umgebung
am Breslauer Königsplatz bietet ein Roman über zwei bürgerliche Familien in der Wei­
marer Republik; siehe Andreas Kühn: Königsplatz 7a, Berlin 2013.

37
gute Erziehung und Bildung zu teil werden zu lassen«, was der gut situierte
Mitschüler Reinhard sehr bewunderte.29 Die Kinderfreundschaft endete damit,
dass Eckstein nach der Untertertia aus finanziellen Gründen auf eine andere
Schule wechselte. Er arbeitete später im Buchhandel, begann 1928 ein Studium
der Mathematik und Physik an der Breslauer Universität, das er unterbrechen
musste, um als Lehrer an einer Höheren Privatschule in Breslau seinen Lebens­
unterhalt zu sichern. 1933 emigrierte er nach Palästina. Als David Even-Pinnah
gründete und leitete er ein Gymnasium in Haifa. Es erhielt seinen Namen, er
selbst wurde Ehrenbürger der Stadt. Als er von der Pensionierung von Rein­
hard Gehlen durch eine Zeitungsnotiz erfuhr, nahm er nach fast 60 Jahren
mit dem alten Schulfreund wieder Kontakt auf – zwei völlig unterschiedliche
Lebenswege, die zu einem interessanten Dialog zweier alter Männer führten,
von dem noch die Rede sein wird.
Theodors älterer Bruder Ernst meldete sich im August 1914 als Kriegsfrei­
williger, wurde mehrfach verwundet und brachte es bis zum Feldwebel in der
Infanterie, trotz der antisemitischen Ressentiments, die es damals in Teilen
der politischen Öffentlichkeit gab und die zur sogenannten Judenzählung in
der Armee führten. Weil die antisemitische Propaganda im Reich behauptete,
Juden würden sich vor dem Militärdienst drücken, ordnete die Armeeführung
eine Zählung der jüdischen Soldaten an. Damit ließ sich die Verleumdung zwar
widerlegen, aber die Stigmatisierung blieb.30 Ernst Eckstein (1897-1933) wurde
nach dem Krieg Rechtsanwalt und einer der führenden Köpfe der Sozialisti­
schen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP).31 Direkt nach dem Reichstagsbrand
1933 wurde er verhaftet und starb nach Folterungen im Konzentrationslager
Breslau-Dürrgoy. Bei seiner Beerdigung kam es unter Beteiligung Tausender
Breslauer Arbeiter zu einer der letzten legalen Demonstrationen gegen den
Nationalsozialismus. Eine Cousine der Eckstein-Brüder war die Philosophin
und Frauenrechtlerin Edith Stein, die – obwohl als Jüdin geboren – Nonne
wurde und in Auschwitz starb. Sie wird heute als Heilige in der katholischen
Kirche verehrt. 1911 am Breslauer Gymnasium hat sie ihr Abitur gemacht. Auf
dem Schulhof ist sie wahrscheinlich auch dem kleinen Reinhard und ihrem

29 Brief Gehlens vom 31.12.1971 und Antwort Ecksteins vom 7.1.1972, Stadtarchiv Haifa,
Nachlass Even-Pinnah, 1433.
30 Siehe hierzu umfassend Deutsche jüdische Soldaten von der Epoche der Emanzipation
bis zum Zeitalter der Weltkriege, hg. von Frank Nägler, Berlin 1996.
31 Siehe Ernst Eckstein, in: Deutsche Widerstandskämpfer 1933-1945. Biographien und
Briefe, Bd. 1, Berlin 1970, S. 206-208. Deshalb wandte sich sein Bruder Theodor mit
einem persönlichen Schreiben am 14. Februar 1970 an Bundeskanzler Willy Brandt, der
1933 zur Spitze der SAP gehört hatte. Er bat darum, ihm eine Unterredung mit dem Bun­
despräsidenten zu verschaffen, um ihn für sein pädagogisches Lebenswerk in Haifa zu
gewinnen; siehe Stadtarchiv Haifa, Nachlass Even-Pinnah, 1433.

38
Cousin Theodor begegnet. Breslau gehörte damals zu den größten jüdischen
Gemeinden in Deutschland.
Wenn die gemeinsame Erinnerung der beiden Mitschüler stimmt, dass sich
Reinhard schon in der Schulzeit entschlossen zeigte, den Offiziersberuf zu
ergreifen,32 dann hing das womöglich mit der damaligen Situation des Vaters
zusammen, der sich als Verlagsdirektor offenbar nicht wirklich wohlfühlte und
der entgangenen Militärkarriere nachtrauerte. Als er zwei Jahre später in den
Krieg zog, bot der Vater für den Sohn ein soldatisches Vorbild, und Reinhard
war nun gleichsam das Familienoberhaupt, was sein Verhältnis zu der gelieb­
ten Mutter noch vertieft haben dürfte.

2. Der junge Artillerieoffizier (1920-1932)

Der Offiziersberuf war Reinhard Gehlen keineswegs vorbestimmt. Er ent­


stammte keiner der traditionellen Soldatenfamilien. Sein Vater war in der
Familie von Beamten und Juristen der erste Berufsoffizier und ist nicht weit
gekommen. Dass der 16-Jährige kurz vor Kriegsende noch den Entschluss
gefasst hat, sich bei dem früheren Regiment seines Vaters, dem Feldartillerie-
Regiment 19 in Erfurt, als Kriegsfreiwilliger zu melden, geschah sicher eher
aus einem patriotischen Gefühl heraus, dem bedrängten Vaterlande helfen zu
wollen, denn als Entscheidung für einen Beruf. Die letzten Hoffnungen, die in
der Bevölkerung mit der Frühjahrsoffensive 1918 verbunden waren, wurden
aber bald durch die Rückschläge an der Front zunichtegemacht. Im Westen
und Südosten befand sich die Entente auf dem Vormarsch. Die Heimatfront
wankte, und der Osten war in revolutionärer Erregung, militärisch aber noch
halbwegs in deutschen Händen.
Für die Aufnahme als Fahnenjunker brauchte es formal ein Immediatge­
such an den Kaiser und dessen Genehmigung. Dann konnte man mit einem
Notabitur die Schule vorzeitig beenden. Reinhard Gehlen schickte das Gesuch
ab, aber dann brach die Revolution in Berlin aus, und das Gesuch kam unbe­
arbeitet zurück. Der Briefumschlag mit der Adresse »An Seine Majestät den
Kaiser und König ...« trug jetzt den Stempel »Unbestellbar, Adresse unbe­
kannt«. Reinhard wird das Gesuch nicht ohne die Genehmigung seines Vaters
abgeschickt haben, doch dieser befand sich irgendwo im Westen, mitten im
Zusammenbruch der so hoffnungsvoll gestarteten Großoffensive »Michael«.
Jetzt war die höchste Autorität entschwunden. Schlimmer noch, die gefürch­
tete Revolution erschien plötzlich vor der eigenen Haustür.

32 Brief Ecksteins vom 7.1.1972, Stadtarchiv Haifa, Nachlass Even-Pinnah, 1433.

39
Reinhard erlebte sie zusammen mit seiner Mutter und seinen jüngeren
Geschwistern zu Hause am Breslauer Königsplatz. Dort drängten sich am
Abend große Menschenmassen, später wurde in der ganzen Stadt geschossen.
Der Heranwachsende musste damit rechnen, selbst die Familie beschützen zu
müssen. Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass es zu keinem blutigen
Umsturz gekommen war, sondern die Soldaten der Garnison aus Freude über
das Ende des Kriegs ihre überflüssige Munition in die Luft geschossen hatten.
Reinhard Gehlen bewegte sich in den anbrechenden unruhigen Zeiten mit
äußerster Zurückhaltung. Der harmoniebedürftige, autoritätshörige Prima­
ner wurde zu einem Einzelgänger in der Klasse, der es vorzog, bei politischen
Diskussionen in Deckung zu bleiben und ein »Buddha-Lächeln« aufzusetzen,
allenfalls mit klugen Einwürfen sich zu Wort zu melden.33 Sein ehemaliger
jüdischer Klassenkamerad Theodor Eckstein trat dagegen 16-jährig in die SPD
ein. Für ein solches aktives politisches Engagement war Reinhard Gehlen nicht
zu haben. Während sich die anderen leidenschaftlich über die Tagesprobleme
erhitzten, wirkte er unbeteiligt, hörte sich die Argumente an, um dann sehr
selten als listenreicher Dialektiker seinen Einwand zur Geltung zu bringen.34
Als der Vater aus dem Krieg zurückkehrte, entschied er, Reinhard solle nicht
das Notabitur machen, um sich womöglich wie andere Schulkameraden beim
Grenzschutz Ost zu melden. Es sei besser, einen regulären Schulabschluss zu
erwerben und sich dann für einen bestimmten Beruf zu entscheiden.
In den letzten zwei Schuljahren hielt Reinhard zwar an dem »Lieblings­
gedanken« fest, Soldat zu werden, doch stellte er sich zugleich darauf ein,
stattdessen vielleicht Physik oder Medizin zu studieren. Die Alternative eines
Physikstudiums35 scheint mehr gewesen zu sein als ein bloßes Gedanken­
spiel – diesen Weg gingen später sein älterer Bruder Johannes und auch der
eigene Sohn -, und auch das Interesse an der Medizin, insbesondere an der
Pharmazie, blieb ein Leben lang. Das systematische naturwissenschaftliche
Denken und das Streben nach Erkenntnis verbanden sich zugleich mit der
Erwartung, in seinem weiteren Lebensweg aus der Masse herausragen zu kön­
nen, dem Besonderen und Einzigartigen zu begegnen.
So gesehen überrascht es ein wenig, dass sich Reinhard Gehlen 1920 doch
für den Offiziersberuf entschied, denn der Glanz des ehemals ersten Standes
im Staate war durch den verlorenen Krieg und den Untergang der Monarchie
verblasst. Und das Vorbild des Vaters, der in seinen Zivilberuf zurückkehren
musste, hatte ebenso geringe Strahlkraft. Sein Vater hat ihn weder zu dieser

33 Urban, Gehlen, S. 2.
34 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 22.
35 Erwähnt noch einmal bei der Verabschiedung Gehlens in der Rede des Chefs Bundes­
kanzleramt am 30.4.1968 (siehe Teil II)

40
Entscheidung gedrängt, noch davon abgehalten. Als Reinhard 18 Jahre alt
wurde, ließ er ihn zu sich kommen und erklärte: »Du bist jetzt ein erwachsener
Mensch, du mußt deine Erfahrungen selbst sammeln. Ich bin gern bereit, dir
zu jeder Zeit einen Rat zu geben, aber nur, wenn du diesen Rat ausdrücklich
verlangst.«36 Vielleicht hatten die Erfahrungen der unsicheren Zeiten für den
idealistisch gestimmten Jüngling den Ausschlag gegeben. In seiner persönli­
chen Umgebung eines von Revolutionsfurcht geprägten Bürgertums konnte
sich der Blick noch einmal auf den Offizier als den Retter und Schützer aller
bedrohten Werte und Strukturen richten. Die Armee, so schwach sie nach Nie­
derlage und erzwungener Demobilmachung auch erscheinen mochte, verkör­
perte doch das letzte Bollwerk gegen die Revolution und den äußeren Feind,
die polnischen Insurgenten, die auch Schlesiens Grenzen infrage stellten.
Es war die politisch sehr interessierte Mutter, die zusammen mit dem
jugendlichen Reinhard in der turbulenten Zeit der frühen Weimarer Repu­
blik verschiedene Versammlungen besuchte. Sie erlebten Saal- und Straßen­
schlachten der verfeindeten Lager von links und rechts. Die Gefahren des
Kommunismus für die bürgerliche Ordnung prägten sich dem Primaner ein.
Im Großen Saal des Breslauer Schauspielhauses prügelten sich Deutschnati­
onale und Kommunisten, Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei rasten
mit Sirenengeheul durch die Gartenstraße zum Tatort, Rettungswagen zum
Abtransport der Verletzten hinterher. Der junge Gehlen flüchtete mit seiner
Mutter in den Keller des Gebäudes. Plötzlich fasste im Halbdunkel des Keller­
ganges ein Fremder die verängstigte Frau am Arm und brachte sie mit ihrem
Sohn in Sicherheit. Dann stellte sich heraus, dass der freundliche Helfer der
kommunistische Abgeordnete Max Gruschwitz war.37
Nach zwei Jahren intensiver Vorbereitung legte Reinhard Gehlen im April
1920 die Reifeprüfung ab. Er gehörte zu einer kleinen Gruppe von sechs Abi­
turienten, die sehr eng mit dem Lehrer gearbeitet und nun alle erfolgreich die
Prüfungen bestanden hatten. Es folgte die übliche »Abschiedskneipe«, die
in die unruhigen Tage des Belagerungszustands im Anschluss an den Kapp-
Putsch fiel. Am 13. März 1920 hatten rechtsradikale Freikorps und Teile der
Reichswehr durch einen Umsturzversuch die Reichsregierung zunächst zur
Flucht nach Weimar gezwungen. Durch den größten Generalstreik in der deut­
schen Geschichte und bewaffneten Widerstand in der Arbeiterschaft waren
die Putschisten zur Aufgabe gezwungen worden.
Reinhard Gehlen verlor danach die Verbindung zu fast allen Klassenkame­
raden. Es zog ihn zum Militär. Herbert Urban, der frühere Freund, kam häu­

36 Zit. nach: Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, Quick 41/1971, S. 13.


37 Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, Quick 43/1971, S. 18.

41
Die Abiturklasse von Reinhard Gehlen (1. Reihe, links), 1920

figer mit Vater Gehlen, der wieder als Verlagsdirektor arbeitete, in Kontakt,
privat und geschäftlich. Die Frage nach Reinhard beantwortete Gehlen sen.:
»Danke, es geht ihm gut. Er macht seinen Weg.« Es sei dieser Weg gewesen, so
Urban später im Rückblick, den Reinhard »kühl, klar und zielstrebig gewählt
hatte und der sich mit mathematischer Exaktheit und Unausweichlichkeit
vollzog«.38 Das mag übertrieben klingen, aber es war schon bemerkenswert:
Zu einem Zeitpunkt, als Hunderttausende alte Soldaten die Armee verlassen
mussten, entschieden sich nur wenige junge Männer für eine Karriere als Offi­
zier. Von Gehlens Jahrgang 1902 gab es später in der Wehrmacht lediglich neun
Konkurrenten in der Gruppe der Generalstabsoffiziere.
Am 20. April 1920 trat Reinhard Gehlen in die »vorläufige Reichswehr«
ein. Im Versailler Friedensvertrag hatte sich Deutschland verpflichten müs­
sen, seine bereits im Umbau befindliche Armee schrittweise auf maximal
100 000 Berufssoldaten einschließlich 4000 Offiziere zu reduzieren. Der junge
Rekrut leistete seinen Dienst in der ersten Zeit beim leichten Reserve-Artille­
rie-Regiment 6 unter Oberst Brüggemann, das damals im Grenzschutz Ost in

38 Urban, Gehlen, S. 2.

42
der Nähe Breslaus lag, aber nicht zum Einsatz kam. Vermutlich hat sein Vater
den Regimentskommandeur gekannt und die Aufnahme arrangiert. Die Wahl
der Waffengattung lag nahe, denn auch Gehlens Vater hatte bei der Artille­
rie gedient, die seinem Sohn aufgrund seiner körperlichen Voraussetzungen
(174 cm groß und schmächtig) und geistigen Konstitution ohnehin besser lag
als die Infanterie oder die Kavallerie. Eine Woche nach Dienstantritt musste
Reinhard Gehlen folgendes Gelöbnis ablegen:

Ich gelobe, daß ich mich als tapferer und ehrliebender Soldat verhalten, der
Verteidigung des Deutschen Reiches und meines Heimatstaats zu jeder Zeit
und an jedem Orte meine ganze Kraft widmen, die vom Volk eingesetzte
Regierung schützen und meinen Vorgesetzten Gehorsam leisten will.39

Die Bindung erfolgte also nicht mehr an den Monarchen, sondern an die
gewählte Regierung, womit Gehlen zeitlebens kein Problem hatte – mit Aus­
nahme als Pensionär gegenüber der sozialliberalen Regierung Brandt.
Unter den spannungsreichen politischen Umständen schürten Enttäu­
schungen der zum Ausscheiden gezwungenen Soldaten und Freikorpskämp­
fer den Hass auf die politische Führung und die ungeliebte Republik. Davon
blieben die jungen Freiwilligen nicht unbeeindruckt. Sie waren aber, so wird
es auch der 18-jährige Gehlen gesehen haben, gut beraten, sich aus der Politik
herauszuhalten und erst einmal die Rekrutenzeit zu überstehen. Als ihn sein
Stubenältester, ein Gefreiter, fragte, warum er sich trotz der Niederlage im Ers­
ten Weltkrieg für die Armee entschieden habe, verwies er angeblich auf seine
Pfadfinderzeit; er habe damals erkannt, dass man in diesem Beruf am besten
Staat und Volk dienen könne.40 Damit wich er einer Stellungnahme zu den
aktuellen Wirrnissen aus.
Neue Bestimmungen für den Offizierersatz gab es zum Zeitpunkt seines
Eintritts noch nicht. Aber sein Vater ermutigte ihn, trotzdem Soldat zu werden,
wenn auch zunächst in der Mannschaftslaufbahn. Es sei mit Sicherheit damit
zu rechnen, dass bald geordnete Verhältnisse eintreten würden. Die erhofften
Bestimmungen kamen dann mit dem Wehrgesetz vom 23. März 1921 und sahen
eine vierjährige Ausbildungszeit bis zum Offizier vor. Erst nach 18 Monaten im
Mannschaftsstatus konnte die Offiziersanwärterprüfung abgelegt werden.
Reinhard Gehlen begann seine Soldatenlaufbahn in der alten schlesischen
Garnisonsstadt Schweidnitz, dem »schlesischen Potsdam«, unweit vom hei­

39 Zit. nach: Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939, Bd. 3, Herrsching


1983, S.86.
40 Zit. nach: Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, Quick 43/1971, S. 18.

43
matlichen Breslau. Dort war neben dem Artillerie-Regiment auch das tra­
ditionsreiche Infanterie-Regiment 7 zu Hause. Die Kleinstadt wurde für die
nächsten 14 Jahre Gehlens Hauptstandort. Er war einer von zehn Rekruten in
Stube 10 der Kaserne der I. Abteilung seines Regiments. Diese Stube komman­
dierte der Obergefreite Hasler, der später als Militäranwärter ausschied und
zur Reichsbahn ging. Nach langer Dienstzeit als Bahnhofsvorstand verband
ihn noch im Ruhestand ein freundschaftliches Verhältnis mit Gehlen. Dieser
erinnerte sich später:

Uns wurde nichts geschenkt. Ich kam direkt von der Schule und die körper­
liche Anstrengung des täglichen Dienstes hatte auch sein Gutes. Mein Kör­
per wurde durchtrainiert. Die Verpflegung war alles andere als üppig. Aber
immerhin habe ich in kurzer Zeit zwanzig Pfund dabei zugenommen.41

In seiner Rekrutenzeit entdeckte er seine Neigung für die Pferde:

Unmittelbar nach dem Wecken begann mein Rekruten-Stalldienst. Jeder


Rekrut mußte zwei Pferde versorgen, er mußte die Tiere putzen und füttern.
Erst dann durfte er zum Frühstück gehen. Auf das Putzen der Tiere wurde
besonderer Wert gelegt. Da konnte sich niemand herummogeln: Was wir an
Schmutz aus dem Fell gebürstet hatten, mußten wir hinter dem Pferd in zehn
zirka dreißig Zentimeter langen sogenannten >Strichen< auf die Stallgasse
klopfen – als Beweis für die geleistete Arbeit. Und das war gar nicht so ein­
fach. Im Anfang war ich oft noch als letzter lange im Stall, bis mir dann regel­
mäßig ein alter Krieger, der Obergefreite Kulok, half, die Zahl der >Striche<
vollzählig hinzubekommen.42

Gehlen diente in einer Freiwilligenarmee, was sich nach seinem Eindruck auf
die innere Haltung der Soldaten positiv auswirkte. Trotz der Härte der Ausbil­
dung habe es keinen »sinnlosen Drill« gegeben, wie er ihn offenbar später in
seiner Zeit als Batteriechef 1938 in der Wehrmacht mit ihrer Masse an Wehr­
pflichtigen erlebte. In der ihn prägenden ersten Zeit in Schweidnitz erfuhr er
nicht nur den kameradschaftlichen Geist unter den Mannschaften, sondern
lernte im Regiment eine Reihe von jüngeren Offizieren kennen, mit denen er
in der Wehrmacht und beim BND verbunden blieb.
Dazu gehörte Andor Hencke, der bis 1922 als Oberleutnant im Artillerie-
Regiment 3 diente und vielleicht sogar der Fähnrichsvater für die Offiziers­

41 Ebd.
42 Ebd., S. 20.

44
anwärter gewesen ist. Danach wurde er persönlicher Sekretär des deutschen
Botschafters in Moskau, Ulrich von Brockdorff-Rantzau, und brachte es durch
eine Karriere im Auswärtigen Amt bis zum Unterstaatssekretär. Er wurde wäh­
rend des Zweiten Weltkriegs von Gehlen als Ostexperte geschätzt. Mitte 1950
setzte ihn Gehlen als Chef der Org auf eine Liste von Personen, die nicht in
Feindeshand fallen dürften. Hencke arbeitete als Osteuropa-Berater der Bun­
desregierung und der Organisation Gehlen bzw. des BND.43 Der damalige Leut­
nant Horst von Mellenthin wurde später ein Vertrauter Gehlens. Während des
Krieges war er als Leiter der Attachegruppe im Oberkommando des Heeres
(OKH) in seiner Nähe. Gehlen zog Mellenthin nach Kriegsende in seine Org.
Dort wurde er einer seiner engsten Mitarbeiter ebenso wie ein anderer früher
Leutnant aus dem Regiment, der spätere Oberst Wolfgang Langkau.44
Regimentskamerad ist auch der sechs Jahre ältere und kriegsgediente
Rudolf Bamler (1896-1972) gewesen. Ihn traf der junge Gehlen als Oberleut­
nant und Regimentsadjutant an. Bamler wechselte 1927 in die Abwehrgruppe
im Reichswehrministerium, als Referent zuständig in der 3. Abteilung Fremde
Heere für die westlichen Streitkräfte, ab 1936 dann Leiter der neu geschaffe­
nen Abteilung III (Spionageabwehr) unter Admiral Wilhelm Canaris. In dieser
Zeit dürften Bamler und Gehlen ihre kameradschaftlichen Kontakte aus Regi­
mentszeiten wieder erneuert haben.45
Bamler, ehrgeizig, intelligent, gewandt und mit großem Organisations­
talent – begeisterte sich für den Nationalsozialismus und unterhielt private
Kontakte zu Reinhard Heydrich. Er widerstand jedoch den Abwerbeversuchen
des SD-Chefs. Dennoch sorgte Canaris 1939 dafür, dass Bamler in die Truppe
versetzt wurde. Als Generalleutnant und Divisionskommandeur geriet er 1944

43 In seinem Schreiben an Hencke vom 20.4.1959 dankte er ihm »für den außerordent­
lich wesentlichen Beitrag, den Sie für den Aufbau unseres Dienstes geleistet haben«;
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA), Nachlass Hencke. Dort auch weitere
Schreiben Gehlens vom 4.4.1960 und 5.7.1967.
44 Langkau sollte 1941 eine der beiden Gruppen schwerster Artillerie für das Unternehmen
»Felix« zur Wegnahme Gibraltar führen. Er wurde dann Adjutant des Generals der Artil­
lerie und stellte sich am 3. Januar 1950 bei Gehlen vor, der ihn in seinen engeren Stab
berief.
45 Cookridge, Gehlen, S. 18. Ob hier die Wurzel liegt für die unbelegte Behauptung seines
späteren Biografen Cookrigde, Gehlen habe in seiner Zeit in Schweidnitz Abwehroffiziere
unterstützt, die damals im deutsch-polnischen Grenzgebiet verdeckt für die Reichswehr
operierten, ist denkbar, weil in einem bestimmten dienstlichen Rahmen selbstverständ­
lich. Eine Nebenstelle der Abwehr bestand in Schweidnitz erst während der »Sudeten­
krise« 1938. Nahezu undenkbar ist dagegen die Vorstellung, der junge Leutnant Gehlen
könnte selbst als Kundschafter – womöglich noch jenseits der Grenze – tätig gewesen
sein.

45
in sowjetische Gefangenschaft und entwickelte sich zu einem Gegenspieler
Gehlens. Fortan vom Kommunismus überzeugt, engagierte sich Bamler im
»Nationalkomitee Freies Deutschland« und ließ sich zur Bespitzelung reni­
tenter deutscher Kriegsgefangener einsetzen. Angeblich denunzierte er unter
anderen Walther von Seydlitz-Kurzbach, Präsident des Bundes Deutscher Offi­
ziere, bei den Russen wegen dessen nationaler Gesinnung. Als Bamler 1950
aus der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückkehrte, wurde er in der
DDR Generalmajor in der Kasernierten Volkspolizei; im Zusammenhang mit
dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 entlassen, half er danach beim Aufbau
eines zentralen Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR. Er wurde einer
der eifrigsten Publizisten in den Kampagnen der DDR-Propaganda gegen die
westdeutsche Wiederbewaffnung und die Verwendung ehemaliger »Hitler-
Generale« in der Bundeswehr.46 Gehlen würdigte diesen ehemaligen Regi­
mentskameraden in seinen Erinnerungen mit keinem Wort.
Ab dem 1. Januar 1921 gehörte der Rekrut Gehlen nominell zur 1. Batterie
des neu aufgestellten 3. (Preußischen) Artillerie-Regiments. Kommandeur war
von März 1921 bis 1924 Oberst Viktor von Aigner. Am selben Tag wie Gehlen
wurde Karl Fabiunke zum Regiment versetzt, neun Jahre älter und im Ersten
Weltkrieg Feldwebel, der als einer der ganz wenigen ehemaligen Unteroffiziere
gerade den I. Lehrgang an der Infanterieschule in München absolviert und die
Offiziersprüfung bestanden hatte. Fabiunke blieb bis 1933 Regimentskamerad
von Gehlen, und während dieser 1935 die Kriegsakademie besuchte, wurde
Fabiunke als Praktiker und artilleristischer Berater nach China geschickt. Er
blieb dann als der Ältere in der Karriere Gehlen stets einen Schritt voraus,
wurde bereits 1939 Regimentskommandeur, 1943 Divisionskommandeur und
ein Jahr vor Gehlen Generalmajor. Er geriet am 8. Mai 1945 in den Alpen in
Kriegsgefangenschaft, ganz in der Nähe von Gehlen. Fabiunke war als Trup­
penoffizier offenbar nicht jener Offizierstyp, mit dem sich Gehlen anfreunden
konnte. Zu seinen späteren Mitarbeitern im BND gehörte er jedenfalls nicht.
Am 10. August 1921 erhielt Gehlen den »Streifen« als Gefreiter und durfte
nach Jüterbog, südlich von Berlin gelegen, zur Offiziersanwärterprüfung, zu
der jeder zugelassen war, der die Bedingungen erfüllte. Abitur war erwünscht,
aber nicht Voraussetzung. Es war die erste Prüfung dieser Art für den künfti­
gen Offiziersnachwuchs, für die Artillerie damals nur eine kleine Gruppe von
Bewerbern, die in Jüterbog zusammenkam. Neu organisiert, war diese »Pflanz­
stätte« der deutschen Artillerie erst im Mai 1921 feierlich eingeweiht worden.

46 Siehe Rüdiger Wenzke: Rudolf Bamler – Karrierebruch in der KVP, in: Genosse General!
Die Militärelite der DDR in biographischen Skizzen, hg. von Hans Ehlert und Armin Wag­
ner, Berlin 2003, S. 33 – 60.

46
Ehemalige Kaserne der Feldartillerie-Schießschule in Jüterbog, Tauentzienstraße, 2017

Kommandeur war Oberst Curt von Dewitz. Als Lehrtruppe war die 11. Batterie
des Artillerie-Regiments 3 in Jüterbog stationiert, sodass sich Gehlen wie zu
Hause fühlen konnte.47 Als Gefreiter dürfte er allerdings kaum die Gelegen­
heit gehabt haben, festzustellen, dass man in Jüterbog entgegen den Bestim­
mungen des Versailler Vertrags schwere Artillerie weiterentwickelte und die
Geschütze bei Besuchen der Internationalen Kontrollkommission in den Wäl­
dern bei Markendorf versteckte.
Es gelang Gehlen – gleichsam ein Erfolgsrezept seiner militärischen Lauf­
bahn -, den höchsten Vorgesetzten für sich einzunehmen. Generalleutnant
Rudolf Bleidorn, der Inspekteur der Artillerie, machte sich von jedem Anwärter
persönlich ein Bild. Neben der Bewertung des Ausbildungsstandes bemühte
sich der General, durch Gespräche über verschiedene Themen herauszufin­
den, wes Geistes Kind der Einzelne war. Bleidorn vertrat den Standpunkt, dass
die Beurteilung des Charakters weit vor allen militärischen Kenntnissen ran­
gierte. Dazu gehörte insbesondere die Fähigkeit, sich schnell in die Lage hin­
einzudenken, wendig und konsequent zu handeln sowie Untergebene gerecht
zu behandeln. Diese Kriterien hat Gehlen später beibehalten. Große Leistun­

47 Henrik Schulze: Geschichte der Garnison Jüterbog 1864-1994: »Jammerbok«, Osna­


brück 2000, S. 297-380.

47
gen wurden im sportlichen Bereich gefordert, um Mut und Ausdauer auf die
Probe zu stellen. Zu den Prüfungen im Gelände gehörte auch das Scharfschie­
ßen mit dem Geschütz.
Der alte Bleidorn liebte es, verzwickte Fragen zu stellen. Mit seiner Schlag­
fertigkeit hat der junge Gefreite offenbar Eindruck gemacht, denn der General
merkte sich dessen Namen. In den folgenden Jahren sprach er ihn öfters bei
Übungen persönlich an und nahm Anteil an Gehlens Karriere. Nach bestan­
dener Abschlussprüfung wurden die Bewerber zu Offiziersanwärtern ernannt
und für ein Jahr an die Infanterieschule München kommandiert.
Die neu eingerichtete zentrale Ausbildungsstätte der Reichswehr führte
die Offiziersanwärter aller Waffengattungen zu einer infanteristischen Voll­
ausbildung zusammen. Sie kamen in die politisch aufgeladene Atmosphäre
der bayerischen Landeshauptstadt, in der nach der Zerschlagung der ominö­
sen »Räterepublik« rechtsextremistische Gruppen um Zulauf warben. Dar­
unter befand sich auch ein anderer Gefreiter der Reichswehr, der 1921/22 die
Untergangsstimmung, die durch die Hyperinflation verstärkt wurde, für seine
junge nationalsozialistische Bewegung auszunutzen verstand, um mit seinen
demagogischen Auftritten Tausende von Zuhörern zu fesseln.48 Der Jahrgang

48 Siehe dazu ausführlich David Clay Large: Hitlers München. Aufstieg und Fall der Haupt­
stadt der Bewegung, München 1998; Bruno Thoß: Zentrale Infanterieschule der Reichs­

48
Gebäude der Infanterieschule der
Reichswehr in München, Februar 1924

nach Gehlen an der Infanterieschule schloss sich 1923 dem Putschversuch


Hitlers an. Ein Jahr später fand in der Schule der Prozess gegen die Putschis­
ten statt. Ob Gehlen 1922 den kommenden Diktator und obersten deutschen
Kriegsherrn erlebt hat, ist nicht überliefert. Vermutlich ist ihm während des
anstrengenden Dienstes kaum Zeit und Muße verblieben, sich in München
umzusehen, geschweige denn an politischen Veranstaltungen teilzunehmen,
die er schon im Interesse seiner weiteren Karriere sicherlich zu vermeiden ver­
stand. Es entsprach seiner schon in der Oberprima gepflegten Zurückhaltung,
die er hier beibehielt, auch wenn er zu jenen gehörte, die – nach seinen Erfah­
rungen und Ängsten in Breslau – kommunistische Putschversuche fürchteten.
Im Verständnis der Zeit handelte es sich bei den Aktivitäten von Hitler und
seinen Gesellen um parteipolitische Umtriebe, von denen sich die Reichswehr
fernhalten sollte. Unter seinen Kameraden mag es andere gegeben haben,
denn die Infanterieschule München galt als sehr politisiert. Die Reichswehr
war jederzeit bereit, gegen die extreme Linke gewaltsam vorzugehen, doch galt
diese Entschlossenheit zur Verteidigung der Republik nicht im Fall der radika­
len Rechten.

wehr, München, in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-


bayerns.de/Lexikon/Zentrale Infanterieschule der Reichswehr, München (Zugriff
27.4.2016).

49
Insbesondere der Infanterie-Gefechtsdienst forderte den Lehrgangsteilneh­
mern alles ab. In körperlicher Hinsicht sei das eine wichtige Schule für sein
weiteres Leben gewesen, erinnerte sich Gehlen.49 Im Vordergrund stand eine
moderne Ausbildung zum Einzelkämpfer und Gruppenführer, gemäß der For­
derung, dass der Offizier alles, was er von den Mannschaften verlangt, auch
selbst erfüllen kann. So mussten alle, auch die Angehörigen nicht berittener
Truppen, regelmäßig Reitunterricht absolvieren. Reitlehrer war damals Haupt­
mann i. G. Georg Lindemann, der im Zweiten Weltkrieg als Oberbefehlshaber
der Heeresgruppe Nord wieder mit Gehlen engeren beruflichen Kontakt hatte.
Die Ausbildung formte keineswegs einen Kadavergehorsam, wie ein landläu­
figer militärkritischer Geist vermuten mag. So unterschieden die jungen Offi­
ziersaspiranten durchaus zwischen überzeugenden Vorgesetzten mit einer
modernen, engagierten Ausbildung und dem Schulkommandeur, den sie für
seinen wenig praxisorientierten Idealismus kritisierten.
In diese Münchener Zeit fiel die schrecklichste Nachricht seines bisheri­
gen Lebens: Am 1. März 1922 starb plötzlich Gehlens Mutter im Alter von nur
44 Jahren an den Folgen einer Gallenoperation. Der 20-jährige Offiziersanwär­
ter wird sich zweifellos darum bemüht haben, an der Beerdigung im fernen
Breslau teilzunehmen. Die Beförderung zum Unteroffizier am 1. April erfolgte
routinemäßig. Nach dem Ende des Lehrgangs Anfang August wurden alle Teil­
nehmer zu ihren Stammtruppenteilen zurückgeschickt, um sich für einige
Wochen bei der eigenen Einheit »an der Front« zu bewähren. Dort wurde Geh­
len am 1. September 1922 zum Fähnrich befördert. Es war die Zeit der Herbst­
manöver, bei denen er Erfahrungen nicht nur im Gelände als Geschützführer
sammelte.
Bei einem Manöverball begegnete ihm ein »Fräulein Helene«. Die medizi­
nisch-technische Assistentin war jung, sportlich, sie ritt und kletterte, sie war
selbstbewusst und kess. Der 20-Jährige war Feuer und Flamme und forderte sie
zum Tanz auf. Helene freilich reagierte abweisend: »Ich tanze nicht mit einem
Kind.« Schlagfertig entgegnete Gehlen: »Ich wusste nicht, dass Sie in anderen
Umständen sind« – und ließ sich nicht abschrecken. Helene erhielt von ihm
nicht weniger als drei Heiratsanträge. Die hartnäckige Zurückweisung emp­
fand der erfolglose Freier aber offenbar nicht als verletzend. Helene heiratete
später einen Chemiker, blieb aber mit Gehlen, den sie für einen »anständigen«
Offizier hielt, freundschaftlich verbunden. Er berichtete ihr 1943, dass er für
die Abteilung Fremde Heere Ost zuständig sei, und empfahl ihr Anfang Februar
1945, mit ihren zwei Kindern und hochschwanger Breslau sofort zu verlassen,
denn am 10. Februar würde die Rote Armee die Stadt erreichen. Gehlen sorgte

49 Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, Quick 43/1971, S. 18.

50
dafür, dass Helene in dem letzten Lazarettzug mitgenommen wurde, der in
der Stadt hielt.50
Reinhard Gehlen machte während seiner Fähnrichzeit im Regiment eine
weitere Bekanntschaft, die für seine Präsidentschaft des BND von Bedeutung
werden sollte. Er traf Walter Kiersch, der zum 1. April 1922 in das Artillerie-
Regiment 3 in Sagan eingetreten war. Der zwei Jahre jüngere Kiersch folgte
ihm in der Laufbahn dicht auf: Offiziersanwärter, ab Dezember 1925 nach
diversen Ausbildungen wieder im Artillerie-Regiment 3, in Schweidnitz als
Batterie- und Auswerteoffizier in der Vermessungsbatterie, 1928 – wiederum
als Nachfolger Gehlens – als Bereiteroffizier in Hannover. Während sich Geh­
len dann in Richtung Generalstabslaufbahn orientierte, ging Kiersch ab 1929
als Ausbilder zur Artillerieschule, absolvierte im Krieg verschiedene Trup­
penverwendungen, zuletzt als Oberst und Regimentskommandeur. Ab 1952
arbeitete er in der Org als Referent für die Sichtung militärischer Nachrichten.
Gehlens Beurteilung von 1959 für seinen alten Freund lautete: »Er ist ein fähi­
ger, pflichtbewußter, unermüdlich tätiger Referent mit klarem Urteil, guter
Initiative und von ausgesprochener Beharrlichkeit und Zähigkeit, der eine
wichtige Aufgabe erfolgreich durchführt.«51 Hier hatten sich zwei kongeniale
Geister getroffen.
Zum 1. Oktober 1922 wurde Gehlen für rund zehn Monate zur Artillerie­
schule Jüterbog kommandiert. Die fachliche Offiziersausbildung in der eigenen
Waffengattung fand unter erneut günstigen Konstellationen für Gehlen statt.
Bestand der Lehrgang an der Infanterieschule in München noch aus mehre­
ren Gruppen (»Hörsäle«) mit je 30 bis 40 Teilnehmern, so waren es 1922/23 in
Jüterbog lediglich neun Fähnriche. Um die Kapazitäten der Schule besser aus­
zunutzen, hatte man gleichzeitig weitere Lehrgänge für junge Kriegsoffiziere
eingerichtet, die bereits als Leutnants aus dem Weltkrieg zurückgekommen
waren. Die Fähnrichs- und die Offiziers-Hörsäle brachte man in fünf kleinen
zweistöckigen Häusern unter, im Grünen gelegen, wo es sich angenehm woh­
nen ließ.
Jeder Lehrgangsteilnehmer hatte ein eigenes, sehr einfach eingerichtetes
Zimmer mit einem Tisch, an dem er arbeiten konnte. So entwickelte sich ein
kameradschaftliches Verhältnis auch zu den älteren Leutnants. Gehlen hat
dieses überschaubare Barackenleben sehr genossen, das er später im ostpreu­
ßischen Mauerwald während des Zweiten Weltkriegs ebenso schätzte wie sein
abgeschlossenes Refugium in der Bormann-Siedlung von Pullach beim BND. In

50 Die Episode findet sich in Harald Gröhler: Herr Gehlen ohne Foto. Ein Bericht über den
Gründer des Bundesnachrichtendienstes, Berlin 2006, einem schriftstellerisch verfrem­
deten Bericht aus dem familiären Umfeld von Fräulein Helene.
51 BND-Archiv, P1/0126.

51
Unterkünfte für Offiziere an der Artillerieschule in Jüterbog; historische Postkarte von 1919

Jüterbog herrschte eine zwar patriarchalische, aber keineswegs kommisshafte


Atmosphäre. Neben den rein militärischen Fächern gab es auch Unterricht auf
wissenschaftlichem Gebiet, der von zivilen Lehrkräften erteilt wurde.
Es ist zu vermuten, dass den jungen Fähnrich in dieser abgelegenen Idylle
der Artillerieschule die Zuspitzung der außenpolitischen Krise, die immerhin
bis an den Rand eines Krieges führte, nicht unberührt gelassen hat. Gleich­
wohl spielten solche schwerwiegenden politischen Ereignisse in Gehlens spä­
teren Erinnerungen keine Rolle. So vermied er es, im Rückblick persönliche
Meinungen abzugeben. Er wird sich wohl wie früher aus hitzigen Debatten
der Kameraden herausgehalten haben. Im Januar 1923 hatten französische
und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt, um das Deutsche Reich zur
Zahlung rückständiger Reparationslieferungen zu zwingen. Die Reichswehr­
führung prüfte die Möglichkeit, die im Aufbau befindliche Armee einzusetzen,
unter Umständen mit Unterstützung Sowjetrusslands. Berlin hatte im April
1922 mit dem Rapallo-Vertrag die diplomatischen Beziehungen zum Sowjet­
staat wieder aufgenommen und damit die Westmächte brüskiert. Außerdem
waren geheime militärische und rüstungswirtschaftliche Kontakte geknüpft
worden. Doch sie boten kaum Aussicht, erfolgreich Widerstand gegen den
französischen Einmarsch leisten zu können. Der Chef der Heeresleitung Hans
von Seeckt konnte die Reichsregierung nur darin unterstützen, die Bevölke­
rung zum »passiven Widerstand« aufzurufen. Nach neun Monaten musste der
»Ruhrkampf« abgebrochen werden, weil die innenpolitische und finanzielle

52
Zerrüttung des Reiches nicht länger durchzuhalten war. Unter dem neuen
Reichskanzler Gustav Stresemann begann mit der Währungsreform und der
Neuverhandlung der Reparationen eine Phase der Stabilisierung der Weima­
rer Republik. Der in militärischen Kreisen diskutierte »große Befreiungskrieg«
wurde aufgeschoben. Die geheime Ausbildung und Aufrüstung mithilfe der
Roten Armee sowie eine langfristig angelegte Militärpolitik sollten die ange­
strebte Revision des Versailler Vertrags gewährleisten.52
»Die Armee kommt wieder«, hatte Reinhard Gehlen als Abiturient einmal
gesagt,53 und er sollte recht behalten, auch wenn es Jahre brauchte. Mochten
ältere Soldaten und Veteranen ungeduldig sein und politischen Hitzköpfen
folgen, die am rechten politischen Rand im Kampf gegen die Republik auch
den Konsens gegen Versailles für sich nutzten – der junge Gehlen sah keinen
Anlass, die gerade erst begonnene Offizierslaufbahn zu riskieren. Sicherlich
war auch ihm die Republik keine Herzensangelegenheit, aber wie die meisten
seiner Kameraden hatte er durch das Revolutionserlebnis verstanden, dass es
keine Rückkehr zur verabschiedeten Monarchie geben würde. Sein Regiments­
kamerad Bamler sah den sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav
Noske in dieser Zeit als Repräsentanten »einer neuen Zeit« an.54 Vielleicht
hat der junge Gehlen ähnlich empfunden. Dagegen trauerte Gehlens Vater mit
vielen älteren Offizieren und kriegsgedienten Soldaten den alten Zeiten nach,
als er mit Stolz die preußische Uniform hatte tragen dürfen. Aber seine liberal­
konservative Haltung, verbunden mit den Rücksichtnahmen als Leiter eines
Schulbuchverlags, schloss radikale politische Einstellungen aus. Der Verlag
publizierte stattdessen zum Beispiel die Abenteuerromane des Hauptschrift­
stellers der Esperanto-Literatur Heinrich August Luyken.55 Angesichts der von
den Sozialdemokraten gelenkten preußischen Kultur- und Schulpolitik waren
für den Verlagsdirektor und verhinderten Berufssoldaten Walther Gehlen seine
guten Kontakte zur SPD sicher auch geschäftlich förderlich.
Sein Sohn Reinhard wurde kurz vor Abschluss seiner Ausbildung zum
1. August 1923 zum Oberfähnrich befördert, wenige Tage vor dem Abbruch
des »Ruhrkampfes«. Was ihn anscheinend mehr als die politischen Ereignisse
faszinierte, war die Begegnung mit dem Taktiklehrer an der Artillerieschule,
dem älteren Hauptmann und Generalstabsoffizier beim Stab des Gruppen­
kommandos Albrecht Schubert, später General der Infanterie im Zweiten

52 Siehe dazu umfassend Rolf-Dieter Müller: Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der
Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkrie­
gen, Boppard a. Rh. 1984, S. 96 -148.
53 Urban, Gehlen, S. 1.
54 Wenzke, Bamler, S. 34.
55 Heinrich A. Luyken: Stranga heredajo, Leipzig 1922.

53
Weltkrieg und Befehlshaber im Wehrkreis XVII (Wien). Schubert gab 1923
einen interessanten Unterricht, hatte Verständnis für die Sorgen jedes einzel­
nen Fähnrichs und galt ihnen in seiner ganzen Art als ein besonderes Vorbild.
Er verkörperte eine Mischung aus Gemütlichkeit und Strenge, die Gehlen als
persönlich sehr angenehm empfand und von der er sich später selbst in seinem
Führungsstil beeinflussen ließ.
In der kleinen Gruppe von neun Fähnrichen aus den damals vorhandenen
sieben Artillerieregimentern der Reichswehr konnte sich Gehlen optimal ent­
falten und fühlte sich in dem engen, sehr kameradschaftlichen Verhältnis wohl,
weil es ihm Rückhalt und Selbstvertrauen vermittelte. Der Lehrgang schloss
mit der Offiziersprüfung, die ihn – neben der Beförderung zum Oberfähnrich -
nach Auswertung der Zensuren und der Einschätzung seiner Persönlichkeit in
eine Reihenfolge aller Oberfähnriche seines Jahrgangs brachte. Diese war für
die späteren Beförderungen maßgebend. Dann ging es zurück zum Regiment,
wo er in seiner alten Batterie einige Monate Dienst leistete und schließlich am
18. Dezember 1923 die Beförderung zum Leutnant erlebte – sein Jugendtraum
war damit in Erfüllung gegangen. Davor stand die sogenannte Offizierswahl,
bei der die Offiziere des Regiments unter Leitung des Kommandeurs zusam­
mentraten, um über die Aufnahme des Oberfähnrichs abzustimmen. Jeder
musste seinen Standpunkt zu Charakter und Lebensführung des Kandidaten
darlegen und begründen, angefangen vom jüngsten Offizier nach Alter auf­
steigend, damit niemand von einem älteren beeinflusst werden konnte. Das
Votum war für die Heeresleitung verbindlich. Dazu gehörte der Verpflichtungs­
schein zu 25-jähriger Dienstzeit als Offizier.56
Wichtig für das Gehalt und die weiteren Aufstiegsmöglichkeiten war
damals neben der festgelegten Reihenfolge der Beförderung zum Leutnant
die Festsetzung des Rangdienstalters (Patent), mit dem ein Offizier mit sei­
nem Dienstgrad in die offizielle Dienstaltersliste eingetragen wurde. Gehlen
erhielt mit Wirkung zum 1. Dezember 1923 Rang 4 unter den 42 Leutnants
seines Jahrgangs. Er gehörte also leistungsmäßig zur Spitzengruppe. In seinem
Regiment wurde am selben Tag auch ein Leutnant Hain (Rang 28) befördert.
Als Besoldungsdienstalter sprach man Gehlen den 1. Dezember 1915 zu. Das
war inmitten der Währungskrise eine vom Regimentskommandeur gewährte
fürsorgliche Maßnahme, von der in Gehlens Jahrgang aber nur ein Teil der
Leutnants profitierte (29 mit Rangdienstalter 1915 bis 1918).
Das Grundgehalt der Leutnants war im Vorjahr fast verdreifacht worden,
was aber lediglich der galoppierenden Inflation geschuldet war. Im Dezem­

56 Dirk Richhardt: Auswahl und Ausbildung junger Offiziere 1930-1945. Zur sozialen
Genese des deutschen Offizierkorps, Dissertation, Marburg 2002, S. 31.

54
ber 1923 wurde das Gehalt in Goldmark geändert und damit der allgemeinen
Entwicklung angepasst.57 Mit jährlich 978 Goldmark Grundgehalt verfügte der
junge Leutnant über hinreichende finanzielle Mittel, zumal er für die Unter­
bringung und Verpflegung in der Kaserne nur einen geringen Abzug entrichten
musste und die Krankenfürsorge für ihn kostenlos war. Das erlaubte einem
Junggesellen ein standesgemäßes Auskommen, wenn auch keine »großen
Sprünge«. Der Regimentskommandeur achtete darauf, dass die jungen Offi­
ziere keine Schulden machten und nicht auf finanzielle Unterstützung durch
die Familie angewiesen waren. Ein tadelloses, sparsames Leben zu führen,
fernab früherer Exzesse, wie sie im Kaiserreich vorgekommen waren, galt in
der Reichswehr als Pflicht.
Der Anspruch, den die Reichswehr an ihre Berufssoldaten stellte, war hoch.
In dem Leitfaden für den Unterricht hieß es:

Wir wollen Männer, die durchdrungen sind von der Liebe zum Vaterland und
zu unserem herrlichen Beruf, die mithelfen wollen beim Wiederaufbau des
Vaterlandes und die entschlossen sind, die Heimat und ihre gesetzmäßigen
Einrichtungen, wenn es not tut, bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.58

Im Friedensdienst der 1920er-Jahre kam es noch nicht auf den letzten Bluts­
tropfen an. Schwieriger zu erfüllen waren die in 15 Artikeln festgelegten
»Berufspflichten des deutschen Soldaten«. Hier hatte Gehlen vielleicht doch in
dem einen oder anderen Falle stille Vorbehalte bzw. in der Realität seiner wei­
teren Laufbahn konnte er solchen Pflichten nicht immer voll genügen.59 Sich
eifrig bemühen, die Pflichten »treu und gewissenhaft zu erfüllen« (Art. 1) und
den Vorgesetzten Achtung und Gehorsam entgegenzubringen (Art. 6) – daran
sollte es bei ihm grundsätzlich nicht mangeln. Die »Ehre« als höchstes Gut zu
betrachten (Art. 2), das war im Generalstabsdienst während des Zweiten Welt­
kriegs und später als Spionagechef nicht immer möglich. Dieses Leben ver­
langte Anpassung, Kompromissbereitschaft und notfalls auch Unterwerfung.
Mit einem absolut gesetzten Ehrenstandpunkt wäre Reinhard Gehlen in sei­
nem Beruf nicht weit gekommen. Ähnlich verhielt es sich mit der Forderung,
dass »ihn Furcht vor persönlicher Gefahr [niemals] an der Erfüllung seiner
Berufspflichten hindern« dürfe (Art. 5). Dass der Vorwurf, feige zu sein, »für
den Soldaten besonders schimpflich« war, verstand sich von selbst. Aber mit

57 Reichsgesetzblatt (RGBl), I, 1922, S. 821; Zwölfte Ergänzung des Besoldungsgesetzes vom


12.12.1923, RGBL, I, 1923, S. 1181.
58 Leitfaden für den Unterricht im Heere, hg. vom Reichswehrministerium, Berlin 1924, S. 1.
Sein persönliches Exemplar bewahrte Gehlen zeitlebens auf.
59 Ebd., S. 2-3.

55
einiger Lebens- und Berufserfahrung fanden sich leicht »vernünftige« Gründe,
weshalb man einer persönlichen Gefahr besser aus dem Wege ging.
Der junge Leutnant hatte wie die meisten seiner Kameraden kein Problem
damit, dem Artikel 9 zu folgen, mit dem die Reichswehrführung forderte: »Der
Soldat darf sich politisch nicht betätigen, politischen Vereinen nicht angehö­
ren und an politischen Versammlungen nicht teilnehmen.« Als sich dieses
Leitbild des vermeintlich »unpolitischen« Soldaten ab 1933 veränderte, blieb
Gehlen offenbar bei dieser Haltung, besser gesagt, er verstand sich anzupas­
sen, ohne sich zu offenbaren. Als er sich nach 1945 zum Politiker wandelte,
blieb er bei dieser Selbsteinschätzung, dass er sich als Diener des Staates nicht
politisch betätige. Gemeint war allerdings nur die aktive Tätigkeit in einer Par­
tei. Als »parteiloser« Staatsdiener sah er sich gleichsam über den Parteien ste­
hen, ein vordemokratisches Verständnis von Politik, das Reinhard Gehlen in
jungen Jahren von seinen Vorgesetzten in der Reichswehr eingeimpft bekam.
Es ließ ihn zeitlebens nicht völlig los.
Vor Gehlen lagen nach dem Abschluss der Offiziersausbildung drei Jahre
Truppenpraxis, das heißt vor der Front zu stehen, als Geschützführer, Feuerleit­
offizier und Kompanieoffizier. Eine Batterie umfasste damals sechs Offiziere
und 120 Mann. Der Dienstalltag der Leutnants war durch die Waffengattung
Artillerie geprägt. Anders als bei der Infanterie, wo der Leutnant als Zugfüh­
rer die ihm unterstellten rund 30 Soldaten, unterstützt durch drei Feldwebel/
Unteroffiziere als Gruppenführer, direkt auch im Gefecht anführt, ist der junge
Artillerieoffizier an die Hauptwaffe gebunden. Er kommandiert als Batterie­
offizier die vier Geschütze der Batterie, bildet die Besatzungen dafür aus oder
kann als Beobachtungsoffizier den Batteriechef unterstützen. Im Einsatz fun­
giert er meist als vorgeschobener Beobachter eingesetzt und handelt selbst­
ständig. Auf der nächsthöheren Stufe als Batteriechef wird er den Feuerkampf
häufig nicht selbst führen, sondern wechselt als Berater zum Kommandeur
eines Infanterieregiments, dem seine Batterie unterstellt wird. Gleiches gilt
für das gesamte Artillerieregiment, das mit seinen drei Abteilungen zu jeweils
drei oder vier Batterien zu einer Infanteriedivision gehört. Das Artillerieregi­
ment wird selten geschlossen eingesetzt, sondern als Unterstützungswaffe den
drei Infanterieregimentern zugeteilt bzw. abteilungsweise zu Schwerpunkten
zusammengefasst. Die reitenden (r.) Batterien bzw. Abteilungen waren dafür
vorgesehen, gegebenenfalls die Kavallerieregimenter zu unterstützen. Das
Artillerieregiment verfügte über ein Trompeterkorps. Es verlieh ihm einen rei­
terlich-romantischen Hauch, besonders bei großen Paraden, die nacheinander
in allen drei Gangarten vorgeführt wurden.
Dem Charakter der Artillerie entsprechend wurde bereits der junge Offizier
darin geschult, sich als Gehilfe eines nächsthöheren Führers zu verstehen. Die
Schießverfahren und taktischen Einsatzmuster erforderten ein hohes Maß an

56
Standardgeschütz in Gehlens Regiment: 7,5-cm-Kanone mit Besatzung, 1931

technisch-mathematischen Kenntnissen, nicht zuletzt auch ein großes Ver­


ständnis für die Logistik. Es kam bei der Artillerie nicht auf ein Führen durch
persönliches Vorbild an, sondern auf systematisches Denken und fleißiges
Berechnen. Nicht der Vorkämpfer, der sich »mit Hurra« auf den Feind stürzt,
war gefragt, sondern der kühle Rechner einige Kilometer hinter der Front, was
ganz den Fähigkeiten von Reinhard Gehlen entsprach. Nachdem die Artillerie
im Ersten Weltkrieg allerhöchste Bedeutung gewonnen hatte, gelangten ihre
Vertreter auch entsprechend in höchste Führungspositionen. Viele Führungs­
und Spitzenpositionen in der künftigen Wehrmacht wurden im Zweiten Welt­
krieg durch gelernte Artilleristen besetzt.
Gehlen hatte als Leutnant einigen Freiraum, den er nutzen konnte, um sich
selbst weiterzubilden. Wofür interessierte er sich? Für Kriegsgeschichte? Aktu­
elle politische Entwicklungen? Für das Vorbild Seeckt, der als Chef der Heeres­
leitung die Reichswehr maßgeblich prägte? In seinen Erinnerungen gibt er dar­
über keine Auskunft. Wenn er später seinen Kindern von seiner Leutnantszeit
erzählt hat, dann handelte es sich um Geschichten und Anekdoten aus dem
Dienstleben, das bei guter Kameradschaft manch lustiges Erlebnis bereithielt.
Er erwähnte auch die Einschränkungen, die der Versailler Vertrag für den
Dienst mit sich brachte: Übung an Attrappen, da es nicht genügend Geschütze,
Fahrzeuge und Waffen gab. Doch da existierte auch noch eine andere Seite, von
der er nichts erzählte, die »Schwarze Reichswehr«, eine geheime Organisation

57
für den Ernstfall. Dazu gehörten kriegserfahrene Veteranen, die zum Beispiel
als Landarbeiter auf großen Gutshöfen arbeiteten und jederzeit aus versteckten
Waffenlagern ausgerüstet werden konnten. Landesschutzoffiziere, ehemalige
Offiziere, koordinierten die verbotenen Maßnahmen zur Vorbereitung einer
Mobilmachung, insbesondere auf personellem Gebiet. Die Territorialbefehls­
haber verfügten in jedem Landkreis über einen hauptamtlich angestellten
Kreisleiter, »der von einer ehrenamtlich tätigen, einflussreichen Persönlich­
keit seines Kreises (Grundbesitzer oder Industrieller) eingeführt und gedeckt
wurde«.60 Diese Kreisleiter kümmerten sich um die Erfassung der ehemaligen
Soldaten, hielten Ausbildungskurse ab und bereiteten die Aufstellung von
Grenzschutzeinheiten vor. Spezielle »Feldjäger«-Gruppen wurden trainiert, um
im Ernstfall Überfalle hinter den feindlichen Linien durchführen zu können.
In Schlesien war das Netz dieser illegalen Organisation aus strategischen
Gründen besonders dicht. In Schweidnitz lag die Arbeit in den Händen der
sogenannten Vaterländischen Verbände, deren Geschäftsführer, ein Major a. D.
Weberhauer, sein Büro im Stabsgebäude des Infanterie-Regiments 7 hatte.61
Gehlen dürfte ihm öfters begegnet sein. In Jüterbog war ein Leutnant Lehmann
vom Stab des Artillerie-Regiments 3 mit der Durchführung von Ausbildungskur­
sen für das Maschinengewehr beauftragt gewesen, an denen heimlich auch Bau­
ernsöhne der Umgebung teilnahmen.62 Angeblich hat Gehlen ein Angebot zur
Mitarbeit – zum Beispiel bei der Beobachtung der polnischen Grenzanlagen -
abgelehnt. Eine andere Reaktion wäre verwunderlich, denn diese Verknüpfung
der Reichswehr mit dem republikfeindlichen und völkischen Lager der Wehr­
verbände, etwa der Werwolf-Organisation, entwickelte sich rasch zu einem der
heftigsten politischen Streitpunkte zwischen der militärischen und der poli­
tischen Führung der jungen Republik. In einigen Fällen befassten sich solche
Landesschutzoffiziere sogar schon mit der Aufstellung von Listen politischer
Gegner, die im Ernstfall ausgeschaltet werden sollten. Da konnte man schnell
ins Zwielicht geraten und öffentlich angeprangert werden. Das war nichts für
Reinhard Gehlen, der hier mit konspirativen Dingen in Berührung kam, die in
den 1950er-Jahren wieder aktuell wurden, da schwieg er sich lieber aus.
Als Leutnant wurde Gehlen durch Lehrgänge und Kommandierungen wei­
tergebildet, zum Beispiel im Munitions- und Funkwesen. Bei einer Entsendung
zur Artillerieschule erhielt er eine Spezialausbildung im Vermessungswesen
und Artillerie-Beobachtungswesen. Nach seiner Rückkehr kam er zur 2. Batte­
rie, die auch für solche Sonderaufgaben zuständig war. Da seine Batterie teilmo­

60 Jun Nakata: Der Grenz- und Landesschutz in der Weimarer Republik 1918-1939. Die
geheime Aufrüstung und die deutsche Gesellschaft, Freiburg 2002, S. 270.
61 Ebd., S. 271.
62 Ebd., S. 172.

58
torisiert war, musste er nun die militärischen Führerscheine erwerben. Dafür
lernte er auf einem alten Daimler-Benz, der höchstens 60 Stundenkilometer
fahren durfte, weil sonst abends die Karbidlampen am Fahrzeug durch den
Luftzug ausgingen. Beim Lastwagen war die Geschwindigkeit auf 40 Stunden­
kilometer gedrosselt. Einen Geschwindigkeitsrausch der Motorisierung gab es
bei der Reichswehr nicht, die über wesentlich mehr Pferde als Kraftfahrzeuge
verfügte. So bestimmte der Vierbeiner unverändert das Tempo der Armee.
Sehr besorgt war Gehlen offensichtlich darum, trotz seiner Jugend »vor
der Front« eine gute Figur zu machen und von seinen oft älteren Unterge­
benen respektiert zu werden. Persönliche Autorität zu erlangen, jenseits des
Vorgesetztenstatus, setzte eine untadelige eigene Haltung voraus. Als sein
jüngster Bruder Walther zu ihm als Rekrut in die Einheit kam, lag es an Rein­
hard, ihn wegen einer Verfehlung in Vertretung des Batteriechefs zu bestrafen.
Vorschriftsgemäß befragte er daraufhin die Vertrauensleute der Mannschaf­
ten, was sie als Strafe vorschlügen. Sie empfahlen, es bei einer Verwarnung
zu belassen, doch Reinhard ließ seinen Bruder für drei Tage einsperren, weil
er glaubte, anderenfalls gegenüber den Kameraden sein Gesicht zu verlieren,
wenn er nicht einen schärferen Maßstab angelegt hätte.63 Später als Präsident
des BND handelte er in dieser Hinsicht sehr viel großzügiger.
Als dem jüngsten Leutnant oblag ihm die Durchführung des Dienstsports
mit dem Schwerpunkt Leichtathletik, was er mit seinem Sinn für Systematik
organisierte. Um eine möglichst hohe Durchschnittsleistung zu erreichen,
verlangte er von seinen Leuten langsam steigernd größere Anstrengungen. Er
selbst interessierte sich zunehmend für den Pferdesport. Das war naheliegend
in einem Regiment, das mit Hunderten von Pferden ausgestattet war. Ein älte­
rer Leutnant seiner Batterie war finanziell in der Lage, sich mehrere eigene
Turnierpferde zu halten. Unter seiner Anleitung durfte Gehlen die Pferde im
Training reiten und ihn auf Turnieren begleiten. Bald konnte er eigene Erfolge
aufweisen. Bei einem Reitturnier in Muhrau, einem kleinen Dorf im Landkreis
Schweidnitz, wurde er trotz eines Sturzes noch Dritter in der Springprüfung.
Der Reitsport galt damals als typischer Offizierssport. Hier ließen sich
berufliche Anforderungen und standesgemäßes öffentliches Auftreten ideal
kombinieren. Der ehrgeizige junge Leutnant setzte also alles daran, auch auf
diesem Felde durch systematisches Training zu reüssieren. Schließlich konnte
er damit nicht zuletzt seinem Vater imponieren, der in seiner Freizeit die
Reitausbildung in einem Wehrsportverband leitete. Ein ländliches Reitturnier,

63 Schilderung Gehlens nach dem Kurzprotokoll der 25. (nichtöffentlichen) Sitzung des
2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages – GUILLAUME im Bayeri­
schen Landtag, 19.11.1974, Verschlusssachen-Registratur Bundeskanzleramt, Akte 5039,
zu 113 00 (12), Bd. 11.

59
Reinhard Gehlen (rechts) beim Reitturnier in Muhrau 1924

womöglich unter den Augen der örtlichen Großgrundbesitzer, war als Einstieg
für Reinhard Gehlen gut gewählt.
Die Liebe zum Pferdesport führte auch zu einer »ernsthaften Herzensan­
gelegenheit«. Er lernte eine beeindruckende Turnierreiterin kennen, um die
er sich erfolgreich bemühte. Sie stammte aus einer sehr wohlhabenden Indus­
triellenfamilie und verfügte über ein großes Vermögen, das es ihr erlaubte,
mit exzellenten Pferden eine Reihe von Preisen zu gewinnen. Nach reiflicher
Prüfung entschlossen sich beide zur Heirat. Doch die Auserkorene machte zur
Bedingung, dass der Leutnant seinen Abschied nahm, damit er sich als ihr Ehe­
mann um die Verwaltung des Vermögens kümmern konnte. Nach langem inne­
ren Ringen entschloss Gehlen sich jedoch zur Lösung der Bindung. Die Passion
für seinen Beruf wog schwerer. Dieser erste fehlgeschlagene Heiratsantrag ging
ihm offenbar sehr nahe, und er zog rückblickend daraus den Trost, dass er das
Leben nun ernster nahm.64 Der Jüngling reifte zum Manne.
Auch in seinem Elternhaus musste er sich neu orientieren. Der plötzliche
Tod der Mutter 1922 hatte den jungen Soldaten sicher tief getroffen. Nun, vier
Jahre später, heiratete Vater Gehlen am 17. August 1926 Helene verw. Hörner,
geb. Markiewitz. Reinhard Gehlens Stiefmutter war jüdischer Abstammung,
Witwe eines Offiziers und brachte einen Sohn aus erster Ehe mit, der in den

64 Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, Quick 43/1971, S. 20.

60
1930er-Jahren nach Shanghai emigrierte und dort ums Leben kam. Fünf
Monate nach ihrer Heirat, am 1. Februar 1927, starb auch sie überraschend.
Verlagsdirektor Walther Gehlen war erneut Witwer, wandte sich jedoch kurz
darauf nochmals einer Frau seiner Generation zu und bescherte Reinhard
Gehlen eine zweite Stiefmutter. Klara Elisabeth Kopp, geboren 1885 im schle­
sischen Myslowitz, nahe Kattowitz, war von ihrem ersten jüdischen Mann Otto
Schneemilch geschieden und eine sehr resolute, bestimmende Frau, Leiterin
einer Höheren Knaben- und Mädchenschule. Sie brachte zwei Söhne mit in die
Ehe.65 Sie alle wurden von Vater Gehlen und seinem großen Familiensinn inte­
griert, der auch seinen Sohn Reinhard umgab und stark prägte, nur der älteste
Sohn Johannes wurde auf Distanz gehalten. Es gibt zwar ein Foto aus dem Jahr
1925, auf dem er mit seinen Brüdern Walther und Reinhard zu sehen ist, aber
in der Öffentlichkeit firmierte er weiterhin bloß als der römische Cousin. So
verlor also der junge Leutnant seinen emotionalen Bezugspunkt, die Mutter,
und musste sich mit einer resoluten Stiefmutter in einer Art von Patchwork-
Familie arrangieren – vermutlich kein Anreiz, das Elternhaus in Breslau allzu
häufig aufzusuchen. Aus dieser Zeit stammt die Freundschaft mit Therese
von Lüttwitz, die Gehlen in Schweidnitz kennengelernt hatte. Sie war in den
1950er-Jahren Sekretärin im Auswärtigen Amt und mit der Familie befreundet.
Ab 1. Oktober 1926 wurde Gehlen für zunächst ein Jahr zur Kavallerieschule
der Reichswehr an der Möckernstraße in Hannover abkommandiert. Für den
jungen Leutnant der Artillerie war das eine förderliche Maßnahme, denn von
den 18 Lehrgangsteilnehmern stammten allein 11 aus Kavallerieregimentern.
Gehlen war zusammen mit Oberleutnant Rudolf Sperl (zuletzt Generalleutnant
der Wehrmacht) aus seinem Regiment ausgewählt worden. Neben der überwie­
gend bespannten Artillerie kamen dafür selten Vertreter anderer Regimenter
zum Einsatz. Für Gehlen sind diese zwei Jahre an der feudalen Kavallerieschule
sicher die körperlich härtesten, aber zugleich auch gesellschaftlich anregends­
ten Jahre seiner Militärzeit gewesen. Dass lange nach seinem Tod in einer per­
sönlichen Kiste Lehrgangsunterlagen von Hannover auftauchten, ist als Indiz
dafür zu werten, welch starken Eindruck diese Zeit auf Gehlen gemacht hat.66

65 Dr. Hans-Dietrich Schneemilch, der nach dem Krieg als Mediziner beim BND arbeitete,
und Dr. Gerhard Schneemilch, beide also später promoviert.
66 Die Ausbildung lässt sich in ihrem äußeren Verlauf durch die kleine Erinnerungsschrift
eines nachfolgenden Lehrgangs nachvollziehen, an dem auch der junge Kavallerieoffi­
zier Claus Schenk Graf von Stauffenberg teilnahm; siehe Zwei Jahre als Bereiteroffizier
an des Deutschen Reiches Kavallerie-Schule, hg. von Werner-Ehrenfeucht, Rittmeister
und Eskadronchef im 18. Reiter-Regiment. Hannover [um 1930]. Der Herausgeber ist
wahrscheinlich identisch mit Hans-Joachim Werner-Ehrenfeucht, 1943 Generalmajor
und Kommandeur der 23. Panzerdivision; siehe Carl Friedrich Mossdorf: Kavallerie­
schule Hannover, Warendorf 1987.

61
Cover der Lehrgangsbroschüre, um 1930

Gehlen, befreit vom Ausbildungsbetrieb im Regiment, konnte sich nun aus­


schließlich den Pferden und dem Turniersport widmen. Gleich in den ersten
Tagen verschaffte er sich einen Überblick über das Gelände der Schule und
ritt hinaus auf die Heide nördlich von Hannover. Auf dem Rückweg machte
er die Bekanntschaft von zwei sehr attraktiven Damen, zwei Schwestern, wie
er annahm. Er versuchte anzubandeln, scherzte ein wenig und verabschie­
dete sich mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Wenige Tage später
machte er seinem Reitlehrer den üblichen Anstandsbesuch, der ihm die bei­
den Damen als seine Frau und seine Tochter vorstellte. Über diesen peinlichen
Moment konnte er noch Jahre später lachen. Dem Chef seiner Bereitergruppe
begegnete er 1937 wieder, als dieser Militärattache in Helsinki geworden war
und Gehlen ihn zusammen mit seiner Frau besuchte.
Schulkommandeur in Hannover war Oberst Arnold Preußer. Außer dem
Adjutanten Major Stubenrauch gehörten acht Lehrer und Aufsichtsoffiziere
zum Führungspersonal, wieder eine überschaubare kleine Gruppe. Die Berei­
tergruppe, der Gehlen zugeteilt war, bestand aus etwa zehn Unteroffizieren
und zwei Offizieren, außer ihm Oberleutnant Ulrich Liss, ab 1937 Chef der
Abteilung Fremde Heere West. Als Gehlen 1942 Chef der Abteilung Fremde
Heere Ost wurde, haben sie die frühere Kameradschaft erneuern können.
Neben einem Schulstall, wo ausgesuchte Pferde für den Turniersport trai­
niert wurden, prägten die Schule vor allem Fähnriche der Kavallerietruppe, die
hier den Offizierslehrgang ihrer Waffengattung absolvierten, sowie Stabsoffi­

62
Gehlen hatte in Hannover als Bereiter täglich mehrere Remonte-Pferde zu trainieren,
1926/27

ziere der nichtreitenden Truppe, die in Hannover einen Reitlehrgang besuch­


ten, um zum Beispiel als künftige Kommandeure vor der Truppe eine bessere
Figur auf dem Pferd machen zu können. Dagegen umfasste der Bereiter-Lehr­
gang nur eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Leutnants und Oberleutnants.
Sie sollten als künftige Ausbilder in ihren Regimentern ihre Kenntnisse im Rei­
ten und im Umgang mit Pferden vertiefen.
Im Mittelpunkt des einjährigen Lehrgangs standen zahlreiche Ausritte jag­
den und Turniere. Im November und Dezember machten Jagdritte den Anfang.
Im Januar war eine Taktikwanderfahrt der Höhepunkt mit einer Kriegslage,
die im Raum Hannover spielte und die Lehrgangsteilnehmer bis in den Harz
führte. In Goslar hielt einer der Lehroffiziere einen Vortrag über die Kaiser­
pfalz, im tief verschneiten Mittelgebirge übten die Teilnehmer das vom Pferd
gezogene Skifahren, und sie mussten im Februar ihren Reitschuldienst selbst
bei 28 Grad Kälte absolvieren.

Durch das hallende ungemütliche Backsteintreppenhaus gelangt der Ritt­


meister auf den dunklen Reitplatz, über den der Ostwind fegt. Die Nase
friert beinahe zu. Der Säbel am linken Bein vermehrt das Kältegefühl. An der
Bahn 1 und 2 lang erreicht er die Kastenbahn und kurz danach den Stall 3.
Im Kopfraum ist eine Pumpe und ein Wasserbecken, in dem das Tränkwasser
Stallwärme bekommen soll. Alles ist eingefroren. Ein Unteroffizier und ein

63
Stabsgefreiter tauen mit rußenden Fackeln die Röhren und Abzugslöcher auf.
Vor dem Stalleingang hängen Zeltbahnen, um einen Doppeleingang zu schaf­
fen. Edelfalke, der dicke Fuchs, der neben der Tür steht, ist reifbedeckt. Kurz
hintereinander treffen die Bereiteroffiziere ein. Herr von der Meden erzählt
aus Ostpreußen. Er wundert sich, dass die anderen frieren. So ein Wetter ist
da oben an der Tagesordnung, jetzt messen die Thermometer bei Eydtkuh­
nen 40° minus. Der kleine Oberleutnant Momm friert so, daß er kaum spre­
chen kann. Verzweifelt sehen seine Augen aus dem offenen Dreieck des hoch­
geschlagenen Pelzkragens. Das nutzt aber alles nichts. Der Älteste befiehlt:
>Reitergruppe 3 rausziehen.<
Über den eisigen Hof zieht die Karawane der kälteverkrampften Pferde und
Bereiter zur Bahn 2. Schon beim Abtraben wirbelt der Staub des ausgetrock­
neten Hufschlags so, daß der Reitlehrer, ein einstiger Sächsischer Karabinier,
seine Schüler kaum noch erkennen kann. Als aber die Abteilung zusammen­
genommen wurde, als die eigentliche Dressur begann und als gar Galoppre­
prisen eingelegt werden, entwickelt sich ein dicker brauner Schmutzwirbel,
der sich zäh in die Augen, in die Nasenlöcher und in die Ohren setzt, die
Bekleidung und die Pferde wie mit braunem Puderzucker überzieht. Die
Augen triefen, es ist schwer, vom Vorderreiter Abstand zu halten. Die Nase
verstopft sich. Durch die Mundatmung setzt sich der Staub in die Bronchien
und reizt zum Husten; und erst die Finger und Füße! Die scheinen einem
abzufallen. Die Zügel schnüren die kleinen Finger ab, die Stahlbügel ver­
mitteln der Sohle noch besser die Kältegrade. Und die Pferde buckeln und
sträuben sich, steif wie sie sind, die Hinterhand herzugeben. An den Wänden
huschen in dem jetzt so trüben Bogenlampenlicht groteske Schatten. Der
Karabinier aber waltet treu seines Amtes als Lehrer (wenn einer der Berei­
ter nicht aufpaßt, fliegt ihm des Lehrers Filzstiefel an den Kopf.) Er liebt die
Kälte, und er hat auch recht, dass er den Dienst stattfinden läßt wie immer,
denn in den Winterschlachten des Weltkrieges haben alle diese Offiziere da
oben auf ihren Pferden, die alle den Feldzug mitmachten, größere Kälte erlebt
und dem Feind mit den Waffen in der Hand noch die Zähne zeigen müssen. -
Wenn dann aber die ersten zwei Stunden rum sind und eine kleine Pause
erfolgt, dann schmeckt der Kaffee oder ein Gläschen Grog in der Ofenecke
des Frühstückzimmers.67

67 Siehe Zwei Jahre, S. 21-22. Dass die Erfahrungen des letzten Krieges natürlich immer
auch eine Rolle spielten, zeigt der Vortrag des Kommandeurs der 2. Kavallerie-Division,
Generalleutnant Richard von Graberg, in Hannover über »Die Heereskavallerie in der
Wilnaschlacht«; Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 64.

64
Kavallerieschule Hannover: Bereiteroffiziere des Jahrgangs 1926, zu denen auch Reinhard
Gehlen (auf dem Foto nicht identifizierbar) gehörte

Geselliger Höhepunkt im März war das jährliche »Rheinweinhöhenfest«; für die


Bereiter beider Jahrgänge war es eine Ehrensache, zur anschließenden Karne­
valsfeier ein zünftiges Kabarettprogramm vorzuführen. Im Frühjahr stand der
Pferdesport in Hannover, einem der schönsten Rennplätze Deutschlands, im
Mittelpunkt; Hindenburg-Jagdrennen, großes Armee-Jagdrennen etc. Bis zum
Herbst gab es vielfach Gelegenheit, sich bei den zahlreichen Renntagen auszu­
zeichnen – sofern man ein geeignetes Pferd sein Eigen nannte. Dem Leutnant
Gehlen fehlten dafür die Mittel, denn die ihm von der Reichswehr zur Verfü­
gung gestellten 1800 Reichsmark »Pferdegeld« reichten nicht aus, um sich ein
hervorragendes Turnierpferd zu kaufen. Aber er konnte die Chance ergreifen,
die Organisation eines Turniers zu übernehmen, vielleicht sogar an einem Ort
in der Provinz, wo eine solche Veranstaltung zum ersten Male stattfand. Das
war in den »zwei sorg- und verantwortungslosen Bereiterjahren«68 die einzige
Möglichkeit, ein größeres Unternehmen selbst zu gestalten: Auswahl des Plat­
zes, Vorbesprechungen, finanzielle Planung, Werbung, Einsatz von Hilfskräften,
Zeiteinteilung, Herrichten des Parcours, Einweisung des Personals und am Tur­
niertag darauf achten, »dass der ganze Laden schlagartig abrollt«.
Im Juni zogen die einjährigen Bereiter von Hannover durch die Lüneburger
Heide zum Truppenübungsplatz Munsterlager. Im August stand die Sommer­
schleppjagd69 an, im Herbst konnte die Einteilung als Hilfsoffizier bei der für

68 Zwei Jahre, S. 27.


69 Bestimmungen über den Betrieb der Wild- und Schleppjagden hinter der Meute der
Kavallerie-Schule, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 64.

65
den Westen des Reiches zuständigen Remontekommission erfolgen, die bei
den Züchtern ausgesuchte Pferde aufkaufte, hauptsächlich Offiziersdienst­
pferde. Im Oktober beendete die letzte Wildjagd in der Munster Heide das
erste Bereiterjahr.
Gehlen hatte offenbar alle Anforderungen erfüllt, sodass die Verlängerung
seiner Kommandierung für ein zweites Jahr bloße Formsache gewesen ist. Die
Beförderung zum Oberleutnant (Rang 28) zum 1. Februar 1928 besserte auch
ein wenig das Gehalt auf. Jetzt standen neben den Vorträgen70 und dem allge­
meinen Offizierssport sowie dem alltäglichen Stall- und Trainingsdienst die
häufigen Schleppjagden im Mittelpunkt des Interesses. An diesen gesellschaft­
lichen Ereignissen nahmen oft auch ausländische Offiziere teil, die zur Kaval­
lerieschule abkommandiert waren, und hochrangige Besucher von fremden
Armeen.
Die Bereitergruppe wuchs in ihrem zweiten Jahr so zusammen, dass
gemeinsame Ausflüge in Zivil und gelegentlich mit Damen unternommen wur­
den, die durchaus in einer gemütlichen Gaststube am Steinhuder Meer enden
konnten, wo man tanzte und sich angeregt unterhielt,

auch über die Frau, die Offiziersfrau, wobei wir darüber einig waren, daß
selbst die fabelhaftesten Äußerlichkeiten innerliche Werte nicht ersetzen
können. Die deutsche Offiziersfrau vor dem Kriege war gesellschaftlich füh­
rend, weil sie es als Hausfrau und Mutter war. Dazu gehört große Energie
und scheinbare Entsagung. Es ist aber letzten Endes allein das, was eine Frau
befriedigen wird und die Ehe glücklich hält. Kinderlos von Fest zu Fest, von
Sport zu Sport zu jagen, muß die beste Ehe zertrümmern, kann nie den Mit­
schwestern der Gesellschaft, aber noch viel weniger der Frau aus dem Volke
als Vorbild dienen. Wie der Offizier, so hat auch seine Frau Pflichten dem
Vaterland gegenüber.71

Eine solche, dem Zeitgeist und der beruflichen Konvention geschuldeten Ein­
stellung hat sich Gehlen nicht entziehen können oder wollen, wie sich bei sei­
ner in den nächsten Jahren anstehenden Heiratsentscheidung zeigen sollte.
Turniere stachelten in Hannover seinen Ehrgeiz an, auch wenn er dabei
mehrfach stürzte und danach Verletzungen auskurieren musste. Bei einer
Reitjagd, die Gehlen erlebte, stürzten 40 von 60 Reitern, davon 15 so schwer,
dass sie ins Lazarett mussten. Nach einem dieser Unfälle verzichtete er für den
Rest seines Lebens fast völlig auf den Genuss von Alkohol. Er habe damals sein

70 Z. B. Vortrag von Stabsveterinär Dr. Meller über »Die Psychologie des Pferdes«, ebd.
71 Schilderung eines nachfolgenden Jahrgangs in: Zwei Jahre, S. 63.

66
Quantum getrunken, erzählte er später. Schließlich ebbte seine Begeisterung
für den Pferdesport ab, denn eigene Turnierpferde hätte er sich in Schweidnitz
und Berlin nicht leisten können. Vielleicht hat er auch gemerkt, dass die Pose
des Draufgängers und mutigen Reiters auf Dauer für ihn recht anstrengend
gewesen ist.
Den harten körperlichen Anforderungen schrieb es Gehlen rückblickend
zu, dass er »recht zäh und ausdauernd« geworden sei. Deswegen habe er auch
in seinen letzten Jahren als Präsident des BND ein größeres Durchhaltevermö­
gen gezeigt als manche Jüngere, was sich allerdings nicht vor der Front von
Soldaten zeigte, sondern individuell im Umgang mit dem Pferd oder beim sys­
tematischen und fleißigen Lernen. Geblieben ist ihm von Hannover ein federn­
der Gang beim Betreten zum Beispiel seines Präsidentenhauses in Pullach, der
ihn in den Augen von Untergebenen als gelernten Kavalleristen auswies. Dabei
waren ihm zeitlebens Mentalität und Eigenheit eines Kavallerieoffiziers, wie
zupackende Kühnheit oder Draufgängertum, geradezu fremd.
Geprägt war der Dienst in Hannover im Kreis gleichgestellter junger Offi­
ziere aus allen Teilen des Reiches durch das Bewusstsein, zu einer künftigen
Elite zu gehören. Nach Abschluss des Lehrgangs und Rückkehr in das eigene
Regiment, das er zum ersten Male für längere Zeit verlassen hatte, würde Geh­
len sich für größere Aufgaben qualifiziert haben. Militärisch war die Kavallerie
bzw. die Bespannung der Artillerie ein traditionelles und letztlich überholtes
Mittel der Kriegführung. Aber bis 1945 blieben Pferde im Heer ein wesentli­
cher Bestandteil der Mobilität. Es gab in der Wehrmacht bis zuletzt sogar mehr
Pferde als Kraftfahrzeuge.72
Der Adelsanteil unter Gehlens Kameraden in Hannover (8 von 18) entsprach
dem Ansehen der Kavallerie und eröffnete ihm neue soziale Kontakte, die für
seine weitere Karriere von Nutzen sein konnten. Es ist zwar nicht bekannt,
dass er zu anderen Lehrgangsteilnehmern später engere Verbindungen besaß,
was darauf hindeutet, dass er sich in Hannover in die Aufgabe als Bereiter
hineinkniete und sich bei den zahlreichen geselligen Veranstaltungen eher
zurückhielt; aber der Nachweis eines erfolgreichen Durchgangs in Hannover
verschaffte ihm in anderen Zusammenhängen Vorteile. Sein Vater wird stolz
gewesen sein auf die Kommandierung seines Sohnes.
Gehlen erlebte am 17. Oktober 1928 die Einweihung von Neu- und Erwei­
terungsbauten der Kavallerieschule. Bei dieser Gelegenheit übermittelte
Reichspräsident Generalfeldmarschall von Hindenburg ein Grußwort, das den
Angriffsgeist der Kavallerie beschwor. Welchen Eindruck es auf den jungen
Oberleutnant der Artillerie machte, ist nicht bekannt.

72 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/2, Stuttgart 1999, S. 637.

67
Gehlen (2. v. r.) bei einer Offiziersweiterbildung des Regiments, Ende 1920er-Jahre

Gehlen hätte noch ein drittes Jahr auf der Kavallerieschule bleiben können.
Aber so schön es für ihn dort auch gewesen sein mag, ihm wurde klar, dass
man sich rechtzeitig entscheiden musste, ob man als Offizier weiter »in die
Front gehen« oder eine Führungslaufbahn in einer höheren Stellung anstreben
wolle. Beides ließ sich nach seinem Eindruck nicht miteinander vereinigen.
Also kehrte er am 1. November 1928 in sein Regiment zurück, aber nicht zum
Dienst in einer Batterie. Er kam als Adjutant in den Stab der 5. (reitenden)
Abteilung und wechselte bereits nach wenigen Monaten in die I. Abteilung
nach Schweidnitz, versetzt zur 14. (r.) Batterie, zugleich als Adjutant kom­
mandiert zum Abteilungskommandeur Oberst Herbert von Ondarza. Dort
konnte Gehlen seine Erfahrungen aus Hannover einsetzen, Reitturniere und
Schleppjagden organisieren, die bei der Feldartillerie ähnliche Bedeutung für
Ausbildung, Erziehung und Geselligkeit der jungen Offiziere hatten wie in den
Kavallerieregimentern. Dabei dürfte er wieder mit Fabiunke zusammengetrof­
fen sein, dem Leutnantskameraden und ehemaligen Feldwebel, der jetzt als
Fürsorge-Offizier im Regimentsstab diente.
Als Adjutant lernte er auch andere Abteilungskommandeure kennen. Zu
ihnen gehörten einige, die im Zweiten Weltkrieg hohe Positionen einnahmen:
Friedrich Fromm, der spätere Generaloberst und Befehlshaber des Ersatzhee­

68
Gehlen (vorn rechts) in feuchtfröhlicher Runde, ca. 1928

res, und Günther von Kluge, später Generalfeldmarschall an der Invasionsfront,


die beide am 20. Juli 1944 eine ausgesprochen unglückliche Figur machten. In
seiner im Kreis der jungen Offiziere herausgehobenen Position konnte es sich
Gehlen nicht erlauben, zu »politisieren« oder gar eine republikfeindliche Hal­
tung einzunehmen. Das lag ihm nach Erziehung und Ausbildung ohnehin fern
und wäre seiner weiteren Karriere nicht förderlich gewesen. So entsprach er
idealtypisch dem Bild des Reichswehroffiziers, von dem die Führung politi­
sche Zurückhaltung, Abstinenz gegenüber den Parteien und Loyalität gegen­
über dem Staat erwartete. Das unterschied Gehlen von jenen drei Leutnants
des Artillerie-Regiments 5 in Ulm, die 1930 vor dem Reichsgericht in Leipzig
wegen Vorbereitung zum Hochverrat angeklagt waren. Ihnen wurde vorge­
worfen, mit der als verfassungsfeindlich eingestuften NSDAP konspiriert und
durch die Verteilung von Flugblättern zu einer »nationalen Volkserhebung«
aufgerufen zu haben.73 Der Prozess gab Hitler die Gelegenheit zu einem spek­
takulären Auftritt, bei dem er beeidete, ausschließlich mit legalen Mitteln die
Macht anzustreben. Gehlens Kameraden wurden zu 18 Monaten Festungshaft

73 Siehe insgesamt Peter Bucher: Der Reichswehrprozess, Boppard 1967.


Gehlen (links) als Abteilungsadjutant, ca. 1930

verurteilt. Es ist bemerkenswert, dass keine spätere Äußerung Gehlens über


diese Vorgänge bekannt ist. Wahrscheinlich haben sie ihn in seiner Zurückhal­
tung gegenüber der Politik nur bestärkt.
Während seiner Adjutantenzeit lernte er die Frau kennen, die bereit war, mit
ihm eine Familie zu gründen, und die als Offizierstochter nichts daran auszu­
setzen hatte, dass er seinen Beruf liebte. Wenige Tage nachdem sein Onkel Max
Gehlen, der Patriarch des Hirt-Verlags, am 20. März 1931 im Alter von 63 Jahren
in Leipzig gestorben war, feierte Reinhard Gehlen Verlobung mit Herta Char­
lotte Agnes Helene von Seydlitz-Kurzbach. Das Verlöbnis soll die Stiefmutter
Reinhards arrangiert haben.74 Manches spricht für eine Vernunftehe. Reinhard
Gehlen stand offensichtlich am Beginn eines beruflichen Aufstiegs in höhere
Führungspositionen, was für Jahre hinaus seinen vollen beruflichen Einsatz
erfordern würde. Der junge Oberleutnant brauchte für seine weitere Karriere
eine vorzeigbare Braut, die, wenn schon keine größere Mitgift, zumindest die
notwendige selbstlose Haltung mitbrachte, die von einer Offiziersfrau erwar­
tet wurde: die eigenen Bedürfnisse hinter die vielfachen dienstlichen Notwen­
digkeiten des Ehemannes zurückzustellen und zugleich die gesellschaftlichen
Repräsentationspflichten zu erfüllen.

74 Krüger, Reinhard Gehlen, S. 207.

70
Seine zukünftige Frau war am 17. April 1904 im oberschlesischen Leobschütz
geboren. Zwei Jahre jünger als der Bräutigam, wurde es nach den damaligen
Maßstäben mit ihren 27 Jahren höchste Zeit für eine Heirat. Herta stammte
aus der weitverzweigten alten schlesischen Soldatenfamilie derer von Seyd­
litz-Kurzbach, finanziell nicht sonderlich gut gestellt wie so viele andere »Ost­
elbier«, deren Vermögen in der Weltwirtschaftskrise verloren gegangen war.75
Sie verdiente als Sekretärin ihren Lebensunterhalt selbst, zunächst in einer
Gutsverwaltung, dann beim Wehrkreiskommando, das dem Schweidnitzer
Infanterieregiment angegliedert war. Offizierstöchter als Sekretärinnen in
militärischen Stäben waren damals keine Seltenheit. Es galt als eine der weni­
gen standesgemäßen Berufstätigkeiten, auch wenn sich das Frauenbild in den
1920er-Jahren teilweise verändert hatte. Angeblich war die Familie der Braut
gegen diese Heirat, weshalb Herta ihr Elternhaus verließ und vorübergehend
bei Freunden ihres Bräutigams Unterschlupf fand.76
Ihr Vater war Oberstleutnant a. D. Friedrich Wilhelm von Seydlitz-Kurzbach
(1873-1958), ansässig in Glogau. Die Ehe mit Mete Eichner (1882-1965), deren
Vater Hoflieferant gewesen war, hatte es ihm ermöglicht, zu den 8. Kürassieren
zu gehen, was die teuerste mögliche Offizierslaufbahn im Kaiserreich gewesen
ist. Auch Gehlens Schwiegervater hatte sich also damals für eine, wenn auch
nicht unbedingt standesgemäße, Vernunftehe entschieden. Die Verbindung
mit schlesischem Uradel war natürlich von Vorteil für die weitere Karriere
Gehlens. Über seine Ehefrau war er nun mit den von Lettow-Vorbecks und
von Reichenaus verwandt. Über Gehlens künftigen Schwiegervater schrieb
Hans-Heinrich Worgitzky, später Gehlens Stellvertreter als Chef des BND im
Rückblick:77 Er sei ein Regimentskamerad seines eigenen Vaters gewesen,
zuletzt bei den 6. Husaren, und ihm aus Glogau vom Kasino, von Besuchen
in dessen Hause und bei Pferdefragen als gütiger alter Offizier und vorneh­
mer Mann bekannt, der seinen Schwiegersohn in höchsten Tönen lobte. Die
Schwiegereltern wohnten in den 1950er- und 1960er-Jahren in einem kleinen
Haus in Berg, schräg gegenüber den Gehlens.
Auf die Herkunft seiner Frau ist Reinhard Gehlen stolz gewesen. Der Name
von Seydlitz-Kurzbach hatte in militärischen Kreisen einen besonderen Klang.
Dass sich ein entfernter Verwandter, Walther von Seydlitz-Kurzbach (1888–

75 Angabe der Familie Gehlen, Schreiben vom 4.12.2014, S. 3.


76 Mit Henriette Kliemke und ihrem Mann blieb das Ehepaar Gehlen eng befreundet. Nach
Informationen der Staatssicherheit der DDR wohnten sie Mitte der 1960er-Jahre in Berg,
Sonnenweg 240. Der Mann war inzwischen gestorben; im Haus der Witwe brachte Geh­
len privaten und dienstlichen Besuch unter; HVA III/B-205, Bericht mit Angaben über die
Familie Gehlen, 28.9.1967, BStU, MfS, HA II, Nr. 41478, Blatt 223.
77 BND-Archiv, N 23/1.

71
Hochzeit von Herta von Seydlitz-
Kurzbach und Reinhard Gehlen,
10. September 1931,
Quick, Heft 41/1971

1976), später als General der Artillerie 1943 in Stalingrad und danach als Präsi­
dent des kommunistischen Nationalkomitees Freies Deutschland so verhielt,
dass er von anderen Generalen gemieden wurde, konnte Gehlen 1931 nicht
ahnen. Walther von Seydlitz-Kurzbach fehlte ohnehin bei der Hochzeit78 und
selbst lose Kontakte zu ihm anlässlich der jährlichen Familientreffen vermied
Gehlen nach dem Zweiten Weltkrieg. Er nahm auch 1976 nicht an der Beerdi­
gung des in seiner Sicht verfemten Verwandten teil.
Zu seinem künftigen Schwager hat Reinhard Gehlen hingegen eine sehr
enge, auch berufliche Beziehung aufgebaut. Joachim von Seydlitz-Kurzbach
arbeitete ab 1947 in der Abteilung Auswertung der Org, wurde 1956 Leiter der
Personalabteilung des BND und zuletzt als Brigadegeneral der Bundeswehr
Leiter der Fernmelde-Aufklärung im BND.
Die Eheschließung von Reinhard Gehlen und Herta von Seydlitz-Kurzbach
fand am 10. September 1931 in der Garnisonkirche in Glogau statt. Die Heirats­
erlaubnis des Reichswehrministeriums hatte pünktlich vier Wochen vorher

78 Schreiben vom Joachim von Seydlitz-Kurzbach an das BND-Archiv, er könne bezeu­


gen, dass Walther von Seydlitz-Kurzbach nicht an der Hochzeit teilgenommen habe,
11.6.1989, BND-Archiv, N 71.

72
vorgelegen. Anders als seine Eltern bei ihrer Heirat konnte Reinhard Gehlen
ohne Gewissensnot in Uniform vor den Traualtar treten. Das erste Kind wurde
erst drei Jahre später geboren.
Zehn Tage nach der Heirat musste das junge Paar seine Hochzeitsreise in
den Thüringer Wald abbrechen, weil Gehlen Nachricht erhielt, dass ein neuer
Abteilungskommandeur in Schweidnitz empfangen werden sollte, ein Ereignis,
bei dem nach dem strengen militärischen Protokoll für ihn als Adjutant Anwe­
senheitspflicht bestand. Während sich die innenpolitische Krise verschärfte,
sich die vermeintlich »goldenen Jahre« der Weimarer Republik endgültig dem
Ende zuneigten und die Zahl der Arbeitslosen astronomische Höhen erreichte,
stellte sich Gehlen in der kleinen schlesischen Garnison als Adjutant seines
Abteilungschefs den militärischen und gesellschaftlichen Herausforderun­
gen seiner Position. Sie brachte ihn bei vielen Veranstaltungen in engen Kon­
takt mit Menschen aller Berufskreise. Ermuntert von seinem Schwiegervater
begann er im Herbst 1932 mit den Vorbereitungen für die sogenannte Wehr­
kreisprüfung. Das war gleichsam die Aufnahmeprüfung für die Kriegsakade­
mie, deren Existenz der Versailler Vertrag untersagt hatte. Vorbereitung und
Prüfung für die Stabsoffizierslaufbahn fanden daher in den einzelnen Wehr­
kreisen unter Leitung der dort tätigen Generalstabsoffiziere nach einem fest­
gelegten Plan statt. Außer den militärischen Fächern wurden auch Geschichte
und Sprachen gelehrt.

3. Ausbildung zum »Führungsgehilfen« (1933-1935)

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich Gehlen sonderlich für die sich Ende
1932 zuspitzende aktuelle politische Lage interessiert hätte, obwohl die Reichs­
wehr eine wichtige Rolle bei der Klärung der Machtverhältnisse spielte. Die
Möglichkeit einer Militärdiktatur war nicht ausgeschlossen. Die teilweise revo­
lutionäre Attitüde der Nationalsozialisten stieß im Offizierskorps und im Bür­
gertum überwiegend auf Ablehnung, auch wenn angesichts der angespannten
Situation die Sorge vor einem kommunistischen Umsturz größer gewesen ist.
In den Kreisen der »Ostelbier«, der Großgrundbesitzer im Osten des Reiches,
denen Gehlen nahestand, vertraute man auf die Autorität des greisen Reichs­
präsidenten Hindenburg, der als ehemaliger Generalfeldmarschall das unter­
gegangene Kaiserreich verkörperte. Der autoritäre Kurs der von ihm eingesetz­
ten Regierungen Brüning, Papen und Schleicher hatte in weiten Kreisen die
Erwartung einer grundlegenden Wendung in Deutschland verstärkt, unter Ein­
beziehung der Hitler-Bewegung, die von einem Wahlerfolg zum nächsten eilte.
Die sich nach der Machtübernahme des »böhmischen Gefreiten« Anfang
1933 anbahnende »nationale Revolution« ist offenbar auch in Gehlens familiä­

73
rem Umfeld mit Zustimmung aufgenommen worden. Sein liberalkonservativer
Vater hatte berufliche und private Gründe, sich nun möglichst rasch um einen
Beitritt zur NSDAP zu bemühen. Die Schulpolitik in Preußen lag nicht länger
in den Händen der Sozialdemokraten, da mochte es für den Leiter eines Schul­
buchverlags vorteilhaft erscheinen, zu den neuen Machthabern gute Bezie­
hungen anzuknüpfen. Die riesige Beitrittswelle im Frühjahr 1933 veranlasste
allerdings die Parteiführung, einen vorläufigen Aufnahmestopp anzuordnen,
sodass die Aufnahmeanträge von Walther und Elsa Gehlen bei der Gauleitung
Mittel-Schlesien in Breslau zunächst liegen blieben. Um sein Geschäft weiter­
führen zu können, strebte der Major a. D. vor allem danach, in die neu gebildete
Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden. Insbesondere seine Frau
Elsa, die energische Schulleiterin, kämpfte nachdrücklich um die Aufnahme in
die NSDAP. Die jüdischen Bezüge in der Familie ließen es vermutlich ebenfalls
opportun erscheinen, sich abzusichern.
Walther Gehlen wandte sich deshalb an einen alten Bekannten. Der ehema­
lige Gerichtsassessor in Breslau Hans Heinrich Lammers hatte als Kriegsfrei­
williger im dortigen Infanterie-Regiment 51 gedient und war 1933 Staatssekre­
tär und Chef der Reichskanzlei geworden. Lammers unterstützte das Anliegen
Gehlens bei Martin Bormann, dem Stabsleiter des Stellvertreters, der neue
Aufnahmescheine zur Verfügung stellte. Nebenbei besorgte Lammers auch
für den Sohn Walther, Reinhards Bruder, eine Ausnahmegenehmigung beim
Reichsinnenministerium, die Nachprüfung im Rahmen seines Medizinstudi­
ums wiederholen zu dürfen. Man half sich eben unter alten Kameraden.
Doch 1933 funktionierten solche Verbindungen zur Partei noch nicht rei­
bungslos. Die Zustimmung von Bormann brachte das Verfahren nicht recht
in Schwung. So wandte sich Elsa Gehlen sogar an den »Stellvertreter des Füh­
rers«, Rudolf Heß, den damaligen Vorgesetzten von Bormann, und suchte
seine Unterstützung. Heß befürwortete die Aufnahme des Ehepaars Gehlen,
doch die zuständige Gauleitung intervenierte, sodass erst eine Mitteilung des
Reichsschatzmeisters am 7. Juni 1934 mit dem Verweis auf die Befürwortung
von Heß das Verfahren zum Abschluss brachte. Die Mitgliederkartei zeigte
dann das rückwirkend festgesetzte Eintrittsdatum 1. Mai 1933, womit sich
Gehlens Eltern politisch abgesichert sehen konnten.79
Reinhard Gehlen erlebte die Machtübernahme der Nationalsozialisten, als
er mitten in den Prüfungsvorbereitungen steckte. Da die Reichswehrführung
den politischen Wechsel unterstützte und die NSDAP die »Wiederwehrhaft­
machung« Deutschlands sowie die Revision des Versailler Vertrags versprach,

79 Schriftwechsel dazu im Berlin Document Center (»Gehlen«) sowie im BStU-Archiv, MfS,


HA IX/11, FV 5/72, Bd. 9, Teil 2.

74
hatte der junge Oberleutnant keine Veranlassung, um seine persönliche
Zukunft besorgt zu sein. Das ließ ihn über manch »unschöne« Begleiterschei­
nung des Regimewechsels hinwegsehen. Zu seinem jüdischen Klassenkame­
raden Theodor Eckstein bestand keine Verbindung mehr. Den öffentlichen
Demonstrationszug von Breslauer Arbeitern anlässlich der Beerdigung des
ermordeten Bruders von Eckstein hat Gehlen vielleicht nicht einmal regis­
triert. Dass es aber auch in seinem nationalkonservativen Umfeld zumindest
leise Kritik an den »Nazis« gab, dürfte ihm nicht verborgen geblieben sein.
Als sich Theodor Eckstein auf die Emigration nach Palästina vorbereitete,
benötigte er für das Ausreisevisum eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der
Steuerbehörde. Der wesentlich ältere Beamte erschien in seiner Wohnung, um
die Buchhaltung – sehr wohlwollend – nachzuprüfen. Beim Abschied wandte
er sich an den jungen Mann mit den Worten:

Was sagen Sie nun zu diesem fürchterlichen Terrorregime, dieser Barbarei,


die über uns gekommen ist? Ich persönlich bin ein deutschnationaler Mann,
früher deutschkonservativ und königstreu bis auf die Knochen. Wäre so
etwas unter der Herrschaft der Hohenzollern möglich gewesen? Sagen Sie
als Jude: Haben Sie, Ihre Glaubensgemeinschaft, es nicht unter den Hohen­
zollern gut gehabt?

Wäre Wilhelm II. nicht »desertiert«, wäre es nicht zur Republik »und gewiss
niemals zu diesem heutigen Regime« gekommen, meinte der Finanzbeamte.80
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Gehlen damals ein überzeugter Repu­
blikaner gewesen wäre, aber er war sicher auch kein Antisemit und kein über­
zeugter Anhänger des Nationalsozialismus. Die Politik hat ihn damals vermut­
lich weniger denn je interessiert, denn er stand unmittelbar vor der wichtigsten
Hürde in seiner Laufbahn als Offizier.
In der zweiten Märzwoche 1933 unterzog sich Reinhard Gehlen der Wehr­
kreisprüfung. In der Regel wurden nur zehn Aspiranten aus jedem Wehrkreis
zugelassen. Die nach einem Punktesystem ausgewählten Oberleutnants waren
im Sommer darüber informiert worden, dass sie sich während des Winters
neben dem regulären Truppendienst auf die Prüfung Ende März vorbereiten
durften, die über eine Kommandierung zur Generalstabsausbildung entschied.
Das hohe Ansehen des Generalstabs als der Leistungselite der Armee basierte
auf einer wissenschaftlichen Auslese, die neben dem Ausweis hervorragender
Leistungen im Truppendienst und dem Bestehen schwieriger theoretischer

80 Bericht von Theodor Eckstein in einem Brief an Gehlen, 18.2.1973, Stadtarchiv Haifa,
Nachlass Even-Pinnah.

75
Prüfungen »ganz ausschlaggebend nach charakterlichen Gesichtspunkten«
vollzogen wurde.81
Die Prüfungsvorbereitungen lagen in den Wehrkreisen in den Händen
von Generalstabsoffizieren, die schriftliche Hausaufgaben in den einzelnen
Fächern stellten, korrigierten und dann schriftlich besprachen. Standen genü­
gend Haushaltsmittel zur Verfügung, konnten die Kandidaten während des
Winters zusammengezogen werden und mündliche Besprechungen der Auf­
gaben die Vorbereitung ergänzen. Es lag allerdings im Ermessen des jeweiligen
Truppenkommandeurs, ob der Offizier auch die erforderliche Freizeit zu pri­
vaten wissenschaftlichen Studien bekam und die nötige Unterstützung fand.
Regimentsadjutanten wie Gehlen, die sich mehr mit der Materie beschäftig­
ten, hatten gegenüber reinen Truppenoffizieren natürlich einen nicht uner­
heblichen Vorteil.
Die Aufgaben für die Wehrkreisprüfung wurden schließlich zentral vom
Chef des Truppenamts gestellt, der die Funktion eines vom Versailler Vertrag
verbotenen Chefs des Generalstabs ausübte. Nach einem genau festgelegten
Punktesystem wurden die Ergebnisse dann unter einer Decknummer für jeden
Offizier korrigiert und bewertet. Der damit beauftragte Generalstabsoffizier
kannte den Namen des Bewerbers nicht, was eine weitgehend objektive Leis­
tungsauswahl gewährleistete.
Das geschichtliche Prüfungsthema konnte frei gewählt werden. Gehlen
entschied sich für Bismarcks Außenpolitik unter spezieller Berücksichtigung
des Rückversicherungsvertrags mit Russland, ein Thema, das ihn damals eher
zufällig interessiert habe, wie Gehlen rückblickend meinte. Dieses Interesse
signalisiert immerhin ein Faible für Strategie und Machtpolitik, nicht für
»Lebensraum im Osten«, dessen Eroberung zu den politischen Hauptzielen
des neuen Reichskanzlers gehörte. Das Fach Geschichte zählte während der
ganzwöchigen Prüfung mit zwei Stunden zu den Nebenfächern wie Staatsbür­
gerkunde, Wirtschaftsgeografie, Fremdsprachen, Leibesübungen, Feldkunde
und Waffenlehre. Osteuropäische Sprachen wurden besonders hoch bewertet,
aber Gehlen blieb bei der Wahl der Fremdsprache bei Englisch, das er schon
in der Schule gelernt hatte. Im Mittelpunkt der Prüfung standen vier große

81 Hans Speth: Auswahl, Erziehung und Ausbildung der Generalstabsoffiziere im Frieden


und im Kriege, in: Othmar Hackl: Generalstab, Generalstabsdienst und Generalstabs­
ausbildung in der Reichswehr und Wehrmacht 1919-1945. Studien deutscher Generale
und Generalstabsoffiziere in der Historical Division der US Army in Europa 1946-1961,
Osnabrück 1999, S. 258-264, hier S. 259. Der Verfasser der Studie war General der Artille­
rie und letzter Kommandeur der Kriegsakademie 1944/45. Speth (Jg. 1897) kam 1936 als
Hörsaal-Leiter und Taktiklehrer (nach Gehlen) an die Kriegsakademie und absolvierte
während des Kriegs eine erfolgreiche Karriere im Truppen-Generalstab.

76
Gehlen auf Urlaub von der General­
stabsausbildung, ca. 1933

Aufgaben der angewandten Taktik im Rahmen eines verstärkten Infanterie­


regiments.82
Die Prüfung hat Gehlen aufgrund seines Fleißes und seiner geistigen
Beweglichkeit mit bestem Ergebnis absolviert. Nach diesem beruflichen Erfolg
wurde seine Ehefrau schwanger, ein Muster, nach dem er auch später seine
Familie vergrößerte. Das spricht für »Familienplanung« im modernen Sinne.
Zum 1. Oktober 1933 erhielt Gehlen die Versetzung zur Verfügung des Chefs
der Heeresleitung, was eine Tarnbezeichnung für die Aufnahme in die Kriegs­
akademie war. Offiziell absolvierte er nun die »Führergehilfenausbildung«
beim Wehrkreis III (Berlin). Sein Jahrgang umfasste lediglich 33 Angehörige,
die meisten von ihnen schafften es in den nächsten zwölf Jahren wie Gehlen
bis zum Generalmajor. Er traf in Berlin manche Bekannte von der Infanterie­
schule wieder, sowohl unter den Hörsaal-Kameraden als auch unter den Leh­
rern. Dazu gehörte Albert Praun, der bereits Lehrer für das Fernmeldewesen in
München gewesen war und Gehlens Sympathie genoss, weil er das »trockene
Gebiet« ungewöhnlich interessant darzustellen vermochte. Praun brachte es

82 Der Chef der Heeresleitung, Az. 34x38/T4 II, betr. Wehrkreisprüfung 1933, 21.1.1933,
Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), RH 2/1220.

77
im Zweiten Weltkrieg bis zum General der Nachrichtentruppe der Wehrmacht
und wurde von Gehlen als Abteilungsleiter in den BND geholt. Zu zwei Kame­
raden entwickelte er eine engere Verbindung, die später bis in den BND reichte:
Ulrich Bürker83 und Erich Julius Otto Helmdach84.
Der Hörsaal-Leiter Gehlens war Major i. G. Baessler, ein tüchtiger General­
stabsoffizier, der den angehenden Stabsoffizieren die Grundsätze der Verwen­
dung aller Waffen vermittelte und sie vor allem in der Befehlsgebung schulte,
was für Gehlen während des Polenfeldzugs hilfreich gewesen ist, als er das ein­
zige Mal während des Kriegs tatsächlich Frontdienst leistete.
Mit der Kommandierung nach Berlin ließ Gehlen den behäbigen Militär­
dienst in der schlesischen Provinz hinter sich und richtete sich darauf ein,
zumindest in den kommenden zwei Jahren in der Reichshauptstadt die »Luft
höherer Regionen« schnuppern zu können. Seine schwangere Frau folgte ihm
in die Großstadt und brachte am 19. Januar 1934 in Berlin-Tempelhof die Toch­
ter Katharina Margarete zur Welt, benannt nach der Großmutter mütterlicher­
seits.
Die junge Familie wohnte in der Suarezstraße 24 im bürgerlich gepräg­
ten Charlottenburg.85 Herta Gehlen konnte wegen der Geldknappheit in den
1930er-Jahren stets nur Einladungen zum Tee aussprechen, das war billiger,
erklärte sie später ihren Kindern. Sie übernahm die traditionelle Rolle der Offi­
ziersfrau und kümmerte sich um Heim und Herd, um ihrem Mann den Rücken
freizuhalten. Sie führten damals, so heißt es, eine harmonische Ehe. Später
neigte Herta nach der Erinnerung der Kinder dazu, im Haushalt alles altmo­
disch geordnet zu halten, so wie sie es damals eingerichtet hatte, und blieb
ziemlich technikfremd, im Gegensatz zu ihrem Mann, der nun völlig in seinem
Beruf aufging.
Vermutlich haben Reinhard Gehlen auch die enormen Veränderungen in
der Reichshauptstadt kaum bewegt, obwohl sie im Alltag nicht zu übersehen

83 Ulrich Bürker, zuletzt als Oberst Abteilungschef im Wehrmachtführungsstab (WFStb),


ab 1948 in der Organisation Gehlen, Leiter Presseauswertung, 1953 bis 1959 Referent in
der politischen Auswertung, ab 1962 Dienststellenleiter in Bonn, Verbindung zum AA, ab
1966 Unterabteilungsleiter in der Auswertung.
84 Erich Helmdach, militärische Dolmetscherprüfungen Russisch 1932, 1936 und 1939 mit
dem Ergebnis »besonders geeignet«, 1932 bis 1934 Adjutant des Inspekteurs der Ostbe­
festigungen, 1940 Ausbildung bei FHO, dann wieder Truppenverwendung, zuletzt Oberst
i. G., seit 1950 in der Organisation Gehlen, 1952 bis 1954 bei den deutschen Militärbe­
ratern in Ägypten, dann wieder Org, Beurteilung Gehlens: gefestigter, uneigennütziger
Charakter, menschlich und politisch besonders zuverlässig, gelegentlich etwas gehemmt,
aber nur, um allen Problemen gerecht zu werden; 1960 als Referent und Oberst an der
Schule für Innere Führung, 1962 Ruhestand, aber weiterbeschäftigt als Angestellter.
85 Siehe Berliner Adressbuch von 1935.

78
waren.86 Zu den Aufmärschen uniformierter Kolonnen, Aktionen der NSDAP
wie die berüchtigten Bücherverbrennungen, der Entlassung bzw. Verhaftung
von politischen Gegnern, ist von ihm aus späterer Zeit kein kritisches Wort
überliefert. Das von Joseph Goebbels, dem Berliner Gauleiter und Reichsmi­
nister für Volksaufklärung und Propaganda, geschürte allgemeine Gefühl des
nationalen Aufschwungs – sichtbar in den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen,
spürbar in der Belebung der Wirtschaft – sowie die wachsende internationale
Anerkennung des NS-Regimes – all das hat Reinhard Gehlen sicher wie die
meisten Deutschen die neue Situation akzeptieren lassen, auch wenn er damit
nicht zu einem Anhänger der Partei und ihrer Weltanschauung geworden ist.
Mit seiner noch kleinen Familie lebte er in einem Mietshaus mit zwölf Woh­
nungen, das seit 1923 dem Kaufmann A. Selikowicz aus New York gehörte,
einem russischen Juden, dessen Familie über Deutschland in die USA ausge­
wandert war. Die Hausbewohner waren Handwerker, Gewerbetreibende, kleine
Beamte und Akademiker. Siegfried Westphal, Jahrgangskamerad von Gehlen,
wohnte ganz in der Nähe, in der Sybelstraße 66. Die beiden trafen nicht zum
ersten Mal bei einem Lehrgang zusammen. Doch der Kavallerist und Drauf­
gänger Westphal ist offenbar nicht nach dem Geschmack von Gehlen gewesen.
Auf der Kriegsakademie waren sie enge Konkurrenten und schließlich die bei­
den Lehrgangsbesten.
Reinhard Gehlen hat seine Lehrgangsunterlagen sorgfältig aufbewahrt, die
nach einer Odyssee um die halbe Welt schließlich im Freiburger Militärarchiv
gelandet sind. Dazu gehören vor allem Unterlagen zu Taktikaufgaben.87 Sie
begannen stets mit der Schilderung einer taktischen Lage, von der Aufgaben
abgeleitet wurden: Lagebeurteilung, Entschluss, Anordnungen. Dabei wur­
den die Regiments- und die Divisionsebene durchgespielt, bei verschiedenen
Gefechtsarten und taktischen Lagen. Die Ausbildung zielte auf die Tätigkeit
eines für operative Aufgaben zuständigen Ersten Generalstabsoffiziers einer
Division.88 Einmal wöchentlich fanden die Übungen als Geländebesprechun­
gen in der Umgebung Berlins statt. Die Teilnehmer mussten lediglich vormit­
tags im Hörsaal sein, der Nachmittag war zum Selbststudium freigegeben,
was manche ausgiebig nutzten, um die Reichshauptstadt kennenzulernen.

86 Zu neueren Forschungen über die Geschichte der Stadt im Nationalsozialismus siehe


Berlin 1933-1945, hg. von Michael Wildt und Christoph Kreutzmüller, Berlin 2013.
87 BA-MA, RH 16/v.l96, 197, 201.
88 Siehe dazu ausführlich Die Generalstabsausbildung in der Wehrmacht in den Friedens­
jahren 1933-1939, in: Hansgeorg Model: Der deutsche Generalstabsoffizier. Seine Aus­
wahl und Ausbildung in Reichswehr, Wehrmacht und Bundeswehr, Frankfurt a. M. 1968,
S. 68-109, sowie die spätere Selbstreflexion in den Studien ehemaliger Generalstabsoffi­
ziere für die Historical Division der US Army, in: Hackl, Generalstab.

79
Als längerfristige Hausarbeit hatten alle Teilnehmer ein Beispiel für eine takti­
sche Regimentsbesichtigung auszuarbeiten. Hinzu kam der eine oder andere
Vortrag, und nicht zuletzt war es nötig, sich auf den Unterricht vorzuberei­
ten – alles in allem aber »stand diese Arbeit in keinem Verhältnis zu dem, was
der Garnisonsdienst in den letzten Jahren gefordert hatte«.89 So wird Gehlen
vermutlich in die Verlegenheit geraten sein, für seinen ungewöhnlichen dienst­
lichen Fleiß einen ruhigen Ort zu finden. Während der Schwangerschaft seiner
jungen Frau dürfte das nicht schwierig gewesen sein. Doch nach der Geburt
seiner ersten Tochter bot die private Wohnung nicht mehr diese Rückzugs­
möglichkeit.
Das erste Jahr an der Akademie schloss mit einer Zwischenprüfung, die alle
Hörsaal-Teilnehmer bestanden. Im Ergebnis wurde Gehlen zum 1. Mai 1934
zum Hauptmann (Rang 57) befördert. Unterschrieben von Reichswehrminis­
ter Werner von Blomberg, enthielt die Urkunde die noch aus der Weimarer
Republik stammende Formel:

Im Namen des Volkes. Auf Grund der Ermächtigung des Herrn Reichspräsi­
denten ernenne ich den Oberleutnant Reinhard Gehlen zur Verfügung des
Chefs HL [Heeresleitung] zum Hauptmann. [...] Ich vollziehe die Urkunde
in der Erwartung, daß der Ernannte, getreu der Reichsverfassung und den
Gesetzen, seine Berufspflichten zum Wohle des Reichs erfüllt und das Ver­
trauen rechtfertigt, das durch diese Ernennung bewiesen wird. Zugleich
sichere ich ihm den besonderen Schutz des Reichs zu.

Bis der zweite Lehrgang begann, wurde jeder zu einem von ihm gewünschten
Regiment einer anderen Waffengattung kommandiert, um die Sommerma­
növer mitzumachen. Gehlens Präferenz ist nicht bekannt, dürfte aber wohl
der Kavallerie gegolten haben. In diese Zeit fiel der sogenannte Röhm-Putsch
(30. Juni 1934), als Hitler mithilfe der Reichswehr die SA-Führung entmachtete,
die selbst das künftige Volksheer hatte aufstellen wollen. Dass zusammen mit
Ernst Rohm auch einige in den letzten Jahren politisch agierende Generale wie
Kurt von Schleicher und Ferdinand von Bredow ermordet wurden, nahm die
Heeresführung ohne Widerspruch hin, weil sie befriedigt glaubte, ihr Mono­
pol als einziger Waffenträger des Reichs sei dadurch bestätigt worden. Dass
mit der Beseitigung der SA-Führung der Weg frei wurde für den Aufstieg der
bis dahin bedeutungslosen SS unter Heinrich Himmler, war in seinen Dimen­
sionen noch nicht erkennbar. Heeresleitung und Marineführung vertrauten
darauf, neben der Partei die zweite Säule im Dritten Reich zu sein. Schritt für

89 Wege eines Soldaten. Heinz Gaedcke, hg. von Gerhard Brugmann, Norderstedt 2005, S. 63.

80
Schritt wollte man gemeinsam die Fesseln des Versailler Vertrags abstreifen
und den Wiederaufstieg zu alter Größe erreichen.
Wie immer er auch zum Regime der Nationalsozialisten stand, da seine und
ihre Ziele teilweise identisch waren, ließ er sich in die Loyalität gegenüber dem
neuen Staat einbinden. Als er – nach dem Tod von Reichspräsident Hinden­
burg – am 29. Oktober 1934 den bedingungslosen Treueeid auf den »Führer«
leisten musste, hat er sich vermutlich keine größeren Gedanken gemacht. Die
gesetzlose Erschießung des Generals und früheren Reichskanzlers Kurt von
Schleicher habe für ihn und seine Freunde »viele Fragen aufgerollt« – kon­
kreter äußerte er sich in späteren Aufzeichnungen nicht. Gehlen hatte Schlei­
cher als Reichswehrminister im Herbst 1932, kurz vor dessen Ernennung zum
Reichskanzler, auf dem Übungsplatz Döberitz erlebt. Dort habe der General
vor den versammelten Offizieren erklärt, er habe den Posten des Reichskanz­
lers nur angenommen, um Schlimmeres zu verhüten, sei sich aber bewusst,
dass er wahrscheinlich das Opfer dieser Entwicklung sein werde.
Gehlens Abituriententraum (»Die Armee kommt wieder«) war in Erfül­
lung gegangen, und schon jetzt glaubte die Militärelite, dass ihr aufgrund der
innen- und außenpolitischen Erfolge eine glänzende Zukunft bevorstand. Eine
Ahnung davon bekam Gehlen, als er zusammen mit den anderen Hörsaal-Teil­
nehmern am 26. Oktober 1934 einem Vortrag von Oberstleutnant i. G. Fritz
Lindemann beiwohnte, der bereits als Ausbilder an der Kriegsakademie eine
tiefe Skepsis gegenüber dem totalitären Anspruch des Regimes hegte.90 In sei­
nem Vortrag »Von der staatserhaltenden Kraft des deutschen Soldatentums«
erläuterte er am Beispiel der Entstehung des friderizianischen Ethos, an der
Haltung des Offizierskorps während und nach 1806 sowie am Eingreifen und
Aufbau der Reichswehr nach dem Ersten Weltkrieg den historisch gewachse­
nen Führungsanspruch des Militärs.
Die dienende Haltung gegenüber dem Staat verband sich in dieser Sicht
mit einem Verständnis des Soldatentums als der eigentlichen Verkörperung
des Staates. Das dürfte den damaligen Hauptmann Gehlen nachhaltig beein­
druckt haben. Der Vortragstext von 1934 gehört zu seiner Hinterlassenschaft,
zusammen mit seiner eigenen Prüfungsarbeit,91 einer »Inspekteur-Aufgabe«.
Dabei handelte es sich um eine sehr sorgfältige Ausarbeitung mit Karten­
skizzen, Planpausen, Divisions- und Korpsbefehlen sowie der lagebedingten

90 Später erfolgreicher General der Artillerie, suchte Lindemann Verbindung zum militäri­
schen Widerstand um Henning von Tresckow und Claus Schenck Graf von Stauffenberg.
Nach einem erfolgreichen Staatsstreich am 20. Juli 1944 hätte er den ersten Aufruf an die
deutsche Bevölkerung verlesen sollen. Infolge der schweren Schussverletzung bei seiner
Verhaftung starb er im Berliner Polizeikrankenhaus.
91 BA-MA, RH 16/v. 206.

81
Aufgabe des Korps-Artillerieführers (wozu damals auch die Verwendung von
Kampfwagen gehörte), dazu eine liebevoll gestaltete, selbst verfertigte kleine
Broschüre über die Verwendung schwerer Artillerie mit Verweisen auf entspre­
chende Vorschriften.
Im Herbst 1934 begann für Gehlen das zweite Ausbildungsjahr. Wieder
spielte die taktische Schulung an allen möglichen Fronten des Reiches die
Hauptrolle.92 Sie bewegte sich jetzt auch auf der nächsthöheren Ebene eines
Armeekorps. Hörsaal-Leiter und Taktiklehrer war Major i. G. Hermann Job Wil­
helm von Witzleben. In ihm traf Gehlen seinen Reitlehrer aus dem zweiten
Jahr an der Kavallerie schule wieder, mit dem er sich damals besonders gut
verstanden hatte. Witzleben veröffentlichte 1935 eine Taktikfibel und brachte
es in der Wehrmacht bis zum Generalmajor.
Völlig neu war 1934/35 die Beschäftigung mit der Versuchs-Panzerdivision
(Gliederung, Funkreichweiten, Ausstattung, Marschfolge beim Flussübergang
etc.), einer zukunftsweisenden neuen Waffengattung, die das Bild des Zweiten
Weltkriegs weithin bestimmen sollte. Geländebesprechungen und Kriegsspiele
ergänzten die theoretischen Übungen.93 Bei den Prüfungen sollten Offiziere
ausgesiebt werden, »die eigene Ansichten in beschränkter Zeit folgerichtig
und klar zum Ausdruck bringen können« und damit die Aussicht boten, bei
entsprechender Weiterbildung für den Generalstab verwendbar zu sein. Es
kam nicht auf »die Fülle angelernter Kenntnisse« an, sondern auf eine klare
Urteilsbildung und »das Umsetzen des Entschlusses in praktische, einfache
und klare Befehlsgebung«94 – nicht unbedingt also eine passende Ausbildung
für einen künftigen Geheimdienstchef, der sich meist im Ungefähren behaup­
ten musste.
Beim letzten Kriegsspiel am 23. Januar 1936 übernahm Hauptmann Wal­
ther Wenck von den Kraftfahrtruppen die Position des Ia der 1. Panzerdivision,
das heißt des für die Operationen zuständigen Ersten Generalstabsoffiziers.
Beurteilung der Lage, Entschluss und Befehlsgebung wurden durchgespielt.
Befehle an die eingeteilten Führer mussten innerhalb kurzer Zeit ausgegeben
werden, damit dann schließlich das Zusammenspiel geübt werden konnte.95
Wenck brachte es im Zweiten Weltkrieg bis zum General der Panzertruppe
und Oberbefehlshaber der 12. Armee, die Hitler im April 1945 aus Berlin her­

92 Gehlens Unterlagen zur Taktik Nr. 1-18, Okt. 1934 – Mai 1935, mit eigenen Ausarbeitun­
gen, BA-MA, RH 16/v. 198, 199.
93 Handakte Hpt. Gehlen, BA-MA, RH 16/v. 200.
94 GenStdH, 11. Abt. (Ia), betr. Kriegsakademie-Prüfung, 5.11.1937, BA-MA, RH 2/1220.
95 Die Handakten Gehlens enthalten weitere Planspiele zur Heeresversorgung und zum
Transportwesen sowie Aufgaben und Unterlagen zum Nachrichtenwesen und zur Pio­
nierausbildung; BA-MA, RH 16/v. 202-205.

82
aushauen sollte. Er war später als erster Generalinspekteur der Bundeswehr
im Gespräch.
Am Ende des Lehrgangs reisten die Teilnehmer nach Süddeutschland, wo
sie einerseits vorbereitete Vorträge über Land und Leute halten mussten und
andererseits taktische Lagen durchgespielt wurden, bei denen jeder Einzelne
plötzliche Entschlüsse zu fassen und zu begründen hatte. Bei allem Ernst, so
erinnerte sich Gehlen später, sei die Reise auch amüsant gewesen. Das hätte in
jenen Tagen auch ganz anders ausgehen können. Am 16. März 1935 wurde die
Wehrhoheit verkündet und das Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht. Hitler
beschrieb im kleinen Kreis die enorme innere Anspannung, die der überra­
schenden Entscheidung zur Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht
vorangegangen war. Es ist ein wahrhaft revolutionärer Schritt in der deut­
schen Außen- und Militärpolitik gewesen. Angesichts der hohen Risiken hatte
die Heeresführung erhebliche Bedenken. Der Chefideologe des NS-Regimes,
Alfred Rosenberg, meinte: »Wenn die Franzosen Schneid hätten, müssten jetzt
in Paris die Bomber absurren.« Hitler entgegnete: »Ich glaube, wir kommen
durch.«96 Und der deutsche Diktator kam damit durch. Gehlen konnte seine
Generalstabsreise ungestört absolvieren.
Für den jungen Hauptmann Reinhard Gehlen, der sich während seiner
letzten Tage auf der Kriegsakademie kaum über die außenpolitischen Risiken
Gedanken gemacht haben dürfte, weil er sich ganz auf die Abschlussprüfun­
gen konzentrieren musste, eröffneten sich schlagartig neue berufliche Pers­
pektiven. Mit dem Eintritt in den Generalstab, auf den er bei seinen Leistungen
sicher rechnen konnte, würde er in einer neuen Armee zweifellos ungeahnte
Aufstiegschancen haben. Mit der Idylle der bisherigen kleinen Freiwilligenar­
mee war es zwar vorbei, aber in kürzester Zeit würde die bisherige Reichswehr
ihren Friedensumfang um das Achtfache erhöhen, was für die wenigen regulär
ausgebildeten jungen Stabsoffiziere einen nie da gewesenen Stellenboom mit
sich bringen würde. Es war die Geburtsstunde von Streitkräften, die aus einer
300-jährigen Kontinuität herausragen: Hitlers Wehrmacht hinterließ nach
zehn Jahren ein zertrümmertes Reich, nachdem sie eine blutige Spur durch
Europa gezogen hatte, und musste nach außergewöhnlichen militärischen
Erfolgen und Niederlagen als »stählerner Garant« eines verbrecherischen
Regimes bedingungslos kapitulieren.97
Am Anfang gab es eine sich ständig steigernde Aufbruchsstimmung in
weiten Teilen der Gesellschaft, auch innerhalb der Militärelite. Wenige Tage

96 Das politische Tagebuch Alfred Rosenbergs: 1934/35 und 1939/40, hg. von Hans-Günther
Seraphim, München 1964, S. 77.
97 Siehe den Überblick bei Rolf-Dieter Müller: Hitlers Wehrmacht 1935-1945, München
2012.

83
nach Abschluss seines zweijährigen Lehrgangs entstand die Generalstabsaus­
bildung wieder unter dem alten Namen »Kriegsakademie«. Das Gebäude der
kaiserlichen Akademie in der Dorotheenstraße war nach dem Versailler Ver­
trag als Heeresbücherei verwendet worden. Nachdem diese Fesseln abgestreift
waren, wurde mit erheblichem Aufwand im Norden Berlins, in Moabit, die alte
Kaserne des früheren Preußischen 1. Garde-Feldartillerie-Regiments umge­
baut, um die neue Kriegsakademie aufzunehmen.98
Vordergründig schien man damit an eine alte preußisch-deutsche Tradition
anzuknüpfen, doch der Geist veränderte sich rasch. Nach Rückkehr von der
letzten Übungsreise standen noch einige Tage Hörsaal-Dienst auf dem Plan.
In dieser Zeit sollte jeder Lehrgangsteilnehmer auf einem Zettel aufschreiben,
welche Generalstabsverwendung er favorisiere, falls er die Prüfung bestand.
Man konnte sich zwischen einer Abteilung im Generalstab, im Stab einer Divi­
sion oder im Kriegsministerium entscheiden. Aus der Antwort wollten die Vor­
gesetzten sehen, wie sich der Einzelne selbst ein- oder überschätzte.
Die meisten, so erinnerte sich Gehlen, reagierten wie üblich mit einer
gesunden Portion Realismus und sahen sich im Stabsbereich für die Quar­
tiermeisterabteilung (Ib) oder bei der Feindaufklärung und Abwehr (Ic). Geh­
len gab hingegen an, dass er eine Verwendung in der Operationsabteilung
(Ia) bevorzugen würde. Der überraschte Major von Witzleben verlangte eine
Begründung für den Wunsch. Gehlen antwortete, dass es doch Wunsch eines
jeden Soldaten sein müsse, an die Stelle zu kommen, die Führungsaufgaben
bearbeitet, wenn sein Können dazu ausreicht – was er natürlich nicht beur­
teilen könne.99
Das war zweifellos eine kluge und überlegte Antwort, die ihm alle Rück­
zugsmöglichkeiten offenließ – ein echter Gehlen, wie sich mit Blick auf seine
späteren Lagebeurteilungen sagen lässt. Dass seine Rechnung aufging, hatte
aber wohl in erster Linie mit seinen hervorragenden Leistungen bei der
Abschlussprüfung zu tun. Er wurde zusammen mit Siegfried Westphal Lehr­
gangsbester und erhielt zum 10. Juli 1935 die Versetzung ins Reichskriegsminis­
terium bei gleichzeitiger Kommandierung für die Dauer von eineinhalb Jahren
zum Generalstab (unter Beibehaltung der bisherigen Uniform). Es wurde eine

98 Erinnerungen an den ersten Lehrgang ab Oktober 1935, also unmittelbar nach dem
von Gehlen, bieten die Erinnerungen von Heinz Gaedcke (siehe Brugmann, Wege). Ihm
begegnete Gehlen 1937/38 und 1939/40 dann in der Operationsabteilung. Ludwig Hein­
rich Gaedcke spielte nach seinem Eintritt in die Bundeswehr 1956 als Kommandeur der
Heeresoffizierschule in Hannover und anschließend als Kommandeur der Führungs­
akademie, zuletzt als Generalleutnant als Kommandierender General des III. Korps eine
wichtige Rolle.
99 Gehlen im MGFA-Interview, 10.11.1976, S. 42, BND-Archiv, N 13/2.

84
Bewährungsprobe in einer völlig neuen Umgebung. Bestand er sie, würde er
die »roten Hosen« erhalten, die Uniform des Generalstabsoffiziers mit dem
breiten roten Streifen an der Hose. Nur Gehlen und Westphal erhielten vom
Akademiejahrgang 1935 diese Chance.
Es ist auffällig, dass der spätere General der Kavallerie (also zwei Sterne
mehr als Gehlen) und Stabschef Rommels Gehlen in seinen eigenen Memoi­
ren nur im Zusammenhang mit der Tatsache erwähnt, dass beide Lehrgangs­
beste gewesen seien.100 Der schneidige Westphal war 1935 nach Abschluss der
Kriegsakademie erschrocken, weil er – wohl aufgrund eines Fehlers – zunächst
die Kommandierung zur Festungsabteilung erhielt, während Gehlen sofort in
die Operationsabteilung hineinkam. Der Fehler wurde korrigiert, und nun
mussten beide ihre Position tauschen.
Gehlen sei 1934 auf der Kriegsakademie einer der fleißigsten Lehrgangs­
teilnehmer bei einem Spezialseminar über die Sowjetunion gewesen, berich­
tete später angeblich einer seiner damaligen Kameraden.101 Der Lehrer habe
bemerkt, dass Gehlen mehr über Marxismus, das Sowjetregime, die Komin­
tern, die Rote Armee und das sowjetische Spionagesystem wusste als die ande­
ren Teilnehmer, und entsprechend sei seine Note ausgefallen. Manche von uns,
so erzählte der wohlhabende Hotelier in Frankfurt weiter, betrachteten den
Kurs als willkommene Unterbrechung von der Kasernenroutine und vom Drill,
und man habe die Abende damit verbracht, hübschen Mädchen nachzustellen.
Gehlen allerdings habe Berge von Büchern über Russland in seinem Zimmer
gestapelt und sei gewöhnlich erst spät in der Nacht mit einem schweren sta­
tistischen Jahrbuch über die UdSSR zu Bett gegangen. Der junge Familienvater
hat offenbar wochentags im Unterkunftsgebäude der Kriegsakademie genäch­
tigt. Ist diese Erzählung ein ernst zu nehmender Hinweis auf ein spezifisches
und frühes Interesse Gehlens an der Sowjetunion? Wohl kaum, eher ein Bei­
spiel für den besonderen Fleiß und den Eifer, mit dem er sich an der Akademie
an die Spitze des Lehrgangs arbeitete.
Als glaubwürdiger ist eine andere Episode anzusehen. Sein wohlmeinender
Biograf Cookridge berichtete von einem Besuch des britisches Generals Sir
John Dill, Director of Operations im Imperial General Staff, sowie des Major-
General Sir Bernard Paget, Director of Military Intelligence, 1936 in Berlin.102
Die Einladung des deutschen Generalstabs war durch den Militärattache in

100 Siegfried Westphal: Erinnerungen, Mainz 1975. Gehlen war zu diesem Zeitpunkt bereits
eine bekannte Persönlichkeit und hatte seine Memoiren vier Jahre zuvor veröffentlicht;
darin war die Bekanntschaft mit Westphal nicht erwähnt. Dieser ging nach dem Krieg
in die Industrie.
101 Siehe für Folgendes Cookridge, Gehlen, S. 61.
102 Ebd., S. 62 – 63. In Gehlens Erinnerungen finden sich dazu keine Hinweise.

85
London, Generalmajor Leo Geyr von Schweppenburg, vermittelt worden.
Hauptsächlich habe die Reise dem Besuch der Manöver in Ostpreußen und der
Schlachtfelder aus dem Ersten Weltkrieg gedient. In diesem Zusammenhang
sei es auch zu einem Treffen mit Oberst Heinrich von Stülpnagel, dem Chef der
Abteilung Fremde Heere, gekommen. In dessen Begleitung sei ein kleiner blas­
ser Hauptmann gewesen, den Stülpnagel als einen seiner tüchtigsten jungen
Fachleute vorstellte. Es sei das erste Zusammentreffen Gehlens mit britischen
Generalen gewesen. Er habe sich respektvoll im Hintergrund gehalten, und
als ihm einige Fragen gestellt wurden, habe er aus seiner Aktenmappe einen
Stapel Papiere und Karten über die Sowjetunion genommen. Mit seiner leisen
Stimme habe Gehlen dann eine zusammenfassende Einschätzung von Stalins
Kriegspotenzial gegeben, gestützt auf Details zur Stärke und Bewaffnung der
Sowjetarmee, ihrer Verteilung, des Mobilisierungsplans, ihres Oberkomman­
dos, der Logistik und der Reserven, frei und flüssig vorgetragen, ohne sich ein
einziges Mal zu verhaspeln. Jahre später habe Paget ihm, Cookridge, in Erinne­
rung an die Begegnung erklärt, Gehlen sei schon damals ein brillanter Stabsof­
fizier gewesen, und es sei ihm klar geworden, wie wenig damals die Briten im
Vergleich zu den Deutschen über Russland wussten.103
Die Begegnung hat 1935/36 stattgefunden, als Gehlen in seiner ersten Ver­
wendung nach der Kriegsakademie Adjutant von General Gustav Anton von
Wietersheim gewesen ist, der – in Breslau geboren – Stellvertreter des Gene­
ralstabschefs war. Damit gehörte es zu seinen Routineaufgaben, ausländische
Besucher zu begleiten. Dass Gehlen in der Lage war, sein erworbenes Wissen
über das Kriegswesen der UdSSR vorzutragen, steht außer Frage. Zurückhal­
tend, fleißig, effizient, ein »Generalist« – das hatte ihn für die Versetzung
in den Generalstab prädestiniert. So spielte der Hauptmann seine Rolle. Als
»Spezialist« für Russland hat er sich damals mit Sicherheit nicht gesehen. Sein
Ehrgeiz zielte auf die Operationsabteilung, und er hat sich später schmun­
zelnd daran erinnert, dass er es vermieden habe, Fremdsprachen zu studie­
ren, um nicht Gefahr zu laufen, in der Attaché-Laufbahn und damit in einer
Sackgasse zu landen.104 Ein spezielles und vertieftes Interesse an der Roten
Armee bereits Mitte der 1930er-Jahre hat er jedenfalls nie für sich in Anspruch
genommen.

103 Dass Geyr von Schweppenburg in seinen Erinnerungen Gehlen selbst nicht erwähnt,
hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Gehlen zu diesem Zeitpunkt (1949) als
Leiter der Org eine Person im Verborgenen gewesen ist; siehe Geyr von Schweppenburg:
Erinnerungen eines Militärattachés, London 1933-1937, Stuttgart 1949.
104 Gehlen im MGFA-Interview, 10.11.1976, S. 152, BND-Archiv, N 13/2; siehe auch Nachlass
Harald Mors, BND-Archiv, N 19/2, S. 21, und Ansprache des BND-Präsidenten Wessel am
Grabe Gehlens, Nachlass Gehlen, BND-Archiv, N 13/v. 2.

86
Die 1935 neu eröffnete Kriegsakademie in Berlin

125-Jahr-Feier in der Kriegsakademie am 15. Oktober 1935

87
Hörsaal in der Kriegsakademie, November 1935

Einige Monate nach der Versetzung von Gehlen und Westphal in das
Oberkommando des Heeres fand eine groß angelegte 125-Jahr-Feier der
Kriegsakademie in Anwesenheit des »Führers« statt. Wenn Gehlen keine
Gelegenheit gehabt haben sollte, daran teilzunehmen, wird er zumindest
nachträglich die veröffentlichten Ansprachen studiert haben, denn sie brach­
ten zum Ausdruck, was man von den künftigen Generalstabsoffizieren erwar­
tete, in welcher Tradition sie standen und wie sie sich mit dem neuen Staat
verbinden sollten. Der Kommandeur, General der Infanterie Curt Liebmann,
beschwor die Kontinuität der Berufs- und Lebensauffassung, wie sie bereits
in der »alten Armee« vermittelt worden sei, »die das Sachliche stets hoch
über das Persönliche« stelle und sich nun mit der rückhaltlosen »Hingabe an
Führer, Volk und Vaterland« selbstverständlich verbinde. Darüber sollte das
alte Motto stehen: »Mehr sein als scheinen.«105 Gehlens autoritäre Prägung
dürfte diesem Verständnis voll entsprochen haben – wenn er sich in späte­
ren Jahren als BND-Chef nicht immer daran gehalten hat, so lag das auch am
Berufswechsel.

105 Reden anlässlich der 125-Jahr-Feier der Kriegsakademie am 15. Oktober 1935, in: Wis­
sen und Wehr, 1(1935), S. 741-756, dort auch die folgenden Zitate.

88
Das Leitbild verkündete der damalige Chef des Generalstabs des Heeres,
General der Artillerie Ludwig Beck. In seiner Ansprache beschwor er die Tra­
dition und zitierte Clausewitz.

Je höher wir unter den Führern hinaufsteigen, desto notwendiger wird es,
daß der Kühnheit ein überragender Geist zur Seite trete, daß sie nicht zweck­
los, nicht ein blinder Stoß der Leidenschaft sei; denn immer weniger betrifft
es die eigene Aufopferung, immer mehr knüpft sich die Erhaltung anderer
und die Wohlfahrt eines großen Ganzen daran.

Gehlen, den es nicht sonderlich zur Kühnheit drängte, konnte sich darin bestä­
tigt sehen, dass Beck die höchste Aufgabe der Kriegsakademie darin sehen
wollte, den »Führernachwuchs zu klarem logischen Denken und entschiede­
nem Handeln« zu erziehen. Systematisches Denken müsse sorgsam gelernt
und geübt werden.

Nichts wäre gefährlicher als sprunghaften, nicht zu Ende gedachten Einge­


bungen, mögen sie sich noch so klug oder genial ausnehmen, nachzugeben,
oder auf Wunschgedanken, mögen sie noch so heiß gehegt werden, aufzu­
bauen. Wir brauchen Offiziere, die den Weg logischer Schlußfolgerungen in
geistiger Selbstzucht systematisch bis zu Ende gehen, deren Charakter und
Nerven stark genug sind, das zu tun, was der Verstand diktiert.

Diesem Anspruch blieb Gehlen zeitlebens verbunden. Politik und Moral stan­
den dabei zurück. Sie gehörten aus seiner Sicht einer anderen Sphäre an. Wenn
bei dieser Gelegenheit Reichskriegsminister Generaloberst Werner von Blom­
berg zur »Aufgeschlossenheit für die neuen Grundlagen unserer Lebensord­
nung, zum freudigen Bekenntnis zur nationalsozialistischen Weltanschauung«
aufrief, dann stand das einer Dienstauffassung, wie sie auch Gehlen geprägt
hat, nicht im Wege, gehörte aber nicht zwingend zu seiner persönlichen Welt­
anschauung. Als »Führungsgehilfe« diente er der Armee, wie er sie vorgefun­
den hatte und die jetzt von einem Obersten Befehlshaber geführt wurde, der
mit seiner Partei zugleich Staat und Gesellschaft beherrschte. Aus der Perspek­
tive von 1935 konnte ein Hauptmann Gehlen glauben, dass die Staatsmacht,
der er jetzt diente, anders als die vorangegangene Weimarer Republik, alles
unternehmen würde, um die Wiederwehrhaftmachung des Reichs voranzu­
treiben. Und der junge Generalstabsoffizier, so mag er es gesehen haben, hatte
das Glück, als zunächst kleines Rädchen an der Spitze des Heeres seinen Bei­
trag zu leisten, um mit der Aussicht auf eine glänzende Karriere belohnt zu
werden.
4. Kriegsvorbereitungen im Generalstab des Heeres
(1935-1939)
Als Westphal und Gehlen im Herbst 1935 ihren Dienst im neu formierten
Generalstab des Heeres (bisher Truppenamt) antraten, trafen sie eine per­
sonell kleine Führungsgruppe an, die sich als »Gehirn des Heeres« verstand.
Generalstabschef Ludwig Beck verkörperte die Tradition des alten Heeres.
Fünf Oberquartiermeister (OQu I – V) führten jeweils zwei oder mehr von ins­
gesamt elf Abteilungen. Der OQu I war Stellvertreter des Generalstabschefs.
Ihm unterstanden die beiden ersten Abteilungen des Generalstabs, die Ope­
rationsabteilung und die Organisationsabteilung. Zu ihm kam Hauptmann
Gehlen im Juli 1935 als Adjutant. »Sie wissen, wer das war, das war damals der
alte Witzleben. Sie werden lachen, General von Witzleben, das war der frühere
OQu I.«106 Mit diesen etwas flapsigen Worten erinnerte er sich 1976 an seinen
ehemaligen Chef.
Generalleutnant Erwin Erdmann von Witzleben107 hatte als Befehlshaber
im Wehrkreis III (Berlin) als Einziger intern gegen die Ermordung der Gene­
rale Schleicher und Bredow im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches pro­
testiert und entwickelte sich zu einem der entschiedensten Gegner Hitlers.
Ab 1937 suchte er nach Möglichkeiten, den Diktator zu stürzen und beteiligte
sich 1938 an den Vorbereitungen für einen militärischen Staatsstreich. Als
Generalfeldmarschall wurde er nach dem Frankreichfeldzug in die Führerre­
serve versetzt und hätte nach einem erfolgreichen Attentat am 20. Juli 1944
den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht übernehmen sollen. Im Prozess
gegen die Verschwörer wurde er vor dem Volksgerichtshof lächerlich gemacht,
weil er ständig seine Hose festhalten musste, da die Gestapo ihm die Hosen­
träger abgenommen hatte und er im Gefängnis abgemagert war. Erwin von
Witzleben wurde zum Tode verurteilt und auf Hitlers ausdrücklichen Befehl
am Fleischerhaken in Berlin-Plötzensee erhängt. Dieser aufrechte Mann gilt
bis heute als eine der wenigen verbliebenen Ikonen des militärischen Wider­
stands. Im öffentlichen Gedächtnis der Nachkriegszeit blieb er aber vor allem
die unglückliche Figur vor dem geifernden Freisler.
Gehlen irrte bei der Zuschreibung und hat sich später korrigiert. Oberquar­
tiermeister I war 1935 Oberst i. G. Gustav Anton von Wietersheim. Witzleben
wurde im September 1935 Kommandierender General des III. Armeekorps

106 Gehlen im MGFA-Interview, 10.11.1976, S. 39, BND-Archiv, N 13/2.


107 Georg von Witzleben: »Wenn es gegen den Satan Hitler geht ...« Erwin von Witzleben
im Widerstand, Hamburg 2013; Gene Mueller: Generalfeldmarschall Erwin von Witz­
leben, in: Hitlers militärische Elite, hg. von Gerd R. Ueberschär, Bd. 1, Darmstadt 1998,
S. 265-271.

90
in Berlin. Wietersheim brachte es im Zweiten Weltkrieg bis zum General der
Infanterie. Weil er im September 1942 als Kommandierender des XIV. Panzer­
korps vorgeschlagen hatte, Stalingrad wieder aufzugeben, wurde er von Hit­
ler in die Führerreserve versetzt und nicht mehr verwendet. 1935 erlebte ihn
Gehlen als freundlichen, äußerst klugen und weitsichtigen Mann, der seinem
neuen Adjutanten zur ersten Generalstabstätigkeit beglückwünschte und ihm
eine recht erfolgreiche Laufbahn wünschte. Er riet ihm, an jeder Stelle sich
stets großzügig zu verhalten. Gehlen blieb bei ihm für ein Jahr als Adjutant und
kam nun mit den wichtigsten politischen Angelegenheiten stärker in Kontakt.
Wietersheim beurteilte die zukünftige Entwicklung äußerst skeptisch und
rechnete damit, dass sich Hitler in »Abenteuer« einlassen würde.
Die Rheinland-Besetzung (7. März 1936) ging zwar glimpflich aus, und auch
das im Sommer 1935 mit Großbritannien abgeschlossene Flottenabkommen
schien die außenpolitische Lage des Reiches stabilisiert zu haben. Nach dem
fehlgeschlagenen NS-Putsch in Österreich 1934 und einer zeitweiligen Ver­
stimmung mit Italien kam es im Zusammenhang mit dem Abessinienkrieg
und den Sanktionen des Völkerbunds zu einer engeren Kooperation mit dem
italienischen »Duce« Benito Mussolini.108 Ende 1935 war außerdem bereits ein
antisowjetischer Vertrag mit Japan ausgehandelt worden. Es war in Berlin ein
offenes Geheimnis, dass Hitler seinem politischen Programm entsprechend
eine Allianz gegen die Sowjetunion zu schmieden versuchte, zu der nach Mög­
lichkeit Großbritannien, Polen, Italien und Japan gehören sollten. Ein Inter­
ventionskrieg zur Zerschlagung des Sowjetkommunismus bzw. zur Befreiung
der Ukraine war vielfach im Gespräch.109 Gehlen kam also zu einem Zeitpunkt
in den Generalstab, als sich das operative Denken von der bisherigen Reichs­
verteidigung löste und sich angesichts der wachsenden außenpolitischen und
militärischen Spielräume Deutschlands offensiven Überlegungen zuwandte.
General von Wietersheim war ein enger Freund des Generalmajors Carl-
Heinrich von Stülpnagel, der 1938 als Oberquartiermeister II, danach bis Mai
1940 als Oberquartiermeister I im Generalstab diente. Über seine Ehefrau war
Gehlen mit Stülpnagel entfernt verwandt. Während des 20. Juli 1944 organi­
sierte dieser den Staatsstreich in Paris und wurde nach dem Scheitern hinge­
richtet. Wietersheim und Stülpnagel, die beiden Oberquartiermeister-Kame­
raden, gingen 1938 häufig zusammen mit ausländischen Militärattachés zum
Essen. Mit größter Wertschätzung sprachen sie intern über den Gehilfen des
britischen Militärattachés, einen Major Kenneth Strong. Wietersheim war mit

108 Wegen des italienischen Überfalls auf Abessinien hatte der Völkerbund Sanktionen
gegen Italien verhängt, was Hitler die Möglichkeit gab, Mussolini demonstrativ zu
unterstützen. Deutschland hatte den Völkerbund bereits 1933 verlassen.
109 Siehe hierzu Rolf-Dieter Müller: Der Feind steht im Osten, Berlin 2011, S. 58 – 68.

91
Strong befreundet.110 Ihm begegnete Gehlen nach 1945 wiederholt, da Strong,
während des Krieges Major General, ins zivile Dienstverhältnis als First Direc­
tor of the Joint Intelligence Bureau des britischen Verteidigungsministeriums
wechselte. Gehlens Misstrauen gegenüber den Briten wurde dadurch aber
offenbar nicht gedämpft.
Nach einem Jahr als Adjutant bei Wietersheim wurde Gehlen zum 6. Okto­
ber 1936 in die Operationsabteilung versetzt, die bislang Oberst i. G. Erich
von Manstein geführt hatte. Die Abteilung war zuständig für die Operations­
planung und damit für alle zusammenhängenden Fragen, die das deutsche
Heer und seine kriegsmäßige Entwicklung in Friedenszeiten betrafen. Dazu
gehörten Ausbildung, Bewaffnung, Ausrüstung und Organisation, ebenso der
Grenzschutz, die Landesbefestigung, Transport- und Kartenwesen. Das gab
Manstein die Möglichkeit, den Rest des Generalstabs zu beeinflussen und
seine eigene Linie zu entwickeln. 1935 hatten ihm drei brillante Hauptleute
zugearbeitet: Siegfried Westphal, Henning von Tresckow und Bernhard von
Loßberg.111 Als sich Rittmeister Westphal am 1. August 1935 zum Dienst bei
Manstein gemeldet hatte, war er von dem Obersten in freundlichster Weise
empfangen worden, der ihm die Bearbeitung aller Forderungen der Führung
auf dem Gebiete der Organisation übertrug. »Auch er war ein kluger Offizier,
von eminentem Gedächtnis und schnellem, scharfem Urteil. Außergewöhnli­
cher Ehrgeiz war nicht zu verkennen. Sein stark ausgeprägtes Selbstbewußt­
sein hatte Berechtigung.«112
Westphal arbeitete drei Jahre lang eng mit Manstein zusammen. Er
beschrieb ihn in seinen Erinnerungen als militärisches Genie, ein Vorgesetzter,
der unglaublich schnell arbeitete, ungeduldig sein konnte und keine langen
Vorträge duldete, großzügig, gänzlich Gentleman, aber auch ein unbequemer
Untergebener. Er habe nicht allzu viele Freunde gehabt, denn er habe darauf
verzichtet, andere überzeugen zu wollen. Westphal konnte sich nicht daran
erinnern, jemals persönlich ein unfreundliches Wort von Manstein gehört zu
haben.113
Ab 1942 Generalfeldmarschall, galt Manstein im Verlauf des Zweiten Welt­
kriegs als größtes operatives Talent auf deutscher Seite, eine Begabung, die
sich früh abgezeichnet hatte. Er übernahm zum 1. Oktober 1936 die Position
des Oberquartiermeisters I und konnte sich Hoffnung machen, eines Tages
Nachfolger des amtierenden Generalstabschefs zu werden. Kein Wunder also,

110 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 2.3.1972, IfZ, ED 100-69-52.


111 In seinen Erinnerungen (Im Wehrmachtführungsstab. Bericht eines Generalstabsoffi­
ziers, Hamburg 1949) erwähnte er seine Bekanntschaft mit Gehlen nicht.
112 Heinz Gaedcke über Westphal, zit. nach: Brugmann, Wege, S. 70.
113 Westphal, Erinnerungen, S. 55, 60 – 61.

92
dass Gehlen danach strebte, rasch in die Operationsabteilung zu kommen, die
jetzt von Oberst i. G. Erik Hansen, einem ehemaligen Lehrer an der Kavalle­
rieschule, geführt wurde. Ein Kamerad, der ein Jahr später Gehlens Position
übernahm, beschrieb Hansen so:

Ein mehr kluger und gewissenhafter Offizier als eine überragende Persön­
lichkeit oder gar ein großer Stratege. Seine Stärke waren große Genauig­
keit und ein außergewöhnliches Gedächtnis. Es war im Generalstab etwas
unverständlich, warum gerade er Chef dieser wichtigen Abteilung geworden
war. Wir jüngeren Mitarbeiter haben ihn mehr gefürchtet als geschätzt. Er
brachte uns durch seine Kleinlichkeit und Pedanterie oft an den Rand der
Verzweiflung, wenn er an Worten und Satzzeichen unserer Entwürfe in sar­
kastischer Art herumkritisierte. Freilich konnte und mußte man daher eines
bei ihm lernen: genaueste Arbeit.114

Als Hansen 1938 eine andere Verwendung erhielt und durch den menschlich
umgänglicheren Oberst Hans von Greiffenberg abgelöst wurde, ging ein Aufat­
men durch die Abteilung.
Dort gelang es Gehlen, schrittweise auch zu Manstein eine engere dienst­
liche Beziehung aufzubauen. Nach dem Krieg besuchte der Feldmarschall
seinen ehemaligen Referenten hin und wieder zum Tee am Starnberger See.
Ohne Zweifel bewunderte Gehlen Manstein, blieb aber immer auf respektvol­
lem Abstand.
Parallel zu Westphal wurde auch Gehlen in die Operationsabteilung abkom­
mandiert, musste sich aber zunächst damit bescheiden, in das Referat Landes­
befestigung einzutreten, seiner Herkunft als Artillerist zwar angemessen, nicht
aber seinem Interesse für die operative Führungskunst. Das Referat gehörte
zur Gruppe 2 der Operationsabteilung. Die attraktivste Position gab es in der
Gruppe 1. Sie leitete Major i. G. Adolf Heusinger, eine weitere wichtige Bezugs­
person für Gehlens weitere Karriere.

An Wuchs klein und fast unscheinbar, bescheiden und still, von großer
Wärme und Herzensgüte – so war der Mensch. Überaus klug, ruhig und
sicher berechnend, schnell und unermüdlich in der Arbeit, von hervorragen­
den operativen Ideen beseelt – so war der Generalstabsoffizier.115

114 Heinz Gaedcke, zit. nach: Brugmann, Wege, S. 69.


115 Ebd., S. 70.

93
Zur Gruppe 1 gehörte auch Major i. G. August Winter, zuletzt General der
Gebirgstruppe und Chef des Wehrmachtführungsstabes, nach 1945 einer der
führenden Mitarbeiter Gehlens in der Org und im BND. Er hatte als Taktikleh­
rer an der Kriegsakademie die Aufgabe gehabt, die Anlage von Generalstabsrei­
sen zu bearbeiten, bevor er in die Operationsabteilung gewechselt war.
Hauptmann Henning von Tresckow war der älteste der jüngeren Mitarbei­
ter. »Ein überkluger Offizier mit großem Können und ebensolcher Arbeits­
kraft, sehr geschätzt und doch oft nicht recht durchsichtig. Er kannte die Welt
und hatte zahlreiche Verbindungen. Seine Aufgabe war die Bearbeitung des
Westaufmarsches.«116 Später wurde er einer der führenden Köpfe des militä­
rischen Widerstands.
Die Operationsabteilung bestand 1936/37 insgesamt nur aus einer Hand­
voll von Offizieren, die im Wesentlichen dem Oberquartiermeister I (Man­
stein) und Generalstabschef Beck zuarbeiteten. Das galt auch für die anderen
Abteilungen innerhalb des Generalstabs des Heeres, sodass sich viele Offiziere
untereinander kannten.
Im MGFA-Interview von 1976 meinte Gehlen, dass diese Zeit ein wirklich
großes Erlebnis gewesen sei, nach der Vorarbeit von Seeckt im 100.000-Mann-
Heer daran mitzuarbeiten und innerhalb weniger Jahre die Armee um ein
Mehrfaches zu vergrößern sowie zu einem vollwertigen militärischen Instru­
ment zu entwickeln. Es werde

immer gesagt, ja, wir haben andere Zeiten, es ist alles moderner usw. und
natürlich dürfe man auch nicht stehen bleiben, dennoch gibt es gewisse
grundsätzliche Dinge, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, die,
wenn man sie brauchen kann, auch wieder benutzen sollte. Beim Heeres­
aufbau gerade während meiner nur kurzen Kriegsakademiezeit und ersten
Generalstabszeit sagte Generaloberst Beck bei der Neuorganisation des
Generalstabs, wir wollen doch mal nachsehen, wie die Leute im Generalstab
vor dem Kriege »gewildert« haben. Und da hat man dieses OQu-System wie­
der eingeführt, das war doch eigentlich interessant, und zwar sagte Beck, die
Leute sind damals auch nicht dümmer gewesen wie wir jetzt und die werden
ja irgendwelche Gründe für diese Art der Organisation gehabt haben. Und
dann hat man überlegt, ob sich das für die Erweiterung des Generalstabes als
Form eignet und so ist es zu den fünf OQu’s gekommen.117

116 Heinz Gaedcke, zit. nach: ebd.


117 Gehlen im MGFA-Interview, 26.10.1976, S. 45, BND-Archiv, N 13/2.

94
Auch Becks Nachfolger Franz Halder beschrieb rückblickend dessen »typisch
kaiserlich-generalstabmäßige Art« und wie er gern für seine Aufgaben Vor- und
Leitbilder nach kaiserlich-generalstabmäßigen Maßstäben gesucht habe.118
Gehlen berichtete, er habe vor dem Krieg

den Werdegang manches Auftrags [miterlebt], der so entsetzlich lange dau­


erte, daß zunächst der Bearbeiter einen Entwurf fertigstellte. Dieser Ent­
wurf wurde dann vom Gruppenleiter völlig abgeändert, dann ging es zum
Abteilungschef, der änderte wieder völlig ab und dann ging es zu Beck, und
Beck besserte mit seiner feinen Handschrift vieles noch aus, und dann wurde
diskutiert, noch mal und noch einmal, bis zu diesem Aufmarschplan, der ja
dann doch nicht ausgeführt wurde.119

Dazu Halder über Beck:

Er arbeitete sich mit unendlich bohrendem Fleiß in die Materie hinein und
legte dann seine Erkenntnisse und Gedanken in klassisch geschliffener Form
vor – aber immer etwas spät. Hatte eine dominierende Neigung zu schrei­
ben. Er war tiefschürfend und ungeheuer gründlich, aber war alles andere als
geistig wendig. Hatte auch kein annähernd richtiges Gefühl für seine Zeit.120

Neben der erschöpfenden Erörterung der finanziellen, personellen, mate­


riellen, organisatorischen und politischen Aspekte der zügigen Aufrüstung
mussten die Pläne für die Mobilmachung und Verteidigung des Reichs stän­
dig an die veränderte Lage angepasst werden. Die umfassenden Pläne für den
Bau von Befestigungsanlagen waren bis zum Jahr 1965 angelegt; aber Hitler
verlangte intern mit seiner Denkschrift zum Vierjahresplan, dass Wirtschaft
und Wehrmacht innerhalb von vier Jahren kriegsbereit sein sollten.121 Damit
provozierte er eine hektische Planungssituation, denn für den Generalstab
war zunächst nicht klar, auf welche konkrete Konstellation er sich einzustel­
len hatte. Die Erfahrungen der Vergangenheit ließen keinen Zweifel daran,
dass Deutschland einen Mehrfrontenkrieg nicht auf längere Zeit durch­
halten konnte. Deshalb mussten immer wieder mögliche Konstellationen
durchgespielt werden, bei denen ein möglicher Einbruch in das Reichsgebiet

118 Siehe dazu Protokoll der Befragung Halders durch Klaus-Jürgen Müller am 10.11.1965,
BA-MA, N 220/175.
119 Gehlen im MGFA-Interview, 10.11.1976, S. 43, BND-Archiv, N 13/2.
120 Protokoll Befragung Halders vom 10.11.1965, BA-MA, N 220/175.
121 Wilhelm Treue: Dokumentation. Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, Viertel­
jahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 184-210.

95
abgefangen und durch mobile Einsatzkräfte zurückgeworfen werden sollte,
um einen kriegerischen Konflikt zum Beispiel mit Frankreich und/oder der
Tschechoslowakei zu begrenzen. Und bis zur Herstellung der vollen Kriegs­
bereitschaft musste jederzeit mit solchen Angriffen auf das Reich gerechnet
werden.
Im Herbst 1936 entstand im Reichskriegsministerium eine umfangreiche
Wehrmachtstudie unter Mitwirkung anderer Ministerien. In einem siebenwö­
chigen Kriegsspiel122 wurde die erste Weisung für die »einheitliche Kriegsvor­
bereitung der Wehrmacht« auf allen wichtigen Gebieten überprüft. Im Zen­
trum der operativen Planungen stand der Angriff auf die Tschechoslowakei.
Die detaillierte Operationsstudie stammte von Manstein, der den Einsatz
der drei Verbündeten (Italien, Ungarn, Österreich) unter straffem deutschen
Oberbefehl plante.123 Mit einer Defensive im Westen und dem schnellen Aus­
schalten der Tschechoslowakei sollte ein Eingreifen der vertraglich gebun­
denen Mächte wie Frankreich und Russland verhindert werden. Man stellte
sich darauf ein, unter Umständen auch gegen Tschechen, Litauer und Rus­
sen kämpfen zu müssen, bei Neutralität der Westmächte, was der vorsich­
tige Beck zur Vorbedingung machte.124 Da sich die Tschechoslowakei durch
eine stark befestigte Verteidigungslinie schützte, würde dem Kampf gegen
Bunkeranlagen eine große Bedeutung zukommen, ebenso wie bei der eige­
nen Verteidigung im Westen. Gehlen als Referent für Landesbefestigung in
der Operationsabteilung musste daher erhebliche Zuarbeit an Informationen
und Berechnungen leisten. So besichtigte er zusammen mit dem Abwehrof­
fizier im Wehrkreis VIII (Breslau) einzelne Grenzabschnitte und fotografierte
tschechische Befestigungsanlagen mit einem weitreichenden Teleobjektiv,
um dann die Wandstärke berechnen zu können, eine Idee, die er im Novem­
ber 1940 wieder aufgriff, als er vorschlug, die gegen Russland aufmarschieren­
den deutschen Angriffstruppen mit entsprechenden Gruppen der »Abwehr«
(Militärspionage) auszustatten.125
Höchstwahrscheinlich würde die Niederwerfung der Tschechoslowakei
zu einer Auseinandersetzung mit der Roten Armee führen, unter Umständen
auch mit Bodentruppen, die über Rumänien dem Verbündeten zu Hilfe eilen

122 Dabei handelte es sich um Planspiele, wie sie zu militärischen Zwecken seit dem
19. Jahrhundert in Preußen entwickelt worden waren, um das strategische und takti­
sche Denken der höheren Führung zu trainieren.
123 Klaus-Jürgen Müller: General Ludwig Beck. Studien und Dokumente zur politisch-mili­
tärischen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres
1933-1939, Boppard 1980, S. 183.
124 Siehe Müller, Der Feind steht im Osten, S. 88 – 89.
125 Erklärung Gehlens gegenüber Elke Fröhlich, 10.11.1971, IfZ, ED 100-69-156.

96
Generalmajor Erich von Manstein, 1938

könnten. Dann käme es darauf an, einen solchen Vormarsch mit Unterstüt­
zung von Österreich und Ungarn so lange zu verzögern, bis die Masse der
Wehrmacht für eine Abwehrschlacht aufmarschiert sein würde. Nach einem
Erfolg wäre strategisch auch der Weg nach Kiew geöffnet. Deshalb erprobte
man propagandistische Zersetzungskampagnen gegen die Rote Armee und
intensivierte die Kontakte zum ukrainischen Exil.126 Für Gehlen kamen sol­
che Überlegungen zu einer militärischen Auseinandersetzung mit der Roten
Armee sicher nicht überraschend, denn die Meldungen über die »Säuberungs­
kampagnen« Stalins gegen die Führungsspitze der Sowjetarmee und über die
Ermordung des auch international renommierten Marschalls Michail Tuchat­
schewski waren in aller Munde. Russland war dabei, seine Wertschätzung als
militärische Großmacht einzubüßen.
Für private und familiäre Kontakte blieben dem jungen Hauptmann kaum
Gelegenheiten. An der Heirat seines jüngeren Bruders Walther am 4. April 1936
teilzunehmen, ließ er sich natürlich nicht nehmen. Ein Foto vom letzten gro­
ßen Familientreffen vor dem Krieg dokumentiert die Veränderungen der Zeit
schon an der Uniformierung einiger männlicher Familienangehöriger: Vater
Walther Gehlen in seiner alten Uniform aus dem Ersten Weltkrieg, einige Par­
teiuniformen und Hauptmann Reinhard Gehlen mit seiner Frau distanziert am
Rande. Zu seinem Onkel, Generalleutnant Friedrich von Rabenau, der gerade
von Generalstabschef Beck beauftragt worden war, die Heeresarchive aufzu­
bauen, hat Reinhard Gehlen offenbar keine engeren Beziehungen aufbauen
können. Bereits 1932, als Rabenau noch Kommandant von Breslau gewesen

126 Müller, Der Feind steht im Osten, S. 90.

97
war,127 hätte es immerhin dienstliche Berührungspunkte gegeben, allerdings
nur peripher. Dabei blieb es anscheinend.
In der Reichshauptstadt überschlugen sich indes die Nachrichten. Die
Olympischen Spiele waren ein propagandistischer Triumph für die National­
sozialisten. Der Beginn des Bürgerkriegs in Spanien, in den Görings Luftwaffe
aufseiten Francos eingriff, beförderte die außenpolitischen Spannungen, zu
der die Schwäche Frankreichs unter einer Volksfront-Regierung erheblich bei­
trug. In Deutschland herrschte Vollbeschäftigung, die Löhne stiegen gering­
fügig, für das NS-Regime öffneten sich innen- wie außenpolitisch weitere
Spielräume.
Ob Gehlen sich die Zeit genommen hat, an der Einweihung des Reichsehren­
males der Deutschen Feldartillerie in Köln am 30. August 1936 teilzunehmen,128
ist nicht überliefert. Die militärische Traditionspflege, gar die alkoholge­
schwängerte Kameraderie mit »alten Herren« und Veteranen, war seine Sache
nicht. So kann man annehmen, dass er in seiner neuen dienstlichen Verwen­
dung die Verbindung zu seiner alten Waffengattung auf sachlich-nüchterner
Ebene betrieben hat, ohne sentimentale Auswüchse. Es gibt auch keine Hin­
weise auf eine besonders enge Verbundenheit mit seiner Vaterstadt Breslau,
die ihn hätte veranlassen können, an den »großen« Ereignissen dort zu parti­
zipieren. Am 31. Juli 1937 hielt der »Führer« vor angeblich 500000 Menschen
in der Stadt anlässlich des Deutschen Sängerbundfestes eine flammende Rede,
in der er sich besonders an die Auslandsdeutschen wandte. Genau ein Jahr
später erschien Hitler noch einmal in der Stadt, um während des Deutschen
Turn- und Sportfestes den Vorbeimarsch von Hunderttausenden abzuneh­
men, wobei besonders die Vertreter der Sudetendeutschen bejubelt wurden.
Hitler brachte es allerdings fertig, keine Rede zu halten und den schwelenden
Konflikt mit der Tschechoslowakei nicht noch anzuheizen.129
Vielleicht hat Reinhard Gehlen aber auch einen seiner seltenen Urlaube
dazu genutzt, um die Familie in Breslau bei solchen Großveranstaltungen zu
besuchen. Sehr viel wichtiger ist es zweifellos für ihn gewesen, dass er ein hal­
bes Jahr nach seiner Kommandierung in die Operationsabteilung offiziell in
den Generalstab übernommen wurde (mit Wirkung vom 10. Januar 1937). Er
hatte seine Bewährungsprobe also bestanden und durfte auf dem »Olymp« der
deutschen Armee als »Führungsgehilfe« arbeiten. Zwei Tage vor der offiziellen
Versetzung wurde am 11. Februar 1937 sein Sohn Felix Christoph in Berlin-

127 Günther Gieraths: Breslau als Garnison und Festung 1241-1941, Hamburg 1961, S. 48.
128 Siehe Festschrift, Sondernummer der Zeitschrift »Die Deutsche Feldartillerie« von
1936, Bibliothek ZMSBw.
129 Siehe zeitgenössisch Heinrich Hoffmann: Hitler beim Deutschen Turn- und Sportfest,
Breslau 1938.

98
Wilmersdorf geboren, der später Physik studierte und im BND im Bereich der
technischen Sicherheit arbeitete.
Reinhard Gehlen hatte sich daran gewöhnt, mit großer Energie und immen­
sem Fleiß seine Aufgaben anzugehen. Er gönnte sich kaum Freizeit, seine
Familie sah ihn auch in den nächsten Jahren immer weniger. Der junge Haupt­
mann kannte keinen Dienstschluss und arbeitete oft bis spät in die Nacht. Die­
sen Arbeitsstil behielt er bis zu seiner Pensionierung als Chef des BND bei. Um
diese fast ausschließliche Ausrichtung auf seine dienstlichen Obliegenheiten
körperlich und seelisch aushalten zu können, nahm er ein in den 1930er-Jahren
neu entwickeltes Aufputschmittel: Pervitin. Es galt schon bald nach Kriegs­
beginn als schädlich für die Volksgesundheit und wurde für die Bevölkerung
verboten, in der Wehrmacht aber massenhaft eingesetzt, um Panzer- und Flug­
zeugbesatzungen auf extreme Belastungen einzustellen und die Müdigkeit zu
überwinden. Auch Stabsoffiziere griffen nicht selten zu der Droge, mancher
büßte dafür mit seinem Leben. Eine längere Einnahme konnte zu Persönlich­
keitsstörungen führen. Es wird vermutet, dass Hitler selbst ab 1943 pervitinab­
hängig gewesen ist. Bezeugt ist die Einnahme bei Gehlen zumindest in seiner
Zeit als Chef FHO, also ab 1942,130 aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er
schon früher bei seiner aufreibenden Stabsarbeit im OKH solche Tabletten
genommen hat.
Als »Bleistiftspitzer, als junger Mann mit roten Hosen« sei er zum 8. Juli 1937
mit der Gruppe 2 der Operationsabteilung in die neu geschaffene 10. Abteilung
umgesetzt worden.131 Auch hier hatte sich Beck zuvor noch einmal eingehend
darüber informiert, wie die Zuständigkeiten für Fragen fremder Festungen
im ehemaligen Großen Generalstab bei Beginn des Ersten Weltkriegs geregelt
worden war.132 Die neue Festungsabteilung unter Oberst Kurt Wilhelm Gustav
Erdmann von der Chevallerie unterstand weiterhin dem Oberquartiermeis­
ter I, also dem Stellvertreter des Generalstabschefs.133 Für Gehlen bedeutete
das in gewisser Weise eine Aufwertung, denn er wurde in der Festungsabtei­
lung Gruppenleiter 1. Die Angehörigen seiner Gruppe waren allerdings nur
ausgesuchte Unteroffiziere, die ihm als Handlanger dienten. Außerdem war

130 Siehe Magnus Pahl: Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung, Berlin
2012, S. 102. Siehe dazu insgesamt Peter Steinkamp: Zur Devianz-Problematik in der
Wehrmacht. Alkohol- und Rauschmittelmissbrauch in der Truppe, Dissertation, Frei­
burg i. Br. 2008.
131 Gehlen im MGFA-Interview, 26.10.1976, S. 45, BND-Archiv, N 13/2.
132 Er beauftragte Major Steinmetz von der 1. Abteilung, sich mit Generalleutnant Her­
mann Geyer in Verbindung zu setzen, 1914 Hauptmann im Großen Generalstab, jetzt
Befehlshaber im Wehrkreis V (Stuttgart). Siehe Schreiben Geyers an Beck, 12.6.1937,
BA-MA, RH 2/99.
133 Dienstanweisung, BA-MA, RH 2/766, Blatt 3.
der Abteilungschef in dieser Zeit sehr häufig krank, sodass Gehlen als sein Ia
und einziger Generalstabsoffizier in seiner Abwesenheit die Geschäfte fuhren
musste. So trug er zwar die Hauptlast der Geschäfte, durfte aber auch – was
bei jüngeren Generalstabsoffizieren selten vorkam – sowohl dem OQu I als
auch dem Generalstabschef persönlich vortragen. Die Gruppe 2 leitete Major
Freiherr Jobst von Hanstein, kein Generalstäbler, im Zweiten Weltkrieg zuletzt
Oberst und Kommandeur eines Infanterieregiments.
Vorangegangen war die zum Abschluss der Generalstabsausbildung übli­
che kurze Auslandsverwendung. Gehlen entschied sich pragmatisch für ein
Land, in dem er keine fremden Sprachkenntnisse brauchte, und ließ sich für
zwölf Tage zur finnischen Armee kommandieren (21. Juni bis 3. Juli 1937). Dass
er von hier aus gleichsam dem künftigen Erzfeind ins Antlitz blicken konnte,
war keineswegs eine vorausschauende Entscheidung. Gehlen hatte vielmehr
die Absicht, seinen ersten und einzigen Auslandsaufenthalt vor dem Zweiten
Weltkrieg zu nutzen, um einen Familienurlaub anzuhängen, der ihm die Mög­
lichkeit verschaffte, die Familie seiner Schwägerin in Schweden zu besuchen
und seine Frau mitzunehmen.
Der dienstliche Vorwand war gut vorbereitet. Er beschaffte sich von der
5. Abteilung (Fremde Heere) eine geheime Studie über die Transportlage in
Nordwestrussland. Sie war unter der Fragestellung möglicher russischer
Unternehmungen durch Finnland gegen Nordschweden und die norwegische
Küste erstellt worden.134 Sie war zu dem Ergebnis gekommen, dass sich grö­
ßere sowjetische Truppenverbände nur sehr mühselig heranführen und ver­
sorgen lassen würden. Daher sei eine Großoffensive kaum möglich, wohl aber
eine Unternehmung gegen Narvik und die schwedischen Erzgruben, und zwar
durch den Einsatz starker Luftstreitkräfte, leicht beweglicher schwacher Hee­
resteile sowie von Fallschirmverbänden, bei gleichzeitiger Bindung des finni­
schen Heeres durch eine russische Offensive im Bereich des Onegasees. Die
weitere Entwicklung, so Fremde Heere, sei abhängig vom derzeitigen massiven
Ausbau des Verkehrsnetzes in Nordwestrussland.135
Gehlens Aufenthalt in Finnland diente offiziell dem Studium der finnischen
Grenzverteidigung. Von dem Bericht über seine Reise sind lediglich die Anla­

134 Die Fragestellung blieb bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs interessant. Loß­
berg, der sich schon 1937 damit beschäftigt hatte, führte Anfang der 1950er-Jahre in der
Org ein entsprechendes Kriegsspiel durch. Er verwies jetzt auf die Möglichkeit, dass sich
die UdSSR Skandinaviens per »Flankenheinrich« – Militärjargon für eine flankierende
Operation, in diesem Falle bei einem Angriffsschwerpunkt in Zentraleuropa – bemäch­
tigen und die norddeutsche Tiefebene angreifen könnte; nach den Erinnerungen von
Siegfried Graber, BND-Archiv, N 4/20.
135 5. Abt.GenStdH, Studie vom 1. Juni 1937, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 20.

100
gen erhalten, hauptsächlich Landschaftsfotos. Ein Panoramafoto von Lenin­
grad ließ einen Blick auf den möglichen Feind zu, stammt aber sicher nicht
von ihm, vielleicht aus finnischer Quelle.136 Sein Besuch beim deutschen Mili­
tärattache in Helsinki brachte ihn, wie bereits erwähnt, mit seinem früheren
Reitlehrer in Hannover zusammen.
Der in Finnland gewonnene Eindruck war ihm noch sehr präsent, als er
acht Jahre später in US-Kriegsgefangenschaft eine seiner ersten Studien über
»Russlands militärpolitische Ziele in Europa« verfasste.137 Ein finnischer Offi­
zier habe ihm an der Grenzstation Rajajoki erklärt:

Sie stehen hier an der Grenze zwischen Europa und Asien! Sie sollten aber
nicht glauben, dass das heutige Russland etwas Neues ist; die Entwicklung
Russlands zum Bolschewismus bedeutet nur, dass es die westeuropäische
Tünche abgelegt, sich auf sein asiatisches Wesen besonnen und zu den der
Eigenart des russischen Volkes entsprechenden Methoden eines seiner
bedeutendsten Herrscher, Iwans des Grausamen, zurückgekehrt ist.

Der anschließende Kurzurlaub in Schweden mit seiner Frau bei den Schwie­
gereltern seines Bruders Johannes, zu dem sich ein enges Verhältnis entwickelt
hatte, auch wenn er innerhalb der Familie weiterhin als der Vetter aus Rom
verleugnet wurde, rundete seinen Auslandsaufenthalt ab.
Zurück am Schreibtisch im Generalstab in der Bendlerstraße, gehörte es
zu seinen Aufgaben, das Generalkommando des II. Armeekorps in Stettin zu
bitten, Stellungen in Ostpommern zu erkunden, um einer möglichen Flanken­
bedrohung durch Polen zu begegnen und den strategisch wichtigen Verbin­
dungsweg nach Danzig/Ostpreußen offenzuhalten.138 Dafür gab es bereits die
in der Tiefe ausgebaute Pommernstellung. Sie sollte jetzt im Vorgelände bis
zur Grenze durch eine Sicherungslinie und vorbereitete Sperrungen so ausge­
baut werden, dass ein möglicher Kampf unter Einsatz von Truppen bereits von
der Grenze ab geführt werden konnte, um sich entweder gegen eine polnische

136 Bericht über Kommando nach Finnland, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 42. Später beigefügt
sind einzelne Abwehrmeldungen über die Umgebung von Leningrad vom März 1938.
Den Hintergrund bildeten Meldungen über den Bau einer Art Maginot-Linie in den
westlichen Grenzgebieten der Sowjetunion, der sogenannten Stalin-Linie.
137 Denkschrift Gehlens »Russlands militärpolitische Ziele in Europa«, 15.6.1945 (geschrie­
ben im Seventh Army Interrogation Center – SAIC – in Augsburg-Bärwald); darin wird
die finnische Episode von 1937 erwähnt, BND-Archiv, Nachlass Gehlen N 13/1. Sie findet
sich auch in dem MGFA-Interview von 1976 (BND-Archiv, N 13/2), nicht aber in seinem
Entwurf für Erinnerungen.
138 OKH 1. Abt. an GenKdo II. AK betr. Stellungserkundungen in Ostpommern, Juli 1937,
BA-MA, RH 2/763.

101
Offensive zu behaupten oder die Stellung als Ausgangsbasis für eine deutsche
Offensive zu nutzen.139
Zwar rechnete man 1937 noch mit Polens Neutralität bzw. mit einer mög­
lichen Allianz gegen die UdSSR und gegen die Tschechoslowakei, doch eine
Veränderung der außenpolitischen Lage war niemals auszuschließen. Des­
halb wurde 1937 die Abteilung Fremde Heere aufgeteilt, sodass sich jetzt die
(3.) Abteilung Fremde Heere West mit den Westmächten, die (12.) Abteilung
Fremde Heere Ost mit ganz Mittelost- und Osteuropa befasste. Es gibt keinen
Hinweis darauf, dass sich Gehlen damals bereits für diesen Sektor der General­
stabsarbeit sonderlich interessiert oder über entsprechende Kontakte verfugt
hätte. Über die von der Abteilung Landesbefestigung geleistete Arbeit, an der
er zeitweilig beteiligt war, ließ Gehlen 1941 im Rückblick eine umfassende Stu­
die anfertigen.140
Gehlen kam in einen zunächst lockeren Kontakt zu Generalleutnant Franz
Halder, den bayerischen Artillerieoffizier, der als Ausbildungsspezialist eigens
ins Ministerium nach Berlin geholt worden war, um das große Wehrmacht­
manöver vorzubereiten, das Mitte September 1937 in Mecklenburg stattfinden
sollte. Hier führten mehr als 160.000 Soldaten mit 25.000 Pferden, 21.700 Kraft­
fahrzeugen und 830 Panzern die Generalprobe für den künftigen Krieg auf.
Hatte Beck den Einsatz der neuen Panzerwaffe noch offengelassen, setzte Hai­
der eindeutig auf ihre operative Konzentration.141 Hitler war von Halder und
dem Ablauf des Manövers begeistert. Halder wurde von Beck zum Oberquar­
tiermeister II ernannt, mit dem Auftrag, die Ergebnisse des Manövers auszu­
werten und die gesamte Ausbildung des Heeres zu koordinieren.
Gehlen nahm die neuen Gedanken sofort auf, wenngleich er in seiner
Funktion als Referent nur wenig Entscheidungsspielraum hatte. Für seinen
Bereich bedeutete das die Abkehr vom Ausbau linearer Verteidigungslinien
unmittelbar an den Grenzen. Dafür galt es, befestigte Zonen auszubauen, die
sich mit geringen Kräften leicht verteidigen ließen und die Möglichkeit schu­
fen, Stoßkräfte so zusammenzufassen, dass sie beweglich operieren und die
feindlichen Angriffskeile im Gegen- oder Flankenangriff zum Stehen bringen
konnten.

139 Notiz vom 27.7.1937, ebd. Eine Übersicht über den damaligen Stand der Befestigungs­
arbeiten vermittelt eine Ausarbeitung von 1937, an der Gehlen wahrscheinlich mitgear­
beitet hat; ebd.
140 Die Entwicklung der deutschen Landesbefestigung in der Zeit von 1919-1939, erarbei­
tet von Oberstleutnant Dr. Roos, BA-MA, RH 2/3097, Materialsammlung dazu in RH
2/3099.
141 Siehe Christian Hartmann: Halder. Generalstabschef Hitlers 1938-1942, Paderborn
21992, S.50.

102
Halders Manöver hatte Hitler Ende 1937 dazu ermutigt, früher als erwartet
seine weiteren außenpolitischen Vorhaben auch unter Einsatz militärischer
Mittel anzugehen. Bei einer Besprechung am 5. November 1937, die durch das
berühmte Hoßbach-Protokoll142 überliefert ist, erklärte er der militärischen
Führungsspitze seine Absicht, bei passender Gelegenheit mit Gewalt gegen
die Tschechoslowakei vorzugehen. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Wer­
ner von Fritsch, widersprach, ebenso Außenminister Konstantin Freiherr von
Neurath und Reichskriegsminister Werner von Blomberg. Sie glaubten nicht
daran, dass es gelingen könnte, eine Ausweitung des Krieges zu verhindern, zu
dessen Führung die Wehrmacht noch längst nicht in der Lage sei.143 Das Ergeb­
nis dieses Widerspruchs gegenüber dem Diktator waren Intrigen gegen Blom­
berg und Fritsch, die beide Anfang 1938 ausgewechselt wurden. Auch Neurath
musste gehen. Hitler selbst übernahm den Oberbefehl über die Wehrmacht
und setzte mit Walther von Brauchitsch einen willfährigen neuen Oberbefehls­
haber des Heeres ein.
Als Reinhard Gehlen am 20. April 1938 »im Namen des Führers und Reichs­
kanzlers« für 18-jährige treue Dienste die Wehrmacht-Dienstauszeichnung
2. Klasse erhielt, trug diese Urkunde bereits die Unterschrift von Brauchitsch.144
Halder war in der Nachfolge Mansteins im Februar 1938 Oberquartiermeister I
unter Beförderung zum General der Artillerie geworden, im Rang demnach
gleichgesetzt mit Generalstabschef Beck, der sich in dieser Krise zögerlich ver­
hielt. Der kommende Mann schien allem Anschein nach Halder zu sein. Das
hatte Gehlen längst verstanden, und so wandte er sich an ihn, als er selbst in
schwieriges politisches Fahrwasser geriet. Den Hintergrund bildeten Hitlers
Anordnungen, den Ausbau von Befestigungen in den wiederbesetzten Gebieten
westlich des Rheins zu beschleunigen. Jedes militärische Vorgehen im Osten
bzw. Südosten setzte voraus, dass eine mögliche Front am Rhein mit geringen
Kräften gehalten werden konnte, bis eine Entscheidung im Osten durch die
mobile Feldarmee erreicht sein würde. Nachdem es Hitler gelungen war, die
österreichische Regierung so unter Druck zu setzen, dass am 12. März 1938 ein
Einmarsch der Wehrmacht möglich wurde, war die strategische Position der
Tschechoslowakei kaum noch zu halten. Unter den politischen Provokationen
der Nationalsozialisten, die sich dem nächsten Opfer zuwandten, konnte Prag
nur darauf vertrauen, dass die Westmächte der bedrohten Demokratie zu Hilfe
eilen würden.

142 Siehe http://www.ns-archiv.de/krieg/1937/hossbach.


143 Siehe u. a. Kirstin A. Schäfer: Werner von Blomberg. Hitlers erster Feldmarschall, Pader­
born 2006.
144 Nachlass Gehlen, BND-Archiv, N 13/v. 2.

103
General der Infanterie Wilhelm Adam, 1938

Hitler brauchte deshalb ein Instrument, um vor allem Frankreich von einer
möglichen Intervention abzuschrecken. Die Westbefestigungen befanden sich
freilich noch in einem eher rudimentären Zustand. Er ordnete deshalb im
Frühsommer 1938 an, Hermann Göring, als Generalfeldmarschall und Ober­
befehlshaber der Luftwaffe ranghöchster Soldat der Wehrmacht, solle die Bau­
stellen besichtigen. Planung und Durchführung der Baumaßnahmen gehörten
in die Zuständigkeit des Heeres. Deshalb begleitete ihn der regional zuständige
Chef des Gruppenkommandos in Wiesbaden, Generalleutnant Wilhelm Adam,
der im Kriegsfall den Oberbefehl im Westen erhalten sollte. Adam war gegen­
über einem beschleunigten Ausbau der Verteidigungsanlagen kritisch einge­
stellt und wurde von Hitler als Bremser und Defätist eingeschätzt. Der Dikta­
tor verfolgte deshalb die Absicht, mit dem weiteren Ausbau die Organisation
Todt zu beauftragen, das Projekt also dem Heer aus der Hand zu nehmen und
der NS-Bauorganisation des Ingenieurs Fritz Todt zu übertragen, die bisher
für den Bau der Autobahnen zuständig gewesen war. Vor diesem Hintergrund
stand die Besichtigungsreise mit Göring unter keinem guten Stern. Als Beglei­
tung für Adam wurde Gehlen als der zuständige Fachreferent der 10. Abteilung
kommandiert.
Schon bei der ersten Besprechung im Sonderzug Görings am 9. Juni 1938
ließ Hitlers Vertreter die Maske fallen.145 Der zweitmächtigste Mann im NS-
Staat zog über die angeblichen Versäumnisse des Heeres heftig vom Leder:
Nun müsse in wenigen Monaten nachgeholt werden, was in Jahren versäumt

145 Hauptmann Gehlen, GenStdH, 10. Abt., Vortragsnotiz, 12.6.1938, Gehlen-Kisten, Mappe
Nr. 25.

104
worden sei. Im Mai 1933 habe der »Führer« darauf hingewiesen, »daß es eine
Schicksalsfrage für die deutsche Politik sei, das Rheinland wiederzugewinnen
und das Loch im Westen zu schließen«. Dafür hätten zunächst behelfsmäßige
Maßnahmen veranlasst und eine ständige Befestigung vorbereitet werden
müssen. Tatsächlich sei nichts geschehen, so Göring. Hitler habe nun befohlen,
den Ausbau beschleunigt bis zum 1. Oktober zum Abschluss zu bringen (also
innerhalb von drei Monaten). Es müsse ein »Westwall« gebaut werden, eine
überragende Befestigung von kaum vorstellbarer Stärke; zu diesem Zwecke
solle im Anschluss an die Stellung des Heeres die Luftwaffe etwa 15 Kilometer
rückwärts eine zweite Stellung bauen mit größeren und kleineren Bunkern als
Anklammerungspunkten für Reserven. Gleichzeitig sei der Ausbau mehrerer
rückwärtiger Linien zu bewerkstelligen, um eine befestigte Tiefe bis zum Rhein
zu schaffen. Adam wandte vergeblich ein, ein solches Projekt würde eine Ange­
legenheit von Jahrzehnten sein.
In seiner Aktennotiz hob Gehlen »die sehr scharfe z. T. hämische Kritik des
Herrn Generalfeldmarschalls Göring bezüglich dessen, was im Ausbau der
Landesbefestigung bisher versäumt sei«, hervor und dass dieser bereits Füh­
lung aufgenommen habe mit dem Reichsarbeitsführer (Franz Seldte) und dem
Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen (Fritz Todt). Diese seien
bereit, alle verfügbaren Mittel einzusetzen. Unter Verweis auf die Erlaubnis
von Adam, einen eigenen Eindruck der Heeresführung mitzuteilen, notierte
Gehlen wieder in Berlin: »Ich sehe in dem Besuch ferner den ersten Schritt
des Herrn Gen. Feldmarschalls Göring, sich in die gesamte Wehrmachtführung
maßgeblich einzuschalten.«
Es bestand im Oberkommando des Heeres zu Recht die Sorge, dass Göring,
der im Zuge der Blomberg-Fritsch-Affäre vergeblich nach dem Oberbefehl über
die Wehrmacht gestrebt hatte, die Interessen seiner Luftwaffe auf unterschied­
lichsten Wegen in den Vordergrund zu schieben versuchte, nachdem er schon
über seine Funktion als »Beauftragter für den Vierjahresplan« einen großen
Teil der Rüstung an sich gerissen hatte. Das Heer als die größte Teil Streitkraft
musste also darauf bedacht bleiben, seine Interessen zu wahren. Dafür hatte
der »kleine Hauptmann« und Referent ein sicheres Gespür.
Adam vertrat bei der Besprechung mit Göring nachdrücklich den Stand­
punkt, dass im Falle eines entschlossenen Angriffs Frankreichs kein erfolgrei­
cher Zweifrontenkrieg im Herbst geführt werden könne. Da sich Göring offen­
bar nicht zu diesem Urteil äußerte, glaubte Adam, ihn überzeugt zu haben – ein
Irrtum, denn der ehrgeizige Göring nutzte bei seinem späteren Bericht gegen­
über Hitler die Chance, Adam entsprechend zu denunzieren. Nach Beginn
der Besichtigungsreise eskalierte der Streit. Gehlen berichtete, dass Adam am
Abend des dritten Tages meinte, er könne nicht länger bleiben, sonst würde
er platzen und dann würde ein Unglück passieren. Er, Gehlen, müsse weiter

105
mitreisen und später dem Generaloberst Halder berichten. Adam, den Gehlen
im Interview 1976 einen »Selbstkocher« nannte, weil er immer schnell einen
roten Kopf bekommen habe, machte sich anschließend unter einem Vorwand
aus dem Staub.146 Als Gehlen mit dem ganzen Gefühl der Verantwortung (»Ich
selbst war damals Hauptmann im Generalstab, 36 Jahre alt und in den Augen
Görings und seiner großen Suite ein junger Mann«), aber auch mit der Auto­
rität der Heeresführung am folgenden Tag zum ersten Mal den Mund auf­
machte, um Görings Ausführungen zu berichtigen, habe er »gewaltig einen
auf den Deckel« bekommen. Der Generalfeldmarschall stauchte den Haupt­
mann zusammen und beschimpfte ihn als »Kriegsschulversager«, wohl weil er
annahm, dass Gehlen deshalb in das Festungswesen abgeschoben worden sei.
Natürlich konnte dieser sich nicht auf ein Wortgefecht einlassen und
schwieg. Aber er suchte einen Umweg, um zum Ziel zu kommen – wieder eine
Erfahrung, die seinen späteren Führungsstil geprägt hat. Er wandte sich an
Generaloberst Erhard Milch, Generalinspekteur der Luftwaffe und Vertreter
Görings. Ihm trug er vor, dass er hier den Auftrag habe, den Standpunkt des
Heeres zu vertreten, und bat ihn händeringend darum, dies seinem Chef zu
übermitteln, damit er pflichtgemäß zu Wort kommen könne. »Milch nahm das
sehr nett und positiv auf, sprach mit Göring und von diesem Augenblick an
konnte ich mich jederzeit zu Wort melden.«
Einerseits aufgewühlt von dieser waghalsigen Gratwanderung, die ihn glatt
die Karriere hätte kosten können, und andererseits im stolzen Bewusstsein,
doch nur sachliche Standpunkte und die Interessen des Heeres vertreten zu
haben, meldete er sich am 13. Juni 1938 zurück bei Halder als dem zuständigen
Oberquartiermeister I. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Brauchitsch, nahm
Gehlens Aktennotiz kommentarlos zur Kenntnis und ließ sich von Adam
direkt berichten. Dieser meinte, dass man wohl im Interesse der Sache Emp­
findlichkeiten hinsichtlich der Zuständigkeiten für den Festungsbau zurück­
stellen müsse. Brauchitsch folgte dieser Empfehlung, ließ aber Adam fallen,
der Ende des Jahres in den Ruhestand abgeschoben wurde und im Zweiten
Weltkrieg nicht wieder verwendet worden ist. Halder nahm sich dagegen zwei
Stunden Zeit, um sich mit dem jungen, eifrigen Hauptmann zu unterhalten.
Es war der Beginn einer engen väterlichen Freundschaft, die zwei Jahre
später ihren Höhepunkt erreichte, als Halder für die Planung des Russland­
feldzugs Gehlen als seinen Adjutanten zu sich holte. Ungewöhnlich offenher­
zig sprachen beide 1938 auch über die politischen Zusammenhänge. Halder

146 Gehlen im MGFA-Interview, 10.11.1976, S. 153, BND-Archiv, N 13/2, dort auch die folgen­
den Zitate. In seiner Aktennotiz von 1938 formulierte Gehlen etwas zurückhaltender,
Adam habe »ein sehr lebendiges Temperament« gehabt.

106
informierte Gehlen über Einzelheiten der schwelenden Fritsch-Affäre, die zwar
zur Rehabilitierung des ehemaligen Oberbefehlshabers des Heeres führte,
aber nicht zu seiner Wiederverwendung. Am selben Tag hatte Hitler die hohe
Generalität darüber unterrichtet, dass ihn die Zuspitzung der außenpoliti­
schen Lage dazu zwinge, von einer demonstrativen Rehabilitierung von Fritsch
abzusehen.147 Gehlen verstand: »Ein Staat, in dem das Recht nicht Recht bleibt,
kann keinen Stand haben.« Er sah sich zugleich in seiner Auffassung »über
diese Brüder« von SS und SD bestätigt, die hinter den Intrigen gegen die Hee­
resführung vermutet wurden. Im Interesse des weiteren Aufbaus der Wehr­
macht musste freilich ein Modus Vivendi gefunden werden, wie Gehlen sich
später ausdrückte.148
Als Referent für das Befestigungswesen musste Gehlen das Kriegsspiel
»Generalstabsreise 1938« mit vorbereiten, bei dem der Ablauf eines Feldzugs
gegen die Tschechoslowakei geprobt wurde, inklusive des wichtigen Kampfes
gegen die massiven tschechischen Befestigungen. Er hatte dabei den Auftrag,
Informationen zur Verfügung zu stellen und auszuwerten. Das Ergebnis des
Kriegsspiels bestätigte die Befürchtungen von Beck nicht. Ende Juni 1938, bei
der Abschlussbesprechung in Berlin, wurden die Meinungsverschiedenhei­
ten zwischen dem Oberbefehlshaber des Heeres und dem Generalstabschef
für die teilnehmenden Offiziere deutlich erkennbar. Diese hielten intern die
Besorgnisse von Beck für übertrieben. Man werde diese »lächerlichen Hussi­
ten« rasch schlagen. Im Übrigen verstehe Beck offenbar nicht mehr die neue
Zeit, meinten seine Kritiker und blendeten die politische Dimension des mili­
tärischen Handelns völlig aus.149
Generalstabschef Beck warnte angesichts der sich zuspitzenden Konfron­
tation mit der Tschechoslowakei vor der Gefahr eines neuen Weltkriegs. Als
er merkte, dass weder Brauchitsch noch Hitler seine Argumente zur Kenntnis
nahmen, forderte Beck einen kollektiven Rücktritt der Generalität. Er setzte
damit hohe politische und moralische Maßstäbe. Beck:

Es stehen hier letzte Entscheidungen für den Bestand der Nation auf dem
Spiel; die Geschichte wird diese Führer mit einer Blutschuld belasten, wenn
sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen
handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr
Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet.

147 Klaus-Jürgen Müller: Generaloberst Ludwig Beck. Eine Biographie, Paderborn 2008,
S.334.
148 Gehlen an Präsident Wessel, 5.2.1971, mit Bemerkungen zum Manuskript von Zolling,
BND-Archiv, N 13/v. 2.
149 Müller, Generaloberst Ludwig Beck, S. 337.

107
Finden ihre Ratschläge und Warnungen in solcher Lage kein Gehör, dann
haben sie das Recht und die Pflicht vor dem Volk und vor der Geschichte,
von ihren Ämtern abzutreten. Wenn sie alle in einem geschlossenen Willen
so handeln, ist die Durchführung einer kriegerischen Handlung unmöglich.
Sie haben damit ihr Vaterland vor dem Schlimmsten, vor dem Untergang
bewahrt.150

Das würde, so hoffte Beck, auch eine »innenpolitische Flurbereinigung«


ermöglichen, das heißt eine »Auseinandersetzung mit der SS und der Bonzo­
kratie« mit dem Ziel, geordnete Rechtsverhältnisse wiederherzustellen.151
Bei der Führungsspitze fand Beck keine Zustimmung. Es blieb eine »Geste
der Hilflosigkeit«, denn er selbst konnte sich am Ende nicht zu einem harten
Bruch entscheiden und begann, sich aus seinem Amt still zurückzuziehen.
Im Generalstab verfolgte man die Entwicklung mit größter Sorge. Ob davon
auch Gehlen erfasst wurde, muss offenbleiben. Er stand ja noch am Beginn
eines Weges, der ihn nach ganz oben führen sollte. Da klammerte man sich im
Zweifel lieber an einen Modus Vivendi. Sein Chef Halder beurteilte die Lage
vom fachlichen Standpunkt ähnlich wie Beck. Für dessen ehrenwerte, aber
wenig hilfreiche Verweigerung fehlte ihm allerdings das Verständnis.152 Immer­
hin hatte auch Halder persönlich glänzende Aussichten vor Augen. In Hitlers
Absichten eingeweiht und von dem Diktator sehr geschätzt, bot sich ihm viel­
leicht die Möglichkeit, die militärisch-politische Entwicklung beeinflussen
zu können. Intern gab er sich als entschlossener Wortführer der Interessen
des Heeres, was allerdings nicht nach außen drang. Einem gut informierten
Beobachter des künftigen Generalstabschefs schien Halder ein »Rückversiche­
rer nach allen Seiten« zu sein.153 Reinhard Gehlen, der junge Hauptmann und
Referent im Generalstab, hat viel von seinem späteren Förderer lernen können.
Als sich die Vertrauenskrise zwischen Generalstabschef und Oberstem
Befehlshaber der Wehrmacht zuspitzte, versammelte Hitler am 15. August 1938
die höhere Generalität auf dem Truppenübungsplatz Jüterbog. Schießversu­
che gegen Betonbunker sollten die Bedenken zerstreuen, dass die Tschechen

150 Vortragsnotiz Becks, 16.7.1938, in: abgedr. in: Klaus-Jürgen Müller: General Ludwig
Beck. Studien und Dokumente zur politisch-militärischen Vorstellungswelt und Tätig­
keit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933-1939, Boppard a. Rh. 1980, Dok.
50, S. 551-554.
151 Nachtrag zu seiner Denkschrift, zit. nach: Müller, Generaloberst Ludwig Beck, S. 345.
152 Siehe Hartmann, Halder, S. 60.
153 Gerhard Engel nach einer Aufzeichnung vom 17.11.1951, zit. nach: ebd., S.61. Engel
war ab 1938 als Hauptmann Adjutant beim Oberbefehlshaber des Heeres, am Ende des
Zweiten Weltkriegs Generalleutnant und Divisionskommandeur.

108
einen längeren Widerstand leisten könnten. General Adam, wie Beck gelernter
Artillerist, sprach von einem »Theaterstück«. Von kriegsmäßigen Bedingun­
gen könne nicht die Rede sein. Welche Rolle die für das Befestigungswesen im
Generalstab zuständige Abteilung dabei gespielt hat, ist nicht erkennbar. Geh­
len, der sich in Jüterbog auskannte, dürfte bei der Vorführung dabei gewesen
sein. Nach dem Essen im Kasino der Artillerie schule ließ Hitler die Generale
in einen Hörsaal der Schule kommen, um dort seine Grundsatzrede zu halten.
Zur Absicherung der Geheimhaltung teilte Hitler persönlich Stabsoffiziere zur
Bewachung der Türen und Fenster ein.154 Der Diktator wandte sich in seiner
folgenden Ansprache scharf gegen den Generalstabschef und erklärte, er sei
entschlossen, die tschechische Frage noch im Herbst mit Gewalt zu lösen.155
Beck reichte drei Tage später sein Rücktrittsgesuch ein. Damit war der Weg
für Halder frei, es auf seine Weise mit Hitler zu versuchen. Am 27. August, als
Beck die Dienstgeschäfte an seinen Nachfolger übergab, ging Gehlen ins Hin­
denburg-Lazarett in Berlin-Zehlendorf, nahe seiner Wohnung. Dort blieb er
wegen einer Erkrankung seiner Gallenblase für drei Tage in der Chirurgischen
Abteilung. 1922 war seine geliebte Mutter an einem entsprechenden Eingriff
gestorben. Nach der Vorbereitung für die Operation blieb er eine Woche krank­
geschrieben zu Hause, um sich dann Anfang September für zwei Wochen im
Lazarett behandeln zu lassen. Für die nächsten vier Jahre blieb ihm ein wei­
terer Lazarettaufenthalt erspart.156 Seine Gesundheit ist durch die enormen
Anspannungen im Generalstabsdienst sicherlich nicht gefördert worden. Was
seine Frau und die beiden kleinen Kinder betrifft, so achtete Herta darauf,
ihren Mann möglichst nicht mit familiären Sorgen zu behelligen. Man konnte
sich jetzt sogar ein Kindermädchen leisten.
Während der Erkrankung Gehlens eskalierte die außenpolitische Lage
und ein militärischer Einmarsch in die Tschechoslowakei stand unmittelbar
bevor. Ob Gehlen seine Abwesenheit vom hektischen Betrieb des Generalstabs
bedauerte? Er wird die Entwicklungen sicher aufmerksam verfolgt haben. Kurz
nach seiner Entlassung aus dem Lazarett fand die Sudetenkrise mit dem über­
raschenden Abschluss des Münchener Abkommens am 30. September 1938
ihren Abschluss. Großbritannien und Frankreich stimmten der Annexion des
von den Sudetendeutschen besiedelten Gebietes zu und lieferten damit die
Tschechoslowakei dem deutschen Einflussbereich aus. Ihre Hoffnung, dass
damit Hitlers Expansionsdrang beendet und der Frieden in Europa gerettet
sein könnte, erwies sich freilich bald als IIIusion.

154 Schulze, Geschichte, S. 297.


155 Siehe dazu Müller, Generaloberst Ludwig Beck, S. 356.
156 Auskunft der Deutschen Dienststelle Berlin, ehemals Wehrmachtauskunftsstelle.

109
Nach Rückkehr in seine Dienststelle erhielt Gehlen die Mitteilung, dass er
seine regulär anstehende Verwendung als Batteriechef in der Truppe antreten
sollte. Vorgesehen war ein Einsatz im Artillerie-Regiment 18, das man 1934 im
Zuge der Heeresvermehrung aus Teilen seines alten Stammregiments gebil­
det hatte. Im schlesischen Liegnitz waren seit 1935 der Stab sowie die II. und
III. Abteilung stationiert.157 In der 80.000 Einwohner zählenden alten Garni­
sons- und Bezirkshauptstadt für Niederschlesien waren mehr als 10.000 Sol­
daten stationiert. Sie war einst nach Breslau die stärkste Festung des Landes
und hatte vier bedeutsame Schlachten gesehen, so auch 1241 den Sieg über
die Mongolen.
Gehlen zog also zum 10. November 1938 als Chef der 8. Batterie für ein Jahr
im »Frontdienst« in die neu erbaute Scharnhorst-Kaserne. Das erwies sich in
mehrfacher Hinsicht als glückliche Fügung. In der Dovestraße 14 bezog seine
Familie, die ihm aus Berlin folgte, eine Dienstwohnung, die bis zum Januar 1945
neuer Familienmittelpunkt wurde. Zwei Straßen weiter wohnte der Komman­
deur der 18. Infanterie-Division, zu der das Regiment gehörte. Es handelte sich
um Erich von Manstein, der nach seiner tiefen Enttäuschung darüber, dass
man ihn nicht zum Nachfolger von Beck gemacht hatte, seit dem 1. April 1938
ebenfalls in Liegnitz seinen »Frontdienst« ableistete. Anders als sein früherer
Adjutant Gehlen kehrte er nie wieder in den Generalstab zurück, denn er ver­
achtete Halder und zog es vor, im Zweiten Weltkrieg eine Feldherrenkarriere
zu machen.
Die Nähe zu Manstein ist für Gehlen sicherlich eine besondere Herausforde­
rung, aber auch eine Chance gewesen, sich durch herausragende Leistungen zu
profilieren. Zu seinem Regiment gehörten vergleichsweise viele Offiziere (114)
und Unteroffiziere (427) sowie 10 Veterinäroffiziere und 2321 Mannschaften.158
Durch die anhaltend rasante Vergrößerung des Heeres hatte man zahlreiche
ehemalige Offiziere und Unteroffiziere reaktivieren müssen. Sie verfügten nicht
immer über die besten Kenntnisse und mussten sich erst in die neuen Verhält­
nisse hineinfinden. Gegenüber »alten« Berufsoffizieren wie Gehlen konnte das
ein Nachteil sein. Regimentskommandeur war Oberst Kurt Anger, der 1935 von
der Polizei in die Wehrmacht übernommen worden war. Er galt als fürsorglich
und anständig, gelegentlich etwas unsicher. Im Zweiten Weltkrieg brachte er
es als Generalmajor nach Einsätzen in Frankreich und Russland bis zum Kom­
mandeur des Kriegsgefangenenwesens im Wehrkreis XIII (Nürnberg). Anger
hat Gehlen, den ehrgeizigen jungen Generalstabsoffizier, in dessen Funktion

157 Klaus Christian Richter: Die bespannten Truppen der Wehrmacht. Stuttgart 1997.
158 Joachim Engelmann, Lohn der Tapferkeit. Aus der Geschichte des Artillerie-Regi­
ments 18 der 18. Infanterie-Division/18. Panzergrenadier-Division Liegnitz. 4 Teile,
Oldenburg o. J. [1979-1989].

110
Stallwache der 1. Batterie in Bunzlau, ca. 1938

als Batteriechef offenbar eher durchschnittlich beurteilt. Gehlen war also gut
beraten, sich an den übergeordneten Divisionskommandeur zu halten.
Gehlens Abteilungskommandeur war Oberstleutnant Ralph Graf von Ori­
ola, ein alter Bekannter und seinerzeit als älterer Oberleutnant in der Batte­
rie, in die Gehlen als Rekrut eingetreten war und seine erste Zeit als Leutnant
erlebt hatte. Oriola brachte es im Zweiten Weltkrieg bis zum General der Infan­
terie und Divisionskommandeur.
Für Oriola war die Gelegenheit 1938 günstig, längere Zeit Urlaub zu neh­
men, denn mit Hauptmann i. G. Gehlen hatte er nun einen Stabsoffizier in der
Abteilung, der ihn vertreten konnte. Diese längere Vertretung ließ sich Gehlen
später als seine »Frontzeit« als Abteilungskommandeur anrechnen und kam
auf diese Weise auch zu seinem Vorteil. Als Batteriechef war er der Primus,
denn bei den Chefs der anderen Batterien handelte es sich teils um junge Leut­
nants mit großem Eifer und Idealismus, aber geringer Erfahrung.159 Gehlen

159 Zu ihnen gehörte der Batterieoffizier der benachbarten 7. Batterie, Leutnant Karl-
Heinz Küpper. Dieser brachte es bis zum Major und Kommandeur der III. Abteilung
im Artillerie-Regiment Großdeutschland. Er blieb nach Kriegsende in der Sowjetischen
Besatzungszone (SBZ) und wurde Abteilungsleiter in der Hauptverwaltung für Ausbil­
dung der Volkspolizei. Mit Kenntnis Gehlens arbeitete er ab 1950 für einen westlichen

111
Fahrübung im Gelände, achtspännig, ca. 1938

hatte seine Freude daran, um Rat gefragt zu werden und bewusst alle Aufgaben
mitzumachen, die von den Batteriechefs im Rahmen der Winterausbildung
erwartet wurden.
Das betraf etwa den Nachtritt, der von jedem Offizier halbjährig absolviert
werden musste. Der Ritt ging über 60 Kilometer allein in Begleitung eines
Unteroffiziers auf einem vorgeschriebenen Weg abseits der Straßen. An meh­
reren Kontrollstationen waren kleinere Aufgaben zu lösen. Es kam darauf an,
das Ziel möglichst schnell zu erreichen. Aufgrund seiner intensiven reiterli­
chen Erfahrungen fiel Gehlen die Aufgabe nicht schwer, aber wie stets ging er
systematisch vor und legte nach einem sorgfältigen Zeitplan einen Wechsel

Geheimdienst, musste aber im Oktober 1951 mit seiner Familie aus der DDR herausge­
holt werden. Die Amerikaner übergaben ihn an die Org. Es kam zu einem Treffen mit
Küpper in West-Berlin, wo er von Gehlen oder einem anderen Kameraden aus dem
Artillerie-Regiment 18 identifiziert wurde. Gehlen setzte sich in einem Schreiben an
den SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer sogar dafür ein, dass Küppers Schwiegervater,
ein altes SPD-Mitglied, wieder im Staatsdienst verwendet wurde. 1954 schied Küpper
wegen finanzieller Forderungen aus der Org aus, angeblich als charakterlich zu weich
und nicht zuverlässig; BND-Archiv, V 1199(4). Einzelheiten dazu demnächst in der UHK-
Studie von Ronny Heidenreich: Die Spionage des BND in der DDR.

112
zwischen längeren Trabstrecken und Schrittstrecken, diese dann abgesessen
zu Fuß, fest. Im Ergebnis kamen die anderen Teilnehmer erst sechs Stunden
nach ihm ans Ziel, und Gehlen freute sich, auf diese Weise den jüngeren Offi­
zieren ein gutes Beispiel gegeben und gezeigt zu haben, wie man eine solche
Aufgabe effektiv lösen kann.
Eigentlich sollten Generalstabsoffiziere, die an der »Front« dienten, nicht
zu anderen Diensten herangezogen werden, die sie von ihrer Aufgabe ablen­
ken könnten, Erfahrungen in der Truppe zu sammeln. In der bunt zusam­
mengewürfelten Einheit von altgedienten Soldaten, reaktivierten Veteranen
und jungen Rekruten hatte Gehlen allerdings keine Chance, sich vor lästigen
Nebentätigkeiten zu drücken, die man gern einem »Neuen«, der sich auszu­
kennen schien, aufbürdete. So beauftragte ihn der Regimentskommandeur
unter anderem damit, das Kasino zu verwalten, auf dem eine Schuldenlast von
5000 Reichsmark lag, oder zog ihn zur Vorbereitung des Offiziersunterrichts
und ähnlichen Aufgaben heran. Mehr Spaß bereitete ihm verständlicherweise
die Betreuung eines kleinen Springreiterstalls, den das Regiment für pferde­
sportbegeisterte junge Offiziere unterhielt.
Seinen täglichen Dienst richtete Gehlen nach dem Vorbild seines früheren
Batteriechefs aus, den er damals als Leutnant zwar oft kritisch beurteilt hatte,
sich jetzt aber an dessen praktische Erfahrungen erinnerte. Also kontrollierte
er einen Tag nach der Übernahme der Batterie persönlich das Wecken, fand
15 Minuten danach noch einen Unteroffizier im Bett vor und bestrafte ihn
hart. So wussten alle, woran sie bei ihm waren, und er musste in den nächsten
Monaten keine Disziplinarstrafen mehr aussprechen – das erzieherische Prin­
zip seines Vaters schien sich also zu bewähren.
Im Februar 1939 war eine Besichtigung des Regiments durch den Divisi­
onskommandeur und ein großes Kriegsspiel der Division vorzubereiten. Das
brachte eine Fülle von taktischen Aufgaben mit sich, die Gehlen gern über­
nahm. Es zahlte sich aus, dass er noch über seine Unterlagen von der Kriegs­
akademie verfügte und die taktischen Übungen seiner besonderen Begabung
entsprachen.160 Am 7. Februar ging es um eine Planübung »Kampf der Vorhut
des verstärkten Infanterie-Regiments«, am 18. Februar um Unterlagen für ein
gefechtsmäßiges Batterieschießen, das im Sommer auf dem Truppenübungs­
platz Neuhammer stattfinden sollte, dann am 20. Februar um die Ausarbeitung
einer Planübung Ende Februar, gleichzeitig um Unterlagen für ein Kriegsspiel
im Artillerie-Offizierheim Liegnitz am 21. Februar. Zwei Tage später fand im
Grenadier-Kasino ein Kriegsspiel der Division unter Leitung Mansteins statt,
bei dem auch Gehlen zusammen mit seinem Abteilungschef teilnahm. Durch­

160 Handakte Hauptmann Gehlen: Taktische Vorträge und Übungen, BA-MA, RH 41/1189.

113
gespielt wurde ein Angriff der 1. Panzer-Division. Hier war Gehlen sicherlich
in seinem Element.
Das formale Fußexerzieren der Kanoniere interessierte ihn dagegen weni­
ger. Bei der Frühjahrsbesichtigung, an der Manstein als Divisionskommandeur
die ganze Zeit anwesend war, bemängelte dieser als alter Infanterist prompt
genau diesen Punkt. Dagegen hatte Gehlen mit seiner Batterie besonders das
Geländefahren im Sechsgespann vor der Kanone sehr intensiv geübt. Eine Her­
ausforderung bildete das Überqueren von Geländehindernissen. Ein Hohlweg
an der einen Seite des Liegnitzer Exerzierplatzes galt dafür als nicht geeig­
net. Gehlen zeigte seinen Leuten, dass man mit richtiger Einteilung und bei
energischem Vorwärtsreiten einen solchen Hohlweg mit dem Sechsgespann
und anhängendem schweren Geschütz dennoch durchqueren konnte. Er ließ
mehrfach üben, was den Männern schließlich Spaß machte. Zum Abschluss
der Besichtigung, unter den Augen des Divisionskommandeurs und des Artil­
lerieführers des Wehrkreises, führte Gehlen die Batterie, in Einerkolonne
galoppierend, mit allen vier sechsspännigen Fahrzeugen (Geschützstaffeln)
und vier vierspännigen Fahrzeugen (Munitionsstaffeln) um den sehr weitläu­
figen Exerzierplatz und hatte die Absicht, am Ende diesen Hohlweg zu durch­
queren. Während die Batterie im vollen Galopp auf den Hohlweg zusteuerte,
rief ihm der Regimentsadjutant zu: Der Oberst lässt sagen, dort ist ein Hohl­
weg, da kann man nicht durchfahren. Gehlen reagierte nicht, ließ seine acht
Gespanne Abstand einnehmen, jedes vor dem Abhang kurz halten, um dann
im Galopp hinunter und auf der anderen Seite wieder hinaufzufahren. Dann
schwenkte die Batterie ein, marschierte auf und der stolze Chef meldete dem
Regimentskommandeur sowie dem Divisionskommandeur die Beendigung
des Exerzierens. Der eine, Anger, warnte vor solchen waghalsigen Manövern,
der andere, Manstein, reagierte positiv. Gut geplante Vorführungen wurden für
Gehlen später in Pullach zu einem wichtigen Führungsmittel, um Besucher,
speziell Politiker, zu beeindrucken.
Gehlens Beförderung zum Major mit Wirkung vom 1. März 1939 (Rang 22)
war zwar reine Routine, aber offenbar half die Protektion Mansteins, um ihm
sechs Wochen später eine wesentlich verbesserte Einstufung zu verschaffen.
Sein Rangdienstalter wurde um ein Jahr zurückgestuft (1. Juni 1938), und zwar
auf Platz la. Eine solche hervorragende Bewertung ließ erahnen, dass er bereits
für eine höhere Verwendung vorgesehen war und nicht als Batteriechef in den
Krieg ziehen würde. Die hektische Betriebsamkeit in den Kasernen folgte kei­
ner Routine langer Friedensjahre. Angesichts der zugespitzten politischen
Lage zeichnete sich ein baldiger Einsatz der Wehrmacht ab. Nach dem Mün­
chener Abkommen war die Zerschlagung der sogenannten Rest-Tschechei
Hitlers nächstes Ziel. Am 15. März 1939, nach dem kampflosen Einmarsch in
Prag, erweiterte er sein »Großdeutsches Reich« um das »Reichsprotektorat

114
Böhmen und Mähren«. Die Slowakei hatte sich zuvor unabhängig erklärt und
dem »Schutz« des Reiches unterstellt. Das ehemals preußische Memelgebiet
ließ Hitler am 23. März 1939 besetzen.
Gehlens Regiment war Anfang März nicht in die Vorbereitungen zum Ein­
marsch in die Tschechei einbezogen worden. Nach der Entwaffnung der tsche­
chischen Armee wurde seine Abteilung zusammen mit anderen eingesetzt,
um die laufend ankommenden Transportzüge mit tschechischen Waffen und
Munition in Neuhammer zu entladen und aufzustapeln. Das Material sollte
bei der Aufstellung von weiteren Reservedivisionen Verwendung finden. Auf
diesem Wege profitierte Gehlen auch persönlich von Hitlers außenpolitischen
Erfolgen, denn er bekam eine Mobilmachungsorder, die seine Verwendung
als Erster Generalstabsoffizier einer Landwehrdivision vorsah. Wie sich die
Kriegsvorbereitungen im Generalstab des Heeres weiterentwickelten und ab
April gegen Polen richteten, bekam Gehlen als Batteriechef in Liegnitz dienst­
lich nicht mit. Aber die intensive Vorbereitung zur Aufstellung von Reserve­
divisionen für den Kriegsfall betraf auch den schlesischen Wehrkreis.
Gehlens Standort gehörte zum Einzugsbereich der Landwehrkommandan­
tur Glogau unter der Führung von General René de l’Homme de Courbière,
ein gütiger älterer Herr aus hugenottisch-preußischem Soldatenadel, dessen
mittelmäßige soldatische Leistungen offenbar nicht an die seines Vorfahren
heranreichten, der es immerhin bis zum Generalfeldmarschall gebracht hatte.
Während des Russlandfeldzugs übernahm Courbière die 213. Sicherungsdi­
vision, die aus Teilen seiner ehemaligen schlesischen Landwehr aufgestellt
worden war. Dort erlebte er bis Anfang 1943 die ganze Härte des Partisanen­
kampfes und des Vernichtungskriegs gegen die jüdische Bevölkerung. Gehlen
hatte also Glück, dass er im Herbst 1939 nach nur kurzem Einsatz in der Divi­
sion wieder in den Generalstab zurückkehren konnte. So blieb ihm die blutige
Erfahrung im Hinterland der Ostfront persönlich erspart.
In Glogau hatte Courbière einen tüchtigen jungen Generalstabsoffizier,
Major i. G. Erich Dethleffsen, der sich um den Mobilmachungskalender küm­
merte, in dem auf wenigen Seiten in einem Schnellhefter festgelegt war, wel­
che Führungs-, Organisations- und Versorgungsmaßnahmen im Falle einer
Mobilmachung zu treffen waren. Gehlen lobte Dethleffsen später in seinen
unveröffentlichten Erinnerungen als einen vielseitigen Generalstabsoffizier
mit hervorragendem politischen Urteil und einer besonderen militärischen
Begabung. Er spielte in den 1950er-Jahren eine wichtige Rolle für die Org.
Courbière sollte im Kriegsfall Kommandeur der neu aufzustellenden
213. Infanterie-Division werden, eine Division der 3. Welle, zusammengestellt
aus wenigem aktiven Personal sowie in der Masse aus Reservisten der örtli­
chen Landwehr. Für Gehlen zeichnete sich erneut eine günstige Konstellation
ab, denn von diesem Kommandeur war keine Neigung zum Feldherrentum zu

115
erwarten, eher die kluge Entscheidung, die Führung der Division im Wesent­
lichen seinem tüchtigen und ehrgeizigen Ersten Generalstabsoffizier Gehlen
zu überlassen.
So bereitete sich Gehlen im Frühsommer 1939 – neben der Führung sei­
ner Batterie – systematisch auf seine Kriegsverwendung vor. Mitte Mai oblag
es ihm, ihn Vertretung des Abteilungschefs eine Besichtigung der 9. Batte­
rie zu organisieren und dafür die nötigen Vorbereitungen und Planungsun­
terlagen zu erstellen.161 Anfang Juni musste er im Rahmen einer Übung des
übergeordneten VIII. Armeekorps auf dem Truppenübungsplatz Neuhammer,
bei dem die Zusammenarbeit auf Divisionsebene durchgespielt wurde, eine
tragende Rolle übernehmen. Unter der Leitung des Chefs des Generalstabs
des VIII. Armeekorps, Generalmajor Erich Marcks, sollte ein Begegnungsge­
fecht von Mansteins 18. Division zusammen mit Gehlens Regiment gegen eine
fiktive 8. Division stabsmäßig geprobt werden.162 Den Übungs-Divisionsstab
führte Courbière, sein Ia war Gehlen. In gewisser Weise kämpfte also Gehlen
gegen Manstein. Das ist sicher ein spannendes Duell gewesen, bei dem Gehlen
allerdings nur zu beweisen hatte, dass er die Entschlussfassung und Befehlsge­
bung auf Divisionsebene beherrschte. Kühne taktisch-operative Bewegungen
erwartete man von einer Reservedivision ohnehin nicht. In seinen Erinnerun­
gen verlor Gehlen darüber kein Wort.
Im Sommer 1939 organisierte sein Abteilungskommandeur Graf von Ori­
ola als »Abschied von der Friedenszeit« mit allen seinen Offizieren eine Auto­
fahrt über Prag und Wien nach Salzburg, um dort Major Noeldechen zu besu­
chen, bis vor Kurzem Kommandeur der II. Abteilung des Regiments, nun als
Oberst Adjutant des Kommandierenden Generals des XVIII. Armeekorps. »Es
herrschte eine wunderbare Stimmung«, erinnerte sich ein Beteiligter, »der
Graf war schließlich so ausgelassen, daß er auf dem Rückweg ins Hotel voll
Übermut die Mützen vom Kopfe seiner Kameraden fröhlich in die Salzach
fegte und um ein Haar selbst ins Wasser gefallen wäre«.163
Gehlen meldete sich anschließend in der Berliner Bendlerstraße beim
Oberquartiermeister II, Generalmajor Sixt von Arnim, der im Generalstab des
Heeres für die Ausbildung zuständig war. Im Vorzimmer traf er dessen Adju­
tanten, Hauptmann Hans-Heinrich Worgitzky. Es war eine Begegnung mit
weitreichenden Folgen, denn Worgitzky wurde später einer seiner führenden

161 BA-MA, RH 41/1189.


162 Gehlen an General Courbière, 2.6.1939, mit Übersendung der endgültigen Lage und
dem überarbeiteten Divisionsbefehl, BA-MA, RH 41/1189. Bei einem Begegnungsgefecht
stoßen zwei feindliche Divisionen aus ihrer Bewegung aufeinander und nehmen den
Kampf auf.
163 Engelmann, Lohn der Tapferkeit, S. 33.

116
Mitarbeiter beim BND. Dieser erinnerte sich an einen schlanken, jugendlich
wirkenden Offizier, mit dem er 1939 ein kurzes Gespräch im Vorzimmer des
Generals hatte. Ihm fielen die jugendliche Frische, die bescheidene, höfliche
Art und die auffallend blauen Augen des Majors auf, von dem er schon einige
Jahre zuvor gehört hatte, als Gehlens Schwiegervater Seydlitz-Kurzbach von
ihm geschwärmt hatte.164
Wahrscheinlich hat er im Zuge seiner Einweisungen auch mit Oberst Her­
mann Foertsch gesprochen. Nach seiner Zeit im Reichswehrministerium war
dieser ab 1936 – also nach Gehlens Weggang – Taktiklehrer und Hörsaal-Leiter
an der Kriegsakademie gewesen und fungierte 1939 als Chef des Generalstabs
des Wehrkreiskommandos VIII in Breslau. Er brachte es im Zweiten Weltkrieg
bis zum General der Infanterie und war zuletzt Armeeführer. Gehlen setzte ihn
1946 auf eine Liste der Org mit Namen von Offizieren, die für eine Mitarbeit
infrage kamen. Foertsch spielte dann eine wichtige Rolle bei der Remilitarisie­
rungspolitik des BND.

5. Erste Erfahrungen im Krieg (1939/40)

Mit dem Beginn der Mobilmachung für den Angriff auf Polen verließ Reinhard
Gehlen seine Batterie in Liegnitz und fand sich aufgrund des erhaltenen Stich­
worts in Glogau ein, um ab dem 26. August 1939 als Erster Generalstabsoffizier
die 213. Infanterie-Division entsprechend dem Mobilisierungskalender aufzu­
stellen. Nun konnte er in größerem Rahmen sein systematisch-organisatori­
sches Talent entfalten. Dazu gehörte es zunächst, den Divisionsstab arbeits­
fähig zu machen, das heißt, die anrückenden Berufs- und Reserveoffiziere
einzuweisen. Ein großer Teil der Mannschaften und Unteroffiziere hatte im
Ersten Weltkrieg gedient, seitdem aber nicht mehr geübt. Das Durchschnitts­
alter in der Division lag bei 45 Jahren. Ein Regimentskommandeur war sogar
schon 67 Jahre alt. Innerhalb weniger Tage musste das Nötigste in der Aus­
bildung nachgeholt werden. Was jetzt im letzten Moment übersehen wurde,
konnte beim ersten Einsatz fatale Folgen haben.
Die Division verfügte zum Beispiel über keinen Feuerwerker, der ausrei­
chend Erfahrung im Umgang mit Waffen und Munition hatte. Mithilfe des
Breslauer Generalkommandos gelang es Gehlen, vom Truppenübungsplatz
Neuhammer einen Spezialisten für die Division heranzuholen. Das zahlte
sich aus. Gehlen telefonierte mit dem unterstellten Artillerie-Regiment 213
in Görlitz und fragte nach, ob bei allen Geschützen die Rohrwiege mit einer

164 Erinnerungen von Worgitzky, BND-Archiv, N 23/1.

117
Plombe versehen war, die anzeigte, dass Bremsflüssigkeit aufgefüllt war und
die Geschütze damit einsatzbereit waren. Trotz der Bestätigung, dass dem
so sei, schickte er vorsichtshalber den Feuerwerker zu einer Batterie, ließ die
Plomben öffnen und überraschenderweise befand sich kein Tropfen Brems­
flüssigkeit im Geschütz. In der Folge stellte sich heraus, dass sie bei sämtlichen
Geschützen fehlte. Ohne diese Prüfung wäre beim ersten Gefecht das gesamte
Artillerieregiment ausgefallen.
Der Angriff gegen Polen begann am 1. September 1939 mit der Masse der
Wehrmacht, an ihrer Spitze die motorisierten Divisionen. Was Hitler als eine
Art von Polizeiaktion deklarierte, entwickelte sich nach einem britisch-fran­
zösischen Ultimatum und der folgenden Kriegserklärung zwei Tage später zu
einem neuen europäischen Krieg. Da mit einer französischen Offensive zur
Entlastung Polens gerechnet werden musste, sollte die Wehrmacht den Feind
im Osten blitzartig niederwerfen. Der einige Tage zuvor mit Stalin abgeschlos­
sene Pakt zur Aufteilung Polens sicherte die Möglichkeit, die Masse der deut­
schen Truppen nach einem militärischen Erfolg nach Westen zu verlegen.
Gehlens Division war der 10. Armee als Reserve unterstellt und kam des­
halb nicht gleich am ersten Kriegstag zum Einsatz. Sie verlegte mit Beginn der
Kampfhandlungen in den Raum Breslau und überschritt erst am 3. September
die polnische Grenze bei Groß Wartenberg. Sie marschierte am linken Flügel
der schnell vorwärtsstoßenden Armee hinterher, erreichte am 10. September
Kalisch und marschierte weiter ohne Kampfhandlungen in Richtung Lodsch
(Lodz). Als das Artillerieregiment der Division durch Poddębiece zog, wurde
es in der Ortschaft von »Heckenschützen« beschossen. So kam es zu ersten
Hinrichtungen von polnischen Zivilisten, die als Täter beschuldigt wurden.165
Da keine Akten der Division von dem vierwöchigen Einsatz überliefert
sind, ergeben sich für die »Frontbewährung« von Gehlen im Polenfeldzug nur
wenige Hinweise. In seinem Nachlass befindet sich lediglich ein Sonderdruck
der Deutschen Allgemeinen Zeitung166 und ein Album mit offenbar persönlichen
Fotoaufnahmen, teils in Farbe. Die Bilder zeigen einen fast manöverartigen
Krieg, »polnische Typen« (so von Gehlen beschriftet, offensichtlich Juden),
Trümmer und Kriegsschrott wie in den meisten Fotoalben von Landsern.
Im Falle Gehlens ist häufig der Fahrer seines Dienstwagens zu sehen. Als das
größte Ereignis galt der Einsatz der Division bei der Kapitulation der Festung
Modlin. Das Artillerieregiment hatte Gehlen zeitweilig abgeben müssen, weil
es zunächst während der Schlacht an der Bzura eine andere Division unter­

165 www.lexikon-der-wehrmacht.de/.../Infanteriedivisionen/213ID-R...Artillerie-Regiment
213, Zugriff 22.5.2017.
166 BA-MA, MSgl/1430.

118
stützen und dann später an der Belagerung der Festung Warschau teilnehmen
musste. Die drei Infanterieregimenter mit der Masse der 213. Division wurden
dagegen nicht in größere Kampfhandlungen verwickelt. So bleibt nur die Aus­
sage Gehlens aus dem MGFA-Interview von 1976: »Das war ein ganz lustiger
Krieg, es war kein Russlandfeldzug.«167 Bei anderer Gelegenheit sprach er von
einem »gemütlichen« Krieg. Die Division habe nicht allzu viel kämpfen müs­
sen, habe sich aber bewährt, »weil viele alte erfahrene Soldaten dabei waren.
Nur einer schien unerfahren im Umgang mit dem Gewehr. Er hat sich gleich
am ersten Tag durch die Hand geschossen.«168
Gehlen hat diese günstigen Umstände nutzen können, um praktische Erfah­
rungen in der Führungstechnik zu sammeln. Aber es fehlte an Gelegenheiten,
sich im größeren operativen Rahmen zu bewähren. Da er möglichst rasch in
die Operationsabteilung wechseln wollte, konnte er andere Kameraden nur
beneiden, die vorn an der Front mit ihren Verbänden im Brennpunkt der
Schlacht standen. Für seine weitere Karriere kam es aber allein darauf an, die
vorgeschriebene Frontbewährung fehlerfrei zu absolvieren. So gesehen war
die Verwendung bei der Reservedivision mit ihrem gemütlichen Kommandeur
nicht die schlechteste Lösung. Auf seine Art funktionierte das Gespann Cour­
bière-Gehlen.
Ganz anders sah es zwei Ebenen höher aus. Die für den Kriegsfall formierte
10. Armee bildete die größte Angriffsgruppierung gegen Polen. Mit der Masse
ihrer gepanzerten und motorisierten Kräfte sollte sie mitten durch den Feind
300 Kilometer weit direkt bis nach Warschau vorstoßen. Den Oberbefehl
bekam General der Artillerie Walther von Reichenau, ein glühender Hitler-Ver­
ehrer und früher Nationalsozialist. Militärisches Talent paarte sich bei ihm mit
einem ausgeprägten Karrierestreben und politischem Fanatismus.169 Er war
entscheidungsfreudig, launisch und spontan. 1941 propagierte er als Oberbe­
fehlshaber der 6. Armee beim Marsch durch die Ukraine den »Weltanschau­
ungskrieg« gegen Juden und Kommunisten. In seinem Verantwortungsbereich
fanden zahllose Massenmorde statt.
Chef des Generalstabs wurde Generalmajor Friedrich Paulus, ein ausge­
sprochener Generalstäbler wie Gehlen, ein Mann, der sich gewissenhaft und
penibel dem Tagesgeschäft widmete und seinem Oberbefehlshaber die lästige
Stabsarbeit vom Hals hielt, ein Führungsgehilfe, der die hochfliegenden Ideen
und Entwürfe Reichenaus in präzise Befehle fasste. Die Ernsthaftigkeit, Gründ­

167 Gehlen im MGFA-Interview, 10.11.1976, S. 40, BND-Archiv, N 13/2.


168 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 28.1.1972, IfZ, ED 100-68-63.
169 Zur Charakterisierung Reichenaus und seines Stabschefs Paulus siehe ausführlich Tors­
ten Diedrich: Paulus. Das Trauma von Stalingrad. Eine Biographie, Paderborn 2009,
S. 134-135.

119
Gehlens Divisionskommandeur Courbière während des Vormarsches in Polen im Septem­
ber 1939; die Bildunterschrift stammt von Gehlen

lichkeit und das sorgsame Durchdenken von möglichen Entscheidungen sowie


ein stark ausgeprägtes organisatorisches Talent schätzte Reichenau an Paulus,
der zugleich ein großes operatives Können einbrachte. Beide Persönlichkeiten
zogen sich wohl auch menschlich an. Reichenau schätzte die Genauigkeit und
Beherrschtheit ebenso wie die Dienstbeflissenheit seines »Chefs« und entwi­
ckelte ein nahezu väterliches Verhältnis zum jüngeren Paulus. Dieser ließ sich
von der charismatischen Persönlichkeit seines Oberbefehlshabers einnehmen,
bewunderte dessen brutalen Durchsetzungswillen und seine selbstherrliche
Arroganz.
Ein Jahr später trafen Gehlen und Paulus im OKH zusammen, um den Angriff
gegen die UdSSR vorzubereiten, zwei, die man als Verkörperung des »Führungs­
gehilfen« bezeichnen könnte, hervorragende Generalstäbler, die aber als Ober­
befehlshaber schnell überfordert waren, Paulus, der feinsinnige Zögerer in Sta­
lingrad, Gehlen später als Chef der Org und als Präsident des BND.
Mit seiner 213. Infanterie-Division deckte Gehlen im September 1939
zusammen mit anderen die linke Flanke der 10. Armee. Was er selbst erlebte,
waren nur die Nachwirkungen des »Blitzkriegs«. Ende September befand sich
die Division als Besatzungstruppe im Raum Posen und wurde erst später an
die deutsch-französische Grenze verlegt.

120
Gehlen am Divisionsgefechtsstand Niercze in Polen, September 1939

»Mein Mercedes mit Fahrer Uffz. Gottlieb«; aufgenommen wahrscheinlich in Polen 1939,
originale Bildunterschrift von Gehlen

121
Am 2. Oktober 1939 erhielt Gehlen das Eiserne Kreuz II. Klasse, der ein­
fachste Ausdruck einer Frontbewährung von vier Wochen und letztlich eine
Art von Routine, die für den jungen Major ein erwünschtes schmückendes
Beiwerk zur Uniform war. Am 6. Oktober wechselte er wieder zurück in den
Generalstab auf seinen Posten vom Vorjahr, das heißt in die Abteilung Lan­
desbefestigung. An diesem Tag fand in Berlin eine Reichstagssitzung statt, bei
der Hitler eine sogenannte Friedensrede hielt. Frankreich und Großbritannien
freilich zeigten sich entschlossen, dem Diktator auch weiterhin die Stirn zu
bieten. Dass Gehlen das persönlich bedauert hat, ist kaum anzunehmen. So
wie der Krieg jetzt erst richtig losgehen sollte, verhielt es sich auch mit seiner
Karriere im Generalstab. Hitler hatte sich entschlossen, möglichst rasch eine
Entscheidung auf den alten Schlachtfeldern in Nordfrankreich zu erzwingen,
um sich dann wieder nach Osten wenden zu können. Seine Bereitschaft, alles
auf eine Karte zu setzen und den »großen Schlag« am liebsten schon Ende
Oktober 1939 zu führen, löste im Oberkommando des Heeres blankes Entset­
zen aus. Die Heeresführung verfügte – anders als 1914 – über keinen Opera­
tionsplan für einen Angriff im Westen, zweifelte daran, dass es möglich sein
werde, die Maginot-Linie zu durchbrechen, und warnte vor den politischen
Folgen eines Durchmarsches durch die Niederlande und Belgien. Dennoch
lagen am 9. Oktober, drei Tage nach dem Dienstbeginn Gehlens im Gene­
ralstab, bereits Richtlinien Hitlers über die Führung des Krieges im Westen
vor.170 Der für den 7. November angesetzte Angriffsbeginn wurde angesichts
der massiven Bedenken der Heeresführung aber zunächst um einige Tage ver­
schoben.
Unmittelbar vor dem neuen Angriffstermin im Westen legte Halder am
17. November 1939 fest, welche seiner engeren Mitarbeiter mit Beginn der Offen­
sive als Verbindungsoffiziere zu den Armeen entsandt werden sollten. Gehlen
sah er für die 4. Armee vor, die man an der Grenze zu Belgien (Eupen/Mal­
medy) stationiert hatte. Nach der zu diesem Zeitpunkt gültigen 2. Aufmarsch­
anweisung sollte sie das Zentrum eines Angriffskeils bilden, der von Aachen
über Lüttich nach Nordfrankreich hineinstoßen würde.171 Das zeigt, dass Halder
Gehlen eine wichtige Rolle im Angriffsschwerpunkt zutraute, wo dieser einer­
seits selbstständig im Oberkommando einer Armee als Verbindungsoffizier zu
agieren hatte, sich über die dortigen Entscheidungsprozesse und Schwierigkei­
ten auf dem Laufenden halten musste und andererseits nicht nur »Lauscher«
und Interpret für die Anweisungen der Operationsabteilung wäre, sondern

170 Weisung Nr. 6 vom 9.10.1939, abgedr. in: Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939 –
1945, hg. von Walther Hubatsch, Frankfurt a.M. 1962, S. 37-39.
171 Franz Halder: Kriegstagebuch (KTB), Bd. I, bearb. von Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart
1962, S. 129 (17.11.1939).

122
Reinhard Gehlen (links) und die Offiziere des Divisionsstabes in Polen, in der Mitte
Kommandeur General Courbière, 1939

auch im übergeordneten Sinne der Führung mitzudenken, zu berichten, Vor­


schläge zu machen hätte. Um insbesondere Guderian an die Leine zu legen,
empfahl es sich, dass Halder jemanden schickte, der mit diesem vertraut war
und vor allem fleißig beobachtete. Dafür schien Gehlen der Richtige zu sein.
Der Ernstfall trat zunächst aber nicht ein, weil es der Heeresführung gelang,
Hitler davon zu überzeugen, dass es besser sei, den Angriffstermin nochmals zu
verschieben. Das geschah insgesamt 29 Mal und war Ausdruck eines wochen­
langen Gezerres um Voraussetzungen und Bedingungen der Westoffensive.
Der Operationsplan des OKH nahm dabei erst allmählich Konturen an. Von
dem zähen Ringen um diesen Plan, bei dem sein ehemaliger Chef Manstein
eine wichtige Rolle spielte und, erst nachdem er Hitlers Unterstützung gefun­
den hatte, seinen Konkurrenten Halder übertrumpfte, dürfte Gehlen einiges
mitbekommen haben. Mehr aber auch nicht, denn die Sache betraf hauptsäch­
lich die Operationsabteilung unter der Führung von Oberst Hans von Greiffen­
berg. Doch Gehlen ist sicherlich in Grundzügen informiert gewesen, um die
vorgesehene Verwendung bei Guderian ausfüllen zu können. Vielleicht hat er
bei dem Hin und Her gelernt, dass der Zugang zur Führungsspitze meist heftig
umkämpft ist und dass es wichtig ist, für einen »großen Plan« einen direkten
Zugang zum »Führer« zu finden.

123
Der vielversprechende operative Einsatz im Westen ließ also zunächst
auf sich warten. So stand die tägliche Routine in der neuen Verwendung im
Vordergrund von Gehlens Tätigkeit. Nach der Rückkehr von seinem Einsatz
in Polen hatte er den Generalstab des Heeres wieder einmal in einer Umglie­
derung vorgefunden. Es ist auffällig, dass – beginnend 1935 – die militärische
Führungsstruktur wiederholt verändert worden ist. Halder hatte 1938 als Chef
des Generalstabs vier Bereiche (Oberquartiermeister I bis IV) übernommen,
die ihm persönlich zuarbeiteten. Zum OQu I gehörte neben der 1. Abteilung
(Operationen) auch eine 10. Abteilung (Landesbefestigung). Diese wurde im
Sommer 1939 aufgelöst und zu einer Gruppe herabgestuft. Dafür wurde der
Inspekteur der Festungen, Generalleutnant Alfred Jacob,172 der bisher zum
nachgeordneten Allgemeinen Heeresamt (AHA) gehört hatte, mit Wirkung
vom 1. Oktober 1939 als »General der Pioniere und Festungen beim Oberbe­
fehlshaber des Heeres« direkt in die Erste Staffel des Generalstabs geholt. Die
neue Unterstellung galt allerdings nur für den General selbst. Seine personell
umfangreiche Inspektion verblieb als Arbeitsstab beim AHA. Halder zog den
Spezialisten unmittelbar in seine Nähe, weil der Kampf um Festungen, hier der
Maginot-Linie, nun Teil des operativen Geschäfts war. Der ganze Bereich der
Ausbildung und Ausrüstung für eigene Festungen verblieb dagegen im Heimat­
kriegsgebiet und damit im Befehlsbereich des Befehlshabers des Ersatzheeres.
Jacob wurden für seine Führungsaufgaben innerhalb des Generalstabs ins­
gesamt sieben Offiziere als Gehilfen zugebilligt. Neben der Gruppe I (Pionier­
technische Fragen) gab es eine Gruppe II (Fragen der Landesbefestigung),
deren Leitung Gehlen innerhalb des OQu I übernahm. Diesem standen fachlich
zwei weitere Offiziere zur Verfügung. Das war zweifellos kein großer Verant­
wortungsbereich, formal aber immerhin eine Aufwertung zum Gruppenleiter.
Für Gehlen waren solch komplizierte Unterstellungsverhältnisse, die teilweise
durch die Form einer Personalunion verschiedene Positionen wieder wirksam
verbanden, nichts Ungewöhnliches.
Der junge Stabsoffizier hatte im militärischen Apparat gelernt, dass auch
persönliches Prestige Gewicht hatte. So konnte man den Festungsspezialisten
und Zwei-Sterne-General nicht einfach dem Generalstabschef unterstellen und
damit auf eine Ebene mit den Stabsoffizieren im Rang eines Majors oder Obers­
ten. Deshalb kam nur die förmliche Unterstellung beim Oberbefehlshaber des
Heeres in Betracht, was im Alltag aber keinen großen Unterschied machte. Denn
der Spezialist ließ sich nicht ohne Weiteres aus seinem angestammten Bereich

172 Alfred Jacob war im Geburtsjahr Gehlens (1902) in die Königlich Bayerische Armee
eingetreten, gehörte also der Väter-Generation an. Gehlen könnte ihm früh begegnet
sein, vielleicht während seines Lehrgangs an der Infanterieschule München. Zu der Zeit
gehörte Jacob zum Stab des 7. Pionier-Bataillons in München.

124
Reinhard Gehlen, 1939

des Allgemeinen Heeresamtes herausnehmen. Das AHA unterstand dem knor­


rigen Friedrich Fromm, als Befehlshaber des Ersatzheeres immerhin der zweit­
mächtigste Mann in der Heeresführung und mit Halder auf einer Ebene.
Fachlich gesehen handelte es sich bei Gehlens neuer Aufgabe keineswegs
um eine Nebentätigkeit. Halder wollte seinen jungen Führungsgehilfen im Stab
des Generalleutnants Alfred Jacob installieren, um diesen besser in den Bereich
des OQu I zu integrieren. Das erforderte Fingerspitzengefühl und Zurückhal­
tung im Umgang mit dem 20 Jahre älteren und hoch angesehenen Pionierge­
neral. Der Generalstabschef blickte zudem nicht nur auf die Maginot-Linie im
Westen, sondern mit gewisser Besorgnis ebenfalls nach Osten. Jacob war im
April 1936 auch zum Inspekteur der Ostbefestigungen ernannt worden. Diese
ausgedehnten Festungsanlagen an der alten Reichsgrenze hatte zwar der
Polenfeldzug im September 1939 überflüssig gemacht. Nun kam es aber dar­
auf an, die neue Demarkationslinie zur UdSSR an der Weichsel so zu befesti­
gen, dass sie im Falle eines zwar nicht wahrscheinlichen, aber doch immerhin
denkbaren Angriffs durch die Rote Armee so lange gehalten werden konnte,
bis Verstärkungen von der Westfront eintreffen würden. Sollte es Stalin tat­
sächlich wagen, seinem neuen Allianzpartner Hitler in den Rücken zu fal­
len, standen nur zehn schwache deutsche Landwehrdivisionen für eine erste
Abwehrfront zur Verfügung. An den entsprechenden Richtlinien haben Gehlen
und die 10. Abteilung sicherlich mitgearbeitet. Auch die Einschätzung der Lage
für einen eventuellen Konflikt mit Russland war dort bekannt.173

173 In der Mappe Landesbefestigung – Allgemeines, Chefsachen der 10. Abt., GenStdH,
Bd. 1939 – 40, BA-MA, RH 2/390 befanden sich: Richtlinien für die Sicherung des Gebietes
Oberost (Kopie), 20.10.1939; auszugsweise Abschrift Chef Generalstab Oberost, Siche­
rung im Osten gegen Rußland bei Fortdauer des Krieges im Westen, 11.1.1940, sowie Aus­
zug aus O. Qu. IV, Fremde Heere Ost, Studie Sowjetunion–Deutschland, Dezember 1939.

125
Hinzu kam Halders Sorge um mögliche Risiken eines Angriffs im Wes­
ten, der sich nach ersten Erfolgen wie 1914 festlaufen könnte. Dann würde
es notwendig sein, den Geländefortschritt zu befestigen und Stellungslinien
auszubauen, den Westwall gleichsam ins Feindesland zu verlängern, um
Gegenangriffe des Gegners auffangen zu können. Gehlen hatte in den folgen­
den Monaten also zwischen Ost- und Westgrenze zu pendeln. Priorität hatte
natürlich der Westen, weil dort der Feind stand, der nach Hitlers Willen so
schnell wie möglich mit einer Großoffensive geschlagen werden sollte. Der
konkrete Auftrag West am 17. November 1939 an den Oberquartiermeister I,
letztlich an Gehlens Gruppe also, lautete schlicht, festzustellen, wie viele Bau­
truppen, Material und Erkundungsstäbe für rückwärtige Linien zur Verfügung
standen. Zusammen mit General Jacob trug Gehlen am 9. Januar 1940 über
die Lage vor.174 Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C, Wilhelm Ritter von
Leeb, stellte kurz vor dem nächsten Angriffstermin den Antrag, den Ausbau
der Spicherer Höhen im Raum Saarbrücken vorerst zurückstellen zu dürfen.175
In diesem Bereich gegenüber der Maginot-Linie war vom OKH eine defensive
Kampfführung vorgesehen, so wie schon 1914 beim Schlieffenplan, als sich
auch damals die deutsche Offensive nach Belgien hinein richtete, während die
übrige Front zunächst verharren und gegnerische Kräfte binden sollte. Eine
Evakuierung des kriegswichtigen Saargebiets war kaum möglich, das betraf
auch Saarbrücken, das aber vor einem möglichen französischen Gegenangriff
geschützt werden musste.
Die militärischen Planer gingen damals nicht von einem Blitzkrieg im Wes­
ten aus, sondern stellten die Möglichkeit in Rechnung, dass der Vormarsch
in Nordfrankreich – wie 1914 – ins Stocken geraten und dann wieder in einen
Stellungskrieg münden könnte. Fahrzeuge, Baustoffe und Hindernisdraht für
eine Stellungsfront von 350 Kilometern Länge wollte man ab Mai 1940 bereit­
stellen, um den eroberten Raum im Westen notfalls absichern zu können, und
die Rüstungsplanung setzte auf einen Höhepunkt des Verbrauchs an Waffen
und Munition im Frühjahr 1941!176
Für Gehlen dürfte dieser Einsatz im Bereich der »Landesbefestigung« –
zudem im Wechsel zwischen West- und Ostgrenze – lästige Alltagsroutine
gewesen sein, wartete doch auf ihn der Einsatz bei der 4. Armee im vorge­
sehenen Angriffszentrum der Westfront. Dort durfte er mit »großer Opera­
tionskunst« und kriegsentscheidenden Schlachten rechnen. Und er würde
an prominenter Stelle, wenn auch nur als Beobachter, dabei sein. Aber der

174 Halder, KTB I, S. 153 (9.1.1940).


175 Ebd., S. 155 (9.1.1940).
176 Siehe dazu Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/1, Stuttgart 1988, S. 479.

126
Angriffstermin wurde erneut verschoben. Der eiskalte Winter mit seinen
Schneeverwehungen sorgte im Reichsgebiet für einen partiellen Ausfall der
Reichsbahn. Die dadurch bedingte Drosselung der Rüstungsbetriebe ver­
schärfte den Streit der Wehrmachtteile um die Steuerung der Kriegswirtschaft,
was Hitler veranlasste, seinen Vertrauten Fritz Todt zum Reichsminister für
Bewaffnung und Munition zu ernennen. Es war der erste Schritt zur Entmach­
tung des Heeres im Rüstungsbereich. Zur gleichen Zeit verschärften sich die
Spannungen zwischen Hitler und der Heeresführung wegen der Untaten von
SS und Polizei im besetzten Polen. Der Chef des Generalstabs hatte schwierige
Tage vor sich.
Statt bei der Ausarbeitung großer operativer Bewegungen mitwirken
zu können, wurden von Gehlen rasche Einarbeitung, Organisationstalent,
Bestandsaufnahmen, das Sammeln von Informationen und spezielle Lagebe­
urteilungen gefordert. Das bedeutete fleißige Stabsarbeit, die im Bereich Lan­
desbefestigung etwas definitiv Statisches betraf, aber eine Voraussetzung auch
für Angriffsoperationen gewesen ist.177
Ende Januar 1940 saßen seine Kameraden in der Operationsabteilung an
der aus Gehlens Sicht viel interessanteren Aufgabe, neue Befehlsentwürfe
für die Westoffensive zu entwickeln, während Gehlen von Halder empfangen
wurde, um über »Ost-Landesbefestigung« vorzutragen.178 Er traf auf einen viel
beschäftigten Vorgesetzten, der dem Oberbefehlshaber des Heeres eine Fülle
von Vorlagen zu übergeben hatte. Schon deshalb dürfte Gehlens Beitrag nur
kurz gewesen sein. Halder beschäftigte sogar die Möglichkeit, dass die West­
offensive in eine Schlacht mit chemischen Kampfstoffen münden könnte.
Es ist denkbar, dass Halder Gehlen am 7. Februar zum Kriegsspiel der Hee­
resgruppe A nach Koblenz mitgenommen hat. Gehlen war immerhin sein desi­
gnierter Verbindungsoffizier zu Guderian in der kommenden Panzerschlacht
an der Maas. Da musste es sinnvoll sein, dem jungen Major die Chance zu
geben, sich bereits als stiller Beobachter beim Kriegsspiel mit den wichtigs­
ten Überlegungen und möglichen Maßnahmen vertraut zu machen. Dass es
zwischen den beiden Herren im Einzelnen erhebliche Unterschiede in den
Auffassungen gab, die nicht zuletzt daraus resultierten, dass Guderian seinem
Image als risikofreudiger Draufgänger entsprach, dürfte Gehlen nicht verbor­
gen geblieben sein.
Halder, und in seinem Gefolge vielleicht auch Gehlen, besuchte auch die
anderen Abschnitte der Westfront, um die bisherigen Angriffsplanungen zu

177 Gruppe Landesbefestigung an OpAbt, betr. Nachgang zur Studie Holland Luftbilder und
Karten zu Befestigungsanlagen, 22.1.1940, Unterschrift Gehlens, BA-MA, RH 2/390.
178 Halder, KTB I, S. 175 (29.1.1940).

127
überprüfen und nach Möglichkeit gemeinsame Anschauungen zu entwickeln,
damit im Ernstfall die Führung durch die Zentrale gewährleistet sein würde.
Unter dem 13. Februar notierte Halder lapidar beim Stichwort Gehlen: »Ein­
zelheiten über Ausbau Osten – Reiseplan West – Fragen des Sperrmaterials.«179
Das zeigt, dass der Major sein Aufgabenfeld beherrschte und Halder ihn als
Begleiter zum Kriegsspiel des Armeeoberkommandos 12 in Mayen ausgewählt
hat. Die Differenzen zwischen Halder und Guderian waren nicht geringer
geworden. Der Chef des Generalstabs notierte über einen seiner wichtigsten
Heerführer, dass dieser den Panzereinsatz, wie er vom OKH favorisiert wurde,
für falsch hielt. »Vertrauenskrise«, schrieb Halder.180 Noch war Gehlen weit
davon entfernt, in diesem Kreis der obersten Führung mitreden zu können.
Dass ihm demnächst als Verbindungsoffizier zu Guderian aufregende, aber
sicher auch schwierige Zeiten bevorstanden, schien klar zu sein.
Was ihn aktuell belastete, war der Zankapfel Saarbrücken. In den Stellungs­
bau an dieser strategisch wichtigen Position schaltete sich Hitler Ende Februar
1940 erneut ein und äußerte entsprechende Wünsche. Das veranlasste Halder,
Gehlen und den zuständigen General der Pioniere Jacob zu beauftragen, mit
dem Chef OKW Keitel Rücksprache zu nehmen, um sicherzustellen, was der
»Führer« tatsächlich erwartete, um dann Unterlagen für eine Besprechung
zwischen dem Oberbefehlshaber des Heeres und Hitler vorzubereiten.181 Die
fachliche Kompetenz lag in dieser Frage eindeutig bei General Jacob, dem
Gehlen als Gruppenleiter pro forma ebenfalls unterstellt war, umso mehr ein
Grund, auch bei diesem potenziell politisch heiklen Auftrag äußerst zurück­
haltend zu agieren. Gemeinsam zum Vortrag bei Halder bestellt, musste Geh­
len den höherrangigen Spezialisten, die Jacob begleiteten, natürlich den Vor­
tritt lassen. Es zeigte sich, dass in der Nähe von Saarbrücken zwar schwerste
Artillerie eingebaut werden könnte, aber erst im August eine erste Stellung
fertiggestellt sein würde.182 Dazu kam die Anweisung Hitlers, eine zusätzliche
Stellung von 350 Kilometer Länge in Luxemburg und Südbelgien zu bauen,
wofür allein 36 Baubataillone bereitgestellt werden sollten.183
Die »große Lage« verwies auf Probleme gänzlich anderer Dimensionen.
Hinweise auf ein Eingreifen der Westmächte in Norwegen gaben Veranlas­

179 Ebd., S. 193 (13.2.1940).


180 Ebd., S. 194 (13.2.1940).
181 Ebd., S. 207 (24.2.1940).
182 Ebd., S. 211 (26.2.1940).
183 Gruppe Landesbefestigung, Vortragsnotiz für den Oberbefehlshaber des Heeres (ObdH)
über die für den Ausbau einer rückwärtigen Stellung getroffenen Vorbereitungen,
2.2.1940 und Aufstellung Gehlens über die Verteilung der Bautruppen nach dem Stand
vom 2.2.1940, BA-MA, RH 2/390.

128
sung, mit dem Unternehmen »Weserübung« zur Einnahme von Dänemark
und Norwegen eine luftunterstützte Landungsoperation vorzubereiten, wie
es sie auf deutscher Seite noch nie gegeben hatte und mit der 20 Prozent der
deutschen Reserven für den Westfeldzug gebunden sein würden. Meldungen
über einen möglichen alliierten Angriff gegen Baku und feindliche Aktivitäten
auf dem Balkan zwangen zu anderen weiträumigen Überlegungen, während
der Winterfeldzug der verbündeten UdSSR gegen das deutschfreundliche und
strategisch wichtige Finnland dem Höhepunkt zustrebte. Für Letzteres dürfte
Gehlen in Erinnerung an seinen Besuch in Finnland 1937 einiges Interesse
gezeigt haben.
Und über allem schwebte im OKH der Streit um den Operationsplan gegen
Frankreich, bei dem sich Gehlens ehemaliger Vorgesetzter Manstein nur mit­
hilfe des »Führers« durchsetzen konnte, gegen die Zweifel Halders wegen der
erheblichen Risiken des Ansatzes eines Hauptstoßes ausgerechnet durch die
bewaldeten Ardennen. Dass Halder Manstein als Generalstabschef der Heeres­
gruppe A ablösen ließ und ihm ein belangloses Kommando über ein neu auf­
zustellendes Armeekorps übertrug, stieß in der militärischen Führungsspitze
nicht überall auf Verständnis, bei Mansteins Bewunderer Gehlen vermutlich
auch nicht. Das hat aber dessen Loyalität und Diensteifer gegenüber seinem
aktuellen Chef Halder offenbar nicht beeinträchtigt.
Man darf sich die Arbeit des Majors i. G. Gehlen als Gruppenleiter mit
zwei Gehilfen nicht so vorstellen, dass hier in zwei Arbeitsräumen des OKH
ein großartiges Planungsbüro zu leiten gewesen wäre. Es dürfte sich konkret
darum gehandelt haben, die entsprechenden Lagekarten zu führen und zu
aktualisieren und dafür die notwendigen Informationen einerseits von den
örtlich zuständigen Kommandobehörden und verantwortlichen Arbeitsstä­
ben einzuholen und sich andererseits mit anderen fachlich zuständigen mili­
tärischen Stäben abzustimmen. Da kamen also vor allem der Arbeitsstab des
Generals der Pioniere im Allgemeinen Heeresamt und die Organisationsab­
teilung in Betracht, die unter anderem für die Aufstellung von Baubataillonen
zuständig war. Neben anderen war auch die »Organisation Todt« zu beteiligen,
die zusammen mit eigenen Einheiten und den Verbänden des Reichsarbeits­
dienstes an der Westfront tätig war.
Ende März 1940 schickte Halder Gehlen nach Südluxemburg zur 16. Armee,
um sich einen Eindruck von der Hauptkampflinie zu verschaffen. Die Vorberei­
tungen für die Offensive erreichten in diesen Tagen einen neuen Höhepunkt.
Immer wieder war Gehlen Ansprechpartner, wenn es um zusätzliche Bauma­
terialien ging, mit denen sich die Truppe ausstatten wollte, um einen größeren
Geländegewinn notfalls rasch durch neue Befestigungsanlagen sichern zu kön­
nen. Während die Kameraden von der Operationsabteilung aufregende Stun­
den erlebten, als am 8. April 1940 die ersten Transportstaffeln für den Überfall

129
auf Norwegen in See gingen, hatten Gehlen und sein Fachvorgesetzter Jacob zu
notieren, dass Panzertürme, die eigentlich für Ostpreußen vorgesehen waren,
nun für den Westen bereitgehalten werden sollten und 15.000 Kilometer Kupfer­
kabel aus der Pommern- und Oder-Stellung zum Ausbau freigegeben wurden.184
Je näher der Angriffsbeginn im Westen rückte, desto nervöser wurde man
im Hauptquartier des Generalstabs, auch wenn nach außen hin selbstver­
ständlich nüchterne Routine und Geschäftigkeit herrschten. Noch im Novem­
ber 1939 hatte bei Halder und in seiner Umgebung höchste Erregung über
Hitlers Drängen auf einen sofortigen Antritt im Westen geherrscht. Sogar ein
möglicher Staatsstreich hatte in der Luft gelegen.185 Doch Halder hatte sich
nicht zu diesem letzten Schritt entschließen können. Der Militäropposition
erteilte er schließlich eine Absage, begründet mit der Sorge um die innere Sta­
bilität des Reiches unter den Bedingungen des Krieges. Seit Dezember hatte
sich Halder dann schrittweise auf die Grundgedanken Mansteins eingelas­
sen, im Februar und März den operativen Ansatz gebilligt und sah nun dem
Angriffsbeginn mit einiger Zuversicht entgegen. Aus dem für Hitler verdäch­
tigen »Geist von Zossen« war ein williges Entgegenarbeiten seitens des OKH
geworden.
Gehlen hat seine Tätigkeit in der Festungsabteilung bis zum Frühjahr 1940
sicher nur als eine Art Sprungbrett betrachtet, gespannt darauf, bei Angriffs­
beginn als Verbindungsoffizier zu Guderian zu gehen. Ob er in diesen Wochen
jemals dienstfrei hatte, um die Familie im heimatlichen Liegnitz zu besuchen,
ist nicht bekannt. Angesichts der häufig erst kurzfristigen Verschiebung des
Angriffsbeginns ist vermutlich auch von ihm ständige Einsatzbereitschaft
gefordert worden. In der abgeschotteten Welt des Bunkerkomplexes süd­
lich von Berlin gab es nur wenige, durchaus willkommene Abwechslungen
im Dienstalltag. An »Führers Geburtstag« am 20. April 1940 etwa traten die
Angehörigen des Oberkommandos des Heeres, bei den Offizieren kaum mehr
als 100 Mann, zusammen mit den Soldaten des Fernmelderegiments und des
Stabs zum Appell an. Am Abend begab man sich auf eine Theaterfahrt nach
Berlin, die Halder in seinem Tagebuch allerdings als »missglückt« bezeichnete,
weil sie offenbar in allgemeiner Trunkenheit endete.186
Ende April sollte Gehlen auch noch die Sperr-Organisation im Bereich des
stellvertretenden Generalkommandos des XVIII. Armeekorps überprüfen,187 da
das OKH erwartete, bei einem Kriegseintritt Italiens am Oberrhein eine italie­

184 Halder, KTB I, S. 250 (8.4.1940.


185 Siehe insgesamt Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und
das NS-Regime 1933-1945, hg. von Thomas Vogel, Bonn 2000.
186 Halder, KTB I, S. 265 (20.4.1940).
187 Ebd., S. 267 (22.4.1940).

130
nische Armee gegen Frankreich einsetzen zu können (Unternehmen »Braun«).
Die entsprechenden Transporte würden dann über den Brenner laufen müs­
sen, also durch den Wehrkreis XVIII (Salzburg). 40 Abteilungen des RAD, also
fast 40.000 junge Männer, sollten bereitgestellt werden, um die Operation
»Braun« logistisch vorzubereiten und die Italiener im Falle eines Einsatzes
insbesondere beim Stellungsbau zu unterstützen.188 Wieder ein Auftrag, der
nur für den Eventualfall gedacht war und niemals militärische Bedeutung
bekam, weil das faschistische Italien erst nach dem militärischen deutschen
Sieg gegen Frankreich in den Krieg eintrat.
Gehlen hatte keine Möglichkeit, den laufenden Abzug von Ressourcen aus
dem Osten, seinem zweiten Aufgabenfeld seit dem Winter 1939/40, zu ver­
hindern, der nun als rückwärtiger Raum für die bevorstehende Westoffensive
galt, wo bei den drei Heeresgruppen insgesamt 102 Baubataillone eingesetzt
waren.189 Nachdem Hitler ursprünglich einen monströsen Ostwall hatte errich­
ten lassen wollen, war dieser in den Planungen seit dem Herbst 1939 auf einen
»Stolperdraht« an der Ostgrenze geschrumpft. Dieser sollte lediglich dazu
dienen, Zeit zu gewinnen für den Aufmarsch der Verteidigungskräfte an einer
Sicherungslinie entlang den Flüssen Narew, Weichsel und San. Aber auch dort
würde keine dauerhafte, starre Abwehrfront gebildet werden, sondern mit
Zuführung von Verstärkungskräften aus dem Westen hätten sie nach Möglich­
keit aus dem Begegnungsgefecht unmittelbar zum Gegenangriff überzugehen.
Dieses operative Denken, schnelle Entscheidungen zu suchen, hatte Gehlen
seit 1936 unter Manstein lernen und bei den Kriegsplanungen 1938/39 hautnah
erleben können, auch wenn seine eigenen praktischen Erfahrungen im Polen­
feldzug in dieser Hinsicht blass geblieben waren. Der Festungskrieg galt schon
damals als antiquiert, eine Sache von Betonbunkern, schwerer Artillerie und
Festungstruppen, die sich hauptsächlich aus älteren Reservisten, sogenannten
Landesschützen, zusammensetzten.
Anders als an der Westfront bewegte sich Gehlen an der künftigen Ost­
grenze im besetzten Polen außerdem auf politisch schwierigem Terrain. Geh­
len sollte sich auf Anordnung Halders vom 20. Januar 1940 um die Frage der
Baubataillone im Osten kümmern.190 Damit geriet er nun selbst in die Nähe der
Politik, denn wenn die militärischen Bautruppen hauptsächlich für die Westof­
fensive zur Verfügung stehen sollten, um erobertes Terrain nutzbar machen
bzw. befestigen zu können, woher sollte man dann Arbeitskräfte für den Aus­
bau der Ostgrenze bekommen? Und was sollten sie bauen? Für welches Sze­

188 Ebd., S. 271 (26.4.1940).


189 Anlage zu GenStdH/Gruppe Landesbefestigung Nr. 5/9gKdos, Übersicht über die Ver­
wendung der Bautruppen, 31.10.1939, ebd.
190 Halder, KTB I, S. 165 (20.1.1940).

131
Hauptquartier des OKH im Lager »Maybach« in Zossen, Winter 1939/40

nario? Zwar verbreitete die NS-Propaganda den Eindruck, dass der »Führer«
durch seinen Pakt mit Stalin die Voraussetzungen für eine friedliche Koexis­
tenz mit der UdSSR geschaffen habe, aber es war für jeden politischen Beob­
achter klar, dass diese »unheilige Allianz« nicht von Dauer sein würde. Wenn
aber über kurz oder lang doch mit einer militärischen Auseinandersetzung
gerechnet werden musste, die von der deutschen Armee nach ihren bisherigen
Erfahrungen offensiv zu führen wäre, wie konnte dann »Landesbefestigung«
im besetzten Polen organisiert werden?
Andere Dienststellen hatten dazu bereits eigene Vorstellungen entwickelt.
Drei Tage bevor Halder Gehlen den Auftrag erteilte, hatte unter Federführung
des Allgemeinen Heeresamts in Lodsch (Lodz) eine wichtige Besprechung
aller interessierten zivilen und militärischen Dienststellen über Planungen
der Wehrmacht »im neuen Ostraum« stattgefunden.191 Da man das Problem
dort gleichsam auf der Verwaltungsebene besprach, war der Generalstab des
Heeres wohl nicht hinzugezogen worden. Aber er hatte zumindest die weiteren
militärischen Konsequenzen zu bedenken.
In Lodsch hatten sich die verschiedenen Dienststellen am 17. Januar 1940
vor allem mit der Klärung von Zuständigkeiten und Konsequenzen der Befes­
tigungsmaßnahmen befasst.

191 Bericht über die Sitzung am 16./17.1.1940, abgedr. in: Rolf-Dieter Müller: Hitlers Ost­
krieg und die deutsche Siedlungspolitik, Frankfurt a. M. 1991, S. 125-129.

132
Das routinemäßige Anlegen neuer Übungsplätze zur Ausbildung von
Ersatzeinheiten für die Westfront bot einen ersten Ansatzpunkt, um Bereiche
militärischer Autonomie gegenüber der Zivilverwaltung abzugrenzen und
zugleich die unkoordinierten Umsiedlungsaktionen der SS zu kanalisieren. Mit
der Einrichtung des befohlenen Sicherungsstreifens schuf sich das Heer gleich­
sam einen exterritorialen Korridor an Weichsel und Narew, der quer durch
das Generalgouvernement verlief. Als Hitlers engster militärischer Berater
und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) zog Wilhelm Keitel die
Abstimmung der Maßnahmen an sich.192 Die Wehrmachtteile und Himmlers
SS sollten ihre Vorstellungen präzisieren. Himmlers Dienststelle »Reichskom­
missar für die Festigung deutschen Volkstums« plante, knapp sieben Millio­
nen Polen aus den »eingegliederten Ostgebieten« des Deutschen Reiches, die
bislang zu Polen gehört hatten, ins Generalgouvernement, das »Polen-Reser­
vat«, umzusiedeln. Das Rassenpolitische Amt der NSDAP wiederum fasste
die Vorstellungen der Partei in einem Siedlungsplan zusammen, der in einem
200 Kilometer breiten Streifen diesseits der neuen Reichsgrenze »Wehrbau­
ern« in großer Zahl ansiedeln wollte.
Das Oberkommando des Heeres bzw. das Allgemeine Heeresamt präsentier­
ten eigene Planungen, die sich mit der befohlenen Sicherungszone im Osten
verbanden. Hitler hatte bereits zugestimmt, dass diese Sicherungszone an den
Flüssen wesentlich vergrößert wurde, wollte aber dort keine Volksdeutschen
angesiedelt haben. Himmler sah sich gezwungen, die Deportationen polni­
scher Bevölkerungsteile angesichts der schwierigen Verhältnisse im General­
gouvernement zu drosseln. Außerdem billigte Hitler den Vorschlag, dass ehe­
malige Kriegsteilnehmer bei einer Ansiedlung im Osten Vorrang hätten, was
natürlich erst nach Kriegsende erfolgen konnte und deshalb die gegenwärtige
Ansiedlungspolitik der SS behinderte.
Der Vertreter des OKH bei der Besprechung in Lodsch reklamierte bereits
400.000 reichsdeutsche Familien als Umsiedler für das Heer, um im polnischen
Kerngebiet den großräumigen Übungsplätzen und der Sicherungszone einen
bevölkerungspolitischen Rückhalt zu verschaffen. Es handele sich nicht um
einen Ostwall im Sinne der bisherigen Befestigungsanlagen, sondern um den
Ausbau einer Aufmarschzone. Östlich der Weichsel würden auch weiterhin
aktive Truppen stationiert bleiben, die »in dem unwahrscheinlichen Falle
eines Zusammenstoßes mit russischen Einheiten den Auftrag bekommen,
die Grenzen zu halten«.193 Damit habe man also eine vorgeschobene Vertei­
digungslinie unmittelbar an der Grenze und eine Hauptsicherungslinie an der

192 Zu den Einzelheiten siehe ebd., S. 14.


193 Bericht über die Besprechung am 16./17.1.1939 in Lodsch, in: ebd., S. 129.

133
Linie Narew–Weichsel–San. Westlich davon konnten auf den geplanten Trup­
penübungsplätzen wichtige Garnisonen untergebracht und Versammlungs­
räume für Verstärkungen gebildet werden.
Himmler merkte, dass die Wehrmacht die Siedlungspolitik an sich ziehen
könnte, wie das bereits im Ersten Weltkrieg in den Ostgebieten der Fall gewe­
sen war. Er wollte aber unbedingt, dass der Osten seiner SS gehörte. Deshalb
ließ er eiligst den ersten Entwurf für einen »Generalplan Ost« anfertigen, der
nach Kriegsende die Siedlung im Osten regeln sollte. Um sein Verhältnis zum
Heer zu verbessern, machte er einen Schachzug, der auf die Entkoppelung von
Siedlungsauftrag und militärischer Aufgabenstellung hinauslief. Himmlers
Idee war es, direkt hinter der deutsch-sowjetischen Grenze einen Panzergra­
ben als militärisches Bollwerk zu errichten und dafür 2,5 Millionen jüdische
Zwangsarbeiter einzusetzen. Wenn das Heer die Juden aus der geplanten
Sicherungszone heraushaben wollte und sich der Generalgouverneur dagegen
sträubte, alle polnischen Juden in seinem Bereich unterzubringen, dann ließ
sich mit einem solchen »Judenwall« eine scheinbar sinnvolle Legitimation für
die Deportationen finden und die Versklavung und Vernichtung der jüdischen
Bevölkerung hinter militärischen Notwendigkeiten verbergen. Es war der
Beginn eines Prozesses, der ein Jahr später mit dem Überfall auf die UdSSR die
Wehrmacht zum Komplizen des Holocaust machte.
Während die geplante Vertreibung der polnischen, insbesondere der jüdi­
schen Bevölkerung aus den Gebieten, die für die Anlage von Truppenübungs­
plätzen und zur Aufnahme von Garnisonen vorgesehen waren, als eine Ange­
legenheit von Polizei und Zivilverwaltung betrachtet werden konnte, lagen die
Arbeiten in der Befestigungszone entlang von Narew, Weichsel und San in der
Zuständigkeit des Heeres, das nun – neben der Beschaffung von Material und
Fahrzeugen – vor allem den Einsatz einer großen Zahl von Arbeitskräften für
die umfangreichen Erdarbeiten zu organisieren hatte. Da im Osten kaum Bau­
bataillone der Wehrmacht zur Verfügung standen, musste man zwangsläufig
auf einheimische zivile Arbeiter zurückgreifen. Das warf erhebliche Probleme
bei der Anwerbung, Unterbringung, Betreuung, Aufsicht und Bezahlung auf,
weshalb die Wehrmacht es auch in vielen anderen Fällen vorzog, für ihre Zwe­
cke jüdische Arbeitskräfte zu rekrutieren. Da nach den Anordnungen der deut­
schen Besatzungsverwaltung Juden der Arbeitspflicht unterlagen und deshalb
auch zwangsweise herangezogen werden konnten, vertrat die Wehrmacht
den Standpunkt, dass diese Arbeitskräfte nicht entlohnt werden müssten.
In einem gewissen Umfang konnten mit der Durchführung solcher Projekte
auch private Firmen beauftragt werden. Die Situation war unübersichtlich. Es
gab Anfang 1940 zahlreiche ungeklärte Fragen, die von der Heeresbürokratie
nicht ohne Weiteres beantwortet und schon gar nicht schnell gelöst werden
konnten. Dabei drängte die Zeit, denn der Bau einer Sicherungslinie an der

134
Weichsel als Rückendeckung für einen Angriff gegen Frankreich sollte eigent­
lich abgeschlossen sein, wenn die Westoffensive im Frühjahr beginnen würde,
während unter den damaligen strengen Winterbedingungen mit dem Baube­
ginn wahrscheinlich bis April gewartet werden musste.
Es mangelte außerdem nicht nur an Ressourcen, beide Fronten gleichzei­
tig abzudecken, sondern die militärische Führung ging davon aus, dass ein
denkbarer sowjetischer Angriff erst dann zu erwarten wäre, wenn das deut­
sche Heer mit der Masse an der Westfront gebunden sein würde und bereits
schwere Verluste erlitten hätte.194 Der Bau eines Ostwalls, der Gehlen im Früh­
jahr 1940 beschäftigte, war also im damaligen Zeithorizont ein Projekt für den
kommenden Sommer und Herbst.
Das drängendste Problem war die Lösung der laufenden Konflikte mit der
SS. Um die Spannungen zu verringern, schien Halder bereit zu sein, Offiziere,
die sich über Mordtaten der SS empört hatten, wie Oberstleutnant i. G. Hel­
muth Groscurth von der Abwehr, und sogar den Oberbefehlshaber Ost, Gene­
ral Johannes Blaskowitz, abzulösen.195 Gehlen konnte also beobachten, dass
sein Chef den politischen Fragen nach Möglichkeit auswich, obwohl dieser
redlich bemüht blieb, die Interessen des Heeres gegenüber der Konkurrenz von
Partei und SS zu vertreten.
Am 5. Februar 1940 trafen Heinrich Himmler, Generalstabschef Halder und
der Oberbefehlshaber des Heeres Brauchitsch zu einer umfassenden Ausspra­
che zusammen. Der Reichsführer SS trat relativ moderat auf, schwächte sei­
nerseits einige Streitfälle ab bzw. erläuterte seinen Standpunkt und räumte
ein, dass seine Truppe mit 16.000 Mann im besetzten Polen »volkspolitische
Aufgaben« zu erfüllen habe und dabei wohl auch »Fehler« vorgekommen
seien. Er habe die Absicht, seine »schwere Aufgabe so verständig wie möglich
mit wenig Blutvergießen durchzuführen«, und wolle keinesfalls eine eigen­
ständige Armee aufbauen. Das diente der Beschwichtigung der Anwesenden
und war schlicht gelogen. Aber der wichtigste Punkt dieser Besprechung war
ein anderer und er betraf den Arbeitsbereich von Gehlen. Himmler machte
dort nämlich den schon erwähnten Vorschlag, die Befestigungsarbeiten am
Ostwall zu übernehmen und dafür 2,5 Millionen polnische Juden einzusetzen.
Brauchitsch sagte spontan zu, das Angebot zu prüfen.196
Halder und sein zuständiger Sachbearbeiter Gehlen dürften ebenso wie
Brauchitsch erleichtert darüber gewesen sein, dass Himmler bereit war,
dem Heer die Verantwortung für eine Aufgabe abzunehmen, die ohnehin

194 Siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, Stuttgart 1987, S. 194.
195 Halder, KTB I, S. 176-177.
196 Ebd., S. 184 (5.2.1940).

135
Generalstabschef des Heeres Franz Halder
(links) mit dem Oberbefehlshaber des
Heeres Walther von Brauchitsch während
des Polenfeldzuges, 1939

nur schwer zu lösen war und bei einem Masseneinsatz jüdischer Zwangs­
arbeiter mit »unerfreulichen« Begleiterscheinungen verbunden sein würde.
Denn es konnte in der Heeresführung nach den Erfahrungen mit der SS bei
Durchführung ihrer »volkspolitischen Aufgabe« kein Zweifel daran bestehen,
dass die Schergen Himmlers mit äußerster Brutalität den Bau eines Panzer­
grabens vorantreiben würden. Mit der projektierten Zahl von 2,5 Millionen
war die Gesamtzahl der arbeitsfähigen männlichen Juden im besetzten Polen
erfasst – es war ein Auftakt zum Holocaust, der nicht mehr auf eine Vertrei­
bung der Juden durch Auswanderung, sondern, wie man später sagte, auf eine
»Vernichtung durch Arbeit« zielte. So eifersüchtig die Heeresführung sonst
ihre Zuständigkeiten verteidigte, hier überließ sie der SS gern einen Teil der
»schmutzigen« Arbeit.
Die Heeresführung ließ also den Vorschlag eines »Judenwalls« prüfen. Der
zuständige General der Pioniere beim Oberbefehlshaber Ost äußerte schwer­
wiegende Bedenken. Das Grenzabschnittkommando Mitte hielt das Projekt für
überflüssig und wollte keine »Judenkolonnen« eingesetzt wissen, weil damit
der SS die originäre Aufgabe der militärischen Landesbefestigung in die Hände
fiele.197 Die Heeresführung zog einen stillschweigenden Rückzug vor. Von eige­

197 Stellungnahmen vom 19.2. und 14.4.1940, BA-MA, RH 53-23/56.

136
nen Siedlungsplänen war keine Rede mehr, und Himmler erhielt Gelegenheit,
vor der höheren Generalität über die »volkstumspolitischen Aufgaben« der
SS im Osten zu referieren und auf diese Weise das gegenseitige Verständnis
zu vertiefen.198 Das OKH stimmte dem Projekt des »Judenwalls« schließlich
grundsätzlich zu, was General Blaskowitz aufbrachte.
Wie konkret die Mitarbeit Gehlens bei der Planung und Durchführung der
Befestigungsanlagen gewesen ist, welche Auffassung er im Hintergrund Hai­
ders vertreten haben mag, ist nicht bekannt. Unterlagen dazu sind nicht mehr
vorhanden. Man kann aber wohl davon ausgehen, dass er sich bei diesem heik­
len Teil seines Aufgabenbereichs ganz besonders auf die militärisch-fachlichen
Aspekte konzentriert hat. Er arbeitete – wie gewünscht – vermutlich still und
effizient, zurückhaltend und betont sachlich. Wenn der Oberbefehlshaber
wissen wollte, welche Bedeutung der im Süden Polens vorgesehene Trup­
penübungsplatz für die Ausbildungsvorhaben des Heeres haben würde, weil
sich auch die Luftwaffe an dem Gelände interessiert zeigte, dann notierte sein
Generalstabschef als Auftrag: »Gehlen/Ausb. Abt.«199
Fünf Tage später konnte Halder eine entsprechende Vortragsnotiz an Brau­
chitsch überreichen, wobei Gehlen zugleich über den Stand des Grenzaus­
baus im Osten informierte. Damit stand auch das Stichwort »Tankgraben-
Juden« im Raum, was Brauchitsch zu der Anordnung veranlasste: »Blaskowitz
hören – Gehlen. Antwort an Himmler.«200 Der Oberbefehlshaber des Heeres
hielt es demnach für angebracht, zunächst den empörten Blaskowitz anzu­
hören, anschließend den zuständigen Referenten Gehlen über den Stand der
Bauarbeiten vortragen zu lassen, um dann eine Verständigung mit Himmler zu
suchen. Den Begriff »Judenwall« zu gebrauchen und sich damit in die Sphäre
des Politischen zu begeben, war nicht Gehlens Sache. Deshalb findet man im
Tagebuch von Halder zu den Stichworten keine weiteren Bemerkungen von
Gehlen. Aber die Indizien weisen deutlich darauf hin, dass Gehlen über die
jüdische Zwangsarbeit und die Verbrechen der SS informiert gewesen sein
muss und er mitgeholfen hat, durch die Erarbeitung militärischer Planungs­
grundlagen eine scheinbar sachliche Rechtfertigung zu schaffen. Anscheinend
konnte sich der Generalstabschef darauf verlassen, dass Gehlen sich unauffäl­
lig und effizient um die Bearbeitung der weiterhin politisch heiklen Frage des
Ostwalls kümmerte. So rief am 7. März 1940 Generalmajor Karl-Adolf Hollidt,
Chef des Generalstabs beim Oberbefehlshaber Ost, bei Halder an, um ihn vor­

198 Klaus-Jürgen Müller: Zu Vorgeschichte und Inhalt der Rede Himmlers vor der höheren
Generalität am 13. März 1940 in Koblenz, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 18 (1970),
S. 95-120.
199 Halder, KTB I, S. 197 (17.2.1940).
200 Ebd., S. 206 (24.2.1940).

137
zuwarnen, dass es neuen Ärger mit Hitlers Generalgouverneur in Polen gab.201
Hans Frank wollte sich nicht länger damit abfinden, dass die Wehrmacht im
sogenannten Schutzbereich entlang der Grenze zur UdSSR die volle Befehls­
gewalt ausübte und die Zivilverwaltung nur eingeschränkte Rechte besaß.
Im Stab von Oberost, wo man sich bemühte, die schlimmsten Übergriffe und
Umsiedlungen durch SS und Polizei einzudämmen, hoffte man darauf, durch
einen förmlichen Protest bei der Heeresführung einer Intervention des Gene­
ralgouverneurs in Berlin vorzubeugen, sofern das OKH rechtzeitig auch das
OKW auf seine Seite brachte. Halders Reaktion: Er beauftragte Gehlen, eine
entsprechende Vorlage für den Oberbefehlshaber des Heeres anzufertigen, die
vier Tage später fertig war.202
Halder selbst ließ keinen großen Ehrgeiz erkennen, es in dieser Frage erneut
zu einem Konflikt mit dem »Führer« kommen zu lassen. Brauchitsch, sein
Oberbefehlshaber, sah das wohl ähnlich. Also musste Gehlen eine brauchbare
Lösung finden, die vor allem den politischen Zündstoff beseitigte. Viel Zeit
blieb ihm dafür nicht, denn die Regulierungen für die Westfront forderten
gleichfalls seine Aufmerksamkeit.203
Am 13. März 1940 befand sich der Generalstabschef in Koblenz, um mit den
Vertretern der drei Heeresgruppen Details der operativen Planungen zu bespre­
chen. Für den Abend war ein Vortrag des Reichsführers SS über »volkspolitische
Fragen« im Osten vorgesehen. Himmler zeigte Bereitschaft, der versammelten
Führungsspitze des Heeres in allgemeiner Form seine Aufgaben im besetzten
Polen zu erläutern, um zu einem Abbau der Spannungen gegenüber dem Heer
beizutragen.204 Vor Beginn der Ausführungen Himmlers nahm Halder den
Oberbefehlshaber Ost Blaskowitz beiseite, um auch diesen zur Zurückhaltung
zu ermahnen. Halder notierte dazu: »Panzerabwehrgraben durch eine Orga­
nisation à la Todt bauen lassen. Nicht selbst für Unterkunft, Verpflegung pp.
sorgen. Gehlen.« Nach dem Abendvortrag von Himmler gab es ein Zusammen­
sein im Kasino, um 22.15 Uhr stand die Rückfahrt mit Sonderzug an.205 Dass die
Heeresführung bereit war, das Angebot Himmlers zum Einsatz von jüdischen
Arbeitsbataillonen anzunehmen, ohne aber die Verantwortung für ihre Versor­
gung übernehmen zu wollen, lieferte die Zwangsverpflichteten dem mörderi­
schen Regime der SS aus und das Heer behielt vordergründig »saubere Hände«.

201 Ebd., S. 223 (7.3.1940).


202 Ebd., S. 226 (11.3.1940); Gehlen an Adjutantur ChefGenSt, Vorschlag für Besprechungs­
punkte, 1) Ausbau Spicherer Höhen, 2.) Anlage eines Panzerabwehrgrabens an der
deutsch-russischen Interessengrenze, 11.3.1940, BA-MA, RH 2/390.
203 Halder, KTB I, S. 227 (12.3.1940).
204 Müller, Zu Vorgeschichte.
205 Halder, KTB I, S. 229 (13.3.1940).

138
Man arrangierte sich also. Gehlen wusste sich mit seinem Chef einig, dass
es besser war, dem Konflikt mit der SS aus dem Wege zu gehen. Mochten
sich Himmlers Leute mit ihren begrenzten Möglichkeiten ruhig dieser mili­
tärischen Aufgabe widmen, den Interessen des Heeres geschah dadurch kein
Abbruch. Im Gegenteil. Sollte Himmler doch die jüdischen Zwangsarbeiter
ruhig an der Ostgrenze einsetzen, das machte Baueinheiten der Wehrmacht
frei für den Westen. Halder wollte allerdings nicht so weit gehen wie Blasko­
witz, der im Konflikt mit der SS völlig resignierte und sarkastisch vorschlug,
gleich den gesamten Bereich ostwärts der Weichsel an Himmler abzuge­
ben.206 Den jüdischen Baubataillonen der SS überließ man kleinere Grenzab­
schnitte. Sie begannen mit dem Bau eines Panzergrabens an der Südostgrenze
zwischen Bug und San. Bis Anfang 1941 war der »Judenwall« erst auf einer
Länge von 13 Kilometern fertiggestellt, militärisch sinnlos, da nicht besetzt
und dilettantisch angelegt.207 Aus der Idee Hitlers, die polnischen Juden in
die Pripjet-Sümpfe zu jagen, ins Vorfeld eines Ostwalls, hatte Himmler das
Projekt eines »Judenwalls« gemacht, aus dem später die Vernichtungslager
erwuchsen.
Und Gehlen? Nach seiner kurzen Truppenverwendung im Feldzug gegen
Polen hatte er in den folgenden sieben Monaten wichtige Erfahrungen in der
alltäglichen Arbeit des Generalstabs gesammelt. Im Oberkommando des Hee­
res war er dem Oberbefehlshaber und dem Generalstabschef ein zuverlässi­
ger Fachreferent, der seine Aufgaben effizient und lautlos erledigte. Major i. G.
Gehlen hatte ein feines Gespür für die Problemlage seiner Vorgesetzten entwi­
ckelt, die einerseits vor der von Hitler befohlenen Offensive im Westen zurück­
schreckten und sich andererseits bemühten, die vereinzelte interne Empörung
über die brutale Besatzungspolitik im Osten zu dämpfen, um eine Eskalation
der Vertrauenskrise mit dem »Führer« zu verhindern. Gehlen erlebte beim
Aushandeln mit der SS über den Bau von Befestigungsanlagen im Osten, was
es bedeutete, sich mit diesen »Brüdern« arrangieren zu müssen. Die SS war
längst zu einem machtvollen Faktor geworden, den die Heeresführung nicht
ignorieren konnte, auf dessen Potenzial sie aber auch nicht verzichten wollte.
Da der Konflikt im Interesse der bevorstehenden Westoffensive eingedämmt
werden sollte, schienen Zugeständnisse durch Arbeitsteilung nicht vermeid­
bar zu sein. Doch die Annahme, der sicher auch Gehlen anhing, das Heer
könne sich auf die militärischen Aufgaben konzentrieren und das schmutzige
Geschäft des »Rassenkampfes« der SS überlassen, sollte sich bald als IIIusion
erweisen.

206 Ebd., S. 260 (15.4.1940).


207 Müller, Hitlers Ostkrieg, S. 22.

139
Am 10. Mai 1940 um 5.35 Uhr begann die Westoffensive, der lange erwar­
tete »Großkampf«. Am Vorabend gegen 18 Uhr verließ die 1. Staffel des OKH
das Hauptquartier in Zossen, um am nächsten Morgen bei Angriffsbeginn die
Arbeit in dem eigens errichteten Hauptquartier »Felsennest« bei Koblenz auf­
nehmen zu können. Seine sechs besten jüngeren Generalstabsoffiziere hatte
Halder bereits am 7. Mai als Verbindungsoffiziere zu den Armeen in Marsch
gesetzt. Der Major Gehlen fand sich nach einer revidierten Verteilung nicht
direkt in der Spitze des Hauptangriffskeils durch die Ardennen Richtung Maas,
sondern bei der benachbarten 16. Armee. Ursprünglich war hier Eberhard Kin­
zel eingeteilt gewesen. Nun hielt es Halder offenbar für sinnvoller, den Chef
Fremde Heere Ost bei seiner eigentlichen Aufgabe zu belassen, der Auswertung
von Nachrichten über die Rote Armee.
Die 16. Armee, in deren Armeehauptquartier Gehlen den Frankreichfeld­
zug an maßgeblicher Stelle mitbeobachten konnte,208 nahm zunächst planmä­
ßig die Grenzbrücken zu Luxemburg und besetzte wie 1914 gegen schwachen
Widerstand das kleine, wirtschaftlich allerdings bedeutsame Nachbarland.209
Auch wenn sich Gehlen nicht für die Organisierung des Hinterlands und die
Besatzungspolitik interessiert haben dürfte, so ist ihm sicher nicht entgangen,
dass die im OKH vorbereiteten Anordnungen aufgrund der Erfahrungen aus
dem Polenfeldzug ganz anders ausgerichtet waren. In Westeuropa sollte nach
den jüngsten Konflikten mit Partei, SS und Polizei von Anfang an verhindert
werden, dass die Militärverwaltung erneut in Handlungen verstrickt wurde, die
nicht den Regeln der Haager Landkriegsordnung entsprachen. Für den Schle­
sier Gehlen dürften die im Westen herrschenden politischen und kulturellen
Bedingungen zudem seinen im Osten Deutschlands und in Polen gewonnenen
Horizont erweitert haben. Wenige Jahre später, nach dem verlorenen Krieg,
war ihm die Kontaktaufnahme mit französischen Partnern auf Geheimdienst­
ebene ein ganz besonders wichtiges Anliegen, eine deutsch-französische Achse
innerhalb eines vereinten Europas, um die er sich außerordentlich bemühte.
1940 aber begleitete er den deutschen Einmarsch in Frankreich.
Chef des Generalstabs der 16. Armee war Walter Model, den Gehlen schon
bei seinem Eintritt in den Generalstab des Heeres als damaligen Chef der
8. Abteilung (Heerestechnik) kennengelernt hatte. Der Infanterieoffizier hatte
sich bereits im Ersten Weltkrieg Meriten erworben und eine vergleichsweise
glänzende Karriere gemacht. Er wurde im Verlauf des Zweiten Weltkriegs Hit­
lers bester Mann für Abwehroperationen, als »Feuerwehrmann« ein rastloser,

208 Seine damaligen Unterlagen haben sich in den Gehlen-Kisten, Mappen Nr. 4 und Nr. 6,
erhalten.
209 Siehe zur Besetzung und zur Besatzungspolitik in Luxemburg ausführlich Hans-Erich
Volkmann: Luxemburg im Zeichen des Hakenkreuzes, Paderborn 2010.

140
Gehlens Mercedes vor einem Herrenhaus, ca. 1940

kühner Truppenführer, ehrgeizig und einer der wenigen Generale, auf dessen
Urteil Hitler noch im letzten Kriegsjahr etwas gab. Der Durchhaltefanatiker
verübte als Oberbefehlshaber des sogenannten Ruhrkessels am 21. April 1945
Selbstmord.
Gehlen dürfte im Mai 1940 mit Generalmajor Model einen Mann angetrof­
fen haben, der sich im eigenen Stabsquartier von dem Verbindungsoffizier
Halders nicht ins Geschäft der Truppenführung reinreden ließ. Hier blieb nur
die Rolle des stillen Beobachters, der allerdings bei der eigenen Passion für die
Operationskunst einiges gelernt haben dürfte. Zumindest bekam er nach sei­
nen Erfahrungen auf der Divisionsebene nun Einblicke in die Stabsarbeit und
Führungstechnik auf der Ebene einer Armee.
Die nach dem Polenfeldzug in Ostpreußen neu aufgestellte Armee stand
unter Führung von Generalleutnant Ernst Busch. Er gehörte zu den treuesten
Anhängern Hitlers, der in der Blomberg-Fritsch-Affäre und beim Rücktritt von
Beck 1938 dem Generalstabschef in den Rücken gefallen war. Busch, überzeug­
ter Infanterist, der nichts von einer Überschätzung der Panzerwaffe hielt, war
mit seiner Armee dazu bestimmt, am linken Flügel der Heeresgruppe A den
Durchbruch der Maginot-Linie an der luxemburgisch-französischen Grenze
zu erzwingen und die Maas zwischen Sedan und Verdun zu erreichen -
geschichtsträchtiges Terrain. Die 16. Armee deckte zugleich die linke Flanke
der Panzergruppe Kleist mit dem Panzerkorps Guderian an der Spitze, den

141
Hauptstoßkräften der Offensive. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, wur­
den über die 16. Armee immer wieder Reservekräfte des OKH nachgeführt.
Damit konnten beim Vorrücken der Front auftretende Lücken gefüllt und so
die Offensive gestützt werden.
Es gehörte zu den Hauptaufgaben Gehlens im Armeehauptquartier, diese
Truppenzuführungen zu überwachen und zu gewährleisten, dass diese Ver­
bände nicht von der Armeeführung eigenständig eingesetzt wurden und damit
die Lenkung der Gesamtoperation durch Halder beeinträchtigten. Weil die
Armee den Drehpunkt bilden sollte für die spätere Bewegung, hatte Gehlen
insbesondere darauf zu achten, dass sie nicht darüber hinaus prallte.
Es gab also wichtige taktisch-operative Gründe, warum sich Halder bereits
am zweiten Tag der Offensive spätabends von Gehlen, der – solange es noch
machbar war – jeden Abend ins Hauptquartier zurückkehrte, über die Absich­
ten und Lage der 16. Armee berichten ließ.210 Bei solchen Gelegenheiten nahm
Gehlen »Wünsche« des Oberbefehlshabers »seiner« Armee mit, um bei dem
Vortrag als Verbindungsoffizier dem Chef des Generalstabs Gedanken und
Vorschläge Models zu überbringen. Halder sprach anschließend mit dem
Oberbefehlshaber des Heeres und Gehlen konnte dann die Entscheidung Brau­
chitschs überbringen.211 In diesem Falle wurde der Wunsch Models abgelehnt,
seine Armee nicht als bloße Flankendeckung nach Süden zu verwenden, son­
dern seitlich gestaffelt in die Angriffsfront einzureihen.
Die ganze Aufmerksamkeit im Oberkommando richtete sich in den folgen­
den Tagen auf den spektakulären und rasanten Vormarsch von Guderian, der
Gehlen sicherlich, wenn auch zunächst aus der Distanz, stark beeindruckt
haben dürfte. So wurden entscheidende Schlachten geschlagen, und Geh­
len durfte dabei sein, ein zwar kleines, aber nicht unwichtiges Rädchen im
Getriebe.212 Der abenteuerliche und nervenaufreibende Vorstoß Guderians in
Richtung Dünkirchen führte zu wiederholten Krisen, da Hitler und die Hee­
resführung Rückschläge und Flankenbedrohungen fürchteten. Halder gewann
den Eindruck, dass ihm die Führung der Operationen entglitt, sodass er darauf
setzte, die Verbindung zu den Armeen zu verstärken, »um seinen Willen vorn
durchsetzen zu können«.213 Er suchte weitere jüngere Generalstabsoffiziere für
diesen Einsatz aus, ließ bei Chimay, in der belgischen Provinz Hennegau, einen
vorgeschobenen Meldekopf einrichten und teilte den Verbindungsoffizieren
Ordonnanzoffiziere zu, um ihre Arbeitsfähigkeit zu erhöhen. Das betraf auch

210 Halder, KTB I, S. 289.


211 Aktennotizen Gehlens vom 13. und 14.5.1940, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 4.
212 Seine Karten und Notizen über die Lageentwicklung bei der Gruppe Guderian finden
sich in Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 2.
213 Halder, KTB I, S. 314 (23.5.1940).

142
Gehlen, der zeitweilig als Verbindungsoffizier zum XV. Armeekorps (mot.)
geschickte wurde, das General der Infanterie Hermann Hoth als Kommandie­
render General führte.214 Das Korps trug die Hauptlast bei der Abwehr eines
Ausbruchsversuchs der britischen Truppen bei Arras, ein Erfolg, der den wei­
teren Vorstoß Richtung Calais ermöglichte.
Als am 20. Mai 1940, zehn Tage nach Beginn der Offensive, deutsche Trup­
pen die Kanalküste erreichten, begann der letzte dramatische Akt der franzö­
sisch-britischen Niederlage in Belgien und Nordfrankreich. Ihre Hauptkräfte
wurden zerschlagen, ein Teil konnte von den Briten über Dünkirchen evaku­
iert werden. In diesen aufregenden Tagen hatte die 16. Armee gleichsam im
Windschatten der großen Ereignisse im Bereich der Festungsfront nördlich
von Verdun die Flankendeckung zu leisten. Als nach dem Erfolg von Dünkir­
chen zumindest die Panzergruppe Guderian wieder die Front bei Reims für die
nachfolgende Schlacht um Frankreich verstärkte, blieb der 16. Armee erneut
die undankbare Aufgabe der Flankendeckung. Sie rückte im Raum zwischen
Mosel und Maas vor, um Guderians weiten Vorstoß in den Rücken der franzö­
sischen Festungsfront und Richtung Schweizer Grenze abzusichern.215
Am 11. Juni 1940 war der Durchbruch durch die französischen Verteidi­
gungslinien gelungen und die Operationen nahmen wieder Fahrt auf. Spät­
abends ließ sich Halder telefonisch von seinen Verbindungsoffizieren berich­
ten. Gehlen befand sich jetzt bei der Panzergruppe Guderian.216 So berichtete
er von Gegenangriffen der Franzosen aus den Argonnen heraus und dass Gude­
rian am Nachmittag offenbar in die freie Bewegung zwischen der Champagne
und Lothringen gekommen war.217 Da Guderian sich schon beim Wettlauf an
den Kanal Handlungsfreiheit verschafft hatte, indem er Halder mit verzögerten
Meldungen hinhielt, übernahm Gehlen bei der Schlacht um Frankreich eine
besonders wichtige Aufgabe für den Generalstabschef. Halder riskierte es in
einem einsamen Entschluss, die Panzerverbände zeitweilig vor die Westflanke
der beiden französischen Armeen in den Vogesen einzudrehen und damit den
Kessel abzuschließen.218
Weil sich der französische Zusammenbruch mit einer ungeahnten
Geschwindigkeit vollzog, blieben größere Konflikte zwischen den Führungs­
ebenen aus. Gehlen konnte diesen Auftrag offenbar effizient und lautlos abwi­
ckeln. Damit hatten sich seine Aussichten verstärkt, künftig – wie ersehnt –

214 Karten und Notizen über den Einsatz bei der Gruppe Hoth vom 19. bis 29.5.1940,
Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 1.
215 Persönliche Unterlagen dazu ebd., Mappe Nr. 2.
216 Seine Lagekarte West 12.6.1940 hat sich ebd., Mappe Nr. 3 erhalten.
217 Halder, KTB I, S.350 (11.6.1940).
218 Ebd., S. 364 (20.6.1940).

143
stärker im operativen Bereich Verwendung zu finden. Zunächst freilich blieb
die »Landesbefestigung« weiter an ihm hängen. Denn bei der 16. Armee hatte
Halder jene Arbeitsbataillone stationiert, die für den eigenen Stellungsbau für
den Fall gedacht gewesen waren, dass sich die deutsche Offensive festlief. Jetzt
waren sie natürlich für andere Aufgaben frei. Sie konnten für den Brücken- und
Straßenbau eingesetzt werden, was General Jacob übernahm.
Am 14. Juni 1940 rückten deutsche Truppen in Paris ein. Halder notierte:
»Ein großer Tag in der deutschen Heeresgeschichte.«219 Schon begannen
die Planungen für den Waffenstillstand und den Umbau des Heeres. Gehlen
waren also nur wenige Tage beschieden gewesen, um an den »Freuden« der
großen Operationskunst teilzuhaben. Eigentlich hätte ihn Halder wieder zur
16. Armee zurückschicken können, da diese an der Kanalküste in Stellung
gegangen war und das Unternehmen »Seelöwe«, die geplante Landung im
Südosten Englands, vorbereitete. Halder brauchte aber Gehlen als Referent für
Landesbefestigung, und zwar für jene im Osten, an der einzigen Grenze, an der
auf dem Kontinent noch ein weiterer Waffengang möglich und denkbar zu sein
schien. Gleichzeitig machte er Gehlen zu seinem Adjutanten, nachdem er sich
am 12. Juni vorzeitig von seinem bisherigen 1. Adjutanten, Hauptmann i.G.
Heinrich Eduard Nolte, getrennt hatte, von dem er während des Frankreich­
feldzugs offenbar nicht überzeugt gewesen war. Nolte hatte es vorgezogen, im
Westen als Kompaniechef unter dem Divisionskommandeur Erwin Rommel
noch in den letzten Tagen des Feldzugs in den Kampf gehen zu können – eine
Idee, auf die Gehlen in dieser Situation vermutlich nie gekommen wäre. Nolte
blieb während des ganzen Zweiten Weltkriegs bei der Truppe.
Halder brauchte einen zuverlässigen Ersatz, denn nach dem bevorstehen­
den Waffenstillstand würde wieder der »normale« Ministerialbetrieb losgehen.
Seine Wahl fiel auf den außerordentlich eifrigen Gehlen, der sich in den letzten
Tagen des Feldzugs als Verbindungsoffizier zu dem als schwierig geltenden
Panzerführer Guderian bewährt hatte. Gehlen hatte als Gruppenleiter eigent­
lich eine Verwendung als Adjutant schon lange hinter sich. Bevor im Okto­
ber 1940 routinemäßig aus den Neuzugängen im Generalstab des Heeres der
Posten wieder zu besetzen sein würde, ordnete Halder an, dass Gehlen unter
Beibehaltung seiner Verwendung als »Gruppenleiter Landesbefestigung« im
Zuge einer Abkommandierung für vier Monate unmittelbar an seine Seite
rückte.220 Gehlen war keineswegs nur Lückenbüßer. Diese Maßnahme war
auch so etwas wie eine persönliche Belohnung. Dass es den jungen Offizier ins

219 Ebd., S. 355 (14.6.1940).


220 Im MGFA-Interview vom 26.10.1976 (BND-Archiv, N 13/2) meinte sich Gehlen zu erin­
nern, dass er bereits im November 1939 von Halder überraschend als Adjutant aus dem
Osten geholt worden sei. Hier irrte er sich.

144
operative Geschäft drängte, war dem Generalstabschef sicher nicht verborgen
geblieben. Er holte sich auf diese Weise den Sachbearbeiter für den Ostwall in
sein Vorzimmer und machte ihn zu einem engen Vertrauten, und das in der
entscheidenden Phase des Zweiten Weltkriegs, wo es bald um sehr viel mehr
gehen sollte als um die vernachlässigten Befestigungen an der Ostgrenze.
Gehlens Vorgänger in der Adjutantur hat einen kurzen Erlebnisbericht über
seine Zeit bei Halder hinterlassen.221 Seine Beschreibung dürfte in gewisser
Weise auch auf die Tätigkeit Gehlens im Hauptquartier des OKH zutreffen, das
seit dem 5. Juni in dem kleinen belgischen Dorf Forges nahe der Front sta­
tioniert war. Tag für Tag arbeitete der 1. Adjutant 16 Stunden oder mehr im
engsten Kontakt mit dem »Großen Chef«, meist sogar in dessen Dienstzim­
mer. Im Vorzimmer stand sein eigener Schreibtisch, zu dem er immer dann
zurückkehrte, wenn Halder Besucher empfing, die nicht zum unmittelbaren
militärischen Geschäft vortrugen, wie etwa der Chef des Heerespersonalamts
zu den Personalien der Generalstabsoffiziere oder der Rittmeister der Reserve
Hasso von Etzdorf als Verbindungsoffizier des Auswärtigen Amts zum OKH.
Im Adjutantenzimmer arbeitete der 2. Adjutant, bis Anfang 1940 Oberleutnant
Hasso Freiherr von Puttkamer, der dann auf einen Fronteinsatz drängte.222
Sein Posten wurde erst im Juni wieder besetzt.
In diesem Vorzimmer arbeitete außerdem die Sekretärin Luise von Benda
(die spätere Ehefrau von Alfred Jodl, dem Chef des Wehrmachtführungssta­
bes). Zu dieser Gruppe gehörten noch Halders Reitbursche und die Kraftfah­
rer. Zu ihnen allen pflegte Halder nach Möglichkeit gute zwischenmenschliche
Beziehungen, wohl auch deshalb, weil er auf diese Weise eine Atmosphäre von
Harmonie um sich herum schuf, die ihm half, den nervenaufreibenden Tages­
dienst durchzuhalten. Dicke Virginias hatten daran Anteil und ließen die Luft
in seinem Dienstzimmer zum Schneiden erscheinen. Familiäre Atmosphäre
und eine Zigarre, das war ein entspanntes Umfeld, das auch Gehlen später
liebte. Dass Halder gelegentlich Tränen der Rührung kamen, tat seinem Anse­

221 Siehe die kurzen Erinnerungen an die Zeit bei Halder von Heinrich Nolte: Landesverrat
oder Hochverrat?, in: Kampftruppen 5/1969, S. 120-122.
222 Dessen sehr knappe Erinnerungen geben für diese Zeit nicht viel her, siehe Hasso
Freiherr von Puttkamer: Erinnerungen aus Krieg 1939-1945 und 10 1/2 Jahren Kriegs­
gefangenschaft in Russland (1945-1955) und Bundeswehr 1956-1968, Tutzing o. J. Der
Kavallerist Puttkamer machte nach seiner Adjutantenzeit bei Halder Karriere in Gene­
ralstabsverwendungen der Truppe. Er wurde 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangen­
schaft entlassen, trat in die Bundeswehr ein und war unter anderem Militärattache in
Paris und Rom. In dieser Funktion dürfte er auch Kontakte mit dem BND gehabt haben.
Nach seiner Pensionierung war der ehemalige Oberst i. G. noch vier Jahre für das Bun­
desamt für Verfassungsschutz tätig (siehe Nachruf von Klaus Christian Richter, in: Der
Husar 76/2006). Puttkamer starb in Tutzing am Starnberger See.

145
hen als Chef keinen Abbruch, denn seine Umgebung schätzte seine gleich­
mäßig gelassene, oft heitere Stimmung. Ähnliches sagten spätere Mitarbeiter
auch über Gehlen. Von Tränen der Rührung ist in ihren Erinnerungen aller­
dings nie die Rede.
Gegen sieben Uhr brachte der Adjutant die Lagekarten, die die Operations­
abteilung täglich erarbeitete, auf den allerneuesten Stand. Halder, der ab sechs
Uhr morgens seine Pferde bewegte und nach dem Reiten um acht Uhr zum
Dienst erschien, legte großen Wert auf exakte Informationen als Grundlage
für die erste interne Lagebesprechung. Dabei waren auch die meisten Abtei­
lungsleiter des OKH anwesend.223 Nach etwa einer Stunde führte der Gene­
ralstabschef eine Reihe von Einzelbesprechungen mit nachgeordneten Ober­
befehlshabern oder seinen Mitarbeitern, entsprechend einem Programm, das
sein 1. Adjutant tags zuvor abgestimmt und festgelegt hatte. Noch am späten
Vormittag traf Halder dann mit dem Oberbefehlshaber des Heeres zusammen,
um ihn, meist mit Vortrag durch den Chef der Operationsabteilung, Oberst i. G.
Hans von Greiffenberg, über die Lage zu informieren und Entscheidungen her­
beizuführen, für die Hitlers Zustimmung nicht erforderlich war. In der ersten
Phase des Kriegs traf der Oberbefehlshaber je nach Bedarf alle paar Tage den
Diktator, der sich aber täglich über den Verlauf der Operationen durch Brau­
chitsch per Telefon unterrichten ließ. Als Hitler dann im Dezember 1941 selbst
den Oberbefehl über das Heer übernahm, fanden täglich um die Mittagszeit -
Hitler war kein Frühaufsteher – die Führerlagebesprechungen statt.
In Gehlens Zeit als Adjutant bei Halder im Sommer 1940 wurde nach kur­
zer Mittagspause das von ihm betreute Programm der Vorträge fortgesetzt.
Zwischen 17 und 19 Uhr fanden besonders intensive Gespräche sowie Tele­
fonate statt, hauptsächlich mit der Front. In der Operationsabteilung waren
inzwischen die Orientierungen durch die Heeresgruppen eingetroffen, sodass
auf dieser Grundlage eine zweite interne Lagebesprechung erfolgte. Der OQu I
als Halders Vertreter sowie der Chef der Operationsabteilung konnten Halder
auch ohne Anmeldung jederzeit sprechen, Besucher von der Front mussten
sich persönlich anmelden. Am Ende eines ziemlich regelmäßigen Tagesablaufs
ließ sich Brauchitsch noch einmal über den Stand der Operationen informie­
ren, und nun erst fand Halder Gelegenheit, intensiver und vorausschauender
über Probleme nachzudenken.
Auch dafür stand sein Adjutant bereit. Ihm gegenüber sprach der General­
stabschef offen und kameradschaftlich über die Dinge, die ihn bedrückten.
Gehlens Vorgänger hatte den Eindruck, dass Halder vorbehaltlos mit ihm
sprach und erwartete, dass auch sein Adjutant nicht mit seiner Überzeugung

223 Siehe Schilderung des Tagesablaufs von Alfred Philippi, in: Halder, KTB I, S. XVIII.

146
Der Chef der Operationsabteilung
Oberst Hans von Greiffenberg (links),
ca. April 1940

hinter dem Berg hielte. Er ließ sich durch bessere Argumente des Jüngeren
durchaus überzeugen und zeigte sich in jeder Hinsicht vorurteilsfrei. Die
Gespräche unter vier Augen mit dem Chef dürften auf Gehlen sicherlich tie­
fen Eindruck gemacht haben. Noch kurz vor seinem Tod sprach er von einer
»engen väterlichen Freundschaft«, die ihn mit Halder verbunden habe.224 Zehn
Jahre später hätte er sich gegenüber Bundeskanzler Adenauer vermutlich eine
ähnliche Arbeitsatmosphäre gewünscht, wurde dann jedoch meist im Vorzim­
mer bei Hans Globke abgespeist.
Zu den wichtigsten Aufgaben Gehlens als Adjutant Halders gehörte die
Führung des offiziellen Kriegstagebuchs. Was Anfang der 1960er-Jahre unter
Mitwirkung Halders als »Kriegstagebuch« veröffentlich worden ist und seit­
dem als Schlüsseldokument des Zweiten Weltkriegs gilt, sind allerdings -
wenig bekannt – nur ursprünglich handschriftliche Notizen Halders und
Merkzettel, meist stenografisch verfasst, kein eigentliches Tagebuch. Gehlen
konnte die dichte Folge von Gesprächen natürlich nur steuern, wenn er sich
in einer eigenen Kladde stenografische Notizen machte. Von Hasso von Putt­
kamer ist überliefert, dass Halder seinen Adjutanten untersagte, persönliche
Tagebücher zu führen. Gemeint waren offensichtlich reflektierende tageweise

224 Gehlen im MGFA-Interview, 26.10.1976, S. 154, BND-Archiv, N 13/2.

147
Notizen und Beobachtungen, ein reguläres Tagebuch also. Notizkladden für
das Gesprächsprogramm des Chefs waren dagegen unentbehrlich. So haben
wir heute durch einen überraschenden Fund auf dem Dachboden in Gehlens
Haus am Starnberger See für die Zeit vom Mai bis September 1940, als die Wei­
chenstellungen für die Ausweitung des Krieges gestellt wurden, eine parallele
Überlieferung, die Halders Notizen ergänzen kann. Ihr Wert liegt auch darin,
dass Halder nach 1945 bestrebt war, seine Verantwortung für die Kriegführung
möglichst herunterzuspielen.225
Vordergründig gesehen kam Gehlen Mitte Juni 1940 wegen der schwach
gesicherten und noch im Ausbau befindlichen Ostgrenze auch als Gruppenlei­
ter Landesbefestigung, seiner Hauptfunktion, wieder ins Gespräch mit Halder.
Das Hauptquartier befand sich in ländlicher Umgebung. Aus Sicherheitsgrün­
den hatte man drum herum eine Zone von 30 Kilometern geräumt, aus der
die Bauern erst allmählich ihr Vieh hatten zurückführen können. Wegen des
gequälten Brüllens der nicht gemolkenen Kühe hatte man extra ein deutsches
Melkkommando eingesetzt. Ansonsten herrschte eine sommerliche Idylle.
Halder wollte nun endlich die Frage klären, ob der aufwendige Ausbau von
Befestigungsanlagen im Osten weitergeführt oder eingestellt werden konnte,
da doch nun wieder genügend Truppen für eine Verteidigung des Reichsge­
biets zur Verfügung standen. So würden demnächst die früher in Ostpreußen
und im besetzten Polen stationierten Truppen in ihre Garnisonen zurückkeh­
ren. Halder beabsichtigte, diese Verbände unter einem Armeeoberkommando
(AOK) zusammenzuführen und damit unmittelbar für den Generalstab ein­
setzbar zu machen.
Nach einer grundlegenden Besprechung beim Oberbefehlshaber des Heeres
am 18. Juni 1940 traf Halder nach dem Abendbrot mit Gehlen zusammen, um
mit ihm über die »künftige Landesbefestigung« zu sprechen. Seine Direktiven
lauteten:

Grundsatz: Minimum! Was man hat, soll man für Angriff aufwenden.
Abwehr:
Durch eine Panzersperrlinie (an Flußläufen)
Durch eine Organisation schnellsten Kräfteeinsatzes.
Durch bestes Straßen- und Bahnnetz für Heranbringen dieser Kräfte.
An besonders wichtigen Stellen vorbereitete Gruppen, welche Feindeinbruch
operativ (nicht taktisch!) kanalisieren.
Weiteste Verwendung der Minen als Kampfmittel.226

225 Siehe Müller, Der Feind steht im Osten, S. 257.


226 Halder, KTB I, S. 362 (18.6.1940).

148
Vor dem Hintergrund der letzten Kämpfe in Frankreich erklärte Halder also
seine Absicht, den Ostwall, und nur um den konnte es sich bei seinen Anwei­
sungen handeln, geringfügig zu verstärken, und zwar so, dass mit dem Her­
anfuhren von Verstärkungskräften die Truppen im Osten des Reichs jederzeit
zum Angriff antreten konnten, um einen eingebrochenen Feind zu vernichten.
Das entsprach dem traditionellen Konzept der Reichsverteidigung in einem
Mehrfrontenkrieg. Nach dem bevorstehenden Sieg über Frankreich und der
erhofften Verständigung mit Großbritannien konnte die Wehrmacht jeder
denkbaren Gefahr begegnen. In dieser Situation schien es Gehlen unange­
bracht zu sein, über eine »künftige deutsch-französische Grenzziehung vom
Standpunkt der deutschen Landesbefestigung« nachzudenken. Eine entspre­
chende Denkschrift aus seiner Abteilung bezeichnete er als »Unsinn!« und
legte sie Halder deshalb nicht vor.227
Vier Tage später war es so weit. In Compiègne unterschrieben die Franzo­
sen am 22. Juni den von Hitler diktierten Waffenstillstandsvertrag. Im Haupt­
quartier des OKH waren viele überwältigt, auch Luise von Benda und der Feld­
webel aus dem Vorzimmer von Halder. Beide stiegen durch ein Fenster in die
geschlossene Dorfkirche und läuteten die Glocken. Schüsse dröhnten, denn
die jungen Offiziere der Operationsabteilung schossen übermütig mit einer
Pak Salut.228 Der Adjutant des Chefs wusste sich vermutlich zu beherrschen.
Als in den frühen Morgenstunden des 25. Juni die Waffen offiziell schwiegen,
kündigte Halder wenige Stunden später bereits die Bildung einer »Schlagkraft
im Osten« durch die Versammlung von 15 Infanteriedivisionen, 6 Panzer- und
3 motorisierten Divisionen an. Drei Tage später wurde Halder im kleinen Kreis
etwas deutlicher. Bei einer Besprechung in Versailles führte er aus, dass die
Kriegführung im Westen zu Ende sei. »Zu siegen gibt es hier im Westen auf
lange Sicht nichts mehr.«229 Der Schwerpunkt des Krieges liege nun im Kampf
gegen England. Für den Einsatz des Heeres dabei müssten erst die Vorausset­
zungen geschaffen werden.

Nur das AOK 18 wird im Osten besondere militärische Aufgaben zugewiesen


bekommen. Hier gilt es zunächst, »die Anwesenheit des deutschen Heeres
im Osten zu dokumentieren«. Es kommt jedoch darauf an, keine feindselige
Haltung offensichtlich zu zeigen.

227 Forderungen an die künftige deutsch-französische Grenzziehung vom Standpunkt der


deutschen Landesbefestigung (von einem Major Borchers), mit Randbemerkungen von
Gehlen, 18.6.1940, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 35. Nach Gehlens Eindruck wurden darin
lediglich geografische Gesichtspunkte behandelt.
228 Luise Jodl: Jenseits des Endes. Der Weg des Generaloberst Jodl, München 1987, S. 41.
229 Halder, KTB I, S. 372 (28.6.1940).

149
Oberstleutnant Adolf Heusinger in der
Operationsabteilung in Fontainebleau,
Juni 1940

Major Gehlen in Fontainebleau mit Hund »Wupsi«, Juni 1940

150
Halders Vorzimmer in Fontainebleau
im Juli 1940: Luise von Benda,
Major i. G. Reinhard Gehlen (sitzend),
2. Adjutant Oberleutnant Freiherr
Roeder von Diersburg

Die Formulierung »offensichtlich« in der Besprechungsnotiz deutet an, dass


Halder anscheinend die Absichten verklausuliert ausgedrückt hat.230 In die
Einzelheiten des Aufmarsches und der Absichten ist natürlich auch Gehlen
eingeweiht gewesen.
Mit dem Hauptquartier des OKH verlegte Gehlen Ende des Monats seinen
Dienstsitz nach Fontainebleau. Auf der Fahrt nach Paris ließ der General­
stabschef die Wagen nach Compiegne abbiegen, wo wenige Tage zuvor der Ver­
trag in demselben Eisenbahnwaggon unterschrieben worden war, in dem die
Deutschen am 11. November 1918 ihre Kapitulation unterzeichnet hatten. Die
Halle war leer, den Waggon hatte man bereits nach Berlin gebracht. Nur das
Denkmal mit dem gestürzten deutschen Adler war noch zu sehen. Bei der Wei­
terfahrt nach Paris fand die Kolonne die Hauptstadt des geschlagenen Feindes
totenstill vor. Halder gefiel sich bei einer kurzen Rundfahrt zu den wichtigs­
ten historischen Bauten gleichsam als Stadtführer. Ob Gehlen, der zeitlebens

230 Besprechungsnotiz vom 28.6.1940, BA-MA, RH 20-18/40b, dort auch die folgenden
Zitate. Weitere Unterlagen vom Juni 1940 über die Umgliederung des Heeres, etwa die
Anweisung des ObdH an das AOK 18 vom 29.6.1940 (Kopie) in der Mappe der Gruppe
Landesbefestigung, BA-MA, RH 2/390.

151
Auslandsreisen nach Möglichkeit vermied, von Paris beeindruckt gewesen
ist, ist nicht überliefert. Vermutlich hat er sich aber auf das dichte Tagespro­
gramm seines Chefs konzentriert. Da dürfte auch die Zeit gefehlt haben, sich
ausführlich mit den erbeuteten französischen Dokumenten zu beschäftigen,
die Gehlen zur Vorlage beim Generalstabschef erhielt.231 Denn Halder hatte
eine große Besprechung in Versailles anberaumt, bei der er seinen persönli­
chen Mitarbeitern und dem gesamten Generalstab, auch den Vertretern der
Armeen und Heeresgruppen, für die erfolgreiche Zusammenarbeit dankte232
und in die neuen Aufgaben einwies. Dann überreichte er einigen Abteilungslei­
tern das Eiserne Kreuz I. Klasse. Gehlen war nicht darunter. Anschließend flog
sein Chef nach Berlin, um dort seinen Geburtstag zu feiern.
Zu seinem 56. Geburtstag am Sonntag, den 30. Juni, empfing Halder den
Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst Freiherr von Weizsäcker. Als Ergeb­
nis notierte er einige Punkte, die der Herausgeber des Kriegstagebuchs, Hans-
Adolf Jacobsen, 1962 – vermutlich in Absprache mit Halder – in angebliche
Auffassungen Hitlers und persönliche Ansichten Weizsäckers untergliederte,
was sich aus dem Originaltext aber nicht zwingend ergibt. Auf diese Weise wer­
den zwei Punkte Hitler zugeschrieben:

c) Augen stark auf den Osten gerichtet.


d) England wird voraussichtlich noch einer Demonstration unserer militä­
rischen Gewalt bedürfen, ehe es nachgibt und uns den Rücken frei läßt für
den Osten.233

Inhaltlich könnten die Bemerkungen auch von Halder selbst stammen,


schließlich umschreiben sie eindeutig die strategische Lage, in der sich die
Wehrmacht bereits 1938/39 befand, als man mit dem Überfall auf Polen eine
erste »Demonstration« dieser Art unternahm – wofür? Das Hauptziel war 1939
das gleiche wie 1940: einen militärischen Schlag gegen die UdSSR führen zu
können. Stammt das Argument von Hitler, wäre dies die erste Erwähnung des
Diktators im Jahr 1940 zu möglichen Angriffsabsichten im Osten. Aber auch
dann wäre ihm Halder um einige Tage voraus gewesen,234 denn Halder hatte

231 OKH/GenStdH/OQu IV Nr. 831/40geh., Übersetzung eines erbeuteten Denkschrift­


entwurfs des General Gamelin über die Kriegführung im Jahre 1940, von Gehlen am
26.6.1940 entgegengenommen, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 19.
232 Halder, KTB I, S. 374 (28.6.1940).
233 Ebd., S. 375 (30.6.1940).
234 In der Darstellung von Ernst Klink wird die Chronologie der Ereignisse immer wie­
der durchbrochen, da der Autor im Vorgehen Stalins den eigentlichen Grund für den

152
schon längst einige alte Ideen aus der Schublade geholt und der 18. Armee am
25. Juni den Marschbefehl zur deutschen Ostgrenze erteilt.
Gleichwohl ist verständlich, dass Halder, der dem späteren Nürnberger
Kriegsverbrechertribunal nur knapp entging, bei der Edition seines Tagebuchs
Wert darauf gelegt hat, die Formel »Rücken frei läßt für den Osten« ausdrück­
lich Hitler zuzuweisen. In der Literatur wird meist der folgende Satz übergan­
gen: »Im Ganzen Zufriedenheit mit Rußlands Beschränkung.«235 In den später
überlieferten Weizsäcker-Papieren findet sich im Übrigen kein Hinweis auf
das Gespräch mit Halder. Jemand, der Halders Intentionen besser kannte als
andere Stabsoffiziere und mit dem sich der Generalstabschef vermutlich auch
in ruhigen Nachtstunden darüber ausgetauscht hat, war Reinhard Gehlen.
Doch dieser schwieg darüber bis ins Grab, sich selbst und seinen ehemaligen
Chef schonend.
In der Operationsabteilung kümmerte man sich neben dem Schwerpunkt
England schon Anfang Juli auch um »die Frage des Ostens«.236 Halder ging es
um die Möglichkeit, »wie ein militärischer Schlag gegen Rußland zu führen ist,
um ihm die Anerkennung der beherrschenden Rolle Deutschlands in Europa
abzunötigen«. Das entsprach eigenen Vorstellungen, nicht denen Hitlers, wie
in der älteren Literatur oft angenommen worden ist. Halder dachte ganz offen­
sichtlich an das Vorbild von 1917/18, deshalb lag ihm auch an Planungsvari­
anten eines möglichen Eingreifens im Baltikum oder auf dem Balkan. Unter­
lagen dazu lagen seit 1937/38 in den Schubladen des OKH, und Gehlen hatte
damals eine Erkundungsreise nach Finnland unternommen, war also zumin­
dest im Großen mit den operativen Problemen vertraut. Dass Stalin sich nach
dem überraschenden Ende des deutschen Frankreichfeldzugs beeilte, die ihm
im Vorjahr von Hitler zugesprochenen Gebiete fest an die UdSSR zu binden,
konnte niemanden in der deutschen Führung verwundern. Anlass, sich bedroht
zu fühlen, gab es schon gar nicht. Das zeigt deutlich die Reaktion in Halders
Hauptquartier. Dort arbeitete man – neben dem Schwerpunkt »Seelöwe« -
auftragsgemäß daran, das Heer nach dem Frankreichfeldzug nicht nur umzu­
bauen, sondern auch drastisch um 35 Divisionen zu reduzieren, um durch die
Entlassung von Wehrpflichtigen die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Das Heer
sollte zugunsten von Luftwaffe und Kriegsmarine, die im Kampf gegen Groß­
britannien standen, auch im Rüstungsbereich erhebliche Abstriche machen.

Beginn der Planungen erkennen wollte; siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Welt­
krieg, Bd. 4, S.210-211
235 Siehe z.B. Andreas Hillgruber: Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940-1941,
München 21982, S. 208.
236 Halder, KTB II, S. 6 (3.7.1940).

153
Gleichzeitig erforderten die bisherigen Feldzugserfahrungen Umbauten des
Heeres, insbesondere durch die Erhöhung der Zahl der Panzerdivisionen.
Während fast alle Mitarbeiter im Juli 1940 an der Lösung der mit der Ope­
ration »Seelöwe« verbundenen Probleme arbeiteten und Gehlen täglich durch
die Gespräche Halders damit in Berührung kam, verlagerte sich die militä­
rische Planung Ost von Fontainebleau nach Bromberg, wo die 18. Armee in
der Kriegsschule ihr Hauptquartier einrichtete. Die Vorbereitungen für einen
Angriff auf England waren zwar viel weiter fortgeschritten und die verschie­
denen Fachabteilungen arbeiteten fieberhaft an der Ausarbeitung von Details,
aber für Gehlen, der nach seinem »Ausflug« in die operative Führungskunst
an der Seite Guderians nun dem Generalstabschef bei allen Fragen assistierte,
mussten die erst am Anfang stehenden Überlegungen zum Osten viel faszinie­
render erschienen sein. Dort würde es nicht um das Erstürmen von englischen
Klippen, sondern um weiträumige Operationen gehen mit welthistorischen
Dimensionen. Und schon war auch Guderian wieder im Spiel, als möglicher
Befehlshaber einer »Schlagkraft«, also einer gepanzerten Stoßgruppe, im Bal­
tikum oder in der Ukraine. Noch wusste kaum eine Handvoll von Offizieren
von Überlegungen des Generalstabschefs, der es ernsthaft für möglich hielt,
die Rote Armee unter Umständen aus dem Stand heraus anzugreifen.
Es ist davon auszugehen, dass Gehlen am 4. Juli 1940 besonders aufmerksam
dem Gespräch folgte, das Halder um 9.30 Uhr zwischen zahlreichen Terminen
zu »Seelöwe« mit dem Oberbefehlshaber der 18. Armee und dessen General­
stabschef hatte.237 General der Artillerie Georg von Küchler war ein älterer und
erfahrener Armeeführer, der vor 1939 die militärischen Kräfte in Ostpreußen
kommandiert und auf eine mögliche Auseinandersetzung mit der UdSSR bzw.
mit Polen vorbereitet hatte. Seine Armee erhielt 1941 den Auftrag, Leningrad
zu erobern und dem Erdboden gleichzumachen. Generalmajor Erich Marcks
als sein Stabschef gehörte zu den jüngeren Generalstabsoffizieren des Ersten
Weltkriegs und hatte während des Polenfeldzugs als Korpschef den Einmarsch
in die Westukraine organisiert. Küchler kannte also die mögliche »Rollbahn«
im Norden, Marcks die im Süden, ganz wie Halder es für seinen Kriegsplan
brauchte. Am 4. Juli also wies er die beiden in ihre Aufgabe ein. Das betraf die
mögliche taktische Führung der Armee, ihre Position gegenüber der Territo­
rialverwaltung im besetzten Polen und das Thema »Befestigung«. Hierzu hat
sicher Gehlen das Wort ergreifen können, um die Herren über den Stand des
unvollendeten Ostwalls und die Grenzsicherungsanlagen zu informieren. Für
den beginnenden Aufmarsch der 18. Armee brauchte es schließlich gewisse
Vorkehrungen gegen mögliche Überraschungen durch die Sowjetrussen.

237 Ebd., S. 8 (4.7.1940).

154
An der Besprechung nahm auch Oberstleutnant i. G. Eberhard Kinzel teil
und trug bei dieser Gelegenheit als Chef der Abteilung Fremde Heere Ost über
die Truppenverteilung der Roten Armee vor. Gehlen hat sich zu diesem Zeit­
punkt sicher nicht vorstellen können, dass er 20 Monate später Kinzels Nach­
folger werden sollte. Kinzel war für seine Aufgabe eigentlich gut vorbereitet.
Er war in den 1920er-Jahren im Reichswehrministerium mit der militärpoliti­
schen Abstimmung mit der Roten Armee betraut gewesen, hatte 1932 deren
berühmten Generalstabschef Michail N. Tuchatschewski noch persönlich ken­
nengelernt und dann von 1933 bis 1935 als Gehilfe des deutschen Militäratta­
ches in Warschau gearbeitet, als sich ein mögliches antisowjetisches Bündnis
mit Polen anbahnte. Aber Kinzel galt auch als sorgloser Lebemann, der syste­
matische Arbeit nicht sonderlich schätzte – ganz das Gegenteil von Gehlen.
Dafür machte Kinzel ab 1942 an der Front große Karriere. Er brachte es bis zum
General der Infanterie und Generalstabschef der Heeresgruppe Weichsel (1945).
Wie so vieles in der deutschen militärischen Spitzengliederung dieser Zeit
war allerdings auch die Beurteilung der Roten Armee nicht optimal organisiert.
In der Reichswehrzeit befasste sich die Abteilung Fremde Heere (T 3)238 mit
allen potenziellen Gegnern, seit 1935 unter der Führung von Oberst i. G. Kurt
von Tippeiskirch. Im Herbst 1938 hatte man die Abteilung nach West und Ost
aufgeteilt. Die nominelle Gesamtführung blieb bei Tippelskirch, dem jetzt als
Oberquartiermeister IV zusätzlich die Abteilungen Attachédienst und Heer­
wesen unterstanden. Er war für Halder der zuständige Ansprechpartner für
die Beurteilung fremder Armeen, aber Tippelskirch schrieb nur selten strategi­
sche Analysen und übernahm seit Beginn des Zweiten Weltkriegs verschiedene
andere Aufgaben und Truppenkommandos, zuletzt als General der Infanterie
und Oberbefehlshaber der 21. Armee. Nach seiner Gefangenschaft publizierte
er 1951 die erste deutsche Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkriegs.
Für den »Osten« zuständig zu sein bedeutete im Falle von Kinzel die Erwar­
tung, über alle Armeen östlich der Weichsel Auskunft geben zu können. Das
umfasste sogar Italien und (bis 1942!) die USA. Innerhalb der Abteilung Fremde
Heere Ost (FHO) war die Gruppe II am wichtigsten, deren Aufgabenfeld Skan­
dinavien, die UdSSR und den Fernen Osten umfasste. Von Oktober 1939 bis
Anfang Juli 1940 war die Position des Gruppenleiters II allerdings vakant
geblieben. Der dafür vorgesehene Major Erich Helmdach war als Ia einer Divi­
sion ins Feld gerückt und meldete sich erst nach Ende des Frankreichfeldzugs
in Fontainebleau zum Dienst im Generalstab, d. h. zu seiner Ausbildung bei
FHO! Nach deren Abschluss versetzte man ihn bereits im Oktober 1940 wieder
in den Truppendienst, wo er bis zum Kriegsende verblieb. Helmdach wurde

238 Der Buchstabe T steht für Truppenamt, der getarnte Generalstab der Reichswehr.

155
später dennoch ein wichtiger Mitarbeiter Gehlens und trat publizistisch als
Verfechter der Präventivkriegsthese in Erscheinung, der auch Gehlen folgte
und deshalb den Angriff auf die UdSSR als »nicht unberechtigt« ansah.239 Beide
müssen es 1940 besser gewusst haben, denn die damals bei FHO verfügbaren
Informationen deuteten nicht auf die Absicht der Sowjetführung hin, die Rote
Armee zu einem Überfall auf die Wehrmacht einzusetzen.
Für die Führung des Lagebildes standen Helmdach in seiner kurzen Zeit
drei Mitarbeiter zur Verfügung. Es handelte sich um zwei sogenannte Ergän­
zungsoffiziere (in den 1930er-Jahren eingestellt) und einen Hilfsoffizier, die
immerhin über russische bzw. polnische Sprachkenntnisse verfügten. Ihre
Erkenntnisse über die Truppenverteilung der Roten Armee erhielten sie nor­
malerweise über die für die Bearbeitung der Feindlage zuständigen Ic-Offiziere
der im Osten eingesetzten Großverbände. Doch die 18. Armee verlegte im Juli
erst zurück aus Frankreich, und die Stäbe in Ostpreußen und dem Generalgou­
vernement hatten kaum Möglichkeiten, sich Informationen zu beschaffen. So
blieben nur mögliche Ergebnisse der Luftaufklärung bzw. Informationen von
Überläufern und Agenten, die aus den jetzt von der Roten Armee besetzten
Gebieten kamen. Inzwischen waren im Baltikum russische Truppen bis an die
Grenze Ostpreußens vorgerückt. Auch ehemalige litauische Offiziere bzw. die
von der Umsiedlung »heim ins Reich« betroffenen Volksdeutschen konnten
sicher einige Angaben machen.
Die aktive Nachrichtenbeschaffung gehörte nicht zum Aufgabenfeld des
OKH, sondern des OKW. Das von Admiral Wilhelm Canaris geführte Amt
Ausland/Abwehr soll aber von Hitler im Herbst 1939 die Anweisung erhalten
haben, keine Agenten gegen die UdSSR einzusetzen bzw. die Führung in Mos­
kau nicht zu infiltrieren.240 Deren Enttarnung wäre ihm vermutlich peinlicher
gewesen als der mögliche Erkenntnisgewinn.
Das Bild über die Rote Armee veränderte sich jedenfalls nach Kriegsbeginn
nicht, im Gegenteil, die Begegnung mit sowjetischen Truppen in Ostpolen und
die Leistungen der Roten Armee im Krieg gegen Finnland schienen die bis­
herigen Einschätzungen zu bestätigen: ungebildete Kommandeure, »das asia­
tische Benehmen nur etwas übertüncht«, der einfache Soldat bedürfnislos
und stumpfsinnig.241 Interessant ist nicht so sehr die Vermutung, dass es sich
hierbei um einen tradierten Dünkel deutscher Generalstabsoffiziere handelte,

239 Siehe z. B. Erich Helmdach: Überfall? Der sowjetisch-deutsche Aufmarsch 1941, Neckar­
gemünd 1975; Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 3.12.1971, IfZ, ED 100-69-119.
240 Pahl, Fremde Heere Ost, S. 71.
241 Bericht über das Verhalten der Sowjets in den von ihnen besetzten Gebieten Ostpolens
vom 28.10.1939, abgedr. in: Norbert Müller (Bearb.): Das Amt Ausland/Abwehr im Ober­
kommando der Wehrmacht. Eine Dokumentation, Koblenz 2007, S. 143.

156
der zu einer gefährlichen Unterschätzung der Roten Armee geführt hat,242 son­
dern dass die deutschen Sachbearbeiter aus dem erbeuteten Generalstabsar­
chiv der polnischen Armee eine ähnliche Einschätzung zur Bestätigung heran­
ziehen konnten.243 Unabhängig von der falschen Einschätzung der Moral des
Gegners sollte es sich als besonders fatal für den Ostfeldzug erweisen, dass
der deutschen Feindaufklärung die Einführung moderner schwerer Panzer in
der Roten Armee entging. Der T-34 war bereits beim Kampf gegen die Japaner
im Sommer 1939 zum Einsatz gekommen, wurde allerdings nicht auf Militär­
paraden gezeigt und fand auch im Krieg gegen Finnland keine Verwendung. Er
wurde zur größten Überraschung der Wehrmacht im Sommer 1941.
Was Oberst i. G. Kinzel am 4. Juli 1940 dem Generalstabschef über die aktu­
elle Truppenverteilung der Roten Armee im Westen der Sowjetunion vortrug,
kann in seiner historischen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt wer­
den, denn seine Angaben bildeten in den nächsten Monaten eine wichtige
Entscheidungsgrundlage für die deutsche Führung. Mit ihnen hat sich zwei­
fellos auch Gehlen aufmerksam beschäftigt. Vor allem aber sind sie einge­
flossen in eine Karte, die das AOK 18 für seine weiteren Planungen benutzte,
und sie dürfte auch bei den Besprechungen mit Hitler Ende Juli eingesetzt
worden sein. Ein Blick auf diese Karte bietet die Möglichkeit, gleichsam über
die Schulter der Entscheidungsträger zu schauen und ihre Entschlüsse nach­
zuvollziehen.
Auffällig sind zunächst die beiden Massierungen der Roten Armee im Bal­
tikum und in Bessarabien – Ergebnis der territorialen Veränderungen, wie sie
im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart worden waren, eine relativ schwache Beset­
zung im ostpolnischen Raum sowie Reserven im Raum Moskau und im Zen­
trum der Ukraine. Zahlenmäßig handelte es sich im Baltikum um 24 Infan­
terie- und Kavalleriedivisionen sowie 10 Panzerbrigaden. Das entsprach in
etwa einer Stärke, wie man sie bereits 1938 für den Fall eines kriegerischen
Konflikts mit der Roten Armee angenommen hatte. Der Unterschied lag darin,
dass am 8. Juli 1940 sowjetische Verbände bereits unmittelbar an der Grenze
zu Ostpreußen standen. Die polnische Mitte mit insgesamt 12 Schützendivi­
sionen und 9 Kavalleriedivisionen stellte nach dem damaligen Standard nur
eine wenig kampfkräftige, jedenfalls kaum angriffsfähige Gruppierung dar.
Das sah bei der sowjetischen Bessarabien-Gruppierung etwas anders aus. Mit
30 Schützendivisionen, 9 Kavalleriedivisionen und 10 Panzerbrigaden konnte
die Gruppe die rumänische Armee durchaus unter Druck setzen und wäre für

242 Andreas Hillgruber: Das Russlandbild der führenden deutschen Militärs vor Beginn des
Angriffs auf die Sowjetunion, in: Das Russlandbild im Dritten Reich, hg. von Hans-Erich
Volkmann, Köln 1994, S. 125-140.
243 Auswertung erbeuteten polnischen Aktenmaterials vom 25.7.1940, BA-MA, RH 2/2732.

157
Feindlagebeurteilung durch das Armeeoberkommando 18 am 22. Juli 1940

größere Operationen auf dem Balkan geeignet gewesen. Die geringen Reserven
im Hinterland konnten als unbedeutend eingeschätzt werden.
Für das AOK 18 ergaben sich aus diesem Lagebild folgende Konsequenzen:
Mit den herankommenden eigenen Kräften von 15 Infanteriedivisionen sowie
der »Gruppe Guderian« mit ihren motorisierten Kräften war Landesverteidi­
gung im herkömmlichen Sinne ohne Weiteres möglich. Es galt allerdings, in
Ostpreußen die Stellungen zu verstärken und im Mittelabschnitt die Fähigkeit
zu entwickeln, hinhaltend kämpfend auf die Weichsellinie auszuweichen und

158
dann im Gegenangriff den Feind zurückzuwerfen. Im Südosten waren die sow­
jetischen Kräfte gegenüber Ungarn und Rumänien gebunden. Aus dem Stand
heraus würde die Rote Armee kaum auf Verstärkungen aus dem Innern des
Landes rechnen können.
In den Augen eines deutschen Generalstabschefs, der den unerwarteten
grandiosen Sieg über Frankreich gerade errungen hatte und damit rechnete,
dass die Briten bald aufgeben würden, stellte dieses Lagebild geradezu eine
Verlockung dar. In der Tradition deutschen operativen Denkens zeichneten
sich Möglichkeiten ab, mit grenznahen Entscheidungsschlachten die feindli­
che Armee zu zerschlagen und jene Gebiete zurückzugewinnen, die man 1939
Stalin überlassen hatte, obwohl sie – wie im Ersten Weltkrieg – unverändert
zur deutschen Interessensphäre gehörten. Wer die Linie Dorpat-Minsk-Kiew
und den Unterlauf des Dnjepr besetzen konnte, würde über die wertvollsten
wirtschaftlichen Ressourcen im europäischen Russland verfügen und auch
leicht in den Kaukasus mit seinen Ölquellen vorstoßen können. Moskau wäre
nach diesem Lagebild kaum geschützt, und wenn man annahm, dass das
Riesenreich im Osten ein »Koloss auf tönernen Füßen« war, konnte man mit
einem raschen Kriegsende rechnen.
Halders Tagebuch zeigt, dass er in diesen Tagen mit einer Fülle ganz anderer
Fragen beschäftigt gewesen ist. Überlegungen zum AOK 18 und zum »Ostpro­
blem« haben ihn offensichtlich nur peripher bewegt. Schon deshalb wird man
kaum annehmen können, dass er völlig neue Gedanken dazu entwickelt hat
oder gar von Hitler dazu angestoßen worden ist. Das hätte jetzt ganz andere
Aktivitäten auslösen müssen, ähnlich wie im Jahr zuvor, als Hitler im Oktober
1939 seinen Entschluss zur Westoffensive mitteilte.
So aber erklärte Halder gegenüber Küchler und Marcks, dass kein »poli­
tischer Grund« zur Eile bestehe, das Armeeoberkommando aber schon ein­
mal einen Vorschlag für die Kampfführung ausarbeiten solle.244 Ein Termin
wurde nicht genannt, die beiden brauchten dafür ohnehin nur sechs Tage. Das
zeigt die hohe Professionalität und lässt zugleich die Vermutung zu, dass man
auf vorhandene Unterlagen und Überlegungen zurückgreifen konnte. Routi­
niert setzte sich Marcks an die Arbeit. In einer ersten kurzen Skizze für die
Operationsabteilung Halders vom 9. Juli teilte Küchler dann als Absicht der
18. Armee mit, dass jeweils vier Divisionen zur Verteidigung an der ostpreu­
ßischen Grenze sowie am oberen San bereitgestellt werden sollten. Die Masse
der eigenen Kräfte, also rund acht Divisionen, sollte im Ostteil des Generalgou­
vernements zur Verfügung stehen, damit »russische Angriffsvorbereitungen
jenseits der Grenze des Interessengebietes durch eigenen Angriff zerschlagen

244 Notiz von Marcks, zit. nach: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 207.

159
werden können«. Dies war ein qualitativer Unterschied zum bisherigen Auf­
trag und eröffnete die Möglichkeit eines Präventivschlags gegen die UdSSR.
Marcks nahm an, dass zwei Angriffsgruppen gebildet werden könnten, eine in
südostwärtiger Richtung, also die bekannte Marschroute in die Ukraine, und
eine andere in nordöstlicher Richtung, die aber nicht von Ostpreußen, sondern
östlich von Warschau antreten sollte. Das war eine neue operative Lösung, weil
es – anders als 1939 – eine sowjetische Gruppierung in den ehemals neutra­
len baltischen Staaten gab, die frontal anzugreifen unklug gewesen wäre. Die
Gruppe Guderian sollte so herangeführt werden, dass sie sowohl bei der nörd­
lichen als auch bei der südlichen Angriffsgruppe einzusetzen war.245
Damit wurde Halders Idee eines »kurzen Schlages« operativ umgesetzt und
er sollte innerhalb von 48 Stunden ausgelöst werden können. Es war klar, dass
die Umsetzung dieser Eventualplanung noch einige Vorbereitungszeit brau­
chen würde, da die organisatorischen Voraussetzungen erst noch geschaffen
werden mussten, wie die Abstimmung mit den bisherigen militärischen Ter­
ritorialbefehlshabern und die Verbesserung der Infrastruktur, nicht zuletzt
war die Unterbringungsfrage in den Aufmarschräumen zu lösen, die zu eini­
gen Reibungen sogar mit der SS führte. Aber der verdeckte Offensivplan hatte
den Vorteil, dass man die UdSSR täuschen konnte, weil zahlenmäßig nur eine
geringe Kräfteverschiebung nach Osten erfolgte, gleichzeitig aber die bisher
stationierten Reserveformationen durch Kampfdivisionen ersetzt wurden.
Zugleich stellte man sich darauf ein, innerhalb weniger Tage nach Ausbruch
des Kampfes eine größere Zahl von Verbänden heranzuführen, um der Offen­
sive eine größere Stoßkraft zu verleihen. Das »Glacis im Osten« war für die­
sen Fall seit 1939 vorbereitet worden. Deshalb konnte das AOK 18, gestützt auf
ältere Unterlagen, bereits im Juli 1940 eine detaillierte Karte zu den Haupt- und
Querstraßen zur Front sowie den Ausladeräumen anfertigen. Die Verteilung
dieser Ausladeräume zeigt einen klaren Schwerpunkt im Südosten Richtung
Ukraine und im Nordosten Richtung Baltikum.
Offen blieb, wie weit und mit welchen Zielen eine Offensive zu führen sei
und ob mit weiteren Kräften aus dem Reich zu rechnen war. Da sich die Hee­
resführung auf ein mögliches Landungsunternehmen in England einzustellen
hatte, eröffnete der Halder-Plan zwei Optionen: zum einen eine Rückversi­
cherung für den Fall, dass bei einem Englandeinsatz des Heeres Stalin ver­
sucht sein könnte, Druck auf die deutsche Ostgrenze auszuüben; zum anderen
ergäbe sich die Chance – für den Fall, dass Großbritanniens doch in Kürze
aufgeben würde –, die Masse des Heeres nach Osten zu führen. Das würde,

245 AOK 18, Ia, betr. Kräfteeinsatz der 18. Armee, 9.7.1940, BA-MA, RH 20-18/40b (Hervorh.
im Original).

160
wie im Oktober 1939 in umgekehrter Richtung, einige Wochen beanspruchen
und vom Gegner nicht unbemerkt bleiben. Deshalb wäre ein Vorausangriff mit
einem kleineren Teil des Heeres und der schrittweisen Verstärkung und Aus­
weitung der Offensive eine denkbare Möglichkeit. Im Oktober/November 1939
hatte Halder unter starkem Druck Hitlers einen solchen Plan kurzfristig ent­
wickeln müssen. Für die Kehrtwendung nach Osten wollte er sich im Juni 1940
offenbar vorauseilend um einen Plan bemühen, um nicht wieder mit leeren
Händen dazustehen, wenn der Auftrag vom »Führer« erteilt würde.
Am 13. Juli 1940 ließ sich Hitler auf dem Berghof über den Stand der Vor­
bereitungen für einen Angriff auf England informieren. Es gehörte zu seinen
Vorgesprächen für die geplante »Friedensrede«, von der er sich viel versprach,
um mit Großbritannien zu einem Einvernehmen zu gelangen. Halder war bes­
tens präpariert. Den ganzen Vortag hatte er sich – sicher unter Zuarbeit seines
Adjutanten – auf diesen Vortrag vorbereitet. Am 13. Juli morgens flog er mit
Gehlen von Fontainebleau nach Salzburg und fuhr von dort mit einem Dienst­
wagen zum Berghof. Gehlen musste vermutlich im Vorraum Zurückbleiben,
während der »Führer« seinen Chef mit Befehlsentwürfen und Karten empfing.
Dessen Vorstellungen billigte Hitler ohne Weiteres und setzte sie in eine förm­
liche Weisung um.
In der Diskussion der politisch-strategischen Lage entwickelte Hitler
gegenüber der Heeresführung verschiedene Ideen, um Großbritannien unter
Druck zu setzen, gestand aber auch ein, dass es ihm schwerfalle, die Englän­
der eventuell militärisch niederzuwerfen. Von einem Zerfall des britischen
Weltreichs hätte Deutschland keinen Nutzen.246 Halders Notizen lassen kei­
nen Zweifel daran, dass er und Brauchitsch Hitler in der Vermutung bestärk­
ten, es sei die Hoffnung auf ein Eingreifen Russlands, das London zum Durch­
halten veranlasse. Brauchitsch schlug vor, von den zur Auflösung bestimmten
35 Divisionen ungefähr 20 nicht völlig aufzulösen, sondern deren Soldaten
lediglich zu beurlauben und sie zur Forcierung der Rüstung als Arbeitskräfte
zu verwenden. Dann hätte man diese 20 Divisionen jederzeit sofort wieder
greifbar – als Reserve für den Osten, falls die Masse des Heeres im Westen
gebunden blieb.
Nach dem einstündigen Gespräch reiste Halder noch am Nachmittag zurück
nach Fontainebleau. Bei der Abteilungsleiterbesprechung am nächsten Tag,
einem Sonntag, handelte es sich wie auch in den folgenden Tagen allein um die
Klärung von Einzelheiten für den Kampf gegen Großbritannien. Die Planung
für einen möglichen Angriff auf Russland lag vorerst allein in den Händen des
AOK 18. Immerhin hatte Halder es geschafft, dass Hitler in diesen Tagen ganz

246 Halder, KTB II, S. 21 (13.7.1940).

161
offensichtlich auch darum besorgt gewesen ist, die britische Führung könnte
sich an die Hoffnung klammern, durch einen möglichen deutsch-sowjetischen
Konflikt entlastet zu werden und das Reich wie im Ersten Weltkrieg in einen
Zweifrontenkrieg zu verwickeln.
Das Hauptquartier des OKH war seit dem 2. Juli in Fontainebleau einsatz­
bereit. Halder residierte in einem Seitenflügel des Schlosses. Sein Stab war in
einer großräumigen Villa untergebracht, deren Besitzer geflohen waren. In
den Schränken fanden sich noch Pelzmäntel und andere schöne Sachen, die
für Luise von Benda eine Verlockung darstellten. Für den Adjutanten Gehlen
waren solche möglichen »Souvenirs« tabu. Im täglichen Dienst schwoll der
Papierkrieg gewaltig an, vor allem durch die eingehenden Erfahrungsberichte
der Truppenverbände. Da blieb trotz der friedensähnlichen Bedingungen nicht
viel Zeit für Schlaf – für Gehlen zeitlebens kein Problem. Da es die anderen
doch drängte, Paris näher kennenzulernen, erlaubte er am 18. Juli, wie sich
die Sekretärin später erinnerte, dass sie am nächsten Tag mit dem anderen
Adjutanten und dem Feldwebel nach Paris fahren durfte.247 Gehlen musste mit
Halder nach Berlin fliegen, wo Hitler am 19. Juli seine große Reichstagsrede
halten und eine Reihe von Generalen auszeichnen wollte.
Ob das, was die jungen Leute in Paris vorhatten, nach seinem Geschmack
gewesen wäre, sei dahingestellt. Luise von Benda war jedenfalls begeistert von
den Einkaufsmöglichkeiten, die aber durch den knappen Wehrsold beschränkt
waren. Abgesehen vom Louvre waren die meisten Museen noch geschlossen,
die Stadt aber wieder voller Leben. Man traf sich nach getrennten Wegen
im Ritz, um bei einem feudalen Essen den restlichen Sold aufzubrauchen.
Oberleutnant Freiherr Roeder von Diersburg, der neue zweite Adjutant, war
lebensfreudig und charmant und auf diesem Etappenposten nach vier Ver­
wundungen eigentlich todunglücklich. Er wusste den Ausflug zu genießen und
schwärmte davon, wie bezaubernd die Französinnen doch seien – leider habe
er zu viel Zeit in Museen verbracht. Auf der Rückfahrt hielt die Gruppe an, um
die Radioübertragung von Hitlers Reichstagsrede anzuhören.
Gehlen hatte, als Hitler am Abend im Reichstag die Dankeskundgebung für
die Wehrmacht veranstaltete und ein »Friedensangebot« an Großbritannien
richtete, bereits einen langen Arbeitstag in Berlin hinter sich. Viele Bespre­
chungen und Entscheidungen im OKH betrafen die Vorbereitung eines mögli­
chen Landungsunternehmens in Südostengland. Eine Fülle von Details musste
geklärt und mit der Kriegsmarine abgesprochen werden, die allerdings wenig
Neigung zeigte, sich ernsthaft auf ein solch riskantes Unternehmen einzulas­
sen. An der abendlichen Reichstagssitzung dürfte Gehlen als Adjutant Halders,

247 Jodl, Jenseits des Endes, S. 44.

162
Die Offiziere der Operationsabteilung in Fontainebleau 1940:
Gehlen links, Adolf Heusinger 3. von links

Fahrt durch das besetzte Paris, Juli 1940

163
der sich über seine Beförderung zum Generaloberst freute, im Hintergrund
teilgenommen haben.
Auch bei nüchterner Betrachtung musste man in Gehlens Position den Tag
als außerordentlich bedeutsam einschätzen. Würde der Krieg tatsächlich in
Kürze beendet sein? Bei einem Landungsunternehmen gegen England müsste
Gehlen hauptsächlich den Chef des Generalstabs in einem vorgeschobenen
Hauptquartier unterstützen. Als Spezialist für Landesbefestigung wäre er in
diesem Zusammenhang nicht gefragt. Doch Halder hatte ihn ja nicht für die
Kanalfront zu sich geholt.
Auch in den nächsten Tagen stand England ganz im Mittelpunkt von
Halders Arbeit. Hier gab es immerhin zwingende Weisungen des »Führers«.
Als dessen »Friedensangebot« beim britischen Adressaten keinen positiven
Widerhall fand, wurden die Oberbefehlshaber von Heer und Kriegsmarine am
21. Juli zu einer Besprechung der Lage befohlen. Hitler wollte sich die mili­
tärpolitische Initiative nicht aus der Hand nehmen lassen.248 Er stand vor der
Entscheidung, »Seelöwe« noch im Herbst durchzuführen oder die Landung auf
das nächste Frühjahr zu verschieben. Ein baldiger Angriff der Kriegsmarine
barg enorme Risiken, vor denen Admiral Erich Raeder im Grunde genommen
zurückschreckte und deshalb auf eine Verschiebung bis zum nächsten Früh­
jahr setzte. Was Hitler brennend interessierte, war die Frage, warum England
nicht einlenkte. Eher beiläufig fand auch die mögliche englische »Hoffnung auf
Russland« Erwähnung. London könnte Moskau ermutigen, die Treibstoffbasis
des Reiches anzugreifen. Anzeichen dafür, so Hitler, lägen allerdings nicht vor.
Im Gegenteil, es gab Meldungen, dass die im Zuge der Besetzung des Baltikums
an die ostpreußische Grenze vorgerückten Truppen der Roten Armee bereits
wieder zurückgezogen wurden. Deshalb stand für ihn die weitere Kriegfüh­
rung gegen England im Vordergrund.
Dennoch ordnete Hitler an: »Russisches Problem in Angriff nehmen.
Gedankliche Vorbereitungen treffen.« Und in diesem Augenblick zahlte es sich
aus, dass Halder schon längst Vorkehrungen getroffen hatte, und zwar wesent­
lich mehr als nur »gedanklicher« Art. Deshalb konnte er spontan reagieren:

Dem Führer ist gemeldet:


a) Aufmarsch dauert 4-6 Wochen.
b) Russisches Heer schlagen oder wenigstens so weit russischen Boden in
die Hand nehmen, als nötig ist, um feindliche Luftangriffe gegen Berlin und
schlesisches Industriegebiet zu verhindern.

248 Halder, KTB II, S. 31 (22.7.1940). Brauchitsch berichtete einen Tag später seinem Gene­
ralstabschef über das Gespräch.

164
Erwünscht, so weit vorzudringen, daß man mit unserer Luftwaffe wichtigste
Gebiete Rußlands zerschlagen kann.
c) Politisches Ziel: Ukrainisches Reich.
Baltischer Staatenbund.
Weiß-Rußland – Finnland.
Baltikum »Pfahl im Fleisch«.
d) Nötig 80-100 Div.: Rußland hat 50-75 gute Div.
Wenn wir in diesem Herbst Rußland angreifen, wird England luftmäßig ent­
lastet. Amerika kann an England und Rußland liefern.
e) Operationen: Welche Operationsziele können wir stellen? Welche Kräfte?
Zeit und Raum der Bereitstellung?
Operationsbahnen: Baltikum, Finnland – Ukraine
Berlin und schlesische Gebiete schützen.
Rumänische Ölzentren schützen.249

Auch hier ist es Halder nach 1945 gelungen, die Interpretation dieses Tage­
bucheintrags zu verwirren und nicht als seine Vorschläge, sondern als Hitlers
Initiative für einen Ostkrieg zu deuten.250 Dabei kann festgehalten werden: Es
handelte sich um eine »Meldung« von Brauchitsch zu Hitlers Aufforderung,
»gedankliche Vorbereitungen« zum russischen »Problem« zu treffen. Anschei­
nend ist Hitler besorgt gewesen, dass im Falle einer stärkeren Bindung von
Görings Fliegern beim Angriff auf Großbritannien von der sowjetischen Luft­
waffe eine Bedrohung vitaler Interessen des Reichs hätte ausgehen können.
Was zum Aufmarsch, zu den Kräften, den politischen Zielen und den Ope­
rationsbahnen gemeldet worden ist, kann eindeutig Brauchitsch zugeordnet
werden. Es entsprach dem augenblicklichen Halder-Plan eines begrenzten
Ostkrieges, jener Folie, die schon sehr viel älter gewesen ist. An den politischen
Zielen wird besonders deutlich, dass es sich um die alten militärischen Über­
legungen handelte, nicht um Hitlers Lebensraumprogramm. Ein baltischer
»Staatenbund« als »Pfahl im Fleisch« Russlands?
Offensichtlich hat Hitler den Halder-Plan in Anwesenheit von Brauchitsch
nur kurz erörtert. Das Argument der Luftkriegsstrategie dürfte von ihm stam­
men, denn Hitler war in diesen Tagen ganz auf die Notwendigkeit eingestimmt,
die Luftherrschaft als Voraussetzung für eine Landung in England erreichen zu

249 Ebd.
250 Darauf hat Ernst Klink bereits 1983 hingewiesen, siehe Das Deutsche Reich und der
Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 213, Anm. 66. Halders Interpretation findet sich noch einmal
in einem Brief an Jacobsen, den Herausgeber des Tagebuchs, vom 10.12.1962, abgedr.
in: Halder, KTB II, S. 41, Anm. 2. Auch in der Hitler-Biografie findet sich die Fehlinterpre­
tation, siehe Ian Kershaw: Hitler 1936–1945, Stuttgart 2000, S. 412-413.

165
müssen. Gliederung und Tenor des Tagebucheintrags lassen nicht erkennen,
dass Hitler neue Weisungen oder gar einen fundamentalen Strategiewechsel
angeordnet hat. Wir können davon ausgehen, dass Gehlen als Adjutant und
Gesprächspartner Halders von den Gesprächen mit dem »Führer« Kenntnis
hatte, denn selbst wenn er nicht anwesend gewesen sein sollte, so führte er
doch das offizielle Kriegstagebuch des Generalstabschefs und war sicherlich in
dessen gegen Russland gerichtete Überlegungen eingeweiht. Bekümmert oder
alarmiert hat ihn dieser sich abzeichnende Strategiewechsel zweifellos nicht,
denn er hatte keinen Grund, an der Kompetenz und Weisheit seiner Vorgesetz­
ten zu zweifeln.
Wahrscheinlich hat Gehlen am Abend des 21. Juli an der Abendtafel im
Schloss zu Fontainebleau sitzen dürfen. Der damalige Chef der Organisations­
abteilung Oberst Edgar Röhricht (zuletzt General der Infanterie), erinnerte
sich: »Stilvoll der Rahmen, der Saal Henri II., weniger stilvoll die Tafel selbst,
deren Geschirr und Bestecke die Herkunft aus der Zossener Kantine nicht ver­
leugnen konnten.«251 Der anschließende Zapfenstreich galt dem zum Gene­
ralfeldmarschall ernannten Oberbefehlshaber des Heeres. Mit dem feierlichen
militärischen Zeremoniell im Fackelschein jenes Schlosshofes, in dem sich
einst der gescheiterte Napoleon 1814 von der kaiserlichen Garde verabschiedet
hatte, um sich in britische Gefangenschaft zu begeben, verabschiedete sich -
ohne dass es den Beteiligten bewusst gewesen sein mag – die deutsche Hee­
resführung von einer ruhmreichen Tradition. Ihr Weg führte ein Jahr später in
den rassenideologischen Vernichtungskrieg und schließlich in den Untergang.
Am nächsten Tag schrieb Oberstleutnant Helmuth Groscurth, der zum
militärischen Widerstand zählte, an seinen alten Chef Generaloberst Beck:
»Ernsteste Sorge erfüllt mich auch um die Zukunft des Generalstabes. Es fehlt,
zumal in der jüngeren Generation, nicht nur das Können, sondern auch der
alte preußische Geist. Anmaßung und Arroganz, Unkenntnis und Nichtverste­
hen für die Belange der Truppe sind vorherrschend.«252
Allerdings sah Halder nach diesem Bericht offensichtlich eine Chance,
seine Idee, kurzfristig einen Schlag gegen die Rote Armee zu führen, doch
noch in den nächsten Wochen umsetzen zu können. Immerhin waren durch
die Vorbereitungen zum Unternehmen »Seelöwe« 40 Divisionen im Westen
gebunden, die bei einer Verschiebung der Landung für andere Zwecke zur
Verfügung stehen würden. So erteilte er sofort weitere Anweisungen an die
eigene Operationsabteilung und an Kinzel, das russische »Problem« stärker

251 Edgar Röhricht, Pflicht und Gewissen, Stuttgart 1965, S. 161.


252 Helmuth Groscurth: Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940, Stuttgart 1970,
S. 543.

166
aufzugreifen. Außerdem befahl er Marcks zu sich nach Fontainebleau, um
mit ihm die bisher vom AOK 18 geleisteten Vorbereitungen zu besprechen.253
Die Vorstellungen, die Marcks mitnahm, hielt der Erste Generalstabsoffizier
der Armee, Oberst i. G. Arthur Schmidt, am 25. Juli fest, während die Masse
der Verbände bereits im Bereich der Armee eingetroffen war.254 Schmidt war
ein weiterer Stabsoffizier mit Erfahrungen aus dem früheren ostpreußischen
Hauptquartier. Zwei Jahre später sollte er als Chef des Stabes der 6. Armee der
fanatische Aufpasser gegenüber seinem Oberbefehlshaber Paulus im Stalin­
grader Kessel sein.
Im Juli 1940 hielt Schmidt die Möglichkeit, von der sowjetischen Baltikum-
Gruppierung überrascht zu werden, für ausgeschlossen, zumal dort die Ver­
bände der Roten Armee bereits teilweise wieder zurückgezogen wurden. Bei
einer »Krise des deutsch-englischen Krieges« könnte die UdSSR Rumänien
besetzen, was das Reich aber nicht dulden würde. Bei einem Sieg gegen Groß­
britannien könnte man von den Russen die Rückgabe der Bukowina fordern,
mit deren Besetzung Stalin über die früheren Abmachungen hinausgegangen
war. Dann könnten sich folgende Möglichkeiten entwickeln: Entweder die
Sowjetunion würde unter dem Druck eines deutschen Aufmarsches nachge­
ben bzw. würde durch einen Krieg mit begrenzten Mitteln und Zielen dazu
gezwungen, oder – als letzte Möglichkeit – man eröffnete den Krieg an der
gesamten Front, was dann den »Marsch auf Moskau« bedeuten würde.
Auch hier ist erneut die bereits bekannte Folie eines Interventionskriegs
vorhanden, wie sie 1938/39 schon aktuell gewesen ist. Am 26. Juli ließ sich
Halder, trotz der erdrückenden Fülle von Details hinsichtlich einer mögli­
chen Landung in England, von Kinzel über die Verteilung der Kräfte der Roten
Armee vortragen. Kinzels Lagekarte verfehlte auch bei Halder nicht ihre Sug­
gestion. So schien ihm als günstigste Operationsmöglichkeit ein Vorstoß zu
sein, der in »Anlehnung an die Ostsee Richtung Moskau nimmt und dann die
russische Kräftegruppe in der Ukraine und am Schwarzen Meer von Norden
her zum Kampf mit verkehrter Front zwingt«.255 Am nächsten Tag präsentierte
ihm der Chef seiner Operationsabteilung, Oberst i. G. Hans von Greiffenberg,
eine andere Idee, nämlich mit einer starken Südgruppe anzugreifen. Doch Hai­
der blieb bei der offenbar faszinierenden Idee einer Nordgruppe, die mit einer
schnellen Schlacht dem Feind im Süden in den Rücken fällt.256

253 Fernschreiben AOK 18 vom 23. Juli 1940 mit der Mitteilung, dass Marcks am 29. Juli
abends eintreffen werde, BA-MA, RH 20-18/41b.
254 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 211-212.
255 Halder, KTB II, S. 37 (26.7.1940).
256 Ebd., S. 39 (27.7.1940).

167
Von solchen großräumigen Überlegungen dürfte auch sein Gehilfe gefesselt
gewesen sein, der sich von seinem lästigen Aufgabenfeld Landesbefestigung
inzwischen völlig gelöst hatte. Die Verwaltung der Festungszonen in West und
Ost auf Reichsgebiet hatte der Befehlshaber des Ersatzheeres übernommen,
sie fiel nicht mehr in Halders Ressort. Zum Thema »Abschlußgraben der SS
an russischer Grenze« trug jetzt Major i. G. Wüstefeldt als Fachreferent vor.257
Am Abend fand man sich im Theatersaal des Schlosses ein, wo der Privatdo­
zent Dr. Ludwig Heinrich Heydenreich von der Universität Berlin einen Vortrag
über Geschichte und Kunstgeschichte Frankreichs hielt, mit anschließendem
Imbiss.
Neben den täglichen Details übte der von Zeit, Raum und Kräften losge­
löste Gedankenaustausch über operative »Ideen« bezüglich des Ostens ver­
mutlich eine erhebliche Faszination aus. Aber die angedachten Pfeile auf der
Landkarte führten in letzter Konsequenz zu der Frage eines möglichen »Mar­
sches auf Moskau«, den der deutsche Generalstab 1917/18 tunlichst vermieden
hatte. Damals hatte man die Machtergreifung Lenins und die Bildung einer
Gegenregierung unterstützt. Würde Stalin einen neuen Unterwerfungsvertrag
unterschreiben? Gab es eine andere politische Lösung? Zögerte Halder? Nach­
dem er sich über mögliche Aufmarschlinien in Richtung deutsch-sowjetische
Grenze informiert hatte, empfing Halder am 29. Juli Marcks zu einem verspä­
teten Frühstück und beauftragte ihn, in einer Studie die aufgeworfenen Ideen
eingehender zu prüfen.
Am selben Tag fragte Hitler Jodl als seinen engsten militärischen Berater,
ob es denn wirklich möglich sei, Russland noch in diesem Herbst anzugreifen -
zur Erinnerung: das war Halders Idee, nicht die Hitlers -, was Jodl spontan
vollkommen ausschloss, was ihn aber dazu bewegte, anschließend seinen Stab
darüber zu unterrichten und eigene Ausarbeitungen anzuordnen.258
Die nächste Besprechung mit dem »Führer« war für den 31. Juli angesetzt.
Es konnte erwartet werden, dass nun weitere Weichenstellungen vorgenom­
men würden. Am Vorabend besprachen Halder und Brauchitsch die Situation.
Sie waren sich einig, dass die Kriegsmarine wohl nicht den Sprung nach Eng­
land schaffen würde, jedenfalls nicht in diesem Herbst. Man dürfe aber die
Initiative nicht aus der Hand geben. Deshalb diskutierten sie eine Reihe von
Angriffen gegen die britischen Positionen im Mittelmeer, das heißt Vorstöße
gegen Gibraltar, den Suezkanal und Haifa. Man könne auch Russland auf den
Persischen Golf »hetzen«.

257 Ebd., S. 38 (27.7.1940).


258 Kershaw, Hitler, S. 415.

168
Die Frage, ob man, wenn gegen England die Entscheidung nicht erzwungen
werden kann und die Gefahr besteht, daß England sich mit Rußland liiert,
den dann entstehenden Zweifrontenkrieg zunächst gegen Rußland führen
soll, ist dahin zu beantworten, daß man besser mit Rußland Freundschaft
hält. Besuch bei Stalin wäre erwünscht. Die Bestrebungen Rußlands an den
Meerengen und in Richtung auf den Persischen Golf stören uns nicht. Am
Balkan, der wirtschaftlich in unseren Wirkungsbereich fallt, können wir uns
aus dem Wege gehen. Italien und Rußland werden sich im Mittelmeer nicht
wehe tun.
Unter dieser Voraussetzung könnten wir den Engländer im Mittelmeer ent­
scheidend treffen, von Asien abdrängen, dem Italiener sein Mittelmeerreich
aufbauen helfen und uns selbst mit Hilfe Rußlands das in West- und Nord-
Europa geschaffene Reich ausbauen. Wir können dann einen jahrelangen
Krieg mit England getrost in Kauf nehmen.259

Es spricht einiges dafür, dass diese eher konventionelle Strategie auf Brau­
chitsch zurückgeht. Sie kam den Interessen Raeders und der Kriegsmarine
entgegen. Dort hatte man den alten Feind im Osten keineswegs vergessen,
ebenso wenig die ungeschützten Ostseebasen, die man für den Westfeldzug
von Kräften entblößt hatte. Im Oberkommando der Kriegsmarine hielt man
natürlich an der alten Vorstellung fest, die Ostsee zu einem »mare nostrum«
zu machen. Der Chef der Operationsabteilung der Seekriegsleitung, Konter­
admiral Kurt Fricke, griff am 28. Juli 1940 ebenfalls in die Schublade und holte
mit seinen »Betrachtungen über Rußland« die Vorschläge von 1938/39 her­
vor.260 Um die »Gefahr des Bolschewismus« zu beseitigen und die Versorgung
Deutschlands mit wichtigen russischen Rohstoffen auf eine bessere Basis zu
stellen, müsse die Wehrmacht ihre nach dem Sieg über Frankreich wieder
freigewordenen Kräfte ausspielen. Er ging davon aus, dass die politische Füh­
rung die Absicht habe, »die Dinge im Osten zu bereinigen« und eine autarke
Großraumwirtschaft zu errichten. Nach der Annexion des Baltikums und eines
Teils der Ukraine sowie der Befestigung des deutschen Einflusses auf dem Bal­
kan würde man »aus diesem Besitz heraus die Friedensbedingungen« festle­
gen können. Mit der Besetzung der baltischen Staaten und Leningrads würde
die russische Flotte ihre Basis verlieren und zusammenbrechen. Ein Überra­
schungsangriff biete die Gelegenheit, die Bewegungsfreiheit der Sowjetflotte
einzuengen und die schweren Überwassereinheiten in den Stützpunkten zu

259 Halder, KTB II, S. 46 (30.7.1940).


260 Betrachtungen über Rußland, 28.7.1940, siehe Das Deutsche Reich und der Zweite
Weltkrieg, Bd. 4, S. 320.

169
vernichten. Das war der Halder-Plan – maritim gewendet. Das Kriegsspiel von
1938 hatte damals den fiktiven Beginn eines Überfalls auf die UdSSR auf den
3. September 1940 festgesetzt. Das konnte jetzt Realität werden.
Die Fricke-Denkschrift ist nicht an Hitler übergeben worden. Sie diente der
Meinungsbildung innerhalb der Marineführung und präparierte Raeder für die
für den 31. Juli angesetzte Besprechung, bei der Hitler vom Oberbefehlshaber
der Kriegsmarine eine klare Aussage über die Chancen des Unternehmens
»Seelöwe« verlangen würde. Fricke präsentierte mit seiner Studie also eine
bekannte Alternativstrategie, die Wendung nach Osten. Dass der »Führer« in
seiner bisher unentschlossenen Suche nach einer Lösung für die Beendigung
des Kriegs gegen Großbritannien auch eine solche Wendung bedenken würde,
konnte als sicher angenommen werden.
Der Oberbefehlshaber des Heeres, ein ehemaliger kaiserlicher Page, hatte
in den vergangenen Auseinandersetzungen mit Hitler um die Westoffensive
eher zurückhaltend agiert und sich als ausgesprochen konfliktscheu gezeigt.261
In einer Weisung an das Offizierskorps hatte Brauchitsch wenige Tage zuvor
freundliche Worte über das Verhältnis zur UdSSR gefunden. Ob das wirklich
nur der Tarnung des beginnenden Ostaufmarsches diente oder seiner per­
sönlichen Auffassung entsprach, sei dahingestellt. Der »Führer« selbst hatte
immerhin in seiner »Friedensrede« am 19. Juli öffentlich erklärt, das deutsch­
russische Verhältnis sei endgültig festgelegt.262 Die Schlussfolgerung der Hee­
resführung am 30. Juli, es sei besser, mit Stalin Freundschaft zu halten, und der
Vorschlag, dazu einen Besuch in Moskau zu arrangieren, liegen jedenfalls auf
dieser Linie. Aber weder Brauchitsch noch Halder informierten bei der ent­
scheidenden Besprechung am nächsten Tag den »Führer« von dieser Auffas­
sung. Sie flogen beide sehr früh von Fontainebleau ab, um bereits um 11.30 Uhr
im Berghof vortragen zu können.
Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Halder griff im Juni 1940
auf die alte Vorstellung zurück, eine »Schlagkraft im Osten« zu schaffen, sei
es zur strategischen Sicherung der Ostgrenze oder um sich Handlungsmög­
lichkeiten gegenüber der Sowjetunion offenzuhalten. Dafür schienen zunächst
17 Divisionen ausreichend, deren Kern die »Gruppe Guderian« bildete. Es war
der kurzfristig wirksame Ansatz für einen möglichen Schlagabtausch mit der
Roten Armee im polnisch-weißrussischen Raum, eine »kleine« Lösung, die
zur Besetzung fremder Territorien fuhren und die Wehrmacht in den Besitz

261 Zur Biografie siehe Jürgen Löffler: Walther von Brauchitsch (1881-1948). Eine politische
Biographie, Frankfurt a.M. 2001; Kirstin A. Schäfer: Werner von Blomberg – Hitlers ers­
ter Feldmarschall, Paderborn 2006.
262 Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeit­
genossen, hg. von Max Domarus, Bd. 2, München 1965, S. 1556.

170
von »Faustpfändern« bringen sollte, um »im Osten nach erzielten Erfolgen zu
einem baldigen Friedensschluß zu kommen«.263 Gestützt auf die Weichsellinie
hätte die Operation in Richtung Baltikum und/oder Ukraine geführt werden
können, entsprechend den bis 1939 verfolgten militärpolitischen Überlegun­
gen. Die militärische Strategie wäre durch eine politische zu begleiten, um das
Unabhängigkeitsstreben in den Randgebieten der UdSSR zu fördern, einhei­
mische Regierungen unter deutschem Protektorat einzusetzen und nach der
Zerstörung der »lebendigen Kräfte« des Gegners diesen zu einem raschen Dik­
tatfrieden zu zwingen. Ob Hitler für dieses Modell eines Interventionskriegs
nach dem Vorbild von 1918 noch zu haben war, musste sich auf dem Berghof
am 31. Juli 1940 erweisen.
Die Aufzeichnungen von Halder über diesen Tag vermerken keinerlei Streit
mit Hitler, der seinen »Entschluß« mitteilte, dass er einen größeren Ansatz
bevorzuge. Um Russland in einem Zuge »erledigen« zu können, müsse man
bis zum Mai 1941 warten, obwohl er am liebsten noch in diesem Jahr angreifen
würde. »Geht aber nicht, um Operation einheitlich durchzuführen.«264 Brau­
chitsch hat die Einsicht vom Vorabend, dass es wohl besser sei, mit der UdSSR
Frieden zu halten, für sich behalten. Sein Generalstabschef hingegen beeilte
sich, nach dem Rückflug nach Fontainebleau die bereits laufende Planung für
einen Ostkrieg nachzujustieren. Als Ergänzung zu den operativen Planungen
ließ Halder nun gedankliche Vorarbeiten für die Logistik einer größeren Offen­
sive im Osten sowie für eine Militärverwaltung anstellen. Auch hier ist noch
einmal erkennbar, dass Hitler am 31. Juli offenbar keinerlei Hinweise auf einen
anderen Charakter des Kriegs und zum Verhalten gegenüber der Bevölkerung
gegeben hat.
Ein kurzer Blick auf die weitere militärische Planung des Ostkriegs zeigt,
dass die alten Ideen nur schrittweise verändert wurden. Sofort nach seiner
Rückkehr aus Berchtesgaden empfing Halder General Marcks zu einem Vor­
trag über die bisherige Planung der russischen Operation. Halder legte ins­
besondere Wert darauf, dass eine Operationsgruppe Moskau gebildet wurde,
die den Kampf um das Baltikum nur als Nebenoperation führen sollte. Dane­
ben wäre eine Operationsgruppe auf Kiew anzusetzen. Innerhalb von drei
Tagen legte Marcks einen umfassenden und detaillierten »Operationsentwurf
Ost« mit mehreren Anlagen vor.265 Es ist kaum vorstellbar, dass dieser erste
bekannte Feldzugsplan innerhalb dieser kurzen Zeit nur nach Hitlers Anwei­

263 Nachkriegsstudie Heusinger/Heinrici, Feldzug in Rußland, zit. nach: Das Deutsche


Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 206.
264 Halder, KTB II, S. 49 – 50 (31.7.1940).
265 Generalmajor Marcks, Operationsentwurf Ost, 5.8.1940, BA-MA, RH 20-18/45, daraus
auch, sofern nicht anders angegeben, die folgenden Zitate.

171
sungen entstanden sein könnte. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass
Marcks weitgehend auf ältere Entwürfe und Unterlagen zurückgegriffen hat.
Das beweisen Tenor und Details.
Was das militärische Vorgehen betrifft, so setzte Marcks nicht darauf, dass
die Russen »uns [...] den Liebesdienst eines Angriffs erweisen« würden. Auch
hier also ein Reflex auf frühere Überlegungen, die aus der Defensive heraus das
»Ostproblem« offensiv lösen wollten. Marcks nahm an, dass sich die Rote Armee
in den neu besetzten Westgebieten der UdSSR hinhaltend kämpfend auf die
Stalin-Linie mit ihren Befestigungen an der alten Grenze zurückziehen würde.
Zum Schutz ihrer »Kraftquellen« werde sich der Gegner dann zum Entschei­
dungskampf stellen müssen. »Da der Russe diesmal nicht, wie im Weltkrieg, die
Überlegenheit der Zahl besitzt, ist vielmehr damit zu rechnen, dass er, einmal
durchbrochen, seine auf eine lange gedehnte Linie verteilten Kräfte nicht mehr
zu einheitlichen Gegenmaßnahmen zusammenfassen kann und in Einzelkämp­
fen der Überlegenheit der deutschen Truppe und Führung bald erliegen wird.«
Erstaunlich die Annahme, dass die Wehrmacht nach Zahl sogar überlegen sein
würde. Marcks rechnete aber damit, dass etwa ein Drittel der Roten Armee
gegenüber Japan gebunden sein würde, sodass an einer deutschen Front mit
96 Infanteriedivisionen, 23 Kavalleriedivisionen und 10 motorisiert-mechani­
schen Brigaden zu rechnen sei. Dagegen würden im nächsten Frühjahr allein an
deutschen Kräften 147 Divisionen an der Ostfront zur Verfügung stehen. Über
Japan machte sich Marcks ebenso wenig Gedanken wie seine Vorgänger.
Der Operationsentwurf ging nicht von einem deutschen Vorrücken auf
breiter Front aus, sondern wollte bei der Heeresgruppe Süd 35 und bei der
Heeresgruppe Nord 68 Divisionen einsetzen. Als Heeresreserve mit 44 Divisi­
onen sollte gut ein Drittel des Ostheeres verwendet werden. Beide Stoßkeile
würden sich wegen der geografischen Situation auf jeweils wenige Straßen
konzentrieren müssen, was bei einer Tiefengliederung die Nachführung ent­
sprechend großer Reserven ermöglichte. Damit würde man nicht zuletzt auch
das Problem des Aufmarsches lösen. Wegen der mangelhaften Infrastruktur in
Ostmitteleuropa und aus Gründen der Geheimhaltung wäre ohnehin nur ein
schrittweiser Aufmarsch der Verbände möglich.266
Dass Marcks über Unterlagen früherer Planungen verfügte, zeigt sein Ver­
weis auf die »Studie Südost« aus dem Jahre 1938, aus der sich die Kapazitä­
ten der ungarischen und rumänischen Eisenbahn für einen deutschen Auf­
marsch ergaben. Seine Ausführungen über den Anteil der Kriegsmarine und

266 Siehe Karte Straßennetz im Osten, vorläufige Ausgabe auf Grund von z. T. veralteten
Unterlagen, Juli 1940, Anlage 2 zu AOK 18 Ia/OQu Nr. 420/40gKdos, 5.8.1940, BA-MA,
RH 20-18/41b.

172
die Eroberung der baltischen Häfen bewegten sich ebenfalls auf bekannten
Bahnen. Nicht zuletzt erwähnte er auch die Notwendigkeit, die Aktivitäten der
militärischen Abwehr zu verstärken, um durch die Mobilisierung einheimi­
scher Kräfte Zerstörungen zu verhindern, die von der Roten Armee bei ihrem
Rückzug vorgenommen werden könnten. Schließlich heißt es: »Eine Militär­
verwaltung für die besetzten Gebiete ist vorzubereiten. Für die Ukraine, Weiß­
rußland und die Ostseestaaten ist die Überleitung zur Selbständigkeit unter
einheimischen, nicht bolschewistischen Regierungen vorzusehen.« Gerade
dieser Punkt bestätigt erneut die Annahme, dass Hitler auch am 31. Juli keine
dezidierten politischen Vorstellungen geäußert hat.
Bemerkenswert ist ebenfalls der Ansatz von Zeit und Raum durch Marcks,
der die Vorstellung kriegsentscheidender Schlachten im grenznahen Raum
lediglich um zusätzliche Etappen einer Verfolgung des geschlagenen Feindes
ergänzt hat. Hitlers »große« Lösung des Ostproblems hat also keine neuen
strategischen Überlegungen ausgelöst. Marcks rechnete damit, dass die Ent­
scheidung im Kampf gegen die Rote Armee bereits in der ersten Phase fallen
werde. Gegen den hinhaltend kämpfenden Feind, der sich auf seine alten Ver­
teidigungsstellungen zurückzieht, würde die Masse der Infanteriedivisionen
etwa drei Wochen brauchen, um eine Entfernung von 400 Kilometern zurück­
zulegen. Dabei müssten die Panzerdivisionen weit und schnell vorstoßen, um
die Bildung einer geschlossenen Verteidigungsfront zu verhindern. Hier sind
natürlich die Erfahrungen des Polen- und des Frankreichfeldzugs eingeflossen.
In der zweiten Phase stellte sich Marcks einen Kampf um die Waldgebiete
und Flussläufe in einer Tiefe von weiteren 200 Kilometern vor, der bis zu vier
Wochen dauern könne. Dabei werde entweder der »entscheidende Durchbruch
erzwungen, oder die schon im ersten Abschnitt auseinandergesprengten Teile
des russischen Heeres werden einzeln geschlagen«. In der dritten Etappe würde
es sich dann möglicherweise nur noch darum handeln, durch den Vorstoß
weniger schneller Verbände »die geschlagenen Russen am Laufen zu halten,
Moskau und Leningrad zu nehmen und weit in die Ostukraine hineinzustoßen«.
Wäre die Rote Armee noch mit größeren Teilen kampffähig, müssten die eige­
nen Kräfte eine Versorgungspause von drei bis sechs Wochen einlegen. Nach
Abschluss dieser Kämpfe würde die Verfolgung bis zum Don, zur Wolga und
zur nördlichen Dwina führen, was im Süden noch einmal eine Entfernung von
400 Kilometern, in der Mitte und im Norden bis zu 800 Kilometern bedeutete.

Nach der Einnahme von Charkow, Moskau und Leningrad wird es keine
geschlossene russische Wehrmacht mehr geben. Eine völlige Besetzung die­
ses Gebiets ist nicht möglich und nicht nötig. Schnelle Truppen und Inf. Div.
im Eisenbahnvormarsch werden diese Verfolgung in der Hauptsache zu leis­
ten haben. Zeitbedarf 2-4 Wochen.

173
Gesamtzeitbedarf des Feldzuges bis zum gesteckten Ziel mithin zwischen
9 und 17 Wochen.
Wenn die Sowjetregierung nicht stürzt oder Frieden schließt, kann es not­
wendig werden, noch bis zum Ural weiterzugehen. Wenn Rußland nach der
Zerschlagung seiner Wehrmacht und dem Verlust seiner wertvollsten euro­
päischen Gebiete auch nicht mehr zu aktiven Kriegshandlungen fähig ist,
kann es doch noch, gestützt auf Asien, auf unabsehbare Zeit im Kriegszu­
stande verharren.

Was aus heutiger Sicht wie abstruser militärischer Größenwahn aussehen


mag, kann nur vor dem Hintergrund der damaligen Vorstellungen eines Ost­
krieges als durchaus nüchternes Kalkül eines erfahrenen Generalstabsoffiziers
verstanden werden. Die Instabilität des Sowjetsystems und die Schwäche der
Roten Armee waren Ende der 1930er-Jahre scheinbar sichere Annahmen, nicht
nur in Deutschland. Dass Marcks glaubte, die Wehrmacht würde im Ostfeld­
zug nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ der Roten Armee überlegen
sein, war sicherlich einer allzu optimistischen Feindlagebeurteilung geschul­
det. Dem zeitgenössischen Kriegsbild und den Erfahrungen von 1917/18 ent­
sprechend saß die Vorstellung fest in den Köpfen, dass die Rote Armee nach
ersten schweren Niederlagen in einzelne Heerhaufen zerfallen und wie eine
geschlagene Kosakenschwadron durch die Lande gejagt werden könnte. Sta­
lin sowie die übrige sowjetische Führung in ihrer Handlungsfähigkeit derartig
zu unterschätzen mag man mit antibolschewistischen Klischees oder anderen
ideologischen Prägungen erklären,267 aus dem Blickwinkel von 1940 hatte die
UdSSR auch bei nüchterner Betrachtung ihre militärische Leistungsfähigkeit
noch nicht unter Beweis gestellt. Die Eindrücke vom polnischen und finnischen
Feldzug 1939/40 hatten die negativen Einschätzungen eher noch gestärkt.
Während der Chef des Generalstabs der 18. Armee im fernen Bromberg im
Stillen an seiner Studie arbeitete, konnte Gehlen die Heeresführung zu einer
spektakulären Vorführung begleiten. Am 2. August 1940, frühmorgens um
sechs Uhr, startete die erste Maschine mit Halder und Brauchitsch, eine zweite
folgte mit zahlreichen Offizieren aus den Fachabteilungen des OKH. Das Ziel
war die Insel Sylt, wo bei einer Landeübung verschiedene Behelfsfahrzeuge,
Rampen usw. vorgeführt wurden.268 Die Gespräche gingen bis in letzte tech­
nische und taktische Details. Spezielle Kurse für Generale und Truppenkom­
mandeure wurden angeordnet. Halder flog abends nach Flensburg, von wo aus
er seine Familie besuchte. Am nächsten Tag traf man sich nach einer Landung

267 Siehe etwa Hillgruber, Russlandbild.


268 Halder, KTB II, S. 53 (2.8.1940).

174
auf dem Flugplatz Rangsdorf zu Vorführungen auf dem Übungsplatz Wüns­
dorf mit ungesteuerten Artillerieraketen, wie sie später bei der Roten Armee
als Stalinorgeln bekannt wurden. Am Abend kehrte Halder, vermutlich mit
Gehlen, wieder nach Fontainebleau zurück. Dort setzten sich in den nächs­
ten vier Wochen die täglichen Besprechungen fort, angefüllt mit einer Vielzahl
von organisatorischen, operativ-taktischen, technischen und politischen The­
men, die fast alle auf die scheinbar bevorstehende Landungsoperation gegen
England ausgerichtet waren, mehrfach unterbrochen durch Tagesfahrten an
die Kanalküste, wo weitere Vorführungen bei den dort stationierten Truppen
stattfanden.
Außerdem gerieten Finnland und Rumänien zeitweilig ins Blickfeld, weil
Hitler dort Pressionen Stalins befürchtete. Der sowjetische Diktator konnte
angesichts der heftigen Kämpfe an der Kanalfront und scheinbar bevorste­
hender Landungsunternehmen glauben, der Zeitpunkt sei günstig, um sein
eigenes strategisches Vorfeld abzusichern und den alten Grenzverlauf von
1914 wiederherzustellen. Deshalb lag Hitler daran, durch militärische Maß­
nahmen unmissverständliche Signale auszusenden. Die finnischen Nickelerze
bei Petsamo und die rumänischen Ölfelder waren für die deutsche Kriegfüh­
rung unentbehrlich. Gehlen geriet auf diese Weise mit strategischen Feldern
in Berührung, die ihn im Falle Finnlands an seinen Besuch von 1937 erinnert
haben dürften; und im Falle Rumäniens deutete sich ein deutsches Eingreifen
auf dem Balkan an, das ihn wenige Monate später zur Entwicklung eines eige­
nen Operationsplans führen sollte.
Am 3. September 1940 traf der deutsche Militärattaché in Moskau, Gene­
ral der Kavallerie Ernst-August Köstring, in Fontainebleau ein. Das bei dieser
Gelegenheit entstandene Foto zeigt eine lockere Runde, in der sich Gehlen als
Major sichtbar wohlzufühlen schien. Die Geburt seiner zweiten Tochter Marie
Therese einen Tag später in Liegnitz verpasste der stolze Vater, der sich so sehr
mit seinen dienstlichen Aufgaben identifizierte, dass er kaum noch Zeit für
die Familie fand. Durch Köstrings Vortrag bei Halder269 erfuhr auch Gehlen,
dass die russische Armee wohl noch vier Jahre brauchen würde, um wieder ihr
früheres Niveau zu erreichen. Stalins »Säuberungen« mit der massenhaften
Ermordung von Spitzenmilitärs hatten im Offizierskorps der Roten Armee tiefe
Spuren hinterlassen. Man sprach im kleinen Kreis über die Bedeutung Bakus
sowie über Gelände- und Verkehrsbedingungen. Köstring war über die Absich­
ten Halders bereits gut informiert und hatte sich zuvor auch von Marcks in
dessen operative Studie einweisen lassen. Anders als Köstring nach dem Krieg
behauptete, hat die Frage Moskau offenbar keine große Rolle gespielt. Angeb­

269 Ebd., S.86 (3.9.1940).

175
Besuch des deutschen Militärattachés in Moskau General Ernst-August Köstring,
am 3. September 1940 in Fontainebleau; von links Gehlen, Köstring, Halder, vermutlich
Oberst i. G. Horst von Mellenthin als Chef der Attacheabteilung im OKH, 2. Adjutant
Roeder von Diersburg

lich habe er davor gewarnt, dass selbst nach dem Verlust Moskaus die sowje­
tische Kriegführung nicht zusammenbrechen würde. Halder hingegen setzte
darauf, dass Stalin Moskau um jeden Preis verteidigen würde, womit sich der
Wehrmacht die Chance eröffnen würde, die Masse der Roten Armee zu fassen
und zu zerschlagen. Obwohl Stalins Geheimpolizei den Spielraum des Militär­
attachés sehr einengte, übertrug Halder Köstring verschiedene Erkundungs­
aufträge, die von Moskau aus erledigt werden konnten. Es ist anzunehmen,
dass Gehlen bei dieser Gelegenheit zumindest eine Ahnung davon erhielt, dass
die deutsche militärische Aufklärung gegenüber der UdSSR sehr im Argen lag
und über keinerlei Informationen aus dem inneren Zirkel des Kreml verfügte.
Gedanken hat er sich darüber wohl kaum gemacht, denn es gehörte nicht
in seinen Zuständigkeitsbereich. Im Übrigen hatte es aus seiner Sicht sicher
keine Bedeutung, weil die Wehrmacht innerhalb von zwei Monaten in Moskau
einmarschieren sollte. Und Halder hatte seine eigene Art, mit unpassenden
Informationen umzugehen, wie die folgende Episode zeigt.
Eberhard Kinzel, der Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost, verwies am
10. September 1940 in seiner Beurteilung des Pripjet-Problems darauf, dass
die Führung der Roten Armee zwar davon überzeugt sei, diesen Raum auch
unter den Bedingungen der motorisierten Kriegführung nutzen zu können,

176
hielt die Russen aber für unfähig, Kräftekonzentrationen nördlich oder südlich
der Sümpfe zu schaffen.270 Später merkte sogar Hitler, dass hier ein Problem
dräuen könnte, und gab eine Studie in Auftrag. Fremde Heere Ost lieferte dazu
eine Zusammenstellung von Zitaten aus rasch zugänglicher Literatur. Halder
ließ den Entwurf überarbeiten. In der Hitler schließlich vorgelegten Endfas­
sung fehlte eine entscheidende Passage.
Zwar betonte auch der ursprüngliche Entwurf die Bedeutung der Pripjet-
Sümpfe als Hindernis für den Angreifer und die Möglichkeit, dass der Verteidi­
ger hier einen Kleinkrieg entfesseln könnte, doch verwies man zugleich darauf,
dass gestützt auf das Eisenbahnsystem ein Verteidiger Truppenverschiebun­
gen in alle Richtungen vornehmen könnte. Eine Bedrohung für Flanken und
Rücken der auf Moskau und Kiew zielenden Angriffskeile liege »sehr wohl im
Bereich der Möglichkeit«.271 Indem Halder diese Gefahr gegenüber Hitler wie­
derholt herunterspielte, stellte er seinen Operationsplan mit dem Schwerpunkt
Moskau sicher. Nicht zuletzt hieran sollte der Feldzug dann 1941 scheitern.
Im September 1940 hatten Halder und sein Adjutant offenbar einige Mühe,
den Überblick über die vielfältigen Tagesbesprechungen und Probleme zu
behalten. Am 5. September notierte Halder resigniert: »ein schrecklicher Tag.
Unbändig viel Kleinkram und qualvoll viel Papier!«272 Strategisch schien die
Gefahr zu wachsen, dass sich die deutsche Kriegführung verzettelte. Das hoch
riskante Landungsunternehmen gegen England stand bevor, die Vorausset­
zungen dafür, nicht zuletzt die geforderte Luftherrschaft über dem Kanal,
waren noch immer nicht gegeben; das politische schwierige Terrain des Bal­
kans geriet zunehmend ins Visier; für einen möglichen Einsatz in Nordafrika
waren Vorbereitungen zu treffen; der Dreimächtepakt mit Italien und Japan
stand vor dem Abschluss und eröffnete die globalen Perspektiven; in der lau­
fenden Umstellung der Rüstung musste das Heer darauf achten, dass ange­
sichts der Priorität von Luftwaffe und Kriegsmarine wenigstens der Bau von
Panzerkampfwagen forciert wurde – und vieles mehr. Der »Führer« suchte
händeringend nach einer Lösung, um England in die Knie zu zwingen. Russ­
land machte ihm keine Sorgen. »Was für uns praktischen Wert hat, haben wir
erreicht. Politisch und wirtschaftlich genügen die gewonnenen Basen.« Die
USA seien vor 1945 kein ernst zu nehmender möglicher Gegner und im Osten
sei die Sicherheit, kurzfristig jedenfalls, nicht gefährdet.273 Die Eroberung
von Gibraltar hätte vielleicht ein entscheidender Schlag gegen das Britische
Empire sein können, neben der laufenden Bombardierung der Insel selbst.

270 Chef Fremde Heere Ost, Beurteilung der Lage Rot, 10.9.1940, BA-MA, RH 20-18/46.
271 Siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 244.
272 Halder, KTB II, S. 89 (5.9.1940).
273 Ebd., S.98 (14.9.1940).

177
In diesem Zusammenhang traf Gehlen seinen alten Regimentskameraden
Wolfgang Langkau, später im BND einer seiner engsten Mitarbeiter, der am
29. September 1940 Halder seine persönlichen Eindrücke von der Felsenfes­
tung vortrug. Major Langkau gehörte zum Artillerie-Regiment 600, einer Spe­
zialeinheit schwerster Artillerie, und hatte sich Gedanken über eine mögli­
che Einnahme Gibraltars gemacht.274 Die Vorbereitung, so meinte er, würde
mindestens zwei Monate erfordern. Das Projekt wurde freilich immer wieder
verschoben, bis man es 1942 gänzlich einstellte. Am 17. September 1940 war
bereits das Unternehmen »Seelöwe« von Hitler abgesagt worden. Die vorbe­
reitete Landung in England fiel vorerst aus.
Anfang Oktober 1940 wollte Hitler Stalin den Beitritt zum Dreimächtepakt
anbieten und Außenminister Molotow einladen, um – wie im Vorjahr in Mos­
kau – nun in Berlin über eine Aufteilung von Interessensphären zu verhandeln.
Um die Planungen für den Osten hatte er sich bisher nicht sonderlich geküm­
mert. Auf Halder dagegen kamen in immer kürzeren Abständen Planungs­
schritte zu, die abgearbeitet werden mussten. In Ostpreußen begannen die
Arbeiten für den Bau eines weiteren Führerhauptquartiers, die spätere »Wolf­
schanze«. Das OKH musste sich also darum kümmern, in der Nähe ein eigenes
Quartier vorzubereiten. »Mauerwald« entstand als spartanisches Barackenla­
ger, das auch für Gehlen ab Juni 1941 für mehr als drei Jahre zum Lebens- und
Dienstort werden sollte.
Gehlens Zeit bei Halder lief Anfang Oktober 1940 ab. Der Chef des Gene­
ralstabs gönnte seinen Adjutanten bei dieser Gelegenheit eine kleine Frank­
reichrundreise. Nachdem Oberst i. G. Hermann Ochsner am Nachmittag des
4. Oktober bei Halder wieder einmal über die Möglichkeiten eines Gaskriegs
vorgetragen hatte, trat Halder mit den jungen Offizieren aus seiner Umgebung
am Abend eine Nachtfahrt von Fontainebleau nach Bourges an. Dort traf der
Sonderzug am Morgen ein. Der Chef wurde begleitet von seinem scheiden­
den 1. Adjutanten Gehlen, dessen Nachfolger Major i. G. Burkhart Mueller-
Hillebrand275 sowie dem 2. Adjutanten Oberleutnant Freiherr Roeder von
Diersburg und den Majoren Hans-Heinrich Worgitzky und von Rosenstiel, die
Frankreichsachbearbeiter der Operationsabteilung. Die Fahrt führte entlang
der Demarkationslinie zum unbesetzten Teil Frankreichs, galt der Organisa­
tion der Sicherungseinrichtungen und natürlich den militärgeografischen

274 Ebd., S. 113 (26.9.1940).


275 Mueller-Hillebrand blieb bis zum Frühjahr 1942 Adjutant Halders, übernahm dann die
Organisationsabteilung, wo ihm die Majore i. G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg
und Ulrich de Maiziere unterstanden; dann machte er hochdekoriert als Panzerkom­
mandeur Karriere an der Ostfront, schrieb nach dem Krieg einige Bücher über den Ost­
krieg und wurde schließlich militärischer Personalchef im Verteidigungsministerium.

178
Besonderheiten. Nach einem Besuch der französischen Waffenschmiede Le
Creusot traf man schließlich am Abend im burgundischen Weinbaugebiet
bei Dijon ein.276 Die Herren ließen es sich dann in »sehr anregender« Runde
beim Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C, Wilhelm Ritter von Leeb, gutge­
hen. Dass Gehlen sich, nun einmal entspannt, »wie Gott in Frankreich« fühlte,
kann man annehmen. Der zweite und letzte Tag der Herrentour führte zu den
Befestigungsanlagen von Beifort, an die Schweizer Grenze und zum Plateau
von Langres.
Ganz dienstlich und Vorbild für die jungen Generalstabsoffiziere an seiner
Seite, notierte Halder militärgeografische Beobachtungen und Geländebeur­
teilungen. Als Ranghöchster der Majorsgruppe, für den die Fahrt gleichsam
eine Belohnung zum Abschied gewesen sein mochte, hat Gehlen sicher jeden
Augenblick genossen. Seine Bemerkungen und Beobachtungen beruhten
immerhin auf jüngst erworbenen Geländekenntnissen, die er drei Monate
zuvor als Verbindungsoffizier Halders in diesem Raum hatte sammeln kön­
nen. Zurück in Fontainebleau, meldete er sich am nächsten Morgen um elf Uhr
beim Chef des Generalstabs des Heeres offiziell als Adjutant ab.
Major i. G. Reinhard Gehlen hatte damit seinen bislang wichtigsten Kar­
rieresprung erfolgreich absolviert. Nach seinem Jahr als Batteriechef im
Kasernendienst und dem folgenden kurzen Fronteinsatz in Polen bedeutete
die Rückkehr in das OKH die Festigung seiner angestrebten Verwendung im
engsten Kreis der Heeresführung. Als Referent für das Festungswesen arbei­
tete er in dieser defensiven Phase des Krieges – dem »Sitzkrieg« – in einer
Schlüsselposition als Führungsgehilfe bei vorwiegend organisatorischen Pro­
blemen. Hier waren keine größeren, im militärischen Sinne operativen Fragen
zu klären, aber er wurde in einen brisanten politischen Konflikt hineingezo­
gen, der sich zwischen der Heeresführung und dem Reichsführer SS entwi­
ckelt hatte. Das brutale und wilde Auftreten von SS und Polizei im besetzten
polnischen Gebiet provozierte Bedenken, teils sogar Empörung im Heer. Da
Halder und Brauchitsch ohnehin Meinungsverschiedenheiten mit dem »Füh­
rer« um die Offensivplanung West auszutragen hatten und Himmler sich auf
die Rückendeckung durch Hitler verlassen konnte, wollten sie den Konflikt
nicht eskalieren lassen. Bei der Suche nach einem Einvernehmen mit der SS
leistete Gehlen auf der fachlichen Ebene nützliche Dienste. Er verstand es,
das von Hitler geförderte SS-Projekt eines »Judenwalls« organisatorisch in
das Befestigungsprogramm des Heeres im Osten zu integrieren, was zugleich
heereseigene Baubataillone frei machte, um den dringenden Bedarf im Wes­
ten zu decken.

276 Dazu Halder, KTB II, S. 126 (5.10.1940).

179
Gehlen wird es als Erlösung betrachtet haben, als er mit Beginn des Angriffs
gegen Frankreich als einer der Verbindungsoffiziere des Generalstabschefs
dorthin geschickt wurde, wo die entscheidenden Schlachten geschlagen wur­
den. Es war für ihn, den gelernten Artilleristen und Festungsspezialisten, eine
dramatische Art von Weiterbildung in der modernsten Form des Bewegungs­
krieges. Gehlen erlebte an entscheidender Stelle den »Blitzkrieg« mit luftun­
terstützten Panzerkorps, ein Triumph schneller Entscheidungen und kühner
Angriffsoperationen. Als Verbindungsoffizier lernte er hautnah das Zusam­
menspiel der Operationsabteilung des Generalstabschefs und den Front-Ober­
kommandos kennen und einer Führung »am langen Zügel« durch die im Heer
übliche Auftragstaktik. Unauffällig und effizient erledigte er seine neue Aufga­
benstellung, was mit der Berufung zum 1. Adjutanten Halders belohnt wurde.
Damit rückte Gehlen in die unmittelbare Nähe zum Generalstabschef und
wurde mit dem Führungsprozess auf höchster Ebene vertraut. Als Adjutant
gelang es ihm durch unermüdlichen Arbeitseifer und eine verständnisvolle
Anpassungsbereitschaft, das persönliche Vertrauen seines Chefs zu gewinnen.
In der wechselhaften Planungs- und Entscheidungsphase nach dem Sieg über
Frankreich, zwischen verwaltungsmäßiger Routine und dem Ringen um die
künftige Strategie der deutschen Kriegführung, erlebte Gehlen, wie sich aus
älteren Schubladenplänen und neuen Anstößen die Idee eines weiteren Feld­
zugs entwickelte, der bald alle bisherigen Dimensionen übertraf und zur Ent­
scheidungsschlacht des Zweiten Weltkriegs führte.

6. Planung und operative Führung des Unternehmens


»Barbarossa« (1940/41)
Wie sehr Halder Gehlens Talente schätzte, zeigte sich darin, dass er ihm als
nächste Verwendung die Leitung der Gruppe Ost in der Operationsabteilung
übertrug. Damit erfüllte sich für Gehlen ein lang gehegter Traum, seit er 1936
für bereits einmal wenige Monate in der Operationsabteilung gearbeitet hatte.
Und er hatte nicht irgendein Arbeitsfeld in der militärischen Kriegführung aus­
zufüllen, sondern übernahm Mitverantwortung für die Ausarbeitung eines der
größten Unternehmen der Kriegsgeschichte. Es ging um die Operation »Bar­
barossa«, den Angriff gegen die Sowjetunion. Gehlen war zu nüchtern und zu
sachlich, um sich gleich als zweiter Napoleon zu fühlen, aber dass er im Okto­
ber 1940 eine Schlüsselposition mit traumhaften Karrierechancen besetzte,
dürfte ihm klar gewesen sein.
Fast vier Jahrzehnte später meinte er noch, man hätte den Feldzug »ohne
weiteres gewonnen, wenn er richtig geführt worden wäre«, und zwar nach
Clausewitz’schen Gesichtspunkten, also keine Geländestrategie verfolgen,

180
sondern zunächst die gegnerischen Kräfte schlagen. Das hätte in diesem Falle
geheißen, durchzustoßen bis Moskau, um das wirtschaftliche, politische und
verkehrsmäßige Zentrum in die Hand zu bekommen. Dann hätte man den
Krieg politisch fuhren müssen mit dem Ziel, Russland vom Kommunismus zu
befreien. Die deutschen Truppen seien ja beim Überschreiten der Grenze von
der Bevölkerung mit offenen Armen begrüßt worden. Für Hitler sei das aber
nur Propaganda gewesen.277 Gehlen teilte also, trotz ihres Scheiterns 1941,
auch Jahrzehnte später völlig die ursprüngliche Konzeption Halders.
Während der Diktator im Herbst 1940 noch verschiedene strategische
Ansätze verfolgte, um den einzig verbliebenen Gegner, Großbritannien, zum
Aufgeben zu zwingen (Verschärfung des Bombenkrieges, Eingreifen im Mittel­
meerraum und Ausweitung seines Bündnissystems), und im Reich fast friedens­
ähnliche Zustände herrschten, betraute Halder mit Gehlen und Paulus zwei
seiner tüchtigsten Mitarbeiter mit einer neuen Aufgabe. Beide hatten sich nun
um die Abstimmung der vorliegenden operativen Entwürfe zu kümmern, die
zunächst beim AOK 18 entstanden und dann zunehmend von den anderen für
den Osten vorgesehenen Stäben (schließlich drei Heeresgruppen mit insgesamt
zwölf Armeen) erweitert wurden. Daraus ergab sich ein immenser Klärungsbe­
darf etwa hinsichtlich der Trennungslinien zwischen den Großverbänden und
der Abstimmung von Verkehrslinien. Das wurde für Gehlen in den nächsten
Wochen ein Hauptbetätigungsfeld. Die benachbarte Gruppe West koordinierte
inzwischen die laufende Kriegführung gegen Großbritannien. Sie hatte zugleich
Vorbereitungen zu treffen für die Überführung von in Frankreich stationierten
Verbänden nach dem Osten, die eventuelle Besetzung Rest-Frankreichs, den
möglichen Einmarsch in Spanien und Täuschungsaktionen gegen England, ins­
gesamt vielfältige und spannende Aufgaben der eingespielten Gruppe.
Die neue Ostgruppe dagegen musste sich auf ihrem Feld erst einarbeiten.
Oberst i. G. Adolf Heusinger, bisher Erster Generalstabsoffizier der Operations­
abteilung, seit Mitte Oktober Abteilungschef, leitete im Prinzip beide Gruppen,
doch war er mit den laufenden Problemen Gibraltar und Nordafrika eigent­
lich vollauf beschäftigt. Diese Personalie macht noch einmal deutlich, welche
Persönlichkeiten Halder als Zuarbeiter bevorzugte. Heusinger war zweifellos
schon zu diesem Zeitpunkt ein gewisses Vorbild für Gehlen, der seinem neuen
Chef nach Kriegsende verbunden blieb, ihn in seiner Organisation vorüber­
gehend unterbrachte und ihm den Neustart in der Bundeswehr ermöglichte.
Heusinger war nur fünf Jahre älter als Gehlen, hatte aber noch im Ersten
Weltkrieg gedient. Seit 1937 in der Operationsabteilung hatte er großen Anteil
an der bisherigen operativen Planung des Generalstabs gehabt, geschult an

277 Gehlen im MGFA-Interview, 26.10.1976, S. 42, BND-Archiv, N 13/2.

181
den Vorgesetzten Beck, Manstein und Halder. Es gelang ihm, in jeder Situa­
tion Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen, und er war als Vorgesetzter seiner
Handvoll Zuarbeiter freundlich und hilfsbereit. Zu ihnen zählte Ulrich de Mai­
ziere, der Heusinger so charakterisierte:

Sein scharfer analytischer Verstand, die nüchterne Präzision seines Denkens,


das frei von jedem Pathos und Wunschdenken war, seine Integrität, seine
persönliche Bescheidenheit und natürliche Würde gaben seinem Auftreten
Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Er konnte aufmerksam und gedul­
dig zuhören, Ratschläge anhören und prüfen. Immer war er beherrscht, nie­
mals habe ich ihn laut oder erregt erlebt; ja, er verabscheute es, mit der Faust
auf den Tisch zu schlagen, was dynamische und robustere Truppenführer
gelegentlich bei ihm vermißt haben mögen.278

Jetzt unterstand ihm also Gehlen als Gruppenleiter, zwei, die sich ähnlich
waren, in einer von allen als angenehm empfundenen Arbeitsatmosphäre,
wie sie Halder schätzte. Für die Nachfolge Heusingers als Erster General­
stabsoffizier der Operationsabteilung setzte Halder den Major i. G. Helmuth
von Grolman ein, dessen »wohltuende Ruhe« er in der Winterkrise 1941/42 zu
schätzen wusste.279 Den Kandidaten Henning von Tresckow, später einer der
aktivsten Männer des militärischen Widerstands, hatte Halder abgelehnt, weil
dieser sich für den »Nabel der Welt« zu halten schien.280 Und der Kavallerist
Westphal, Gehlens früherer Kamerad und größter Konkurrent an der Kriegs­
akademie, war inzwischen doch zu sehr vom Truppendienst geprägt, um für
den Posten infrage zu kommen. Gehlen wird froh gewesen sein, dass ihm der
selbstbewusste Konkurrent von damals nicht vor die Nase gesetzt, sondern
zur deutsch-französischen Waffenstillstandskommission abgeschoben wurde.
So konnte er sich seit Oktober 1940 in aller Ruhe in das neue Aufgabengebiet
einarbeiten.
Gehlen machte auch hier schnell die Erfahrung, dass man besser auf die
Einhaltung der Dienstwege und Zuständigkeiten achtete und sich aus politi­
schen Zusammenhängen möglichst heraushielt. So notierte Halder in seinen
Aufzeichnungen zum 24. Oktober 1940, dass Gehlen von einem »gereizten
Briefwechsel« berichtete, den er mit Oberstleutnant Franz Eccard von Bentive­
gni geführt habe, dem Chef der Abteilung III (Spionageabwehr und Gegenspio­

278 Zit. nach: Georg Meyer: Adolf Heusinger. Dienst eines deutschen Soldaten 1915 bis 1964,
Hamburg 2001, S. XIV.
279 Grolmann war bei Kriegsende Generalleutnant und von 1959 bis 1961 erster Wehrbeauf­
tragter des Deutschen Bundestages, siehe ebd., S. 144.
280 Zit. nach: ebd.

182
nage) innerhalb der Amtsgruppe Abwehr im OKW.281 Gegenstand des Disputs
waren angebliche Übergriffe der Abteilung Heerwesen beim Oberquartier­
meister IV in den Bereich Canaris’. Der Anlass des Streits zwischen zwei Abtei­
lungen von OKH und OKW ist nicht überliefert, doch Gehlen hatte hier mit
Sicherheit nichts verloren.
Bei seiner Aufgabe, als Gruppenleiter Ost die Lagekarte Ost zu führen,
waren – solange der Friedenszustand mit der UdSSR andauerte – keine größe­
ren täglichen Veränderungen zu notieren. So dürfte Gehlen vor allem Paulus
zugearbeitet haben, der als der eigentliche Schöpfer des Plans »Barbarossa«
gilt. Der Major i. G. Gehlen, bisheriger Adjutant Halders, befand sich nach
der militärischen Hierarchie natürlich nicht in der Situation, einen Opera­
tionsplan für das größte Unternehmen des Krieges entwerfen zu dürfen und
sich auf Augenhöhe mit jenen auseinanderzusetzen, die bereits individuelle
Studien vorgelegt hatten oder daran arbeiteten; das waren neben Generalma­
jor Marcks vom AOK 18 Oberstleutnant Loßberg vom OKW und General der
Infanterie Georg von Sodenstern, Chef des Generalstabs der künftigen Hee­
resgruppe Süd.
Halder hatte Generalleutnant Friedrich Paulus im September 1940 in die
Position des Oberquartiermeisters I gebracht, eine »nicht ressortmäßig gebun­
dene Dienststelle zur unmittelbaren, freien Verfügung des Chefs des General­
stabs«. Paulus ersetzte den erkrankten Carl-Heinrich von Stülpnagel. Dieser
galt als dezidierter Hitler-Kritiker und war Halder vielleicht auch deshalb läs­
tig geworden. Paulus hingegen empfahl sich als hochbegabter Operateur und
Spezialist der Panzerwaffe sowie als unpolitischer Nur-Soldat. In ihm fand
Halder bei häufigen nächtlichen Erörterungen einen kongenialen Gesprächs­
partner. Der Kontakt erstreckte sich bald auch auf gegenseitige familiäre Ein­
ladungen – eine Vertraulichkeit, die schon wegen der Altersdifferenz und des
Unterschieds im Dienstgrad zwischen dem zwölf Jahre älteren Paulus und
Gehlen nicht denkbar gewesen ist.
Paulus, der soziale Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, verheiratet mit
einer rumänischen Prinzessin, extrem eitel und ehrgeizig, groß gewachsen,
hager, sportlich, bot äußerlich ein Gegenbild zu Gehlen, war ihm aber im Hin­
blick auf Dienstauffassung und Fähigkeiten nicht unähnlich: ein unermüdli­
cher Stabsarbeiter und begnadeter Analytiker, seinem jeweiligen Vorgesetz­
ten stets ein williger Gehilfe. Im Frühjahr 1942, als Gehlen Leiter von Fremde
Heere Ost wurde, übernahm Paulus, der bereits als Chef des Wehrmachtfüh­
rungsstabes vorgesehen war, die 6. Armee, um die nötige Einsatzerfahrung zu
erwerben. Paulus ging mit seiner Armee in Stalingrad unter, eine Katastrophe,

281 Halder, KTB II, S. 147 (24.10.1940).

183
an der Gehlen im fernen Ostpreußen seinen Anteil hatte, wie wir noch sehen
werden.
Ab Oktober 1940 kümmerte sich Paulus also, neben zeitweiligen Überlegun­
gen zum Einsatz in Libyen, voller Eifer um die Koordinierung der Planung für
»Barbarossa«. Dazu arbeitete er eng mit der Operationsabteilung zusammen,
vor allem mit Gehlen, sehr zum wachsenden Unbehagen von Heusinger, der
den Sonderauftrag von Paulus als eine aus seiner Sicht unnötige Konkurrenz
betrachtete. Das OKH war inzwischen von Fontainebleau nach Zossen bei Ber­
lin zurückverlegt worden, in die riesige moderne Bunkeranlage »Maybach I«
in der märkischen Einöde. Paulus, ein ruheloser Nachtarbeiter, nahm abends
sogar Planungsunterlagen, vor allem Kartenmaterial, mit in seine Berliner
Wohnung. Das führte zu Diskussionen mit seiner Frau, die Hitler und den Nati­
onalsozialismus verachtete. Aus sittlicher und religiöser Überzeugung lehnte
sie einen möglichen Krieg gegen Russland eindeutig ab.282 Paulus verstand
durchaus die Einwände seiner Frau, aber er blendete politische Verantwor­
tung aus seinem militärischen Handeln aus. Gestützt auf die Einschätzungen
von Kinzel über die Kräfte der Roten Armee, hielt er einen Feldzug gegen die
UdSSR für aussichtsreich.
Gehlen, der Paulus mit den notwendigen Materialien versorgte, hat später
nie ein Wort über seine Zusammenarbeit mit Paulus verloren. Nach dessen
Scheitern in Stalingrad und der Bereitschaft von Paulus, sich Stalin für Propa­
gandazwecke zur Verfügung zu stellen, galt dieser in Pullach als Verräter. Aber
die aufregenden Monate der Vorbereitung des Überfalls auf die UdSSR bedeu­
teten für Gehlen ohnehin nur selbstlose Zuarbeit für den Stellvertreter Hai­
ders. Seine Familie im fernen Schlesien damit zu behelligen dürfte ihm kaum
in den Sinn gekommen sein. Während Paulus mit seinen Söhnen diskutieren
konnte, die bereits als Leutnants in der Truppe waren, hatte Gehlen zu Hause
drei Kinder, die am Wochenende gern mit ihm spielten, und eine Ehefrau, die
sich für seine dienstlichen Aufgaben nicht sonderlich interessierte und keine
Neigung hatte, mit ihm über Politik zu sprechen.
Aus einem ersten Kräfteansatz für den Aufmarsch Ost entwickelte Pau­
lus sein Konzept, das er am 29. Oktober im OKH vortrug.283 Seine für Hai­
der angefertigte Denkschrift ist verschwunden – zum Glück für den späteren
Protege der DDR-Propaganda. Einen Tag zuvor, am 28. Oktober, hatte der
überraschende Einmarsch der Italiener in Griechenland im OKH für hekti­
sche Nervosität gesorgt. Halder rief das Gespann Paulus-Gehlen zu sich und
erteilte den Auftrag, neue Überlegungen zur veränderten Lage anzustellen.

282 Siehe Diedrich, Paulus, S. 162.


283 Halder, KTB II, S. 155 (29.10.1940).

184
Er konnte nicht ahnen, dass sich der »Duce« auf ein Abenteuer eingelassen
hatte, das sich bald zu einer Katastrophe für die italienische Armee entwi­
ckeln sollte, und das parallel zu Niederlagen gegen die Briten in Nord- und
Ostafrika.
Halder ging davon aus, dass die Italiener die griechische Armee überwälti­
gen würden, was der Achse die Möglichkeit eröffnen würde, die Briten – nach
der Wegnahme von Gibraltar – aus dem Mittelmeer gänzlich zu vertreiben
und dem Feind auch den Mittleren Osten als Basis seiner Kriegführung zu
entreißen. Ein solcher Schlag hätte womöglich Großbritannien zum Aufgeben
bewegen und nicht zuletzt Deutschland eine strategisch günstige Position ver­
schaffen können, um die UdSSR in die Zange zu nehmen bzw. Stalins Expan­
sionsdrang zu zügeln.
Halder dachte jedenfalls daran, das von Paulus bereits vorbereitete deut­
sche Eingreifen in Libyen auf Ägypten auszudehnen und durch eine zusätzli­
che Operation aus Bulgarien heraus zu unterstützen, die über den Bosporus
ins nördliche Syrien zielen sollte. Die Vorgaben für die Durchführung laute­
ten: zwei motorisierte Korps und drei Monate Zeit.284 Dass die Türkei – anders
als im Ersten Weltkrieg – keinerlei Neigung für ein Zusammengehen mit dem
Reich zeigte, konnte bei dieser rein militärischen Planungsaufgabe zunächst
außer Betracht bleiben. Notfalls würde ein bloßes Durchmarschrecht für die
Deutschen ausreichen. Es war durchaus eine strategische Alternative zu »Bar­
barossa«, wie sie auch die Marineführung anstrebte, die dem Heer schon jetzt
eine Betätigungsmöglichkeit bot und einer gewissen Langeweile in der Heeres­
führung entgegenwirken konnte. Gehlen hat sich mit einer solchen Variante
intensiv beschäftigt, bis sie ein halbes Jahr später, im April 1941, zumindest
teilweise realisiert wurde.
Während im Oktober/November die Ostplanung erst in Umrissen erkenn­
bar war, stieß man im OKH bei den anderen Projekten immer wieder auf grö­
ßere Schwierigkeiten. Der »Führer« selbst schien unschlüssig zu sein. Seine
Gespräche mit Spaniern und Franzosen blieben ergebnislos. Vor einem Ein­
satz gegen Gibraltar türmten sich logistische und vor allem politische Pro­
bleme, da Spanien und Portugal britische Gegenreaktionen befürchteten
und auf die deutschen Wünsche nach Unterstützung nur hinhaltend reagier­
ten. Auch die deutsche Luftkriegsführung gegen Großbritannien machte,
so berichtete Admiral Canaris Anfang November nach einem Gespräch mit
Göring, den »Eindruck völliger Planlosigkeit«.285 Zwei Wochen später legte
die Luftwaffe das industrielle Zentrum von Coventry in Schutt und Asche,

284 Ebd., S. 153 (28.10.1940).


285 Ebd., S. 159 (2.11.1940).

185
während zur gleichen Zeit der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw M.
Molotow in Berlin mit Hitler über eine weitergehende Verständigung verhan­
delte.
Halder hatte also allen Grund, vom »Führer« eine Entscheidung zu erbit­
ten über »die großen Absichten, denen die Vorbereitungen des Heeres dienen
sollen«.286 »Zweck aller militärischen Handlungen wird sein müssen, den Eng­
länder zur Erkenntnis zu bringen, dass er den Krieg verloren hat.« Von dieser
Prämisse geprägt, lautete sein Urteil für den Vortrag des Gibraltarprojekts:
»nicht einfach, aber sicher lösbar«. Im östlichen Mittelmeer seien die Probleme
erheblich schwieriger. Viel würde von der Zielsetzung abhängen: Wollte man
nur die Briten bis zum Suezkanal zurückwerfen oder den Kanal und Ägypten
erobern, was sehr viel mehr Kräfte und eine entsprechende Logistik erfordern
würde? Das könnte bis zum nächsten Herbst dauern. Ein Angriff mit Mitteln
des Heeres im östlichen Mittelmeer über Anatolien und Syrien, wie er von Pau­
lus und Gehlen bearbeitet wurde, sei gedanklich geprüft und könne jederzeit
dem »Führer« vorgetragen werden. Rein militärische Unterlagen hatte ihm
Gehlen bereits mitgegeben. Halder wollte von Hitler deshalb zunächst eine
Klärung der politischen Voraussetzungen. Im Übrigen wäre eine Operation
gegen den Orient so zeitaufwendig, dass – so vermutete Halder – Luftwaffe
und Kriegsmarine im Kampf gegen die Britischen Inseln wahrscheinlich schon
entscheidende Erfolge erzielt haben würden. Gemeint war die Operation »See­
löwe«, die noch immer in Vorbereitung war.
Die von Halder erhoffte eindeutige politische und strategische Festle­
gung durch Hitler erfolgte zunächst nicht. Die Erkundung in Libyen durch
Generalmajor Wilhelm Ritter von Thoma und die negativen Eindrücke über
Leistungsfähigkeit und -bereitschaft des italienischen Bundesgenossen ver­
anlassten Hitler, Nordafrika zunächst abzuschreiben.287 Stattdessen setzte er
auf die Karte Spanien und dachte daran, wegen des britischen Eingreifens in
Griechenland einen möglichen Entlastungsangriff zugunsten der schwer in
Bedrängnis geratenen Italiener aus Bulgarien heraus zu fuhren, was für Gehlen
einen neuen, kleineren Ansatz bedeutete. Auch hierbei blieb die politische Hal­
tung der Türkei ein offenes Problem. Hitler konnte sich einerseits vorstellen,
Ankara mithilfe der russischen Ambitionen auf den Bosporus unter Druck zu

286 Ebd., Notizen Halders für den Vortrag bei Hitler am 2.11.1940, daraus auch die folgen­
den Zitate. Nach Angaben des Herausgebers handelt es sich hierbei um eine Anlage
zum KTB, die nach 1950 wieder aufgefunden worden sei. Das eigentliche KTB mit dem
üblichen Anlageband scheint also, wie sich hier andeutet, für einige Zeit verschwunden
gewesen zu sein.
287 Ebd., S. 162-163 (3./4.11.1940).

186
setzen, andererseits zog er es vor, Russland als Machtfaktor auszuschalten und
»bereit zu sein zur großen Abrechnung«.288
Es wurde aus dieser Sicht allmählich Zeit, sich die entsprechenden Planun­
gen des OKH vortragen zu lassen. Doch Hitler wollte zunächst den Besuch
Molotows abwarten, weil sich die strategische Lage wieder ändern könnte,
falls es gelänge, die UdSSR gegen Großbritannien in Stellung zu bringen. Zur
Absicherung der an der Ostgrenze bereits aufmarschierten Verbände gegen
denkbare Überraschungen waren jedenfalls genügend Vorkehrungen getroffen
worden. Die früher von Gehlen überwachten Arbeiten zu einem Ostwall waren
zwar nur zu einer vorbereiteten Sicherungslinie gediehen, schienen gleichwohl
ausreichend zu sein.289
Am 7. November hatte Gehlen Gelegenheit, in Anwesenheit seines Chefs
Heusinger den Operationsentwurf für einen Angriff aus Bulgarien gegen Nord­
ostgriechenland bei Halder vorzutragen. Der Zeitbedarf für Antransport und
Aufmarsch, so gab er zu bedenken, würde davon abhängen, ob die Bahnlinie
durch das neutrale Jugoslawien über Nis verfügbar wäre. Anderenfalls bräuchte
man statt sechs Wochen zehn. Als Führungsstab käme das XXX. Armeekorps
infrage, das bei der Heeresgruppe B in Frankreich freigemacht werden könnte.
An Kräften seien sofort die 6. Gebirgs-Division sowie das Gebirgsjäger-Regi­
ment 100 und die 164. Infanterie-Division verfügbar. Das Nachrichten-Regi­
ment Kleist sei erst in vier Wochen einsatzbereit.290 Die bereits in Rumänien
eingesetzten »Lehrtruppen«, die als Ausbildungshilfe der rumänischen Armee
im Land waren, dienten dem Schutz der kriegswichtigen Ölquellen. Auf sie
konnte man nicht zurückgreifen. Der Chef der Transportabteilung General­
leutnant Rudolf Gercke präzisierte anschließend Gehlens Angaben über den
Anmarsch dahingehend, dass ohne die Strecke über Nis der Aufmarsch nach
Bulgarien nur einen Tag länger dauern würde, man müsste die Truppen dann
aber an der Donau ausladen und bräuchte viel Zeit, um von dort zum Einsatz­
raum zu gelangen.291
Wie wenig man im OKH über die örtlichen Verhältnisse wusste, zeigt der
Umstand, dass Kinzel als Chef von FHO Mitte November 1940 persönlich nach
Bulgarien reiste, um sich ein Bild zu machen. Unterdessen besprach sich Paulus
mit Halder über die Grundlagen der möglichen Ostoperation, zu der ebenfalls
noch keine politischen Weisungen ergangen waren. Für die Operationsziele
sollte Paulus schon einmal eine Planskizze anfertigen, die beim nächsten Füh­

288 Ebd., S. 165 (4.11.1940).


289 Ebd., S. 169 (7.11.1940), Unterrichtung Halders durch General Wilhelm Ulex, Befehlsha­
ber im Wehrkreis I (Ostpreußen) über den Stand der Landesbefestigung.
290 Ebd., S. 170 (7.11.1940).
291 Ebd., S. 173 (8.11.1940).

187
rervortrag Verwendung finden sollte.292 Derweil stimmte sich Gehlen hinsicht­
lich der Südostoperation mit seinem Chef Heusinger ab und trug zum Stand
der deutschen Kräfteverteilung in Rumänien vor.293
Die Gespräche mit Molotow verliefen für Hitler unbefriedigend, und da die
sowjetische Seite ihr Interesse an den Dardanellen unverblümt zum Ausdruck
gebracht hatte, sorgte er sich auf dem Berghof um den Kräfteansatz für eine
Südostoperation. Er ließ Heusinger mitteilen, dass er eine weitere Panzerdi­
vision in Rumänien stationieren und für Mazedonien insgesamt sogar zwölf
Divisionen bereitgestellt wissen wollte, was Halder den Eindruck vermittelte:
»Russische Operation wird anscheinend gedanklich zurückgestellt.«294 Aller­
dings waren die Planungen für »Barbarossa« ohnehin auf Mai 1941 abgestellt.
Wenn die Bulgaren nun wissen ließen, dass vor Ende Februar in ihrem Raum
nichts zu machen sei, dann war der Zeitplan für einen möglichen Überfall auf
die UdSSR zwar nicht gefährdet, aber die prekäre militärische Situation der
Italiener, die von den Griechen nach Albanien zurückgeworfen worden waren,
und der britische Aufmarsch in Griechenland gaben doch Anlass zur Nervosi­
tät auf deutscher Seite.
Gehlen musste jetzt den Aufmarsch in Bulgarien neu durchrechnen und
trug Halder am 20. November 1940 das Ergebnis vor, zwei Tage bevor der
rumänische Staatschef Mihai Antonescu in Berlin eintraf und den Beitritt
seines Landes zum Dreimächtepakt erklärte.295 Am 25. November trug Geh­
len bei Halder seinen modifizierten Entwurf für den Aufmarsch Südost vor.
Das Ergebnis müsse noch einmal überprüft werden, wie der Generalstabschef
mitteilte, weil die politische Führung eine höhere Sicherheit gegenüber Grie­
chenland fordern werde. Gehlens Entwurf sah vor, die Truppen in Rumänien
auszuladen und dann antreten zu lassen. Die Vorbereitung sollte vom 7. bis
zum 25. Dezember dauern. Die I. Staffel würde dann zwischen dem 26. Dezem­
ber und dem 15. Januar herangefahren werden und am 16. Januar antreten
können. Die motorisierten Verbände würden die Südgrenze Bulgariens am
23. Januar 1941 erreichen, zwei Infanterie- und zwei Gebirgsdivisionen am
4. Februar. Angriffsbeginn wäre dann der 11. Februar 1941, was mit Rücksicht
auf die geplanten Ostoperationen ausreichend Zeit ließ.296
Halder zeigte sich durch die Unentschlossenheit Hitlers verunsichert. Er
notierte:

292 Ebd., S. 178 (13.11.1940).


293 Ebd., S. 179-180 (14.11.1940).
294 Ebd., S. 188 (18.11.1940).
295 Ebd., S. 190 (20.11.1940).
296 Ebd., S. 193(25.11.1940).

188
Im Ganzen zeigt dieser Tag wieder die Fülle von unnötiger Arbeit, welche
dem Generalstab zugemutet wird durch fehlende klare Führung vom OKW.
Was man eigentlich in Bulgarien will, wird nicht befohlen, aber um Truppen­
stärken, sogar um einzelne Truppenverbände wird herumgeredet. Die ganze
bulgarische Unternehmung verspricht keinen durchschlagenden Erfolg
gegen England. Auf diesen kommt es aber doch an.

Da war es aus Halders Sicht schon erfreulich, dass sich der »Führer« plötzlich
wieder für das Unternehmen »Seelöwe« zu interessieren schien. Damit würde
man England schließlich am sichersten treffen. Spanien und Bulgarien zeigten
sich immer noch nicht bereit, sich in den Krieg hineinziehen zu lassen.297
Als Leiter der Ostgruppe in der Operationsabteilung brauchte auch Geh­
len allmählich klare Perspektiven für seine weitere Arbeit. Kinzels Bericht aus
Bulgarien trübte die Aussichten dort ganz erheblich. Man rechnete in Sofia mit
einem unerwünschten Eingreifen der Türkei, womöglich russischen Anlandun­
gen in Burgas und Varna. Die Armut des Landes würde außerdem einen länge­
ren Krieg wie 1914 bis 1918 nicht aushalten. Deutsche Stäbe könnte man noch
unterbringen, die Truppen aber nicht. Das Straßennetz sei sehr begrenzt und
kurvenreich und außerdem würde man bis Mitte April mit Schneeverwehun­
gen zu rechnen haben. Einen Schneepflug hatten die Bulgaren nicht. Zudem
sei auf griechischer Seite mit Befestigungsanlagen zu rechnen.298 Damit könn­
ten sich Gehlens tabellarische Berechnungen rasch als Makulatur erweisen.
Dieser war sich der größeren Zusammenhänge durchaus bewusst. Am
27. November trug er Heusinger das Ergebnis der Planspiele über die bulga­
rische Frage vor, die er intern veranstaltet hatte. Um vor Angriffsbeginn den
Aufmarsch abzusichern, reichten sechs Divisionen aus. Der Antransport
würde gegenüber der ursprünglichen Planung nur vier Tage länger dauern.
Mit Schwerpunkt bei der Westgruppe des Angriffs könnte dann bei weiterem
Kräftebedarf alle zwei Tage eine weitere Division herbeigeschafft werden.
Dass Gehlen sich bei seiner Vorbereitung keineswegs auf die Bulgarienopera­
tion beschränkt hatte, zeigt seine Einlassung, bei einer spanischen und einer
Balkanoperation müsse mit erheblichen Auswirkungen auf das russische Pro­
blem gerechnet werden. Der Kräfteverbrauch würde dazu zwingen, einerseits
das Unternehmen »Seelöwe« aufzugeben und andererseits die Operation
gegen die UdSSR auf das erste Angriffsziel zu beschränken, also auf Erreichen
der Dnjepr-Linie. Von dieser aus könnte man dann zwar zu einer weiteren
Umklammerung der Roten Armee kommen, das hätte aber bei der »unendli­

297 Ebd., S. 194 (25.11.1940).


298 Ebd., S. 195 (26.11.1940).
chen Weite der Räume keine Aussicht« auf Erfolg.299 Es war eine bemerkens­
wert weitsichtige und realistische Einschätzung, mit der Gehlen alleinstand,
denn es bedeutete, den Auftrag des »Führers« für eine Zerschlagung Russlands
im gleichen Atemzug tendenziell infrage zu stellen. Wie wir sehen werden, ließ
Halder die Planung nach dem Erreichen des Dnjepr einfach offen, weil ihm
die Konzentration auf den Schlag Moskau wichtiger erschien. Das führte dann
Mitte August 1941 zu einem schwerwiegenden Streit zwischen der Heeresfüh­
rung und Hitler, der mit der Entscheidung des Diktators endete, den Schwer­
punkt nach Süden über den Dnjepr hinweg zu legen – ein Streit, der Gehlen
erheblich beschäftigen sollte und auch nach seiner Meinung zum Scheitern
des Unternehmens »Barbarossa« führte.300
Bei dem Planspiel, das Paulus am 29. November im OKH für den Ostfeldzug
veranstaltete, blieben Gehlens angedeutete Bedenken unbeachtet. Es sollte
sich ein halbes Jahr später zeigen, dass es außerdem ein Irrtum war zu meinen,
man könne mit geringen Kräften auf dem Balkan und in Nordafrika aktiv wer­
den, ohne den Ansatz zu »Barbarossa« wesentlich zu schwächen. Das Errei­
chen der operativen Ziele machte die eingesetzten Verbände keineswegs frei
für den Osten. Der erweiterte deutsche Machtbereich band vielmehr zur Siche­
rung gegen den britischen Gegner, der als seebeherrschende Macht jederzeit
und an jedem Ort zuschlagen konnte, nicht unbeträchtliche Kräfte. Nicht zu
unterschätzen war außerdem die Gefahr, dass sich wie im Ersten Weltkrieg
auf dem Balkan eine englische Front bilden bzw. dass Stalin seine strategi­
sche Position in diesem Raum verbessern und damit einen späteren deutschen
Angriff erschweren könnte. Die Überlegungen Moskaus, mit der bulgarischen
Regierung einen Beistandspakt abschließen zu wollen und Stützpunkte am
Bosporus zu pachten,301 signalisierten, dass die deutsche Kriegführung tat­
sächlich nicht daran denken konnte, weiterreichende Operationen in den Mitt­
leren Osten ins Auge zu fassen.
Halder hatte Zweifel, ob die parallel im OKW laufenden Planungen, not­
falls einen Krieg gegen die Türkei zu riskieren, um eine Operation Bulgarien/
Griechenland führen zu können, aufgehen würden. Der »Führer« habe ihm, so
notierte er, bei der letzten Unterredung erklärt, an die Meerengen könne man
erst gehen, wenn Russland geschlagen sei. Halder interpretierte das so, dass
man tunlichst einen Konflikt mit der Türkei vermeiden müsse, solange die
UdSSR als Machtfaktor in der Region in Rechnung zu stellen war. Wolle man
eine andere Richtung einschlagen und die Türkei ausschalten, dann müsse

299 Ebd., S. 198 (27.11.1940).


300 Siehe unten S. 223.
301 Halder, KTB II, S. 207 (3.12.1940).

190
Aufmarschanweisung für das Unternehmen »Barbarossa«

191
man das russische Ziel zurückstellen.302 Es zeigte sich, dass militärisch-ope­
rative Planungen, wie sie Gehlen beschäftigten, nicht im politisch luftleeren
Raum stattfinden konnten.
Bei einer Besprechung zwischen Halder, Brauchitsch und Hitler am
5. Dezember 1940 sollten die Vorhaben endlich geklärt werden.303 Es blieb aber
im Wesentlichen bei den bisherigen Planungen. Das Unternehmen »Felix«
(Gibraltar) sollte nach Hitlers Willen »so bald wie möglich« stattfinden, spä­
testens zum 10. Januar 1941. Den Überfall auf Griechenland (Unternehmen
»Marita«) solle man entsprechend Gehlens Planungen »voll durchfuhren« und
Anfang März einmarschieren. Der Angriff gegen Russland sei »entsprechend
den Grundlagen der Planung voll in Gang« zu setzen. Den Zeitpunkt für die
Durchführung verschob Hitler nun geringfügig auf Ende Mai 1941. »Seelöwe«
sollte außer Betracht bleiben. Ein Einsatz in Libyen (wie ihn Paulus vorbereitet
hatte) wurde von Hitler nicht mehr in Erwägung gezogen.304 Es kam bekannt­
lich alles ganz anders.
Was bedeuteten die Festlegungen des Diktators für Gehlen? Die großen
operativen Fragen eines Angriffs gegen die UdSSR lagen in der Hand von Pau­
lus, der zwei Tage nach Halders Gespräch mit Hitler erneut ein Kriegsspiel ver­
anstaltete. Gehlen als Leiter der zuständigen Ostgruppe war sicherlich daran
beteiligt, ebenso an den weiteren Vorbereitungen für das Russlandprojekt,
doch für ihn stand zunächst »Marita« im Vordergrund, wo nun die militäri­
schen Erkundungen einsetzten. Gehlen hatte dabei keine leichte Aufgabe, weil
die Klärung der politischen und diplomatischen Voraussetzungen auf sich
warten ließ. Denn wenn auch Hitler nach dem Scheitern der Gespräche mit
Molotow ganz auf einen Krieg gegen die UdSSR im Mai des Folgejahres setzte,
musste er im Vorfeld nach außen hin zurückhaltend agieren. Der in Vorberei­
tung befindliche neue Handelsvertrag mit Moskau versprach immerhin einige
Vorteile, die für die deutsche Rüstung bis zum Überfall von Nutzen sein konn­
ten. Um die operativen Entwürfe kümmerte sich Hitler noch nicht. Er wartete
darauf, dass ihm die Heeresführung einen mit dem OKW abgestimmten Wei­
sungsentwurf für den Feldzug vorlegte.
Doch bereits zwei Tage nach dem Kriegsspiel von Paulus hatte sich die
Lage wieder verändert. Aus Spanien gab es ein klares Signal, dass man nicht
bereit sei, einem deutschen Durchmarsch nach Gibraltar zuzustimmen. Hitler
musste also »Felix« zurückstellen. Dafür forderte Halder trotz der jahreszeitli­
chen Behinderungen eine Fortsetzung der Angriffe von Kriegsmarine und Luft­

302 Ebd., S. 191 (24.11.1940).


303 Siehe hierzu die nach 1950 wieder aufgefundene Anlage zum KTB mit Aufzeichnungen
über die Besprechung, in: ebd., S. 211-214.
304 Ebd., S. 214 (5.12.1940).

192
Besprechung mit dem Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch (3. v. r.);
Gehlen (4. v. r.) ist vertreten als Leiter der Gruppe Ost in der Operationsabteilung, 1941

waffe gegen die britische Insel »mit allen Mitteln«, sonst bestehe die Gefahr,
dass die Briten ihre Kräfte im östlichen Mitteimer verstärkten (mit allen Aus­
wirkungen auf die Lage in Nordafrika), und die Gefahr einer britischen Balkan­
front.305 Die mögliche Auseinandersetzung mit Russland rückte für das OKH
daher stärker in den Mittelpunkt.
Am 13. Dezember erlebte Gehlen seinen ersten größeren Auftritt im OKH -
wenn auch offenbar nicht mit eigenem Vortrag, allenfalls zur Unterstützung
von Heusinger und Paulus. Halder hatte alle Generalstabschefs von den Hee­
resgruppen und Armeen zu einer zweitägigen Konferenz einbestellt, 15 Gene­
rale und 22 Generalstabsoffiziere.306 Vormittags wurden sie im Offiziersheim
von Paulus in die geplante Ostoperation eingewiesen. Grundlage bildete der
Entwurf, wie er am Vortag als nunmehr verbindliche »Weisung Nr. 21« für die
Kriegführung von Hitler unterzeichnet worden war. Auch wenn sich der Anteil
Gehlens an diesem Dokument nicht genau beschreiben lässt, so handelte es
sich doch um eine Weisung, bei deren Durchführung ihm eine wichtige Rolle
zufallen würde. Eine größere Diskussion gab es offenbar nicht, das gemein­

305 Ebd., S. 219 (9.12.1940).


306 Ebd., S. 224-231 (13.12.1940), daraus auch die folgenden Zitate. Siehe auch Diedrich,
Paulus, S. 166.

193
same Frühstück fand allerdings erst zur Mittagszeit statt. Dann ergriff Halder
das Wort für längere Ausführungen über die militärpolitische Lage. Es folgten
Berichte der einzelnen Abteilungen, auch der Operationsabteilung – für Geh­
len wie für die anderen Generalstabsoffiziere eine anstrengende, aber wichtige
Veranstaltung, denn es ging um eine richtungsweisende Orientierung für die
deutsche Kriegführung im zweiten Kriegsjahr.
Gehlens dienstliches Aufgabenfeld kam zur Sprache, als Halder beschrieb,
dass auf dem Balkan die Gefahr einer britischen Frontstellung gering sei:
Jugoslawien sei kein Feind, Ungarn und Rumänien ständen »völlig zu unserer
Verfügung«, Griechenland versichere, nicht als britische Basis zur Verfügung
zu stehen, die Türkei sei friedenswillig und Bulgarien sei »unsere natürliche
Absprungbasis. Seine nationalen Ziele und Kriegskameradschaft aus dem
(Ersten) Weltkrieg weist es an unsere Seite.« Die slawische Herkunft werde
allerdings von Russland ausgenutzt. So bleibe das Land passiv. Mit diesem
Beispiel verband Halder eine Einschätzung der UdSSR und verwies auf seine
Besprechungen mit Hitler. »Russland kann nicht von sich aus das Gesetz des
Handelns vorschreiben, aber es wird jede Gelegenheit ausnützen, um unsere
Stellung zu schwächen.« Die Gespräche mit Molotow hätten die jeweiligen
Interessen klargemacht, daraus würden sich aber keine »akuten Gegensätz­
lichkeiten« ergeben. Es sei aber ganz eindeutig: Die Entscheidung über die
»Hegemonie in Europa fällt im Kampf gegen Russland. Daher Vorbereitung,
wenn politische Lage es erfordert, gegen Russland anzutreten.«
In Kenntnis der späteren Entwicklung gilt es an dieser Stelle festzuhalten,
dass Gehlen bei der Umstellung auf einen Krieg gegen die UdSSR in seinem
Arbeitsbereich nicht von politischen oder weltanschaulichen Aspekten auszu­
gehen hatte. Was Halder vortrug und was bis Hitlers berüchtigter Ansprache
am 30. März 1941 die Vorbereitungen des Unternehmens »Barbarossa« inner­
halb des Generalstabs prägte, waren ausschließlich militärisch-strategische
Überlegungen. Die ideologischen Überhöhungen bei der späteren Befehlsge­
bung gingen meist auf Eingriffe des Diktators zurück. Wenn man das folgende
politische und moralische Versagen der Heeresführung beurteilen will, dann
muss man zu diesem Ausgangspunkt zurückgehen. Was – unter Mitwirkung
Gehlens – zu diesem Zeitpunkt geplant wurde, waren herkömmliche militä­
rische Operationen, kühn und riskant zwar, aber vor dem Hintergrund der
bisherigen Erfahrungen und der Einschätzung der sowjetischen Kampfkraft
durchaus machbar – so schien es nicht nur Paulus – und nach konventionel­
lem Muster. Gehlen, der wie die meisten anderen Generalstabsoffiziere gelernt
hatte, den politischen Primat zu respektieren, sich mit dem NS-Regime zu
arrangieren und sich auf die eigenen beruflichen Aufgaben zu konzentrieren,
wurde in dieser Haltung am 13. Dezember 1940 von seinem Generalstabschef
bestärkt.

194
Halder nutzte nämlich die Gelegenheit, in dieser Runde seine Einschät­
zung zu Erziehung und Ausbildung der Generalstabsoffiziere zu verkünden.
Durch die laufenden Neuaufstellungen von Großverbänden waren immerhin
180 neue Generalstabsstellen geschaffen worden. Es sei eine der Hauptaufga­
ben der Generalstabschefs der Armeen, sich der Erziehung des Nachwuchses
zu widmen. Halder griff in diesem Zusammenhang die offenbar vielfachen Kla­
gen über die mangelnde Anerkennung der Generalstabsoffiziere auf. Wenn die
Oberbefehlshaber Ritterkreuze bekämen, so heiße es, dann müssten auch die
jeweiligen Generalstabschefs der Armeen die gleiche Auszeichnung und eine
bessere Bezahlung erhalten. »Man droht mir, daß die Jugend keinen Ehrgeiz
mehr haben werde, Generalstabsoffizier zu werden, wenn man dem General­
stab nicht mehr äußere Ehren zuteilwerden lasse.« Dem trat er mit Verve ent­
gegen:

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der über dem Generalstab in großen
Lettern das Wort stand: »Viel leisten, wenig hervortreten.« Ich habe das
Glück gehabt, den ganz Großen unseres Berufes nahe sein zu dürfen, einem
Gallwitz, Kuhl, Ludendorff, Hindenburg; ich habe nie anderes erfahren als die
Bewährung dieser Devise.
Was hat den Kreis um Hans v. Seeckt geschlossen? Etwa das Geltungsbe­
dürfnis? Männer, die Armeechefs im Kriege gewesen waren und kein Wort
darüber verloren, daß sie Referentenarbeit machten, Männer, die glänzende
Stellungen ausschlugen, um ihrem Heere zu dienen.
Solange ich Hüter des Grals bin, wird von diesem Geist des deutschen Gene­
ralstabes nicht um Haaresbreite abgewichen.
Ich verlange von ihnen, daß sie den deutschen Generalstab in diesem Sinne
erziehen. Wem sein Ehrenkleid und seine Aufgabe nicht mehr Auszeichnung
bedeutet als ein Stern oder eine Gehaltssteigerung, der lebt auf einer anderen
Ebene, als es diejenige ist, auf der der preußische Generalstab gepflanzt und
groß geworden ist.307

Gehlen hat sich diese Worte zweifellos zu Herzen genommen. Denkbar, dass er
sich in diesem Augenblick vornahm, sollte er selbst einmal der »Gralshüter«
werden – auf dem Weg dorthin befand er sich doch oder konnte es zumindest
erhoffen -, dann würde er sich bemühen, dieser Ahnenreihe großer Namen
und dem Vorbild seines aktuellen Chefs würdig zu sein. Ob ihm das später
unter gänzlich anderen Voraussetzungen gelungen ist, als man nach 1945
vom Generalstab als einer verbrecherischen Organisation sprach, werden wir

307 Halder, KTB II, S. 229 f. (13.12.1940).

195
sehen. Womöglich ist er in den Kriegsjahren noch ganz im Banne des von Hai­
der beschworenen Geistes wirklich ein reiner Idealist gewesen – allerdings von
jener Art, die bereit ist, vorbehaltlos zu dienen, ungeachtet möglicher mora­
lischer und politischer Skrupel. Dienen hatte in diesem Sinne einen höheren
Stellenwert als Zivilcourage.308
Halder beendete seine Ermahnungen mit bezeichnenden Hinweisen:

Die Forderung ständiger Bereitschaft zu schnellster Erfüllung politischer


Forderungen schafft Unbequemlichkeiten und Reibungen. Wir wollen sie
überwinden, ohne uns gegenseitig das Leben schwer zu machen. Wir werden
sie überwinden und jede Aufgabe erfüllen, die uns gestellt wird.309

Das wurden geradezu Lebensmaximen von Reinhard Gehlen. Die zweite


Kriegsweihnacht stand vor der Tür, und auch der starke Wintereinbruch bot
keinen Anlass, bei der Stabsarbeit die Hände in den Schoß zu legen.
Gehlens Hauptsorge galt der laufenden Vorbereitung von »Marita«, dem
Angriff gegen Griechenland, für den nun die notwendigen Voraussetzungen
geschaffen werden mussten. Es klemmte in Rumänien, wo der Eisenbahnauf­
marsch stattfinden sollte und die Truppen unterzubringen waren. Das OKW
hatte es versäumt, rechtzeitig mit der rumänischen Regierung entsprechende
Vereinbarungen zu treffen.310 Die bereits im Lande stationierten deutschen
»Lehrtruppen« boten eine willkommene Tarnung, um die zusätzlichen Ver­
bände an die Donau und damit an die bulgarische Grenze zu bringen. Die
wechselnden Festlegungen bezüglich der nächsten Operationen machten die
Planungen allerdings nicht leichter.
Gehlen übermittelte also am 18. Dezember 1940 dem Generalstabschef
die Bitte des Wehrmachtbevollmächtigen in Rumänien, General der Kavalle­
rie Erik Oskar Hansen, doch die rumänische Regierung schleunigst über die
anlaufenden Transporte zu informieren. Gehlen kannte den älteren General
aus früheren Tagen gut. Hansen war zur gleichen Zeit wie Gehlen selbst Reit­
lehrer an der Kavallerieschule gewesen und 1936 bis 1938 Chef der 1. Abteilung
im Generalstab des Heeres.
Bei der Terminplanung von »Marita« waren inzwischen fünf Tage Verzöge­
rung eingetreten. Das Überschreiten der griechischen Grenze wäre demnach
erst am 6. März 1941 anzunehmen. In der Fülle unterschiedlichster Probleme
gewann Gehlens Aufgabenfeld Balkan zunehmend an Beachtung. Heusin­

308 Die Familie betrachtet dies als eine ehrenrührige Behauptung; Schreiben vom 4.12.2014,
S. 5.
309 Halder, KTB II, S. 231 (13.12.1940).
310 Ebd., S. 236 (18.12.1940).

196
gers Vorgänger als Chef der Operationsabteilung, Hans von Greiffenberg,
war inzwischen zum Chef des Generalstabs der 12. Armee ernannt worden
und in Wien eingetroffen. Die 12. Armee sollte den Angriff auf dem Balkan
durchfuhren. Außerdem hatte Heusinger Oberst i. G. Kurt Zeitzler mit einem
Erkundungsstab nach Bulgarien geschickt.311 Gehlen kannte Zeitzler aus
dem Frankreichfeldzug, als dieser Chef des Generalstabs der Panzergruppe
Kleist gewesen war, zu der Halder Gehlen als Verbindungsoffizier abkomman­
diert hatte. Seit November wurde der motorisierte Großverband zur Panzer­
gruppe 1 aufgebaut, mit der Zeitzler dann im April 1941 als Chef am Balkan­
feldzug, später am Russlandfeldzug teilnahm. Von 1942 bis 1944 unterstand
Gehlen dann als Chef der Abteilung FHO dem von Hitler berufenen Halder-
Nachfolger Zeitzler.
Während sich Halder über Weihnachten 1940 einen dreiwöchigen Urlaub
gönnte, lag die Verantwortung bei seinem Vertreter Paulus, der über die Feier­
tage auf den Gruppenleiter Gehlen nicht verzichten konnte. Die Vorbereitun­
gen für den Angriff auf die Sowjetunion liefen auf höherer Ebene geräuschlos
weiter, nachdem nun die grundlegenden Befehle und Planungsunterlagen
Vorlagen. Es war Halder gelungen, Hitlers Unterschrift zu bekommen, obwohl
die operativen Vorstellungen der beiden für die zweite Phase eines Feldzugs
weit auseinanderlagen. Paulus hatte den Auftrag erhalten, die endgültige Auf­
marschanweisung zu entwerfen, die Hitler dann am 3. Februar 1941 geneh­
migte.312 Gehlen konnte dazu einige Beiträge leisten und neue Ideen einbrin­
gen, hatte aber im Prinzip ganz andere Sorgen. Am Heiligen Abend, Halders
letztem Arbeitstag, berichtete er über die Transportschwierigkeiten in Rumä­
nien. Staatschef Antonescu halte den deutschen »Höchstleistungsfahrplan«
für undurchführbar. Nach den Feiertagen würden sich deshalb die Trans­
portdienststellen zusammensetzen, um zu entscheiden, ob Verzögerungen
unvermeidbar seien. Daraus würden sich dann, wie Gehlen meinte, für den
gesamten Ablauf von »Marita« Konsequenzen ergeben. Die entsprechenden
Rückwirkungen auf »Barbarossa« wären ebenfalls weitreichend.313
Das alles waren auf den ersten Blick vielfältige Routinearbeiten eines Gene­
ralstabsoffiziers der Arbeitsebene. Dabei ging es nicht um größere persönliche
Entscheidungsbefugnisse oder gar um die politische Verantwortung für den
weiteren Kurs der deutschen Kriegführung. In den Büroräumen des General­
stabs fand »normaler« Ministerialbetrieb statt. An geregelte Arbeitszeiten war
dabei nicht immer zu denken, da musste nach Bedarf auch bis spät in die Nacht

311 Ebd., S. 241 (23.12.1940).


312 Siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 242-243.
313 Halder, KTB II, S. 243 (24.12.1940).

197
an den Unterlagen gearbeitet werden. Gehlen konnte bei seinen wenigen Mit­
arbeitern nicht viel delegieren. Berechnungen über Zeit, Raum und Truppen
anzustellen, das ging ihm allerdings bei seiner mathematisch-systematischen
Neigung leicht von der Hand. Und er konnte darüber hinaus seiner besonde­
ren Begabung für operative Entwürfe frönen, die vielleicht sogar Kriegsrealität
werden würden, eine Realität, die ihm und seinen Kameraden zumeist nur in
Telefonaten und Berichten von der Front begegnete. In seiner Verantwortung
lag das reibungslose und schnelle Erledigen von Aufträgen der Vorgesetzten,
als deren »Gehilfe« er sich zu verstehen hatte, mochten sich diese dann auch
seine Arbeitsergebnisse zu eigen machen, um damit höheren Orts selbst zu
glänzen. Gehlens Berechnungen und Papiere dienten seinem Abteilungschef
Heusinger, zeitweilig auch dem Ersten Generalstabsoffizier, hin und wieder
durfte er direkt dem Generalstabschef vortragen.
Als Vertreter Halders trat Paulus bei dem großen Kriegsrat auf, der am
8. und 9. Januar 1941 auf dem Berghof stattfand.314 Hitlers Tour d’Horizon gip­
felte in dem »Entschluß: Rußland so früh wie möglich zu Boden zwingen.«
Seine Argumente blieben noch immer im rein strategischen Bereich und wie­
sen lediglich einen Ausweg aus einer ziemlich verfahrenen Situation. Für den
Generalstab des Heeres ergab sich daraus keine neue Lage. Die Vorbereitun­
gen gegen Russland liefen routinemäßig. Zeitpunkt und Umstände für einen
Angriff würden sich später klären. Im Augenblick hatte Bedeutung, dass Hitler
erklärte, ihn lasse die Kriegführung in Afrika »kalt« – Paulus hatte aber schon
bald viel zu tun, um den angedachten Einsatz von Rommel zu koordinieren.315
Was »Marita« betraf, so werde eine Panzerdivision am 26. Januar versammelt
sein, dann werde der Übertritt nach Bulgarien befohlen. Für Gehlen würde es
hier also zuerst ernst werden. So hat er einem anderen Problem vermutlich
wenig Aufmerksamkeit gewidmet, das aus seiner Sicht mehr technischer Art
gewesen ist, aber eine eminent politische Bedeutung gewinnen sollte.
Der Generalquartiermeister hatte im Januar erste Überlegungen für eine
Militärverwaltung im Osten entwickelt, die noch ganz im Geiste der Erfahrun­
gen von 1918 standen, denn Hitler selbst hatte sich zu diesen Fragen bislang
nicht geäußert. Auch in seiner Ansprache am 9. Januar war es bei Andeutun­
gen geblieben. Für das OKH stand im Mittelpunkt des Interesses die Notwen­
digkeit, diesen riesigen Raum während der laufenden Operationen militärisch
zu sichern. Zwölf Sicherungsdivisionen würden bei stärkerem bewaffneten
Widerstand im Hinterland zweifellos nicht ausreichen, die wichtigsten Stra­

314 Spätere Aufzeichnung Halders nach dem Bericht von Paulus am 16.1.1941 ebd., S. 243 –
246.
315 Siehe dazu ausführlich Diedrich, Paulus, S. 172–175.

198
ßenverbindungen und Ortschaften zu kontrollieren. Weitere Verbände konn­
ten aus den vorhandenen Ressourcen des Heeres aber nicht aufgestellt wer­
den. Gehlen, der in solche Abstimmungsfragen eingeschaltet worden war,
machte am 15. Januar 1941 dem Generalquartiermeister einen Vorschlag, der
wie ein Jahr zuvor bei seiner Befassung mit dem Thema Ostwall weitreichende
Folgen zeitigte.
Gehlen regte an, »auf das für den Westen von der Polizei gemachte Ange­
bot von Polizeiregimentern zurückzugreifen«, um möglichst wenige Heeres­
verbände für die Sicherungsaufgaben abstellen zu müssen.316 Nach den Erfah­
rungen im Polenfeldzug musste aber jedem Eingeweihten – und Gehlen hatte
mit den internen Konflikten unmittelbar zu tun gehabt – klar sein, was ein
massiver Einsatz von SS und Polizei im Hinterland der Front für die Einwoh­
ner bedeuten würde. Für den Einsatz in Russland hatte sich Himmler aber -
soweit bekannt – noch keine Gedanken gemacht. Gleichwohl bestand bei
Generalquartiermeister Wagner bereits eine gefährliche Neigung, sich aus der
völkerrechtlichen Verantwortung herauszuwinden. Das bemerkte in diesen
Tagen Helmuth James Graf von Moltke, der als Völkerrechtsexperte im OKW
vor solchen Tendenzen warnte. Das brachte Moltke einen weiteren Schritt in
den Widerstand gegen das NS-Regime, was Gehlen fernlag.317 Jedenfalls konnte
Wagners Vorschlag, zusätzliche Sicherungskräfte durch die Bewaffnung Ein­
heimischer zu gewinnen, nicht überzeugen. Gehlen setzte stattdessen auf den
Einsatz der slowakischen, ungarischen und rumänischen Armee, obwohl Hit­
ler zu diesem Zeitpunkt die Slowakei und Ungarn noch überhaupt nicht als
mögliche Verbündete gegen die Sowjetunion gesehen hat.
Die Anregung Gehlens, Polizeiregimenter im Osten einzusetzen, zeigt
erneut, wie ein vermeintlich unpolitischer Generalstabsoffizier auch bei rein
sachlicher, militärischer Erwägung rasch in den Sumpf des rassenideologi­
schen Vernichtungskrieges geraten konnte. Was im Jahr zuvor bei der Vertei­
lung von Baubataillonen auszuhandeln war und schon damals auf die Res­
sourcen der SS verwies, kam nun mit der Frage nach Sicherungskräften für den
Ostfeldzug wieder auf den Tisch. Gehlen dachte im Sinne der Heeresführung
daran, möglichst alle eigenen Kräfte für die operative Kriegführung einzuset­
zen. Da lag der Gedanke nahe, für die Sicherung des Hinterlandes stärker auf

316 OKH/GenStdH/Op.Abt.(I/N) Nr. 025/40g.Kdos. Chefs, 15.1.1941, gez. Gehlen, BA-MA,


RH 2/1325. Zum Kontext siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4,
S.416.
317 Siehe Rolf-Dieter Müller: Kriegsrecht oder Willkür? Helmuth James Graf von Moltke
und die Auffassungen im Generalstab des Heeres über die Aufgaben der Militärverwal­
tung vor Beginn des Rußlandkrieges, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen (1987) 2,
S. 125-151.

199
Kräfte der SS zurückzugreifen. Das Beispiel zeigt zugleich, dass Gehlen offen­
bar keine Hemmungen hatte, sich mit der SS zu arrangieren, aber bei mög­
lichen politischen Bedenken auf einen denkbaren Einsatz von verbündeten
Truppen zu verweisen vermochte. Dass solche Truppen später gebraucht wur­
den, um Lücken in der Front zu schließen, war nicht absehbar. Für Gehlen ging
es ausschließlich um eine brauchbare militärische Lösung.
Im OKH hielt man sich jedoch zunächst in der Frage einer engeren Zusam­
menarbeit mit der SS wohlweislich zurück. Das änderte sich schnell, als Hitler
vier Wochen danach erkennen ließ, dass er zur Beherrschung des Hinterlands
ganz andere Methoden angewendet wissen wollte. Die Ermordung der Kom­
missare hielt er für besonders wichtig, ebenso das Bewusstsein der Verantwort­
lichen, dass es sich im Osten um einen weltanschaulichen Vernichtungskrieg
handeln würde, um einen Rassenkampf.318 Das OKW, der persönliche Füh­
rungsstab des Diktators, kümmerte sich nun um die Entwürfe für besondere
Richtlinien, die »Sonderaufgaben« für Himmler vorsahen und später im Mai
1941 zu der berüchtigten Übereinkunft zwischen Wagner und Heydrich führ­
ten, bei der sich Heeresführung und SS über eine Arbeitsteilung verständigten.
Das gehörte aber nicht zum engeren Arbeitsfeld von Reinhard Gehlen, für den
sich seit Jahresanfang Aufgaben abzeichneten, die für einen »Operateur« viel
aufregender erscheinen mussten.
Im OKH wollte man im Januar 1941 für den Fall vorsorgen, dass bei einem
deutschen Einmarsch in Rumänien die UdSSR selbst aktiv werden könnte. Im
Auswärtigen Amt spekulierte man über die Möglichkeit, dass die Russen im
Gegenzug Druck auf Finnland ausüben könnten.319 In dieser Region kannte
sich Gehlen immerhin ein wenig aus, doch als wenige Tage später der finnische
Generalstabschef mit Halder verhandelte, wurde er offenbar nicht hinzugezo­
gen. Als Gruppenleiter war Major Gehlen eben nicht an allen wichtigen Bespre­
chungen zu beteiligen. Sein Abteilungsleiter war es, der am 20. Januar mit
Halder über die Bearbeitung der Aufmarschanweisung »Barbarossa« und die
aktuellen Probleme bei »Marita« sprach. Als am Abend der Abschied von Tip­
pelskirch als Oberquartiermeister IV gefeiert wurde, ist Gehlen vielleicht dabei
gewesen.320
Am nächsten Tag trafen abends Meldungen über Unruhen in Rumänien ein.
Die faschistische Eiserne Front versuchte vergeblich, gegen Antonescu zu put­
schen. Die deutsche Militärmission erhielt Anweisung, den Staatschef notfalls
mit Waffengewalt zu unterstützen. Hitler hatte kein Verständnis für die Aktion,

318 Müller, Der Feind steht im Osten, S. 235-239.


319 Orientierung Halders durch Hasso von Etzdorf am 18.1.1941, Halder, KTB II, S. 247.
320 Ebd., S. 249 (20.1.1941).

200
denn ein Umsturz würde – das befürchtete sicherlich auch Gehlen – den lau­
fenden deutschen Aufmarsch gegen Bulgarien und die UdSSR in Schwierigkei­
ten bringen. Die Operationsabteilung führte am nächsten Tag unbeeindruckt
ein erstes Planspiel der für Russland vorgesehenen Heeresgruppen durch, an
dem Gehlen vermutlich teilnahm. Anschließend erörterte Halder das proble­
matische Zusammenwirken der Infanteriekorps mit den Panzergruppen und
ließ sich über die Eisenbahnfähren in Rumänien informieren, als aus dem
OKW die Nachricht eintraf, dass Hitler vorläufig alle »erkennbaren Vorberei­
tungen zum Donau-Übergang« untersagt habe, weil Moskau einige Tage zuvor
vor einer Verletzung seiner Sicherheitsinteressen gewarnt hatte – für Gehlen
wieder einmal ein hektischer Tag, der alles umwerfen konnte.321
Der Vormittag des 24. Januar 1941 bot für einen kurzen Moment eine sicher
willkommene Unterbrechung. Es war »Friedrich-Tag«, die Erinnerung an den
Geburtstag von Friedrich dem Großen. Den zwölf Offizieren seines Dienst­
bereiches händigte der Chef des Generalstabs des Heeres jeweils ein Exem­
plar des Buches Bildnis Friedrich des Großen aus. Gehlen gehörte dazu und
durfte den prachtvollen neuen Band als Belohnung für sein unermüdliches
und selbstloses Schaffen verstehen. Schon am Nachmittag erwartete Halder
von ihm Ausarbeitungen über die Trennungslinien von Heeresgruppen und
Armee im Fall »Barbarossa« sowie über die vorgesehene Nachführung von
Reserven.322
Es häuften sich jetzt die Besprechungen in der Heeresführung zu den Vor­
bereitungen für einen Angriff gegen die UdSSR. Nach Fragen des Aufmarsches
und der möglichen Operationsführung zeigten sich die Verantwortlichen
besorgt um eine ausreichende Beweglichkeit. Es mangelte an Transportraum,
Ersatzteilen, Reifen und Betriebsstoff. Ohne Einsparungen im zivilen Bereich
sei es kaum möglich, wenigstens für zwei Monate den Bedarf des Ostheeres
voll zu decken. Wenn sich »Marita« noch weiter verzögere und auf den ande­
ren Kriegsschauplätzen Schwierigkeiten zu erwarten wären, konnte das erheb­
liche Auswirkungen auf den Ostfeldzug haben. Halder gab sich tief besorgt. Der
»Sinn« des Unternehmens »Barbarossa« sei ihm nicht mehr klar, denn damit
treffe man nicht mehr die Engländer, wie der »Führer« annahm. Auch dessen
weitere Annahme, so die eigene Wirtschaftsbasis zu verbessern, teilte Halder
nicht. Man dürfe außerdem das Risiko im Westen nicht unterschätzen, und
womöglich würde man eine Südfront von Spanien bis Griechenland bekom­
men, sollte Italien nach dem Verlust seiner Kolonien zusammenbrechen. Wäre
die Wehrmacht dann im Osten gebunden, würde die Lage ziemlich erschwert

321 Ebd., S. 251 (23.1.1941).


322 Ebd., S. 253 (24.1.1941).

201
sein.323 Dem Generalstabschef kamen also aus strategischen Gründen plötz­
lich Bedenken gegen die große Lösung Hitlers.
Nun, zumindest die Bearbeitung für den Antransport des Ostheeres machte
auf Halder einen sehr guten Eindruck. Den Plan trugen Heusinger und Gehlen
sowie der Transportsachbearbeiter Major i. G. Oldwig Otto von Natzmer am
29. Januar 1941 vor.324 Während sich Gehlen in den folgenden Tagen über die
Einmischung des OKW in seine »Marita«-Planung ärgerte, hatte Halder dem
»Führer« den Stand der »Barbarossa«-Vorbereitungen zu erläutern. Er ver­
säumte dabei nicht, auf den Zusammenhang beider Planungen hinzuweisen,
denn nach dem Sieg über Griechenland sollten die eingesetzten Verbände in
der Masse zur Heeresgruppe Süd verlegt werden, um den Angriff in der Ukra­
ine zu unterstützen. Man müsse unbedingt darauf achten, dass diese Kräfte
nicht auf dem Balkan hängenblieben.325 Gehlen wird gespannt die Rückkehr
seines Chefs erwartet haben, der die internen Bedenken gegen »Barbarossa«
offenbar nicht deutlich genug in seinen Vortrag einfließen ließ. Noch am sel­
ben Abend berichtete Halder die Ergebnisse dem Oberbefehlshaber des Hee­
res, wobei es hauptsächlich um die Entsendung Rommels nach Nordafrika
ging. Anschließend traf Halder Gehlen, dem er weitere Aufträge für Rumänien
erteilte – das waren die beiden im Augenblick dringlichsten Operationen.
Gehlen sollte sich offenbar in Rumänien selbst ein Bild über die Transportlage
verschaffen.
Paulus kümmerte sich derweil um Nordafrika und Bulgarien, während
Halder Möglichkeiten einer deutsch-bulgarischen Operation gegen die Tür­
kei sondieren ließ, gegebenenfalls sogar einen Vorstoß durch Anatolien.326
Mit seinem Bericht über das Gespräch mit Generaloberst Wilhelm List, dem
Oberbefehlshaber der auf dem Balkan eingesetzten 12. Armee, sorgte Gehlen
bei Halder und Heusinger für Unmut. List wollte mit seinen im Zulauf befind­
lichen Truppen zunächst vollständig in Rumänien aufmarschieren und dann
erst antreten, möglichst nicht vor Ende Februar, wenn zuvor die Bulgaren
mobilgemacht hatten, was keineswegs gewiss war. Außerdem sei, so List, die
rumänische Armee überhaupt nicht als Armee zu werten.

323 Besprechung Halders mit Brauchitsch am 28.1.1941, ebd., S. 261.


324 Ebd., S. 262 (29.1.1941). Der Kavallerist Natzmer, zwei Jahre jünger als Gehlen, stammte
aus dessen früherer Garnison Liegnitz, schlug nach seiner Verwendung im Generalstab
des Heeres die Laufbahn im Truppengeneralstab ein. Er brachte es bis Kriegsende bis
zum Generalleutnant und Chef des Generalstabs der Heeresgruppe Mitte.
325 Notizen Halders über den Führervortrag am 3.2.1941, ebd., S. 266-270.
326 Vortrag General der Infanterie Hilmar von Mittelberger, Leiter des Verbindungsstabes
zur Türkei, am 10.2.1941, ebd., S. 275-276.

202
Halder entschied, gegenüber List einstweilen nichts zu unternehmen und
stattdessen den Chef der deutschen Heeresmission in Rumänien, Oberst i. G.
Arthur Hauffe, möglichst bald darüber zu informieren, was das OKH von den
Rumänen im Fall »Barbarossa« erwarten würde. Es handelte sich immerhin
um den Einsatz von etwa 18 rumänischen Divisionen, die am Südflügel unbe­
dingt benötigt wurden. Dazu sollten u. a. »Geist und Manneszucht« erhöht
und eine »Säuberung der Armee von Freimaurern, Juden und englandfreund­
lichen Elementen« vorgenommen sowie spezielle volksdeutsche Einheiten
aufgestellt werden.327 Es waren weithin unrealistische Forderungen der Ope­
rationsabteilung, in diesem Falle also Gehlens, die dem deutschen Bundesge­
nossen nicht vermittelt werden konnten. Dachte Gehlen vielleicht seinerseits,
dass erklärte Feinde des Reiches nicht als Verbündete zu vermitteln wären,
und machte er sich darüber Gedanken, was eine »Säuberung« von Juden in
der rumänischen Armee bedeuten würde? Wir wissen es nicht, aber vielleicht
war es auch nur eine zur Gewohnheit gewordene Floskel, die er gedankenlos
übernahm. Zeit zum Nachdenken blieb ohnehin nicht viel.
Mitte Februar 1941 spitzte sich die Lage zu. In Tripolis gingen Rommels
Truppen an Land, und Hitler drängte Jugoslawien, dem Dreierpakt beizutre­
ten, um sich den Rücken für ein Eingreifen auf dem Balkan freizuhalten. Die
Verzögerungen bei »Marita« ließen sich nicht länger verbergen, auch wenn
es sich »nur« um einige Tage handelte. Währenddessen machte sich Halder
Gedanken über eine mögliche Auseinandersetzung mit der Türkei. Er beauf­
tragte Heusinger und Gehlen mit einem Angriffsentwurf, der entweder sofort
mit Begrenzung der Ziele in Griechenland oder später nach Erledigung des
Angriffszieles Saloniki zum Zuge kommen könnte.328 Am nächsten Tag lud Hai­
der seine zu dieser Zeit wichtigsten Mitarbeiter zum Mittagessen ein: neben
Heusinger und Gehlen waren dies Hauffe und Grolman.
Als Chef der Operationsabteilung hatte Heusinger am 19. Februar 1941 die
nächste Beurteilung über Gehlen zu schreiben. Es kann nicht erstaunen, dass
sein Urteil »sehr gut« ausfiel und er den Leiter seiner Ostgruppe für geeignet
hielt, die nächsthöhere Verwendung als Korpschef oder Abteilungschef aus­
zufüllen. Gehlens Persönlichkeit beurteilte Heusinger so: »Ein Generalstabs­
offizier, wie er sein soll. Nach Persönlichkeit, Können und Fleiß weit über dem
Durchschnitt stehend. Von ausgesprochener operativer Begabung und voraus­
schauendem Denken.« Dass er vor »dem Feinde voll bewährt« sei, war eine
übliche, in diesem Fall ein wenig schmeichelhafte Formel für das vierwöchige

327 OKH/GenStdH/OpAbt. (I), Besprechungspunkte für Oberst Hauffe, BA-MA, RH 31-I/v. 40;
siehe auch Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 340-341.
328 Halder, KTB II, S. 283 (17.2.1941). Der Entwurf wurde am 22. Februar 1941 an List über­
sandt; ebd., S. 290.

203
Gastspiel im Polenfeldzug.329 Operative Begabung und vorausschauendes Den­
ken waren die wichtigsten Zuschreibungen, die Gehlens Streben treffend cha­
rakterisierten.
Neben den Karten der Balkanstaaten und der Türkei lagen auf seinem
Tisch auch immer die Karten für den geplanten Feldzug gegen die UdSSR.330
Nach der Morgenbesprechung am 20. Februar 1941 traf Halder mit Paulus,
Heusinger, Grolman und Gehlen zusammen, um die Operationsentwürfe der
einzelnen Heeresgruppen für »Barbarossa« durchzusprechen. Vor allem der
Entwurf der Heeresgruppe Mitte, die das auf Moskau zielende Angriffszentrum
darstellte, stieß auf Kritik Der Ansatz der beiden Panzergruppen ließ schon
jetzt Probleme in der ersten Phase des Feldzugs erkennen, die später immer
noch zu Krisen führten. Über das Ergebnis informierten Halder und Heusinger
am nächsten Tag den Oberbefehlshaber des Heeres. Bei einer solchen Gele­
genheit war Gehlen als Sachbearbeiter nicht gefragt, natürlich auch nicht bei
den Besprechungen mit dem »Führer«, der bereits den Wunsch äußerte, nach
Griechenland und der Türkei auch eine Studie für den Aufmarsch in Afgha­
nistan und Persien gegen Indien anzufertigen – eine mögliche Operation, die
allerdings erst im Anschluss an »Barbarossa« vorgesehen war.331 Auf Gehlen
wartete also noch viel Arbeit.
Am Sonntag, dem 2. März 1941, begann der Einmarsch der 12. Armee in Bul­
garien – was für Gehlen sicherlich bedeutete, das Wochenende im Dienst statt
bei der Familie zu verbringen. Halder besprach sich unterdessen mit dem Chef
des Wehrmachtführungsstabes Alfred Jodl, weil nach seiner Auffassung das
»Zusammenspiel mit politischer Leitung wieder einmal recht lose« sei.332 Vom
Generalstab wurden ständig Pläne erwartet, ohne dass die politischen Voraus­
setzungen und Absichten deutlich erkennbar waren, was aufwendige Berech­
nungen und Vorbereitungen erforderlich machte, die am nächsten Tag schon
wieder hinfällig sein konnten. Hier zeigte sich einmal mehr das Dilemma der
militärischen Spitzengliederung und das Fehlen einer abgestimmten Strategie.
Während alles gebannt auf den deutschen Vormarsch durch Bulgarien in
Richtung griechischer Grenze blickte, legte das OKW im Hintergrund einen im
Auftrag Hitlers verfassten Entwurf für die künftige Verwaltungsorganisation

329 Personalakte Reinhard Gehlen, Verschlusssachen-Registratur Bundeskanzleramt.


330 Dazu gehörte sicherlich auch die in seinem Nachlass befindliche Karte Anlage 7 zu Fr. H.
Ost (II) Nr. 100/41geh., Gesamtstärke der Roten Armee, Stand 1.1.1941. Ihr zu entneh­
men ist die Dislozierung der vermuteten 150 Schützendivisionen, 32 Kavalleriedivisio­
nen und 36 mot.mech. Brigaden. Gegenüber der Einschätzung vom Sommer 1940 hatte
sich das Bild bei FHO etwas erweitert.
331 Halder, KTB II, S. 292 (25.2.1941).
332 Ebd., S. 299 (3.3.1941).

204
Deutscher Aufmarsch in Bulgarien für das Unternehmen »Marita«, den Angriff auf
Griechenland, April 1941

im Osten vor, der weitreichende Folgen hatte. Es war der erste Hinweis des
Diktators, dass der Krieg gegen die UdSSR einen gänzlich anderen Charakter
haben würde. Hitler kündigte an, dass er das Heer nicht mit der Verwaltung
belasten und dem Reichsführer SS einen Sonderauftrag erteilen werde333 –
ein Menetekel, das im OKH offenbar zunächst keine rechte Aufmerksamkeit
fand, schon gar nicht bei den Operateuren, die andere Sorgen hatten, denn das
deutsche Eingreifen auf dem Balkan rief die Briten auf den Plan. Sie landeten
größere Truppenkontingente in Griechenland, womit die befürchtete Gefahr
einer Balkanfront konkret zu werden drohte.
Derweil studierte Halder zusammen mit Heusinger, Grolman und Geh­
len die von den Ostarmeen geplanten Ansätze für »Barbarossa«,334 die nicht
immer die Anregungen der Operationsabteilung aufgegriffen hatte. Weder
Halder noch Heusinger oder gar Gehlen konnten den Generalstäben der
Armeen ohne Weiteres Anweisungen erteilen. Im Rahmen vorgegebener Auf­
träge entwickelten die Armeen in ihrer Heeresgruppe und in Abstimmung mit
der Operationsabteilung ihre Pläne. Die Oberbefehlshaber der Armeen und
die Chefs ihrer Generalstäbe handelten weitgehend selbstständig. Generalma­

333 Ebd., S. 303 (5.3.1941).


334 Ebd., S. 312 (14.3.1941).

205
jor Hans von Greiffenberg als Chef des Generalstabs der 12. Armee auf dem
Balkan ließ sich von einem Oberst Heusinger natürlich nichts vorschreiben,
erst recht nicht von einem Major Gehlen. Bei gravierenden Meinungsverschie­
denheiten musste Halder als Generalstabschef des Heeres die Sache an sich
ziehen und notfalls auf die Befehlsgewalt des Oberbefehlshabers des Heeres
zurückgreifen.
Am 17. März 1941 war Halder zum Vortrag bei Hitler bestellt.335 Darauf hatte
er sich mit von Gehlen erstellten Unterlagen intensiv vorbereitet.336 Parallel
dazu ließ Kinzel für seine Abteilung Fremde Heere Ost einen Lagebericht Nr. 1
verteilen, der die Durchführung einer Teilmobilmachung der Roten Armee
und das Aufschließen russischer Truppen an die Grenze beschrieb, die Vor­
gänge aber deutlich als Defensivmaßnahme einschätzte, die »lediglich zur Ver­
stärkung der Grenzsicherung« dienten.337
Halder nahm Heusinger mit. Im Vordergrund seines Vortrags stand
»Marita«. In zwei Wochen sollte der Angriff beginnen. Die Zusammenhänge
mit »Barbarossa« fanden besondere Beachtung. Es war aber nicht absehbar,
wann und in welchem Umfang die auf dem Balkan gebundenen Kräfte für den
Angriff auf Russland zur Verfügung stehen würden, denn Hitler dachte nun
daran, ganz Griechenland zu erobern. Halder zeigte sich skeptisch. »Marita«
würde mit den Reserven für »Barbarossa« durchgeführt werden müssen. Sie
wären dann wohl nicht mehr einsetzbar.
Um den dafür vorgesehenen Termin Mitte Mai einhalten zu können, muss­
ten schon jetzt Rommels Forderungen nach zusätzlichen Kräften für einen
Angriff in Richtung Tobruk zurückgewiesen werden. Nur bei einem schnellen
Erfolg im Osten würde man wieder über eine ausreichende Zahl von Verbän­
den verfügen, um weiterreichende Operationen und andere Vorhaben wie
den Angriff auf Gibraltar oder das Unternehmen »Seelöwe« durchführen zu
können. Hitler war sich darüber im Klaren, dass im Osten keine Rückschläge
eintreten durften. Er wies auf die unterschiedlichen Auffassungen zu Halders
Operationsplan hin – auf die Gefahr, dass in den Pripjet-Sümpfen ganze feind­
liche Armeen bewegt werden könnten und damit Halders auf Moskau zielen­

335 Ebd., S. 313-317 (17.3.1941). Auch bei diesem Text handelt es sich um eine erst nach
1950 wiedergefundene Anlage zum (verschwundenen) KTB.
336 In dem von Gehlen aufbewahrten Exemplar der Aufmarschanweisung »Barbarossa«
vom 31. Januar 1941 nebst Änderungen wird ein Bild von seinem Arbeitsfeld vermit­
telt, auch wenn die offizielle Anweisung von Brauchitsch unterschrieben wurde. Die
erste Seite in dieser Mappe bildet eine Berichtigung der Aufmarschanweisung vom
19. März 1941, die von Gehlen im Auftrag unterzeichnet wurde.
337 OKH//OQuIV, FHO (II) Nr. 33/41, g.Kdos., Chefs., Lagebericht Nr. 1, 15.3.1941, Gehlen-
Kisten, Mappe Nr. 84.

206
des Angriffszentrum bedrohen würden – und war der Meinung, dass »Moskau
völlig gleichgültig« sei.
Damit widersprach der Diktator in zentralen Punkten der laufenden Pla­
nung Halders, was der Generalstabschef allerdings schweigend ignorierte.
Er hoffte darauf, sich durchsetzen zu können, wenn der Feldzug erst einmal
begonnen hätte. Intern besprach er allerdings mit Heusinger die Möglichkei­
ten der Kräfteverteilung, um die Angriffe gegen Griechenland und die UdSSR
durchführen zu können. Die Verschiebung einzelner Verbände, insbesondere
bei den motorisierten Truppen, schien möglich, hatte aber Auswirkungen auf
die Transportbewegungen – wieder viel Arbeit auch für Gehlen, der sowohl
die Lagekarte als auch die Kräfteverteilung und den Stand der Transporte im
Detail zu kontrollieren und zu berechnen hatte. Die Verschiebungen betrafen
insbesondere den Südflügel von »Barbarossa«, was zu Änderungen der Auf­
marschanweisung Veranlassung gab.338
Eine Erleichterung schien erreicht, als Jugoslawien am 25. März 1941 dem
Dreimächtepakt beitrat. Abends waren die Generalstabsoffiziere des OKH zu
einem Vortrag des Ostexperten Professor Gerhard von Mende über »Geistige
Strömungen des heutigen Rußlands« befohlen.339 Der Deutschbalte, dessen
Buch Die Völker der Sowjetunion 1939 erschienen war, vertrat einen rassischen
Antisemitismus, der auf Verschwörungstheorien basierte. Einige Wochen
später erhielt er eine führende Position in Rosenbergs Reichsministerium für
die besetzten Ostgebiete und war dann eng in die Planungen zur Wannsee-
Konferenz und den Völkermord an den Juden eingespannt.340 Nach dem Krieg
kümmerte er sich um die Organisierung der »geistig-politischen Bekämpfung
des Kommunismus« in verschiedenen staatlichen Institutionen, was ihn auch
in Kontakt mit Gehlen und seiner Organisation brachte.
Welchen Eindruck Mende auf Gehlen und die anderen Angehörigen des
OKH machte, ist nicht überliefert, es war aber eine sinnfällige, wenn auch
vielleicht nicht von Halder beabsichtigte Einstimmung auf das, was Hitler am
30. März in seiner berüchtigten Besprechung gegenüber den Vertretern der
Ostarmeen über seine Vorstellungen zum rassenideologischen Vernichtungs­
krieg gegen die Sowjetunion zum Ausdruck brachte.
Zwei Tage nach dem Abendvortrag von Mende traf in Berlin die Nachricht
von einem Staatsstreich in Jugoslawien ein. Der Verdacht lag nahe, dass der
britische Geheimdienst dahinterstecken könnte, um den deutschen Aufmarsch
gegen Griechenland zunichtezumachen. Hitler tobte und befahl sofort Halder in

338 Halder, KTB II, S. 328 (25.3.1941).


339 Ebd., S. 328 (25.3.1941).
340 Der Turkologe Gerhard von Mende, in: Rüdiger vom Bruch, Christoph Jahr und Rebecca
Schaarschmidt: Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Stuttgart 2005, S. 62–70.

207
die Reichskanzlei. Dieser machte sich schon während der Autofahrt Gedanken
über militärische Ansätze zur Besetzung Jugoslawiens.341 Gegen 16 Uhr kehrte
er nach Zossen zurück und besprach mit der Operationsabteilung die entspre­
chenden Möglichkeiten und welche Folgen eine solche Aktion für »Barbarossa«
haben würde. Das lief auf einen dringlichen Einsatz von Gehlen hinaus.
Dieser hatte sich gerade eineinhalb Tage freigenommen, um in Breslau an
der Taufe seines Neffen teilnehmen zu können. Just als er mit dem Auto los­
fahren wollte, wurde ihm die Meldung gebracht, dass der jugoslawische Minis­
terpräsident Dragiša Cvetković zurückgetreten sei und sich das Land in einer
Staatskrise befinde. Er gab nicht viel darauf und fuhr Richtung Breslau los.
Nach einer halben Stunde Fahrt kamen ihm Bedenken, weil ihm klar wurde,
dass damit der ganze Ostfeldzug gefährdet sein könnte, und er kehrte um. Am
Lagertor teilte man ihm mit, dass Heusinger schon nach ihm habe suchen
lassen. Er solle sofort zu ihm kommen. Gehlen erinnerte sich später daran,
wie er seinen Chef traf und dieser ihn beauftragte, umgehend einen Angriffs­
plan gegen Jugoslawien zu entwerfen. Schlagfertig und eifrig konnte der Major
melden: »Herr Oberst, den haben wir bereits in der Schublade.«342 Einen sol­
chen Entwurf habe er als Übungsaufgabe schon früher dem zum Generalstab
abkommandierten Major Alfred Philippi gegeben.343 Philippi war jetzt Gehlens
Bearbeiter für den Südraum nördlich der Donau.
Die großen operativen Fragen diskutierte Hitler natürlich mit Halder, Pau­
lus und Heusinger direkt.344 Leicht vorstellbar, dass Gehlen in diesen turbu­
lenten Stunden gern selbst den »Führer« beraten hätte. Immerhin handelte
es sich um einen Feldzug, der Geschichte schreiben würde. Die Grundlagen
waren in Hitlers »Weisung Nr. 25« für einen möglichst gleichzeitigen Angriff
auf Griechenland und Jugoslawien festgelegt worden.345 Gehlens Zuständig­
keit blieb allerdings auf die Zuarbeit für die operativen Ideen seiner Vorgesetz­
ten beschränkt, selbst wenn deren Pfeile und Striche auf Landkarte noch in
Berechnungen, Ausarbeitungen und Befehlsentwürfe umgesetzt werden muss­
ten. So gänzlich neu war das Terrain auch keineswegs für den Generalstab.
Bereits 1937/38 hatte man sich auf die Möglichkeit eingestellt, dass bei mög­

341 Ebd., S. 330 (27.3.1941).


342 Gehlen im MGFA-Interview, 26.10.1976, S. 155, BND-Archiv, N 13/2.
343 Philippi kam Anfang April 1940 in die Operationsabteilung, als Verwicklungen auf
dem Balkan durchaus im Bereich des Möglichen lagen; er war zuletzt Generalmajor
und Kommandeur der 361. Volksgrenadier-Division und verfasste 1962 zusammen mit
Generalleutnant a. D. Ferdinand Heim ein erstes Standardwerk zum Krieg gegen die
Sowjetunion: Der Feldzug gegen Sowjetrußland 1941 bis 1945: Ein operativer Überblick,
Stuttgart 1962.
344 Halder, KTB II, S. 331-332 (28.3.1941).
345 Weisung Nr. 25 vom 27.3.1941, abgedr. in: Hitlers Weisungen, S. 124-126.

208
lichen militärischen Verwicklungen in Südosteuropa ein deutscher Vorstoß,
damals gegen die Rote Armee, stattfinden könnte.346 Anfang 1940, als Gehlen
wieder ins OKH zurückgekehrt war, war ein solches deutsches Eingreifen, jetzt
gegen Briten und Franzosen, ebenfalls im Gespräch.
Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass Gehlen sich sofort auf das
neue Aufgabenfeld einzustellen vermochte, ohne die bisher von ihm bearbei­
teten Bereiche Griechenland und UdSSR aus den Augen zu verlieren. Konkret
handelte es sich wohl darum, möglichst rasch verfügbare Truppen zu identi­
fizieren, die für einen kurzfristigen Angriff gegen Jugoslawien herangezogen
werden konnten. Das bedeutete hektisches Telefonieren und Nachfragen bei
anderen Stellen, Unterstellungsverhältnisse klären, Strecken- und Zeitberech­
nungen anstellen etc. Da sich herausstellte, dass die Leistung der Eisenbahn­
strecken im Donauraum nicht ausreichte, alle schnell verfügbaren Einheiten
heranzubringen, kam Gehlen auf die Idee eines zweiteiligen Aufmarsches,
eines nördlichen durch das ehemalige Österreich und eines östlichen durch
Ungarn. Das trug er Heusinger vor, der dem Vorschlag zustimmte.
Dann erhielt er am 29. März 1941, spät am Abend, als der Generalstabschef
um 22 Uhr am Ende eines hektischen Tages Gehlen zu sich befahl, den Auf­
trag, die notwendige »Aufmarschanweisung« für das »Unternehmen 25«, also
für den Angriff auf Jugoslawien, zu entwerfen.347 Das empfand Gehlen noch
Jahrzehnte später als eine Sternstunde seiner Karriere. Am nächsten Tag ging
Halder zum »Führer«, und dann bekam Gehlen den Entwurf zur Ausarbei­
tung wieder zurück. Nachmittags um 17 Uhr hatte Hitler die für den Einsatz
vorgesehenen Armeeoberbefehlshaber und deren Generalstabschefs bestellt,
um ihnen zunächst mündlich eine Aufmarschanweisung zu erteilen und das
Vorhaben zu skizzieren. Gehlen saß wieder über Nacht an dem formellen Ent­
wurf, den am nächsten Morgen Heusinger übernahm, zu Halder brachte, der
schließlich die Unterschrift Hitlers einholte.348
An diesem 30. März, an dem Hitler die für den Balkanfeldzug eingeteilten
Spitzenmilitärs instruierte, hatte drei Stunden zuvor um die Mittagszeit eine
Versammlung der Führungsspitzen des künftigen Ostheeres stattgefunden,
denen Hitler seine Überlegungen und grundlegenden Entscheidungen für den
Überfall auf die UdSSR mitteilen wollte. Gehlen, der auch für die operativen
Planungen eigentlich eine wichtige Rolle spielte, ist offenbar nicht dabei gewe­
sen, als der Diktator den etwa hundert Generalen deutlich machte, dass der
Krieg im Osten einen ganz anderen Charakter tragen werde (»Keine Kamera­

346 Siehe Müller, Der Feind steht im Osten, S. 88 – 89.


347 Halder, KTB II, S. 335 (29.3.1941).
348 Gehlen im MGFA-Interview, 26.10.1976, S. 44, BND-Archiv, N 13/2.

209
den«) und man sich auf einen Rassen- und Vernichtungskrieg einstellen sol­
le.349 Damit begann eine direkte Verwicklung der Wehrmacht in eine verbre­
cherische Kriegführung, die das Ansehen ihrer Angehörigen, insbesondere der
Berufssoldaten, nach 1945 entscheidend beschädigte und sie in den alliierten
Prozessen schwer belastete.
Der Major i. G. Reinhard Gehlen konnte diese Entwicklung im März 1941
natürlich nicht vorausahnen. Er war sicher stolz, es durch Fleiß und Begabung
in die unmittelbare Nähe der höchsten Führungsspitze des deutschen Heeres
gebracht zu haben, mit glänzenden Aussichten für die Zukunft. Er teilte ver­
mutlich die instinktive Distanz seiner sozialen Gruppe gegenüber manchen
Erscheinungen des Nationalsozialismus, wohl auch die Skepsis seines Gene­
ralstabchefs gegenüber den Eingriffen des »Führers« in die militärische Krieg­
führung sowie die Abneigung Halders gegen die Anmaßungen der SS. Ob es
zwischen Halder und Gehlen eine vertrauensvolle Gesprächsebene gegeben
hat, um sich über die »unschönen« Übergriffe und mögliche Auswirkungen
auf den bevorstehenden Angriff gegen die Sowjetunion zu unterhalten, ist
nicht bekannt. Ob Halder Gehlen über Hitlers unheilvolle Ankündigungen
informiert hat oder nicht – dem Gruppenleiter Ost kann keineswegs entgan­
gen sein, wie sich die Heeresführung in den folgenden Wochen auf eine neue
Arbeitsteilung mit der SS einstellte.
In seinen späteren Erinnerungen zog es Gehlen allerdings vor, bei diesem
empfindlichen Punkt eine Legende zu verbreiten, die sich durch die gesamte
militärische Memoirenliteratur zog und die von der modernen Forschung
inzwischen gründlich widerlegt worden ist.350 Sie lautete: Gegen den völker­
rechtswidrigen »Kommissarbefehl« habe sich der Oberbefehlshaber des
Heeres, unterstützt von Generalstabschef Halder »und anderen Stellen des
Generalstabes, insbesondere der Abteilung Fremde Heere Ost, verzweifelt
gewehrt«.351 Gehlen kann überhaupt nicht verborgen geblieben sein, dass
sich die Heeresführung im Mai/Juni 1941 ausgesprochen willfährig verhalten
hat. Erst nach dem Scheitern des Blitzkrieges befand man die Ermordung der
Kommissare durch die Truppe als kontraproduktiv, weil dadurch der Wider­
stand der Roten Armee gestärkt wurde. Deshalb gab es ab Herbst 1941 einige
Bemühungen, den Kommissarbefehl auszusetzen. Wider besseren Wissens hat
Gehlen später auch erklärt, der Befehl sei von der Truppe »meist nicht befolgt

349 Eine ausführliche Beschreibung und Analyse der Ansprache findet sich bei Johannes
Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjet­
union 1941/42, München 2006, S. 1-13.
350 Zum Forschungsstand siehe Felix Römer: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-
Verbrechen an der Ostfront 1941/42, Paderborn 2008.
351 Gehlen, Der Dienst, S. 18, dort auch die folgenden Zitate.

210
worden«. Verantwortlich für die Berichterstattung über die Durchführung
waren immerhin die Ic-Stabsoffiziere an der Front, die ihm zumindest ab Früh­
jahr 1942 zugearbeitet haben. Zu diesem Zeitpunkt war der Kommissarbefehl
bereits suspendiert worden, und es ist Gehlen als persönliche Einstellung viel­
leicht abzunehmen, wenn er schreibt: »Der gesunde Sinn der Truppe wehrte
sich schon aus vielerlei Gründen gegen diese Anordnung, die gegen menschli­
che Gefühle wie auch gegen die Haager Landkriegsordnung verstieß.«
Es ist allerdings bezeichnend, dass er daraus sogleich eine Legende strickte,
die sich auf obskure Art mit dem Scheitern der von ihm mitgetragenen Ope­
rationsführung von »Barbarossa« verband. So argumentierte er in seinen
Memoiren, der Befehl habe »unheilvolle psychologische Folgen für die deut­
schen Streitkräfte gehabt«. Denn seine »Nichtbefolgung« habe eine Entwick­
lung eingeleitet, die »Unehrlichkeit in der Meldungserstattung und Ungehor­
sam gegenüber der höheren Führung zur Folge hatte«.
Gehlen hatte 1941 längst gelernt, dass es besser war, politischen Konflik­
ten möglichst aus dem Weg zu gehen und sich auf das näherliegende eigene
Aufgabenfeld zu konzentrieren. Da konnte er sich mit Feuereifer ans Werk
machen. Es sei »Ausdruck der reinen Energetik«, gewesen, die den General­
stab beherrscht habe, »eine einseitige, fast voraussetzungslose Konzentration
auf Umsetzen und Organisieren«.352 Die für den Überfall auf Griechenland und
Jugoslawien vorgesehene 12. Armee sollte hastig einen neuen Angriffsflügel
im Raum Graz bereitstellen, wofür Gehlen sich seitens des OKH einschalten
musste, denn die Armee meldete, dass sie noch mindestens fünf Tage Vorbe­
reitungen brauche.353 Während sich Gehlen um die Klärung der Frage küm­
merte, konferierte Halder zusammen mit Heusinger beim »Führer« über die
»Gesamtlage Jugoslawien«. Die Zahl der Meldungen und Probleme, die von
den verschiedenen Krisen- und Einsatzgebieten täglich auf den Lagetisch kam,
wuchs unaufhörlich an. Darüber durfte der geplante Angriff gegen die UdSSR
nicht vernachlässigt werden.
So meldete Oberst Kinzel, der Chef der Abteilung Fremde Heere Ost, am
4. April 1941, dass man die Stärke der Roten Armee wohl erheblich unter­
schätzt habe.354 Darauf reagieren konnte die Operationsabteilung nicht. Die
Feldzugsvorbereitungen nahmen täglich mehr Fahrt auf und ließen sich nicht
mehr aufhalten. Gehlen hatte Mühe, einige Divisionen für den Balkan abzu­
zweigen und dafür zu sorgen, dass sie sich wieder rechtzeitig in den Aufmarsch
nach Osten einordneten. Als am 6. April der Einmarsch in Jugoslawien begann,

352 Meyer, Heusinger, S. 147 unter Verweis auf eine spätere allgemeine Bemerkung von
Ernst Jünger: Strahlungen, Tübingen 1949, S. 328.
353 Halder, KTB II, S. 340 (1.4.1941).
354 Ebd., S. 345 (4.4.1941).

211
lag Heusinger bereits eine Ausarbeitung vor, wie das »Unternehmen 25« auf
»Barbarossa« umzuschalten und insbesondere die wertvollen Panzerdivisio­
nen, die in den nächsten Wochen auf dem Balkan ihr Material verschleißen
würden, »restauriert« werden könnten, um dann die noch viel größeren Ent­
fernungen bis zum Kaukasus kämpfend zurückzulegen. Der Angriffstermin
15. Mai gegen die Sowjetunion war schwerlich zu halten.
Am 9. April traf Halder mit einem vorgeschobenen Stab, zu dem zweifel­
los auch Gehlen gehörte, in Wiener Neustadt ein, um aus den prachtvollen
Räumen der Maria-Theresia-Militärakademie die Operationen in Jugoslawien
und Griechenland zu steuern. Die Örtlichkeiten dürften den rastlos wirken­
den Generalstäbler Gehlen kaum beeindruckt haben, doch das Gefühl einer
geschichtlichen Größe seiner täglichen Aufgaben hat ihn sicherlich gestreift.
Über seinen Schreibtisch liefen alle wichtigen Meldungen, Fernschreiben und
Anordnungen. Gehlen bewahrte eine komplette Sammlung seiner Unterlagen
und Lagekarten auf, die sich in einem versteckten Nachlass erhalten hat.355
Von Heusinger, dem Gehlen als seinem unmittelbaren Vorgesetzten uner­
müdlich zuarbeitete, sind in Briefen an seine Frau einige banale Bemerkungen
überliefert, in denen er über die Vergänglichkeit historischer Größe sinnier­
te.356 Mit ungewöhnlich saloppen, nassforschen Tönen überspielte Heusin­
ger dort auch, dass er als Teil der höchsten militärischen Funktionselite im
Frühjahr 1941 selbstbewusst und stolz auf die eigenen Erfolge gewesen ist und
Hitlers Kriegführung täglich vorantrieb. Vom zweiten Angriffstag sei alles so
schnell gegangen, dass man, so Heusinger, auf den Karten kaum noch mitkam.
Eine gewisse Häme findet sich als Ausdruck von kaum gezügeltem Übermut
in den Worten über den wenig professionellen serbischen Feind, dann beim
Angriff gegen Griechenland über die Briten, die man noch zu erwischen hoffte,
»bevor sie über See abbrausen«, schließlich sogar über die italienischen Ver­
bündeten, die sich benähmen »wie die Tiere« und »wie die größten Sieger«.357
In der nüchternen Arbeitsatmosphäre eingehender Meldungen, eifriger
Notizen, pausenloser Telefonate, sachlich-unaufgeregter Besprechungen
blieb für Sentimentalitäten freilich nicht viel Raum. Hitlers ständige Anrufe
und Eingriffe entrüsteten zumindest den Generalstabschef. Er sah darin eine
Ȁngstlichkeit, die jedes Risiko vermeiden, aber trotzdem fortgesetzt Erfolge
einheimsen will«.358 Halder sprach darüber mit Brauchitsch als dem Oberbe­
fehlshaber des Heeres, doch offen wollte keiner der beiden gegenüber dem

355 Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 65; außerdem Mappe Nr. 49 mit einer Sammlung aller Tages­
meldungen der Operationsabteilung zum Feldzug in Griechenland.
356 Siehe Meyer, Heusinger, S. 147-148.
357 Ebd.
358 Halder, KTB II, S. 360 (11.4.1941).

212
Diktator opponieren. Der Ärger über die politische Führung wurde »intern«
verdaut; das gehörte zur Frustration, mit der man im Generalstab wohl zu
leben hatte, eine Erfahrung, die man mit früheren Generationen teilte und die
auch dem jungen Major nicht verborgen blieb.
Halders Absicht, seine Generalstabsoffiziere bevorzugt zu befördern,
erteilte Hitler schriftlich eine scharfe Absage. Halders Reaktion: »Auch das wird
vorübergehen. Wenn irgendwo das Leistungsprinzip gilt, dann bei uns.«359 Hai­
ders trotziges Selbstbewusstsein färbte auf seinen ehemaligen Adjutanten ab,
der darauf vertrauen durfte, dass seine Leistungen schon sehr bald die erhoffte
Anerkennung finden würden. Das ihm am 21. Mai 1941 verliehene »Kriegsver­
dienstkreuz I. Klasse mit Schwertern« war allerdings ein Uniformschmuck -
intern als »Hausorden des OKH« bezeichnet der sich längst nicht mit dem
messen konnte, was sich Kameraden an der Front mit kühnen Taten verschaff­
ten, über die dann die Medien berichteten. Der ihm einige Monate später am
22. September 1941 verliehene »Königlich bulgarische Tapferkeits-Orden
IV. Klasse, 1. Stufe« war ebenfalls nicht mehr als schmückendes Beiwerk.
Nach nur zehn Tagen war Jugoslawien durch einen Blitzfeldzug niederge­
worfen worden. Nach der bedingungslosen Kapitulation der Armee zerfiel die
Monarchie und das Land wurde zwischen Ungarn, Italien, Bulgarien und dem
Reich aufgeteilt. Serbien geriet unter deutsche Militärverwaltung, Kroatien
wurde zu einem Vasallenstaat. Heusinger konnte die von Gehlen erarbeite­
ten Grundlagen für den Abtransport der Truppen zu »Barbarossa« umsetzen
lassen. Gleichzeitig mit dem Überfall auf Jugoslawien hatte die in Bulgarien
stationierte 12. deutsche Armee ihren lange geplanten Angriff auf Griechen­
land begonnen. Die griechische Armee wurde ebenfalls innerhalb kurzer Zeit
zerschlagen, das britische Expeditionskorps zog sich vom Festland zurück und
setzte den Kampf auf der Insel Kreta fort, die ab dem 20. Mai durch eine verlust­
reiche Luftlandeoperation in deutsche Hände fiel. Die Feindlage im östlichen
Mittelmeer und in Nordafrika band aber weiterhin erhebliche deutsch-italie­
nische Kräfte. Am 24. April, dem 50. Todestag von Moltke dem Älteren, kehrte
Halder mit seinem Stab aus Wiener Neustadt nach Zossen zurück. Feierliches
Antreten des Wache vor dem riesigen getarnten Areal der Kommandozentrale
des Heeres, Abschreiten der Ehrenkompanie des Wachbataillons, Flaggen- und
Blumenschmuck – für den Generalstabschef und seine Entourage waren das
kurze bewegende Momente. Zum Nachdenken blieb nicht viel Zeit.
In der Operationsabteilung lag die Hauptarbeit nun bei der Gruppe West,
während Gehlen mit seinen vier Offizieren im Stillen den Aufmarsch im Osten
zu bearbeiten hatte. Er konnte rückblickend betrachtet froh darüber sein,

359 Ebd., S. 365 (14.4.1941).

213
dass Jugoslawien und Griechenland, wo bald nach der Besetzung ein blutiger
Partisanenkrieg entbrannte, in die Zuständigkeit des OKW übergeben werden
musste. Das hielt Gehlen und das OKH zumindest von dort verübten Verbre­
chen und Vergeltungsmaßnahmen fern. Mit der Konzentration auf den Osten
wurde Improvisation das Gebot der Stunde. Widerwillig musste sich Hitler
der Idee Halders beugen, den Kräftemangel bei der Heeresgruppe Süd stärker
durch den Einsatz von verbündeten Armeen auszugleichen. Der Angriffster­
min musste nochmals um vier Wochen verlegt werden, die man nutzte, um
aus der stockenden Rüstungsproduktion die verdeckt aufmarschierenden Ver­
bände des Ostheeres wenigstens notdürftig aufzufüllen. Erbeutete Lastwagen
und Panjewagen mussten genügen, um zahlreiche Infanteriedivisionen etwas
beweglicher zu machen für die weiten Entfernungen im Osten.
Mit Genugtuung registrierte Halder, dass der »Führer« am Sonntag, dem
4. Mai 1941, in seiner Reichstagsrede zum Jugoslawienfeldzug auch dem
Generalstab seine Anerkennung aussprach.360 Sollte Gehlen das Wochenende
genutzt haben, um seine Familie in Schlesien zu besuchen, hat er sicher nicht
versäumt, das Radio einzuschalten. Dass am Freitag in Berlin die militärischen
und zivilen Wirtschaftsexperten auf Staatssekretärsebene getagt hatten und
zu dem Ergebnis gekommen waren, »zig Millionen« Menschen in der UdSSR
würden verhungern, sollte sich die Wehrmacht wie geplant »aus dem Lande
ernähren«; und dass Halder dabei war, die nach 1945 als verbrecherisch beur­
teilten Befehle sowie die Zusammenarbeit mit der SS auf den Weg zu brin­
gen – beides hat Gehlen in diesen Maitagen, wenn überhaupt, nur am Rande
wahrnehmen können.
Am 12. Mai 1941 durfte Gehlen im Beisein von Heusinger dem General­
stabschef über die endgültige Absprunggliederung für »Barbarossa« sowie die
Heeresreserven vortragen.361 Letztere würden für einen kurzen Feldzug wohl
hinreichend sein. Ansonsten hatten die Abstimmungen mit den drei Heeres­
gruppen dafür gesorgt, dass zumindest im Norden und in der Mitte die Vorstel­
lungen des OKH planerisch umgesetzt worden waren. Probleme sah Gehlen
bei der Heeresgruppe Mitte, wo Generaloberst Walter von Reichenau für seine
6. Armee eine Gliederung gewählt hatte, die nach Gehlens Ansicht die Stoß­
kraft der Panzer nicht ausreichend ausnütze. Die stärkste motorisierte Kraft
lag bei der Panzergruppe 1 von Generaloberst Ewald von Kleist. Sie war in der
Befehlsgliederung während der ersten Angriffsphase der 6. Armee zugeordnet.
Erst nach dem Durchbruch würde Kleist die Panzerkräfte selbstständig über­
nehmen und den Vorstoß in die Ukraine vorantreiben.

360 Ebd., S. 393 (4.5.1941).


361 Ebd., S. 408 (12.5.1941).

214
Hierin sah Gehlen gewisse Gefahren, weil im Süden, wo im Gegensatz zu
den anderen Heeresgruppen nur eine Panzergruppe operierte, eine zweite
motorisierte Stoßkraft fehlte, um weiträumige Kessel zur Vernichtung des
Feindes bilden zu können. Dabei standen genau dort die Hauptverteidigungs­
kräfte der Roten Armee. Seine persönlichen Erfahrungen vor Jahresfrist im
Frankreichfeldzug sagten ihm, dass bei einer zeitweiligen Unterstellung der
Panzerkräfte die Infanterie bei ihrem Durchbruch der feindlichen Verteidi­
gungslinie womöglich zu langsam vorankommen und die Panzer zur eigenen
Absicherung – insbesondere zur Abwehr von Gegenangriffen aus dem Pripjet-
Gebiet – zurückhalten könnte, was dem Feind dann ein geordnetes Zurückwei­
chen an den Dnjepr ermöglichen würde. Konkret bestand im Süden die Gefahr,
dass sich die Rote Armee auf den gut ausgebauten Verteidigungsbereich Kiew
zurückziehen und durch hartnäckige Kämpfe den deutschen Vormarsch in die
Ukraine blockieren könnte. Damit würde der gesamte deutsche Feldzugsplan
in eine Schieflage geraten. Hier steckte tatsächlich ein Keim des Scheiterns,
was Gehlen, der darauf brannte, sein operatives Talent einsetzen zu können,
vielleicht sogar vorausahnte.362
Drei Tage später hat er vermutlich Halder zu einer Besprechung bei der
Heeresgruppe Süd in Rzeszow (Galizien) begleiten können. Im Hauptquartier
der 17. Armee ging es um die von Gehlen inspirierte Kräfteverteilung. Geh­
len war froh gewesen, der Armee zusätzliche Kräfte zur Verfügung stellen zu
können, damit diese die rechte Flanke des Hauptstoßes trotz des unumgäng­
lichen Auseinanderdriftens der Angriffskeile abdecken konnte. Der Zuteilung
von schwerster Fernartillerie für den Durchbruch der befestigten Stalin-Linie
an der alten sowjetischen Grenze hatte die Armee jedoch widersprochen, auch
hier mussten die Vorstellungen aufeinander abgestimmt werden.363
Zwei Wochen später, am 4. und 5. Juni 1941, versammelte Halder alle
Generalstabschefs der Armeen und Heeresgruppen des Ostheeres,364 um mit
ihnen nicht nur die allgemeine Kriegslage und eine Fülle von Einzelheiten des
bevorstehenden Feldzugs zu besprechen, sondern auch das innere Band zu
»seinen« Generalstabsoffizieren zu festigen. Gehlen nahm als Gruppenleiter
Ost selbstverständlich daran teil. Ein wichtiger Punkt, der alle interessierte,

362 Eine Woche nach Gehlens Vortrag fand eine lebhafte Auseinandersetzung mit Reiche­
nau statt, bei der es Halder und Brauchitsch gelang, den eigenwilligen Armeeführer zu
einem Kompromiss in der Befehlsgliederung zu bewegen; ebd., S. 320 (19.5.1941). Das
änderte nichts an den absehbaren Verzögerungen beim späteren Vormarsch mit den
nachteiligen Folgen für den Gesamtfeldzug, über die Gehlen im August in Verzweiflung
geriet.
363 Ebd., S. 328 (24.5.1941).
364 Ebd., S. 438 – 444 (4.6.1941).

215
war die erhoffte »Vorausbeförderung«. Halder konnte nur andeuten, dass
er sich darum kümmern würde, erklärte zugleich aber sybillinisch: »Unsere
Vorteile ergeben sich am Ende der Berufslaufbahn.«365 Für Gehlen und einige
andere sollte sich nach 1945 diese Prognose in einer Weise erfüllen, die nicht
innerhalb des Horizonts von 1941 lag. Gehlen selbst fiel später die Rolle zu,
Halders Worte in die Tat umzusetzen. Zunächst einmal durfte er sich darü­
ber freuen, dass er eine Woche vor Beginn des Überfalls auf die UdSSR die
Beförderung zum Oberstleutnant mitgeteilt bekam, mit dem Rangdienstalter
1. Juli 1941, dafür aber an zweiter Stelle dieser Dienstgradgruppe, was beste
Voraussetzung für die nächste Beförderung bot. Er hatte das mit seiner Ein­
satzbereitschaft zweifellos verdient, im Stabsquartier und an der Lagekarte,
während andere sich mit ihrem Bataillon an der Front bewähren mussten.
Wollte Gehlen den Anschluss in der Spitze des Heeres halten, durfte er nach
der Tradition eine weitere Truppenbewährung eigentlich nicht aus den Augen
verlieren.
Doch nun startete der entscheidende Feldzug des Krieges, und er hatte
glänzende Aussichten, in der voraussichtlich kurzen Phase bis zum Sieg ent­
scheidenden Anteil daran an höchster Stelle zu nehmen. Was zählten da die
Ankündigungen Halders bei der großen Stabsbesprechung über die politischen
Implikationen und die Absprachen mit der SS. Beruhigend muss es in seinen
Ohren geklungen haben, dass der Generalstabschef nach mehr als einjährigem
Streit mit der SS über die »Ostvorgänge 1939« mitteilte, dass sich Brauchitsch
und Himmler darauf verständigt hätten, die Sache endgültig ad acta zu legen.
»Auch vonseiten der Truppe in Zukunft keine Äußerungen mehr gegenüber
Außenstehenden sowie innerhalb des Heeres.«366 Das Schweigegebot seines
Chefs hat Reinhard Gehlen bis zu seinem Tod eisern eingehalten.
Als ehemaliger Leiter der Ostgruppe in der Operationsabteilung hat sich
Gehlen nach 1945 auch jeglicher Kritik an dem Entschluss zum Überfall auf
die UdSSR und dessen Vorbereitung enthalten. Das überließ er seinem dama­
ligen Chef. Adolf Heusinger behauptete in seinen Einlassungen und Schriften
nach dem Krieg, dass es im OKH erhebliche Vorbehalte gegen den Ostfeldzug
gegeben habe. Hitler selbst habe sich der »Vorbereitung sowohl auf dem mili­
tärischen, wie politischen, wirtschaftlichem und propagandistischem Gebiet«
gewidmet und habe die »rein militärischen Notwendigkeiten« immer wieder
zurückgestellt.367 Das ist eine inzwischen längst widerlegte Legende,368 die dem
Mythos von der Professionalität des Generalstabs und der »sauberen Wehr­

365 Ebd., S. 441.


366 Ebd., S. 482 (4.6.1941).
367 Meyer, Heusinger, S. 150.
368 Siehe hierzu grundlegend Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4.

216
macht« diente. Gehlens späteres Schweigen ist dennoch bemerkenswert, weil
er im Zentrum der Entscheidungen des OKH an der Planung und operativen
Durchführung von »Barbarossa« mitgewirkt hat. Er ist mit Sicherheit selbst -
wie fast alle anderen – der IIIusion eines kurzen Feldzugs sowie der fast unver­
ständlichen Unterschätzung des Gegners und der eigenen Siegeszuversicht
erlegen, die Heusinger für den Sommer 1941 immerhin einräumt.369
Der Chef der Operationsabteilung sah die Ursache später im Versagen der
Abteilung Fremde Heere Ost, der es nicht gelungen sei, die Schlachtordnung
und die Fähigkeiten der Roten Armee realistisch einzuschätzen. Gehlen hin­
gegen, als Pensionär noch ganz der ehemalige Chef von FHO, meinte in seinen
Memoiren mitteilen zu müssen, dass es der Abteilung unter seinem Vorgänger
gelungen sei, »ein einigermaßen zutreffendes Bild der sowjetischen Wehrkraft,
der Kriegsgliederung sowie der Aufmarschvorbereitungen und operativen Pla­
nungen der sowjetischen Streitkräfte zu gewinnen. Auf diesen Feststellungen
konnte der Feldzugsplan >Barbarossa< entwickelt und im Ablauf der Ereig­
nisse weiter aufgebaut werden.«370 Auch hier verschleierte Gehlen nachträglich
seinen Beitrag am Scheitern des Feldzugs, denn er verrannte sich – wie die
meisten anderen Generalstabsoffiziere – bis zur Wende vor Moskau in dem
Glauben, es sei möglich, durch eine überlegene operative Führungskunst die
Rote Armee auch bei zahlenmäßiger Überlegenheit des Gegners vernichtend
zu schlagen. Sein unbedingtes Festhalten am Mythos von FHO, der ihm nach
1945 eine traumhafte Karriere verschaffte, ließ dem Pensionär keinen Spiel­
raum, zumindest für Ansatz und Durchführung von »Barbarossa« Zweifel an
der Leistungsfähigkeit von FHO zuzulassen.
Am 22. Juni 1941 startete der bis dahin größte Feldzug der Weltgeschichte.
Mit mehr als drei Millionen Soldaten überrannte die Wehrmacht die grenznah
eingesetzten sowjetischen Truppen. In mehreren gewaltigen Kesselschlach­
ten verlor die Rote Armee einen großen Teil ihrer Westarmeen und zog sich
unter schweren Kämpfen ins Landesinnere zurück. Als Leiter der Ostgruppe in
der Operationsabteilung hatte Gehlen vom ersten Tag an einen vollständigen
Überblick über die Lageentwicklung an der Ostfront. Bei ihm liefen ständig die
Meldungen der Armeen und Heeresgruppen über die Fortschritte der Operati­
onen, die vermuteten feindlichen Absichten und die eigenen Entschlüsse ein.
Über das daraus entstehende Lagebild hatte er seinen Abteilungschef Heusin­
ger zu informieren, der wiederum den Chef des Generalstabs auf dem Laufen­
den hielt. Halders Entschlüsse, über die er sich mit dem Oberbefehlshaber des
Heeres besprach, waren persönliche Entscheidungen des Generalstabschefs.

369 Ebd.
370 Gehlen, Der Dienst, S. 19.

217
Selbstverständlich beriet er sich darüber auch mit Heusinger, der sich auf die
Zuarbeit seines fleißigen Gruppenleiters stützte bzw. diesem die Umsetzung
und Koordinierung der Entscheidungen übertrug.
Für Gehlen bedeutete das eine fieberhafte und nervenaufreibende Arbeit
bei Tag und Nacht, in großer Selbstlosigkeit und in Abhängigkeit von seinen
unmittelbaren Vorgesetzten. Nur deren Autorität verlieh seiner Kommu­
nikation mit den Frontstäben eine gewisse Durchschlagskraft. Das betraf
hauptsächlich operativ-taktische Details des Feldzugs, während Fragen von
strategischer Bedeutung die Generalstabschefs bzw. Oberbefehlshaber direkt
verhandelten. Hier konnte der Gruppenleiter in der Operationsabteilung nur
rechtzeitig seinen Chef auf Probleme aufmerksam machen, die sich nach sei­
nem Eindruck abzuzeichnen begannen, und gegebenenfalls Vorschläge erar­
beiten. In Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen des OKH hatte Gehlen
außerdem Informationen einzuholen und zu beurteilen, die für die Operati­
onsführung von Bedeutung waren. Das schloss arbeitsintensive Initiativen
und das Formulieren eigener Ideen ein, die vom Chef der Operationsabtei­
lung abgelehnt, beiseitegelegt oder als lästig eingeschätzt wurden. Um seine
begrenzten Spielräume nutzen zu können, war Gehlen also darauf angewiesen,
seinem Chef vorausschauend zuzuarbeiten und zu erkennen, inwieweit Heu­
singer sich von seinem Gruppenleiter beeinflussen ließ.
Ganz sicher kann man sein, dass Gehlen nach seinen bisherigen Erfahrun­
gen in der Spitze des OKH überzeugt davon war, sich möglichst eng innerhalb
der eigenen Zuständigkeiten zu bewegen. Von politischen Fragen hielt man
sich besser fern, wie Brauchitsch und Halder, die sich nach dem Arrange­
ment mit Heydrich in der IIIusion wiegten, das Heer aus der »schmutzigen«
Seite des Vernichtungskrieges weitgehend heraushalten zu können. Auch
wenn gleich in den ersten Tagen des Feldzugs erkennbar war, dass die SS im
Rücken der zunächst schnell nach Osten vordringenden Heeresverbände, und
eng mit ihnen verbunden, brutale Mordaktionen gegen politische Gegner
und die jüdische Bevölkerung unternahm, wäre das im Kasino des OKH kein
Gesprächsthema für Gehlen gewesen. Selbst der Erste Generalstabsoffizier
der Heeresgruppe Mitte, Oberstleutnant i. G. Henning von Tresckow, der zum
militärischen Widerstand zu rechnen ist, hat sich zunächst darauf beschränkt,
die einschlägigen Meldungen von SS und Polizei abzuzeichnen, in der offen­
sichtlichen Hoffnung, dass es mit Fortschreiten des Feldzugs gelingen würde,
die vermeintlichen Exzesse einzudämmen.371 Dass es sich um systematischen
Massenmord handelte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht.

371 Siehe Uta von Aretin: Freiheit und Verantwortung. Henning von Tresckow im Wider­
stand, Göttingen 2015.

218
Gehlen (rechts) im Krieg
über einer Karte

Der Gruppenleiter Ost in der Operationsabteilung war in den heißen Som­


merwochen des Jahres 1941 fieberhaft damit beschäftigt, die nach Osten stür­
menden Armeen und Divisionen unter der Kontrolle des OKH zu halten. Ihm
ging es wohl ähnlich wie Heusinger, der von sich mit Stolz bemerkte, er könne
»diese ungeheuere Maschinerie steuern und lenken«, wie er es für richtig hal­
te.372 Am 30. Juni besuchte Hitler aus Anlass von Halders 57. Geburtstag per­
sönlich die Operationsabteilung. Am Morgen war zu Ehren des Generalstabs­
chefs ein feierlicher Appell abgehalten worden. Während des Morgenvortrags
durch Paulus hielt dieser als Stellvertreter Halders eine freundliche Ansprache.
Zu den Gratulanten gehörte selbstverständlich auch Gehlen.
Das Hauptquartier des OKH lag im Mauerwald nördlich der ostpreußischen
Kleinstadt Angerburg, an einem der masurischen Seen. In der Barackenstadt
des Lagers »Fritz«, die den gesamten Wald abdeckte, befand sich im nördli­
chen Teil das Landhaus, das Halder und Brauchitsch gemeinsam benutzten.
Gleich nebenan standen die Baracken für die Operationsabteilung, die Orga­
nisationsabteilung, die Abteilungen Fremde Heere West und Fremde Heere Ost
sowie das Büro des Chefs des Heeresnachrichtenwesens. Kuriere sorgten für
den täglichen Transport der neuesten Lagekarten zum Führerhauptquartier
»Wolfsschanze«, das sich 15 Kilometer Luftlinie vom Mauerwald befand und

372 Zit. nach: Meyer, Heusinger, S. 152.

219
Baracken des Hauptquartiers vom Oberkommando des Heeres im ostpreußischen Mauer­
wald, 1941

über eine Verbindungsstraße durch Rastenburg sowie eine direkte Eisenbahn­


linie zu erreichen war.373
Der Lagevortrag Halders in Anwesenheit Hitlers fand nachmittags in sei­
nem Landhaus statt. Nicht auszuschließen, dass im Hintergrund auch Heu­
singer und Gehlen mitwirkten. Hitler äußerte seine Vorstellungen über den
weiteren Verlauf der Operationen eindeutig. Es gehe um die Einnahme von
Leningrad, um die Zufuhr der Schwedenerze zu sichern, sowie um die Beset­
zung der Ukraine wegen ihrer Bedeutung für die Ernährung der Deutschen
und für die Industrie. Bei einer Teestunde plauderte man über die außenpoli­
tische Entwicklung und die Verteilung der Welt.374
Ende Juli zeichnete sich für Gehlen ab, dass Halders Plan eines massiven
direkten Stoßes auf Moskau zur raschen Beendigung des Feldzugs immer stär­
ker in Gefahr geriet. Die schnellen Panzerkeile schlossen die Masse der an der
Front eingesetzten Teile der Roten Armee in Kesseln ein, deren Ausdehnung
allerdings viel zu groß war. Da die sowjetischen Armeen heftigen Widerstand

373 Siehe die Erinnerungen des Kurierfahrers Karl Fischer: Ich fuhr Stauffenberg. Erinne­
rungen an die Kriegsjahre 1939-1945, Letschin 2004, S. 56.
374 Halder, KTB III, S. 28-29 (30.6.1941).

220
Franz Halders Arbeitszimmer in Mauerwald

leisteten, blieben die Panzerverbände zunächst gebunden, um die dünnen


deutschen Einschließungslinien gegen Entlastungsangriffe bzw. Ausbruchs­
versuche zu verstärken, und gleichzeitig kam die Infanteriearmee mit der
»Ausräumung« der Kessel nur langsam und unter hohen Verlusten voran. Der
weitere Vormarsch verzögerte sich also, auch wenn die Zahl der vernichteten
Feindarmeen, der Gefangenen sowie der erbeuteten bzw. zerstörten Kriegsge­
räte beeindruckend hoch war. Da Halder gemeint hatte, das Pripjet-Problem
ignorieren zu können, stand die Heeresgruppe Mitte unter starkem Druck auf
ihrer rechten Flanke, während die Heeresgruppe Süd, die sich der Masse der
im Westen eingesetzten Teile der Roten Armee gegenübersah, nur schrittweise
vorankam. Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass man zwar die Grenz­
schlachten wie geplant erfolgreich geschlagen hatte, die Rote Armee und das
Sowjetregime aber nicht zusammenbrachen. Von einem schnellen deutschen
Vormarsch entlang der Eisenbahnlinien konnte keine Rede sein, stattdessen
gelang es dem sowjetischen Generalstab, die aufgerissene Front immer wieder
mit neu mobilisierten Verbänden zu schließen. Die Wehrmacht hatte daher
nicht die erhoffte freie Bahn, sondern musste mühsam immer wieder zu ver­
lustreichen Durchbruchsoperationen antreten.
Gehlen arbeitete unauffällig im Hintergrund und hatte über mehrere
Wochen keine Gelegenheit, direkt dem Generalstabschef vorzutragen. Ein
Besuch Hitlers bei der Heeresgruppe Nord gab Halder Gelegenheit, seinen

221
Gruppenleiter Ost und ehemaligen Adjutanten ausführlicher zu sprechen.375
Wie Gehlen erfuhr, waren sich der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe, Leeb,
und der Diktator über die Lage vor Ort einig. Die unmittelbare Einnahme
von Leningrad schien möglich. Gehlen berichtete, der Chef des OKW, Keitel,
habe Hitler offenbar bedrängt, zur Absicherung der Heeresgruppe Nord Pan­
zerkräfte aus der Hauptstoßrichtung Moskau abzuziehen, was Halder strikt
ablehnte. Leebs Vormarsch endete bekanntlich mit der Belagerung Lenin­
grads, die dann Anfang 1944 trotz einer Million verhungerter Zivilisten erfolg­
los abgebrochen werden musste.
Am 25. Juli 1941, vier Wochen nach Beginn des Krieges im Osten, als man
eigentlich schon in Moskau sein wollte, beorderte Halder die Generalstabs­
chefs der Heeresgruppen zu einer Lagebesprechung mit Frühstück zu sich, an
der auch Gehlen zusammen mit Paulus und Heusinger teilnahm.376 Es wurden
Vorschläge für die Weiterführung der Operationen in der vermeintlich bevor­
stehenden Schlussphase des Feldzugs sowie für die baldige Zurückführung
von großen Teilen des Ostheeres erörtert.377
Im Verlauf des August 1941 spitzte sich aber die Situation im OKH zu. Heu­
singer war hochgradig nervös und hielt ein Scheitern des Blitzkriegsplanes
»Barbarossa« nicht mehr für ausgeschlossen.378 Halder kämpfte darum, ein
Auseinanderfasern der Operationen zu verhindern und die Hauptstoßrichtung
Moskau beizubehalten. Er geriet dabei zunehmend in Konflikt mit Hitler, dem
aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen die rasche Inbesitznahme der
Ukraine wichtiger war als die Hauptstadt des Feindes. Gleichzeitig zeichnete
sich ab, dass Japan nicht bereit sein würde, eine zweite Front gegen die UdSSR
zu errichten, weil es durch die USA zunehmend unter Druck gesetzt wurde.
US-Präsident Roosevelt ließ erkennen, dass er bereit war, in den Krieg gegen
die Achsenmächte einzutreten.379 Deshalb sah sich Hitler in der Forderung
bestätigt, möglichst rasch die wirtschaftlichen Kraftquellen Stalins in die Hand
zu bekommen, um im Osten eine Vorentscheidung zu erzwingen und so unter
Umständen die USA doch noch vom Kriegseintritt abzuhalten.

375 Ebd., S. 100 (21.7.1941).


376 Ebd., S. 119 (25.7.1941).
377 Karten mit handschriftlichen Bemerkungen und Anweisungen Gehlens von Ende Juli/
Anfang August 1941, in Gehlen-Kisten, Mappen Nr. 5, Nr. 26 und Nr. 29. Zu den Planun­
gen für die Zeit nach »Barbarossa« siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg,
Bd. 3, S. 572-587.
378 Meyer, Heusinger, S. 157.
379 Zur Juli-August-Krise siehe David Stahel: Operation Barbarossa and Germany’s Defeat
in the East, Cambridge 2009.

222
Solange es an der Front weiterging, blieben im OKH die Nerven ange­
spannt. Heusinger und Halder waren wohl sogar zum Rücktritt bereit, doch
Brauchitsch befahl, dass jeder auf seinem Platz zu bleiben habe.380 Die Operati­
onsabteilung arbeitete unter Hochdruck wie noch nie während des bisherigen
Krieges. Um acht Uhr morgens nahm Heusinger den Lagevortrag Gehlens ent­
gegen, der sich immer intensiv darauf vorbereitete. Danach gab Heusinger im
Lauf des Vormittags die Ergebnisse an die Heeresführung weiter, telefonierte
und konferierte, gönnte sich allerdings auch eine Mittagsruhe, um dann bis
Mitternacht weiterzuarbeiten.381 Sein Gruppenleiter Ost arbeitete schier ohne
Pause und übernachtete meist sogar im Büro. Während Heusinger über sei­
nen Ersten Generalstabsoffizier, Oberstleutnant i. G. Helmuth von Grolmann,
urteilte, er sei mit seiner »sehr stillen und doch sehr sicheren Art« »beson­
ders angenehm«, notierte er über seinen Gruppenleiter: »Gehlen ist zu emsig
und muss von mir dauernd gebremst werden, weil er sonst zu viel Unruhe
hereinbringt.«382 Ob dies mit der Einnahme von Pervitin zusammenhing, ist
nicht bekannt.
Gehlen entwarf die Vorträge seiner Vorgesetzten, arbeitete deren Korrektu­
ren ein – und hoffte, dass die Planungen nicht vom »Führer« über den Haufen
geworfen wurden. Ende Juli 1941 konzipierte er ein Schreiben an den Wehr­
machtführungsstab, um bei dem persönlichen Stab Hitlers Verständnis und
Unterstützung für die Vorstellungen des OKH zu finden. Er bemühte sich, den
»Grundgedanken der starken Offensive auf Moskau« ausführlich zu begrün­
den, und warnte davor, Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, die den geplan­
ten Verlauf des Feldzugs verzögern würden. Nur durch die Konzentration der
Kräfte im Bereich der Heeresgruppe Mitte könne man bis Anfang September
Moskau erreichen.383 Obwohl Jodl der Auffassung des OKH zustimmte, sah er
sich nicht in der Lage, Hitler von der Absicht abzubringen, die großräumigen
Operationen in Richtung Moskau abzubremsen, Leningrad mit starken Kräf­
ten anzugreifen und den Feind westlich des Dnjepr zu vernichten. Unter Zuar­
beit von Gehlen bemühte sich Halder vergeblich darum, Hitler auf direktem
oder indirektem Weg davon zu überzeugen, dass dessen strategische Grund­
auffassung falsch sei.
In diesen Tagen erhielt der damalige Chef der Abteilung Fremde Heere Ost
Kinzel Beschwerden von der Front, dass in den Lagekarten die Feindstärke
immer wieder »ganz erheblich« unterschätzt würde, weshalb die Leistungen

380 Meyer, Heusinger, S. 156.


381 Ebd., S. 155.
382 Brief Heusingers vom 2.8.1941, zit. nach: ebd.
383 Entwurf eines Schreibens an OKW/WFSt vom 29. Juli 1941, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 22.
Zum Hintergrund siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 494.

223
der eigenen Truppe nicht richtig gewürdigt werden. Dem Chef des General­
stabs des XXXVIII. Armeekorps, Oberst Curt Siewert, zuletzt Generalleutnant
der Wehrmacht, dann 1956 Kommandierender General des I. Korps der Bun­
deswehr, schrieb Kinzel daraufhin:

Ich bin für derartige Mitteilungen und Anregungen immer dankbar, beson­
ders da wir hier vom grünen Tisch aus den wirklichen Hauch der Front lei­
der entbehren müssen [...] Wir schneiden uns die Feindnachrichten nicht
aus den Rippen, sondern setzen das ein, was uns die verehrte Heeresgruppe
meldet [...] Ich kann mir lebhaft denken, wie sehr Sie alle Hände voll zu tun
haben werden. Das haben wir auch. Und doch beneide ich Sie glühend. Es
wird eine ständige Wunde meines Lebens bleiben, daß ich nach 25jähriger
Soldatenzeit gerade diesen Krieg am Schreibtisch mitmachen muß. Man ist
geneigt, wie Scharnhorst auszurufen: Gern alle Orden und Ehrenzeichen
gegen das Kommando eines Tages einzutauschen.384

Anders als Kinzel hat Gehlen im Spätsommer 1941 seine Arbeit am Schreib­
tisch genossen. Er muss es in dieser Lage als besonders lästig empfunden
haben, dass ihn seine frühere Zeit in der Abteilung Landesbefestigung ein­
holte. Anfang 1941 hatte Halder den Oberquartiermeister V, General der Infan­
terie Waldemar Erfurth, beauftragt, eine Sammlung von Akten und Dokumen­
ten zur Vorgeschichte des aktuellen Krieges zusammenzustellen.385 Nachdem
Erfurth als Leiter des Verbindungsstabes Nord nach Finnland gegangen war,
hatte ein Major Hauser die Aufgabe übernommen. Als dieser Mitte Juli 1941 den
Abschluss seiner Sammelarbeit melden wollte, stand noch die Auswertung für
den Bereich Landesbefestigung aus, die Gehlen als ehemaliger Referent hatte
übernehmen sollen. Auf die Anfrage Hausers, wann er denn den Beitrag nach­
reichen würde, wandte sich Gehlen umgehend an Oberstleutnant Dr. Roos von
der Inspektion der Festungen und bat darum, dass ihm zumindest das bereits
vorliegende Material zugesandt werde, um eine sich hin und wieder ergebende
Freistunde zur Bearbeitung nutzen zu können.
Die wiederholte Mahnung durch General Erfurth war ihm offensichtlich
peinlich. Deshalb schrieb er parallel dazu dem General, kurz vor Beginn der
Operationen gegen die UdSSR sei dem Generalstabschef mitgeteilt worden, die
befohlene Arbeit sei infolge der Vorarbeiten für »Barbarossa« noch nicht zum
Abschluss gebracht worden. Halder hatte entschieden, dass die Arbeit nach
dem Ende des Feldzugs fortgeführt werden sollte. Gehlen rechnete nun damit,

384 Schriftwechsel Kinzels 30.8. bis 8.9.1941, BA-MA, RH 24-38/163.


385 Korrespondenz Gehlens dazu in: BA-MA, RH 2/3100.

224
dass er die Bearbeitung Ende August wieder aufnehmen könne. Dann werde
eine kurzfristige Fertigstellung möglich sein, weil die Inspektion der Festungen
bis dahin auch die fehlenden Unterlagen bereitstellen würde.
Der viel beschäftige Gehlen musste also sehen, wie er die vernachlässigte
Arbeit neu organisierte, um nicht seinen Ruf als äußerst fleißiger und zuver­
lässiger Mitarbeiter im Generalstab zu gefährden. Der von ihm beauftragte
Sachbearbeiter Roos konnte allerdings in diesen Julitagen die Arbeit nicht vor­
antreiben, weil er für drei Wochen zum Deutschen Afrikakorps kommandiert
worden war, wo man dringend Sachverstand für die britischen Festungen Tob­
ruk und Bardia brauchte. Anfang August legte Roos dann eine erste Skizze vor.
Die Fertigstellung der gesamten Studie nebst Dokumentenanhang verzögerte
sich bis Ende September 1941.386
Der Vorgang mag Heusingers Bemerkung erklären, Gehlen würde alles an
sich heranziehen und dann doch nicht durchdringen. Die Angelegenheit wurde
für Gehlen vor allem dadurch unangenehm, weil ihm Heusinger in der sich
zuspitzenden Führungskrise Anfang August 1941 auftrug, sich persönlich über
die Lage an der finnischen Front zu informieren und dort die neue Führerwei­
sung über die Weiterführung der Operationen an der deutsch-finnischen Front
zu erläutern. Es ging insbesondere um die beabsichtigte Wiederaufnahme des
Angriffs der Heeresgruppe Nord auf Leningrad.387 Der zeitweilige Stillstand
hatte schon finnische Besorgnisse ausgelöst. Gehlens Auftrag war also nicht
unwichtig, doch drängt sich der Eindruck auf, dass es Heusinger auch darum
ging, seinen hektischen Gruppenleiter für einige Zeit aus der Abteilung zu
entfernen. Aber Gehlen würde sich in Finnland bei General Erfurth melden
müssen.
Am 10. August war es so weit. Gehlen brachte Erfurth die Orientierungen
über die Gesamtlage.388 Ob auch über das ausstehende Manuskript Gehlens
gesprochen wurde, verzeichnet das persönliche Tagebuch Erfurths nicht, der
sicher von ganz anderen Sorgen geplagt wurde. Da Gehlen als Offizier gewohnt
war, nur auf Fragen von Vorgesetzten zu antworten und nicht von sich aus
Themen anzuschneiden, wird er – obwohl entsprechend präpariert – die Stu­
die Landesbefestigung nicht angesprochen haben. Unbedingt erforderlich war
Gehlens Kommandierung aber auch nicht gewesen, denn Erfurth erhielt am

386 Manuskript des OTL [Oberstleutnant] i. G. Gehlen, Operationsabteilung, erarbeitet von


OTL Dr. Roos 1941 (Kopie z. T.): Die Entwicklung der deutschen Landesbefestigung in
der Zeit von 1919-1939, BA-MA, RH 2/3097; Materialsammlung dazu, in: BA-MA, RH
2/3099.
387 Zum operativen Hintergrund siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4,
S. 810-848.
388 Persönliches Tagebuch Erfurths, S. 103 (10.8.1941), BA-MA, N 257/v.l.

225
Nachmittag den Besuch von General Harald Oehquist, dem finnischen Ver­
bindungsoffizier zum OKW und zum OKH, der von seiner Audienz bei Hitler
berichtete und Anregungen von Halder mitbrachte.
Vier Tage später, am 14. August 1941, meldete sich Gehlen bei Halder zurück
und wusste nur Gutes über die beachtlichen Leistungen des Verbündeten zu
berichten.389 Danach hielt Heusinger seinen Gruppenleiter für drei Monate vom
Generalstabschef fern. Dennoch nahm Gehlen in unmittelbarer Nähe wahr,
wie der Streit zwischen der Heeresführung und Hitler eskalierte und der Dik­
tator in einer eigens angefertigten Denkschrift erläuterte, dass er Guderians
Panzerkräfte vom Ansatz auf Moskau abziehen wollte, um durch einen weiten
Vorstoß nach Süden die Lage in der Ukraine zu bereinigen. Die schriftlichen
Gegenvorstellungen, die Brauchitsch unterzeichnete, blieben ohne Wirkung.390
Daraus entwickelte sich zwar die größte Kesselschlacht der Weltgeschichte,
aber Halders Grundgedanke, mit einer schnellen Einnahme von Moskau den
Feldzug im Wesentlichen zu beenden, war damit nicht aufgegeben.391 So musste
die Heeresgruppe Mitte noch einmal unter nicht zuletzt wegen der fortgeschrit­
tenen Jahreszeit erschwerten Bedingungen antreten. Ihre Offensive lief Anfang
November 1941 vor Moskau fest. Alles sprach dafür, die erschöpften und ausge­
brannten Truppen in sichere Winterstellungen zu bringen und den strapazier­
ten Nachschub neu zu organisieren. Doch Halder ergriff die Initiative, um die
Armeen mit Beginn der Frostperiode ein weiteres Mal auf Moskau antreten zu
lassen. Damit sollte die Kampfkraft des Feindes in den folgenden vier Wochen
noch so weit zerschlagen werden, dass dessen Regenerationsfähigkeit bis zum
nächsten Frühjahr gehemmt würde, und zugleich eine günstige Ausgangspo­
sition geschaffen werden, um im nächsten Jahr selbst noch einmal antreten zu
können. Sie konnte aber auch die erschöpften Ostarmeen überfordern und den
Gegner zu einer erfolgversprechenden Gegenoffensive ermutigen. Schlimms­
tenfalls würden die angreifenden Verbände in den zu erwartenden Schneever­

389 Halder, KTB III, S. 175 (14.8.1941). Selbstverständlich hatte Gehlen im Winter 1939/40
im OKH die Nachrichten von der finnisch-sowjetischen Front verfolgt und war von der
Leistungsfähigkeit der finnischen Armee fest überzeugt. In seinem persönlichen Nach­
lass findet sich die deutschsprachige Druckschrift von Oberstleutnant i. G. T. N. Peit­
sara, Der Finnisch-Russische Krieg 1939 – 40 (zuerst erschienen in der Militärfachzeit­
schrift »Deutsche Wehr« 29-32/1941; als Druckschrift in zweiter verbesserter Auflage
erschienen in Helsinki 1943); Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 57.
390 Abgedr. in: Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtfüh­
rungsstab) 1940 -1945 [KTB OKW], hg. von Percy Ernst Schramm, 4 Bde., Frankfurt a. M.
1961-1979, hier Bd. I, S. 1054, Dok. 94 und Dok. 95. Zum Hintergrund siehe Das Deut­
sche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 505.
391 Weitere Entwürfe und Begründungen siehe Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 22.

226
wehungen stecken bleiben. Es war eine entscheidende Weichenstellung für
den ganzen Feldzug, wahrscheinlich für den gesamten Krieg.
Nach Halders Konzept kam es darauf an, die Hauptstadt sowie die verblei­
benden Rüstungszentren und wichtigsten Bahnlinien durch eine weiträumige
Operation in die Hand zu bekommen. Halder vertraute der Einschätzung,
dass die feindlichen Truppen noch stärker geschwächt seien als die eigenen
und daher der Vorteil auf deutscher Seite lag, obwohl man sich weit von den
eigenen Versorgungsbasen entfernt hatte. Das widersprach freilich dem Feind­
lagebild der Truppe, in deren Ic-Berichten auch die Verlegung ausgebildeter,
frischer Verbände der Fernostarmee an die Verteidigungsfront vor Moskau
vermerkt worden war.392 Die Lagebeurteilung durch FHO blieb wie oft undeut­
lich und konnte angesichts begrenzter Aufklärungsmittel vor allem in strate­
gischer Hinsicht die kommende Gefahr nicht erkennen. Stalins monatelange
Vorbereitungen für eine Gegenoffensive blieben der Abteilung verborgen. Inso­
fern trifft Kinzel mit seiner Abteilung eine gehörige Portion Mitschuld an der
bevorstehenden Katastrophe.
Gehlen hat später in seinen Memoiren kein Versagen von FHO erkennen wol­
len, auch nicht eines von seinem verehrten Chef Halder. Jenseits der verständ­
lichen Loyalität stellt sich allerdings die Frage nach seinem persönlichen Anteil
an der Fehleinschätzung vom November 1941. Die, wenn auch dürftigen, Mate­
rialien von FHO haben die »Operateure«, zu denen sich Gehlen mit an vorders­
ter Stelle rechnen durfte, offenbar aufgrund der angenommenen Überlegenheit
nicht ausreichend gewürdigt. Hinzu kam die verführerische Annahme, dass
die vorhandenen Zahlen über die bisherigen Verluste der Roten Armee zutref­
fend seien und den Schluss erlaubten, dass die UdSSR trotz großer Menschen­
reserven keine neuen Armeen in kurzer Zeit würde aufstellen und ausbilden
könnten. Hier liegt ein Grundproblem der Feindlagebeurteilung gegenüber der
Roten Armee, das Gehlen später trotz größtem Eifer nicht völlig lösen konnte.
Am 5. November besprach Halder mit Heusinger die Möglichkeiten einer
»Abschlusslage« für den Feldzug. Bereits zwei Tage später lag ihm eine Denk­
schrift vor, die wesentlich von Gehlen entworfen worden sein bzw. an der er
entscheidend mitgearbeitet haben dürfte und die über Heusinger an Halder
gegangen ist. Sie bildete die Grundlage für die berühmte Besprechung von
Orscha, in der Halder mit den Generalstabschefs derjenigen Ostarmeen über
das weitere Vorgehen diskutieren wollte, die den erneuten Angriff durchzu­
führen hatten.393 Zunächst sollten die Möglichkeiten erörtert werden, die der

392 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 591.
393 Ebd., S. 587. Zum Hintergrund siehe auch Klaus Reinhardt: Die Wende vor Moskau. Das
Scheitern der Strategie Hitlers im Winter 1941/42, Stuttgart 1972, S. 139-143.

227
sowjetischen Führung verblieben waren. Dabei ging man davon aus, dass
die Rote Armee keine durchgehende Front mehr bilden und zurückweichen
würde, um Zeit für einen Neuaufbau zu gewinnen. Zwischen Brückenköpfen
um Moskau, Wologda, Tambow und im Kaukasus würde der Raum freigegeben
bis in die Steppen östlich der Wolga. Es waren letztlich unerreichbare, utopi­
sche Zielsetzungen, wie sich bei dem bevorstehenden Gespräch mit den Ost­
armeen zeigen sollte.
Zur Vorbereitung empfing Halder den Generalquartiermeister, einen Ver­
treter des Heerestransportwesens, den Chef der Operationsabteilung und
zusammen mit Heusinger eben auch noch einmal Gehlen. Es ging um die
Frage, wie der nahezu zusammengebrochene Nachschub effizienter organi­
siert werden konnte und wie die Operationen fortgeführt werden könnten.394
Am Abend des 11. November fuhr ein Sonderzug des OKH vom Bahnhof
Angerburg ab. In Begleitung Halders befanden sich Vertreter des Quartier­
meister- und Organisationswesens sowie Gehlen und eine Reihe jüngerer
Offiziere. Über Eydkau und Kowno ging es bei leichtem Frostwetter Richtung
Front. Am nächsten Tag machte man Station in Minsk, wo der Kommandeur
der berüchtigten Sicherungsdivision 707 seine Meldung absolvierte, ebenso
der zuständige Polizeiführer. Wurde über den Massenmord an der jüdischen
Bevölkerung berichtet? Wenn ja, dann wohl eher beiläufig. Nach einer Rund­
fahrt durch das weithin zerstörte Minsk, das eine wichtige Durchgangsstation
für die Ostfront war, notierte Halder: »Bilder des Gefangenenelends.«395 Wie
bewegt sind die Herren wohl darüber gewesen, die sich um das Stocken der
Operationen vor Moskau sorgten? Gehlen hat, soweit überliefert, später nie
ein Wort darüber verloren, aber er dürfte verstanden haben, dass es nicht nur
um die weitere Operationsführung schlecht bestellt war, sondern dass sich die
Wehrmacht tief in eine verbrecherische Kriegführung verstrickt hatte. Dies
mit vermeintlichen Kriegsnotwendigkeiten zu rechtfertigen, war ein häufig
gewählter Ausweg, um dieses Schandmal zeitlebens zu verdrängen.
Am Abend traf der Sonderzug am Eisenbahnknotenpunkt Orscha ein. Man
blieb in den geheizten Zugwagen und traf sich am 13. November zur »Chef­
besprechung«. Die Antwort auf die operative Kernfrage, wie weit die Offen­
sive noch vor Wintereinbruch vorangetrieben werden könnte, fiel vernichtend
aus. Keiner der verantwortlichen Generalstabsoffiziere zweifelte am Ernst der
Lage und rechtzeitige Abhilfe war überhaupt nicht in Sicht. Auch ein Appell an
die Opferbereitschaft führte nicht weiter. Immerhin erklärte sich der General­
stabschef der Heeresgruppe Mitte, Generalmajor Greiffenberg, der als Chef der

394 Halder, KTB III, S. 286 (10.11.1941).


395 Ebd., S. 288 (12.11.1941).

228
Operationsabteilung im Sommer 1940 mit Halder den Schwerpunkt Moskau
herausgearbeitet hatte, zu dem Kompromiss bereit, sofort und ohne Vorbe­
reitung direkt auf Moskau anzutreten, anstatt weiträumig zu umfassen. Nur
mit diesem Ziel, der Einnahme der feindlichen Hauptstadt, verbunden mit der
Hoffnung, dass damit der Feldzug beendet sein könnte, ließen sich die Ver­
bände motivieren, noch einmal anzugreifen.396
Halder stimmte dem Vorschlag zu und sah ansonsten der Kampfführung
in den Wintermonaten gelassen entgegen. Man würde eben im nächsten Jahr
die Abschlussoffensive durchführen müssen. Nach dem Abendessen und einer
Zusammenfassung der Ergebnisse setzte sich Halders Sonderzug gegen Mit­
ternacht wieder in Bewegung. Auf der Rückfahrt die gleichen erschütternden
Bilder und Informationen; kurzer Aufenthalt in der größten Nachschubbasis
Molodetschno. In dem »Russenlager« waren infolge einer Fleckfiebererkran­
kung 20.000 Mann »zum Absterben verurteilt«. Selbst einige deutsche Ärzte
waren bereits tödlich erkrankt. In anderen Lagern der Umgebung herrschte
zwar kein Fieber, aber hier starben die Gefangenen den »Hungertod«. Halder
notierte: »Grauenhafte Eindrücke, gegen die aber eine Abhilfe im Augenblick
nicht möglich erscheint.«397 Wie wird Gehlen als verhinderter Mediziner und
zeitlebens an Medikationsfragen höchst Interessierter mit solchen Eindrücken
umgegangen sein? Die zutreffende, aber letztlich unzureichende Erklärung,
dass es nicht gelungen sei, rechtzeitig Heilmittel gegen das Fleckfieber heran­
zuschaffen, streifte nur die Oberfläche des Problems, denn die grundlegende
Entscheidung der Heeresführung, mit Blick auf den angespannten Nachschub
die nicht arbeitsfähigen Kriegsgefangenen verhungern zu lassen, beförderte ein
Massensterben, das von Anfang an einkalkuliert gewesen war, obwohl es dem
Eigeninteresse an leicht verfügbaren Arbeitskräften und möglichen »Hilfswil­
ligen« für eine antistalinistische Hilfstruppe aus Einheimischen zuwiderlief.
Diesen Aspekt entdeckte der Augenzeuge Gehlen erst später.
Nach der Rückkehr aus Orscha schien sich für die Operationsabteilung die
Jahresarbeit dem Ende zu nähern. Heusinger machte sich noch einige Gedan­
ken über mögliche Operationen im nächsten Jahr.398 Im Übrigen schien es nun
an den Frontstäben zu liegen, ihre taktischen Bewegungen vor Einnahme der
winterlichen Ruhestellung zu organisieren. Heusinger hatte bereits damit
gerechnet, die Baracken in Masuren verlassen und nach Berlin zurückkehren
zu können.399

396 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 590.
397 Halder, KTB III, S. 289 (14.11.1941).
398 Ebd., S. 290 (15.11.1941).
399 Meyer, Heusinger, S. 162.

229
Gehlen taucht in den nächsten Monaten nicht mehr in den Notizen von
Halder auf, war vermutlich also aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Hatte
er unter den Wintertagen in Russland gelitten oder war er wie andere am Ende
seiner Kräfte nach diesen hektischen Monaten? Sein Chef Heusinger gab sich
ganz der Melancholie und seinem Lebensrezept hin, nicht über die Vergan­
genheit zu sinnieren, sondern sich auf die Forderungen des Tages einzustellen.
Auch wenn der Krieg nun übersichtlich geworden war, müsse man weiterma­
chen, »sonst sind wir verloren«.400
Mit Stalins überraschender Gegenoffensive ab dem 5. Dezember 1941 fand
die Melancholie Heusingers ein abruptes Ende. Im OKH musste man inner­
halb weniger Tage erkennen, dass insbesondere die Heeresgruppe Mitte vor
Moskau in größte Schwierigkeiten geriet und zum Rückzug gezwungen war.
Hitlers fanatische Durchhaltebefehle verhinderten nicht die Absetzbewegun­
gen der völlig erschöpften und überforderten Truppen. Der »Führer« entließ
eine Reihe von Generalen und genehmigte die Zuführung von Reserven aus
dem Westen. Durch die improvisierte Operationsführung der bedrängten Hee­
resgruppe gelang es, bis zum Jahreswechsel die Front mühsam zu stabilisieren
und Stalins Hoffnung auf eine völlige Zerschlagung der Wehrmacht zunich­
tezumachen. Die Wende vor Moskau beschäftigte andere Abteilungen des
OKH stärker als die Operateure, die sich oft darauf beschränken mussten, die
Anfragen und Maßnahmen zugunsten der Front zu koordinieren. Für größere
operative Überlegungen war vorerst keine Zeit, aber zumindest Heusinger fand
nun hin und wieder Muße, über die weiteren Perspektiven des Krieges nach­
zudenken. Eine politische Verständigung mit Großbritannien schien ihm wün­
schenswert, war aber wohl ausgeschlossen. So müsse man sich eben durch­
beißen, »und wenn es noch so lange dauert«.401 Heusinger glaubte, nur mit
Loßberg, dem Vertreter des Heeres beim Chef des Wehrmachtführungsstabes,
gelegentlich über seine düsteren Erwartungen sprechen zu können, obwohl
man in der Operationsabteilung seinen mittelfristigen Prognosen zustimmte.
Der für die Ostfront zuständige Mitarbeiter Gehlen hatte offenbar keine solche
Vertrauensstellung bei seinem Chef.
Mit Hitlers Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember verschlechter­
ten sich die Aussichten weiter. Durch Japans Überfall auf Pearl Harbor am
7. Dezember und die folgende Kriegserklärung der USA hatte sich der »Führer«
gezwungen gesehen, sein Beistandsversprechen einzuhalten. Dagegen weckte
seine Entscheidung, selbst den Oberbefehl über das Heer zu übernehmen,
im OKH zunächst die Erwartung, das würde die eigene Durchschlagskraft

400 Ebd., S. 163.


401 Ebd., S. 166.

230
Deutsche Feldstellung südwestlich von Moskau, 8. Dezember 1941

innerhalb der Wehrmachtteile stärken. Halder hoffte, eine Art von Reichsge­
neralstabschef zu werden, der, unmittelbar dem Obersten Befehlshaber unter­
stellt, einen wesentlichen größeren Einfluss auf die Kriegführung ausüben
könnte. Solche IIIusionen verflogen schnell. Hitler ließ keinen Zweifel an sei­
ner grundlegenden Einstellung: »Das bißchen Operationsführung kann jeder
machen.«402 Der Operationsabteilung blieb nicht viel mehr als die technische
Umsetzung von Entscheidungen der obersten Führung, die im Verlaufe des
Krieges immer stärker Hitlers persönliche Handschrift trugen. Unter Heusin­
gers Führung konnte sie zumindest eine Art von Frühwarnsystem bleiben,
»das seismographisch alle krisenhaften Entwicklungen zu ahnen hatte, bevor
sie sich allzu verhängnisvoll auswirkten«.403
Doch Hitler verstand es auch, seine Erfüllungsgehilfen durch Belohnun­
gen bei Laune zu halten. Völlig überraschend beförderte er Heusinger am
23. Dezember 1941 zum Generalmajor, zwei Jahre vor der Zeit, und lobte die
unermüdliche Arbeit der Abteilung. Urlaub könne er zwar in diesem Moment
der Krise nicht nehmen, aber vielleicht später.404 Indirekt war auch Gehlen

402 So Hitler gegenüber Halder am 19.12.1941, nach dessen späterer Erinnerung, zit. nach:
Peter Bor: Gespräche mit Halder, Wiesbaden 1959, S. 214-215.
403 Meyer, Heusinger, S. 167.
404 Ebd., S. 169-170.

231
davon betroffen. Urlaub hat er vermutlich ebenfalls nicht nehmen dürfen,
aber eine Rangerhöhung stand für ihn ebenfalls ins Haus, vielleicht sogar eine
Veränderung der dienstlichen Verwendung. Regulär hätte er sich jetzt um
einen weiteren Fronteinsatz in seiner Karriere bemühen müssen. Als Chef des
Generalstabs eines Armeekorps an die schwer erschütterte Ostfront zu gehen
hätte über die ungewohnten persönlichen Belastungen hinaus aber bedeutet,
sich aus dem Umfeld der obersten Führung entfernen zu müssen. Falls es ihm
dann unter den harten Bedingungen der Front, wo der Entscheidungsdruck
oft instinktgeleitete Entschlossenheit statt sorgfältiger Planung erforderte, an
der notwendigem »Fortune« fehlen sollte, war der Weg zurück in das Ober­
kommando des Heeres womöglich versperrt. Die operative Krise im Osten war
ihm als dem zuständigen Gruppenleiter sicherlich kaum anzulasten, aber sei­
nem Chef Heusinger war Gehlen durch hektische Betriebsamkeit zunehmend
unangenehm aufgefallen. Nach außen hin blieb das Verhältnis sachlich, aber
distanziert.
Am Jahresende 1941 war in der Operationsabteilung die Stimmung gedrückt.
Man hatte bis kurz vor Mitternacht gearbeitet, dann saß Heusinger mit seinen
Offizieren in den ersten zwei Stunden des neuen Jahres zusammen: »Es war
auffallend still in dem Kreise und jeder hing seinen Gedanken nach«, schrieb
er an seine Frau.405 Er fühlte sich in solchen Momenten wie »hineingeworfen in
einen Strom, gegen den man nicht anschwimmen kann, in dem man vielmehr
mitgerissen wird und froh sein kann, wenn man nicht untergetaucht wird«.406
Im Gegensatz zu seinem frisch beförderten Chef, der sich vergeblich danach
sehnte, durch eine Frontverwendung dem Druck der obersten Führung entge­
hen zu können, wartete der Gruppenleiter Gehlen auf seine nächste Karriere­
stufe. Bisher hatte er im Wesentlichen seinem Chef zuarbeiten und die Vermitt­
lung zu den Frontstäben übernehmen müssen. Heusinger, der nach Lage der
Dinge seinen Chefposten nicht räumen würde, litt aber durchaus unter der auf
ihm liegenden Verantwortung, von den Kameraden an der Front in der Krise
mehr verlangen zu müssen, als er nach eigener Einsicht eigentlich für verant­
wortbar hielt. Er litt auch unter der Erwartung seiner Umgebung, speziell auch
der anderen Abteilungsleiter im OKH, höheren Orts seine Bedenken deutlicher
zu artikulieren,407 was Heusinger aber gern auf seinen eigenen Vorgesetzten
projizierte und was zu seiner wachsenden Enttäuschung über Halder beitrug.
In dieser Situation sehnte sich der Abteilungsleiter nach Mitarbeitern, die
Ruhe und Kraft ausstrahlten. Am 19. Januar 1942 erhielt er den »herzerfri­

405 Ebd., S. 171.


406 Ebd.
407 Ebd., S. 179.

232
schenden« Besuch von Bogislaw von Bonin, einem früheren Untergebenen,
der sich an der Front hervorragend bewährt hatte. Heusinger tat es gut,
»einen so kraftstrotzenden, lebensstarken Kerl sprechen zu hören, dem die
sieben Monate Feldzug nichts haben anhaben können, obwohl er immer mit­
ten drin war«.408 In den warmen Stuben des OKH im ostpreußischen Mauer­
wald gediehen solche »Kerle« eben nicht. Der Chef selbst gehörte nicht dazu,
ebenso wenig sein Gruppenleiter Gehlen, die es in der niedergedrückten
Stimmung offenbar zusammen auch nicht aushielten. Längst hatte Heusin­
ger sein Augenmerk auf Major i. G. Heinz Brandt gerichtet, der als Gehlens
Stellvertreter zugleich für den Bereich der Heeresgruppe Mitte zuständig
war und in der anhaltenden Krise das schwierigste Aufgabengebiet zu bear­
beiten hatte. Der Berliner Brandt war ein ehemaliger Kamerad Gehlens von
der Kavallerieschule, als Reiter aber ungleich erfolgreicher und hatte 1936
die Mannschaftsgoldmedaille im Springreiten bei den Olympischen Spielen
gewonnen.409 Hätte Gehlen nicht im Frühjahr 1942 seinen Platz in der Opera­
tionsabteilung für Brandt freigemacht, wäre er wahrscheinlich niemals Chef
des BND geworden.

7. Neuer Abteilungsleiter von Fremde Heere Ost (1942)


Vieles spricht dafür, dass die Initiative zur Versetzung Gehlens von Heusinger
ausging. Da Gehlen offenbar nicht selbst daran dachte, an die Front zu gehen,
blieb nur, ihn »nach oben« wegzuloben. Da traf es sich gut, dass eine Position
als Abteilungschef im OKH frei wurde, deren bisheriger Inhaber offensichtlich
versagt hatte und der von sich aus an die Front drängte. Oberst i. G. Eberhard
Kinzel, Chef der Abteilung Fremde Heere Ost, seinem Naturell nach ein Gegen­
bild zu dem blassen, aber fleißigen Gehlen, war zwar für Heusinger im Umgang
ein angenehmer Kamerad, schwungvoll und in jeder Lage erfrischend humor­
voll, aber die mangelhaften Leistungen der Abteilung bei der Beurteilung von
Fähigkeiten und Absichten der Roten Armee hatten dazu beigetragen, dass die
Ziele des Unternehmens »Barbarossa« nicht hatten erreicht werden können.
Die nicht rechtzeitig erkannte sowjetische Gegenoffensive vor Moskau hatte
im Dezember 1941 die deutsche Kriegführung in eine schwere Krise gestürzt.

408 Ebd., S. 174. Bonin spielte in den früher 1950er-Jahren eine wichtige Rolle bei der Wie­
derbewaffnung der Bundesrepublik.
409 Brandt erhielt unwissentlich 1943 die als Cognac-Paket getarnte Bombe der militä­
rischen Verschwörer, die beim Rückflug mit Hitler von der Heeresgruppe aber nicht
explodierte. Brandt wurde dann am 20. Juli 1944 von Stauffenbergs Bombe schwer ver­
letzt und starb einen Tag später.

233
Es war unvermeidbar, dass im Rahmen der zahlreichen Personalveränderun­
gen auch Kinzel ausgewechselt werden musste.
Halder suchte einen neuen Abteilungschef, der statt oberflächlicher Ein­
schätzungen des Gegners handfeste Fakten und gründlich erarbeitete Ana­
lysen zur Lagebeurteilung beizusteuern vermochte.410 Es war durchaus eine
Schlüsselposition im OKH, jetzt, wo Halder nur noch für die Ostfront verant­
wortlich war und Anfang 1942 vor der Frage stand: Sollte er Heusingers Emp­
fehlung folgen, im Verlauf des Jahres im Wesentlichen defensiv zu agieren und
Reserven zu bilden, oder sich dem Druck Hitlers beugen, mit einer neuen
Offensive im Osten das Ruder herumzureißen und durch die Eroberung der
Ölquellen im Kaukasus die »Festung Europa« krisenfest zu machen? Eine neue
Sommeroffensive war wohl unvermeidlich, aber weil der zeitliche Spielraum
dafür aufgrund des Eingreifens der USA auf dem Kontinent geringer wurde,
konnte man sich keinen zweiten Rückschlag im Osten leisten.
Nach dem überraschend mächtigen Gegenschlag Stalins verfügte die deut­
sche Seite trotz aller Bemühungen aber nicht mehr über genügend Kräfte,
um die Offensive an der gesamten Front wiederaufzunehmen. Nur durch den
Rückgriff auf die wenig schlagkräftigen Armeen der Italiener, Ungarn und
Rumänen konnte Hitler daran denken, zumindest im Süden erneut vorzusto­
ßen.411 Das Risiko schien auch nur deshalb tragbar, weil man hoffte, größere
Teile der Roten Armee wie im Vorjahr einkesseln und vernichten zu können.
Was aber, wenn Stalin seine Strategie veränderte und bedrohte Armeen recht­
zeitig zurücknehmen würde? Wenn er erneut größere Reserven für einen
Gegenschlag heranschaffen könnte?
Die auf deutscher Seite verfügbaren Informationen über das Kräftepoten­
zial und die Operationsfähigkeit der Roten Armee mussten also dringend ver­
mehrt und besser ausgewertet werden. Nach Möglichkeit waren endlich auch
strategische Aufklärungsmöglichkeiten zu schaffen, um die Absichten Stalins
ergründen zu können. Was sprach also für Heusingers Vorschlag, für diese Auf­
gabe Gehlen einzusetzen?412 Dass dieser kein Fachmann für die militärische

410 Halder schrieb in Kinzels Beurteilung am 1. Mai 1942: »Ein Mann, der sich nicht in
Verlegenheit bringen läßt. Augenblicksaufgaben meistert er, Problemen weicht er aus.
Seine Stellung hat er unter den bes. schwierigen Bedingungen des russ. Feldzuges zwar
ausgefüllt, wird aber mit mehr Nutzen i. Truppengeneralstab (Korpschef) oder als Rgt.
Kdr. verwendet werden« (BA-MA, Pers 6/299 982).
411 Zur Sommeroffensive 1942 siehe umfassend Das Deutsche Reich und der Zweite Welt­
krieg, Bd. 6.
412 Kurze Schilderung bei Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 27 (ohne Quellenangabe). Hier
von einer »Freundschaft« zwischen Heusinger und Gehlen zu sprechen (S. 26), die beide
später zu Gründungsvätern der Bundeswehr gemacht habe, ist dem Verhältnis der bei­
den nicht angemessen.

234
Aufklärung war und noch nicht einmal die russische Sprache beherrschte,
waren sicher erhebliche Defizite. Aus der Selbsteinschätzung des General­
stabs, dass seine hervorragendsten Offiziere Generalisten seien, die auf allen
Feldern eingesetzt werden können und über die besondere Fähigkeit verfü­
gen, sich schnell in ein neues Gebiet einarbeiten zu können, waren sie aber
vielleicht noch hinnehmbar. Die Beurteilung der Feindlage selbst gehörte zum
Alltagsgeschäft der Operateure und war deshalb auch Gehlen vertraut. Vor­
liegende Meldungen über den Feind in die eigene Lagebeurteilung und Ent­
schlussfassung einzubeziehen, war eine Sache, solche Meldungen zu beschaf­
fen und auszuwerten, eine andere.
Halder, so scheint es, hat zunächst gezögert. Aber weil er davon überzeugt
war, dass Fremde Heere Ost grundlegend reorganisiert werden müsse, sah er in
Gehlen, der als sein »Lieblingsoffizier« galt,413 dann doch den richtigen Mann,
um die Abteilung auf Vordermann zu bringen. Allerdings meldete sich Geh­
len Mitte Januar erst einmal zu einer vierwöchigen Kur im Reservelazarett I in
Karlsbad ab, um seine angegriffene Gallenblase zu kurieren.414 Sechs Monate
Feldzug mit unermüdlicher Stabsarbeit und höchster Nervenbelastung waren
nicht ohne Folgen geblieben.
Gehlen hatte mit der in Aussicht stehenden neuen Verwendung eine
ordentliche Portion Glück, denn wenn Kinzel nicht gegangen wäre, hätte er
selbst eine Frontverwendung bekommen können, womöglich im Umfeld von
Paulus, auf dessen Schultern nun die Hoffnungen von Halder lagen, um im
nächsten Sommer mit der 6. Armee die Kriegsentscheidung in Südrussland
zu erzwingen. Wer hätte Paulus dazu besser helfen können als der bisherige
Gruppenleiter Ost in der Operationsabteilung? Mit dem als zögerlich und
bedenklich bekannten Paulus hätte Gehlen keinen leicht zu nehmenden Vor­
gesetzten bekommen. Zum Chef des Generalstabs der 6. Armee wurde aber
mit Oberst i. G. Arthur Schmidt ein überzeugter Nationalsozialist ernannt,
der als »harter Hund« galt.415 Der äußerst selbstbewusste Offizier, entschluss­
freudig und unnachgiebig, erfüllt mit dem »unerschütterlichen Glauben in die
politische Kompetenz und das militärische Genie seines Führers«, sollte eine
»Korsettstange« für den Intellektuellen Paulus sein. »Lügen-Arthur«, so sein
Spitzname, war jedenfalls ein ganz anderes Kaliber als Gehlen.

413 So rückblickend Halders damaliger Adjutant Hauptmann i. G. Peter Sauerbruch, zit.


nach: Pahl, Fremde Heere Ost, S. 91. Kahn meint, es sei Halders glänzendste Ernennung
gewesen. Gehlen habe Ergebnisse produziert, von denen Halder nicht einmal hatte
träumen können, als Kinzel im Amt gewesen war; David Kahn: Hitlers Spies. German
Military Intelligence In World War II, London 1978, S. 429.
414 Auskunft Deutsche Dienststelle vom 29.11.2013.
415 Diedrich, Paulus, S. 211.

235
Heusinger war die Personalentscheidung für die Nachfolge Kinzels sicher
recht. Er bekam Brandt als Nachfolger Gehlens für die Ostgruppe der Ope­
rationsabteilung und war über den Aufstieg seines bisherigen Untergebenen
»nicht böse«, weil dieser oft »alles an sich gerissen« habe und »dann doch
nicht recht durchgekommen« sei, wie Heusinger seiner Frau schrieb.416 Ehr­
geiz, aber – wenigstens vordergründig – geringes Durchsetzungsvermögen: ein
Urteil, das Gehlen wohl treffend beschrieb. Ansonsten blieb das Verhältnis der
beiden weitgehend unbelastet. Bis zum Kriegsende funktionierte die dienstli­
che Zusammenarbeit reibungslos, wenn auch distanziert. Denn obwohl Geh­
len jetzt als Abteilungschef fast auf gleicher Höhe mit Heusinger stand, so blieb
die Differenz des Lebensalters, des Dienstgrads und der Nähe zur obersten
Führung, die Gehlen respektieren musste.
Sein bisheriger Chef legte für dieses entspannte Verhältnis eine Grundlage,
in dem er am 1. April 1942 Gehlen eine vorzügliche Beurteilung auf den Weg gab:

Bescheidene, sympathische Persönlichkeit. Sehr strebsam. Vor dem Feinde


voll bewährt. Ein weit über dem Durchschnitt stehender Generalstabsoffizier
von ausgesprochen operativer Begabung, vorausschauendem Denken und
einer Passion für die ihm gestellten Aufgaben, wie sie selten zu finden ist.
Setzt sich bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit bei seiner Arbeit ein.

Ähnliches bescheinigte ihm in einem Zusatz auch Halder: »Verbindet her­


vorragendes fachliches Können und ungewöhnliche Arbeitskraft mit starker
Gestaltungskraft und soldatischem Schwung. Für führende Stellungen im
Generalstab geschaffen.« Die erneute Bestätigung seiner besonderen operati­
ven Begabung wirft die Frage auf, wie Gehlen selbst seine stärkste berufliche
Leidenschaft hintanstellen konnte, um sich ganz den Karteikarten und Tabel­
len über die Stärke des Feindes zu widmen.
Nach Ausbildung und Erfahrung war ihm die Bedeutung der Feindlage­
beurteilung für die Begründung operativer Entscheidungen bewusst. Künftig
würde er als Chef FHO erstmals über einen unmittelbaren Zugang zum Gene­
ralstabschef verfügen und bei jeder wichtigen operativen Entscheidung Gehör
beanspruchen können, anstatt lediglich Aufträge des Chefs der Operationsab­
teilung auszuführen. Er würde wichtige fachlich fundierte Unterlagen für die
militärische Kriegführung im Osten liefern, dem Hauptkriegsschauplatz, auf
dem sich das Schicksal des Reiches entscheiden würde. Vor allem aber würde
er sein eigenes operatives Talent konkurrenzlos einbringen können, weil er als
Chef von FHO nicht nur über die feindliche Stärke zu berichten hatte, sondern

416 Meyer, Heusinger, S. 181 (12.4.1942).

236
sich auch Gedanken über dessen operative Absichten machen musste. Geh­
len hatte sich also gleichsam in die Rolle des feindlichen Generalstabschefs
und seiner Armeeführer zu versetzen, um begründete Annahmen über das
wahrscheinliche Verhalten des Gegners machen zu können. Damit verfügte
Gehlen über eine ausgezeichnete Möglichkeit, aus der zweiten Reihe und indi­
rekt die Entscheidungen des Generalstabschefs zu beeinflussen bzw. diesem
Argumente zu liefern für mögliche Auseinandersetzungen mit dem »Führer«.
Eine solche Position war nicht ungefährlich, doch Gehlen hat sie in drei
Kriegsjahren bis fast zum Kriegsende unangefochten behauptet, ein »Erfolg«,
der innerhalb der militärischen Führungsspitze ungewöhnlich gewesen ist.
Abgesehen von Heusinger, der sich als Chef der Operationsabteilung ähnlich
ausdauernd auf seinem Posten halten konnte, war das weder bei den Gene­
ralstabschefs noch bei den Abteilungsleitern über einen derartig langen Zeit­
raum der Fall, ganz zu schweigen von den Oberbefehlshabern und Komman­
dierenden Generalen mit ihren jeweiligen Stabschefs, die an der Front unter
der Wucht der militärischen Ereignisse häufig ihre Position wechselten oder
ausscheiden mussten.
Insofern verkörpern Heusinger für die Operationsplanung des Heeres und
Gehlen für die Feindlagebeurteilung eine Kontinuität der »Operationskunst«
des deutschen Heeres, die allen Einwirkungen Hitlers und den Stürmen des
Krieges widerstand. Beide verkörpern den Typus des militärischen Fach­
manns, der für den Diktator unentbehrlich war – als Personen natürlich im
Prinzip jederzeit austauschbar, aber aus der Sicht Hitlers nützlich und anpas­
sungsfähig. Heusinger und Gehlen arbeiteten geräuschlos und geschmeidig.
Sie setzten den »Führerwillen« technisch um, vermittelten geschickt zwischen
der Front und dem Generalstab und sorgten dafür, dass Unwillen und Unver­
ständnis der Front abgefedert wurden.
Für eine eigene Linie hatten Heusinger und Gehlen freilich kaum Spielraum.
Es lag in ihrem jeweiligen Interesse, jede persönliche Konfrontation mit Hitler
zu vermeiden und sich ganz auf die Vorlage vermeintlicher Fakten und sachli­
cher Zwänge zu beschränken. Die Auseinandersetzung mit dem Diktator war
dann jeweils die Sache des Generalstabschefs. Heusingers Briefe an seine Ehe­
frau sind voller Selbstmitleid und Klagen darüber, dass Halder, später Zeitzler,
nicht genug Rückgrat zeigten, Hitler zu widersprechen.417 Er erwartete von
anderen diesen Mut, während er – im Unterschied zu Gehlen – selbst damit
liebäugelte, sich an die Front versetzen zu lassen, was Hitler aber ablehnte.
Das wichtigste Instrument seiner Einflussnahme auf den operativen Ver­
lauf des Ostkrieges waren, neben den Tagesmeldungen, die größeren Ausar­

417 Siehe z. B. Meyer, Heusinger, S. 178-179.

237
beitungen, die von Zeit zu Zeit auf den Dienstweg gebracht wurden. Um seine
Position nicht zu gefährden, mussten sie – gestützt auf die vorliegenden Fak­
ten und offensichtlichen Entwicklungen – ein halbwegs realistisches Bild von
der militärischen Lage vermitteln. Die Analyse des Kräfteverhältnisses durfte
nicht allzu pessimistisch sein, wenngleich Annahmen über den Kräftezuwachs
der Roten Armee für die Entscheidungsfindung auf höchster Ebene keine aus­
schlaggebende Bedeutung hatten. Hier tat sich Hitler erfahrungsgemäß beson­
ders leicht, unliebsame Prognosen vom Tisch zu wischen. Gegen einen zah­
lenmäßig überlegenen Gegner kämpfen zu müssen hatte seit dem Beginn der
»Barbarossa«-Planung von 1940 niemanden im OKH beeindruckt.
Um die operativen Möglichkeiten und Absichten des Gegners einschätzen
zu können, standen Gehlen einerseits die Annahmen der Frontoberkomman­
dos zur Verfügung, andererseits seine eigenen operativen Erfahrungen und
Intuitionen, die selbstverständlich gut begründet werden mussten. Neben
messbaren Faktoren wie Meldungen über Dislozierungen des Feindes, Kräf­
teverschiebungen, Bildung von Schwerpunkten, Heranführung von Verstär­
kungskräften, Versammlung von Eliteverbänden und anderen Indikatoren für
Angriffsvorbereitungen nutzte er Informationen über Charakter und Fähigkei­
ten der feindlichen Oberbefehlshaber und Truppenführer, um aus deren Füh­
rungsverhalten und operativen Fähigkeiten Schlussfolgerungen für die vermu­
teten Absichten zu ziehen. Dafür ließ er entsprechende Dossiers anlegen, wie
sie auch bei anderen militärischen Geheimdiensten üblich waren.
Solche Informationen aus dem Bereich der taktischen militärischen Auf­
klärung hätten im Idealfall natürlich ergänzt werden müssen durch hochran­
gige Quellen innerhalb der gegnerischen Führung. Doch im Zweiten Weltkrieg
ist praktisch keiner Seite ein solcher Einbruch gelungen. Das streng abge­
schottete stalinistische Herrschaftssystem gab deutschen Bemühungen keine
Chance, was aber 1940/41 in Erwartung eines baldigen Zusammenbruchs
des Sowjetstaates auch nicht für zwingend erforderlich gehalten wurde. Es
gehörte ohnehin nicht in den Aufgabenbereich von FHO, sondern zählte zum
Feld der Spionage, für die das OKW mit seiner Abteilung Ausland/Abwehr
zuständig war. Gehlen hat das Fehlen von Informanten später aber offensicht­
lich als eine Niederlage im Kampf gegen die UdSSR empfunden, was ihn noch
als Präsidenten des BND umtrieb, denn er blieb bis zuletzt davon überzeugt,
dass die sogenannte Rote Kapelle, eine sowjetische Spionageorganisation im
Zweiten Weltkrieg, nicht vollständig von der Gestapo zerschlagen worden sei
und weiterhin ihr »Unwesen« in deutschen Führungskreisen treibe.418 Insbe­

418 Siehe dazu umfassend Gerhard Sälter: Phantome des Kalten Krieges. Die Organisation
Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes »Rote Kapelle«, Berlin 2016.

238
sondere seine in den Memoiren geäußerte spektakuläre Behauptung, Martin
Bormann sei ein sowjetischer Spion gewesen, spricht dafür, dass er unter dem
Fehlen einer gleichwertigen Quelle in der sowjetischen Führung persönlich
gelitten hat.
Für seinen neuen Arbeitsbereich der militärischen Aufklärung im Osten
brauchte Gehlen 1942 ein feinfühliges Sensorium, um einerseits den Erwar­
tungen des Generalstabschefs zu genügen und andererseits nicht in direkten
Widerspruch zu den Plänen des »Führers« zu geraten oder sich gar als Kron­
zeuge gegen Hitler ins Feuer schicken zu lassen. Einen persönlichen Eklat
wie damals mit Göring konnte er sich nicht mehr leisten. Deshalb musste er
seine Lagebeurteilungen, die sich mit den feindlichen Absichten und Mög­
lichkeiten befassten, möglichst zurückhaltend und mehrdeutig anlegen. Es
kam darauf an, die Prognosen so zu formulieren, dass sie in der Perspektive
deutschen Generalstabsdenkens plausibel und nachvollziehbar die gegneri­
schen Optionen aufzeigten, sich hinsichtlich der Einschätzung wahrschein­
licher Handlungen aber möglichst bedeckt hielten. So konnte FHO nach
dem Ablauf der Ereignisse stets behaupten, dass man in der Einschätzung
richtiggelegen habe, wenn auch manches damals noch nicht deutlich genug
erkennbar gewesen sei – ein in allen Nachrichtendiensten ähnliches Verfah­
ren. Semantisches Tricksen wurde also für Gehlen ebenso überlebenswichtig
wie eine gut organisierte Beschaffung von möglichst vielen Informationen,
die ihm den Nimbus überlegenen Wissens verschafften, ohne dass jemand
außerhalb seines engeren Zirkels Einblick in die Zuverlässigkeit seiner Quel­
len hatte.
Ambitioniert gewiss, aber doch zunächst sehr bescheiden, begann er ab
dem 1. April 1942 als Leiter von Fremde Heere Ost, was seiner Karriere eine
ganz neue Richtung geben sollte. Drei Tage später feierte er seinen 40. Geburts­
tag. Dass er mit FHO sein Lebensziel erreicht haben könnte, hat er zu diesem
Zeitpunkt sicher nicht vermutet, denn die Beförderung zum Abteilungsleiter
im OKH war zweifellos ein beachtlicher Sprung in seiner militärischen Karri­
ere, aber aus dem Blickwinkel des Frühjahrs 1942 brauchte das nicht das »Ende
der Fahnenstange« zu sein. Bescheidenheit und Effizienz musste Gehlen unter
Beweis stellen, um den Generalstabschef weiter für sich einzunehmen.
Als ehemaliger Adjutant wusste er, wie er seinen Chef zu nehmen hatte.
Vorgänger Kinzel hatte bohrende Fragen Halders oft auf die leichte Schulter
genommen. Mochte auch Heusinger Kinzel als »eine in jeder Lage erfrischende
Erscheinung« schätzen, den nüchternen und sorgengeplagten Generalstabs­
chef verlangte es nach der Katastrophe vor Moskau nach einem ernsthafte­
ren Gesprächspartner. Wenn Kinzel auf insistierende Nachfragen »mit dem
Lachen des unbefangenen Kindes« erwidert hatte: »Ja, da müssen wir Sta­
lin mal fragen. Das kann ich nicht wissen«, verstand Halder verständlicher­

239
weise keinen Spaß.419 Mit einem feuchtfröhlichen Ausklang beendete Kinzel
am 22. April 1942 seine Zeit als Abteilungsleiter im OKH.420 Er machte eine
glänzende Karriere an der Front, als Chef des Stabes des XXIX. Armeekorps in
Südrussland, als Generalstabschef erst der Heeresgruppe Nord, dann der Hee­
resgruppe Weichsel, schließlich als General der Infanterie und Generalstabs­
chef des Operationsstabes Nord bei Dönitz. Bei der Verhaftung der Regierung
Dönitz am 23. Mai 1945 beging er Selbstmord. Als Chef FHO mag er an der
falschen Stelle gewesen sein, im Truppengeneralstab fand er seine Berufung.
Gehlen hingegen blieb der höchsten Generalstabsebene fest verbunden. Er
übernahm ein schweres Erbe, was er später in seinen Memoiren so kommen­
tierte: »Ohne mein Zutun nahm von diesem Zeitpunkt an mein Leben eine
Wendung zum Einmaligen und Außergewöhnlichen.«421 Daraus spricht eine
gewisse Koketterie, denn selbstverständlich hat er die unerwartete Chance mit
der Erwartung tatkräftig angepackt, aus dem verlotterten Haufen der Kinzel-
FHO etwas Besonderes zu machen.
Was Gehlen 1942 aus der Operationsabteilung mitbrachte, war die Ein­
schätzung, dass die stark geschwächten deutschen Kräfte nicht zu einer grö­
ßeren Offensive an der Ostfront in der Lage sein würden. Was aber, wenn die
Rote Armee ebenfalls nicht in der Lage wäre, ihre in der Moskauer Gegenoffen­
sive verbrauchten Kräfte voll aufzufüllen und einem entschlossenen deutschen
Angriff mit begrenzter Zielsetzung wie im Vorjahr nicht standhalten könnte?
Würde es noch einmal gelingen, größere Teile des Gegners einzuschließen und
zu vernichten, um dann Operationsfreiheit in die Tiefe des Raumes zu erhal­
ten? Eine Antwort auf die Frage nach den feindlichen Kapazitäten setzte vor­
aus, dass man wusste, wie wirksam die alliierten Hilfslieferungen waren und
ob es der sowjetischen Führung gelingen würde, diejenigen Rüstungsbetriebe
wieder einsatzfähig zu bekommen, die aus den Westgebieten nach Osten eva­
kuiert worden waren. Neben dem schwer zu ermittelnden sowjetischen Rüs­
tungsausstoß musste man im OKH zu einer Einschätzung darüber kommen,
ob die Führung der Roten Armee die gleichen Fehler wie im Vorjahr machen
und bei drohenden Einschließungen nicht rechtzeitig ausweichen würde. Um
zu realistischen Einschätzungen zu gelangen, brauchte Halder zuverlässige
Hinweise und Indizien. Konnte Gehlen so kurz nach der Übernahme der Abtei­
lung FHO diese Erwartungen erfüllen?
Am 2. April 1942 empfing Halder den alten und den neuen Chef von FHO
gemeinsam zum Vortrag. Neben der Amtsübertragung interessierten den

419 Meyer, Heusinger, S. 180.


420 Siehe Pahl, Fremde Heere Ost, S. 93.
421 Gehlen, Der Dienst, S. 10.

240
Generalstabschef die Ersatz- und Neuaufstellungen in der Roten Armee sowie
die russische Panzerfertigung.422 Neuere Schätzungen lagen noch nicht vor. Es
war also der erste dringliche Auftrag für Gehlen, der in den nächsten Wochen
fast täglich den Generalstabschef traf, der äußerst angespannt war, weil Hitler
seiner Einschätzung widersprach, dass es an eigenen Kraftreserven fehlte, um
den Gegner daran hindern zu können, auszuweichen. Halders Vorschlag, die
Front um einige Gefahrenpunkte zu bereinigen, eine kräftesparende Linie zu
verteidigen, das Heer zu reorganisieren und erst 1943 wieder in die Offensive
zu gehen, stieß auf strikte Ablehnung. Drei Tage nach Gehlens Antrittsbesuch
erhielt Halder die »Weisung Nr. 41«, mit der Hitler ausführlich begründet eine
baldige Sommeroffensive in Südrussland (Operation »Blau«) befahl, und zwar
mit dem Ziel, den Feind westlich des Don zu vernichten, um danach die Ölge­
biete des Kaukasus zu besetzen und den Stoß über den Kaukasus hinweg zu
führen. Halder war keineswegs überzeugt und ließ sich von Gehlen die vorlie­
genden Meldungen über Feindverstärkungen im vergangenen Monat sowie die
beobachteten Bewegungen der feindlichen Luftwaffe vortragen.423 Dass Stalin
insgeheim die Absicht verfolgte, mit einer eigenen Offensive den Deutschen
bei Charkow zuvorzukommen, verrieten die Tagesmeldungen von den Front­
stäben noch nicht. Dafür erhielt Gehlen Gelegenheit zu zeigen, wie rasch er
sich in die Materie von FHO eingearbeitet hatte und mit welchen Arbeitsme­
thoden er die künftige Arbeit organisieren wollte.
Was Halder nun, da er Hitlers Weisung auszuführen hatte, zur Vorbereitung
der Operation »Blau« besonders dringend brauchte, waren zuverlässige Zah­
lenangaben über das Kräfteverhältnis. Davon würde der Erfolg der Sommerof­
fensive und damit wohl auch des ganzen Krieges abhängen. Hitler stützte sich
auf eine Studie, die das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt des OKW über die
Wehrkraft der UdSSR angefertigt hatte. Zwar spielte die Studie für seinen am
5. April getroffenen grundlegenden Entschluss noch keine Rolle, denn er hielt
sie erst wenige Tage später in Händen, aber sie bestärkte ihn in seiner Ent­
scheidung und er konnte sie gegen Halders Bedenken ausspielen.424 In dieser
Studie wurden auf Basis der bekannten Wirtschaftsdaten von 1938 Schätzun­
gen über die verbleibende Rohstoffversorgung der UdSSR angestellt, die nach
späteren sowjetischen Angaben durchaus realistisch waren. Aber die Prognose
der weiteren Entwicklung blieb unverbindlich-wolkig, was Hitler als Bestäti­
gung seiner Siegeszuversicht interpretierte.425 Völlig fehl lagen die Wirtschafts­
offiziere des OKW zudem in der Einschätzung der auf dieser Basis möglichen

422 Halder, KTB III, S. 423 (2.4.1942).


423 Ebd., S. 425 (8.4.1942).
424 Siehe hierzu ausführlich Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, S. 796.
425 Ebd., S. 814.

241
Waffenproduktion. Sie gingen von deutschen Produktionsverhältnissen aus
und berücksichtigten nicht die sehr viel stärker rationalisierten sowjetischen
Verfahren und ebenso wenig die Bedeutung der alliierten Hilfslieferungen an
die UdSSR. Im Ergebnis lag die tatsächliche Produktion an Flugzeugen, Panzer­
kampfwagen und Geschützen im Jahr 1942 um das Dreifache über den Schät­
zungen des OKW.426
Parallel dazu hatte FHO bereits vor der Amtsübernahme von Gehlen
Anfang 1942 zum ersten Mal während des Ostkrieges versucht, auf der Basis
der bekannten Zahlen der sowjetischen Volkszählung von 1939 zu berechnen,
was der Sowjetunion nach Abzug der bisherigen Verluste und durch Mobili­
sierung der vorhandenen Reserven an zusätzlichen Soldaten für die Auffül­
lung vorhandener und die Aufstellung neuer Divisionen zur Verfügung stand.
Angesichts lückenhafter Zahlen und schwankender Schätzungen war das
von Anfang an ein problematischer Ansatz, der Halder nicht zufriedenstellen
konnte. Kinzel hatte noch angenommen, dass die UdSSR zusätzlich 60 neue
Divisionen aufstellen könnte – was rund ein Drittel des deutschen Ostheeres
ausmachte. Dann bliebe eine letzte Reserve von etwa zwei Millionen Mann, die
sich bei einer deutschen Sommeroffensive monatlich um 300.000 Mann redu­
zieren würde. Mit anderen Worten: Kinzel prognostizierte, dass die Leistungs­
fähigkeit der Roten Armee zur Neige gehen und die Eingriffe in das sowjetische
Staats- und Wirtschaftssystem zu dessen weiterer Zerrüttung beitragen wür­
den.427 Verlusten wie im Vorjahr werde der Gegner nicht gewachsen sein und
keine starken Reserven für eine Gegenoffensive mehr wie im letzten Winter
bereitstellen können.
Gehlen konnte sich bei seinem ersten Vortrag bei Halder am 18. April 1942
über die statistische Ermittlung des feindlichen Kräfteverbrauchs natürlich
nur auf die vorliegenden Zahlen von FHO stützen.428 Die von ihm angestreb­
ten Verbesserungen der Arbeit seiner Abteilung ließen erst auf längere Sicht
besser begründete Zahlenschätzungen erwarten. Dass Halder den noch von
Kinzel vorgelegten Prognosen nicht recht traute, was nach dem Desaster vom
Dezember 1941 vor Moskau nicht verwundert, zeigen mehrfache Gespräche
mit Gehlen über das Thema.429
Durch die laufenden Meldungen von der Front wurde im Zuge der Som­
meroffensive bald deutlich, wie sehr die Prognosen hinter der Realität zurück­
blieben. Anfang August 1942 musste Gehlen davon ausgehen, dass allein im
Vormonat Juli 54 neue Schützendivisionen und 56 neue Panzerdivisionen auf­

426 Im Einzelnen dazu ebd., S. 804, und insbesondere Tabelle S. 806.


427 Ebd., S. 798.
428 Halder, KTB III, S. 429 (18.4.1942).
429 Ebd., S. 438 (8.5.1942), S. 448 (25.5.1942)

242
Gehlen beim Schwimmen im Mauerwaldsee, 1944

gestellt worden waren.430 Dass die erkannte Stärke der Roten Armee entgegen
den Erwartungen kontinuierlich zunahm, lag aber nicht nur am Unvermögen
von FHO, sondern auch an Hitlers Operationsführung, denn es gelang nicht,
der Roten Armee noch einmal schwere Verluste beizubringen. Aber auch ohne
diese Fehleinschätzungen betrug auf Basis der ursprünglichen Annahmen
die zahlenmäßige Stärke der Roten Armee immerhin das Doppelte der deut­
schen – die Hybris des Überlegenheitsgefühls im deutschen Generalstab war
1942 anscheinend ungebrochen.
Zum Alltagsgeschäft gehörte für Gehlen nun der regelmäßige Vortrag bei
Halder über die Lage und die Bewegungen des Feindes. Dabei halfen die aktu­
ellen Meldungen der Ic-Offiziere der Frontverbände, die ihm täglich zugin­
gen. Sein Vorgänger hatte sich seit Beginn des Feldzugs darauf beschränkt,
die gesammelten Tagesmeldungen vorzulegen. Halder konnte von Gehlen als
dem bestbeurteilten Offizier der Operationsabteilung in dieser Hinsicht mehr
erwarten, nämlich eine umfassende Einschätzung der feindlichen Absichten.
Im Vorjahr hatte man das für entbehrlich gehalten, weil der Gegner unter dem
deutschen Angriffsschwung nur hatte reagieren können. Dies war nun anders,

430 Ebd., S. 496 (2.8.1942). Vortrag Gehlens zum Thema dann noch einmal am 9.8.1942,
ebd., S. 502.

243
weil die zweite deutsche Sommeroffensive auf den Südflügel der Ostfront
beschränkt werden sollte und der Erfolg davon abhängig sein würde, dass sich
die Rote Armee erneuten Einkesselungen nicht entzog. Nur auf Grundlage von
Standortmeldungen über den Feind durch die Fronttruppen war es kaum mög­
lich, ein Urteil über die operativen Absichten des Gegners abzugeben, denn
schon die Moskauer Gegenoffensive hatte gezeigt, dass es die Rote Armee
durchaus verstand, geplante eigene Angriffsoperationen zu verschleiern.
Für Gehlen muss in dieser Phase seiner Einarbeitung und am Beginn sei­
nes Bemühens, die Effektivität von FHO zu erhöhen, die absurde Gliederung
seiner Abteilung besonders lästig gewesen sein. Neben zwei Arbeitsgruppen
für die Nord- und Ostfront gab es eine dritte Gruppe, die für den Pazifischen
Raum und die USA zuständig war.431 Unter der Leitung von Hauptmann Voigt-
Ruscheweyh hatte sie für das OKH eine eigene politische Übersicht über den
gesamten Raum zu schaffen, Lageberichte über Führung, Organisation, Aus­
rüstung und Ausbildung der US Army zu verfassen sowie deren überseeischen
Einsatz zu beobachten. Das konnte selbstverständlich nicht allein durch eigene
Informationen, sondern nur durch Zusammenarbeit mit Fremde Heere West,
der Seekriegsleitung, dem Luftwaffenführungsstab sowie anderen Dienststel­
len geschehen. Diese Form der kreativen Nachrichtengewinnung durch Anzap­
fen anderer zuständiger Institutionen war an sich für Gehlen kein Neuland – er
hatte diese Kommunikation auf der Arbeitsebene im OKH kennengelernt, was
ihm auch für seine spätere Verwendung in der Bundesrepublik zugutekam -,
wohl aber der Gegenstand, auf den es sich bezog.
In den vergangenen 18 Monaten hatte er sich zwar profunde Kenntnisse
der militärischen Dimensionen des Ostkrieges verschafft, doch die ihm jetzt
zugefallene Zuständigkeit auch für die US-Armee führte ihn auf ein absolut
neues Gebiet. Sein Vortrag etwa über die Lage in Burma ersparte dem Gene­
ralstabschef lediglich die Lektüre anderer Meldungen.432 Die inhaltliche Breite
entsprach allerdings dem Selbstverständnis Halders, der noch immer für das
OKH eine Verantwortung für die Gesamtkriegführung reklamierte und sich als
eine Art Reichsgeneralstabschef betrachtete, obwohl mit Hitlers Übernahme
des Oberbefehls über das Heer im Dezember 1941 das OKH nur noch für die
Ostfront verantwortlich war und das OKW die anderen Kriegsschauplätze
übernahm. Mit der Entlassung Halders im Herbst 1942 fiel dieser Bereich bei
FHO weg.

431 Siehe Grafik Geschäftsverteilungsplan der Abteilung FHO (Stand: 15.5.1942), abgedr. in
Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, S. 797, sowie die Erinnerungen des
damaligen Sachbearbeiters Leutnant Herbert Franke, in: BA-MA, MSg 2/4150.
432 Halder, KTB III, S. 432 (22.4.1942).

244
Bedeutsamer aber war zunächst die Entwicklung an der Ostfront. Die Hee­
resgruppe Süd befürchtete, dass ihr Aufmarsch für das Unternehmen »Blau«
durch einen sowjetischen Präventivschlag aus dem Brückenkopf von Izjum
heraus gefährdet sein könnte. Hitler zeigte sich überzeugt, dass sich der Geg­
ner angesichts der Zusammenziehung starker deutscher Kräfte im Raum
Charkow vor einem solchen Schritt hüten werde. Die Heeresgruppe war den­
noch beunruhigt, weil FHO neuerdings von beträchtlichen Neuaufstellungen
des Feindes ausging. Aber Gehlen hielt sich mit Prognosen über die feindlichen
Absichten in diesem entscheidenden Raum zurück, obwohl man das Herein­
schieben einer zusätzlichen sowjetischen Armee in die Front beobachtete.433
Die eigene, nicht völlig unrealistische Einschätzung des Kräfteverhältnisses
(wahrscheinlich 60 zusätzliche Divisionen auf sowjetischer Seite) mahnte
zwar zur Vorsicht, aber Gehlen verfugte auch nicht über handfeste Hinweise
auf einen bedrohlichen Aufmarsch der Roten Armee, um Halder in der Aus­
planung der bevorstehenden eigenen Offensive zu warnen.
In Gehlens erster »Beurteilung der Gesamtfeindlage und ihrer Entwick­
lungsmöglichkeiten« vom 1. Mai 1942434 stellte er jedenfalls fest: »Anzeichen
für eine große Operation mit weitreichenden Zielen sind noch nicht zu erken­
nen.« Dabei konnte er sich nur auf den vorliegenden Kenntnisstand von FHO
stützen, dem Halder, wie bereits erwähnt, nicht ganz traute. Sollte man die Zahl
sowjetischer Kampfpanzer wesentlich unterschätzen, konnte es wie im vergan­
genen Dezember zu bösen Überraschungen kommen. Gehlen war freilich noch
Jahrzehnte später offenbar stolz auf diese erste selbstständige Lagebeurteilung
für die oberste Führung. Sie bildet noch heute das Zentrum seiner nachgelas­
senen Papiere.435 Mit leichten Variationen hat er im Sommer und Herbst 1942
vom Inhalt dieser ersten Studie immer wieder Gebrauch gemacht. Gestützt auf
den geringen Kenntnisstand von den Absichten des Feindes in dieser Phase
der Vorbereitung beider Seiten auf die Sommerschlacht, ist es sicherlich eine
meisterliche Erörterung theoretisch denkbarer Möglichkeiten des Gegners.
Gehlen konnte hier seine großen Erfahrungen im operativen Geschäft voll aus­
spielen, und er ließ immerhin offen, ob – auch wenn zu diesem Zeitpunkt nicht
erkennbar – die sowjetischen Reserven weiter ostwärts zwischen Kaspischem
Meer und Moskau verborgen liegen könnten. Das nicht infrage gestellte Kräfte­
verhältnis ließ ihn allerdings auch annehmen, dass es »dem Russen« nicht
gelingen werde, an irgendeiner Stelle so die deutsche Front zu durchschlagen,
dass namhafte Verbände aus dem Aufmarsch herausgedreht werden müssten.

433 Ebd., S. 434 (25.4.1942).


434 Zit. nach: KTB OKW, Bd. II, S. 1275.
435 BND-Archiv, N 13/1.

245
Karte zur Lage an der Ostfront 1942

246
Zwei Wochen später gab es eine Zusammenkunft aller Ic-Offiziere der
Frontverbände, bei der Gehlen seine »Gedanken über mögliche russische
Operationsführung« vortrug.436 Seine Fähigkeit, sich hineinzuversetzen in die
gegnerische Führung, von der er doch nur eine schwache Vorstellung haben
konnte, war aber doch sehr begrenzt. Seine »Gedanken« blieben die eines
deutschen Operateurs, der sich sein Urteil über die möglichen Absichten des
Gegners dadurch bildete, dass er dessen Kräfte durchrechnete, eine Raum-
Zeit-Berechnung anstellte und von bisherigen Erfahrungswerten ausging. Er
räumte ein, dass er keine abgeschlossene Gedankenbildung vortragen könne,
denn die Dinge seien in der Entwicklung. Es lägen keine Nachrichten vor, die
einen klaren Rückschluss auf die russischen Führungsabsichten zuließen. Nur
wenige Feindverbände seien voll kampffähig und mit der Aufstellung von Pan­
zerverbänden in größerer Zahl sei nicht zu rechnen. Im Ergebnis blieb es dabei:
Zu neuen größeren Initiativen werde der Feind nicht in der Lage sein. Das war
schon zu diesem Zeitpunkt ein Irrtum, und das sollte sich bald erweisen.
Während man sich bei der Heeresgruppe Süd und im OKH noch Gedanken
über den Auftakt einer eigenen Großoffensive machte, der den sowjetischen
Frontbogen von Izjum abschneiden sollte, hatte sich die Südwestfront unter
Oberbefehl von Marschall Semjon K. Timoschenko darauf vorbereitet, von
dort aus einen überraschenden Präventivschlag gegen den deutschen Auf­
marsch im Raum Charkow zu führen. Stalin genehmigte eine Teiloperation mit
begrenztem Ziel zur Einnahme der Stadt und zur Gewinnung von Übergängen
über den Dnjepr. Dafür standen 640.000 Mann, 1200 Panzer und 900 Flugzeuge
zur Verfügung.437
Mit einem gewaltigen Schlag wurde ab dem 12. Mai 1942 die Front der deut­
schen 6. Armee aufgerissen, und es gelang der Wehrmacht nur mit Mühe, den
unerwarteten Angriff einzudämmen, um dann ihre eigenen Offensiven begin­
nen zu können. Zeitgleich zur Schlacht um Charkow hatten die Deutschen auf
der Krim die Rote Armee bereits zurückdrängen können, und mit der Erobe­
rung der Festung Sewastopol wurde Mansteins 11. Armee frei, um Leningrad
anzugreifen – insofern begann die deutsche Sommeroffensive durchaus erfolg­
reich. Aber bemerkenswert bleibt, dass General Paulus, mit dem Gehlen die
Sommeroffensive des Vorjahrs vorbereitet hatte, nun als neuer Oberbefehls­
haber der 6. Armee vergeblich auf die drohende Gefahr bei Charkow hingewie­
sen hatte. Halder hatte deshalb mehrfach mit Gehlen über die bald durchaus
erkennbaren sowjetischen Angriffsvorbereitungen gesprochen.438 Solange das

436 BA-MA, RH 2/2091 (14.5.1942).


437 Einzelheiten siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, S. 852 – 864.
438 Halder, KTB III, S. 434 (25.4.1942), 435 (2.5.1942) und 436 (5.5.1942).

247
OKH aufgrund der fragwürdigen Stärkeberechnungen von FHO davon ausging,
dass sich die personellen und materiellen Kräfte der Roten Armee erschöpfen
würden,439 steckte man aber zeitweilige Rückschläge einfach weg, ohne weitere
Fragen zu stellen.
Am 28. Juni 1942, nach vorbereitenden Operationen auf der Krim und bei
Charkow, begann die deutsche Sommeroffensive, mit der die Rote Armee end­
lich in die Knie gezwungen werden sollte. Hitler sah das wichtigste Ziel darin,
die Ölquellen des Kaukasus in die Hand zu bekommen, weil er sonst den Krieg
nicht weiterfuhren könne. Aber mit den ersten Erfolgen wuchsen die Ambi­
tionen des Diktators und brachten die Operationsführung in Zugzwang. Für
Gehlen als neuer Chef FHO erhöhte sich damit zwangsläufig die Verantwor­
tung wie vor einem Jahr für seinen Vorgänger Kinzel, der sich über Möglich­
keiten und Absichten des zurückweichenden Gegners keine großen Gedanken
gemacht hatte, bis dieser vor Moskau unerwartet heftig zurückgeschlagen und
die deutsche Front ins Wanken gebracht hatte. Rechtzeitige Warnungen hatte
der Generalstabschef damals nicht erhalten.
Halder feierte am 30. Juni 1942 in gewohnter Weise seinen Geburtstag mit
einem würdigen Herrenabend, zu dem auch die »leitenden Persönlichkeiten
des Generalstabs« eingeladen waren.440 Dazu zählte nun auch Gehlen. Der
Krieg im Osten war wieder in Gang gekommen. Große Zuversicht erfasste die
Führungsspitze um Halder, vor der alle Bedenken verblassten. Mitte Juli feierte
Halder im masurischen Hauptquartier den 40. Jahrestag seines Diensteintritts,
Anlass für einen bunten Reigen von Gratulanten – beginnend um zehn Uhr
mit den Abteilungschefs, darunter natürlich Gehlen, nachmittags ein Teebe­
such des »Führers« – und für Glückwunschtelegramme vom bulgarischen
König, von sämtlichen Heeresgruppen und Armeen, von Reichsministern und
Dienststellen aller Art.441 Am Abend folgte ein Empfang mit kaltem Buffet im
Vorwerk, dem Gästehaus des OKH. »Der Führer überbringt mir sein Bild mit
eigenhändiger Unterschrift in silbernem Rahmen«, notierte Halder, der wohl
mit der Beförderung zum Feldmarschall gerechnet hatte. Doch es war eine
trügerische Harmonie, die bald darauf gänzlich zerbrach und auch für Gehlen
eine vertraute Welt zerstörte.
Bereits einen Tag später konnte Gehlen bei seinem Vortrag über die Feind­
lage die von der Abwehr beschaffte Nachricht eines angeblich zuverlässigen

439 FHO (II), Auswirkungen des Winterfeldzuges auf die sowjetruss. Wehrkraft und Kampf­
führung; derzeitige Feindlage im großen und Schlußfolgerungen, 7.5.1942, BA-MA,
RH 2/v. 2047. Die Studie gipfelte in der Behauptung, dass die »rote Menschenreserve
weitgehend aufgebraucht« sei.
440 Halder, KTB III, S. 469 (30.6.1942).
441 Ebd., S. 482 (14.7.1942).

248
Eine wichtige Quelle Gehlens:
der jüdische Nachrichtenhändler
Richard Kauder und seine Geliebte,
ca. 1942

Agenten von der gerade abgeschlossenen Sitzung eines Militärrates in Mos­


kau überbringen, an der auch die alliierten Militärattachés teilgenommen hät­
ten.442 Demnach beabsichtigte die sowjetische Führung, den Raum westlich
der Wolga zu räumen, Stalingrad aber als Stützpunkt zu halten. Die angebliche
Meldung aus Moskau entsprach zufällig dem späteren Ablauf, war aber das
Fantasieprodukt eines Kreises von exilrussischen Offizieren, die, vermittelt
über den in Sofia residierenden Wiener Juden Richard Kauder (Deckname
»Klatt«), die deutsche Abwehr mit meist konstruierten Meldungen versorgte.
Es war bis zum Ende des Krieges Gehlens wichtigste strategische Quelle!
Das OKH hoffte darauf, die Masse des zurückweichenden Feindes bereits im
Vorfeld der Stadt einschließen und vernichten zu können, um sich dann dem
Hauptziel der Sommeroffensive, der Eroberung der kaukasischen Ölquellen,

442 Ebd., S. 482 (15.7.1942); FHO, Kurze Beurteilung der Feindlage, 15.7.1942, in: KTB OKW,
Bd. 11,2, S. 1283 (Dok. Nr. 15). Die Quelle dürfte »Max« (DN) gewesen sein, angeblich ein
jüdischer Arzt in Stalins Hauptquartier; siehe Interview David Kahns mit Max Ritter
von Tessenberg, 1970, ehern. Sachbearbeiter in der Auswertung der Gruppe I/FHO,
BA-MA, MSg 2/3286. Heute ist bekannt, dass »Max« ein Phantom des Nachrichtenhänd­
lers Klatt gewesen ist; siehe Winfried Meyer: Klatt. Hitlers jüdischer Meisteragent gegen
Stalin: Überlebenskunst in Holocaust und Geheimdienstkrieg, Berlin 2015. Gehlen blieb
zeitlebens bei der Annahme, dass »Max« eine Stelle gewesen sei, die Agenten führte. Er
wollte darüber aber in seinen Memoiren nicht mehr verraten; siehe Gehlen im Inter­
view mit Elke Fröhlich, 29.1.1972, IfZ, ED 100-68-78-78.

249
zuwenden zu können. Halder befahl deshalb Heusinger und Gehlen am folgen­
den Tag zu einer Besprechung über »Gedankenbildungen für bevorstehende
Schlacht bei Stalingrad«. Zwar hatte man zunächst noch die Schlachten bei
Rostow sowie nördlich und südlich des Don zu schlagen, doch galt es, sich
auch auf eine mögliche Schlacht vor der großen Industriemetropole einzu­
stellen. Dazu ordnete Halder Zeit- und Kräfteberechnungen an,443 die Gehlen
mithilfe von FHO liefern musste. Wann und wo würde sich die Rote Armee zur
entscheidenden Schlacht stellen? Würde Stalin die Stadt, die seinen Namen
trug, aufgeben oder seine vermuteten geringen operativen Reserven aufbieten,
um die Wehrmacht an dieser Schlüsselposition zu binden, die Wolga als Ver­
sorgungsstraße offenzuhalten und, gestützt auf die Rüstungsmetropole, eine
wirksame Flankenbedrohung für einen deutschen Vorstoß in den Kaukasus
organisieren? Wenn man – wie Gehlen – auf die bisherige Einschätzung ver­
traute, dass sich die Kräfte des Feindes ohnehin bald erschöpfen würden, dann
blieb es letztlich unerheblich, welche Strategie Stalin verfolgte.
Hitler ließ sich von wachsenden Zweifeln an dem Lagebild nicht beeindru­
cken. Er befahl einen überraschenden Vorstoß zur Einnahme von Stalingrad,
was Halder für falsch hielt, weil so der Gegner bei der laufenden Operation
nördlich von Rostow die Gelegenheit erhalten könnte, sich der Einschließung
zu entziehen. Bereits Anfang Juli hatte Hitler den fatalen Entschluss gefasst, die
Heeresgruppe Süd zu teilen und damit die Offensive in zwei Richtungen aufge­
spalten. Jetzt befahl er in Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, in beide
Richtungen – Wolga und Kaukasus – gleichzeitig vorzustoßen, nahm er doch
an, dass es sich lediglich um die Verfolgung eines bereits geschlagenen Feindes
handelte, der über keine größeren Reserven mehr verfugte. Deshalb richtete
sich seine Aufmerksamkeit schon auf weitergehende strategische Ziele wie die
Einnahme von Leningrad und den Vorstoß nach Mesopotamien.
Die realistische Einschätzung von Fähigkeiten und Absichten des Gegners
hätte ein Korrektiv sein können, doch abgesehen davon, dass Gehlen mit sei­
nen Mutmaßungen davon abhängig war, ob sich sein Generalstabschef dafür
offen zeigte und Hitler beeinflussen könnte, klärte sich auch für den Chef FHO
das Bild über den Feind nur schrittweise, weil er von den Meldungen der Front­
verbände abhängig war. Immerhin registrierte er auf diese Weise die wach­
sende Zahl von erkannten Feindverbänden. Wann aber war der Punkt gekom­
men, um die bisherigen Schlussfolgerungen infrage zu stellen? Gehlen wusste
aus seinen Erfahrungen im OKH nur zu genau, dass Bedenkenträger nicht
erwünscht waren und schnell zum Ärgernis für die oberste Führung werden
konnten. Aber eindeutige Erkenntnisse lagen ihm kaum vor, und die Verant­

443 Halder, KTB III, S. 483 (16.7.1942)

250
wortung, daraus Konsequenzen für die eigene Operationsführung zu ziehen,
lag in erster Linie bei Heusinger und dann bei Halder. Also konnte er sich dar­
auf beschränken, die Meldungen der Ic-Offiziere von der Front und die spärli­
chen Abwehrmeldungen zu referieren, sich hinsichtlich ihrer Ausdeutung für
die eigenen Operationen aber zurückzuhalten.444
Nach Halders Empfang zu seinem Dienstjubiläum war das OKH dem Füh­
rerhauptquartier nach Winniza gefolgt, der neuen Schaltzentrale für die Som­
meroffensive 1942. Dort war man näher an der Front und zugleich im Herzen
der Ukraine. Die SS hatte den Ort zuvor »judenfrei« gemordet. Diese Seite des
Krieges kann den Stabsoffizieren und Generalen, also auch Gehlen, nicht ver­
borgen geblieben sein. Heusinger verschwieg in seinen Briefen an die Ehefrau
diese Zusammenhänge, Gehlen ignorierte sie anscheinend ebenfalls. Heusin­
gers Ordonnanzoffizier Oberleutnant Georg-Heino Freiherr von Münchhausen
erfuhr bei seinen Fahrten über Land, man habe »auch auf den Dörfern alle
Juden restlos erschossen, kleine Kinder, Frauen, alles«; manche Männer habe
man vorerst noch am Leben gelassen, weil man sie als Handwerker brauchte.
Münchhausen war empört und wollte diese Vorgänge nicht vor seinem Gewis­
sen verantworten müssen.445 Aus dem Bereich FHO geben die Erinnerungen
von Herbert Franke, damals Leutnant und Referent der Gruppe Ferner Osten,
einen Eindruck vom Aufenthalt in Winniza zwischen Juli und Oktober 1942.
Auch Franke hatte gerüchteweise gehört, dass in der Gegend 35.000 Juden
ermordet worden sein sollten. Das schien ihm glaubhaft zu sein, nach allem,
was er bereits seit 1941 verschiedentlich im OKH erfahren hatte.446
Der Alltag der Stabsoffiziere in Winniza gestaltete sich indes recht ange­
nehm.447 Gehlen verfügte zeitweilig über ein eigenes Dienstpferd. Die Abschot­
tung des Hauptquartiers wurde – im Gegensatz zu Mauerwald in Ostpreu­
ßen – locker gehandhabt, keine Drahtzäune und strenge Abschirmungen.
Major Heinz Danko Herre, als Gruppenleiter I seit Kurzem ein enger Mitarbei­
ter Gehlens, beschrieb die Lage in seinem Tagebuch so:

444 Gehlen war wohl damals schon der Ansicht, dass die Operation in den Kaukasus mit
der langen Ostflanke und mit den vorhandenen Kräften von vornherein nicht gelingen
konnte. Das lässt eine spätere Äußerung vermuten; siehe Gehlen im Interview mit Elke
Fröhlich, 29.1.1972, IfZ, ED 100-68-73.
445 Zit. nach: Meyer, Heusinger, S. 186.
446 BA-MA, MSg 2/4150, S. 134.
447 Zur Atmosphäre im Führerhauptquartier aus der Perspektive eines Schriftstellers, der
als Obergefreiter beim KTB des OKW arbeitete, siehe Felix Hartlaub: »In den eigenen
Umriss gebannt«. Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den
Jahren 1939 bis 1945, hg. von Gabriele L. Ewenz, Bd. 1: Texte, Frankfurt a. M. 2002,
S. 147-237.

251
Gruppenleiter Major Heinz Danko Herre mit Gehlens Dienstpferd »Tango« im Führer­
hauptquartier in Winniza, Herbst 1942

Das Quartier von Adolf Heusinger in Winniza

252
Eine der nettesten ukrainischen Städte, Universitätsstadt, großräumig ange­
legt, Universitätsviertel am Westausgang, ganz modern, große Kliniken,
Abteilung Fremde Heere Ost in zwei großen Universitätsgebäuden, umge­
ben von kleinen zweiräumigen Häuschen, in denen die Ärzte gehaust haben.
In solchen Häuschen wohnten auch Gehlen und ich. Chef Gen St zunächst
Halder, dann Zeitzler saßen in einer kleinen zweistöckigen Villa ebenfalls im
Universitätsaußenbezirk. Das Ganze von vielen Obstbäumen umgeben. Gar
nicht sehr russisch anmutende Atmosphäre. Führerhauptquartier nördlich
von Winniza, gut ausgebauter Führungsgefechtsstand. Im Bau begriffen zur
selben Zeit eine Fülle von Parteibauten für Gebietskommissare und SS-Sied­
lungsheimen.448

Zu den Morden der SS schwieg auch Herre.


Zusammen mit anderen Offizieren von FHO besuchte Herre die Auffüh­
rung eines ukrainischen Provinztheaters, um das er sich im Auftrag Gehlens
etwas kümmern sollte. In der Nachbarloge ein betrunkener Gebietskommissar,
der mit seinen lauten Bemerkungen die Vorstellung störte. Als Herre warnte,
die Bevölkerung würde sehr empfindlich darauf reagieren, beruhigte sich der
Parteifunktionär nur sehr widerwillig, bat aber am nächsten Tag darum, kein
weiteres Aufsehen zu machen. Anders als beim feingeistigen Major i. G. Ulrich
de Maiziere von der Operationsabteilung, der ebenfalls zu den häufigen Besu­
chern gehörte,449 ist von einer speziellen Vorliebe Gehlens für das Theater
nichts bekannt. Schlechtes Benehmen aber ist ihm sicherlich zuwider gewe­
sen. Eines Abends fand sich im Kasino Major i. G. Graf Stauffenberg von der
Organisationsabteilung ein, der mit seinem Charisma auf einen jüngeren Mit­
arbeiter Gehlens großen Eindruck machte, wohl auch deshalb, weil im Gegen­
satz dazu sein eigener Chef asketisch und verschlossen wirkte.450
Gehlens persönlicher Chauffeur, der gleichaltrige Stabsgefreite Oskar
Thielert aus Gumbinnen, berichtete später, dass die Mannschaften von FHO
in ehemaligen Wohnhäusern an der Stadtgrenze untergebracht waren. Zwei­
mal täglich habe er Gehlen zu Besprechungen zur Unterkunft des OKH fah­
ren müssen, frühmorgens gegen acht Uhr, Rückfahrt gegen zwölf Uhr, und ein
zweites Mal um 20 Uhr, Rückfahrt gegen 24 Uhr. Nachmittags ließ sich der
Oberst zur Abwehrstelle »Walli I« fahren, um sich bei Major Hermann Baun
über die neuesten Feindnachrichten zu informieren. Gehlen sei während der

448 Heinz Danko Herre, Aufzeichnungen, Bd. 5, S. 36, IfZ, ZS 406/5-29.


449 Ulrich de Maiziere, In der Pflicht. Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahr­
hundert, Herford 1989, S. 79.
450 Erinnerungen Herbert Franke, S. 130 und 137, BA-MA, MSg 2/4150.

253
Gehlen (mit Uniformmütze) trifft Claus
Schenk Graf von Stauffenberg (rechts),
vermutlich im Süden der Ostfront,
Sommer 1942

Fahrten stets unnahbar und streng dienstlich gewesen. Er habe sich nie unter­
halten wollen.451
Insgesamt dürften alle den sommerlichen »Ausflug« in die Ukraine genos­
sen haben, denn Mitarbeiter von FHO schwärmten noch ein halbes Jahr später
in der »Bierzeitung« zur nächsten Weihnachtsfeier davon. Dort wurde unter
dem Titel »Schön war’s doch!« u. a. gereimt:

Und eines Tages, wie famos,


hieß es dann, jetzt geht es los.
Der Sommer war ganz wunderschön
sogar in Winfried (Winniza) anzuseh’n.
Doch in Winfried angekommen
waren wir gleich wie benommen!
Hier gab’s Eier, Butter, Speck!

451 Thielert lebte später in der DDR und geriet 1963 in die Fänge der Stasi, weil er als Kon­
trolleur in einem Ostberliner Restaurant mehrfach dunkelhäutige Gäste abgewiesen
haben soll. In ausführlichen Vernehmungen musste er über seine Zeit bei FHO berich­
ten; BStU, MfS, HA IX/1, FV 5/72, Bd. 11, Teil 2.

254
Uns blieb fast die Spucke weg.
Auch das Handeln ging gleich los
und wir feilschten all’ ganz groß.
Ich kann nur sagen, es klappte famos.
Wir kauften Eier für 6 Rubel ein,
Gott, wie heißt? Ist das nicht billig?
Gar kein Preis? Wir zahlten’s willig.
Im regelmäßigen Wechsel sah,
man uns bald hier, und auch bald da.
Die Panjes rieben sich die Händ,
heut hab’n wir verdient 100 %,
drum stimmet alle mit uns ein,
die Welt, die will beschnitten sein.
Doch alles höret einmal auf,
das Schicksal nahm hier seinen Lauf.
Geblieb’n wär’n wir gerne dort
zurück ging’s dann zum ersten Ort.452

Freilich war das dienstliche Klima im Hauptquartier noch zermürbender


als bisher schon seit der vergangenen Winterkrise. Halder berichtete nun
von regelrechten Tobsuchtsanfällen Hitlers und schwersten Vorwürfen. »Die
immer schon vorhandene Unterschätzung der feindlichen Möglichkeiten
nimmt allmählich groteske Formen an und wird gefährlich. Es wird immer
unerträglicher. Von ernster Arbeit kann nicht mehr die Rede sein. Krankhaftes
Reagieren auf Augenblickseindrücke und völliger Mangel in der Beurteilung
des Führungsapparates und seiner Möglichkeiten geben dieser sog. >Führung<
das Gepräge.«453 Wenn der »Führer« die feindlichen Möglichkeiten, wie Halder
meinte, permanent unterschätzte, war es für den Leiter FHO erst recht ratsam,
sich mit seinen Ratschlägen zurückzuhalten und sich auf Fakten zu beschrän­
ken. Für einen Führervortrag am 3. August 1942 notierte Gehlen, dass die
Berechnungen über Neuaufstellungen des Gegners gegenüber dem Mai zwar
geringfügig auf 69 Divisionen korrigiert werden müssten und dass die Rote
Armee aus dem jüngsten Jahrgang noch einmal 34 neue Schützendivisionen
aufstellen, aber vermutlich nicht ausrüsten könne.454
Im Kern blieb Gehlen damit bei seiner ursprünglichen, vorsichtig optimis­
tischen Einschätzung der deutschen Erfolgsaussichten. So hatte er es schon

452 Von B2 bis IIz, BA-MA, MSg 2/12071.


453 Halder, KTB III, S. 489 (23.7.1942).
454 Ebd., S. 496-497 (2./3.8.1942). Einen weiteren Vortrag über die Stärke des Gegners lie­
ferte Gehlen am 9. August 1942, erwähnt in: ebd., S. 502.

255
vor den Absolventen der Kriegsakademie im Juni vorgetragen, dass sich näm­
lich die Verluste des bisherigen Feldzugs »nunmehr auch rein personell aus­
zuwirken« beginnen würden und die Rote Armee bis zum Herbst nur noch
eine geringe Anzahl von zusätzlichen Divisionen in den Kampf werfen könne.
Dadurch würde die Sowjetarmee im kommenden Winter keine so umfangrei­
chen Reserven wie im letzten Jahr mehr mobilisieren und ausrüsten können.
Das »Überlegenheitsgefühl des deutschen Soldaten« bestehe zu Recht, und wo
man mit zusammengefassten Kräften angreife, sei der Erfolg sicher. Man dürfe
die zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners natürlich nicht unterschätzen,
und um die jetzt anstehende Entscheidung im Osten zu einem Sieg zu machen,
werde es »größter Kraftanstrengung bedürfen. Dass wir den Sieg erringen,
daran glauben wir.«455
Drei Monate später fiel sein Vortrag beim nächsten Lehrgang der Kriegs­
akademie etwas vorsichtiger aus. Die Kämpfe in Stalingrad hatten sich zu
einem verlustreichen »Rattenkrieg« entwickelt, die deutsche Sommeroffen­
sive war festgefahren und die wichtigsten Ziele hatte man verfehlt. Dennoch
konstatierte Gehlen zusammenfassend ein Nachlassen der Kampfkraft des
Gegners, obwohl der Feind an stehenden Fronten »mit unverminderter Ver­
bissenheit und Zähigkeit ohne Rücksicht auf die Opfer« kämpfe. Der Schwer­
punkt liege in diesem Jahr weniger in der »Vernichtung von Menschenmassen
als von Material, in erster Linie von Panzern« – was jedoch kein zuverlässiges
Kriterium war, weil Gehlen die sowjetische Panzerproduktion gewaltig unter­
schätzte.
Hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Operationen bestehe die berechtigte
Hoffnung, so Gehlen, dass es bei anhaltend starkem Widerstand des Feindes
den deutschen und verbündeten Truppen »im Erdölgebiet des Kaukasus und
an der Wolga bei Stalingrad gelingen wird, diese Gebiete noch vor Einbruch
des Winters fest in die Hand zu nehmen«. Damit sei die Rote Armee zwar noch
nicht vernichtet, doch die Wegnahme der wirtschaftlich wertvollen Gebiete
werde die Voraussetzung dafür schaffen, den feindlichen Widerstand im kom­
menden Jahr endgültig zu brechen. Was ihm Sorgen bereitete, war die Aussicht,
dass die im Winterkampf überlegene Rote Armee wie im Vorjahr versuchen
könnte, den angespannten deutschen Kräften so große Verluste zuzufügen,
dass sie auch im Hinblick auf die Bindung an anderen Fronten (hier war an
eine mögliche alliierte Landung zu denken) im nächsten Jahr nicht mehr zu
einer neuen Offensive in der Lage sein werde. Gehlen rechnete vor allem mit
möglichen Krisen wie im Vorjahr bei der Heeresgruppe Mitte. Wenn es aber

455 Russlands Wehrkraft, Rüstungsumfang u. Wehrmacht im Frühjahr 1942. Vortrag gehal­


ten an der Kriegsakademie, 9.6.1942, BA-MA, RH 2/v. 2445.

256
wie damals gelänge, die Winterangriffe erfolgreich abzuwehren, könnte dies
dazu beitragen, den russischen Widerstandswillen im Jahr 1943 endgültig zu
brechen.456
Intern gab es in Gehlens Abteilung schon längst Zweifel am Optimismus
des Chefs. Im Mai war Hauptmann Gerhard Wessel als neuer Lagebearbeiter
ins Amt gekommen, ein Artillerist, sehr gut aussehend; als die Abteilung 1943
Stabshelferinnen bekam, war er der Schwarm aller Mädchen.457 Sein Vater saß
als Pfarrer der Bekennenden Kirche im KZ Dachau. Wessel gewann schnell
das Vertrauen von Gehlen, wurde 1944/45 sogar sein Stellvertreter und in den
letzten Kriegstagen sein kommissarischer Nachfolger als Chef FHO. Zwischen
1946 und 1952 übernahm er wichtige Positionen in der Organisation Gehlen
und machte dann Karriere in der Bundeswehr. 1968 wurde er Gehlens Nach­
folger und zweiter Präsident des BND. Im Sommer 1942 fragte er Gehlen, ob
dieser noch an einen deutschen Sieg glaube. Ohne Begründung antwortete
Gehlen schlicht mit Ja. Ob das wirklich seiner Überzeugung entsprach, blieb
offen. Wessels Tagebuch enthält am 15. und 23. August 1942 folgende Worte:

Eigene Kräfte überall nicht mehr ausreichend. H.Gr. Mitte sehr kritisch
[...] Endstellung dieses Jahres im grossen erreicht. Vielleicht können Nord­
kaukasus, Stalingrad und Leningrad noch gemacht werden, dann aber sind
wir restlos erschoepft. Der Winter wird schlimmer werden als 1941/42. Mit
132 Div., 18 mot. Div. und 15 Pz. Div. ist’s nicht zu machen.458

Es gilt festzuhalten, dass zwei Monate vor Beginn der vernichtenden sowje­
tischen Gegenoffensive Gehlen noch immer davon überzeugt war, dass der
Geländegewinn der Sommeroffensive gehalten werden könnte, und er allen­
falls mit örtlichen Einbrüchen rechnete, allerdings nicht dort, wo sie tatsäch­
lich stattfanden. Gehlen befand sich damit ganz auf der Linie seines obersten
Befehlshabers. Was mag es bedeuten, dass er genau zu dieser Zeit ein größeres
Grundstück am Starnberger See erwarb und auf den Namen seiner Ehefrau ins
Grundbuch eintragen ließ? Reinhard Gehlen, der Schlesier, mit einem unter
obskuren Umständen erworbenen repräsentativen Seegrundstück in Bayern,
das nach dem verlorenen Krieg mithilfe der CIA zum Familiendomizil geworden
ist. Ein weitsichtiges persönliches Manöver? Davon wird noch zu sprechen sein.
Gehlen erlebte in diesen Septembertagen aus nächster Nähe den Zusam­
menbruch des von ihm hochgeschätzten Chefs, der allmählich in Apathie ver­

456 Russlands Wehrkraft, Rüstungsumfang u. Wehrmacht im Herbst 1942. Vortrag gehalten


an der Kriegsakademie, 7.9.42. BA-MA, RH 2/v. 2533, S. 11 und 45-46.
457 Erinnerungen von Herbert Franke, S. 135, BA-MA, MSg 2/4150.
458 Aktennotizen zur Geschichte der Org, Sept. 1952, Nachlass Wessel, BND-Archiv, N 1/1.

257
sank. Halders selbst von Heusinger als »schulmeisterlich« empfundene Beleh­
rungen des »Führers« verfehlten ihre Wirkung und veranlassten den Chef der
Operationsabteilung, zwischen beiden »gehorsamst« zu pendeln. Was Hitler
seinem Generalstabschef zumutete, wollte sich keiner im OKH sagen lassen.
Bei einem Wutausbruch des »Führers« am 4. September brüllte dieser: »Was
wollen Sie, Herr Halder, der Sie nur, auch im Ersten Weltkrieg, auf demselben
Drehschemel saßen, mir über (die) Truppe erzählen. Sie, der Sie nicht einmal
das schwarze Verwundetenabzeichen tragen?«459 Der Abteilungsleiter FHO
musste sich, falls die Geschichte stimmt, Ähnliches vorhalten lassen.
Wahrscheinlich hat Halder zu ebendieser Besprechung in Winniza Gehlen
zum ersten Mal zu einer Lagebesprechung beim »Führer« mitgenommen. Als
Halder anbot, der Chef FHO könne die Feindlage und die hinter der russischen
Front im Aufmarsch befindlichen neu aufgestellten Verbände noch genauer
schildern, soll Hitler, der Gehlen noch gar nicht persönlich kannte und wohl
lediglich seinem generellen Argwohn gegen FHO freien Lauf ließ, geantwortet
haben: »Ach, lassen’s mir den Märchenerzähler doch draußen!« Das sprach
sich schnell herum, wie sich ein damaliger Mitarbeiter Gehlens später erinner­
te.460 Sein Chef hat diesen verpatzten Auftritt verdrängt und in seinen Memoi­
ren verschwiegen. Als »Märchenerzähler« von Hitler tituliert worden zu sein
hat ihn aber vermutlich schwer getroffen. Er hat wohl auch deshalb die Kon­
sequenz gezogen, künftig besser im Hintergrund zu bleiben und für die Nach­
kriegszeit Unterlagen zu sammeln, die beweisen sollten, dass er Stärke und
Absichten des Feindes stets zutreffend beurteilt und sich der »größte Feldherr
aller Zeiten« uneinsichtig gezeigt habe.
Oberst i. G. Helmuth Groscurth, der zum Kreis des militärischen Wider­
stands gehörte und zu diesem Zeitpunkt als Chef des Generalstabs des
XI. Armeekorps der 6. Armee diente, meinte empört: »Der Generalstab geht
seinem völligen Ruin entgegen. Es ist keine Ehre mehr, ihm anzugehören.«461
Zu einer solchen grundsätzlichen Position ist Gehlen nie vorgedrungen.
Gehlen müssen diese kritischen Tage mit ihrem aufreibenden Hochbetrieb
in seiner Einsicht bestärkt haben, dass es für die Durchsetzung seiner Anliegen
entscheidend war, aus der Deckung heraus zu operieren und den Zugang zur
obersten Führung erst nach erfolgter Absicherung zu suchen, eine Erfahrung,
die er sieben Jahre später für seinen Zugang zu Adenauer nutzte. In den letzten
vier Wochen vor Halders Entlassung findet sich jedenfalls kein Eintrag mehr

459 Heeresadjutant bei Hitler 1938-1943. Aufzeichnungen des Majors Engel, hg. von Hilde­
gard von Kotze, Stuttgart 1974, S. 125.
460 Erinnerungen Herbert Franke, S. 137, BA-MA, MSg 2/4150.
461 Groscurth, Tagebücher, S. 548.

258
zu Gehlen im Tagebuch des schwer angeschlagenen Generalstabschefs. Es
könnte sein, dass sein umsichtiger Schützling auf Tauchstation gegangen war.
Mit Halders Sturz verlor Gehlen seinen wichtigsten Förderer. Dennoch
wäre er niemals dem Vorschlag gefolgt, den der Chef der Zentralabteilung im
OKH gegenüber Halder machte, dass nämlich alle Abteilungschefs im OKH
gleichzeitig aus Protest aus ihrem Amt scheiden sollten, was Halder selbst­
verständlich ablehnte.462 Wäre der Feldzug am Jahresende zu einem positiven
Abschluss gelangt, hätte es voraussichtlich ein Revirement an der Wehrmacht­
spitze gegeben. Paulus, mit dem Gehlen zwei Jahre zuvor den Überfall auf die
UdSSR vorbereitet hatte und der sich jetzt als Frontoberbefehlshaber bewäh­
ren sollte, war vorgesehen, Chef des Wehrmachtführungsstabes zu werden und
damit Jodl abzulösen. Würde Halder, der mit den Nerven sichtlich am Ende
war, ebenfalls seinen Posten räumen, hätte Heusinger gute Chancen gehabt,
neuer Generalstabschef zu werden. Gehlen konnte also hoffen, bei dem guten,
aber persönlich eher distanzierten Verhältnis zu Heusinger dessen Nachfolger
als Chef der Operationsabteilung zu werden. Damit hätte Gehlen einen gradli­
nigen und konsequenten Aufstieg geschafft: Adjutant Halders und Vertrauter
bei dem Entschluss zu »Barbarossa«, dann 18 Monate als Gruppenleiter Ost in
der Operationsabteilung, schließlich neun Monate als Abteilungsleiter FHO -
damit war er (nach Halder und Heusinger) der Generalstabsoffizier mit der
größten operativen Erfahrung im OKH. Sollte Gehlen für sich diese nahelie­
gende Rechnung aufgemacht haben, dann irrte er sich auch hier fundamental.
Am 23. September 1942 war es so weit. Halder absolvierte seinen letz­
ten Lagevortrag bei Hitler.463 Seine Ablösung stand schon seit einer Woche
fest, ebenso der Nachfolger. Dessen Name war eine wirkliche Überraschung
im OKH: Kurt Zeitzler. Ihn hatte niemand auf der Rechnung gehabt. Gehlen
kannte ihn noch aus dessen Zeit als Chef des Generalstabs der Panzergruppe
Kleist, zu der er während des Frankreichfeldzugs zeitweilig als Verbindungs­
offizier Halders gestoßen war. Dann hatte Zeitzler in gleicher Funktion die
Panzergruppe 1 als Speerspitze der Heeresgruppe Süd in Russland gelenkt. Als
Gehlen im Frühjahr 1942 FHO übernahm, wurde der zum Generalmajor beför­
derte Zeitzler Chef des Generalstabs der Heeresgruppe D im besetzten Frank­
reich. Von St. Germain bei Paris holte ihn Hitler im September ins OKH nach
Winniza. Von Zeitzler als einem typischen Vertreter des Truppengeneralstabs
versprach er sich frischen Wind in den frontfernen Stuben des OKH und mehr
Zuversicht, als Halder mit seiner Entourage gezeigt hatte.

462 Zit. nach: Hans-Albert Hoffmann: Die deutsche Heeresführung im II. Weltkrieg, Berlin
22006,
S. 89.
463 Halder, KTB III, S. 528 – 531 (24.9.1942).

259
Ob es wirklich stimmt, wie Heusinger seiner Frau schrieb, er sei erleichtert
gewesen, dass die Nachfolgeschaft »Gott sei Dank« an ihm selbst vorüberge­
gangen sei und er sie auch abgelehnt hätte,464 sei dahingestellt, denn gerechnet
hat er offenbar doch damit. So konnte er sich »innerlich befreit« fühlen. Er war
der Auffassung, nur ein »Mann mit Bullennerven« könne eine solche Aufgabe
übernehmen, und meinte, am Ende werde auch Zeitzler nicht daran vorbei­
kommen, auf Hitler einzuwirken und ihm »Unmöglichkeiten« nachzuweisen.
Heusinger und Gehlen hatten sich bislang in dieser Hinsicht nicht persönlich
bemühen müssen, da Halder seinen Kopf hingehalten und ihn schließlich ver­
loren hatte. So konnte sich Heusinger als Gehlens Alter Ego etwas auf seine
»neutrale Stellung« zugutehalten, denn der »Führer« hatte ihm immerhin ver­
sichert, dass er nicht auf ihn verzichten könne.
Sich an Zeitzler gewöhnen zu müssen, der sich wegen seiner Figur und
Dynamik den Spitznamen »Kugelblitz« erworben hatte, muss für Gehlen eine
enorme Herausforderung gewesen sein. Der neue Generalstabschef erwartete
von seinen Offizieren nicht nur Effizienz, sondern auch ein glühendes Bekennt­
nis zum »Führer« und dessen militärischer Führung sowie die Ausstrahlung
dieser Überzeugung gegenüber den Untergebenen.465 Zeitzler lehnte ausdrück­
lich jenen Generalstabsoffizier ab, »der immer nur Bedenken hat, bei jeder
unvorhergesehenen Sache ein trauriges Gesicht macht«.466 Ob Gehlen über
solche Reden heimlich den Kopf schüttelte oder wie andere über so viel Einfalt
spottete, ist nicht überliefert. Es ist bemerkenswert, dass beide offensichtlich
zwei Jahre gut miteinander auskamen. Das spricht für das Anpassungsver­
mögen Gehlens, dem Zeitzlers direkte und raue Art mit seinen abgehackten
Sätzen sicher nicht gelegen hat. Aber er stellte sich ähnlich wie Heusinger auf
einer sachlichen Ebene auf den neuen Chef ein, bemüht, behutsam und vor­
sichtig argumentierend zu überzeugen, manchmal umständlich, aber gleich­
bleibend höflich und mit einer Sprechweise, die eine gewisse Unnahbarkeit
schaffen konnte.467 Nach 1945, als Zeitzler im Schatten seines Vorgängers Hai­
der stand, suchte Gehlen keinen Kontakt mehr zu ihm. Das spricht für sich.
Heusinger und Gehlen haben anfänglich sicher neugierig beobachtet, wie
der neue Chef, den Hitler ihnen vor die Nase gesetzt hatte, sich bemühte, seine
fachlichen Überzeugungen und Prinzipien, ungeachtet seiner »Führertreue«
notfalls auch in direkter Konfrontation zu seinem »Führer« zur Geltung zu brin­

464 Zit. nach: Meyer, Heusinger, S. 189.


465 Heusinger, Befehl im Widerstreit, S. 212.
466 Siehe Meyer, Heusinger, S. 191. Eine umfassende Biografie über Zeitzler, der als General­
stabschef des Heeres auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs immerhin fast täglich
mit Hitler über die Ostfront konferierte, liegt noch immer nicht vor.
467 So die Charakteristik zu Heusinger bei Meyer, Heusinger, S. 192.

260
gen, und daran bald scheiterte. Gehlen war froh, dass Zeitzler – anders als Hai­
der – nicht mehr seine wichtigsten Abteilungschefs zur Führerlage mitnahm,
und Heusinger es übernahm, selbst die Feindlage, meist nur flüchtig, vorzutra­
gen. Gehlen blieb so die persönliche Begegnung mit dem Diktator weitgehend
erspart, und Heusinger konnte sich gegenüber Zeitzler und Hitler als derjenige
präsentieren, der den vollen Überblick hatte und daher als unentbehrlich galt.
In seinen Erinnerungen erwähnt Gehlen eher beiläufig, dass er lediglich zu
vier Lagebesprechungen ausdrücklich von Hitler zum Vortrag befohlen wor­
den sei. »Bei diesen Gelegenheiten habe ich unmißverständlich stets meine
Ansicht gesagt, darauf bedacht, daß sie der Denkart Hitlers einleuchtete.«468
Das ist wieder einer dieser wohlabgewogenen Sätze, mit denen er sich einer­
seits zum aufrechten Generalstabsoffizier stilisiert, und andererseits zu erklä­
ren versucht hat, dass er dem »Führer« natürlich nicht zu widersprechen wagte
und offenbar bemüht gewesen war, Hitlers Erwartungen entgegenzukommen.
Jedenfalls hat Gehlen in seinen Memoiren keinen weiteren Hinweis auf Zeit­
punkt und Umstände dieser Begegnungen gegeben, sondern behauptet, seine
Vorgesetzten hätten fürsorglich darauf verzichtet, ihn häufiger mitzunehmen,
um ihn »vor den Ausbrüchen dieses Mannes zu bewahren« und nicht seine
Ablösung zu provozieren.469 In den erhaltenen Protokollen der Lageberichte
taucht sein Name nicht auf. Gehlens Mitarbeiter erinnerten sich später zumin­
dest an zwei dieser Begegnungen mit Hitler, die für ihren Chef nicht gut aus­
gingen. Andere meinen, Gehlen habe Anfang 1945 mehrfach an Lagebespre­
chungen teilgenommen.470 Es ist ungewöhnlich, dass sich Gehlen später nicht
so genau daran erinnern wollte, obwohl fast jeder Offizier, der während des
Krieges seinem Obersten Befehlshaber persönlich begegnet ist und in der Lage
war, später seine Memoiren zu schreiben, nicht darauf verzichtet hat, seine
Eindrücke von dieser Begegnung mit Hitler dem Publikum mitzuteilen.
Das Misstrauen des Diktators gegenüber möglichem Zweifel und leiser
Kritik aus dem Generalstab ließ zwar nicht nach, wurde aber durch die vor­
dergründige Loyalität und Beflissenheit Zeitzlers und Heusingers weitge­
hend abgefedert. Vielleicht nahm Gehlen die Situation so hin wie Ulrich de
Maiziere, damals gerade in die Organisationsabteilung versetzt, der sich in
seinem Dienstzimmer plakatieren ließ: »Entschuldigen Sie, es ist nicht meine
Aufgabe, über die Sinnlosigkeit der mir erteilten Aufträge nachzudenken.«471

468 Gehlen, Der Dienst, S. 94.


469 Ebd., S. 49.
470 Siehe Pahl, Fremde Heere Ost, S. 212.
471 De Maizière, In der Pflicht, S. 81. Das war ein Zitat aus einem Spielfilm, in den Memoiren
als Ironie gekennzeichnet. Siehe John Zimmermann: Ulrich de Maizière. General der
Bonner Republik 1912 bis 2006, München 2012, S. 77.

261
Einige Monate danach erhielt der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr
die beantragte, heiß ersehnte Verwendung an der Front. Gehlen hat ihn in den
frühen 1950er-Jahren instinktiv abgelehnt und als Gegenspieler eingestuft.
Gehlen zog es nie an die Front. Er hatte ganz andere Sorgen. Die Gefahr einer
endgültigen Wende des Krieges im Osten und die drohende Abfolge deutscher
Niederlagen konnten Gehlens Agieren aus der dritten Reihe freilich durch­
aus gefährden. Dem konnte er nur begegnen, wenn seine Prognosen über das
Feindverhalten sich im Rahmen dessen bewegten, was die Oberste Führung
ohnehin erwartete, und sie so im Ungefähren blieb, wie es die begrenzten Auf­
klärungsfähigkeiten nahelegten, aber allen Eventualitäten Rechnung trugen.
In dem Maße, wie die 6. Armee in Stalingrad ausblutete und im Herbst 1942
erkennbar vor einem äußerst schwierigen Winter stand, und angesichts von
völlig überdehnten Fronten und überforderten Verbündeten am Südflügel
der Ostfront, was eine sowjetische Winteroffensive geradezu herausforderte,
musste Gehlen erkennen, dass er als Chef von FHO vor seiner ersten großen
Bewährungsprobe stand. Sein Vorgänger hatte im November/Dezember 1941
die Gefahr einer sowjetischen Gegenoffensive falsch eingeschätzt. Kinzel hatte
nach dieser Katastrophe seinen Posten verloren, auch wenn seine Mitverant­
wortung nicht allzu deutlich geworden war. Nun drohte Gehlen das Gleiche
im Falle Stalingrads.
Er stand vor demselben Dilemma wie damals Kinzel. Canaris war es noch
immer nicht gelungen, einen Informanten aus dem höchsten Führungskreis
um Stalin zu gewinnen, und die Fernaufklärer der Luftwaffe drangen nicht weit
genug vor, um rechtzeitig einen größeren strategischen Aufmarsch des Gegners
entdecken zu können. So blieb der deutschen Seite, und damit vor allem FHO,
erneut verborgen, dass Stalin seine Neuaufstellungen bzw. wiederaufgefrisch­
ten Verbände bis zur letzten Minute im weiten Hinterland verborgen hielt, um
sie dann mit einem brachial durchgesetzten Eisenbahnprogramm innerhalb
weniger Tage an die Front zu bringen. Da die sowjetische Gesamtkräftever­
teilung, wie sie durch frontnahe Aufklärung zu erkennen war, weiterhin einen
Schwerpunkt im Raum Moskau bildete, machte FHO zwar rechtzeitig einige
Kräfteverdichtungen im Süden aus, erkannte aber nicht die konsequente Bil­
dung von starken Schwerpunkten, die anders als bei der Moskauer Schlacht
der Offensive eine größere Stoßkraft verleihen sollten.472
Es gehörte nicht viel Voraussicht dazu, einen möglichen Schwerpunkt der
drohenden sowjetischen Offensive nördlich von Stalingrad im Vorfeld des Don
anzunehmen. Die starken sowjetischen Brückenköpfe und die ihnen gegen­
überliegenden schwachen rumänischen Truppen luden zu einer Durchbruchs­

472 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, S. 999.

262
Operation geradezu ein. Um der Gefahr zu begegnen, hatte man zwar recht­
zeitig einige deutsche Reserven bereitgestellt, aber wegen der andauernden
Kämpfe im Raum Stalingrad teilweise wieder zurückgezogen. Es war Hitler
selbst, der schon Mitte August eine Gegenoperation über den Don Richtung
Rostow befürchtete, wie sie die Rote Armee schon einmal im Jahr 1920 wäh­
rend des Bürgerkriegs unternommen hatte.473 Kein Wunder, dass sich die
Abteilung Fremde Heere Ost mit solchen möglichen Operationen beschäftigte.
Aber noch Anfang Oktober 1942 vermutete man den Schwerpunkt der sowjeti­
schen Angriffsvorbereitungen im Mittelabschnitt.
Erste Hinweise auf eine Neugruppierung im Don-Wolga-Raum deutete man
als defensive Absicht, irritiert durch widersprüchliche Hinweise der Abwehr, die
wohl auch ein Ergebnis der sowjetischen Tarnmaßnahmen waren.474 Als Mitte
Oktober die laufende Verstärkung der Brückenköpfe am Don erkennbar wurde,
sah man darin lediglich Ansatzpunkte für mögliche örtlich begrenzte Gegen­
aktionen. Die »Zusammenfassende Beurteilung der militärischen Gesamtlage
der S. U. im Hinblick auf die zu erwartenden Operationen im Winter 1942/43
aufgrund der aus dem Hinterland vorliegenden Meldungen (Stand Oktober
1942)«475 bildete nur die bisherigen Erwartungen ab. Als besonders aussichts­
reich für die gegnerische Entschlussfassung, über die man nicht die geringste
belastbare Information hatte, nahm Gehlen eine »größere Operation« in der
Mitte in Richtung Smolensk und im Norden in Richtung Baltikum an. Erst an
dritter Stelle erwog er den Gedanken eines »sich anbietenden Angriffs« im
Süden in Richtung Rostow, was ihn nicht sonderlich zu beunruhigen schien,
weil – wie er meinte – dies eine Verzettelung der gegnerischen Kräfte bedeuten
würde, die an sich für die deutsche Seite durchaus erwünscht wäre. In seinen
Memoiren behauptete Gehlen später irreführend, dass die Winteroffensive
»nach Stoßrichtung und Stärke nicht unerwartet« gekommen sei.476 Angaben
über den wahrscheinlichen Zeitpunkt einer feindlichen Offensive konnte FHO
ohnehin nicht machen.
Hitler äußerte mehrfach Besorgnisse über die Stabilität der Donfront nörd­
lich von Stalingrad. Doch man erklärte ihm, dass dieser Bereich durch die Luft­
aufklärung überwacht werde.477 So sah auch er keine Notwendigkeit, stärkere
Gegenmaßnahmen zu veranlassen. Erst als sich Anfang November die konkre­
ten Hinweise durch die Rumänen mehrten (aufgrund frontnaher Funkaufklä­

473 Ebd., S. 1013.


474 Ebd., S. 1015.
475 Vom 24.10.1942, BA-MA, RH 2/2558.
476 Gehlen, Der Dienst, S. 50.
477 Schreiben Karl Jesko von Puttkamer (ehemaliger Adjutant der Kriegsmarine beim Füh­
rer) vom 8.8.1973 an Wilhelm Ritter von Schramm, BA-MA, N 633/3.

263
rung und der Befragung von Überläufern und Kriegsgefangenen), reagierte der
Diktator durch einige vorsorgliche Maßnahmen. FHO hingegen blieb bei seiner
Generaleinschätzung. Es gebe keinerlei Anzeichen für eine in Kürze bevorste­
hende Großoffensive bei der 3. rumänischen Armee, sondern »mit zunehmen­
der Deutlichkeit« sei der Schwerpunkt des Feindes vor der Heeresgruppe Mitte
zu erkennen.478 Zeitzler trug zwölf Tage vor Beginn der sowjetischen Großof­
fensive bei einer Führerbesprechung die Feindlage persönlich vor und verwies
auf vorliegende Agentenmeldungen, wonach drei Tage zuvor bei einer Kon­
ferenz im Kreml entschieden worden sei, »noch in diesem Jahre eine große
Offensive entweder an der Don-Front oder in der Mitte durchzuführen«.479
Damit fasste er die obskuren Meldungen falsch zusammen und konnte weder
den Zeitpunkt noch den Schwerpunkt des erwarteten Großangriffs benennen.
Gehlen geriet in die übliche Gedankenfalle des Nachrichtendienstes, näm­
lich das für glaubwürdig zu halten, was den eigenen Vermutungen entsprach:
»Die in der Meldung angegebenen russischen Angriffsabsichten stimmen im
wesentlichen mit den eigenen Vermutungen überein.«480
Die Gefahr, dass die Rote Armee auch südlich von Stalingrad bei der 4. rumä­
nischen Armee durchbrechen und so eine umfassende Zangenoperation zur
Vernichtung der 6. deutschen Armee unternehmen könnte, kam Gehlen offen­
bar gar nicht erst in den Sinn. Das Hereinschieben von Truppen in diesen
Bereichen hielten seine Aufklärer für einen Ersatz abgekämpfter sowjetischer
Verbände.481 Die Masse der herangeführten sowjetischen Panzerverbände an
beiden Schwerpunkten wurde ebenfalls nicht erkannt. So verdichteten sich
zwar die Erörterungen über gefährdete Frontabschnitte, aber man blieb bei
der Einschätzung, dass es dem Feind an Kräften mangelte, um weiterreichende
Aktionen zu starten.482
Der Blick trübte sich vielleicht auch deshalb etwas, weil Ende Oktober
1942 FHO zusammen mit dem Führerhauptquartier zurück nach Ostpreu­
ßen verlegte. Hitler zog sich in diesen entscheidenden Tagen, in denen Stalin
seinen Gegenschlag vorbereitete und die USA bereits Truppen für eine Lan­
dung in Nordafrika heranbrachten, für zwei Wochen auf den Berghof zurück

478 Beurteilung der Feindlage vor der Heeresgruppe Mitte, 6.11.1942, Zusammenstellung,
BA-MA, RHD 18/249, S. 22.
479 KTB OKW, Bd. II, S. 916 (7.11.1942).
480 Der Wortlaut der Agentenmeldung findet sich im Anlagenband »Zusammenstellung«,
BA-MA, RHD 18/250, S.5.
481 Siehe dazu ausführlich Manfred Kehrig: Stalingrad. Analyse und Dokumentation einer
Schlacht, Stuttgart 31979, S. 102.
482 Fremde Heere Ost (I), Kurze Beurteilung der Feindlage, 12.11.1942, in: Zusammenstel­
lung, BA-MA, RHD 18/250, S. 32-33.

264
und blieb dem militärischen Entscheidungszentrum fern. Dort hatte Gehlen,
der vielleicht ebenso wie Heusinger einige Urlaubstage genommen hat, seine
Gruppe III (USA, Pazifik) abzuwickeln, die nun sinnvollerweise bei Fremde
Heere West integriert wurde.483 Bezeichnend für die interne Stimmung war
wohl Heusingers Einschätzung, dass es für den Rest des Jahres vermutlich
keine größeren Probleme geben werde. Dafür werde schon die fortschreitende
Jahreszeit sorgen. Man habe von Leningrad bis Stalingrad in diesem Jahr viel
geschafft, wenn ihnen auch ein kriegsentscheidender Schritt versagt geblieben
sei. Wenn die andere Seite erst einmal einsehe, dass ihr das wachsende Kriegs­
potenzial nichts nütze und »dass sie uns unsere bisherige Beute nicht wieder
abjagen« können, würde die Zeit für die Politik kommen.484 Weitere Spekula­
tionen wollte sich Heusinger nicht erlauben.
Gehlen als sein getreuer Schüler ging am Vorabend der Stalingrader Kata­
strophe auch nicht weiter, wenngleich er zu ahnen schien, dass sich etwas auf
strategischer Ebene zusammenbraute. In einem Schreiben an Generalleutnant
Bruno von Uthmann, den deutschen Militärattaché in Stockholm, merkte
Gehlen am 12. November 1942 an, dass man sich auch mit den Ereignissen in
Nordafrika eingehend beschäftige. Das fiel zwar nicht in den Bereich des OKH,
doch ließ eine starke Ansammlung alliierter Seestreitkräfte im westlichen Mit­
telmeer einen möglichen Rückschlag der deutschen Kriegführung im Süden
befürchten. Gehlen bedankte sich bei Uthmann für das Meldeaufkommen aus
Stockholm im Hinblick auf den Ostseeraum und hoffte, dass man »vor einer
ähnlichen Problemstellung im Norden noch längere Zeit bewahrt« bleiben
möge. Seine Vorahnungen bezüglich des Ostens waren ähnlich vage: »Der Win­
ter muß es wohl so an sich haben, daß zu seinem Beginn stets größere Krisen
eintreten und Probleme entstehen.«485
Es war schließlich die betroffene Heeresgruppe B, die in letzter Minute, aufs
Höchste alarmiert durch die Frontnachrichten, selbst Gegenmaßnahmen ein­
leitete, zu spät und zu wenige, um ihren Untergang abzuwenden. Die unerwar­
tete Wende des Krieges begann in den Morgenstunden des 19. November 1942
mit einem gewaltigen sowjetischen Feuerschlag. Innerhalb weniger Tage war
die Lage eigentlich aussichtslos. Dennoch bemerkte Gehlen die Verschärfung
der Krise erst spät. Es entsprach völlig den operativen Grundsätzen, dass die
Rote Armee nach dem raschen Durchbruch bei den deutschen Verbündeten
eigene Reserven freimachte, um den Erfolg auszunutzen und eine in die Tiefe
zielende Operation durchzuführen. Das aber traute weder die Heeresgruppe B

483 Pahl, Fremde Heere Ost, S. 110.


484 Zit nach: Meyer, Heusinger, S. 195.
485 Schreiben Gehlens an General von Uthmann, 12.11.1942, BA-MA, N 629/7.

265
noch FHO dem Gegner zu – nicht zuletzt eine Folge der bisherigen strategi­
schen Fehleinschätzung, dass es der Sowjetunion in diesem Winter nicht gelin­
gen werde, erneut große Reserven zu mobilisieren, und der Fixierung auf den
früher angenommenen feindlichen Schwerpunkt in der Mitte. Solche Irrtümer
nach Vorliegen klarer Hinweise zu korrigieren, ist für jeden Nachrichtendienst
eine enorme Herausforderung. Hatte Gehlen noch in der Lagebeurteilung vom
6. November seitenweise seiner Fantasie freien Lauf gelassen, wie der Feind
mit dem erwarteten Schwerpunkt Mitte seine Operationen führen könnte, so
blieb er nach Beginn der gegnerischen Offensive im Süden zurückhaltend. FHO
folgte in seinen Einschätzungen in den nächsten Wochen lediglich den klar
erkennbaren Entwicklungen.486
Es war angesichts der dramatischen Dimensionen der Katastrophe, die sich
gleichzeitig in Nordafrika wie in Südrussland abspielte, ratsam für den Abtei­
lungschef, kleinlaut im Hintergrund zu bleiben, wollte er verhindern, dass ihn
das Schicksal seines Vorgängers ereilte. In den zum Teil heftigen Auseinander­
setzungen Zeitzlers mit Hitler ging es nicht um die Feindlagebeurteilungen
Gehlens, die der Generalstabschef ja persönlich vorgetragen bzw. zumindest
teilweise übernommen hatte. Man stritt sich über die Rücknahme der 6. Armee
aus Stalingrad, den allzu schwachen Entsatzangriff, den Manstein, der eilig
aus dem mittelrussischen Witebsk an den Don beordert worden war, organi­
sieren sollte, über den möglichen Rückzug aus dem Kaukasus sowie über die
unzureichende Luftversorgung des riesigen Kessels, in dem rund 300.000 Mann
im Elend ausharrten. Bei allen Meinungsverschiedenheiten auf der höchsten
Ebene, einig war man sich dort schnell über die vermeintliche Ursache der
Katastrophe: das Versagen der deutschen Verbündeten, die unter dem Druck
einer ganzen Reihe von feindlichen Großangriffen zusammenbrachen.
Niemand fragte im Oberkommando nach einem möglichen Versagen von
FHO, und Gehlen war klug genug, sich gegenüber dem Generalstabschef
unauffällig und emsig beschäftigt zu zeigen. Seine früheren Prognosen über
die wahrscheinlichen Absichten des Feindes hatten sich ohnehin nicht von
den Einschätzungen der maßgeblichen Verantwortlichen und Operateure ent­
fernt. Heusinger, Zeitzler, Paulus, Manstein: Keiner hatte es besser gewusst,

486 Siehe Studien in Zusammenstellung, BA-MA, RHD 18/250, sowie die Bewertung bei
Hans-Heinrich Wilhelm: Die Prognosen der Abteilung Fremde Heere Ost 1942-1945,
in: Hans-Heinrich Wilhelm und Louis de Jong: Zwei Legenden aus dem Dritten Reich,
Stuttgart 1974, S. 7-75, hier S. 49. In einer von Gehlen unterstützten Studie wurde noch
1973 behauptet, FHO habe rechtzeitig vor Stalingrad gewarnt, weil man dank der Funk­
aufklärung den sowjetischen Aufmarsch erkannt habe; Wilhelm Ritter von Schramm:
Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg. Organisationen, Methoden, Erfolge, München
1974, S. 269. Hitler habe aber von solchen Warnungen nichts wissen wollen.

266
Gehlen (Mitte) beim Bierabend mit den Feldwebeln in Mauerwald, Ende 1942

Gruppenbild mit den Angehörigen des Stabsquartiers FHO 1943

267
und jeder von ihnen war gut beraten, sich in der Krise nicht unnötig zu expo­
nieren. Es gab – anders als in der Krise vor Moskau – im Winter 1942/43 kei­
nen Hinauswurf von zwei Dutzend Generalen. Der »Führer« hatte dem Kampf
um Stalingrad so sehr seinen eigenen Stempel aufgedrückt, dass er sich eine
Debatte über Fehler auf der eigenen Seite nicht leisten konnte. Die These vom
Versagen der Verbündeten wurde so zu einer wohlfeilen Erklärung, derer sich
Hitler bis zu seinem Tode immer wieder gern bediente.
Gehlen hatte kaum Zeit, sich mit seinen Offizieren und dem Tross von
Nachrichtenhelferinnen in Mauerwald wieder häuslich einzurichten oder sich
sogar einige Tage Urlaub zu gönnen, als die sowjetische Großoffensive alle Auf­
merksamkeit auf sich zog. Nach Feiern war ihm sicherlich nicht zumute, aber
die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage forderten nun einmal ihren sozialen
Tribut vom Amtschef. So gewährte er seinen Mitarbeitern für ein geselliges
Beisammensein am 14. Dezember 1942 einige arbeitsfreie Stunden. Im Kreis
von mehr als 100 Menschen finden sich immer einige, die nach den »Sommer­
ferien« in Winniza jetzt im winterlichen Ostpreußen humorvolle Gedichte für
eine »Bierzeitung« zu basteln verstanden.487 Der Titel »Von B2 bis IIz« spielte
auf die neue komplexe Struktur von FHO an, die in den vergangenen Monaten
entstanden war und zu der unter der Regie des seit acht Monaten amtierenden
Chefs viele neue Gesichter gestoßen waren. Manche bekamen nun wegen ihrer
Eigenheiten humorige Verse zu hören, Gehlen blieb als Chef tabu. Um eine
kurze Ansprache dürfte er nicht herumgekommen sein, aber das erhaltene
Foto Gehlens im Kreis von Mitarbeitern zeigt ein typisches Bild von ihm, schon
in der Körpersprache deutlich auf Abstand zu den Untergebenen bedacht. Man
kann vermuten, dass ihm die bierselige Atmosphäre nicht sonderlich ange­
nehm gewesen ist.
Seine Beförderung zum Oberst vier Tage danach wird er mit Genugtuung
aufgenommen haben. Es war die durch enormen Fleiß wohlverdiente Zuer­
kennung eines Dienstgrades, die seiner Position als Amtschef entsprach. Es
war gleichwohl eine »vorzugsweise Beförderung«, vom Rangdienstalter seines
Dienstgrades rutschte er allerdings vom bisherigen 2. Platz als Oberstleutnant
auf Platz 144 als Oberst, d.h., das Wohlwollen seines neuen Chefs Zeitzler war
wohl nicht so groß wie bei dessen Vorgänger Halder.
Das mochte in jenen Tagen nicht viel zählen, da sich im OKH Betrübnis
ausbreitete. Zeitzler ließ für einige Tage im Kasino aus Solidarität mit den
Kameraden in Stalingrad die dortigen Essensrationen ausgeben, bis Hit­
ler diese Geste untersagte, und es kursierten Auszüge von Briefen, die Ein­
zelne von Bekannten aus dem Kessel erhalten hatten. Gehlen reichte einen

487 BA-MA, MSg 2/12071.

26S
Gehlen als Oberst i. G. und Abteilungsleiter
im Oberkommando des Heeres, ca. 1943

vom 9. Dezember datierten Ausschnitt eines Briefes von Oberstleutnant i. G.


Friedrich Schildknecht weiter, den damaligen Chef des Generalstabs des
VIII. Armeekorps. Schildknecht war noch kurz zuvor sein persönlicher Ver­
treter als Abteilungschef gewesen.488 Dessen Schicksal in Stalingrad dürfte
Gehlen nicht gleichgültig gelassen haben, zumal Schildknecht eine Position
an der Front ausfüllte, für die auch Gehlen selbst theoretisch in Betracht kam.
Den Brief, wie andere zur Lage in Stalingrad, hat Gehlen in seinem Nachlass
aufbewahrt. Darin heißt es u. a.:

Die Truppe leistet Übermenschliches und überbietet sich selbst. Ich habe
schwere Tage hinter mir, an denen der Teufel hier los war und mehr als ein
Mal alles am seidenen Faden hing. Wir hungern ein wenig und zählen jeden
Schuß, den wir verschießen. Dabei schwerste Angriffe. An einem Tag im
Abschnitt einer Division 120 Feindpanzer! Verpfleg. Satz: 200 g Brot, 1/2 Mit­
tagskost, Abendkost. D. h. morgens und abends je 2 dünne Scheiben Brot,
mittags eine dünne Suppe, keinerlei Kartoffeln. Und dabei liegen die Männer
Tag und Nacht in Schnee und Sturm auf der nackten Steppe. [...] Hoffentlich
sind wir Weihnachten wieder draußen aus dem Kessel, bevor wir verhungert
sind oder keine Munition mehr haben. Heute gibt es Pferdefleisch – ganz
großer Tag.489

488 Schildknecht, Jahrgang 1906, war 1932 und 1934 dienstlich in der UdSSR und war ab
1940 Gruppenleiter Russland in FHO gewesen. Er geriet in Stalingrad in Gefangenschaft,
aus der er 1955 entlassen wurde.
489 Brief aus dem Kessel von Stalingrad, 9.12.1942, BA-MA, RH 2/2581.

269
In einem anderen von Gehlen aufbewahrten Brief aus dem Kessel, der vom
23. Dezember 1942 datiert, finden sich schwerwiegende Anklagen gegen die
operative Führung. Man hätte rechtzeitig bessere Stellungen beziehen sollen,
heißt es dort. »Und Prestige-Rücksichten gibt es doch angeblich nicht? Wenn
doch, sollte man jeden Militär aufhängen, der dazu seine Hand bietet.« Das
war eine harsche Kritik an der Heeresführung und eine rabiate Aufforderung,
die bessere Einsicht notfalls auch gegenüber der obersten Führung zur Gel­
tung zu bringen, verbunden mit einem trotzigen Durchhaltewillen. Man sollte
»alle Halben« aus dem Heer werfen, darunter auch viele hohe Offiziere, »dann
wird es schon werden. Dann hört vielleicht auch auf, dass man aus eigener
Unsicherheit heraus Kotau macht, dass man auch den Schwung aufbringt, der
nötig ist, um hier nicht nur zu kämpfen, sondern zu siegen.«490
Ob Gehlen solche Bemerkungen auch auf sich bezog, ist zu bezweifeln. Die
Meinung eines jungen Stabsoffiziers von der Front war für ihn allem Anschein
nach deshalb interessant, weil sie einen Gedanken aufgriff, mit dem er sich
selbst schon seit der Übernahme von FHO immer wieder beschäftigt hatte. In
dem Brief heißt es: »Warum lassen wir nicht den Russen für uns bluten, das ist
doch billiger! Und er tut es! Ich könnte so zahlreiche Beispiele nennen, wo die
Kerls prima auf unserer Seite mitmachten. [...] Jeder Russe ist ja besser als ein
Rumäne oder Italiener bezw. deren Offiziere!«491

8. Reorganisation der Abteilung nach Stalingrad (1943)

Selbstverständlich kann man davon ausgehen, dass sich Gehlen schon als ver­
antwortlicher Gruppenleiter in der Operationsabteilung nach dem Scheitern
vor Moskau Gedanken darüber gemacht haben wird, wie der Feldzug doch
noch zu einem siegreichen Ende geführt werden könnte. In den letzten Tagen
vor seinem Aufstieg zum Abteilungschef FHO hat er sicherlich die Planungen
für eine neue Sommeroffensive miterlebt, die nur noch auf Raumgewinn im
Süden Russlands zielte. Von der ursprünglichen Hoffnung, die den Plan »Bar­
barossa« angetrieben hatte, durch einen Zusammenbruch der UdSSR die wei­
tere deutsche Kriegführung zu entlasten, war nun kaum noch die Rede. Gehlen
dürfte in der Vorbereitung auf die Übernahme von FHO gemerkt haben, dass
es nicht nur darauf ankam, die Feindlage zu beurteilen, sondern auch maßgeb­
lich dazu beizutragen, den Feind zu schwächen und nach Möglichkeit dessen
inneren Zusammenbruch herbeizuführen.

490 Brief vom 23.12.1942, ebd.


491 Ebd.

270
Gehlen war in den letzten fünf Jahren durch seine Arbeit im OKH und den
engen Kontakt mit Halder bei den ersten Überlegungen für einen Krieg gegen
die UdSSR mit dem alten Konzept vertraut, das schon 1917/18 zum Sieg im
Osten geführt hatte: die militärischen Operationen zu ergänzen durch eine
politische Kriegführung, die unter Ausnutzung der traditionellen Nationalitä­
tenkonflikte die Moskauer Zentrale schwächte und Soldaten massenhaft zum
Überlaufen bzw. zur Aufgabe des Kampfes veranlasste. Hitlers Absage an ein
solches Konzept im März 1941 hatte einsichtige Kräfte innerhalb der Wehr­
macht nicht an Versuchen gehindert, die radikale Besatzungspolitik zu modi­
fizieren. Bereits im Herbst 1941 hatten verschiedene Einheiten an der Ostfront
einheimische Freiwillige, vorwiegend aus den Kriegsgefangenen rekrutiert,
eingestellt. Der Gedanke lag nahe, sie im Kampf gegen das Stalin-Regime ein­
zusetzen.
Zu denen, die sich im Hintergrund für die Umsetzung solcher Ideen enga­
gierten, gehörten Offiziere, die sich als Russlandkenner verstanden oder in
ihrem dienstlichen Umfeld mit dem Problem der Besatzungspolitik kon­
frontiert waren. Sie fanden sich im Oberkommando der Wehrmacht in den
Bereichen Abwehr und Propaganda, im Oberkommando des Heeres in der
Abteilung Militärverwaltung des Generalquartiermeisters und in der Organi­
sationsabteilung. Weil Hitler solchen Bestrebungen grundsätzlich ablehnend
gegenüberstand, hing der Erfolg davon ab, ob man die Heeresführung, also
den Chef des Generalstabs, davon überzeugen konnte, bei Hitler auf Änderung
seiner Haltung zu drängen. Halder hat bis zu seiner Ablösung im September
1942 solche Bestrebungen immerhin geduldet, eine grundsätzliche politische
Auseinandersetzung mit dem »Führer« aber vermieden.
Vor diesem Hintergrund müssen Gehlens Verwicklungen in die Bemühun­
gen um die Ostfreiwilligen gesehen werden. Bei der Übernahme der Abteilung
FHO hatte er es als eine vordringliche Aufgabe angesehen, durch einen kräf­
tigen Personalwechsel den Bestand an Mitarbeitern nicht nur zu verjüngen,
sondern endlich auch einige zuverlässige Russlandkenner zu gewinnen. Geh­
len setzte den gleichaltrigen Deutschbalten Alexis Freiherr von Roenne als sei­
nen ersten Mitarbeiter (Ia-Offizier) ein, den er in seinen Memoiren sogar als
seinen Freund bezeichnete.492 Roenne war ein erfahrener Nachrichtendienst­
offizier und seit 1937 bei der militärischen Feindaufklärung, zunächst bei
Fremde Heere West. Als Ia der 23. Infanterie-Division erlitt er am ersten Tag
des Überfalls auf die UdSSR eine schwere Kopfverletzung, nach deren Heilung
er Anfang 1942 zu Fremde Heere Ost versetzt wurde. Roenne war in seiner
Zeit bei Gehlen ein Förderer des Baltendeutschen Wilfried Strik-Strikfeldt,

492 Gehlen, Der Dienst, S. 45.

271
der seit Mai 1942 bei FHO als Dolmetscher und Übersetzer russischsprachi­
ger Zeitungen wirkte, dann während des Aufenthaltes in Winniza in einem
Kriegsgefangenenlager den ehemaligen Sowjetgeneral Andrej Andrejewitsch
Wlassow interviewte und ihn dafür gewann, mit den Deutschen zusammen­
zuarbeiten.493 Strik-Strikfeldt wurde der offizielle Betreuer des Generals und
war formal der Abteilung Wehrmachtpropaganda im OKW zugeordnet. Im
November 1942 gelang es Gehlen in Zusammenarbeit mit Stauffenberg, die
Ostpropaganda-Abteilung z.b.V. in Dabendorf bei Berlin zu etablieren, eine
Truppe in Bataillonsstärke unter Führung von Strik-Strikfeldt, die in erster
Linie mit der Schulung von kollaborationswilligen sowjetischen Kriegsgefan­
genen befasst war.
Der Hauptmann war einer der rührigsten Protagonisten der sogenannten
Wlassow-Bewegung, der es freilich erst im letzten Kriegsjahr gelang, neben den
bestehenden nichtrussischen Freiwilligeneinheiten bei Wehrmacht und Waf­
fen-SS auch eine russische »Befreiungsarmee« aufzustellen. Gehlen betrach­
tete ihn als einen der besten Russlandkenner und sorgte dafür, dass dessen
Vortrag »Der russische Mensch« an die Ic-Offiziere der Ostfront verteilt wurde:
»Nur zur persönlichen Unterrichtung«.494 Der Text schloss mit den Sätzen:

Wir haben alle eine deutsche Aufgabe, und diese Aufgabe ist die uns vom
Schicksal gestellte Kulturmission, den Osten mit seinen Menschen für uns zu
gewinnen, um ihn für die deutsche Zukunft nutzbar zu machen. Da unsere
eigenen Interessen dieses Mal mit denjenigen des russischen Volkes zusam­
menfallen – ist die Handreichung seitens der Geschichte eine einmalige.

Aus dieser Schrift dürfte auch Gehlen selbst im Wesentlichen sein Russland­
bild gewonnen haben, das sich nach 1945 kaum veränderte, zumal er seine
frühere Spezialistengruppe aus FHO in der Org zeitweilig weiterbeschäftigte.
Zu ihr gehörte auch Georg von Rauch, der im Mai 1942 als Sonderführer (Z) in
das Referat für die Auswertung von Presse, Beutepapieren etc. kam und in der
Bundesrepublik einer der führenden Osteuropahistoriker wurde.495

493 Siehe insgesamt die Erinnerungen von Wilfried Strik-Strikfeldt: Gegen Stalin und Hit­
ler. General Wlassow und die russische Freiheitsbewegung, Mainz 1970. Gehlen räumte
später ein, dass Strik-Strikfeldt auch die entsprechende Passage in Gehlens Erinnerun­
gen entworfen hat. Bemerkenswert ist Gehlens späte Behauptung, er selbst habe Hitlers
Propaganda, die Russen vom Kommunismus befreien zu wollen, als wahr angesehen,
siehe Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 28.1.1972, IfZ, ED 100-68-79.
494 Ein Exemplar findet sich in den Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 12.
495 Pahl, Fremde Heere Ost, S. 350, Anm. 111. In den Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 12, findet
sich unter den verschiedenen Arbeitsunterlagen Gehlens eine kleine Schrift des Sonder­

272
Der 32-jährige Major Heinz Danko Herre war ein weiterer neuer Mitarbei­
ter Gehlens. Ihm war er vielleicht sogar schon einmal während seiner Zeit in
Hannover begegnet, als Herre im dortigen Kavallerieregiment als Offiziersan­
wärter diente. Bei einem Ball verliebte sich Herre damals in die Tochter eines
früheren Militärattachés in Petersburg, was ihn veranlasste, die russische
Sprache zu erlernen, die Militärdolmetscherprüfung abzulegen und Reisen
durch Karelien, Estland und Bessarabien zu unternehmen. Mit Angehörigen
der russischen Kolonie in Berlin war er befreundet. Nach einem Fronteinsatz
als Generalstabsoffizier beim XXVI. Armeekorps in der Ukraine erhielt er
zu seiner Überraschung eine Versetzung ins OKH. Dort meldete er sich am
21. April 1942 bei Gehlen in der Zentrale in Mauerwald. Sein neuer Chef ent­
schuldigte sich bei ihm, dass er ihn wegen seiner Russischkenntnisse von
der Front geholt habe. Die neue Verwendung sei sicherlich enttäuschend für
ihn, denn er habe gehört, dass Herre über eine besondere taktisch-operative
Begabung verfüge, die er nun zunächst nicht anwenden könne. Eine solche
Bemerkung enthüllt auf ihre Weise, wie wohl Gehlen auch selbst seine eigene
neue Aufgabe einschätzte. Seinem künftigen engen Mitarbeiter erklärte er
den Auftrag so:

Unsere erste Aufgabe ist es selbstverständlich, in Zukunft zu jeder Zeit über


die Lage beim Feind unterrichtet zu sein. Unsere Aufklärungsarbeit wird
uns mit wissenschaftlicher Exaktheit schonungslos klarmachen, daß es eine
fürchterliche IIIusion war, wir könnten Rußland allein mit unseren militäri­
schen Kräften niederschlagen. Sie wird uns klarmachen, daß wir das sowje­
tische System nur beseitigen können, wenn es uns gelingt, die Masse der rus­
sischen Bevölkerung zu unseren Verbündeten zu machen.496

Herre berichtete von seinen Eindrücken beim Einmarsch in der Ukraine, als
die Truppen mit Brot und Salz als vermeintliche Befreier begrüßt worden
waren. Gehlen:

führers Dr. habil von Rauch: Die englisch-russischen Beziehungen und die Entstehung
Sowjetrußlands (1917 bis 1921).
496 Herre-Tagebuch, zit. nach: Ahrens/Limbach, Die Gehlen-Story, in: Quick 45/1971,
S. 36. Das Tagebuch Herres für die Zeit nach 1945 befindet sich im BND-Archiv, für die
Kriegszeit sind Auszüge, die im Zusammenhang mit dem Buch von Jürgen Thorwald
entstanden, im Archiv des IfZ vorhanden, ebenso nachträgliche Aufzeichnungen Herres
zum Wlassow-Thema. Dort wird die erste Begegnung mit Gehlen mit anderen Worten
geschildert; siehe Herre, Aufzeichnungen, Bd. 5, S. 10-11, 14, IfZ, ZS 406/5-29.

273
Ja, die spontane Bereitschaft, uns zu unterstützen, war allgemein. Alle Anwei­
sungen des Oberkommandos der Wehrmacht aber verbieten eine Ausnut­
zung der Bereitschaft. Der Führer wünscht keinerlei Gemeinsamkeit mit den
Russen.

Herre erwähnte in dem Gespräch auch die Verbrechen der SS, was sich Gehlen
schweigend anhörte und ihm dann entgegnete:

Man könnte verzweifeln, wenn diese Verhältnisse absolut gültig und von­
seiten des Heeres böswillig herbeigeführt worden wären. Uns sind die Mas­
sen der Gefangenen ebenso über den Kopf gewachsen wie gewisse höchste
Befehle, die über uns hinweg durchgeführt werden.

Gehlen bestätigte damit, dass er um den verbrecherischen Charakter der


Kriegführung im Osten wusste, zog sich aber auf die Behauptung einer »wei­
ßen Weste« des Heeres zurück. Sein Umgang mit diesem heiklen Thema nahm
die späteren Einlassungen der Kriegsgeneration vorweg. Gehlen klammerte
sich an den Glauben, dass der Ostfeldzug an sich richtig und sinnvoll sei – er
hatte ihn schließlich mit geplant und operativ geführt. Deshalb konnten in sei­
ner Sicht die »Verhältnisse«, also die Verbrechen, nicht »absolut gültig« sein,
es blieb – so der Strohhalm, an den er sich klammerte – ein Handlungsspiel­
raum, den es zu nutzen galt. Da die grausamen Tatsachen gegen seine Schön­
färberei sprachen, flüchtete er sich in die Behauptung, die »Verhältnisse« seien
vom Heer nicht »böswillig« herbeigeführt worden. Was das Massensterben
der sowjetischen Kriegsgefangenen betraf, das sich nun einmal ganz eindeu­
tig im militärischen Verantwortungsbereich abgespielt hatte, zog sich Gehlen
hinter die Schutzbehauptung zurück, die Massen an Gefangenen seien dem
Heer schlicht »über den Kopf gewachsen«. Dabei war er sowohl während der
Entstehung der verbrecherischen Befehle im OKH anwesend als auch mit den
Maßnahmen des Generalquartiermeisters bezüglich der Hungerpolitik gegen­
über den Gefangenen vertraut. Die nachweislich falschen Erklärungen497 mag
er als Rechtfertigung gegenüber einem jungen Untergebenen genutzt haben,
sich als unbelastete Position darzustellen. Auch wenn er die Verbrechen als
»unliebsame Begleiterscheinungen« eines an sich berechtigten Krieges ange­
sehen haben mag, Vorrang hatte für ihn wie für viele andere Offiziere, den Sieg
zu erringen, und das schien noch immer erreichbar.
Im Rahmen des ihm möglich Erscheinenden wollte er sich immerhin um
Änderungen bemühen, allerdings nur dort, wo ein unmittelbarer Nutzen für

497 Siehe dazu ausführlich Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, S. 1015 -1022.

274
die Kriegführung erkennbar und es im dienstlichen Umfeld damit unverdäch­
tig war. Gehlen eröffnete Herre, dass schon längst aus sowjetischen Kriegsge­
fangenen bei allen Heeresgruppen selbstständig Einheiten von »Hilfswilligen«
gebildet worden waren, ein Ansatz, den es fortzuentwickeln gelte. Herre sollte
sich mit seinen Russischkenntnissen und Verbindungen in die Bemühungen
einschalten, zunächst – typisch Gehlen – »rezeptiv« und dann erst allmäh­
lich aktiv. Er sollte den Kontakt zu Stauffenberg von der Organisationsabtei­
lung knüpfen, weil dieser »über diese Dinge sehr vernünftig denke«, dann zu
Oberstleutnant i. G. Hans Georg Schmidt von Altenstadt, den Leiter der Abtei­
lung Kriegsverwaltung beim Generalquartiermeister, der, so Gehlen, »die
Dinge freilich vornehmlich vom Standpunkt der Kriegsverwaltung sehe«.498
Gehlen ging es also nicht so sehr um die Zivilbevölkerung, sondern um
die militärische Ausnutzung der Kriegsgefangenen. Die auch aus seiner Sicht
verfehlte Besatzungspolitik in den rückwärtigen, von der NS-Zivilverwaltung
beherrschten Gebieten, insbesondere in der Ukraine, blieb allerdings ein
wesentliches Hindernis für einen Kurswechsel. Dafür machte er Rosenberg
und vor allem den Reichskommissar für die Ukraine, Erich Koch, verantwort­
lich, den Gehlen unter vier Augen sogar als »Staatsfeind Nr. 1« bezeichnete.499
Gleichwohl gebe es auch im Ostministerium »eine Reihe von vernünftigen
Leuten«. Das Propagandaministerium könne man – so glaubte er – vielleicht
überzeugen, »wenn man es richtig anfange«. Dazu möge Herre doch seine
Beziehungen zu dem Vetter seiner Frau aktivieren, Hasso von Wedel, den Lei­
ter der Amtsgruppe für Wehrmachtpropaganda im Wehrmachtführungsstab.
Die Förderung einer »positiven Ostpolitik« gehörte nun gleichsam zu den
Nebentätigkeiten von Herre, zu dem Gehlen so viel Vertrauen fasste, dass er
ihn zum Gruppenleiter I bei FHO machte, verantwortlich also für den tägli­
chen Feindlagebericht. Er schickte Herre dann Anfang 1943 als Chef des Stabes
zum neu installierten »General der Osttruppen«, 1944/45 avancierte er zum
Stabschef der Wlassow-Armee. Herre blieb ein enger Vertrauter Gehlens und
gehörte zu den Männern der ersten Stunde der Org, übernahm dort die Aus­
wertung und wurde in den 1960er-Jahren Gehlens Verbindungsmann in die
USA. Herres Einfluss auf Gehlen ist nicht zu überschätzen.
Herre berichtet in seinem Kriegstagebuch von einer denkwürdigen
Gesprächsrunde von Stabsoffizieren aus den Bereichen Militärverwaltung und
Wehrmachtpropaganda, die im Oktober 1942 in Winniza stattfand. Die Herren
waren sich einig darüber, dass es der deutschen Seite an einer positiven poli­

498 Herre, Aufzeichnungen, Bd. 5, S. 11, IfZ, ZS 406/5-29. Zur Person und Tätigkeit siehe Die­
ter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische
Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München 2009, S. 94-95.
499 Herre, Aufzeichnungen, Bd. 5, S. 11, IfZ, ZS 406/5-29.

275
tischen Zielsetzung für Russland fehle und Mängel in der militärischen Füh­
rung des Krieges zu beklagen seien. Es komme zentral darauf an, einen Weg zu
finden, diese Mängel an den »Führer« heranzutragen. Man habe leider keine
Generale, die bereit wären, »krumme Wege« z. B. über Bormann zu gehen.500
Diese aus heutiger Sicht merkwürdig anmutende Einstellung zeigt, dass diese
Offiziere, zu denen am Rande wohl auch Gehlen selbst zu rechnen ist, nicht in
grundsätzlicher Opposition zum NS-Regime standen und wohl allen Ernstes
annahmen, die auch ihnen bekannten Erscheinungsformen eines rassenideo­
logischen Versklavungs- und Vernichtungskrieges im Osten seien auf Himmler
und Koch zurückzuführen, die einen »schlechten« Einfluss auf Hitler ausüben
würden.
Immerhin bildete sich im Herbst 1942 ein loser Verbund von Kritikern der
Vernichtungspolitik, zu denen neben einigen Stabsoffizieren auch Vertreter
des Rosenberg-Ministeriums gehörten. Sie meinten, mit Denkschriften und
Materialsammlungen »Druck« machen zu können, um Vorgesetzte dafür zu
gewinnen, sich in der obersten Führung für einen politischen Kurswechsel
einzusetzen. Gehlen war nach seinen bisherigen Erfahrungen gewitzt genug,
sich nicht in diese Rolle drängen zu lassen. Aber er ließ seinen eifrigen Mit­
arbeiter Herre gewähren, schließlich ging es auch aus seiner Sicht darum,
die Erfolgsaussichten zu erhöhen. Noch schien nichts verloren, wenn es nur
gelänge, sich militärisch im Osten zu behaupten und die verbleibende Zeit
zu nutzen, bevor die angelsächsischen Mächte mit einer Invasion das Blatt
wenden könnten.
Gehlen selbst ist in der Kritik an der obersten Führung eher zurückhal­
tend geblieben. In seinen Erinnerungen schreibt er, er habe im Winter 1941/42
mit Oberst i. G. Henning von Tresckow ein vertrauliches Gespräch geführt.
Tresckow, den Gehlen von der Kriegsakademie kannte, war zu diesem Zeit­
punkt Ia der Heeresgruppe Mitte, hatte sich dem militärischen Widerstand
angeschlossen und wollte offenbar mit diesem Besuch herausfinden, wie weit
ihm der frühere Kamerad auf diesem Weg folgen würde. Man war sich schnell
einig, dass der Krieg zwar politisch und militärisch gewonnen werden könnte,
aber durch die ständigen Eingriffe Hitlers verloren zu gehen drohe.501 In den
Worten Gehlens:

500 Siehe Abschriften aus dem Tagebuch Herres, die dem Wlassow-Material des Buchautors
Jürgen Thorwald entnommen worden sind und über das Institut für Zeitgeschichte in
München zugänglich sind; IfZ, ZS-406/14-1, Eintrag 11.10.1942.
501 Als Pensionär wollte sich Gehlen daran erinnern, ihm sei bei dem Gespräch mit
Tresckow klar geworden, dass der Krieg »schiefgehen« werde, siehe Gehlen im Inter­
view mit Elke Fröhlich, 28.1.1972, IfZ, ED 100-68-79.

276
Als wir uns die Frage vorlegten, wie diese Entwicklung zu verhindern war,
ergab sich logischerweise nur ein Weg, die Beseitigung Hitlers. Wir brachen
damals – bestürzt über uns selbst – unseren Gedankenaustausch ab, denn
wir hatten ja unseren Eid geschworen und waren in der alten preußischen
Offizierstradition aufgewachsen.502

Mehr hat Gehlen nicht zu der Begegnung gesagt, aber seine Beschreibung lässt
die Deutung zu, dass nicht etwa Tresckow – der bald mit Stauffenberg zusam­
men die treibende Kraft für den geplanten Umsturz wurde – »bestürzt« war
über die Idee eines Attentats, sondern dass Gehlen hier seine eigene abweh­
rende Haltung formuliert, die dazu führte, dass Tresckow ihn nicht wieder auf
dieses Thema ansprach – wenn man Gehlens Erzählung für glaubhaft hält.
Ebenso wie Tresckow wusste Gehlen, mit welchen verbrecherischen
Begleiterscheinungen dieser Krieg im Osten geführt wurde, wie die Bekämp­
fung der Partisanen als Vorwand für SS und Polizei diente, um Massenmorde
zu verüben, wie die Zivil- und Militärverwaltung das Land ausplünderte und
die Jagd nach Zwangsarbeitern betrieb. Während für Tresckow diese Verbre­
chen nicht bloße »Fehler« gewesen sind, sondern Bestätigung dafür, dass er
als Soldat einem verbrecherischen Regime diente, das die Wehrmacht miss­
brauchte, scheute sein Kamerad Gehlen, wie die meisten Männer der militä­
rischen Führungselite, vor dem Bruch mit dem politischen System zurück.
Sicher fremd war Gehlen die Auffassung eines Oberst Wilhelm Staehle, eines
älteren Abwehroffiziers, der im Gespräch mit anderen Vertretern des Wider­
stands meinte, »er schäme sich fast, die Uniform eines deutschen Offiziers zu
tragen«.503 37 Jahre später soll Gehlen die absurde Idee gehabt haben, sich in
Wehrmachtuniform beerdigen zu lassen.
Immerhin versteckte Gehlen sich während des Krieges nicht einfach hin­
ter der viel beschworenen Eidesformel, sondern meinte offenbar, dass die
Förderung der vielfältigen Bestrebungen zur Änderung der Besatzungspoli­
tik im Osten zu einem Kurswechsel Hitlers führen könnten. Noch in seinen
30 Jahre später verfassten Memoiren ist spürbar, dass ihn die Rechtfertigung
seiner Verweigerung lebenslang beschäftigt hat. Er schrieb von Gesprächen
mit Oberst i. G. Hellmuth Stieff, einem Leutnantskameraden im Artillerie-
Regiment 3, ein Jahr älter als Gehlen, mit dem er ab 1938 im OKH eng zusam­

502 Gehlen, Der Dienst, S. 46.


503 Zit. nach: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1, S. 784. Staehle sollte
nach einem erfolgreichen Umsturz am 20. Juli 1944 die militärische Führung in Holland
und Belgien übernehmen. Er wurde am 22. April 1945 in Berlin im Gefängnis Lehrter
Straße von einem Sonderkommando des RSHA durch Genickschuss ermordet.

277
Oberstleutnant i. G. Helmuth Stieff
in Russland, 1942

menarbeitete.504 Stieff war dort zunächst beim Generalquartiermeister


gewesen, dann ebenfalls in der Operationsabteilung, 1942/43 als Chef der
Organisationsabteilung ein enger Kollege und gleichsam dienstlicher »Nach­
bar« Gehlens.
Stieff hatten schon Ende 1939 die Gräuel im besetzten Polen zum Gegner
des NS-Regimes werden lassen. Er gehörte zu den treibenden Kräften des
Staatsstreichs und wurde nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet. Ihm habe er, so
schreibt Gehlen, wiederholt geraten, vorsichtig zu sein und den Kreis der Mit­
wisser sehr eng zu halten. »Rückblickend bin ich jedenfalls der Meinung, dass
die Ausschaltung Hitlers in anderer Form hätte erfolgen können und müssen.«
Über die »andere Form« erfahrt man nichts weiter und das ist bezeichnend für
eine weitverbreitete Haltung, Kritik an der obersten Führung oft nur im Stil­
len zu üben und mit ihr auch nicht zwangsläufig das NS-System grundsätzlich
abzulehnen oder gar auf eine Beendigung des Krieges zu hoffen.
Herre stieß nach dem erwähnten Gespräch der engagierten Stabsoffiziere
im Oktober 1942 auf positive Resonanz bei Roenne, damals noch engster
Mitarbeiter Gehlens, der den »Chef« informierte. Gehlen teilte die Auffas­
sung, dass man sich »führungsmäßig« in einer Vertrauenskrise befinde. »Es
wäre gut, wenn man sich das höchsten Ortes eingestehen und entsprechende

504 Gehlen, Der Dienst, S. 46.

278
Gegenmaßnahmen treffen würde« – eine sehr sybillinische Formulierung.
Herres Vorschlag, die Führung zu einem politischen Kurswechsel zu drängen,
kommentierte er nicht weiter, duldete es aber, dass Herre eine Denkschrift
über die Behandlung des Ostraums entwarf, die über Zeitzler an den Wehr­
machtführungsstab gesandt werden sollte. »Leider«, so Herre, schwächte Geh­
len den Text etwas ab,505 aber immerhin kam die Post beim Adressaten an. Auf
der Referentenebene im Wehrmachtführungsstab gab es Zustimmung. Freilich
blieb die Gretchenfrage: »Wer wird es aber und wie dem Führer vortragen?«506
In diesen Tagen, als sich der Untergang der 6. Armee in Stalingrad abzeich­
nete und Gehlen wegen seiner unbrauchbaren Prognosen in jüngster Zeit gut
beraten war, sich nicht in politisch schwierigen Fragen zu exponieren, flüch­
teten sich selbst die Protagonisten in Melancholie. Im Kasino beim Chef des
Heeresnachrichtenwesens, General Erich Fellgiebel, den Stauffenberg später
für das Attentat auf Hitler gewann, spielte man wieder einmal russische Musik,
Tschaikowskis Pathétique.507
Herre kämpfte entschlossen für seine Überzeugung. Er traf Oskar Ritter von
Niedermayer, der als Leiter einer Militärmission im Ersten Weltkrieg den deut­
schen Einfluss in Afghanistan begründet hatte und in den 1920er-Jahren Ver­
bindungsoffizier der Heeresleitung in Moskau gewesen war. Dieser hatte sich
in den 1930er-Jahren als Professor für Wehrgeographie in Berlin einen Namen
gemacht und war 1942 mit der Aufstellung einer Turk-Division beauftragt
worden. Mit ihm verbanden sich auch bei Stauffenberg große Hoffnungen, die
Völker des Kaukasus und Zentralasiens für die deutsche Wehrmacht gewinnen
zu können.508 Niedermayer hoffte, dass es dem OKH endlich gelingen würde,
eine politische Zielsetzung für seine Männer durchzusetzen, sonst würden sie
ihm – so meinte er in einem nächtlichen Gespräch – davonlaufen. Herre, nur
Major, forderte den General und Professor auf, diese Einschätzung dem Chef
des Generalstabs deutlich zu machen und die »Kabinettsfrage« zu stellen. Das
»Bombardement« bei der höheren Führung müsse weitergehen, um Zeitzler
zu veranlassen, den »Führer« zur Einsicht zu bringen.509
Als Herre mit anderen Stabsoffizieren nachmittags den erbeuteten sowjeti­
schen Spielfilm Alexander Newski ansah, wurde er zu Gehlen befohlen. Dieser
erteilte ihm den »Blitzauftrag«, eine Stellungnahme zu einem Bericht zu ver­
fassen, den Himmler an Hitler erstattet hatte und der eine von der SS durchge­

505 Herre-Tagebuch, 13./14.11.1942, IfZ, ZS-406/14-1.


506 Ebd., 18.11.1942.
507 Ebd., 5.1.1943.
508 Zur Biografie Niedermayers siehe Hans-Ulrich Seidt: Berlin-Kabul-Moskau. Oskar von
Niedermayer und Deutschlands Geopolitik, München 2002.
509 Herre-Tagebuch, 12.1.1943, IfZ, ZS-406/14-1.

279
Stauffenberg und Niedermayer bei der Turk-Division

führte Vernehmung des gefangenen Sowjetgenerals Priwalow betraf, ehemals


Kommandierender General des XVI. Schützenkorps. Herre war entsetzt über
den Dilettantismus der SS und verfasste mit spitzer Feder ein Papier, in dem er
mit aller Deutlichkeit seine Auffassung formulierte, dass man nur mit einem
politischen Angebot die Russen für die deutsche Seite gewinnen könne. Wie­
der bremste Gehlen den unvorsichtigen Elan seines engsten Mitarbeiters. Man
wolle doch keine »Polemik« machen, sondern die Sache voranbringen.510
Doch das Einzige, was erreichbar schien, war eine Zustimmung der obersten
Führung, vor Beginn der nächsten deutschen Sommeroffensive die Überläufer­
propaganda an der Front zu intensivieren. Nur für diesen Zweck sollte auch
Wlassow eingesetzt werden, von dem sich Herre und die anderen Mitstreiter
aber viel mehr erwarteten, nämlich die Verkündung eines politischen Pro­
gramms, das für die Russen beiderseits der Front attraktiv genug sein würde,
um auf der Seite der Deutschen zu kämpfen. Dazu gehörten die Einsetzung
eines russischen Komitees und die Ankündigung, dass die bereits gebildeten
Hilfswilligenverbände den Grundstock für eine russische Befreiungsarmee bil­
den würden. Strik-Strikfeldt lieferte dafür entsprechende Entwürfe, die über
die Abteilung Wehrmachtpropaganda im OKW auch Anstoß zu Vorlagen bei

510 Ebd., 15.1.1943.

280
Zeitzler gaben. Immerhin hatte Goebbels bereits sein Interesse bekundet, wäh­
rend Ostminister Rosenberg blockierte, weil er in seiner Rassenpolitik auf die
nichtrussischen Nationalitäten setzte und daher eine politische Aufwertung
des »Russentums« ablehnte. Zeitgleich bereitete die Organisationsabteilung
neue Regelungen für die Ostfreiwilligen vor. Dort hatte Stauffenberg in Zusam­
menarbeit mit Roenne immerhin bereits erreicht, dass seit dem 1. Januar 1943
ein deutscher »General der Osttruppen« etatisiert worden war. Reichte das
aus, um über Zeitzler und Keitel die Zustimmung Hitlers zu weiteren Schritten
zu erhalten? Herre notierte am 24. Februar 1943: »Genickschlag. Wieder ist ein
Torpedo fehlgegangen. Zeitzler hat einen besonders starken Schrieb durchge­
strichen.«
Nachdem Roenne, sein bisher engster Vertrauter, zum 1. März 1943 die
Abteilung Fremde Heere West als Chef übernommen hatte, suchte ihn Gehlen
als Gesprächspartner weiter in der Wlassow-Frage einzubinden. »Der Kompa­
niechef«, so offenbar der interne Spitzname für Zeitzler, habe in dieser Sache
resigniert, wenigstens zurzeit. Damit sei sie festgefahren, schrieb er Roenne.

Es ist infolgedessen erforderlich, in der Propaganda in dieser Richtung vor­


übergehend etwas leise zu treten, da sonst die Gefahr besteht, dass, wenn
K[eitel] ins Spiel kommt, die ganze Sache torpediert wird.511

Zu Rosenberg habe er jetzt eine enge Verbindung über dessen Hauptabtei­


lungsleiter Politik, Georg Leibbrandt, geknüpft. Er schicke ihm laufend Mate­
rial, aber ob es viel nütze, bezweifelte Gehlen. Heusinger habe darauf hinge­
wiesen, dass etwas Grundlegendes in der Propaganda geschehen müsse, sonst
würden die »landeseigenen Verbände«, die man in den besetzten Ländern aus
Freiwilligen rekrutierte, »zu einer entscheidenden Gefahr in unserem Rücken
werden können«. Die Schlussfolgerung, dass es wahrscheinlich zweckmäßiger
sei, die Einheiten aufzulösen und die Hilfswilligen als Arbeiter nach Deutsch­
land zu schicken, habe zum Glück noch keine politischen Folgen gezeitigt.

Man vergißt dabei aber ganz, daß die Frage der Ostpropaganda und die einer
zwar harten aber richtigen Behandlung der Bevölkerung im besetzten Gebiet
von kriegsentscheidender Bedeutung sein kann.

Goebbels habe zwar eine Anweisung herausgegeben, »die durchaus in unse­


rem Sinne liegt«, aber Keitel habe daraufhin für den OKW-Bereich angeordnet,

511 Schreiben Gehlens an Roenne vom 16.3.1943, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 24, dort auch
die folgenden Zitate.

281
dass man die Bevölkerung nicht scharf genug anfassen könnte und dass jede
Weichheit, wie sie von »Intelligenzlern« gepredigt würde, von Übel sei. Gehlen
suchte Rat und Zuspruch in einer verzwickten Situation, in die er im Grenzbe­
reich von Politik und Kriegführung geraten war.

Haben Sie nicht einmal Zeit, hier vorbeizukommen, damit ich mich mit
jemandem aussprechen kann, was ja telephonisch nicht möglich ist [...] Mit
sehr herzlichen Grüßen stets Ihr ...

Gehlen sorgte im April 1943 dafür, dass Herre zum Chef des Stabes beim
»General der Osttruppen« ernannt wurde, wo er die Verantwortung für die
Durchführung der Überläuferpropaganda übernahm.512 Wichtigstes Hilfs­
mittel war ein entsprechendes Flugblatt, mit dem unter den Rotarmisten, die
sich auf die Abwehr der deutschen Sommeroffensive einrichteten, geworben
werden sollte. Wer sollte das Papier unterzeichnen? Das war keine unwichtige
Frage. Hitler selbst kam nicht in Betracht, denn er hielt von der ganzen Aktion
nichts. Zeitzler als Generalstabschef war dafür auch nicht zu gewinnen. So
blieb die Sache an Gehlen hängen, der überhaupt nicht davon begeistert war,
dass sein Mitarbeiter Herre sich mit diesem Anliegen an ihn wandte.

Der Chef hat nach erheblichem Kampf seine Unterschrift im Faksimile für
das Flugblatt gegeben. Ich telephoniere noch mit allen Heeresgruppen wegen
der Aktion. [...] Abends noch lange Besprechung mit dem Chef. Ich merke,
wie sehr er mir vertraut. Er hält an dem Plan, dass ich Chef beim General der
Osttruppen werden soll, fest.513

Formell lag es natürlich nahe, dass der Chef FHO für eine Aktion verantwort­
lich zeichnete, bei der Überläufer und damit Informanten gewonnen werden
sollten. Doch Gehlen hatte offenbar persönliche Gründe, mit dem Faksimile
eine Ausführung zu wählen, die ihm – für den Fall, dass es Ärger geben sollte –
eine zumindest kleine Rückzugsmöglichkeit offenhielt. Gleichwohl hatte er
sich nun widerwillig nach außen hin erkennbar mit seiner Unterschrift an das
Unternehmen binden lassen, wohlwissend, dass die oberste Führung gar nicht
daran dachte, die Versprechungen gegenüber möglichen Überläufern einzu­
halten.
Herre gelang es, den vorbereiteten Befehl für die Propagandaaktion »Silber­
streif« auf den Weg zu bringen. In seinem Tagebuch notierte er: »Ob der Chef

512 Herre-Tagebuch, 16./17.4.1943, IfZ, ZS-406/14-1.


513 Ebd., 24.4.1943.

282
Gen Stab die Pflaume gemerkt hat?«514 Auch für Gehlen selbst dürfte diese
ganze Aktion eine wichtige Erfahrung gewesen sein, die seine Operationen und
seinen Führungsstil nach 1945 maßgeblich geprägt haben, zumal in der späte­
ren engen Zusammenarbeit mit Herre in der Org und im BND. Ende Mai 1943
bemühte sich Herre verzweifelt darum, das Unternehmen nicht noch kurz vor
dem Start von den Kritikern zerpflücken zu lassen. Keitel als Chef des OKW
habe, so erfuhr er, den »General der Osttruppen« regelrecht bei Hitler ange­
schwärzt. Der Einsatz von Wlassow sollte nach ersten öffentlichen Auftritten
in Smolensk und Pleskau zurückgefahren werden, die Osttruppen sollten nicht
ausgebaut werden und die möglichen Überläufer der Aktion »Silberstreif« kei­
nesfalls eine russische Befreiungsarmee bilden, sondern als zivile Zwangsar­
beiter an Fritz Sauckel, den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz,
abgegeben werden.515 Dabei gab es auch innerhalb des OKW Referenten und
Verantwortliche, die den angestrebten Kurswechsel in der Ostpolitik unter­
stützten. Das Allgemeine Wehrmachtamt/Abteilung Inland z.B. gab eigens
eine interne Aufklärungsschrift über »Gegebenheiten und Möglichkeiten des
Ostraumes« heraus, in der in vergleichsweise sachlicher Form über Völker und
Geschichte informiert wurde. Dort hieß es, dass der Osten von bolschewisti­
scher Herrschaft befreit und »von jetzt an Europa für immer zugewendet wer­
den soll«.516
»Silberstreif« wurde letztlich ein Fehlschlag ebenso wie das ganze Unter­
nehmen »Zitadelle«, die letzte deutsche Offensive an der Ostfront. Kurz nach
Beginn der sowjetischen Gegenoffensive, die mit schier unaufhaltsamer Wucht
die Wehrmacht aus der Ukraine vertrieb, traf sich eine interessante Runde zu
einem Essen mit Gustav Hilger, dem ehemaligen Botschaftsrat in Moskau und
aktuellen Berater des Außenministers in Fragen der Russlandpolitik.517 Hilger
war einer der wenigen exzellenten Kenner der Sowjetunion, ein fachlich her­
vorragender Diplomat, der nach 1945 von den Amerikanern geschätzt und der
Gruppe Gehlen zugeordnet wurde, aber auch als Einzelberater vielfältig ein­

514 Ebd., 27.4.1943.


515 Ebd., 16.6.1943. Siehe Führerbesprechung am 8.6.1943, in: Lagebesprechungen im
Führerhauptquartier. Protokollfragmente aus Hitlers militärischen Konferenzen
1942-1945, hg. von Helmut Heiber, München 1963, S. 109-126, hier S. 124. Als Herre am
5. Juli davon erfuhr, war er erschüttert und meinte: »Es sieht so aus, als wenn der Führer
völlig unbelehrbar ist«.
516 Das für Zeitzler bestimmte Exemplar findet sich in den persönlichen Unterlagen Geh­
lens; Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 56.
517 Zu Hilgers publizistischer Tätigkeit nach 1945 siehe: Gustav Hilger: Wir und der Kreml.
Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918-1941. Erinnerungen eines deutschen Diplo­
maten, Frankfurt a. M. 1955; Gustav Hilger: Stalin. Aufstieg der UdSSR zur Weltmacht,
Göttingen 1959. Zu dem Treffen 1943 siehe Herre-Tagebuch, 23.7.1943, IfZ, ZS-406/14-1.

283
gesetzt wurde. Zu der Essensrunde am 23. Juli 1943 gehörten außerdem Hasso
von Etzdorf, Verbindungsoffizier des Auswärtigen Amtes im OKH mit Kon­
takten zum Widerstand, und der Abwehroffizier Oberst Albert Radke, nach
Kriegsende leitender Mitarbeiter Gehlens und 1951 von diesem auf den Posten
als Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz gehievt, Oberstleut­
nant Hermann Baun, Chef von »Walli I«, verantwortlich für die Agentenein­
sätze an der Ostfront, von denen auch Gehlen profitierte, Major Adolf Wicht,
verantwortlich für die Auswertung von Beutepapieren bei FHO, sowie Gehlen
und Herre.
Hier traf sich eine Gruppe, die später ein zentrales Element der Org gewor­
den ist. Ausführlich ging es darum, ob man Russland wohl richtig eingeschätzt
habe. Hilger meinte, dass 1941 die Warnungen von Botschafter Schulenburg
und Militärattaché Köstring nicht beachtet worden seien, die damals auf das
enorme militärische Potenzial der UdSSR verwiesen hatten. Gehlen zeigte sich
davon auch jetzt nicht sonderlich beeindruckt, denn er blieb zeitlebens davon
überzeugt, dass man Russland ungeachtet seiner zahlenmäßigen Überlegen­
heit militärisch besiegen könnte. Nach dem Essen fuhr Herre mit zu Gehlen
und stellte erfreut fest: »Wir sind wieder konform.« Wahrscheinlich hatte ihm
sein ehemaliger Chef die Sache mit der Unterschrift grollend verziehen. Aber
er spielte gegenüber seinem engen Vertrauten Herre falsch. Denn am nächsten
Tag schrieb Gehlen an Alexis von Roenne und teilte ihm mit, dass die »Angele­
genheit Wlassow« auf ein »heikles Gleis« geraten sei.518

Ich persönlich bin unverändert der Auffassung, daß unter Berücksichtigung


der vorhandenen Gegebenheiten es das Richtigste wäre, Wlassow dem SD
zu übergeben und die Steuerung dieser Persönlichkeit der SS zu überlassen,
wenn man sie überhaupt noch weiterhin mit Nutzen verwenden will.

Strik-Strikfeldt verstehe es nicht, Wlassow so zu »steuern«, dass kein außen­


politischer Ärger entsteht.

Vor allem stehe ich nach wie vor auf dem Standpunkt, daß Wlassow aus Ber­
lin fort muß. Es ist betrüblich, immer wieder feststellen zu müssen, daß die
Angelegenheit Wlassow in der Geschichte auch einmal mit zu den völlig ver­
korksten Dingen gehört, für die OKW verantwortlich zeichnet. Nachdem nun
die klare Linie bekannt ist, welche der Führer wünscht, versteht es anschei­
nend OKW, durch diese Reisen eine erneute Unklarheit hereinzubringen.

518 Schreiben Gehlens an Roenne vom 24.7.1943, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 24, dort auch
die folgenden Zitate.

284
In seinen Memoiren stellte Gehlen sich dann später als unermüdlichen Ver­
fechter der Wlassow-Idee dar und schrieb in diesem Zusammenhang von
»kräftezehrenden Kämpfen und Auseinandersetzungen«.519
Wahrscheinlich war die ganze Wlassow-Aktion für ihn nur ein Strohhalm,
an den er sich klammerte, denn er kann eigentlich nicht ernsthaft daran
geglaubt haben, dass sich damit das Kriegsglück grundlegend wenden ließ,
schon gar nicht kurzfristig. Entscheidend war nach der Wendung von Stalin­
grad ein Erfolg auf dem Schlachtfeld, um einen Zusammenbruch der Ostfront
abzuwenden. Als verhinderter »Operateur« im Hintergrund der militärischen
Entscheidungen ist ihm das sicherlich bewusst gewesen. Solange auch nur
eine geringe Aussicht bestand, den »Führer« zu einem Kurswechsel im Osten
zu bewegen, war Gehlen dabei, nicht an der Spitze, aber im Hintergrund. Als
die »klare Linie« des »Führers« feststand, war für ihn die Sache erledigt.
Während die kleine Gruppe des militärischen Widerstands, zu der er, ohne
von ihren Plänen zu wissen, lockeren dienstlichen Kontakt hatte, sich daran­
machte, ein Attentat auf Hitler vorzubereiten, wird Gehlen sich überlegt haben,
wie es mit ihm selbst weitergehen sollte. Eigentlich war eine Frontverwendung
längst überfällig. Sein kurzes Intermezzo im September 1939 in Polen lag drei
Jahre zurück. Wenn er zum General aufsteigen wollte, müsste er Chef des Sta­
bes in einem der mehr als 70 Armeekorps werden, nach seinem bisherigen
Einsatz im OKH natürlich vorzugsweise an der Ostfront.
Es ist schwer vorstellbar, dass dieser anstehende nächste Schritt auf der
Karriereleiter für ihn wirklich erstrebenswert gewesen ist, erst recht nach der
Katastrophe von Stalingrad. In seinen Unterlagen bewahrte er eine Abschrift
des letzten Funkspruchs auf, den der Verbindungsoffizier des OKH beim AOK 6
am 30. Januar 1943 abgesetzt hatte: »Russe wird in kurzer Zeit vor den Toren
unseres Hauses stehen. Wir kämpfen bis zuletzt und werden das Schicksal
unserer Männer teilen.«520 Gehlen wusste, was dem Kameraden bevorstand.521
Nicht auszuschließen, dass in dieser Situation ein Trauma entstand, das ihn
sein ganzes Leben lang verfolgen sollte: die Angst, in die Hände der Russen zu
fallen und ihrer Willkür ausgeliefert zu sein. Es bestimmte bis zum letzten Tag
des Krieges Denken und Handeln nahezu aller Angehörigen der Wehrmacht an
der Ostfront. Oberbefehlshaber und Kommandeure versuchten in den letzten
zwei Kriegsjahren stets mit aller Macht, die Einkesselung ihrer Verbände zu

519 Gehlen, Der Dienst, S. 88.


520 BA-MA, RH 2/2581. Es handelte sich in Wahrheit nur um den Vertreter des Verbindungs­
offiziers. Oberstleutnant i. G. Colestin von Zitzewitz hatte sich bereits zehn Tage früher
ausfliegen lassen, um angeblich eine Denkschrift von Paulus an Hitler zu überbringen,
die aber bis heute nicht gefunden worden ist.
521 Siehe Diedrich, Paulus, S. 486 – 487.

285
vermeiden und notfalls rechtzeitig nach Westen auszubrechen. Jemand, der
mit seinen Männern in Stalingrad in Gefangenschaft ging, war Helmuth Gros­
curth, in den 1930er-Jahren bei der Abwehr, der angesichts der Verbrechen
im Oktober 1939 die militärische Führung zum Umsturz aufgefordert hatte,
zuletzt als Oberst i. G. Chef des Generalstabs des XI. Armeekorps in Stalingrad.
Er starb in Gefangenschaft am 7. April 1943. Sich für eine Frontverwendung zu
melden, und sei es nur aus Karrieregründen, kam jedenfalls für Gehlen nicht
in Betracht.
Anfang 1943 herrschte im OKH allgemeine Niedergeschlagenheit. Im kleinen
Kreis beklagte Heusinger die vielen versäumten Gelegenheiten und haderte
insbesondere mit Hitlers Entscheidung im Sommer 1941, nach Süden statt wie
geplant nach Moskau zu gehen. Jetzt könne das Schlimmste passieren. Einen
Ausweg wusste der langjährige Chef der Operationsabteilung freilich auch
nicht, außer der »zwingenden Notwendigkeit«, operative Reserven aus der
Ostfront zu gewinnen. Vor allem wandte er sich gegen einen Gedanken, der im
Generalstab des Heeres vielfach erörtert wurde, »den Kram hin[zu]schmeißen«
und zu sagen, »so was könnten sie nicht mehr verantworten«. Es würde sich
dann aber doch einer finden, »der es mache«. Im Übrigen könnte der »Füh­
rer« irgendeinen SS-Standartenführer zum Chef des Generalstabs machen und
dann würde das Heer jeglichen Einfluss verlieren. Den Krieg könne man nur
mit Hitler gewinnen, denn ein Nachfolger sei nicht vorhanden, und wenn der
»Führer« ausfalle, bräche alles zusammen, und es seien »in der Arbeiterschaft
Verhältnisse wie 1918« zu befürchten. Dass Heusinger am 30. Januar 1943, als
das Verbindungskommando in Stalingrad die Nachricht von der Kapitulation
an das OKH übermittelte, überraschend zum Generalleutnant befördert wurde,
machte ihn nur melancholisch.522 Es war mit dem Untergang der 6. Armee und
dem Zusammenbruch der hauptsächlich von verbündeten Truppen gehalte­
nen Donfront die bis dahin größte Katastrophe in der deutschen Militärge­
schichte und markierte die Wende des Zweiten Weltkriegs.
Mit seinen Einschätzungen der operativen Absichten und Möglichkeiten
des Gegners verfiel Gehlen zeitweilig einem Pessimismus, der ebenso unrea­
listisch war wie der Optimismus der vorangegangenen Monate. Angesichts
der »ungeahnten Erfolge« der anderen Seite – das klingt wie eine wohlfeile
Ausrede – sah er Ende Januar 1943 im Süden der Ostfront nur noch Katastro­
phen. Er unterschätzte die deutsche Widerstandskraft und sah wieder einmal
nicht den tatsächlichen Verlauf der sowjetischen Operationen voraus.523 Auch

522 Siehe Meyer, Heusinger, S. 212 -213.


523 Hier übereinstimmend mit Wilhelm, Prognosen, S. 50. Kräftebild und weitere russische
Operationsmöglichkeiten im Südbereich der Ostfront, 19.1.1943, in: »Zusammenstel­
lung«, BA-MA, RHD 18/249, S. 47-51.

286
die weiteren Prognosen blieben im Frühjahr 1943 düster, sie beschworen die
Gefahr, die Rote Armee könne bis zum Dnjepr vorstoßen, ja sogar die gesamte
deutsche Ostfront zum Einsturz bringen. Das mag übertrieben gewesen sein,
aber der britische Geheimdienst schätzte die Möglichkeit eines weiten strate­
gischen Vorstoßes der Roten Armee immerhin ähnlich ein.524
All das muss vor dem Hintergrund der Konferenz von Casablanca gesehen
werden, auf der die Alliierten am 25. Januar 1943 die Forderung der bedin­
gungslosen Kapitulation erhoben. Auch wenn das den deutschen Wider­
standswillen vorübergehend stärkte, machte diese Forderung der Kriegsgegner
deutlich, dass die absehbare deutsche Niederlage nicht zu einer Wiederholung
von 1918 fuhren würde. Das Dritte Reich und die Wehrmacht waren gleichsam
zum Tode verurteilt. Für Männer mit strategischem Überblick, zu denen auch
Gehlen gehörte, konnte daher kaum noch ein Zweifel daran bestehen, dass
man den Untergang allenfalls zeitlich hinausschieben, aber nicht aufhalten
konnte. Noch lange freilich grassierten in Führungskreisen Hoffnungen, den
Krieg bis zur beiderseitigen Erschöpfung zu führen und dass die Westalliier­
ten vielleicht doch noch Deutschland als Bollwerk gegen die UdSSR brauchen
würden. So sprossen 1943 in Deutschland manche IIIusionen, die Anti-Hitler-
Koalition könnte an ihren inneren Spannungen zerbrechen und so dem Reich
einen Ausweg aus der Niederlage eröffnen.
Die im Frühjahr 1943 forcierten Attentatspläne des militärischen Wider­
stands hätten ebenfalls einen Ausweg bieten können. Gehlen berichtet in
seinen Memoiren, dass Heusinger gewisse Andeutungen gemacht habe.525
Der Chef der Operationsabteilung erging sich allerdings auch nur in Mutma­
ßungen und Ahnungen, von denen Gehlen allem Anschein nach nichts mehr
hören wollte. Natürlich hätte sich bei einem erfolgreichen Attentat auf Hitler
und einem nachfolgenden Umsturz auch für den Chef FHO die Lage anders
dargestellt, weil eine neue Heeresführung vielleicht den Schwerpunkt darauf
gelegt hätte, die Ostfront zu stärken und zu halten, um auf dieser Basis mit den
Westmächten in Verhandlungen einzutreten. Hier hätten sich die von Gehlen
im Hintergrund unterstützten Bemühungen um die Wlassow-Bewegung ein­
fugen können. Hinzu kamen Bestrebungen von Albert Speer, dem Rüstungsmi­
nister und »Liebling« Hitlers, der sich in Konkurrenz zu Bormann, Goebbels
und Himmler nach vorn drängte. Speer verbündete sich mit Zeitzler in der
Hoffnung, den »Führer« dazu überreden zu können, sich aus den aktuellen
Regierungsgeschäften zurückzuziehen und die militärische Kriegführung im

524 Francis H. Hinsley: British Intelligence in the Second World War, Bd. 2, London 1982,
S. 615-627.
525 Gehlen, Der Dienst, S. 46.

287
Oberst Reinhard Gehlen (links) beim Rapport, wahrscheinlich in Mauerwald, ca. 1943/44

Osten Manstein zu überlassen, dem prädestinierten Oberbefehlshaber Ost. Für


Gehlen wäre Manstein als Sinnbild operativer Führungskunst sicherlich ein
starker Hoffnungsträger gewesen.
Wie im Vorjahr hatte sich im Winter 1943 nach den Rückschlägen an der
Front in der winterlichen Einöde des ostpreußischen Hauptquartiers eine
gewisse Niedergeschlagenheit breitgemacht. Für Gehlen Anlass, sich partiell
in eine Art von innerer Emigration zurückzuziehen. Seinen Vertrauten Herre
ließ er in der Sache Wlassow-Bewegung herumwirbeln, um herauszufinden,
wie weit dieser Hoffnungsschimmer tragen würde. Noch schien er nicht gänz­
lich am »Endsieg« zu zweifeln, wenn denn die Führung das Ruder herumrei­
ßen würde. Aber gute Aussichten gab es dafür nicht. So konzentrierte er sich
darauf, seine eigene Abteilung leistungsfähiger zu machen. Das sicherte seine
Position im OKH wie im operativen Führungsgeschäft und konnte vielleicht
dazu beitragen, weitere Fehlschläge zu verhindern. Die mangelhaften Progno­
sen von FHO im Falle von Stalingrad waren zu seinem Glück kein Gesprächs­
thema im Führerhauptquartier geworden.
Eine seiner ersten Maßnahmen zur Professionalisierung der Arbeit war die
personelle Erneuerung der Zentrale gewesen. Erfahrene Generalstabsoffiziere
mit Kenntnissen Russlands bzw. der russischen Sprache gab es beim OKH
kaum. So kamen nur einige wenige Jüngere in Betracht, bei denen allerdings
damit zu rechnen war, dass es sie bald wieder in eine karrierefördernde Front­
verwendung ziehen werde. Ein gewisses Potenzial stand FHO mit den Ic-Offi­

288
zieren in den Stäben der Divisionen, Armeekorps, Armeen und Heeresgruppen
zur Verfügung. Zum überwiegenden Teil handelte es sich um Ic-Offiziere auf
Divisionsebene, die meist Reserveoffiziere waren, also nicht dem Generalstab
angehörten. Also sah Gehlen es als eine seiner wichtigsten Aufgaben an, sich in
die Ausbildung und Vorbereitung solcher Offiziere einzuschalten und sie von
Zeit zu Zeit zusammenzuziehen.526 Die Ic-Offiziere der rund 200 Divisionen an
der Ostfront waren erste Sammel- und Auswertestellen für Informationen über
den Feind. Bei den Höheren Kommandostellen, insbesondere bei den Heeres­
gruppen, bildete sich ein erstes zusammenhängendes Urteil über die Lage des
Feindes und seine operativen Absichten. Bei den Ic-Offizieren auf dieser Ebene
kam es also vor allem auf die Fähigkeit zu einem operativen Denken an, wie es
in der Generalstabsschulung vermittelt wurde.
In seiner Zentrale brauchte Gehlen lediglich eine Handvoll solcher erst­
klassiger Mitarbeiter, die vor allem den Entwurf für die tägliche Lagebeurtei­
lung anzufertigen hatten, den Gehlen dann dem Generalstabschef vortrug.
Auf dieser Grundlage erarbeitete Gehlen einmal monatlich eine umfangrei­
chere Studie, die die operativen Absichten des Feindes im größeren Rahmen
und auf längere Sicht beurteilte. Sie wurde außer dem Generalstabschef des
Heeres auch dem OKW zugeleitet, um die Meinungsbildung auf höchster
Ebene zu beeinflussen. Hier konnte Gehlen mit begrenztem Risiko vorge­
hen, weil die realen Abläufe der vergangenen Wochen eine bessere Prognose
ermöglichten.
Für das Tagesgeschäft brauchte er außerdem eine Reihe von »Führungs­
gehilfen« und unteren Offiziersdienstgraden. Sie sammelten in der Gruppe I
die eingehenden Nachrichten von der Front, trugen die Einzelinformationen
über die Dislozierung und das Verhalten von Feindverbänden in die entspre­
chende Lagekarte (1:1.000.000) ein, fügten die Informationen hinzu, die der
FHO zugeteilte Ic der Luftwaffe sowie die Funkaufklärung des Heeres vermit­
telten, bemühten sich anhand von Erfahrungswerten um eine Beurteilung
der Kampfkraft von verschiedenen Feindverbänden, fassten die regelmäßigen
Ic-Meldungen über die Zählung von Gefangenen und Beute sowie die Meldun­
gen der Artilleriebeobachtungen zusammen und übergaben schließlich die
täglichen Unterlagen der Gruppe II für die weitere Auswertung.
Dort wurden systematisch alle sonstigen Nachrichten über den Feind
gesammelt und ausgewertet. Dazu gehörte die Auswertung von Presse und
Rundfunk, der Horchtechnik, der Berichte von Gefangenen – wofür eigens die
Zweigstelle »Albert«, eine Vernehmungs- und Beutesammelstelle bestand –

526 Unterlagen über den Ic-Lehrgang in Posen 29.4.-19.5.1943, Gehlen-Kisten, Mappe


Nr. 17.

289
Die tägliche Arbeit in der Abteilung Fremde Heere Ost, ca. 1943

sowie von erbeuteten Feindunterlagen. Aus diesen Informationen wurden


dann unregelmäßig Zusammenstellungen angefertigt, die innerhalb des OKH
verteilt wurden. Die Gruppe verfugte über einige Fachleute, die nach Anwei­
sung von Gehlen Studien über verschiedene Themen anfertigten, etwa über
die Ernährungslage, wofür man die Zusammenarbeit mit dem OKW/Wirt­
schaftsamt, dem Generalquartiermeister und dem Reichsministerium für die
besetzten Ostgebiete suchte, also den eigentlich zuständigen Fachbehörden.
In Kooperation mit dem Heereswaffenamt wurden waffentechnische Entwick­
lungen beobachtet und weitere Sondergebiete mit externen Behörden bearbei­
tet. Ein kleines, aber wichtiges Referat befasste sich mit der Auswertung des
Chiffrierwesens.
In der Gruppe II brauchte Gehlen also russischsprachige Spezialisten
und Fachleute, die er nur im Zivilleben, d. h. unter Reserveoffizieren finden
konnte. Hier halfen Empfehlungen und persönliche Verbindungen, Anfänge
eines Personalrekrutierungssystems, das später für die Org prägend wer­
den sollte. Gehlen, der sich als Abteilungsleiter sein Personal vielfach selbst
beschaffen musste, lernte die Tricks des Personalgeschäfts und die persönli­
chen Vorteile, die einem Chef zuflossen, der Dienstposten zu vergeben hatte,
die – wem immer daran gelegen war – vor dem Fronteinsatz schützten und
auf denen sich notfalls auch Kriegsversehrte und Bekannte unterbringen lie­
ßen. Im Frühjahr 1943 brachte er z.B. mit Leutnant Peter von Vaernewyck
einen Verwandten als stellvertretenden Kommandanten des Stabsquartiers

290
unter.527 Für ihn war es vermutlich auch von Vorteil, dass sein Schwager,
Oberstleutnant Friedrich-Wilhelm von Seydlitz-Kurzbach, im Personalamt
des OKH beschäftigt war.528
Angesichts der Personalknappheit und wiederholt angeordneter »Aus­
kämmaktionen« zugunsten der Front hat Gehlen seine Position ausnut­
zen und gegenüber Untergebenen festigen können. Wer nicht funktionierte,
musste damit rechnen, in einem Schützengraben zu landen. Da brauchte der
Chef keine großartige Fachautorität und Persönlichkeit, um seine Mitarbei­
ter an sich zu binden, zumal er auch jene Großzügigkeit im sozialen Umgang
praktizieren konnte, die er selbst im OKH als »Führungsgehilfe« zu schätzen
gelernt hatte.
Auf diese Weise versammelte Gehlen im Laufe der Zeit rund 50 Offiziere
um sich, die sich daran gewöhnen mussten, dass der Chef harte Arbeit und
Diensteifer verlangte, so wie er es auch vorlebte. Hinzu kam etwa die gleiche
Anzahl weiblicher Hilfskräfte sowie Mannschaften und Unteroffiziere. Neben
Schreib- und Übersetzungsdienst hatten sie die zahlreich angelegten Karteien
zu pflegen. Sie wurden außerdem im Kartografenbüro und bei der Vervielfälti­
gung beschäftigt. Gehlen verfügte als selbstständig agierender Abteilungsleiter
also in der Zentrale über einen Mitarbeiterstab in Kompaniegröße, womit er
als Offizier gut zurechtkam. Bei der Organisation und Rekrutierung sowie im
Führungsstil bildeten sich Verhältnisse und Erfahrungen heraus, von denen er
noch später als Chef der Org und als Präsident den BND profitierte.
Als Chef von FHO entwickelte er 1942/43 Praktiken, die im Getriebe militä­
rischer Bürokratie auch unter Kriegsbedingungen nicht unüblich waren. Dazu
gehörte es, möglichst viele Kompetenzen und Verbindungen an sich zu ziehen,
die eigene Abteilung krakenhaft zu vergrößern und immer wieder umzubauen,
um persönliche Macht und Einfluss auszubauen. Gehlen blieb in gewisser
Weise »Operateur«, d.h. ständig in Bewegung, immer neue Ziele suchend,
Kräfte sammelnd und Männer auswählend, die »Truppen« nach seinen Anwei­
sungen ins Feld führten. Er war jedenfalls alles andere als ein »Verwalter«.
Major Adolf Wicht gehörte zu den Spitzenkräften, auf die sich Gehlen stüt­
zen konnte. Er kam 1942 zu FHO und hatte zuvor in Rommels Nachrichten­

527 Diensteinteilung der Abteilung vom 15.5.1943, BA-MA, RH 2/1473. Vernewyck blieb bis
zum Kriegsende bei Gehlen.
528 Deutsche Dienststelle Berlin, US-Erfassungsblatt mit Angaben zu Seydlitz-Kurzbach,
der als 31-Jähriger am 9. Mai 1945 im österreichischen Goldegg in Gefangenschaft
geriet. Er war im Januar 1942 nach einer Verwundung an der Ostfront in die Arbeits­
gruppe P1 des Heerespersonalamts versetzt worden. Seine Mutter war eine geborene
von Stülpnagel. Im Heerespersonalamt blieb er bis zum Herbst 1944 und wurde dann in
den Stab des Jäger-Regiments 749 versetzt.

291
regiment in Nordafrika gedient. Über Osterfahrung verfügte er nicht. Wicht
war später Pressereferent in der Org und im BND und war spektakulär in die
Spiegel-Affäre verwickelt. Er wurde 1942 Referatsleiter in der Gruppe II. Geh­
len gab ihm zwei Monate Probezeit, um ihn kennenzulernen. In dieser Zeit
ließ Wicht zunächst alles beim Alten, um sich einzuarbeiten, und erkannte
dabei Möglichkeiten, einzelne Gebiete zu straffen, andere auszubauen.529 Sein
allgemeiner Auftrag lautete, alle verfügbaren aktuellen Erkenntnisse über die
Sowjetunion zu beschaffen, aufzubereiten und den Gruppen I (Militär) und II
(Wirtschaft und sonstige Lage) zuzuleiten. Wicht erreichte es, dass sein Refe­
rat als Gruppe III den anderen gleichgestellt wurde, und richtete dann eigene
Referate ein: IIIa für die Vernehmung von Führungskräften der SU unter den
Kriegsgefangenen (ca. 80) in einem Lager der Festung Boyen, eine halbe Stunde
von Mauerwald entfernt; Referat IIIb für die Bearbeitung von erbeuteten Papie­
ren; IIIc für die Bearbeitung von erbeutetem gedruckten Material.
Eine herausragende Rolle bei der Auswertung spielte die Analyse der sowje­
tischen Führungsgrundsätze, sofern es dazu Material bzw. entsprechende
Beobachtungen gab. Die Ergebnisse trug dann Gehlen selbst bei Vorträgen
über die Feindsituation in der Großen Lage des Führerhauptquartiers oder
in der täglichen Lage beim Chef des Generalstabs des Heeres vor. Von Zeit
zu Zeit ließ er größere Zusammenfassungen anfertigen, die als Informati­
onsmaterial an die höheren Stäbe verteilt wurden und später eine wichtige
Grundlage dafür bildeten, sich den US-Streitkräften als profunder Kenner der
Sowjetarmee vorzustellen. Ein Beispiel dafür ist die Studie »Die Rote Armee
und die Eigentümlichkeiten ihrer Gliederung, Führungsgrundsätze und Kamp­
fesweise« vom 1. Februar 1944.530
Das Referat IIId kümmerte sich um feindliche Zeitungen und Flugblätter.
Referat IIIe fasste alle Ergebnisse zusammen und gab gelegentlich »Einzel­
nachrichten des Ic-Dienstes Ost« für die Weitergabe an die Truppenstäbe her­
aus. Im Referat Ulf waren alle Dolmetscher und Übersetzer zusammengefasst,
Referat IIIg umfasste Archiv und Bibliothek.
Bemerkenswert war das Referat IIIh, das für die Rundfunküberwachung
aller nichtmilitärischen Sender in russischer Sprache zuständig war. Die Aus­
werter erhielten die Anweisung, in Sendepausen auf westliche Sender auszu­
weichen und auch Meldungen aufzunehmen, die nicht in die Ausrichtung der
deutschen Propaganda passten. Diese gab Wicht dann in Teepausen, an denen

529 Ausarbeitung Wichts von 1984 über seine Zeit bei FHO, BND-Archiv, N 22/1.
530 BA-MA, RH 2/2453. In Gehlens Nachlass findet sich auch eine gemeinsam von der Heer­
wesenabteilung beim General z.b.V und FHO (IIb) am 16. Januar 1943 an die Ic-Offiziere
der Ostfront verteilte Schrift: Truppenverbände und truppenähnliche Organisationen
des roten Volkskommissariats des Inneren (»NKWD«), Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 48.

292
Gehlen manchmal teilnahm, zum Besten. Gehlen hatte eine Leidenschaft für
brandneue und brisante Nachrichten. Er genehmigte deshalb den Vorschlag,
neben dem Bericht »Rundfunk Ost« auch einen über die westlichen Rundfunk­
sender zu verfassen, zunächst intern für die Abteilung. Gehlen ließ mit der Zeit
immer mehr Exemplare hersteilen und nahm den Chef des Generalstabs des
Heeres und alle Abteilungen des OKH in den Verteiler auf. Diese Nachrichten­
blätter enthielten keinen Hinweis auf Hersteller und Verantwortliche und es
durfte nicht über sie gesprochen werden. Die Abteilung erwarb sich in Mauer­
wald den Ruf, dass dort die am besten orientierten Offiziere arbeiteten, was
Gehlen nicht zuletzt dabei half, mehr Personal anzufordern.
Der normale Tagesablauf war nach Gehlens Erinnerungen531 geprägt von
den fast pausenlos eingehenden Lagemeldungen der Heeresgruppen und den
Feindnachrichten vom Stab »Walli I« des OKW. Alle Feindmeldungen wurden
von den zuständigen Lagegruppen der FHO verarbeitet. In dieser hektischen
Betriebsamkeit kristallisierten sich im Laufe des Tages die Grundlagen für die
abendliche Feindlagebeurteilung heraus. Bevor diese von den Heeresgruppen
eintrafen, waren die Sachbearbeiter FHO gut beraten, sich mit den dortigen
Ic-Offizieren abzustimmen. Abstimmungen mit »Walli I« und der Operations­
abteilung konnten ebenfalls dazu beitragen, den Entwurf zur Feindlage von
FHO endgültig zu konzipieren. Mit diesem Entwurf meldeten sich die Unter­
gruppenleiter der Gruppe I bei ihrem Chef Gehlen, der nun etwa eine Stunde
Zeit hatte, sich auf die Lagebesprechung beim Chef des Generalstabs vorzube­
reiten. Jeder Bearbeiter sprach über seine Heeresgruppe und nahm zur Lage­
beurteilung der Heeresgruppe Stellung. Auf dieser Basis legte Gehlen dann
auch eine Generallinie der Feindlagebeurteilung des kommenden Tages fest.
Oft musste er unter Zeitdruck arbeiten, um pünktlich zur Lagebeurteilung
beim Generalstabschef zu erscheinen.
Dort traf er alle anderen Abteilungschefs, die mit der operativen Lage zu tun
hatten. Das waren regelmäßig natürlich Heusinger als Chef der Operationsab­
teilung, Oberst i. G. Burkhart Mueller-Hillebrand als Chef der Organisations­
abteilung (zu dessen Generalstabsoffizieren die beiden Majore Stauffenberg
und Mertz von Quirnheim gehörten, die sich dem Widerstand angeschlossen
hatten), General Rudolf Gercke als Chef des Heerestransportwesens, General­
quartiermeister Eduard Wagner sowie der Chef des Heeresnachrichtenwe­
sens General Erich Fellgiebel. Andere Abteilungschefs wurden je nach Bedarf
hinzugezogen. Meist begann Heusinger mit seinem Vortrag, dem Gehlen und
nach ihm die anderen folgten. Zeitzler entschied dann über die anstehenden
Befehle und Maßnahmen.

531 Gehlen, Der Dienst, S. 47-49.

293
Reinhard Gehlen (Mitte) bei einer Inspektion in Mauerwald, ca. 1943

Nachdem FHO die in der Nacht eingegangenen Meldungen verarbeitet


hatte, ließ sich Gehlen am Morgen wieder intern vortragen. Dann fand anhand
der in der Nacht neu gedruckten Lagekarten eine weitere, jetzt verkürzte
Lagebesprechung bei Zeitzler statt. In diesem Rhythmus und in der Rolle des
vortragenden Abteilungschefs fand Gehlen sein operatives Talent offenbar
nicht ausreichend erschöpft. Deshalb hatte er im monatlichen Turnus einen
Bericht eingeführt über die »Großlage« des Feindes, bei der sich die täglichen
Einzelmeldungen und Veränderungen wie ein Mosaik zusammenfügten und
Prognosen über die erkennbaren Absichten und Möglichkeiten des Feindes
ermöglichten. Dazu ließ er außerdem durch seine Referatsleiter von Zeit zu
Zeit »Sonderaufgaben« erledigen, d. h. Studien anfertigen, für die er die The­
men vorgab, z. B. »Möglichkeiten der Lageentwicklung im Winter 1943/44«.532
Seine Beurteilung der »Großlage« ließ er schriftlich dem Generalstabschef und
dem OKW zuleiten. Damit blieb der »Operateur« Gehlen mit im Spiel, auch
wenn Heusinger den von Gehlen angestrebten Platz blockierte.

532 FHO (Chef) Nr. 5598/43 geheim, betr. Sonderaufgaben, vom 23. Juli 1943, Gehlen-Kisten,
Mappe Nr. 11.

294
Die »Großlage« überzeugend zu erstellen setzte die Fähigkeit voraus, eine
Fülle von erfahrungsgemäß wichtigen Details, etwa die Schwerpunkte der Par­
tisanentätigkeit, als Hinweise zu deuten, dass der Feind offenbar eine Schwer­
punktverlagerung beabsichtigte. Gelang es dann noch zusätzlich, durch
Gefechtsaufklärung der Truppe kundige Gefangene »einzubringen« und durch
das Abhören des frontnahen feindlichen Funkverkehrs weitere Bestätigungen
zu beschaffen, dann ließen sich frühzeitig Prognosen über strategische Absich­
ten des Feindes erstellen, die höheren Orts Aufmerksamkeit erregen konnten.
Am Beispiel der Schlacht von Stalingrad ist allerdings deutlich geworden, dass
solche Prognosen zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich beanspru­
chen konnten, aber nicht unbedingt zutreffend sein mussten.
Gehlens Behauptung nach 1945 – und Grundlage für seine weitere Kar­
riere -, stets richtige Prognosen erstellt zu haben, ist aber nicht mehr als eine
geschickte Selbstdarstellung gewesen. Dazu gehörte, wenn es anders kam als
angenommen, dies Hitlers »falschen« Entschlüssen zuzuschreiben.533 Unum­
stritten ist dagegen Gehlens Feststellung, seine Mitarbeiter hätten keine
»geheimnisvoll umwitterte Hexerei« betrieben, sondern ihre Resultate mit
»Fleiß, Gründlichkeit, Fachkenntnis und Schnelligkeit« erbracht. In dieser
Hinsicht ist Gehlen ein erfolgreicher Organisator gewesen, der es verstanden
hat, die Ergebnisse seiner Abteilung so an den Mann zu bringen, dass er sich
den Ruf eines effizienten Generalstabsoffiziers erwerben und seinen Posten
bewahren konnte.
Seine persönliche Leistung bestand vor allem darin, sehr viele Informa­
tionsquellen anzuzapfen, seine Verbindungen innerhalb des komplexen und
prekären Zuständigkeitsgefüges zu schützen und zu tarnen sowie die Aufar­
beitung der Informationen effizient zu steuern. Dafür brauchte er selbstlose
»Führungsgehilfen«, wie er in den Jahren zuvor selbst einer gewesen war, und
die Chuzpe, sich gegebenenfalls auch »mit fremden Federn« zu schmücken.
Dazu gehörten mehrere Hundert Ic-Offiziere an der Front, die er – obwohl sie
ihm nicht unterstanden – als seine »Truppe« in einem Teilgebiet ihrer Auf­
gaben indirekt zu führen verstand. Es galt, so Gehlen in seinen Memoiren,
hauptsächlich psychologische Schwierigkeiten zu überwinden,534 weil der Ic-
Dienst für Generalstabsoffiziere nicht interessant genug war, denn es gab in
Friedenszeiten nur wenige Stellen, und daher wurde die Arbeit im Kriegsfall
hauptsächlich von Reserveoffizieren geleistet. Ihnen oblag aber eine ganze
Reihe von Nebentätigkeiten, etwa die Truppenbetreuung mit Kinovorfüh­
rungen, und in der Rangordnung des Stabes waren sie nachgeordnet, auf der

533 Gehlen, Der Dienst, S. 49.


534 Ebd., S. 35.

295
Ebene eines Armeekorps z. B. übernahm die Aufgabe in der Regel ein junger
Hauptmann.
Gehlen, der die Ic-Position nie selbst innehatte, war sich darüber im
Klaren, dass dieses geringe Ansehen an sich nicht gerechtfertigt war. Jeder
Ic-Offizier musste mit seinen wenigen Gehilfen gleichsam im Kleinen und nur
für den eigenen Frontabschnitt das tun, was Gehlen mit FHO für die gesamte
Ostfront zu leisten hatte: die Identifizierung der gegenüberliegenden feindli­
chen Truppen, die Einschätzung ihrer zahlenmäßigen Stärke und Bewaffnung
sowie ihre mutmaßlichen Absichten und Aufträge. Dafür bedurfte es eines
subtilen Einfühlungsvermögens in die Mentalität des Feindes, die Kenntnis
seiner Führungsgrundsätze und eigentlich auch eigene operative Erfahrun­
gen. Bestenfalls gelang es dem rangniedrigen und jungen Ic-Offizier, als Advo­
catus Diaboli in der Lagebesprechung seine Ansichten gegenüber dem Ersten
Generalstabsoffizier und dem Generalstabschef überzeugend zu vertreten.
Ansonsten blieb ihm die Chance, durch Meldung an FHO einen gewissen Ein­
fluss auszuüben.
Gehlen hatte auf seinem Weg nach oben genug Erfahrung gesammelt, um
zu wissen, wo er ansetzen musste, um die Ic-Offiziere gleichsam als seine
Außenstellen an sich zu binden. Er konnte Halder dafür gewinnen, zumindest
die Ic bei den wichtigsten Kommandostellen rangmäßig zu erhöhen. Der Erste
Generalstabsoffizier als operativer Berater des Oberbefehlshabers bzw. des
Kommandierenden Generals blieb Primus inter Pares, der Ic-Offizier erhielt
aber den gleichen Dienstgrad, womit er leichter seine Erkenntnisse vertreten
konnte.535
Neben der informellen Bindung dieser »Außenstellen« verbesserte Gehlen
die Zusammenarbeit mit anderen Stellen, die über wichtige Erkenntnismög­
lichkeiten verfügten. Vergleichsweise einfach war dies innerhalb des OKH
möglich, vor allem bei den Funkaufklärungseinheiten des Heeres, die 1942 zu
größeren Verbänden zusammengefasst worden waren. Sie unterstanden in
der letzten Kriegsphase einem »General der Nachrichtenaufklärung«. Oberst
Friedrich Boetzel war direkt dem Chef des Heeresnachrichtenwesens unter­
stellt – nach dem 20. Juli 1944 war das General Albert Praun, den Gehlen spä­
ter zu sich in die Org holte. Während des Krieges wurde der Kontakt zu FHO
durch einen Verbindungsoffizier gewährleistet. Gehlen konnte über diese lose
fachliche Verbindung seine Erkenntnismöglichkeiten erweitern. Die Auswer­
tung der frontnahen Funkaufklärung durch die Ic-Offiziere lag allerdings oft
im Argen und musste verbessert werden, damit sie von FHO genutzt werden

535 Nach einer im Nachlass Gehlen erhaltenen Liste sind von FHO 23 Generalstabsoffiziere
im Ic-Dienst für die Ostfront ausgebildet worden; Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.

296
konnte.536 Sie vertraten meist die Auffassung, dass es ausreichte, die Einheiten
der Roten Armee anhand ihrer Rufzeichen zu identifizieren und ihre Standorte
zu erkennen, um daraus Rückschlüsse auf die taktisch-strategischen Absich­
ten des Gegners ziehen zu können. Das schwierige Entschlüsseln und Mitlesen
der Funksprüche schien somit überflüssig zu sein.
Von großem Nutzen erwies sich die Beobachtung des frontübergreifenden
Funkverkehrs der Partisanen. Obwohl deren Funkpersonal besser ausgebil­
det war als die durchschnittlichen Truppenfunker der Roten Armee, gelang
es zumindest, aus Anzahl und Standort der Funkstellen wichtige Angaben
über operative Absichten und für die Bekämpfung der Partisanenverbände
zu gewinnen. FHO wurde zum Hauptabnehmer der Meldungen, dort wur­
den im neu geschaffenen Referat »Banden« die eingehenden Informationen
gesammelt und der hauptsächlich von SS und Polizei getragenen »Bandenbe­
kämpfung« zur Verfügung gestellt. Dass im Zuge dieser Aktionen auch Kriegs­
verbrechen begangen wurden, war aus der rein militärischen Sicht von FHO
kein Hinderungsgrund. Gehlen schuf sich auf diese Weise ein vordergründig
»gutes« Verhältnis zum Machtapparat Himmlers.537 Das wenige Spionagema­
terial, das ihm die »Amtsgruppe Auslandsnachrichten und Abwehr« des OKW
unter Admiral Wilhelm Canaris zur Verfügung stellte, schien in der ersten
Phase des Krieges, als es bei den Feldzügen rasch voranging, ausreichend zu
sein, weil die wichtigsten Informationen ohnehin durch die Truppenaufklä­
rung erbracht wurden und längerfristige Einschätzungen überflüssig schie­
nen. Nach der Kriegswende kam es für die deutsche Seite aber darauf an, sehr
viel mehr über die strategischen Absichten des Feindes und seine Potenziale
zu erfahren. Nur mit weit vorausschauenden Analysen konnte man der Gefahr
von Überraschungen begegnen, die angesichts der gegnerischen Überlegen­
heit schnell fatale Auswirkungen haben konnten.
Dem geheimnisumwitterten Admiral widmete Gehlen in seinen Memoi­
ren ein eigenes Kapitel. Er erklärte ihn zu seinem Vorbild, ein unschwer zu
durchschauender Versuch, nachträglich von dessen gutem Leumund zu profi­
tieren. Dass der Admiral als Gegner des Nationalsozialismus noch in den letz­
ten Kriegstagen hingerichtet worden war, hatte ihm postum eine Popularität
verschafft, um die sich Gehlen als Ruheständler vergeblich bemühte. In sei­
nen Erinnerungen nahm Gehlen ihn in Schutz, dem in der Nachkriegslitera­
tur Zaudern, mangelnde Standhaftigkeit und Undurchsichtigkeit vorgeworfen

536 Siehe hierzu ausführlich Pahl, Fremde Heere Ost, S. 195-201.


537 Siehe Schreiben Reichsführer SS/Chef der Bandenkampf-Verbände/Chef der Abt. Ic vom
29.12.1943 mit Dank an Gehlen für »die hervorragende Zusammenarbeit«, Gehlen-
Kisten, Mappe Nr. 38.

297
wurde.538 Ähnliches ließe sich auch über Gehlen sagen. Beide hatten sich wäh­
rend des Krieges aus beruflichen Gründen mit Himmler und seiner SS arran­
giert, viel weiter reicht die Gemeinsamkeit der beiden jedoch nicht.
Sie waren sich laut Gehlens Erinnerung zuerst während seiner Adjutan­
tenzeit bei Halder im Sommer 1940 mehrfach flüchtig begegnet. Der Admiral
eilte im Vorzimmer des Generalstabschefs an dem Adjutanten vorbei. Geh­
lens Anwesenheit bei der Besprechung war nicht erwünscht. Aber schon im
November, jetzt als Gruppenleiter Ost, habe Canaris ihn bei einer Besprechung
der Abwehrabteilung liebenswürdig entgegenkommend behandelt.539 Gehlens
Behauptung, er habe nach der Amtsübernahme FHO bald einen »engen per­
sönlichen Kontakt« zum Admiral gepflegt, ist durchaus glaubwürdig, obwohl
zwischen beiden immer noch ein nicht geringer Alters- und Rangunterschied
bestand. Der Admiral war ein hochdekorierter U-Boot-Fahrer im Ersten Welt­
krieg gewesen, ein Abenteurer in jungen Jahren und später ein höchst profes­
sioneller Spionagechef – da konnte ihm der nette Oberst aus dem OKH kaum
das Wasser reichen.
Nach der Entlassung von Canaris am 11. Februar 1944 wegen angeblich gro­
ber Fehlleistungen der Abwehr und nach seiner Verhaftung am 23. Juli 1944, als
der Gestapo das Tagebuch des Admirals in die Hände fiel, ist Gehlen nicht ins
Visier der Häscher geraten. Besonders eng kann der Kontakt also kaum gewe­
sen sein. Trotzdem legen die Ausführungen in seinen Memoiren nahe, dass
Gehlen am Ende seiner eigenen Laufbahn in Canaris offenbar ein Alter Ego zu
erkennen glaubte. Er schildert den Admiral mit verständnisvollen Worten und
Charakterisierungen, wie er sie wohl auch für sich selbst in Anspruch genom­
men hätte, obwohl, wie sich zeigen wird, er ihnen nur teilweise zu entsprechen
vermochte.
Canaris sei tief religiös gewesen, mit einer untadeligen Haltung als Offizier,
der mit Bildung und Weitblick die meisten anderen Offiziere weit überragte,
mit einem feinen Empfinden für politische Entwicklungen, »die er oft mit gera­
dezu prophetischer Sicherheit vorausahnte«. Allerdings habe er nicht immer
die richtigen Gesprächspartner gefunden, die bereit waren, seine Prognosen
ernst zu nehmen. Canaris habe sich seinem Eid verbunden gefühlt und deshalb
ein mögliches Attentat auf Hitler abgelehnt. Ein Staatsstreich, so meinte sich
Gehlen an ein Gespräch mit Canaris im Jahre 1942 erinnern zu können, sei
nur im äußersten Notfall und nur durch den Erfolg gerechtfertigt. Der Han­
delnde müsse dabei aber für sich und seine Familie alle Risiken auf sich neh­
men. Canaris habe so gehandelt – womit unausgesprochen blieb, dass sich

538 Gehlen, Der Dienst, S. 36 – 44.


539 Stellungnahme zu Canaris für Elke Fröhlich, 10.12.1971, IfZ, ED 100-69-156.

298
Gehlen selbst anders entschieden hat. Sein Hinweis darauf, dass der Admiral
von der Gestapo gefoltert worden ist, gibt einen Hinweis auf vermutlich tief sit­
zende persönliche Ängste. Dass Canaris schon früh an seiner eigenen Legende
gearbeitet und es vorgezogen hatte, sich als scheuer Einzelgänger mit wenigen
Vertrauten zu umgeben, waren Verhaltensweisen, die, wenn sie nicht in Gehlen
selbst angelegt waren, diesem als Vorbild gedient haben können.
Bemerkenswert ist sein Hinweis auf ein anderes Gespräch, in dem Cana­
ris empört davon berichtet habe, dass Hitler die Ermordung von Churchill in
Auftrag gegeben habe. Die Abteilung II der Abwehr, in deren Zuständigkeit
Anschläge und Sabotage fielen, habe aber, so versicherte Gehlen in seinen
Erinnerungen, im Gegensatz zum KGB den politischen Mord abgelehnt. Diese
Einlassung ist durchaus glaubwürdig, denn er hat später für sich die Konse­
quenz gezogen, keine »IIer« Arbeit durch seine Organisation bzw. den BND
durchführen zu lassen – wohlgemerkt in Friedenszeiten. Im Kriegsfall gehör­
ten Anschläge und Sabotage zum gängigen Repertoire.540 In einem dritten
von ihm geschilderten Gespräch mit Canaris hätten beide über die getrennt
voneinander gewonnene Erkenntnis gesprochen, dass es in der obersten deut­
schen Führung einen sowjetischen Spion geben müsse. An dieser Stelle fügte
Gehlen die bei Veröffentlichung seiner Memoiren als Sensation gehandelte
Behauptung ein, diese Person sei Martin Bormann gewesen, der Sekretär des
»Führers«.541 Das war nachweislich falsch.
Dass Canaris einen solchen, aus heutiger Sicht absurden Verdacht geäußert
haben soll, ist denkbar, wahrscheinlicher aber als Hintergrund des Gesprächs
war die Aufdeckung der sogenannten Roten Kapelle, einer angeblich weitver­
zweigten sowjetischen Widerstands- und Spionageorganisation, die bis in das
Reichsluftfahrministerium reichte. Gehlen selbst hat noch als Präsident des
BND daran geglaubt, dass die Rote Kapelle nach Kriegsende weiter existier­
te.542 Wenn er in seinen Memoiren »enthüllt«, er habe in den 1950er-Jahren
»die Gewißheit« erlangt, dass Bormann bei Kriegsende zu den Sowjets über­
gelaufen und inzwischen in der UdSSR gestorben sei, dann wirft das zum einen
die Frage auf, warum er diese »Gewißheit« nicht schon früher der deutschen
Öffentlichkeit offenbart hatte. Und zum anderen wäre diese »Gewißheit« einer
der größten Irrtümer seines Lebens gewesen.
Daraus ist später die von Gehlen geförderte Legende entstanden, ihm hätte
die deutsche Spionageorganisation im Osten unterstanden. Diese gehörte
jedoch bis zum Frühjahr 1944 zur Abwehr und wurde von dort gesteuert und

540 Siehe hierzu die UHK-Studie von Agilolf Keßelring: Die Organisation Gehlen und die
Neuformierung des Militärs in der Bundesrepublik, Berlin 2017.
541 Gehlen, Der Dienst, S. 39.
542 Siehe dazu Sälter, Phantome.
fachlich betreut. Das galt formell auch nach der Entmachtung von Canaris, als
Hitler die Abwehr in die Zuständigkeit des RSHA überführen ließ. Es lag auf
der Hand, dass die militärische Frontaufklärung, ebenso wie die für spezielle
Aufgaben im feindlichen Hinterland eingesetzte Division »Brandenburg« der
Abwehr, nicht völlig in den politischen und polizeilichen Apparat des RSHA
aufgehen und von dort geleitet werden konnte. Das hätte den notwendigen
Zusammenhang mit einer geordneten militärischen Führung zerreißen kön­
nen. Deshalb intervenierte der Chef des OKW bei Hitler und sorgte dafür,
dass FHO den Zugriff auf die Frontaufklärung behielt, deren Chef, Oberst i. G.
Georg Buntrock, allerdings ins RSHA abgestellt wurde und als eine Art von
Verbindungsoffizier zwischen Heer und SD-Führung wirkte. Gehlen konnte
damit gut leben, denn Buntrock war als ehemaliger Ic-Offizier ein guter
Bekannter von ihm.
Was hat Gehlen aus dem Scheitern von Canaris gelernt? Wenn er in sei­
nen Memoiren 25 Jahre später meinte, der Admiral sei eben ein »vornehmer
Charakter«543 gewesen, der zu sehr der Loyalität seines Kontrahenten Schel­
lenberg vertraut und zu spät gegengehalten habe, dann war das keine nach­
trägliche Erkenntnis. Gehlens Verhalten nach 1945 zeigt, dass er schon früh
für sich Konsequenzen für den Aufbau eines neuen deutschen Nachrichten­
dienstes gezogen hat. Von Nachteil war aus seiner Sicht die Zersplitterung der
Zuständigkeiten sowie eine fehlende einheitliche Führung, die frühzeitig und
skrupellos gegen mögliche Konkurrenten Front machen und sich stets um eine
enge Verbindung zur politischen Führung bemühen sollte. Wenn sein Kontakt
zu Canaris 1942/43 tatsächlich so eng gewesen sein sollte, wie er behauptete,
dann muss ihm damals bereits klar geworden sein, dass die undurchsichtige
und im Stillen widerständige politische Haltung des Admirals verhindert hat,
jene Rückendeckung bei der obersten Führung zu erhalten, die für die Existenz
eines mächtigen militärischen Nachrichtendienstes unerlässlich war.
Gehlen hat zumindest bei FHO damit begonnen, die für einen Nachrich­
tendienst unabdingbare systematische Arbeit zu organisieren. Canaris war
ein Abenteurer, der sich um internationale Netzwerke und die Durchführung
von Erkundungsaufträgen kümmerte. Gehlen dagegen ließ sich von der Über­
legung leiten: Was muss ich wissen, um der eigenen Führungsspitze ausrei­
chende Entscheidungsgrundlagen liefern zu können?544 Dafür bemühte er
sich, Informationen zu beschaffen, mit den zwangsläufig unzulänglichen Mög­
lichkeiten, über die er im Zweiten Weltkrieg verfügte. Dass er auf diese Weise

543 Gehlen, Der Dienst, S. 42.


544 Interview von Andreas J. Dobmeier mit Karl Ogilvie, ehemals Referatsleiter bei FHO,
11.8.1981, BA-MA, MSg 2/3240, S. 36.

300
auch sein eigenes berufliches Fortkommen beförderte, war selbstverständlich.
Aufgrund seines Ehrgeizes und seines bislang erfolgreichen Karrieremusters
konnte er annehmen, dass er sich in seiner neuen Position durch fleißige und
systematisch angelegte Arbeit so nützlich, ja unentbehrlich machen konnte,
dass er sich für höhere Aufgaben empfahl. Bisher hatte er es vermieden, für
längere Zeit in einer fachlichen Sackgasse stecken zu bleiben.

9. Exkurs zur Geschichte des militärischen Nachrichten­


dienstes in Deutschland
Reinhard Gehlen war Anfang 1942 zufällig in den Bereich Feindaufklärung
geraten. Er war bemüht, die ihm fehlende praktische und theoretische Vor­
bildung nachzuholen und sich schnell in ein neues Fachgebiet einzuarbeiten.
Viel Zeit dafür blieb Gehlen im März/April 1942 nicht. Der Einstieg wurde ihm
dadurch erleichtert, dass Halder eigentlich nur eine verlässlichere Prognose
über die feindlichen Kapazitäten und operativen Absichten erwartete. Das
gehörte zur Routine des militärisch-operativen Geschäfts, und es kam ledig­
lich darauf an, die von den Armeen und Heeresgruppen einlaufenden Lagebe­
urteilungen und Meldungen auszuwerten und für das OKH aufzubereiten. Die
Prognosen sollten natürlich zutreffen bzw. ein hohes Maß an Wahrscheinlich­
keit besitzen, was Gehlen zwangsläufig die Grenzen herkömmlicher General­
stabsarbeit überschreiten ließ, wie schon ein Blick in die Geschichte des mili­
tärischen Nachrichtendienstes in Deutschland in den letzten 100 Jahren zeigt.
Sehr überzeugend sind die Erfahrungen der Militärs in Deutschland jeden­
falls nicht gewesen. Das von Gehlen zitierte Motto des früheren Generalstabs­
chefs Beck, die Leute seien früher auch nicht dümmer gewesen als heute und
deshalb werden sie ja irgendwelche Gründe für diese Art der Organisation
gehabt haben,545 war auch in diesem Fall wenig hilfreich. Lage und Absicht
des Feindes zu beurteilen, gehörte ebenso zur Geschichte der Kriegskunst wie
die Organisation eines Nachrichtendienstes für politische und wirtschaftliche
Zwecke eines Staates. Armeen sind seit alters her nicht nur von Spähern und
Kundschaftern begleitet gewesen, sondern auch von meist zivilen »Spionen«,
die im Hinterland des Feindes allerlei Informationen sammelten.546 Die Verbin­
dung beider Ebenen, der zivilen und der militärischen, ist nicht zwangsläufig
und – wenn gewollt – auch nicht einfach zu kombinieren. Mit der Entstehung

545 Gehlen im MGFA-Interview, 26.10.1976, S. 45, BND-Archiv, N 13/2.


546 Siehe hierzu allgemein Wolfgang Krieger (Hg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte.
Von der Antike bis heute, Köln 2007, sowie Wolfgang Krieger: Geschichte der Geheim­
dienste von den Pharaonen bis zur CIA, München 2009.

301
neuzeitlicher Massenheere und die Möglichkeit eines erschöpfenden Volks­
krieges interessierte sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts auch der »Große«
Generalstab Preußens (in Verbindung mit dem »kleinen« Generalstab der
Armeen, Korps und Divisionen) für die rechtzeitige Bereitstellung und Ana­
lyse von Informationen über fremde Armeen; das galt bis 1945 auch noch für
Fremde Heere West und Fremde Heere Ost.547
Die organisatorische Aufteilung der Generalstabsaufgabe führte in der preu­
ßischen Armee ebenso wie später in der Wehrmacht in wechselnden Gestal­
ten zu einer Zweierkombination, in der regelmäßig unterbesetzte Abteilungen
viel zu weit gestreute Ländergruppen zu betreuen hatten. Schwierig war von
Anfang an die Beschaffung strategischer Informationen, die über die taktisch­
operative Aufklärung im Kriegsfall hinausgingen. Eine organisierte Spionage
gab es in Deutschland bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nur in Ansätzen.
Der preußische Generalstab nutzte seit 1830 dazu hauptsächlich die an den
eigenen diplomatischen Gesandtschaften im Ausland tätigen Militäratta­
ches, die in einem natürlichen Konkurrenzverhältnis zum zivilen auswärtigen
Dienst standen und deren Möglichkeiten geheimer Nachrichtenbeschaffung
sehr begrenzt waren. Sie werteten hauptsächlich offen zugängliches Material
aus der Publizistik, aus Gesprächen oder Besichtigungen aus und betrieben
nur selten eigene Spionage.
In den Einigungskriegen zeigte sich, wie wenig solche Informationen dazu
taugten, den Feindbearbeitern im Generalstab ein zuverlässiges Bild über
den Gegner zu verschaffen. 1863 hatte der preußische Reichskanzler Otto von
Bismarck den zwangspensionierten ehemaligen Chef der Berliner Kriminal­
polizei Wilhelm Stieber für heikle Auslandsmissionen eingesetzt. Nach einem
missglückten Attentat auf Bismarck beauftragte dieser Stieber mit dem Auf­
bau einer geheimen Staatspolizei. Angesichts des bevorstehenden Krieges
gegen Österreich 1866 war er ermächtigt, im Hauptquartier des Königs eine
»Politische Feldpolizei« aufzubauen mit dem Ziel, die Militärbehörden durch
die Beschaffung von Nachrichten aus dem Ausland zu unterstützen. Stiebers
Agenten waren so erfolgreich, dass Generalstabschef Helmuth von Moltke 1867
das Nachrichten-Büro des Großen Generalstabs installierte.

547 Die Geschichte des militärischen Nachrichtendienstes in Deutschland ist bislang nicht
umfassend erforscht, was einerseits mit einer Unterschätzung der Bedeutung dieses
Bereichs zusammenhängt, andererseits auch darauf zurückzuführen ist, dass es nach
zwei Weltkriegen keine kontinuierliche Quellenüberlieferung gibt. Zu verweisen ist bis­
lang auf die im Dunstkreis von Gehlen entstandenen Schriften von Gert Buchheit: Der
deutsche Geheimdienst. Geschichte der militärischen Abwehr, München 1966, sowie
die nach Ost- und Westfront unterteilten Schriften von Oscar Reile (1962/63). Auch bei
Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 28 – 56, ist ein historischer Überblick vorhanden.

302
Hinter der großartigen Kulisse verbarg sich freilich ein eher armseliger,
dilettantischer Selbstversuch des Militärs. Mit kleinem Etat sollten zwei
festangestellte Agenten dem zivilen Polizeirat Stieber Konkurrenz machen,
geführt von Major Heinrich von Brandt, dem es an gründlichen Kenntnissen
ebenso mangelte wie an einer ordentlichen Dienstauffassung – was an Gehlens
Vorgänger Kinzel erinnert. Demgegenüber konnte Stieber im Deutsch-Fran­
zösischen Krieg von 1870/71 31 Polizeibeamte und 157 Soldaten mit zahlrei­
chen Agentennetzen im feindlichen Hinterland einsetzen. Bei ihm mussten die
Generalstäbler nachfragen, wenn sie etwas über den Feind erfahren wollten –
eine Blamage für das Militär, zumal Bismarck Stieber gegen die Militärbüro­
kratie in Schutz nahm.
Der preußische Generalstab baute daraufhin sein Nachrichten-Büro sys­
tematisch aus. Ein neuer, energischer Chef (Major Richard Ludwig Waenker
von Dankenschweil) erhielt erheblich größere finanzielle und personelle Res­
sourcen, um den Geheimdienst zur militärischen Domäne zu machen. Unter
der Bezeichnung »IIIb« wurde der militärische Nachrichtendienst als selbst­
ständige Sektion dem Oberquartiermeister III unterstellt. Diesem neuen Kon­
kurrenten setzte nach dem Tod von Stieber und der Auflösung seines Cen­
tral-Nachrichten-Bureaus lediglich das Auswärtige Amt hartnäckigen, aber
nachlassenden Widerstand entgegen. Die Diplomaten verteidigten lediglich
ihren Anspruch gegenüber einem Nebenbuhler, der im Kaiserreich immer
mächtiger wurde, ohne selbst über eine Konzeption für einen deutschen
Geheimdienst zu verfügen. Die auf den Ersten Weltkrieg zusteuernde Reichs­
führung überließ schließlich den geheimen Nachrichtendienst weitgehend
dem Generalstab und seinem Denken in ausschließlich militärischen Kate­
gorien. Sie gab damit auch die Möglichkeit aus der Hand, durch eine unab­
hängige zivile politische und wirtschaftliche Aufklärung ein besseres Bild von
den Möglichkeiten und Fähigkeiten anderer Großmächte sowie ihrer inneren
Situation zu erhalten.
Derweil expandierte der kleine Führungsstab IIIb mit seinem auswärtigen
Agentennetz weitgehend unkontrolliert, dem allerdings eine neue Konkur­
renz in Gestalt eines Marine-Geheimdienstes erwuchs. Die Zusammenarbeit
zwischen Armee und Marine war bekanntlich im deutschen Kaiserreich so
schlecht wie bei kaum einer anderen Großmacht. Der IIIb-Apparat des Heeres
breitete sich dafür im Inland aus, indem er ältere Reserveoffiziere in grenzna­
hen Bezirken beauftragte, Nachrichten über die Grenze hinweg zu beschaf­
fen. Der Austausch von Nachrichten mit anderen Geheimdiensten, etwa dem
k.u.k. Evidenz-Büro in Wien, eröffnete weitere Möglichkeiten. Als der »große
Krieg« näher zu rücken schien, ließ der Generalstab die Landwehroffiziere
in den Grenzbezirken durch junge, aktive Generalstabsoffiziere ersetzen. Im
Frieden den grenznahen Armeekorps zugeteilt, sollten sie im Kriegsfall in den

303
Oberkommandos der aus mehreren Korps zu bildenden Armeen den taktisch­
operativen Aufklärungsdienst organisieren.548
Der erste mit einer solchen Aufgabe betraute Offizier, Oberleutnant Walter
Nicolai, wuchs bald über den neuen Typus eines Nachrichten- bzw. Ic-Offiziers
hinaus. Dass Reinhard Gehlen später in ihm sein Vorbild sah, ist verständlich,
obwohl sich beide hinsichtlich ihrer Laufbahn und Qualifikation erheblich
unterschieden. Schon auf der Kriegsakademie hatte Nicolai die russische Spra­
che erlernt und sich von Anfang an für Spionage begeistert. Als junger Ober­
leutnant nutzte er seine Position beim Generalkommando des I. Armeekorps
in Königsberg, um eine Führungszentrale für ein Netz von Vertrauensmännern
in Russland aufzubauen. Seine Erfolge wurden schnell anerkannt, die Position
eines Ic-Gebiets in allen Korps-Stäben geschaffen. Das führte – wie üblich in
Großorganisationen wie dem Militär und für Gehlen später wohl vertraut – zu
einem nimmermüden Streit um Zuständigkeiten und Unterstellungsverhält­
nisse zwischen dem Kriegsministerium, der Sektion IIIb des Großen General­
stabs und den Armeekorps. Als Gehlen 1942 gleichsam als später Nachfolger
Nicolais antrat, hatte er sich in diesem Konfliktfeld zu behaupten.
Nicolai fand am Vorabend des Ersten Weltkriegs das besondere Interesse
von Erich Ludendorff, dem Chef der 2. Abteilung des Großen Generalstabs,
der ihm zu weiteren Ressourcen verhalf.549 Das war auch notwendig, denn als
der große Krieg begann, erwies sich, dass IIIb wohl in der Lage gewesen war,
den französischen und russischen Aufmarsch rechtzeitig zu melden, aber
nicht über genügend Informationskanäle verfügte, um die feindlichen Ope­
rationsabsichten vorausschauend und zutreffend zu deuten. Das trug erheb­
lich zum Scheitern der eigenen Kriegspläne im Jahr 1914 bei. Angesichts der
problematischen Trennung von Nachrichtenbeschaffung und -auswertung
waren Missverständnisse und gegenseitige Vorwürfe nahezu unvermeidlich.
Nicolai reagierte mit einer Verbesserung der Arbeit seiner Organisation.550
Die Nachrichtenoffiziere bei den Korps und Armeen wurden entlastet, indem
sie nur noch für den taktisch-operativen »Frontnachrichtendienst« verant­
wortlich waren. Die Fernaufklärung im feindlichen Hinterland übernahmen

548 Siehe Jürgen W. Schmidt: Gegen Russland und Frankreich. Der deutsche militärische
Geheimdienst 1890-1914, Ludwigsfelde 32009.
549 Siehe ausführlich Klaus-Walter Frey: Oberst Walter Nicolai, Chef des deutschen mili­
tärischen Nachrichtendienstes IIIb im Großen Generalstab (1913-1918). Mythos
und Wirklichkeit – Biographische Beiträge, in: Geheimdienste, Militär und Politik in
Deutschland, hg. von Jürgen W. Schmidt, Ludwigsfelde 32009, S. 135-198.
550 Dazu weiterführend Markus Pöhlmann: German Intelligence at War, 1914–1918, Journal
of Intelligence History 5 (2005), S. 33-62; Kenneth J. Campbell: Colonel Walter Nicolai:
A Mysterious but Effective Spy, American Intelligence Journal 27(2009), S. 83-89.

304
Spionin für das Deutsche Reich im Ersten
Weltkrieg: Mata Hari, 1910

vom eigenen rückwärtigen Raum aus neu eingerichtete »Kriegsnachrichten­


stellen«.
Außerdem schuf Nicolai eine neue Zentrale, den »Nachrichtenoffizier Ber­
lin« (NOB), und mit ihr immer neue Möglichkeiten zur besseren Aufklärung
von Russland. Dazu gehörten die systematische Befragung von Gefangenen
und die Nutzung vielfältiger wissenschaftlich-technischer Methoden. Nico­
lai war eine eher schillernde und geltungssüchtige Persönlichkeit, die leicht
aneckte und sich während des Krieges immer stärker in den Sog politischer
Verwicklungen ziehen ließ.551 1917 bildete er in seiner Zentrale die Sektionen I
(Geheimer Kriegsnachrichtendienst), II (In- und Auslandspresse) und III (Spio­
nageabwehr). Damit nutzte er die Chance, die ihm sein Förderer Ludendorff
eröffnet hatte, nach der Entmachtung der zivilen Reichsleitung und der fak­
tischen Errichtung einer Art von Militärdiktatur den militärischen Geheim­
dienst in den politischen Raum auszudehnen. Nicolai sah seinen Apparat – wie
erst der späte Gehlen in den 1950er- und 1960er-Jahren – als unerbittlichen
Verfechter militärischer Sicherheitsinteressen und patriotischer Disziplin.

551 Ein neues Licht auf seine Biographie wirft demnächst die Edition seiner hinterlassenen
Aufzeichnungen und Tagebücher, die aus dem Bestand des Moskauer Sonderarchivs im
Auftrag des Potsdamer Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der
Bundeswehr (ZMSBw) besorgt wird.

305
Sein Ehrgeiz auf innenpolitischem Gebiet schien grenzenlos zu sein. Er zog
das Kriegspresseamt und die Oberzensurstelle an sich, schickte seine Vertreter
in das Auswärtige Amt und kontrollierte die Spionageabwehr. Sein Inlands­
nachrichtendienst verfügte über V-Männer in Betrieben, Behörden und höhe­
ren Kreisen. Schließlich ermächtigte ihn Hindenburg, die Oberste Heeres­
leitung über für die Kriegführung bedeutsame innenpolitische Vorgänge zu
unterrichten, die militärische Aufklärung im In- und Ausland einheitlich zu
leiten und die Kriegsstimmung im deutschen Volk zu erforschen. Er ließ in
der Truppe »vaterländischen Unterricht« einführen, organisierte die Propa­
ganda und die Werbung für die Kriegsanleihen, förderte die Gründung der
reaktionären Vaterlandspartei und steuerte die Stimmungsmache gegen die
Anhänger eines Verständigungsfrieden. Seine linken Gegner bezeichneten ihn
als »Vater der Lüge«, der systematischen Verdummung und der politischen
Verhetzung.552 Nachdem die Siegesillusionen zerstoben und das Kaiserreich
zusammengebrochen war, beeilte sich Nicolai, mit zwei Büchern sein Wirken
zu rechtfertigen553 – darin ähnlich Gehlen, der damit allerdings bis zu seiner
Pensionierung wartete.
Nicolai nahm vorweg, was im Zweiten Weltkrieg Heinrich Himmler, dessen
Adlatus Reinhard Heydrich und Walter Schellenberg vorschwebte: ein Über­
greifen des Nachrichtendienstes in den politischen Raum. Gehlen hat dies
unter den Bedingungen des NS-System und der damit geschwächten Posi­
tion des Militärs sorgsam vermieden, musste sich aber darauf einstellen, dass
die »schwarzen Kameraden«, insbesondere Schellenberg, den genau umge­
kehrten Weg beschritten. Das »abschreckende Beispiel für den politischen
Missbrauch nachrichtendienstlicher Macht«554 im Ersten Weltkrieg sorgte
in der Weimarer Republik dafür, dass der Geheimdienst zerschlagen wurde
und nur schrittweise wieder an Gestalt gewinnen konnte. Die zunächst auf­
gelöste Politische Polizei verbarg sich in einer Sonderabteilung des Berliner
Polizeipräsidiums und entwickelte sich erst im Zuge der nationalsozialisti­
schen Machtübernahme mit dem Geheimen Staatspolizeiamt wieder zu einer
mächtigen Institution, die sich schließlich zu einer tragenden Säule in Himm­
lers Imperiums entwickelte.
Einen Auslandsnachrichtendienst hatte die Weimarer Republik nicht. Dafür
ergriffen wieder die Militärs die Initiative. Ehemalige IIIb-Offiziere sorgten als
»Nachrichten- und Erkundungsdienst« in der vorläufigen Reichswehr und

552 Zit. nach: Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 41.


553 Walter Nicolai: Nachrichtendienst, Presse und Volksstimmung im Weltkrieg, Berlin
1920; Walter Nicolai: Geheime Mächte. Internationale Spionage und ihre Bekämpfung
im Weltkrieg und heute, Leipzig 1923.
554 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 41.

306
den Freikorps 1919/20 für die Abschirmung der Truppen gegen revolutionäre
Zersetzung, was auf die Überwachung des gesamten politischen Lebens hin­
auslief. Um nicht Ablehnung im linken und demokratischen Spektrum zu pro­
vozieren, nannte man die Einrichtung »Abwehr« (ähnlich nach 1945), schon
weil der Versailler Vertrag die Unterhaltung eines militärischen Geheimdiens­
tes untersagt hatte. Die Führung übernahm Nicolais ehemaliger Stellvertreter
Major Friedrich Gempp, der mit zehn Offizieren ins Reichswehrministerium
einzog. Seine Gruppe beschränkte sich zunächst auf die Abwehr von Spionage
und Sabotage und schloss sich der »Heeresstatistischen Abteilung« (T 3) an,
einer Tarnbezeichnung für den früheren Bereich Fremde Heere. Beschaffer
und Auswerter waren damit für kurze Zeit in einer Abteilung vereinigt.
Seit Mitte der 1920er-Jahre reorganisierte und erweiterte Gempp seine
Abwehrgruppe. Ab Mai 1928 waren die Nachrichtendienste von Heer und
Marine zusammengelegt und unterstanden dem Reichswehrminister sogar
unmittelbar, ein Jahr später dann dem Ministeramt, das 1934 in Wehrmacht­
amt umbenannt und erweitert wurde. Mit der Schaffung des Oberkommandos
der Wehrmacht 1938 unterstand ihm die Abwehr bis zu ihrer Auflösung 1944.
Sie war also eine rein militärische Dienststelle, die hauptsächlich militärische
Aufklärungsaufträge übernahm und dafür eigene Außenstellen einsetzte.
Diese Abwehrstellen wurden mit Beginn des Zweiten Weltkriegs zahlreicher,
weil sie in den besetzten Gebieten und im Frontbereich eng mit den militäri­
schen Gliederungen verbunden blieben. Der Geheime Meldedienst, d. h. die
Militärspionage, wurde von der Abwehrzentrale gesteuert.
An ihre Spitze trat 1935 mit Kapitän zur See Wilhelm Canaris ein Marineof­
fizier mit abenteuerlicher Vergangenheit und großer persönlicher Erfahrung
bei geheimen Missionen. Zwar hatte Hitler am 17. Oktober 1933 bestimmt, dass
der militärische Nachrichtendienst und die Spionageabwehr innerhalb der
Reichswehr allein von der Abwehr-Abteilung geleistet werden sollten. Aber
unter den neuen politischen Verhältnissen und bei einer schleichenden Ent­
machtung der militärischen Führungsspitze musste Canaris seinen Bereich
gegen neue Konkurrenz abschotten, die ihm vor allem durch die Gestapo auf
dem Gebiet der Spionage-Abwehr unter Reinhard Heydrich sowie dessen 1936
zusammengefasste Sicherheitspolizei entstand. Der ehemalige Marineoffizier
Heydrich pflegte zwar ein vordergründig freundschaftliches Verhältnis zu
seinem ehemaligen Förderer Canaris, aber er schuf sich ein effizientes und
gut organisiertes System der polizeilichen Überwachung, das sich nicht nur
gegen die eigene Bevölkerung richtete, sondern zunehmend auch gegen das
Ausland. Hier gerieten die Interessen von Abwehr und SD zwangsläufig in
Konflikt.
Aufseiten der Wehrmacht gelang es dagegen Canaris nicht, den Wildwuchs
nachrichtendienstlich tätiger Stellen zusammenzufassen, ihre Aktivitäten

307
zu koordinieren und ihre Ergebnisse zentral auszuwerten.555 Dazu gehörte
das sogenannte Forschungsamt, von Hermann Göring bereits im April 1933
in seiner Funktion als Preußischer Ministerpräsident gegründet. Später dem
Reichsluftfahrtministerium zugeordnet, sorgte es für die gesamte Überwa­
chung von Telefon, Funk und Telegrammdienst. Fernmeldeaufklärung betrieb
auch die Kriegsmarine mit ihrem sogenannten B-Dienst; die Luftwaffe entwi­
ckelte ihre eigene Luftaufklärung, das OKW zog 1938 die Chiffrierabteilung
aus der Abwehr heraus und unterstellte sie einem Chef der Wehrmacht-Nach­
richtenverbindungen. Das Auswärtige Amt, die Reichspost und die Einheiten
der Nachrichtentruppe des Heeres bildeten ebenfalls Sonderformationen zur
Beschaffung von Nachrichten. In den diplomatischen Dienst wurden einige
Vertreter der Abwehr integriert, was naturgemäß nicht spannungsfrei ablief,
da die Diplomaten ihre Kompromittierung fürchteten, weshalb sie auch die
Tätigkeit der Militärattachés argwöhnisch beobachteten. Die Beschaffung
politischer Nachrichten betrachteten sie als ihre Domäne. Das Auswärtige
Amt richtete schließlich eine eigene kryptologische Abteilung ein (Referat Z),
die Informationen über andere Länder sammelte. Bestrebungen zur Einrich­
tung eines eigenen Nachrichtendienstes, bei denen Gehlens ehemaliger Regi­
mentskamerad Andor Hencke als Unterstaatssekretär eine besondere Rolle
spielte, blieben jedenfalls virulent.
Admiral Canaris, der dem NS-Regime gegenüber kritisch eingestellt war
und dessen zunehmend verbrecherischen Charakter ablehnte, stand mit sei­
nem undurchsichtigen, ausweichenden Kurs gegenüber der SS und ohne aus­
reichenden Rückhalt in der militärischen Führungsspitze bald auf verlorenem
Posten. Hatte er 1936 noch erreichen können, dass die »Gegenspionage«, d.h.
die Aufklärung der militärischen Spionage fremder Staaten, zu den Aufga­
ben der Abwehr kam, während die Verfolgung der Fälle von Landesverrat der
Gestapo oblag, musste er an das 1939 von Heydrich geschaffene Reichssicher­
heitshauptamt schrittweise Kompetenzen abgeben. Das betraf zunehmend
auch den Bereich des Auslandsnachrichtendienstes, in dem der Sicherheits­
dienst unter Walter Schellenberg ebenfalls tätig wurde, die Abwehr auf die
militärische Berichterstattung zu beschränken versuchte und schließlich den
gesamten Geheimen Meldedienst zu übernehmen trachtete.556
Die Leistungsfähigkeit des in der Amtsgruppe Ausland/Abwehr des OKW
organisierten militärischen Nachrichtendienstes war und ist umstritten. Die

555 Die nachfolgende Darstellung basiert auf der 2014 als internes Studienmaterial für die
UHK angefertigten Untersuchung von Florian Altenhöner: Zwischen Frontaufklärung
und Fernerkundung: Rahmendaten zu einer Geschichte der Abwehr und ihres Perso­
nals, 1939-1945.
556 Reinhard R. Doerries: Hitlers Intelligence Chief: Walter Schellenberg, New York 2008.

308
Tätigkeit der Abwehroffiziere genoss innerhalb der Wehrmacht kein hohes
Ansehen. Der innere Zusammenhalt dieser heterogenen Truppe blieb gering.
Obwohl später der Mythos von einer »sauberen« Abwehr gepflegt wurde, bil­
dete die Gruppe der regimekritischen Offiziere nur eine kleine Minderheit. Es
wird geschätzt, dass etwa 50 von ihnen mit dem Widerstand in Verbindung
standen.557 Offiziere jüdischer Abstammung konnten in ihren Dienststellun­
gen gehalten werden.558 Abgesehen von der Mitwirkung bei der Bekämpfung
von Partisanen und feindlichen Agenten ist die Abwehr offenbar nicht direkt
in die großen nationalsozialistischen Verbrechenskomplexe einbezogen gewe­
sen. Durch die enge Zusammenarbeit mit dem RSHA war allerdings eine klare
Abgrenzung auch kaum möglich.
Die Amtsgruppe Ausland spielte ohnehin keine große Rolle, obwohl sie
eigentlich die Stelle im OKW, die die eingegangenen politischen und militä­
rischen Nachrichten auswertete,559 sich dabei im Wesentlichen aber auf die
Auslandspresse beschränkte. In der Amtsgruppe Abwehr blieb die geheime
Beschaffung von Nachrichten über fremde Streitkräfte – Aufgabe der Abtei­
lung I – ohne spektakuläre Erfolge. Bis zur Ablösung des Leiters und Canaris-
Vertrauten Hans Pieckenbrock (1893-1959) im März 1943 und seine Ersetzung
durch Oberst Georg Hansen waren Korruption und auch dadurch bedingte
Ineffizienz ihr Kennzeichen. Der britische Geheimdienst hatte vor seinem
deutschen Gegner keinen Respekt und stellte ihm 1943 ein vernichtendes
Zeugnis aus: Die Abwehr habe ihr Arbeitsfeld vor Kriegsausbruch nicht gründ­
lich vorbereitet. Die Organisation sei auf dem Papier logisch aufgebaut, aber
bei der Umsetzung gebe es Schwächen. Viele Agenten seien schlecht ausge­
bildet und ungeeignet. Ihre Abdeckung sei oft mangelhaft, die Auswertung
der Berichte nicht sorgfältig genug, denn sonst würde man die von den Briten
umgedrehten Agenten entdecken müssen. Es werde eine ungewöhnlich große
Zahl von falschen und irreführenden Informationen erstellt, ohne dass die
unfähigen oder korrupten Informanten entfernt würden. Insgesamt habe die
Abwehr keinen Erfolg von strategischer Bedeutung erzielt.560

557 Heinz Höhne: Canaris – Patriot im Zwielicht, München 1984, S. 407.


558 Winfried Meyer: Unternehmen Sieben. Eine Rettungsaktion, Berlin 1993.
559 Siehe insgesamt Das Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht. Eine
Dokumentation, hg. von Norbert Müller, Koblenz 2007.
560 Tagebuch von Guy Liddell, Leiter der Gegenspionage von MI5, 22.10.1943, nach dem
Auszug in www.fpp.co.ul/History/Liddell/diary_1943.pdf. In der von Nigel West besorg­
ten Edition der Tagebücher fehlt dieser im National Archives, Kew vorhandene Ein­
trag. Zur Kritik an der Edition siehe Euran O’Halpin: The Liddell Diaries and British
Intelligence History, in: Intelligence and National Security 20.4(2005), S. 670-686. Den
Hinweis verdanke ich Florian Altenhöner.

309
Sabotage und Zersetzung als Aufgabe der Abteilung II hingegen erwiesen
sich als nützliche Instrumente für Hitlers Expansions- und Eroberungspoli­
tik. Das zeigte sich 1938 in der Tschechoslowakei ebenso wie 1939 in Polen
und 1941 beim Angriff auf die Sowjetunion. Für diese Zwecke verfügte Canaris
über speziell aufgestellte Kommandoverbände von beachtlicher Stärke, allein
gegen Polen waren es rund 10.000 Mann.561 Aus ihnen erwuchs im Verlauf des
Zweiten Weltkriegs auch eine Reihe von »fremdvölkischen« Sondereinheiten.
Die Abteilung III sollte Spionage, Sabotage und Zersetzung in Wehrmacht und
Gesellschaft verhindern, was sich wegen der zwangsläufigen Konflikte mit
Gestapo und SD hauptsächlich darauf beschränkte, Wehrmachtangehörige
über den Geheimschutz zu belehren, Vorschriften zu erarbeiten und z. ß. die
Polizei bei der Bearbeitung von Korruptionsfällen zu unterstützen.
Das undurchsichtige Netz von Abwehrsteilen, -neben- und -leitstellen ent­
wickelte sich zu einem regelrechten Wildwuchs. Nicht selten entsandten meh­
rere Stellen unkoordiniert V-Leute in bestimmte Länder. Da sich bereits im
Polenfeldzug erwiesen hatte, dass die Kommunikationswege zwischen Abwehr
I des OKW und Fremde Heere im OKH zu umständlich waren, installierte Cana­
ris 1941 für den Überfall auf die Sowjetunion zunächst den Stab »Walli I« als
zentrale Führungsstelle des Geheimen Meldedienstes an der Ostfront. Zu die­
ser Dienststelle unter Major Hermann Baun zählten einschließlich russischen
Hilfskräften bis zu 500 Mann.562 Nach der Ausweitung des Ostkrieges richtete
man entsprechend die Stäbe »Walli II« und »Walli III« ein. Es gehörte zu den
wichtigen Anfangserfolgen von Reinhard Gehlen als neuer Chef von FHO, sich
zumindest in die operative Leitung von »Walli I« und »Walli III« einschalten
zu können. So konnte er die Zulieferung militärisch relevanter Nachrichten
im taktisch-operativen Bereich verbessern und stärker auf seine Bedürfnisse
ausrichten.
Reinhard Gehlen hatte seine Karriere als Generalstabsoffizier im operati­
ven Bereich gemacht. Dort lag seine Leidenschaft, dort hatte er seine wichtigs­
ten Erfahrungen gesammelt, bevor er zufällig die Chance erhielt, die Abteilung
Fremde Heere Ost zu übernehmen. Die von ihm ausgebaute Abteilung war die
Zentrale, bei der die taktisch-operativen Informationen über den Feind, die
auf Divisions- und Armee-Ebene von den Ic-Offizieren gesammelt wurden,
ausgewertet und zusammengefasst wurden. Mit dem militärischen Nach­
richtendienst, d. h. der Beschaffung von Nachrichten politisch-strategischer
Bedeutung, hatte das wenig zu tun. Entsprechend der grundlegenden Heeres-

561 Siehe Dietrich F. Witzei: Kommandoverbände der Abwehr II im Zweiten Weltkrieg, Mili­
tärgeschichtliche Beiträge 4 (1990), S. 113 -129. Der Verfasser war Abwehroffizier u. a. in
Afghanistan.
562 Kahn, Hitler’s Spies, S. 249.

310
Dienstvorschrift für Offiziere »Truppenführung« (HDv 300)563 maß man dem
Nachrichtendienst zwar eine Bedeutung für den Prozess der taktisch-opera­
tiven Entscheidungsfindung zu, da aber im Kampfgeschehen die Ungewiss­
heit die Regel sei und der Truppenführer bei seinen Entschlüssen nicht darauf
warten könne, bis er alle Informationen über den Feind besitze, war der mili­
tärische Führer im Gefecht aufgefordert, herauszufinden, welches mögliche
Verhalten des Gegners die eigenen Truppen am meisten stören würde. Diese
Aufgabe erfordert weniger Scharfsinn und Geschick als die umfassende Fest­
stellung des wahrscheinlichen Feindverhaltens.564

10. Rückzugsgefechte (1943/44)


Wenige Tage nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad erhielt Rein­
hard Gehlen eine niederschmetternde Nachricht. Sein von ihm verehrter Vater
war am 12. Februar 1943 im Alter von 72 Jahren in Breslau gestorben. Der ver­
hinderte Berufssoldat hatte ein beschauliches Leben als Verlagsbuchhändler
geführt und ist sicher stolz darauf gewesen, dass sein Zweitgeborener es so
weit an die militärische Führungsspitze gebracht hatte. Walther Gehlen war zu
Beginn des Zweiten Weltkriegs noch einmal einberufen worden und dann aus
dem Garnisonsdienst als Oberstleutnant a. D. entlassen worden. Vielleicht hat
er noch die in seinem Verlag publizierte Schriftenreihe des OKW zum Berufs­
förderungsdienst betreut.
Sein ältester Sohn Johannes leistete seinen Kriegsbeitrag in der Forschung,
der dritte Sohn, Dr. Walther Gehlen, stand an der Front. Die Tochter Barbara
war mit einem ehemaligen Juristen und Kaufmann, jetzt Marine-Geschwader­
intendanten verheiratet, Walter Carlos von Gehlen (nicht verwandt mit der
Familie Gehlen), der nach kurzem Einsatz bei der Royal Navy nach Kriegsende
nach Brasilien ging, eine Firma gründete und sich mit Erfolg um eine Anstel­
lung bei der Deutschen Botschaft beim Handelsattache bemühte. Dann wurde
er als Wirtschaftsberater bei der deutschen Vertretung in Portugal eingesetzt.
Ein Bruder von ihm arbeitete beim Amt Blank, dem Vorläufer des Bundesver­
teidigungsministeriums, was zu einigen Namensverwechslungen führte.
Der Chef von Fremde Heere Ost hatte auch deshalb Grund, einen Heimatur­
laub zu beantragen, weil seine 39-jährige Frau hochschwanger war und sicher
nicht allein zur Beerdigung ihres Schwiegervaters fahren wollte. Die Schwie­

563 Heeresdienstvorschrift 300: Truppenführung, Berlin 1936.


564 Geoffrey P. Megargee: Hitler und die Generäle. Das Ringen um die Führung der Wehr­
macht 1933-1945, Paderborn 2006, S. 132.

311
germutter und dritte Ehefrau des Verstorbenen war als ehemalige Schulleite­
rin eine strenge und eher harte Frau, die Gehlens Kinder nach dem Krieg nur
gelegentlich in Bruchsal besuchten, wo sie eine neue Heimat gefunden hatte.
Gehlen dürfte bei der Beerdigung in Breslau auch seinen Schwiegervater, den
70-jährigen Friedrich-Wilhelm von Seydlitz-Kurzbach, getroffen haben, der als
alter Kavallerist ebenfalls bei Kriegsbeginn noch einmal die Uniform der Wehr­
macht angezogen hatte. Weshalb sein Schwiegervater noch Anfang 1942 einen
Antrag zur Aufnahme in die NSDAP gestellt hat, ist nicht bekannt.565 Gehlens
dritte Tochter, Dorothee, kam wenige Tage nach der Beerdigung des Großva­
ters am 28. Februar 1943 in Liegnitz zur Welt und wurde in der evangelischen
Standortkirche St. Peter und Paul getauft.
Zurück im ostpreußischen Mauerwald, fand Gehlen ein Schreiben von
Generalmajor Gerhard Matzky vor. Dieser hatte gerade als Kommandeur die
21. Infanterie-Division übernommen, die sich im Stellungskrieg an der Lenin­
grad-Front befand.566 Er berichtete von den Versorgungsproblemen seiner
Division in der laufenden 2. Abwehrschlacht am Ladogasee. Die beiden kann­
ten sich womöglich aus der Zeit, als der ältere Matzky 1936 Erster General­
stabsoffizier beim Gruppenkommando I in Berlin gewesen war. Danach war er
Militärattaché in Tokio geworden. Matzky, der später zu den Männern gehörte,
die Gehlen beim Aufbau der Org heranzog, baute 1951 den Bundesgrenzschutz
auf und trat 1956 in die Bundeswehr ein, wo er es bis zum Kommandierenden
General des I. Korps brachte.
Im Frühjahr 1943 spielten beide Generalstabsoffiziere unterschiedliche Rol­
len. Matzky machte Karriere mit seinem Frontkommando, Gehlen zeigte sich
unberührt von dem in Führungskreisen um sich greifenden Pessimismus und
stürzte sich verstärkt in das operative Geschäft des OKH, obwohl das nicht
mehr zu seinen eigentlichen Zuständigkeiten gehörte. Der deutsche Gegenan­
griff bei Charkow und die daraus folgende ungewöhnliche Operationsführung
durch Manstein (Schlagen aus der Hinterhand)567 führten dazu, dass es der
Roten Armee nicht gelang, den Dnjepr zu erreichen und den Frontbogen bei

565 Schreiben des Aufnahme-Amtes der NSDAP an den Gauschatzmeister des Gaues War­
theland vom 7.3.1942, Auskunft Deutsche Dienststelle vom 29.11.2013. Der Antrag
wurde zurückgegeben, weil der Antragsteller Angehöriger der Wehrmacht sei und des­
halb nach den Bestimmungen vom 21. September 1939 nicht förmlich Parteimitglied
werden konnte. Die Umstände deuten darauf hin, dass Seydlitz-Kurzbach vermutlich
einer Wehrmachtdienststelle im Warthegau angehörte. Vielleicht wollte er sich mit
dem überflüssigen Antrag politisch gegen örtliche Parteistellen absichern. Er starb
hochbetagt am 12. März 1958.
566 Schreiben vom 27.2.1943, BA-MA, MSgl/1428.
567 Zur militärischen Entwicklung und Mansteins Gegenoffensive siehe Das Deutsche
Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, S. 1075-1082.

312
Reinhard Gehlen (1. Reihe, Mitte) im Kreis der FHO-Offiziere, 1943

Kursk auszuweiten. Am 24. März konnte Manstein im Süden seine Operation


zu einem eindrucksvollen Erfolg abrunden. Davon blieb auch Gehlens Lagebe­
urteilung nicht unberührt. Schon wegen des beginnenden Tauwetters war eine
kurzzeitige Beruhigung der Front zu erwarten, aber trotz der erheblichen Ver­
luste auch auf sowjetischer Seite musste damit gerechnet werden, dass Stalin
seine zahlenmäßig weit überlegenen Verbände bei Sommerbeginn zu größeren
Offensiven antreten lassen würde. Was würden seine Absichten sein?
Die westlichen Alliierten hatten beim Kampf um Tunis wertvolle Zeit verlo­
ren. Eine große Invasion im Westen war in diesem Jahr nicht mehr zu erwarten,
wohl aber weitere Landungen und Vorstöße im Mittelmeerraum, die vielleicht
zum Abzug von kampfkräftigen deutschen Einheiten aus dem Osten führen,
aber wohl kaum eine Kriegsentscheidung herbeiführen könnten. Lag diese
Chance bei Stalin, wie sich Gehlen in seiner »Beurteilung der Feindabsichten
vor der deutschen Ostfront im grossen« am 23. März 1943 fragte? Aufgrund
der neuesten Abwehrmeldungen glaubte er sicher anzunehmen zu können,
dass der Gegner zu einer kriegsentscheidenden Sommeroffensive nicht in der
Lage sei, wohl aber zu Operationen mit weitreichenden Zielen.568 Derzeit, so

568 Beurteilung der Feindabsichten vom 23.3.1943, in: Zusammenstellung, BA-MA, RHD
18/249, S. 74 – 79.

313
Gehlen, gebe es kein klares Bild, vermutlich werde die Rote Armee sowohl
gegen die Heeresgruppe Nord als auch gegen die Heeresgruppe Süd vorgehen,
um die deutschen und finnischen Kräfte im Norden voneinander zu trennen
und die Ostsee für die eigene Flotte zu öffnen sowie die wertvolle Ukraine als
Ernährungsbasis zurückzugewinnen, samt einer erwünschten Bedrohung des
Balkan.
Gehlens Prognose war letztlich nur wieder eine Erörterung naheliegender
Vermutungen, beeinflusst wohl auch von den unterschiedlichen Auffassungen
auf deutscher Seite, wie man sich selbst einstellen sollte: die Kräfte Zusam­
menhalten, um dann aus der Defensive die möglichen Angriffe im Osten und
Westen abzuwehren, oder wie im Vorjahr die Initiative ergreifen und der Roten
Armee in einer Abnutzungsschlacht so schwere Verluste beibringen, dass sie
sich im Verlaufe des Jahres keine größeren Unternehmungen mehr leisten
konnte, um sich selbst dann dem Westen zuwenden zu können? Verlässli­
che Antworten kannte natürlich auch Gehlen nicht. Sein Vorbild Manstein
als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd ließ jedenfalls von seiner Idee
ab, sofort den Marsch auf Kursk anzutreten.569 Zeitzler als Generalstabschef
schwankte, und Hitler zeigte sich wie immer entschlossen, dem Gegner nicht
die Initiative zu überlassen.
Mit Blick auf die Lagekarte bot sich ein Zangenangriff gegen den Kursker
Frontbogen an. Das würde allerdings auch der Gegner so sehen, und als, wie
vorhersehbar, die Rote Armee begann, die möglichen deutschen Angriffssek­
toren schwer zu befestigen, kamen nicht nur Hitler Zweifel, ob der Plan mit
dem Decknamen »Zitadelle« wirklich eine kluge Idee war. Als der Aufmarsch
bereits weit fortgeschritten war, überlegte er, stattdessen einen überraschen­
den Frontalangriff gegen die schwache Stirnseite des Bogens zu unternehmen,
was Zeitzler aber als nicht mehr machbar einschätzte.
Alles hing an der Panzerfrage. Auf deutscher Seite erhoffte man sich von
einem Masseneinsatz der neuen Tiger- und Panther-Panzer einen durch­
schlagenden Erfolg gegen die zahlenmäßig hoch überlegenden sowjetischen
Panzerverbände sowie gegen die »Panzerabwehrfestung« (Karl-Heinz Frieser)
Kursk. Doch es gab technische Probleme bei der Auslieferung und dem Einsatz
der Fahrzeuge. Heinz Guderian als Generalinspekteur der Panzertruppen plä­
dierte für eine zeitliche Verschiebung der Offensive, um genügend Ersatzteile
für die zweite Phase bereithalten zu können. In dieser Situation war es wich­
tig zu wissen, über wie viele Panzer die Rote Armee verfügte, um berechnen
zu können, was bei einer Verschiebung der Offensive Rüstungsminister Speer
noch aus den deutschen Fabriken herausholen konnte. Ein Wettlauf mit der

569 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 69.

314
Gehlen (vorn) bei der Ansprache zu Hitlers Geburtstag, 1943

Zeit begann, bei dem der Vorteil eindeutig auf sowjetischer Seite lag, weil sie
über einen sehr guten Einblick in den deutschen Aufmarsch verfügte.
Nun musste sich Gehlens neues System der systematischen Beschaf­
fung und Auswertung von Informationen bewähren. FHO errechnete am
24. März 1943 einen Bestand von aktuell 4300 sowjetischen Panzerfahrzeugen.
Bis Anfang Mai würde, so nahm man an, die sowjetische Rüstungsindustrie
1900 neue Panzer bereitstellen können.570 Tatsächlich befanden sich Anfang
Juli 1943 an der Ostfront insgesamt 16.087 Panzer auf sowjetischer Seite und
3524 auf deutscher,571 während Gehlens Zahlen eine hinnehmbare Überlegen­
heit der Roten Armee (6200 gegen 3500) suggerierten. Mehr als 10.000 sowjeti­
sche Panzer waren den Statistikern von FHO entgangen!
Es machte jedenfalls keinen Sinn, den Angriff um einige Wochen zu ver­
schieben, weil damit die Überlegenheit der Sowjetunion nur noch drückender
geworden wäre. Mit der Kapitulation der Heeresgruppe Afrika am 13. Mai 1943
rückte auch der Zeitpunkt einer möglichen Landung der Alliierten auf dem
europäischen Festland näher. Am 5. Juni 1943 meldete sich Gehlen zum Lage­
vortrag bei Generalfeldmarschall August von Mackensen, offenbar ein Rou­
tinetermin, den er im Auftrag Zeitzlers absolvierte. Der 94-Jährige, ältester
Feldmarschall der Wehrmacht, verkörperte das untergegangene Kaiserreich,
und die Heeresführung ehrte ihn traditionell, mit Zustimmung Hitlers, mit
einer solchen Geste. Mackensen nutzte hin und wieder die Gelegenheit, eigene

570 Aufstellung FHO (II) vom 24.4.1943, BA-MA, RH 2/2586.


571 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, S. 84 (Tabelle).

315
Gedanken als ehemaliger Heerführer des Ersten Weltkriegs zu äußern, die für
seinen ehemaligen Gefreiten natürlich nicht von Belang war.
Mackensens Vorstellungen entsprachen aber offenbar den Einschätzungen
von Gehlen selbst, der diese Begegnung daher nutzen konnte, seinen Bericht
für Zeitzler so abzufassen, dass dieser indirekt animiert wurde, Hitler zu infor­
mieren. Im Hinblick auf die Gesamtkriegslage solle Deutschland, so angeblich
der greise Feldmarschall, im Osten defensiv bleiben »und den Russen anren­
nen« lassen. Dabei werde die Abnutzung beim Gegner um ein Vielfaches grö­
ßer sein als die eigene. Nach dem Verlust der Beherrschung des Mittelmeeres
sei es von entscheidender Bedeutung, endlich Leningrad zu nehmen. Die Ost­
see und die Verbindung zu Finnland könne man dann fest in der Hand halten.
Außerdem wäre es dann möglich, Reserven zu bilden, mit denen man allen
Entwicklungen in Europa begegnen und den Krieg auf lange Dauer mit Erfolg
durchhalten könne.572
Immerhin kam nun Bewegung in die von Gehlen unterstützte Idee, mit der
Aktion »Silberstreifen« Rotarmisten zum Überlaufen zu bewegen und so die
Offensive bei Kursk vorzubereiten. Einzelheiten besprachen Hitler, Keitel und
Zeitzler auf dem Berghof am 8. Juni 1943. Der »Führer« genehmigte zwar das
von Gehlen abgezeichnete Flugblatt, nicht aber die Absicht, Erklärungen des
Smolensker Komitees mit den Vorstellungen von Wlassow zum Neuaufbau
Russlands beizulegen.573 Die Aktion erwies sich als Fehlschlag, weil sich nur
wenige Hundert Sowjetsoldaten zum Überlaufen entschlossen. Aber Gehlen
tendierte jetzt dazu, sich stärker einzubringen, spürte er doch, dass seine Vor­
gesetzten, je näher der Angriffstermin rückte, nicht recht an einen durchschla­
genden Erfolg oder eine Kriegswende glauben mochten. Die Oberbefehlshaber
konnten sich aber trotz aller Zweifel nicht dazu entschließen, Hitler von der
Durchführung des Unternehmens abzuraten, was Manstein später in sei­
nen Memoiren als »Fehler« bezeichnete.574 Der Erste Generalstabsoffizier in
der Operationsabteilung klagte, es werde »weitergewurstelt, solange bis das
Unglück passiert ist. Warum gibt es eigentlich noch einen Chef des General­
stabs des Heeres? Ich weiß es nicht.«575
Gehlen trieb das offenbar auch um, ohne dass er freilich über Möglichkeiten
verfügte, ernsthaft den Gang der Dinge zu beeinflussen. Als Abteilungschef
musste er sich an den Dienstweg halten und hoffen, beim Chef des General­

572 Bericht Gehlens für Zeitzler vom 11.6.1943, BA-MA, RH 2/2586.


573 Lagebesprechungen, S. 253, Anm. 2.
574 Erich von Manstein: Verlorene Siege, Bonn 1955, S. 494 (zuletzt in der 18. Aufl., München
2009).
575 Kielmansegg, Eintrag in seinem Taschenkalender vom 19.5.1943, Privatbesitz, zit. nach:
Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, S. 78.

316
stabs ein offenes Ohr zu finden. Ob dieser dann entsprechend gegenüber Hitler
auftrat, lag nicht in seiner Macht. Zunächst legte er am 30. Juni 1943 in »Füh­
rertype« eine Zusammenstellung seiner Abteilung vor mit Zeitungsmeldun­
gen des neutralen Auslands und von Feindstaaten, die davon ausgingen, dass
Deutschland in diesem Sommer an der Ostfront keine große Offensive führen
werde.576 Den Schluss bildete eine angebliche Abwehrmeldung, wonach die
Alliierten der Meinung seien, eine deutsche Offensive sei im Osten nicht zu
erwarten, weil eine Offensive der Roten Armee im größten Stil bevorstehe und
sich die Lage Italiens und der besetzten Gebiete als schwierig gestalte.
Zwei Tage vor Angriffsbeginn der weit unterlegenen deutschen Kräfte bei
Kursk versuchte er es mit einer Beurteilung des Feindverhaltens bei Durch­
führung des Unternehmens »Zitadelle«.577 Zutreffend hieß es, dass der Gegner
den deutschen Angriff »unter frühzeitiger Einleitung einer Entlastungsoffen­
sive« abfangen und »im Nachzuge die vorbereiteten Angriffsoperationen in
Richtung auf den unteren Dnjepr und gegen den Raum von Orel« entwickeln
werde. Auf dieser Grundlage trug Gehlen einen Tag später dem Chef des Gene­
ralstabs seine Auffassung in aller Deutlichkeit vor. Die Operation sei »durch
keinerlei Gründe mehr gerechtfertigt«, da die beiden wichtigen Voraussetzun­
gen, Überlegenheit an Kräften zumindest im Angriffsschwerpunkt sowie vor
allem das Überraschungsmoment, nicht mehr gegeben sei – sie waren niemals
wirklich gegeben. Gehlen beschrieb, was Zeitzler seit Längerem schon wusste:

Der Russe erwartet unseren Angriff in den in Frage kommenden Abschnitten


seit Wochen und hat mit der ihm eigenen Energie sowohl durch Ausbau meh­
rerer Stellungen hintereinander als auch durch entsprechenden Kräfteeinsatz
alles getan, um unseren Stoß frühzeitig aufzufangen. Es ist also wenig wahr­
scheinlich, daß der deutsche Angriff durchschlägt. Bei der Summe der dem
Russen zur Verfügung stehenden Reserven ist auch nicht zu erwarten, daß
Zitadelle zu einem so hohen Kräfteverzehr für ihn führt, daß seine Gesamtab­
sichten zu dem ihm erwünschten Zeitpunkt wegen Mangels an ausreichen­
den Kräften später nicht mehr durchführbar würden. Deutscherseits werden
die im Hinblick auf die Gesamtlage später bitter notwendigen Reserven (Mit­
telmeerlage!) festgelegt und verbraucht. Ich halte die beabsichtigte Operation
für einen ganz entscheidenden Fehler, der sich schwer rächen wird.578

Die Einschätzung »schwer« war von Gehlen doppelt unterstrichen worden.

576 FHO (I), Zusammenstellung vom 30.6.1943, BA-MA, RH 2/2586.


577 FHO (I), Beurteilung des Feindverhaltens, 3.7.1943, ebd.
578 Aufzeichnung Gehlens über den Vortrag bei Zeitzler am 4.7.1943, ebd. (Hervorh. im
Original).

317
Gehlen dürfte nicht ernsthaft geglaubt haben, dass er damit Zeitzler veran­
lassen könnte, den Großangriff in letzter Minute abzublasen. Dieser hörte sich
den Kassandraruf an, gab ihm offenbar resignierend recht und erteilte ihm
zugleich die Anweisung: »Nach außen muß die Auffassung des Führers vertre­
ten werden.«579 Dass es Hitlers Starrsinn gewesen sei, an der die letzte deut­
sche Offensive scheiterte, hat der Generalstabchef auch später gern verbreitet
und seine eigene Unentschlossenheit damit verborgen. Als Gehlen in seinen
Memoiren behauptete, Hitler habe nicht hören wollen, schrieb Karl Jesko von
Puttkamer, der ehemalige Vertreter der Kriegsmarine im Führerhauptquartier,
Gehlen habe natürlich nicht wissen können, was sich tatsächlich abgespielt
hat und dass Hitler von der Planung des Generalstabs nicht restlos überzeugt
gewesen ist.580
Gehlen blieb so manches verborgen. Noch Mitte Juni hatte seine Abteilung
die im Abschnitt Kursk gegenüberstehenden sowjetischen Verbände bei Wei­
tem nicht vollständig aufgeklärt. Sie schätzte die Zahl der feindlichen Panzer
auf 2350. Tatsächlich waren es 8200!581 Und die gewaltigen Reserven, die in
der sogenannten Steppenfront bereitstanden, um einem sowjetischen Gegen­
angriff eine enorme Offensivkraft zu verleihen, blieben den Deutschen völlig
verborgen. Ebenso überrascht waren sie, als am Morgen des Angriffstages die
sowjetischen Bomberstaffeln zuerst über den überbelegten deutschen Front­
flugplätzen erschienen und, gestützt offenbar auf die Kenntnis der Angriffs­
planung der Luftwaffe, einen Präventivschlag versuchten.582 Das sowjetische
Unternehmen schlug nur deshalb fehl, weil die deutschen Kommandeure
innerhalb von Minuten in der Lage waren, die eigenen Planungen umzustellen
und die Jäger zuerst in die Luft zu bringen.
Nach mühsam und verlustreich errungenen Anfangserfolgen liefen sich die
beiden Angriffskeile gegen Kursk im sowjetischen Verteidigungssystem fest.
Die Befürchtungen, die Gehlen zu der ungewöhnlichen Intervention bei Zeitz­
ler veranlasst hatten, waren eingetroffen. Als zeitgleich die Alliierten in Sizilien
landeten und die wertvollsten Panzerkräfte abgezogen werden mussten, um
die Lage im Westen zu stabilisieren, warf die Gegenoffensive der Roten Armee
die Wehrmacht auf ihre Ausgangsstellungen zurück. Was dann folgte, übertraf
die Befürchtungen Gehlens bei Weitem. Weil er den Umfang der feindlichen
Kräfte falsch eingeschätzt hatte und auch während der laufenden Operatio­
nen nicht in der Lage war, Ansatz und Ziel der nachrückenden Reserven zu
erkennen, verdrängte er lange die Einsicht, dass der Gegner wider Erwarten

579 Handschriftliche Marginalie Gehlens, ebd.


580 Schreiben Puttkamers an Wilhelm Ritter von Schramm, 8.8.1973, BA-MA, N 633/3.
581 Siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, S. 101 (Tabelle).
582 Ebd., S. 105.

318
doch eine entscheidungssuchende Schlacht eröffnete. Die übliche Zuflucht zu
geringschätzigen Urteilen über die Fähigkeiten der sowjetischen Militärfüh­
rung wurde durch deren spektakuläre Erfolge konterkariert. Trotz allem hielt
sich ungebrochen der Mythos von der überlegenen deutschen Führungskunst,
verbunden stets mit dem leisen Verweis auf die unangemessenen Eingriffe des
»Führers«.
Unmittelbar nach dem Abbruch der deutschen Angriffshandlungen zeigte
sich Gehlen davon überzeugt, dass es doch immerhin gelungen sei, die Rote
Armee erheblich zu schwächen, sodass sie sich im Wesentlichen mit dem
Abschluss der laufenden Gegenangriffe begnügen werde, um eine verbesserte
Ausgangsstellung für eine spätere Winteroffensive zu erreichen. Auch wegen
der bevorstehenden Schlammperiode von September bis November werde sie
eine Pause einlegen.583 Ein eigens eingeholtes Gutachten des Wetterdienstes
über den Beginn der im Herbst witterungsbedingt zu erwartenden, jetzt aus
deutscher Sicht auch dringlich gebotenen Kampfpause machte in dieser Hin­
sicht Hoffnungen, lag aber in der Prognose daneben.584 Meteorologen waren
eben keine besseren Propheten als die Feindaufklärer, aber ebenso klug, wenn
sie in ihrem Gutachten wohlweislich die Möglichkeit einräumten, dass die
Schlammperiode vielleicht ausbleiben werde.
Während die Wehrmacht unter pausenlosen Schlägen der Roten Armee bis
zum Dnjepr zurückgedrängt wurde und sich der vollständige Verlust der Ukra­
ine abzeichnete, musste sie auch im Westen eine Reihe von Niederlagen hin­
nehmen. Nach der Kapitulation der 5. deutschen Panzerarmee am 20. Mai 1943
in Tunis (dem »2. Stalingrad«) waren die Alliierten am 10. Juli auf Sizilien
gelandet, was zwei Wochen später zum Sturz des faschistischen Diktators
Benito Mussolini führte. Das Vordringen der Alliierten auf dem italienischen
Festland bewirkte zum einen den Frontwechsel des wichtigsten deutschen
Verbündeten in Europa, und zum anderen zeigte eine Serie von schweren
Luftangriffen gegen die deutschen Großstädte und Rüstungszentren, dass Bri­
ten und Amerikaner über die Fähigkeit verfügten, das Reich aus der Luft in
die Knie zu bomben und so ihre Invasion vorzubereiten. Trotz der Rückzüge
im Osten sah sich Hitler gezwungen, die stark gefährdete deutsche Rüstungs­
produktion und die laufenden Neuaufstellungen hauptsächlich der Westfront
zur Verfügung zu stellen. Die Kriegführung im Osten musste aus der Substanz
leben, bis nach einer erfolgreichen Abwehr der Invasion die Kräfte wieder für

583 FHO (II), Zusammenfassende Beurteilung der Feindlage vor der deutschen Ostfront im
grossen, Stand 25.7.1943, Zusammenstellung, BA-MA, RHD 18/249, S. 116-120; siehe
auch Wilhelm, Prognosen, S. 53.
584 Wetterberatungsstelle beim OKH vom 30.8.1943: »Wann beginnt in diesem Jahr im Ost­
raum die herbstliche Schlammperiode?«, zit. nach: Wilhelm, Prognosen, S. 54.

319
den Osten frei sein würden. Da das OKH nur noch für die Ostfront zuständig
war und lediglich geringen Einfluss auf die Verteilung der Ressourcen hatte,
war eine solche zeitweilige Benachteiligung hinnehmbar, vorausgesetzt, man
würde den Marsch der Roten Armee nach Westen an einer verteidigungsfähi­
gen Linie (Ostwall) dauerhaft zum Stehen bringen können.
Doch danach sah es im Herbst 1943 überhaupt nicht aus. Bei seiner nächs­
ten zusammenfassenden Beurteilung der Feindabsichten vor der deutschen
Ostfront Anfang September 1943 räumte Gehlen vorsichtshalber ein, dass
er eigentlich nichts Genaues sagen könne, seine Schlussfolgerungen »rein
gedanklicher Art« seien, weil angeblich die wichtigste Agentenquelle ausge­
fallen sei und keine Abwehrmeldungen über feindliche Absichten vorlägen.
Außerdem sei in den Abwehrkämpfen die eigene Luftaufklärung erheblich
erschwert, weil der Gegner in den Schwerpunkten seine Jagdabwehr verstärkt
hatte und so größere Feindbewegungen nicht erkannt werden konnten. Ent­
gegen früheren Prognosen verfugte der Gegner offensichtlich über erhebliche
Reserven, deren Nachführung es möglich machte, die Operationen mit weit­
gesteckten Zielen fortzusetzen. Schließlich konstatierte Gehlen eine unerwar­
tete Beständigkeit der Führungseigenschaften des Gegners. Anstatt wie bisher
nach einem Durchbruch durch die deutschen Linien außerordentlich emp­
findlich auf Flankenbedrohungen durch Gegenangriffe zu reagieren, was dann
regelmäßig dazu führte, dass der feindliche Angriff in der Hauptstoßrichtung
an Kraft verlor, zeigte die operative Führung des Gegners jetzt die Fähigkeit,
dank ihrer überlegenen Kräfte die Offensive unvermindert fortzusetzen und
so die deutsche Verteidigung auf breiter Front zu erschüttern.585 Trotz oder
besser vielleicht wegen dieser alarmierenden Entwicklung vertröstete Gehlen
seine Vorgesetzten mit der Einschätzung, dass die Gesamtplanung der UdSSR
für die Kampfführung in den nächsten Monaten wesentlich vom Wetterverlauf
abhängig sein werde, und die von ihm beigefügte Prognose der Meteorologen
gab Anlass zu verkünden, der Gegner werde »vermutlich schon jetzt eine Ope­
rationspause während der Schlammzeit – gleichzeitig zur Kräfteauffrischung -
in Rechnung stellen müssen« und anstreben, günstige Ausgangsstellungen für
eine Winteroffensive zu gewinnen.586
Gut einen Monat später war er offensichtlich auch nicht viel schlauer und
verlegte sich deshalb darauf, nach dem Ausbleiben der erhofften Schlamm­
periode mit ausgreifenden Erörterungen seine Kompetenz als Feindaufklärer
unter Beweis zu stellen. Er hatte dazu eine Fülle von Informationen und Sta­

585 FHO (I), Zusammenfassende Beurteilung vom 5.9.1943, Zusammenstellung, BA-MA,


RHD 18/249, S. 129-134.
586 Ebd., S. 134.

320
tistiken Zusammentragen lassen, die ein scheinbar verlässliches Urteil über
das personelle und materielle Kräfteverhältnis zuließen, illustriert mit sage
und schreibe 29 Karten.587 Es war eine Art Zwischenbilanz des Ostkrieges mit
seiner Deutung der bisherigen Entwicklung. Die zahlenmäßige Überlegenheit
des Gegners sei von Anfang an offenkundig gewesen und habe sich eher noch
verstärkt, führte er aus. Dagegen habe die Wehrmacht ihre Überlegenheit
in der Führungskunst erfolgreich eingesetzt. Doch der Gegner habe hier in
jüngster Zeit erheblich aufgeholt und auch die Ausbildung der Truppen ver­
bessert.
Blieb die Propaganda, von der Gehlen annahm, dass die deutsche Seite
auf diesem Feld den Krieg unter den günstigsten Bedingungen eröffnet hatte.
»Gierig wie Ertrinkende griff dieses geknechtete Volk nach dem Licht, das aus
dem Westen zu ihm kam, und begrüßte uns als seine Befreier.« Stalin sei erst
1942 mit seiner Propaganda aus der Defensive herausgekommen, als ihm die
deutschen Maßnahmen bei der Behandlung der Kriegsgefangenen und wegen
der Nichteinhaltung der Versprechungen »nicht unwesentlich« in die Hände
spielten.
Gehlen nutzte die Gelegenheit, an die von ihm geförderte Aktion »Silber­
streif« im vergangenen Frühjahr zu erinnern und relativ offen Kritik einzubrin­
gen. Dabei wagte er sich ziemlich weit vor, wenngleich er sich natürlich darauf
stützen konnte, dass »Silberstreif« ein offizielles Unternehmen gewesen war,
das sowohl in der Heeresführung als auch in Teilen des Ost- und des Propagan­
daministeriums Zustimmung gefunden hatte. Nun sprach Gehlen sogar davon,
dass die Hoffnungen der Bevölkerung und der landeseigenen Verbände »stän­
dig« enttäuscht worden seien. Die feindliche Seite sei außerdem begünstigt
worden durch die »häufige unnötige Anwendung von Gewaltmitteln und – oft
ungewollter – krasser Ungerechtigkeiten von deutscher Seite gegen die Bevöl­
kerung der >befreiten< Ostgebiete«. Bei der derzeitigen Situation sei mit einer
Besserung der Propagandalage nicht zu rechnen. Angesichts der gleichblei­
benden sowjetischen Überlegenheit auf materiellem, personellem und propa­
gandistischem Gebiet könne Deutschland »nur sein höheres Führungskönnen
und den größeren Wert des Einzelkämpfers gegenüberstellen«. Gehlen warnte
im Gegensatz zu seinen früheren Beurteilungen davor, mit einem »Erlahmen«
des Gegners zu rechnen. Ausdrücklich betonte er, dass mit Sicherheit eine
starke Winteroffensive zu erwarten sei. Dann nahm er seinen Heimaturlaub.588

587 Bisherige Entwicklung des deutsch-sowjetischen Kräfteverhältnisses seit Kriegsbeginn


und seine mögliche Weiterentwicklung bis Ende 1943, Studie vom 17.10.1943, Zusam­
menstellung, ebd., S. 153-167.
588 Die nachfolgenden Beurteilungen der Feindlage sind in Vertretung von Wessel unter­
schrieben worden.

321
Seine Zweifel am »Endsieg« sind allem Anschein nach zu diesem Zeitpunkt
erheblich größer gewesen, als er es in seinen dienstlichen Stellungnahmen zu
erkennen geben durfte. Diese Einsicht war bei Gehlen durch seine Gespräche
mit Wessel gestärkt worden, der am 23. Mai 1943 zum Ia von FHO, also zu sei­
nem Stellvertreter aufgerückt war. Es war die Zeit vor »Zitadelle« gewesen, als
im Lager Mauerwald Ungewissheit und Zweifel die Stimmung gedrückt hat­
ten. Wessel war dafür empfindsamer gewesen und hatte bei seinem Chef beim
Mittagsspaziergang durch den ostpreußischen Wald ein offenes Ohr gefunden.
Dabei erörterten sie folgende Gedanken: Der Krieg ist praktisch verloren, der
Kampf gegen Bolschewismus muss (oder wird) trotzdem in irgendeiner Form
weitergehen, um das Abendland in seiner Substanz und seinen Werten (Chris­
tentum, Freiheit, Kultur) zu erhalten.589
Diese in der Rückschau von 1952 formulierten Erinnerungen Wessels zei­
gen, dass in diesen Gesprächen zweier Berufssoldaten kein politischer Tief­
gang herrschte, offenbar auch keine fundamentale Kritik am NS-Regime zur
Sprache kam, woran man sich fast ein Jahrzehnt später doch hätte erinnern
können. Was bedeutete 1943 das »Abendland«? Waren die plakativen Stich­
worte Christentum, Freiheit, Kultur nicht längst vom Nationalsozialismus in
den Schmutz gezogen worden? Nein, die beiden Herren sorgten sich, so muss
man wohl annehmen, vor allem um das eigene Überleben und die Hoffnung,
danach ein gutes Blatt für die Fortführung des Kampfes mit anderen Mitteln
in der Hand zu haben. Denn sie waren sich darin einig, dass die von FHO erar­
beiteten Unterlagen, wenn man sie rettet, nach Kriegsende in die Hände des
Westens gelangen müssten, an eine Macht, die bereit und stark genug sei,
den »Kampf mit dem Osten« weiterzuführen: die USA. Man dürfe sich durch
nichts beirren lassen im weiteren Kriegsverlauf, solange nicht die persönliche
Ehre betroffen sei. Der Berufssoldat habe seinen Dienst bis zum bitteren Ende
für das deutsche Volk zu leisten. Von der offiziellen Formel »Für Führer, Volk
und Vaterland« wollte Gehlen »Volk und Vaterland« für sich gelten lassen,
den »Führer« schloss er dabei im Stillen aus. Das NS-Regime in seiner letz­
ten Phase galt ihm angeblich als ebenso schlimm wie ein kommunistisches
Deutschland.590 Aus dieser Einschätzung ließ sich die Fortsetzung des Kampfes
ebenso rechtfertigen wie die Ablehnung eines aussichtslosen Staatsstreichs
oder anderer Formen des Widerstands. Pflichterfüllung als Berufssoldat, ohne
innere Loyalität gegenüber dem Obersten Befehlshaber, aber in der Überzeu­

589 Hierzu und zum Folgenden siehe Aktennotizen zur Geschichte der Org., Sept. 1952,
Nachlass Wessel, BND-Archiv, N 1/1.
590 So die Gedanken Gehlens in einem Brief an Wessel aus der Kriegsgefangenschaft in
den USA am 28.11.1945, BND-Archiv, N 1/1. Darin reflektierte Gehlen über das frühere
Gespräch. Seine Einschätzungen dürften sich seitdem nicht geändert haben.

322
gung, dass der Krieg als Kampf gegen den Bolschewismus unvermeidbar war,
gleichsam als gerechter nationaler Verteidigungskrieg.
Im Herbst 1943 erörterte Gehlen, kurz vor seinem Urlaubsantritt, mit Wes­
sel erneut die Frage nach einem deutschen Sieg. Beide waren sich einig, dass
keine Aussichten darauf mehr bestünden – eine für beide wahrscheinlich bit­
tere Einsicht, die sie unterschiedlich verarbeiteten. Später hing im Dienstzim­
mer des BND-Präsidenten Wessel das Bild der Madonna von Stalingrad, im
Gegensatz zu seinem Vorgänger Gehlen, dem Friedrich der Große von einem
Gemälde aus über die Schulter blickte.
Gehlen und Wessel gehörten zu jener überwältigenden Mehrzahl höherer
Offiziere, die sich wider besseren Wissens oder aus Berechnung entschlossen,
auf ihrem Posten auszuharren und nach Möglichkeit auch noch befördert zu
werden, bevor die Niederlage mit ihren nicht absehbaren Konsequenzen nach
ihnen greifen würde. Mochte auch der »Führer« intern und in der Öffentlich­
keit proklamieren, dass es eine Wiederholung des »November 1918« nicht
geben werde, die Wehrmachtführung klammerte sich an den Strohhalm, dass
es auch dieses Mal eine Kontinuität des deutschen Militärs geben werde. Und
kluge Köpfe konnten sich einbilden, dass dann zumindest einige bewährte
Kräfte – wie nach 1918 – die Chance haben würden, die deutschen Streitkräfte
aus der Niederlage in eine neue Zukunft zu führen. Für Generalstabsoffiziere
würden dann die Aussichten wieder am rosigsten sein.
Die Forderung der Alliierten nach einer bedingungslosen Kapitulation
musste solche Erwartungen dämpfen, doch waren Gehlen und Wessel nicht
allein mit der Hoffnung, dass der Westen sie noch brauchen würde. Der Weg
einiger weniger Kameraden in den aktiven Widerstand gegen das NS-Regime
war hingegen höchst riskant, ein Glück für Gehlen, dass FHO zur Durchfüh­
rung eines Staatsstreichs nicht gebraucht wurde. Niemand sprach ihn daher
an. Wusste Gehlen von den im Frühjahr 1943 gescheiterten Attentatsbemü­
hungen der Gruppe um Stauffenberg, Gersdorff und Tresckow? Wohl nicht,
denn er hat sich – soweit bekannt – nie dazu geäußert. Er hatte 1943, trotz der
späten Einsicht, dass der Krieg verloren sei, seine Meinung nicht geändert und
hielt sich von möglichen Attentatsplänen fern.
Im Herbst 1943 stürzte die Kriegslage das OKH und damit auch Gehlens
Abteilung in ein Stimmungstief.591 Dazu trugen nicht nur die Meldungen von
der Ostfront bei, sondern nach den verheerenden Luftangriffen auf Ham­
burg, die im Juli 1943 parallel zu der gescheiterten Bodenoffensive bei Kursk
stattfanden, kam auch die Erkenntnis hinzu, dass die Alliierten in der Lage
waren, Schritt für Schritt das deutsche Kriegspotenzial zu zerschlagen und die

591 Wilhelm, Prognosen, S. 54.

323
deutsche Kriegführung an den Rand des Zusammenbruchs zu führen, ohne
dass Görings Luftwaffe in der Lage war, die feindliche Bomberoffensive abzu­
wehren. Rüstungsminister Albert Speer räumte gegenüber dem »Führer« ein,
dass bei einer Fortsetzung der massiven Angriffe auf Hamburg mit einer Kata­
strophe zu rechnen sei.592 Im OKH beurteilte man die Lage vermutlich ähnlich,
denn Gehlen gab den Bericht eines Luftschutzexperten über die Ergebnisse der
massiven Bombardierung Hamburg an Heusinger weiter. Er mag zu Gehlens
stiller Resignation beigetragen haben.
Zwar wechselten die Alliierten überraschend die Ziele ihrer Luftschläge
und verlegten sich von den Großstädten wieder mehr auf Rüstungszentren
wie das Ruhrgebiet oder einzelne Schlüsselindustrien wie die Kugellagerfabri­
ken in Süddeutschland. Aber sie hatten es augenscheinlich in der Hand, die
deutsche Kriegführung langsam oder schnell zu erdrosseln. Da sie ihre Inva­
sionspläne auf 1944 verschoben hatten, konnten sie nicht an einem baldigen
Zusammenbruch der Ostfront interessiert sein. Angesichts der zunehmenden
Spannungen innerhalb der Anti-Hitler-Koalition lag es durchaus in ihrem
Interesse, dass die Rote Armee auf ihrem Vormarsch nach Westen in verlust­
reichen Kämpfen nicht allzu rasch vorankam und gleichzeitig die Masse der
Wehrmacht im Osten band.
Den Winterschlachten 1943/44 kam eine entscheidende strategische
Bedeutung zu. Das erkannte man auch im OKH, wo die Verantwortung für die
Operationsführung an der Ostfront lag. Hitler und das OKW waren mehr an
den Vorbereitungen zur Abwehr einer Invasion im Westen interessiert. Perso­
nal- und Materialverstärkungen flossen hauptsächlich nach Westen, die Ost­
front erhielt keinen ausreichenden Ersatz für die steigenden Verluste. Wollte
man den absehbaren Ansturm der Roten Armee aufhalten oder wenigstens
verzögern, musste man zumindest dafür sorgen, dass die geringen Reserven
rechtzeitig an den künftigen Schwerpunkten des feindlichen Angriffs disloziert
wurden, um dann im Gegenangriff mögliche Durchbrüche der Front verhin­
dern zu können. Damit kam auf Gehlen und seine Abteilung FHO viel Verant­
wortung zu.
Gehlen mag die Situation ähnlich empfunden haben wie sein früherer Chef
und Förderer. Franz Halder schrieb im August 1943 aus der Führerreserve her­
aus an Conrad Kühlein, zuletzt sein 2. Adjutant, der gerade an die Front ver­
setzt worden war: »Nun sind Sie an der schönsten Stelle gelandet, die es für
den jungen Generalstabsoffizier gibt, in der Führung der Fronttruppe.« Und:
»Ich beneide Sie fast um Ihr Versinken in das rein Soldatische. Wer nur für
seine gute Truppe zu sorgen hat und nur den Feind vor sich sieht, der ist gut

592 Rolf-Dieter Müller, Der Bombenkrieg 1939-1945, Berlin 2004, S. 164-170.

324
dran.«593 Kühlein machte später Karriere unter Gehlen beim BND. Er galt als
liebenswürdig und intelligent, mit einem derartigen Charme, dass Richard von
Weizsäcker, 1942 ebenfalls im OKH, von ihm gesagt haben soll: »Wenn ich Frau
wäre, möchte ich so einen zum Mann haben.«594 1943 hat Gehlen Kühlein um
diese Versetzung vermutlich nicht beneidet, da ihm das »Versinken in das rein
Soldatische« schon vom Naturell nicht lag. Für ihn blieb die »schönste Stelle«
die Abteilungsleiterposition im OKH, im Zentrum der Entscheidungen, an
denen er peripher teilhaben durfte. Doch über welche Möglichkeiten verfügte
er tatsächlich, um den Verlauf des Krieges bzw. zumindest der Operationsfüh­
rung an der Ostfront maßgeblich zu beeinflussen?
Gehlen hat sich nach 1945 immer wieder darauf berufen, dass seine Lage­
beurteilungen und Prognosen stets zutreffend gewesen seien. Warum ist die
Wehrmacht dann ab 1943 von einer Niederlage in die andere getaumelt? Reicht
es aus, auf Hitler und seine vermeintlich untauglichen Eingriffe in die Operati­
onsführung zu verweisen? Gleichzeitig hat Gehlen behauptet, er habe bereits
1943 die Niederlage kommen sehen und sich darauf eingestellt, die Substanz
und Erfahrung von FHO in die Zeit danach zu retten. Es würde demnach gel­
ten, dass die angeblich hervorragende Arbeit von FHO dazu beigetragen hat,
den Vormarsch der Roten Armee nach Westen zu verzögern. Das hätte Gehlen
dann als Verdienst in Anspruch nehmen können. Doch wie stand es um die
Zuverlässigkeit seiner Lagebeurteilungen und welchen Einfluss auf den Kriegs­
verlauf haben sie gehabt?
Es ist bereits erwähnt worden, dass die täglichen Beurteilungen der Feind­
lage im Wesentlichen an der Front von den Armeen und Heeresgruppen erstellt
und von FHO gesammelt worden sind. Diese taktischen Daten und Prognosen
gehörten zur Stabsarbeit und bildeten die Grundlage für die Einträge in den
Lagekarten. Mündlich und schriftlich erläutert von Gehlen, waren diese Infor­
mationen wichtig für Heusinger und Zeitzler, die sie ihrerseits für sich auswer­
teten und einem Gesamtlagebild einfügten, das eine Fülle anderer Informa­
tionen zur eigenen Lage von den Frontverbänden enthielt. Gehlens Beiträge
konnten also nicht eigenständig den Entscheidungsprozess beeinflussen, der
zwischen den Frontoberkommandos und dem Generalstabschef sowie seiner
Operationsabteilung stattfand.
Deshalb hatte sich Gehlen als Chef der FHO auf monatliche Lagebeurtei­
lungen im größeren operativen und zeitlichen Rahmen verlegt, die für Zeitzler
und Heusinger Orientierungs- sowie Argumentationshilfen boten, wenn sie

593 Kopie eines Schreibens von Halder vom 6.8.1943 an Conrad Kühlein, BA-MA, N220/176.
Halder schrieb sich damals öfters mit Kühlein, bei dem die Amerikaner die Briefe nach
1945 gefunden haben.
594 Erinnerungen Herbert Franke, S. 135, BA-MA, MSg 2/4150.

325
denn willkommen waren. Beide waren nicht darauf angewiesen, den Rat des
unterstellten Abteilungsleiters anzunehmen, was diesen veranlassen musste,
möglichst die Intentionen der Chefs zu erfassen und ihren Absichten entgegen­
zuarbeiten, allenfalls vorsichtig tastend eigene abweichende Ideen einzuflech­
ten. Gehlen hatte es jedenfalls nicht in der Hand, ob Zeitzler und Heusinger
bei ihren Vorträgen vor dem »Führer« auf seine Einschätzungen zurückgriffen.
Die erhaltenen Wortprotokolle von Hitlers Lagebesprechungen zwischen dem
1. Dezember 1942 und dem 22. März 1945 enthalten an keiner einzigen Stelle
den Namen Gehlen. Und der Ablauf war in der Regel so, dass Zeitzler oder
in seiner Abwesenheit Heusinger die eigene Lage an der Ostfront vortrugen,
wobei sie die Aktivitäten des Feindes aus der vorliegenden Lagekarte entneh­
men konnten, was aber stets nur kurze Erwähnungen waren. Sie behandelten
nacheinander die einzelnen Großverbände, wobei schon hier Hitler punktuell
eingriff, nachfragte, korrigierte oder Anweisungen erteilte. Damit zerfaserte
regelmäßig die Diskussion und landete unter Umständen beim Einsatz einzel­
ner Divisionen oder Bataillone.595 Hitler erhielt also allenfalls gefiltert durch
Zeitzler die von Gehlen erstellten Prognosen vermittelt. Hinsichtlich der Win­
terschlachten 1943/44 kam der Historiker Hans-Heinrich Wilhelm bereits 1974
zu der Einschätzung, dass keine der größeren Prognosen Gehlens zutreffend
gewesen sei.596 Der sowjetische Ansatz sah zumeist völlig anders aus, woraus
Wilhelm die Schlussfolgerung zog, dass die Prognosen, wenn sie nicht unge­
hört verhallten, sich eher nachteilig auf die deutsche Verteidigungsstrategie
ausgewirkt haben dürften.
Angesichts der zerbröckelnden Front durch die nicht vorhergesehenen
Herbstoffensiven der Roten Armee rätselte FHO über die weiteren Stoßrich­
tungen des Gegners. Zielte Stalin mit Vorrang auf einen möglichen Einbruch in
den Balkan, mit allen damit verbundenen politischen Vorteilen, oder auf einen
Vorstoß über Polen an die Ostsee und auf die Rückeroberung des Baltikums,
oder würde er den entscheidenden Durchbruch in der Mitte Richtung Minsk
suchen? Gehlen wusste es nicht, und die Anzeichen wie etwa die Verlegung von
Großverbänden waren nicht eindeutig. Außerdem ging er davon aus, dass der
Gegner aus seinen Reserven, insbesondere aus der Panzerproduktion, seine
verschiedenen Angriffsoperationen laufend aufzufrischen und damit seine
Angriffe ohne größere Pause fortzuführen vermochte.597

595 Siehe Hitlers Lagebesprechungen.


596 Wilhelm, Prognosen, S. 34 – 59.
597 Zusammenfassende Beurteilung der Feindlage vor der deutschen Ostfront, Stand
7.11.1943, BA-MA, RHD 18/249, S. 174-180; Vortragsnotiz über den möglichen Kräfte­
einsatz bei den russischen Winteroperationen, 29.12.1943, BA-MA, RH 2/2092; siehe
dazu Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 254.

326
Gehlen leitete daraus die Notwendigkeit ab, an den erkannten Schwer­
punkten rechtzeitig eigene Reservegruppen bereitzustellen, für deren Bildung
notfalls auch andere Frontabschnitte aufzugeben oder zu schwächen wären.
Außerdem schien es ihm ratsam, nach dem Vorbild der sowjetischen Abwehr­
strategie von 1941 weit rückwärts der Front tief gestaffelte Stellungssysteme
zu bauen und dafür »mit allem Nachdruck« die Bevölkerung heranzuziehen.
Die Forderung zum Bau eines Ostwalles war freilich nicht originell und kam
Anfang November 1943 schon wegen der jahreszeitlichen Bedingungen viel zu
spät. Gehlen als Festungsexperte dürfte seit seiner Berührung mit dem Projekt
eines »Judenwalls« im Winter 1940 gewusst haben, was es bedeutete, rück­
sichtslos die Zivilbevölkerung zur Zwangsarbeit zu mobilisieren. Integrale
Bestandteile eines solchen Konzepts der »verbrannten Erde« waren schon
im September 1943 nicht nur die »Evakuierung« von 900.000 Menschen im
Bereich der Heeresgruppe Nord zum Bau der »Pantherstellung« und deren
Einsatz zum Stellungsbau, sondern auch die rücksichtslose Ausplünderung,
Ausbeutung und Zerstörung des Raumes, der dem Gegner in die Hände fallen
könnte.598
Nach dem Scheitern des Unternehmens »Zitadelle« hatte Hitler erst im
August mit dem »Führerbefehl Nr. 10« den sofortigen Ausbau des Ostwalls
entlang des Dnjepr befohlen, obwohl die Operationsabteilung schon im März
unter wesentlich günstigeren Umständen den Bau von Rückhaltestellungen
vorgeschlagen hatte.599 Als im Oktober die Dnjeprlinie durchbrochen war,
hatte Manstein als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd eigenmächtig
einen Stellungsbau am Bug angeordnet, was Zeitzler duldete, Hitler aber, als
er davon erfuhr, im Dezember 1943 verbieten ließ.600 Den »Führer« trieb die
Sorge um, dass die Truppe dazu neigen könnte, im Vertrauen auf rückwär­
tige Stellungen unter Feinddruck frühzeitig den Rückzug anzutreten. Gehlen
nahm also nur das Interesse der Heeresführung auf und positionierte sich so,
dass er nicht als Kronzeuge ins Spiel gebracht werden konnte. Er ging lediglich
so weit, dass er einen Stellungsbau »ohne Rücksicht auf Prestige-Fragen«601
propagierte. Das konnte nicht als direkte Kritik am »Führer« interpretiert
werden.

598 Siehe Die deutsche Wirtschaftspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten 1941-
1943. Der Abschlußbericht des Wirtschaftsstabes Ost und Aufzeichnungen eines Ange­
hörigen des Wirtschaftskommandos Kiew, hg. von Rolf-Dieter Müller, Boppard 1991,
S. 374 – 380.
599 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 269, Anm. 108.
600 Albert Speer, Erinnerungen, Berlin 1969, S. 282, Das Deutsche Reich und der Zweite
Weltkrieg, Bd. 8, S. 270.
601 Zusammenfassende Beurteilung, Stand 7.11.1943, BA-MA, RHD 18/249, S. 180.

327
Kurt Zeitzler, ab 1942 Nachfolger Halders
als Chef des Generalstabs des Heeres und
damit Chef von Reinhard Gehlen; hier ein
Foto von 1941

Insgesamt beschwor er die »Gefahr eines Zusammenbruchs der Ostfront«,


wenn es nicht gelingen würde, künftige sowjetische Durchbruchsvorhaben
schon gleich zu Beginn abzufangen. Dass dafür überhaupt nicht genügend
eigene Kräfte zur Verfügung standen, ist auch Gehlen klar gewesen, aber das
Argument war geeignet, das Bestreben der Heeresführung, insbesondere von
Manstein, zu unterstützen, die Ostfront nicht zugunsten der Invasionsabwehr
im Westen zu vernachlässigen. Eine wichtige Episode im täglichen Ringen um
Aushilfen, Lösungen und Prognosen war der Fall Krim. Durch den drohenden
Rückzug der Heeresgruppe Süd vom Dnjepr nördlich von Saporoshje musste
damit gerechnet werden, dass der Gegner die Heeresgruppe A im Süden ein­
schließen oder auf den Unterlauf des Dnjepr zurücktreiben und aufteilen
würde. Bei einem Verlust der Nogaischen Steppe wäre die 17. Armee auf der
Krim eingeschlossen gewesen. Damit drohte ein neues »Stalingrad«, d. h. die
Einschließung einer großen Zahl deutscher und rumänischer Truppen ohne
die Möglichkeit ihrer Versorgung bzw. ihres Entsatzes. Alle maßgeblichen
militärischen Stellen drängten deshalb ab Oktober 1943 auf eine rechtzeitige
Räumung der Krim, was Hitler jedoch mit Verweis auf die politischen und wirt­
schaftlichen Folgen verweigerte. Doch Anfang November 1943 war es so weit.
Die neu aufgestellte 6. Armee konnte zwar schrittweise auf den Dnjepr auswei­
chen, wobei mehrere vorbereitete Stellungen innerhalb von Tagen überrannt
wurden, aber fast 300.000 Mann waren nun auf der Halbinsel eingeschlossen,

328
100 Kilometer von der eigenen Front entfernt. Ihr Ausharren wurde befohlen.
Der aussichtslose Kampf dauerte bis zum 13. Mai 1944, als die 17. Armee kapi­
tulierte. Erst in den allerletzten Tagen gelang es der Marine, rund 150.000 Sol­
daten in einer beispiellosen Aktion über See zu evakuieren.602
Welche Position nahm Gehlen in diesem Drama ein? Gleich nach der
Abschnürung der Krim vermutete er, dass es die Absicht des Gegners sein
könnte, mit der Eroberung der Krim den Einsatz von Landungskräften gegen
die bulgarisch-rumänische Küste zu ermöglichen und so seinen Einbruch in
den Balkan zu unterstützen.603 Zu einer solchen Landungsoperation ist es
niemals gekommen. Zwei Monate später betonte er, dass die Rückgewinnung
der Krim den Gegner in den Besitz eines bedeutenden Flotten- und Flugstütz­
punktes bringen würde, und rechnete mit der Fortdauer der Angriffe über die
Halbinsel Kertsch und mit baldigen starken Angriffen gegen die Nordfront
der Krim.604 Als die 4. Ukrainische Front am 8. April 1944 den entscheidenden
Angriff im Norden eröffnete, trat sie über die Siwatsch-Dämme an und öffnete
so die Enge von Perekop von hinten, eine taktische Variante, mit der FHO nicht
gerechnet hatte, weil man die üblichen Landungsunternehmungen an der
Küste erwartet hatte. Selbst im überschaubaren taktisch-operativen Bereich
waren die Manöver des Gegners nicht immer berechenbar, weil die Deutschen
dazu neigten, der Führung der Roten Armee Schematismus zu unterstellen
und diese sich einfach nicht daran hielt.
Es gibt freilich auch Anzeichen dafür, dass Gehlen, wie andere im Ober­
kommando des Heeres und Verantwortliche an der Ostfront, zutiefst besorgt
gewesen ist über die Entwicklung, die sich letztlich seinem persönlichen Ein­
fluss entzog. Wenn schon seinen Vorgesetzten und anderen Höhergestellten
der Mut fehlte, sich Hitlers Operationsführung zu widersetzen, dann hatte er
als Abteilungsleiter erst recht Veranlassung, in Deckung zu bleiben. Zeitzler
und Heusinger hatten im September immerhin erreicht, dass die Feldmar­
schälle Manstein, Busch, Kleist und Kluge bereit waren, gemeinsam bei Hitler
zu intervenieren, um einen Oberbefehlshaber der Ostfront einzusetzen und
ihm operative Handlungsfreiheit zu geben. Der Besuch wurde ein Reinfall, weil
sich die Feldmarschälle zurückhielten und es Zeitzler allein überließen, das
Problem der Spitzengliederung anzusprechen.605 Der Diktator ließ sich die
Entscheidungsgewalt auf dem östlichen Kriegsschauplatz nicht entwinden,

602 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 486 – 490.
603 Zusammenfassende Beurteilung der Feindlage vor der deutschen Ostfront im grossen,
Stand 4.12.1943, BA-MA, RHD 18/249, S. 183.
604 Zusammenfassende Beurteilung der Feindlage vor der deutschen Ostfront im grossen,
Stand 10.2.1944, ebd., S. 223.
605 Meyer, Heusinger, S. 227-228.

329
sodass der Generalstabschef des Treibens müde wurde und sich im Frühjahr
1944 gänzlich mit Hitler entzweite, dann resignierte auch Heusinger.
Das Desaster auf der Krim zeichnete sich Anfang 1944 deutlich ab. Dass
Hitler entschlossen war, die Halbinsel um jeden Preis zu halten, war ein Faktor,
den Gehlen nicht übergehen konnte. In seinen offiziellen Lagebeurteilungen
hielt er sich zwar an diese Linie, ohne sich deutlich zu positionieren. Intern
wagte er mehr. Bei dem Lagevortrag am 6. Januar 1944 vor Zeitzler plädierte er
für einen rechtzeitigen Rückzug des rechten Flügels der Heeresgruppe Süd bis
an den Bug, »der natürlich auch den Verlust der Krim zur Folge hat«. Ein Fest­
halten an der Krim, wie es Hitler wollte, war aus seiner Sicht also nicht gebo­
ten. »Im Verlauf der Erörterungen kam zur Sprache, daß sich, wenn auch alle
Vergleiche hinken, gewisse Parallelen zur seinerzeitigen Lage bei Stalingrad
ziehen lassen«, vermerkte Gehlen in der eigens angefertigten Aktennotiz.606
Wie ausführlich die Erörterungen auch gewesen sein mögen – es war nicht
Gehlens Art, sich gegenüber Vorgesetzten ungefragt ein Urteil anzumaßen,
wie er es empfand, aber aufgefordert, seine Meinung zu äußern, machte er
davon in gewissen Grenzen Gebrauch, ohne eine unsichtbare Grenze zu über­
schreiten. Insofern ist seine kurze Notiz sicherlich ein Ausdruck dafür, dass er
Zeitzler in dessen berechtigten Befürchtungen bestärkte, sich weitergehenden
Schlussfolgerungen aber entzog.
Dabei lag es durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten, Hitlers Verweis
auf die politischen und wirtschaftlichen Folgen eines Rückzugs von der Krim
infrage zu stellen, natürlich nicht direkt, denn die Beurteilung der politischen
Situation auf dem Balkan und die Auswirkungen einer Rückeroberung der
Krim auf die Neutralität der Türkei wäre eine großzügige und heikle Anma­
ßung von Zuständigkeiten gewesen. Aber wenn er in seinen monatlichen
Übersichten über die Absichten des Feindes räsonierte, konnte er doch – wenn
auch verklausuliert – dazu etwas sagen. In der Feindbeurteilung vom 10. Feb­
ruar 1944 wies er auf das Offensichtliche hin, dass mit dem drohenden Verlust
der beiden Flügelpositionen der deutschen Ostfront für Stalin die militärpoli­
tischen Möglichkeiten stärker ins Blickfeld rückten als die rein militärischen
Notwendigkeiten. Gehlen mutmaßte, dass es das Ziel des Gegners sei, schnell
und »möglichst weit nach Europa hinein politisch Fuß« zu fassen, was den
Ansatz sowjetischer Operationen in steigendem Maße beeinflussen werde.
Er wies auf die Aktivierung der kommunistischen polnischen Bewegung und
Versuche hin, die Staaten Ostmitteleuropas und des Balkans sowie Finnland
politisch »aufzulockern«. Daraus schloss er, dass der Feind mit vollem Kräf­
teeinsatz seine Angriffe gegen die Heeresgruppen Nord und Süd fortsetzen

606 Aktennotiz Gehlens vom 7.1.1944, BA-MA, RH 2/2565.

330
werde. Das Schicksal der deutschen Ostfront werde hauptsächlich durch die
Entwicklung im Süden bestimmt werden.607
Dieser Prognose folgend, wiederholte Gehlen seinen Hinweis, es sei not­
wendig, »unverzüglich« starke operative Reserven zu bilden und rechtzeitig
»neue starke Stellungen in großer Tiefe auszubauen«. Das war ein wohlfeiler
Rat, der die Bemühungen der Heeresführung argumentativ unterstützte, aber
nichts bewirkte, weil es den Vorgesetzten unverändert am Mut mangelte, sich
gegenüber dem »Führer« durchzusetzen. Am 27. Januar 1944 hatte Hitler in
seinem Hauptquartier »Wolfsschanze« den Oberbefehlshabern der Ostfront
einen Vortrag über die »Notwendigkeit nationalsozialistischer Erziehung des
Heeres« gehalten.608 Es war eine Abkanzelung der Militärs, denen Hitler von
Grund auf misstraute, und sein Versuch, ihnen klarzumachen, dass sie nur
mit ihm in bedingungsloser Treue den »Endsieg« erringen würden. Manstein,
dem seine Kameraden am ehesten zutrauten, als möglicher Oberbefehlsha­
ber Ost den Vorstoß der Roten Armee aufzuhalten, wagte einen Zwischen­
ruf – ungewöhnlich genug. Hitler hatte erklärt: »Ich erwarte von meinen
Offizieren, daß sie, wenn es sein muß, mich mit dem Degen in der Faust um
mich geschart bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Zwischenruf von
Feldmarschall von Manstein: Das tun wir auch. Der Führer: Ich nehme das
zur Kenntnis.«609
Was Manstein als Ausdruck seiner Verärgerung über die Schimpfkanonade
Hitlers verstand und was auch vom Diktator so aufgenommen wurde, erschien
dem anwesenden Heusinger als überflüssige Loyalitätsbekundung des Feld­
marschalls, der damit nur demonstriere, wie sehr er an seiner Stellung hing.
Ob auch Gehlen zu der Veranstaltung befohlen war, ist nicht erkennbar. Aber
Heusinger nahm das Erlebnis zum Anlass, bei einer Offiziersbesprechung sei­
ner Operationsabteilung ausführlich über seine Eindrücke zu berichten. Hitler
habe sich jegliche Kritik verbeten. »Kritik gibt es nur von oben nach unten,
aber niemals umgekehrt.« Mit »bestürzender Aufrichtigkeit« hat Heusinger
mit diesem Bericht seine eigene Lagebeurteilung verknüpft und festgestellt,
»daß der Krieg militärisch nicht mehr zu gewinnen sei, eigentlich sei er mili­
tärisch verloren. Es müsse gelingen, auch gegenüber einer Invasion im Westen
zu bestehen«, dann sei eine politische Lösung durchaus vorstellbar.610 Die Offi­
ziere forderte Heusinger eindringlich dazu auf, weiterhin an ihrem Platz ihre

607 Zusammenfassende Beurteilung der Feindlage vor der deutschen Ostfront im grossen,
Stand 10.2.1944, BA-MA, RHD 18/249, S. 226-227.
608 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1, S. 604 – 605; Manstein, Verlorene
Siege, S. 580.
609 Meyer, Heusinger, S. 255.
610 Ebd., S. 256.

331
Pflicht zu tun. Der benachbarte Chef der Abteilung Fremde Heere Ost dachte
sicherlich nicht anders.
Seine Vorgesetzten gingen auf räumliche Distanz zu Hitler, soweit das
möglich war. Zeitzler erschien nicht mehr zur täglichen Führerlage, und
Heusinger, der als sein Platzhalter in Berchtesgaden ausharren musste,
hoffte darauf, bei der voraussehbaren Ablösung von Zeitzler selbst endlich
gehen zu können. Gehlen dürfte sich in dieser Situation weiter an die Einsicht
geklammert haben, dass er nur bei einem Ausharren an der Spitze von FHO
Aussichten haben würde, seine Position zu erhalten und daraus womöglich
Kapital für die eigene Zukunft schlagen zu können. Am 30. März 1944 entließ
Hitler Manstein von seinem Posten als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe
Süd. Eine weitere Verwendung erfolgte nicht mehr, obwohl er zweifellos der
am besten geeignete Nachfolger Zeitzlers gewesen wäre – für Manstein, der
schon 1938 erwartet hatte, Generalstabschef des Heeres zu werden, eine Tra­
gödie, für seinen Bewunderer und ehemaligen Adjutanten Gehlen ein Mene­
tekel, dem sicher der gleichzeitige Sturz eines anderen Vorbilds zusätzlich
zu denken gegeben haben dürfte: Admiral Wilhelm Canaris war am 11. Feb­
ruar 1944 seines Amtes als Chef der militärischen Abwehr enthoben und
unter Hausarrest gestellt worden, am 10. März wurde er sogar aus dem Wehr­
dienst entlassen.611
Auf Hitlers Befehl sollten die Abwehr und der Sicherheitsdienst unter dem
Dach der SS zu einem einheitlichen Geheimdienst zusammengefasst wer­
den – was für Gehlens Ambitionen in der Nachkriegszeit eine gewisse Vorbild­
funktion gehabt hat. Anfang 1944 hielt er es, die Machterweiterung Himmlers
vorwegnehmend, für klug, der Entwicklung rechtzeitig entgegenzuarbeiten.
So behauptete er, dass Himmler in Zusammenarbeit mit dem OKW (Wehr­
machtpropaganda und Ausland/Abwehr) eine groß angelegte »Zersetzungs­
aktion gegen die führenden politischen und militärischen Persönlichkeiten«
der Sowjetunion plane.612 Was Gehlen selbst mit seiner Unterstützung der
Aktion Wlassow für das Heer vorangebracht hatte und was auf die einfachen
Rotarmisten zielte, das wollte der Reichsführer SS angeblich mit neuen Mitteln
und einer neuen Zielgruppe an sich ziehen. Den Hintergrund einer solchen
»Zersetzungsaktion« bildete vermutlich Hitlers Erwartung, dass es gelingen
könnte, nach erfolgreicher Abwehr einer alliierten Invasion im Westen eine
größere Zahl eigener Verbände nach Osten zu verlegen, um dann dort wieder
in die Offensive gehen zu können.613

611 Michael Mueller, Canaris – Hitlers Abwehrchef, Berlin 2006.


612 Vortragsnotiz über Zersetzungsaktion »H«, 16.1.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 39.
613 Zur deutschen Strategie siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8,
S. 493-525.

332
Die Idee zielte darauf ab, hohe Sowjetfunktionäre im Hinterland sowie die
Führung der Roten Armee gegen Stalin zu mobilisieren. Dazu sollten ihnen
vonseiten der Abwehr Privatbriefe von »namhaften Russen« zugespielt wer­
den, die sich in deutschem Gewahrsam befanden, z. B. General Wlassow. »Ein
schneller und nicht entehrender Friede auf neuer, europäischer, nationaler
und sozialistischer Grundlage soll garantiert werden. Die Führung soll den­
jenigen in der derzeitigen Sowjetregierung zufallen, die gewillt sind, aktiv für
eine neue europäische Solidarität einzutreten.« Das war eine Rückkehr zu
früheren, illusionären Ideen einer politischen Kriegführung, für die offenbar
auch Gehlen Sympathie empfand, die aber weder von Hitler toleriert wurden
noch angesichts der Kriegslage als realistisch anzusehen waren. In Gehlens
Vortragsnotiz für Zeitzler vom 16. Januar 1944614 blieb offen, ob die absurde
Idee tatsächlich die volle Unterstützung Himmlers hatte. Gehlen griff jeden­
falls die wohl im OKW entstandenen Überlegungen auf und versuchte, sie in
seinem Sinne zu beeinflussen. Er schrieb:

Es ist damit zu rechnen, dass die Reichsführung SS an den Generalstab des


Heeres mit der Bitte um Unterstützung und aktive Mitarbeit herantreten
wird. Im Interesse einer erfolgversprechenden Weiterführung des bisherigen
Propagandakampfes gegen die SU mit neuen Mitteln erscheint es richtig, die­
ser etwaigen Bitte der Reichsführung nachzukommen. Für diesen Fall wird
vorgeschlagen, einen in derartigen Fragen bewanderten Offizier oder Son­
derführer als Vertreter des GenStdH abzukommandieren, um damit zugleich
den Einfluss und die Belange des Heeres zu wahren.

Drei Wochen vor Beginn der alliierten Invasion in der Normandie traf sich
Gehlen in dieser Angelegenheit mit Sturmbannführer Waldemar von Radetzki
(RSHA, Gruppe VI). Man verständigte sich rasch über einen möglichen
Arbeitsplan des Unternehmens »H«,615 nicht aber über die mögliche Ent­
sendung von Gehlens Protegé Strik-Strikfeldt in den geplanten Arbeitsstab.
Radetzki gab an, Strikfeldt sei beim Reichsführer SS »angeschossen«, weil der
von ihm betreute Wlassow innenpolitisch in Erscheinung getreten sei und
begonnen habe, unter russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern für
sich zu werben. Gehlen verhielt sich wie immer: Er brachte Strikfeldt nicht
direkt ins Gespräch, sondern wartete ab, bis der Name fiel. Er ließ der Gegen­

614 Nach einer Randnotiz wurde sie am selben Tag von Gehlen persönlich vorgetragen; Vor­
tragsnotiz über Zersetzungsaktion »H«, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 39.
615 Arbeitsplan von FHO, 1.4.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 39, mit dem Auszug aus
einem V-Mann-Bericht über die innere Lage in der Sowjetunion, in dem Stalins angebli­
che Schwäche gegenüber den zivilen und militärischen Führungskreisen betont wurde.

333
seite den Vortritt einer Bewertung und äußerte sich erst auf Nachfrage seines
Gegenübers. Da er gehört hatte, dass die Einschaltung Strikfeldts durch den
SD »zunächst nicht für zweckmässig gehalten wurde«, äußerte sich Gehlen
zurückhaltend taktierend. Er schätze ihn als »einen besonders ideenreichen
Idealisten, der ab und zu vom Boden der Tatsachen auf Grund seines Idealis­
mus abweicht«. Mit seiner vorsichtigen Parteinahme verband Gehlen den Vor­
schlag, die »Ideen Striks in dem geplanten deutschen Stab quasi unter Aufsicht
der SS zur Auswirkung« zu bringen. Das wäre ein wesentlicher Gewinn. Die­
ser Auffassung konnte sich der Sturmbannführer nicht entziehen. Dann legte
Gehlen nach und betonte, dass »alle Vorschläge und Hilfsmittel der Abteilung
rein vom milit. Sektor stammen, in ihren polit. Auswirkungen also von uns
nicht beurteilt werden können«. Dementsprechend seien die Vorschläge und
Anregungen zu bewerten, »um von vornherein die Gefahr auszuschalten, dass
Anregungen der Abt. als Übergriffe in das Gebiet der SS usw. aufgefasst werden
könnten«.616
Anfang Juni 1944 stellte sich heraus, dass die ganze Planung der Operation
»H« auf einem Missverständnis beruhte. Himmler sei von diesem Unterneh­
men des SD nichts bekannt. Die von Radetzki aufgenommenen Ideen seien in
der entworfenen Form kaum durchführbar und stünden im Gegensatz zu den
Gedankengängen der SS, »die den propagandistischen Frontalangriff gegen
die RA [Rote Armee] für das einzig richtige und mögliche Zersetzungsmittel
hielte«.617
Radetzki hatte einem Höheren weichen müssen, dem Obersturmbannfüh­
rer Gunther d’Alquen, Kommandeur der SS-Kriegsberichterstatter-Standarte
»Kurt Eggers«. Dieser hatte Propagandaunternehmungen bei der Heeresgruppe
Nord (Unternehmen »Wintermärchen«) und in Italien gegen polnische Ver­
bände (Unternehmen »Südstern«) durchgeführt. Nach Vortrag bei Himmler
hatte er den Auftrag zu einer größeren Überläuferaktion im Bereich der Hee­
resgruppen Nord- und Südukraine (Unternehmen »Skorpion«) erhalten. Für
die SS bedeutete das den Übergang von der Kriegsberichterstatter-Tätigkeit
zur Kampfpropaganda. Der rührige d’Alquen hatte die Generale Walter Model
und Ferdinand Schörner überzeugt, die über gute persönliche Verbindungen
zu Himmler verfügten. Dieser hatte sich mit dem Argument gewinnen lassen,
dass die Wehrmachtpropaganda nahezu inaktiv sei und von der SS besser
organisiert werden könnte, offensichtlich nach dem Vorbild der sowjetischen
Frontpropaganda durch das Nationalkomitee Freies Deutschland.

616 Aktennotiz Gehlens über den Besuch von Sturmbannführer v. Radetzki am 19.5.1944,
Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 40.
617 FHO/III/Prop, Vortragsnotiz Propaganda-Unternehmen »Skorpion«, vom 7.6.1944,
ebd.

334
Politisch zielte die Ansprache auf die Ukrainer. Abweichend von den Richt­
linien des Ostministeriums wollte man ihnen die Bildung einer »freien, unab­
hängigen Ukraine« zusichern. Zwar war d’Alquen bereit, mit Strikfeldt und
seiner Wlassow-Propagandaabteilung zusammenzuarbeiten, Baltendeutsche
und Emigranten sollten aber außen vor bleiben. Himmler habe seine volle
Unterstützung zugesichert in der Hoffnung, auf diese Weise die Überläuferzah­
len wesentlich zu erhöhen oder sogar einen propagandistischen Einbruch in
die Ostfront zu erzielen. Seine Ablehnung Wlassows sei auf dessen Äußerung
zurückzuführen, Russland könne nur durch Russen besiegt werden. Diese Auf­
fassung sei im Offizierskorps derart verbreitet, dass man ihr mit allen Mitteln
entgegentreten müsse, um der Gefahr einer Zersetzung der eigenen Truppen
entgegenzuwirken.
FHO sollte vor allem ihr Informationsmaterial über die Feindpropaganda
zur Verfügung stellen. Das war für Gehlen kein Problem, aber intern meinte
man, die SS unterschätze die Stärke der Sowjetpropaganda und überschätze
die Möglichkeiten, in die Mentalität der Rotarmisten »einzubrechen«. Die
Aktion sollte am 15. Juni starten und acht Wochen dauern, was als viel zu
optimistisch eingeschätzt wurde. Und trotzdem: »Als Anfang und Wegwei­
ser für eine geistige und technische Auflockerung der gesamten Ostpropa­
ganda erscheint das Unternehmen der Unterstützung wert.«618 Durch die Zer­
schlagung der Ostfront im Zuge der sowjetischen Sommeroffensive ab dem
22. Juni 1944 blieben solche Ideen IIIusion.
Wenn es um die Interessen und das Ansehen seiner Abteilung ging, zögerte
Gehlen nicht, sich – natürlich nur bei internen Reibereien und unter Beach­
tung der Rangordnung – auch einmal »aus dem Fenster zu lehnen«. Offenbar
fühlte er sich in einem speziellen Falle auch persönlich angesprochen. Man
hatte im Sommer 1943 ein Handbuch der Deutschen Wehrmacht erbeutet, das
für höhere sowjetische Stäbe angefertigt worden war. Es machte deutlich, dass
man in Moskau über das OKH sehr gut unterrichtet war. Gehlen hatte darauf­
hin die Initiative ergriffen, um im Einvernehmen mit dem Chef des General­
stabs die Organisationsabteilung zu veranlassen, sich beim Allgemeinen Hee­
resamt dafür einzusetzen, dass künftig keine Unteroffiziere und Mannschaften
mehr an der Ostfront zum Einsatz kommen sollten, die besonders wichtigen
Abteilungen des OKH angehörten, also etwa der Abteilung FHO. Darüber hin­
aus sollten alle Angehörigen des OKH bei einer Versetzung ein neues Soldbuch
erhalten, in dem die Zugehörigkeit zum OKH fehlte und durch eine Legende
ersetzt war. Als man beim AHA meinte, dieser Vorschlag entspreche nicht
»der Würde eines deutschen Soldaten« und der russische Nachrichtendienst

618 Ebd.

335
verfüge doch über weit bessere Quellen als deutsche Soldbücher, fühlte sich
Gehlen angegriffen und setzte zu einer langatmigen Rechtfertigung an. Er
verwies darauf, dass Interna des OKH nicht geschützt werden könnten, wenn
Angehörige in Feindeshand fallen würden, da »der Russe« über Vernehmungs­
methoden verfüge, mit denen man alles aus jeder Persönlichkeit herausholen
könne. Dabei verwies er auch auf die Bedeutung der Auswertung russischer
Soldbücher. Gehlen:

Herr General wollen bitte meinen Brief dahin richtig verstehen, dass ich
nicht aus irgend welchen persönlichen Gründen hier den Eingeschnappten
spielen möchte. Es geht mir nur um die sachliche Erledigung dieser in mei­
ner Abteilung im Interesse der Geheimhaltung als ausserordentlich wichtig
angesehenen Frage. Selbstverständlich sehe ich auf Grund der stets von dort
erhaltenen Unterstützung in allen Fragen von einer Vorlage an den Herrn
Chef des Generalstabes ab, um keine unnötige Schärfe in die Bearbeitung
hereinzubringen.619

Bei einer anderen Gelegenheit nahm Gehlen die verzögerte Auszahlung einer
Bekleidungsentschädigung für drei Offiziere seiner Abteilung zum Anlass, sich
mit einem Schreiben beim Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzhee­
res, Oberst i. G. Georg Kühne, zu beschweren. »Als Beispiel für die unerhört
bürokratische Arbeit unserer Verwaltungsdienststellen, auch im OKH«, legte
er den entsprechenden Schriftwechsel in der Hoffnung bei, dass man vielleicht
einmal etwas »für die Auffrischung der Verwaltung« tun könne.

Nehmen Sie es nicht übel, daß ich Sie in dieser Zeit und bei Ihren Sorgen mit
solchen Dingen behellige, aber man stößt so oft auf eine durchaus unkriegs­
mäßige Einstellung, die nur an den Büroschluß um 17 Uhr denkt, daß ich
diese Gelegenheit, eine Bummelei klar zu beweisen, nicht vorübergehen las­
sen will.620

Kühne leitete das Schreiben an den Chef des Heeresverwaltungsamtes, Gene­


ral der Artillerie Herbert Osterkamp, weiter, der die Verzögerung auch auf feh­
lende Angaben in den Anträgen zurückzuführte.
Anzeichen für atmosphärischer Störungen und Lethargie im Generalstab
des Heeres fielen selbst dem eher schlichten Generalinspekteur der Panzer­

619 Schreiben Gehlens, 21.11.1943, S. 4, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 24, gerichtet vermutlich
an General der Infanterie Friedrich Olbricht, den Chef des AHA.
620 Schreiben Gehlens an Oberst i. G. Kühne, 18.4.1943, ebd.

336
truppen, Heinz Guderian, auf, der meinte, im Generalstab säßen Offiziere, die
der Front allzu fern seien und ihre Entschlussfreudigkeit verloren hätten.621
Gehlen nutzte die Gelegenheit, Anfang Februar auf Dienstreise zu gehen. Er
hielt einen Vortrag an der Kriegsakademie in Hirschberg, besuchte den alten
Feldmarschall Mackensen in Stettin, besichtigte dann den neuen Ic-Lehrgang
in Posen und blieb einen Tag später für Stunden in Liegnitz bei seiner Fami­
lie.622 Auch Heusinger hatte durch eine Kur Distanz zum zermürbenden Alltag
gesucht. Gehlen verließ seine Abteilung für zwei Wochen und ließ sich von
Wessel vertreten. Anfang März war er für kurze Zeit wieder am Schreibtisch,
dann offenbar krankgemeldet, nicht ohne zuvor an sämtliche Heeresgruppen
und Armeen der Ostfront »Aufklärungsforderungen« zu versenden, um her­
auszufinden, welche Kampfführung der Gegner wohl im Frühjahr/Sommer
1944 beabsichtigen könnte und welche Unterlagen für eine Beurteilung dafür
vorliegen.623
Auf diese Weise konnte FHO nicht nur wichtige Hinweise und Informati­
onen einsammeln, sondern auch die Einschätzungen der Oberbefehlshaber
an der Ostfront zusammentragen, was die Anfertigung eigener Prognosen
ungemein erleichterte. Nach Gehlens Einschätzung richtete sich der feind­
liche Schwerpunkt zurzeit eindeutig gegen die Heeresgruppe Süd, doch bot
sich auch die Nahtstelle zwischen den Heeresgruppen Mitte und Süd für eine
spätere feindliche Großoffensive an, um mit einem Vorstoß in das Generalgou­
vernement die Heeresgruppe Mitte in der tiefen Flanke zu fassen. Eine solche
größere Operation sei in einigen Wochen als »sicher« anzunehmen.624 Die Ein­
schätzung trug er Zeitzler am 14. März persönlich vor und präsentierte eine
Reihe von Karten, die beweisen sollten, »dass die bisherigen Feindbeurteilun­
gen stets richtiggelegen haben«. Gehlen überzeugte Zeitzler in allen Punkten,
wie er zufrieden notierte, und präparierte ihn mit einer Karte für Hitler, die
ihm am 19. März vorgelegt wurde.625 Er legte sich damit früh auf eine Variante
fest, die sich im Sommer als falsch erweisen sollte.

621 Meyer, Heusinger, S. 261.


622 Antrag Gehlens auf Genehmigung seiner dienstlichen Abwesenheit vom 27.1.1944,
Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 24.
623 OKH/GenStdH/Abt.FHO (I) Nr. 599/44 gKdos. Aufklärungsfragen Ost, Teil A, vom
25.2.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 11.
624 FHO (Chef), Vortragsnotiz über mögliche Lageentwicklung im Großraum westlich und
nordwestlich Kiew, vom 14.3.1944, BA-MA, RH 2/1980.
625 FHO (Chef), Aktennotiz vom 13.4.1944, BA-MA, RH 2/2565, mit einem Rückblick auf
die Besprechung mit Zeitzler am 14. März (die hier verwendeten Datumsangaben sind
untereinander nicht stimmig, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass Gehlen bei der
Rekonstruktion der Abläufe Fehler unterlaufen sind). Auch diese Aktennotiz dürfte er
eigens für spätere Rechtfertigungen verfasst haben.

337
Ende März 1944 unterzeichnete Gehlen dann wieder eine größere Lagebe­
urteilung, die er zwei Wochen später Zeitzler in Berchtesgaden vortrug. Dort
führte er aus, dass die erwartete feindliche Offensive im Süden der Ostfront
eine bedrohliche Situation geschaffen habe, die »bereits in absehbarer Zeit zu
weitreichenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Auswirkun­
gen auf die europäische Gesamtkriegslage führen kann«. Eine größere Opera­
tionspause sei nicht zu erwarten, da der Gegner über ausreichende Reserven
verfüge. Es zeichne sich daher die Gefahr ab, dass die Rote Armee durch die
aufgerissene Lücke im Süden versuchen werde, nach Rumänien und ins Gene­
ralgouvernement vorzustoßen, was zugleich die Heeresgruppe Mitte in ihrer
tiefen Südflanke in eine krisenhafte Entwicklung hineinziehen werde.626
Neu dürfte diese Einschätzung für Zeitzler nicht gewesen sein, ebenso
wenig wie die übliche Schlussfolgerung Gehlens, dass es notwendig sei, »bal­
digst starke deutsche Reserven zu schaffen und eine Kräfteeinsparung durch
Anlehnung des Abwehrkampfes an die natürlich gegebenen Geländeab­
schnitte, notfalls unter großzügigen Ausgleichsmaßnahmen im Frontverlauf
in Betracht zu ziehen«. Die deutschen Reserven standen nun einmal in Erwar­
tung einer Invasion im Westen, und Frontkorrekturen ließ die Haltestrategie
des »Führers« kaum zu. Bei aller operativen Begabung, die Gehlen früher
immer bescheinigt worden war, ein Rezept hatte natürlich auch er nicht, um
die Katastrophe aufzuhalten und das Blatt zu wenden. Dennoch pflegte er eine
andauernde und penetrante dienstliche Rechthaberei, wohlweislich im klei­
nen Kreis von Vorgesetzten, die ihm wohlgesinnt waren und sich bei Angriffen
vor ihn und seine Abteilung stellten.627 Anschließend ließ sich Gehlen über
mehrere Wochen wiederholt krankschreiben und Wessel musste in seiner Ver­
tretung erneut die Abteilung führen. Es war eine extrem kritische Phase für die
deutsche Kriegführung bezogen auf Hitlers Erwartungen, die Invasion im Wes­
ten abwehren und die dann freiwerdenden Kräfte nach Osten werfen zu kön­
nen, ein Vabanquespiel, auf das man sich auch im OKH verließ, obwohl weit­
sichtige Männer wie Heusinger letztlich nicht an den Erfolg glaubten – man
kann annehmen, auch Gehlen nicht. Da war es nur ein schwacher Trost, dass
er vom Heerespersonalamt am 21. Februar 1944 darüber unterrichtet worden
war, das ihm bereits im September 1943 verliehene »Slowakische Kriegsver­
dienstkreuz« 3. Klasse trage jetzt die Bezeichnung »Kriegs-Siegeskreuz«. Eine
zum Umtausch vorgesehene neue Urkunde war beigelegt worden.628

626 Zusammenfassende Beurteilung der Feindlage vor deutscher Ostfront und vermutete
Feindabsichten im grossen, Stand 30.3.1944, BA-MA, RHD 18/249, S. 244-255.
627 Gehlen, Der Dienst, S. 74.
628 Schreiben OKH/PA vom 21.2.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 24.

338
Gehlens Abteilung musste eine zuverlässige Prognose über die strategischen
Zielrichtungen der Sowjetarmee bei einer bevorstehenden Sommeroffensive
vorlegen (davon hätte viel abhängen können, sofern sie von Hitler beachtet
worden wäre). Wenn das nicht gelang, dann würde Hitlers Strategie in sich
zusammenbrechen und das unvermeidbare Ende sich beschleunigen. Doch
die Prognose erwies sich im Frühjahr 1944 schwieriger als je zuvor. Einblicke
in den Entscheidungsprozess in Moskau konnte die nun vom RSHA betriebene
Aufklärung nicht beschaffen, und man konnte davon ausgehen, dass die letzte
Entscheidung vielleicht erst kurz vor Angriffsbeginn fallen würde. Blieb die
Möglichkeit, anhand der Karte und der Annahmen über die verfügbaren Kräfte
strategisch-operative Möglichkeiten der anderen Seite zu erörtern.
Anfang Mai 1944 lag die Verantwortung für die nächste monatliche Gesamt­
beurteilung bei Wessel. Gehlen hatte sich eine vierwöchige Kur verordnen las­
sen, »um etwas für meine Galle zu tun«, und wollte Anfang Juni auf seinen
Posten zurückkehren. Ein Briefpartner empfand Freude darüber, »daß Sie nun
endlich etwas Entscheidendes gegen Ihre böse Galle unternehmen können. Es
hat keinen Sinn, in unserem Alter solche Sachen anstehen zu lassen. Wir wol­
len doch noch an der Front draußen mithelfen.«629 Wie zwei Jahre zuvor, so
genoss Gehlen auch diesmal die Tage in Karlsbad zusammen mit seiner Frau
bei Spaziergängen und Gesprächen mit einem bekannten Ehepaar. Einen ähn­
lich langen Urlaub hatte er seitdem nicht mehr gehabt. Aus dem Plan, Anfang
Juni noch eine Nachkur in Hirschberg anzuhängen, verbunden mit dem übli­
chen Vortrag an der Kriegsakademie, wurde wegen der Invasion in der Nor­
mandie am 6. Juni nichts. So blieb nur die kurze Zeit im heimatlichen Liegnitz,
um persönliche Dinge zu ordnen. Seine Frau musste wegen der vier Kinder
gleich wieder »ran« und sich insbesondere um die jüngste Tochter kümmern,
denn eine Hilfskraft musste abgegeben werden und »das andere sehr tüchtige
Mädchen« wurde nach einiger Zeit krank.630
Unverändert nahm man bei FHO an, dass die sowjetische Seite die Wahl
zwischen einer Ostsee- und einer Balkanoperation habe.631 Eine gleichzeitige
Durchführung beider Operationen hielt man für unwahrscheinlich. Die Ost­

629 Schreiben Generalleutnant Harald Freiherr von Elvesfeldt, der ihn zu dem regelmäßigen
Vortrag an der Kriegsakademie in Hirschberg eingeladen hatte, vom 26.4.1944, Gehlen-
Kisten, Mappe Nr. 13. Elvesfeldt gehörte 1935 bis 1937 zur Abteilung Fremde Heere des
Generalstabs des Heeres und war danach als Ia-Offizier bei größeren Panzerverbänden.
1944 war er Ia-Offizier des Kurses für Höhere Truppenführer. Er fiel als Kommandeur
der 9. Panzerdivision am 6. Mai 1945.
630 Schreiben Gehlens an Gaedcke, 4.7.1944, ebd.
631 FHO (I) Nr. 1428/44 gKdos, Zusammenfassende Beurteilung der Feindlage vor der deut­
schen Ostfront im grossen, Stand 3.5.1944, BA-MA, RHD 18/249, S. 261-270.

339
340
seeoperation, meinte Wessel, böte zwar militärisch größere Aussichten und
könnte zur Vernichtung zweier deutscher Heeresgruppen fuhren sowie das
Eindringen auf Reichsgebiet ermöglichen. Das wäre als eine »sehr kühne und
vielleicht kriegsentscheidende Operation zu bezeichnen«, der sich die sowje­
tische Führung aber wohl nicht gewachsen fühlen werde. Die Balkanopera­
tion hingegen biete günstige politische Perspektiven, weil mit einem schnellen
Zusammenbruch der Balkanstaaten zu rechnen sei. Auch das augenblickliche
Kräftebild, Gefangenenaussagen und Abwehrmeldungen würden darauf hin­
deuten, dass sich der Feind hierfür entscheiden werde – vorsichtshalber fügte
er hervorgehoben zur Zeit ein. Die Operationsführung im Mittel- und Nordab­
schnitt der deutschen Ostfront bliebe dann, so die Überlegung, von sowjeti­
scher Seite aus weitgehend defensiv, um die deutschen Kräfte zu fesseln und
einen Abzug nach Süden zu verhindern.
Damit lag Wessel völlig falsch. Seine Empfehlung, sofort entsprechende
deutsche Reserven im Süden bereitzustellen, war geeignet, die Kampfführung
des Heeres durch eine falsche Dislozierung der Kräfte erheblich zu schwächen.
Das war natürlich nicht die Absicht Wessels, aber das zwangsläufige Ergebnis
eines spekulativen, wenn auch durchaus plausibel begründeten Nachdenkens.
Dabei zeichnete sich auf den Lagekarten von FHO seit dem Frühjahr immer
deutlicher eine Verschiebung der vermuteten feindlichen Angriffe von Süd
nach Norden ab.632 Im Verlauf der Kämpfe hatte sich eine starke Konzentra­
tion des Gegners bei Kowel gebildet, ein Eckpfeiler der deutschen Verteidi­
gung, der durch den Rückzug der Heeresgruppe Süd und das Stehenbleiben
der Heeresgruppe Mitte entstanden war. Hier endete geografisch die Barriere
mit den schwer passierbaren Sumpfgebieten des Pripjet. An dieser Nahtstelle
zwischen den Heeresgruppen Mitte und Nordukraine drohte ein sowjetischer
Durchbruch Richtung Warschau-Danzig. Die Heeresgruppe Mitte reagierte
auf den erkennbaren Feindaufmarsch mit großer Besorgnis, und auch FHO
fixierte sich auf den Drehpunkt der Ostfront, der aus der Sicht eines deutschen
Generalstabsoffiziers eine starke Faszination ausübte.
Noch Ende April 1944, zwei Monate vor Beginn der erwarteten sowjeti­
schen Sommeroffensive, entwickelte sich ein Streit um den von FHO behaup­
teten feindlichen Schwerpunkt bei Kowel. Anders als die Heeresgruppe
Mitte und FHO zeigte sich die Heeresgruppe Nordukraine nicht in gleichem
Maße besorgt. Sie ging davon aus, dass die Bahnstrecke Rowno-Kowel ledig­
lich mit Versorgungs- und Ersatzzuführungen des Feindes belegt sei. FHO
beharrte hingegen auf einer anderen Hochrechnung, wonach schon jetzt bis
zu 20 zusätzliche sowjetische Schützendivisionen herangeführt worden sein

632 Siehe zum Folgenden Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 503 – 505.

341
könnten. Mit ihnen werde der Feind die Möglichkeit haben, eine mit Richtung
Lublin entscheidungssuchende Großoffensive an der Flanke abzudecken, um
dann zu entscheiden, ob er weiter in westlicher Richtung auf Lemberg oder
nach Südwesten vorstößt, um die Heeresgruppe Nordukraine zu zerschlagen.
So recht wollte sich FHO in seiner Prognose der weiteren Absichten des Fein­
des also nicht festlegen, glaubte sich aber sicher, dass Kowno der Ansatzpunkt
sein würde. Heusinger als Chef der Operationsabteilung verlangte, dass sich
FHO mit der Heeresgruppe Nordukraine über die Berechnungen der Kräftezu­
führungen einige, was Wessel nur zum Teil gelang. Hinsichtlich der Schlussfol­
gerungen blieb der Dissens bestehen.633
Die Angst vor einer möglichen kriegsentscheidenden Großoffensive der
Roten Armee verschleierte den Blick von FHO gegenüber der realen Gefahr.
Das Oberkommando in Moskau entschied sich für eine Lösung, die nach deut­
scher Einschätzung wenig plausibel war. Sie setzte auf einen Schwerpunkt
nördlich der Pripjet-Sümpfe, nicht südlich, und zwar mit einem Frontalan­
griff gegen die Heeresgruppe Mitte. Zwar erörterte man auch in Moskau die
von FHO angenommenen Varianten einer Ostsee- oder einer Balkanoffensive,
verwarf sie jedoch beide. Die politisch verlockende Perspektive eines Engage­
ments auf dem Balkan schien vorerst weniger wichtig als die Rückeroberung
des noch besetzten eigenen Territoriums in Weißrussland und der Vorstoß
nach Polen hinein. Auch der mögliche Vorstoß aus dem Raum Kowel in Rich­
tung Ostsee wurde diskutiert und wieder verworfen. Zeitzler hatte im April
eine Abwehrmeldung »aus im allgemeinen zuverlässiger Quelle« vorgelegt
bekommen: Unter Vorsitz von Stalin sei darüber diskutiert worden, dass der
Weg nach Berlin über Warschau führe,634 was von FHO als Bestätigung der
eigenen Einschätzung betrachtet werden konnte, aber die sowjetische Ent­
scheidung nicht präzise erfasste.
»Wenn jemals während des Ostfeldzuges die Feindaufklärung eine entschei­
dende Rolle spielte, dann im Frühsommer 1944 unmittelbar vor Beginn der
erwarteten sowjetischen Groß offensive«, schreibt der Militärhistoriker Karl-
Heinz Frieser.635 Sowohl im Dezember 1941 vor Moskau, im November 1942
vor Stalingrad und im Juli 1943 bei Kursk spielte das Versagen von FHO eine
wichtige Rolle, aber bei früheren feindlichen Großoffensiven konnten immer­
hin Reserven mobilisiert werden, um dann durch operative Gegenmaßnahmen
den gegnerischen Durchbruch wieder einzudämmen. Jetzt standen an der Ost­

633 Stellungnahme der Abteilung Fremde Heere Ost zur »Beurteilung der Lage am 25.4.44«
durch Heeres-Gruppe Nordukraine, vom 26.4.1944, und Ausarbeitung für Heusinger
vom 1.5.1944, BA-MA, RH 2/1980.
634 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 505.
635 Ebd.

342
front keine Kräfte mehr dafür zur Verfügung. Umso mehr kam es darauf an,
dass die Feindaufklärung die Stoßrichtung der sowjetischen Sommeroffensive
präzise und rechtzeitig erkannte, um einen angemessenen Verteidigungs­
schwerpunkt zu bilden. Das entsprach eigentlich den wiederholten Forderun­
gen Gehlens nach Bildung von starken Abwehrfronten und Herausziehung von
Kräften aus weniger bedrohten Frontabschnitten, um gleich zu Beginn einer
feindlichen Großoffensive den Gegner zurückzuwerfen. Doch niemals zuvor
stand die deutsche Feindaufklärung vor einer derartig schwierigen Aufgabe.
Die Absicht der sowjetischen Führung war es, statt einer einzigen, entschei­
dungssuchenden Operation eine ganze Serie von operativen Schlägen an der
gesamten Front zu führen, zeitlich gestaffelt, um das Verschieben deutscher
Reserven zu erschweren und am Ende alle vier Heeresgruppen in schwere
Abwehrkämpfe zu verwickeln. Die stärkste Offensive richtete sich frontal
gegen den »weißrussischen Balkon«. Für diesen Zweck wurden gigantische
Kräftemassierungen bereitgestellt, was der deutschen Aufklärung eigentlich
nicht entgehen konnte. Im Mai/Juni verdichteten sich Meldungen, dass die­
ser östliche Frontbogen kein Nebenschauplatz sein würde. Die drei dort ein­
gesetzten Armeen wiesen in ihrer Feindlagebeurteilung auf die wachsende
Gefahr hin. Im Offizierskorps machte sich eine Mischung aus Resignation und
Verzweiflung breit, weil diese Meldungen von der höheren Führung offenbar
ignoriert wurden.
Die Ic-Abteilungen haben die Angriffsschwerpunkte durchaus richtig vor­
hergesehen und die Rote Armee konnte daher an keiner Stelle eine taktische
Überraschung erzielen. Auch der mutmaßliche Zeitpunkt lag auf der Hand,
weil sich das symbolträchtige Datum des 22. Juni als dritter Jahrestag des deut­
schen Überfalls aufdrängte. Schließlich waren massive Angriffe der Partisanen
im Mittelabschnitt ein weiterer deutlicher Hinweis. Dass sich in den regelmä­
ßigen kurzen Feindlagebeurteilungen von FHO seit Anfang Juni Hinweise auf
erwartete umfassende Angriffe gegen den Frontvorsprung von Witebsk finden,
resultierte aus der Übernahme der örtlichen Beurteilungen, denen es freilich
an genaueren Kenntnissen über die Kräfte der zweiten Welle des Gegners und
seine Panzerreserven im Hinterland fehlte.636 Die Heeresgruppe Mitte stufte
diese sowjetischen Angriffsvorbereitungen noch am 11. Juni als Täuschungs­
und Ablenkungsmanöver ein.
Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Generalfeldmarschall Ernst
Busch, hatte sich den Empfehlungen von Gehlen folgend am 20. Mai 1944 bei
Hitler eine Rückzugsgenehmigung seiner extrem exponierten Kräfte auf eine
verkürzte, befestigte Linie erbeten. Busch, einer der ergebensten Verehrer Hit­

636 Ebd., S. 510.

343
lers unter den Generalen, war schockiert, als Hitler ihn süffisant abblitzen ließ.
Er gehöre jetzt wohl auch zu den Generalen, »die nach hinten blicken«, eine
Abfuhr, die den gläubigen Nationalsozialisten Busch zutiefst kränkte.637 In der
Folge zeigte sich Busch bemüht, Beweise seines bedingungslosen Gehorsams
zu liefern. Trotz der Proteste seiner unterstellten Armeeoberbefehlshaber und
trotz der Alarmmeldungen der Ic-Abteilungen blieb Busch stumm und ver­
hinderte jede Meldung nach oben über die prekäre Lage seiner Heeresgruppe.
Er hatte es bereits hingenommen, aufgrund der Fehleinschätzungen von
FHO fast sämtliche beweglichen und gepanzerten Einheiten aus seinem Zen­
trum abzugeben, und verließ sich nun auf das Konzept der sogenannten Fes­
ten Plätze, d. h. auf die Befestigung von Schlüsselstellungen im Hinterland, die
nach Hitlers Vorstellungen als eine Art von Wellenbrecher wirken, zurückge­
schlagene eigene Truppen aufnehmen und so lange gehalten werden sollten,
bis die große Armee aus dem Westen die Russen wieder zurücktreiben würde -
so weit die Theorie. Dagegen hatte u. a. der Chef des Wehrmachtführungssta­
bes Alfred Jodl vorgeschlagen, auf die kürzeste Verbindung zwischen Ostsee
und Schwarzem Meer zurückzugehen und durch eine solche Frontbegradi­
gung mit einem Schlag 20 Divisionen als mögliche operative Reserve freizu­
machen. Hitler hatte solche Überlegungen aber entschieden abgelehnt.638
Am 14. Juni, rund eine Woche nach dem Beginn der alliierten Invasion in
der Normandie, trafen die Generalsstabschefs der Heeresgruppen und Armeen
der Ostfront im OKH zu einer Besprechung zusammen. Die Invasionsschlacht
verlief keineswegs wie erhofft. Mit dem Heranführen einer operativen Reserve
aus dem Westen war jedenfalls vorerst nicht zu rechnen. Allein die Heeres­
gruppe Mitte besaß eindeutige Indizien dafür, dass der Gegner seinen Auf­
marsch nahezu abgeschlossen haben dürfte. Doch der Generalstabschef der
Heeresgruppe legte keinen Nachdruck darauf, in offensichtlich letzter Minute
für seinen Bereich zusätzliche Kräfte in größerer Zahl anzufordern. Auf der
Grundlage seiner am Vortag vorgelegten Beurteilung der Feindlage im Großen
beschränkte sich Gehlen in seinem Beitrag im Wesentlichen auf neue Erkennt­
nisse der letzten Zeit.639

637 Ebd., S. 517-518.


638 Ebd., S. 519.
639 Zusammenfassende Beurteilung der Feindlage vor deutscher Ostfront und vermutete
Feindabsichten im grossen, Stand 13.6.1944, BA-MA, RHD 18/249, S. 278-287, sowie
Notizen Gehlens BA-MA, RH 2/2565. Sehr kritisch beurteilt werden die Aufklärungser­
gebnisse von FHO in der Studie von Thomas Kröker: Fehleinschätzung der sowjetischen
Operationsabsichten im Sommer 1944. Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte,
Karlsruhe 1984. Differenzierter urteilt Karl-Heinz Frieser, in: Das Deutsche Reich und
der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 515.

344
Er verwies darauf, dass der Gegner für die kommende Offensive anschei­
nend eine neue Befehlsgliederung einführte, und zwar selbstständige »opera­
tive Gruppen«, wie es sie im deutschen Heer in der Blitzkriegsphase gegeben
hatte. Der wochenlange Aufmarsch, so meinte Gehlen, ziele auf einen Schwer­
punkt vor der Heeresgruppe Nordukraine. In letzter Zeit habe der Gegner aller­
dings auch neue Kräfte in den Bereich vor der Heeresgruppe Mitte gebracht.
Man solle einzelnen Räumen, z.B. beiderseits von Witebsk, »Beachtung«
schenken. Wahrscheinlich werde die Rote Armee zeitlich gestaffelt angrei­
fen und in Abstimmung mit den Alliierten einen möglichen Abzug deutscher
Kräfte von Ost nach West abwarten. Nach verschiedenen Unterlagen sei mit
einem Angriffsbeginn zwischen dem 15. und 20. Juni zu rechnen.

Alle vorliegenden Nachrichten bestätigen die bisherige Feindbeurteilung im


grossen auch weiterhin. Eine Abwandlung der gegnerischen Gedankenbil­
dung hat anscheinend lediglich in Einzelheiten der Durchführung stattge­
funden.

Der Schwerpunkt sei unverändert im Raum Kowel anzunehmen. Nach »glaub­


würdigen Abwehrmeldungen sowie einiger Funkaufklärungsergebnisse« sei
damit zu rechnen, »daß der Feind über das Ziel von Fesselungsangriffen hin­
ausgehend die Führung einer Angriffsoperation aus dem Großraum Gomel–
Smolensk plant mit dem Endziel Minsk«. Damit ging Gehlen also einen Schritt
weiter als bisher, ohne freilich seine ursprüngliche Prognose grundlegend zu
ändern. Nach seinem Eindruck bestätigte die Masse die vorliegenden Meldun­
gen die Einschätzung, dass der Feind an der Balkanlösung festhalte. Allerdings,
so Gehlen einschränkend, scheine sich der Gegner die Entschlussfassung letzt­
lich offenzuhalten und sie von der Entwicklung der Lage abhängig machen zu
wollen.
Auf eines wollte er besonders hinweisen. Die Erfolge des letzten Jahres
hätten zwar »dem Russen« Auftrieb gegeben, doch in der Bevölkerung sehe
es wegen der mangelhaften Versorgung keineswegs rosig aus. »Bei der stim­
mungsmäßigen Labilität des Russen kann daher die Bedeutung eines wirk­
lich glatten deutschen Abwehrerfolges gegenüber der kommenden russischen
Offensive nicht hoch genug gewertet werden.« Die Formel von einem »wirk­
lich glatten Abwehrerfolg« wiederholte er in den nächsten zwei Sätzen noch
zweimal. Was das konkret heißen sollte, ist unklar, es war wohl gegenüber
den Vertretern der Front eine Art von »Glück auf!«. Damit zog er sich ele­
gant aus der Zwickmühle einer kommenden Entscheidungsschlacht, die er
vermutlich selbst schon im Stillen für verloren angesehen hat. Immerhin lag
er mit seiner Prognose, die Hauptoffensive richte sich gegen die Heeresgruppe
Nordukraine, auf der Linie mit seinem Chef Zeitzler. Auch Keitel als Chef des

345
OKH und Hitler selbst teilten die Auffassung.640 Ob sie damit den bisherigen
Prognosen von FHO folgten oder sich ein eigenes Urteil gebildet hatten, ist
nicht bekannt.
Noch fünf Tage vor dem großen Schlag gegen die Mitte schickte Gehlen sei­
nen für die Feindlagebeurteilung zuständigen Gruppenleiter Graf von Rittberg
zu Zeitzler, weil einige Verbände aus dem Bereich der Heeresgruppe Norduk­
raine abgezogen werden sollten. Im Auftrag Gehlens trug Rittberg vor, »dass
der Schwerpunkt der künftigen sowjetrussischen Angriffsoperationen im gro­
ßen unverändert gegen die Heeresgruppe Nordukraine zu erwarten ist«. Die
jüngst bemerkten Angriffsvorbereitungen vor der Heeresgruppe Mitte änder­
ten nichts an dieser Auffassung, was durch zahlreiche Abwehrmeldungen
bestätigt werde. Er warnte ausdrücklich davor, die Abwehr des mutmaßlichen
Hauptstoßes gegen die Heeresgruppe Nordukraine zu schwächen.641
Selbst drei Tage nach Angriffsbeginn trug Gehlen persönlich noch einmal
dem Generalstabschef telefonisch vor, dass trotz dieser Entwicklung kein
Anlass zur Änderung der Feindlagebeurteilung gegeben sei. Dabei musste er
freilich einräumen, dass die Funk- und Luftaufklärung, die allein zuverlässige
Informationen über strategische Reserven beschaffen konnte, fast völlig aus­
gefallen sei und dass sich das Feindbild nahezu ausschließlich auf Agenten­
meldungen aufbaue, »die sich aber durch die Entwicklung der letzten Wochen
zum Teil bereits verhärtet haben«.642 Nun war auch Gehlen mit seinem Latein
am Ende. Er sollte nicht ungeschoren davonkommen.
Als die Rote Armee am 22. Juni 1944 mit der Operation »Bagration« die
Offensive eröffnete und die Front innerhalb weniger Tage zerschmetterte,
machte das Oberkommando der Heeresgruppe Mitte die Abteilung Fremde
Heere Ost für diese Katastrophe verantwortlich, wobei man vom eigenen Ver­
sagen abzulenken verstand.643 Dagegen setzte Gehlen eine außerordentlich
geschickte Rhetorik. Am 27. Juni, als sich die zerschlagenen Teile der 4. Armee
in einem wandernden Kessel nach Westen bewegten, legte er eine kurze Feind­
lagebeurteilung vor, die mit einem langen Schachtelsatz beginnt:

Die großen, auch dem Russen völlig unerwarteten Anfangserfolge des Fein­
des gegen die Heeresgruppe Mitte müssen die sowjetische Führung zu der
Erkenntnis kommen lassen, daß die in Nachahmung der deutschen Kampf­
weise jetzt in der Praxis angewandten Führungs- und Kampfgrundsätze ihre
Bewährungsprobe bestanden haben und daß gegenüber diesem Kampfver­

640 Ebd., S. 514.


641 Aktennotiz Rittbergs vom 17.6.1944, BA-MA, RH 2/2565.
642 Aktennotiz Gehlens vom 25.6.1944, ebd.
643 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 514.

346
fahren die deutsche Abwehrkraft von russischer Seite aus niedriger einzu­
schätzen ist als bisher.644

Die durch nichts belegte Behauptung, die Russen seien selbst von ihrem
Anfangserfolg überrascht, war eine wohlfeile Erklärung dafür, dass FHO die
Stoßkraft der Offensive falsch eingeschätzt hatte. Der zusätzliche Verweis dar­
auf, dass der Feind die deutsche Kampfweise erfolgreich nachahme und daher
die deutsche Abwehrkraft nicht ausreichend sei, war von der Sache her nicht
völlig falsch, aber letztlich auch nur eine Ausrede dafür, dass FHO nicht in der
Lage gewesen war, den Schwerpunkt der feindlichen Großoffensive rechtzeitig
zu erkennen. Und es sollte noch schlimmer kommen. Gehlen verlegte sich am
27. Juni auf die Prognose, dass sich die russische Führung nach den Anfangser­
folgen in der Mitte entschließen könnte, die Balkanlösung fallenzulassen oder
aber die Balkan- und die Ostseelösung gleichzeitig anzustreben. In jedem Falle
werde der Bereich Nordukraine seine bisherige Bedeutung als Angelpunkt der
Ostfront beibehalten. Deshalb werde der Feind dort »baldigst« antreten.
Dabei entwickelte sich der sowjetische Durchbruch in der Mitte innerhalb
weniger Tage zur größten Katastrophe in der bisherigen deutschen Militärge­
schichte. Nach Hitlers Eindruck befand sich dort, wo die Heeresgruppe Mitte
sein sollte, »nur ein Loch«.645 Er löste Feldmarschall Busch ab und ersetzte
ihn am 29. Juni durch seinen besten Spezialisten für Krisensituationen, Feld­
marschall Walter Model, der bisher die Heeresgruppe Nordukraine geführt
hatte und dieses Kommando beibehielt. Model, der jetzt den größten Teil der
Ostfront kommandierte, musste seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die
Mitte richten, wo der Gegner in den nächsten vier Wochen über Hunderte von
Kilometern nach Westen vorstieß. Nur mit Mühe konnte Model, statt wie Busch
nach Maßgabe von Hitlers Anweisungen linear und starr zu verteidigen, in
beweglicher Kampfführung die vorgeprellten feindlichen Angriffsspitzen mit
Flankenangriffen attackieren, bis sie vor Warschau und nach einem Einbruch
in Ostpreußen zum Stehen gebracht wurden. Innerhalb von vier Wochen hatte
die Heeresgruppe Mitte praktisch den gesamten Raum verloren, den sie 1941 in
drei Monaten erobert und seitdem gehalten hatte.
Um der absehbaren Katastrophe zu entgehen, schlug Zeitzler Ende Juni vor,
dass sich die Heeresgruppe Nord aus dem nördlichen Baltikum zurückziehen
solle, um so aus der sich abzeichnenden Falle rechtzeitig zu entweichen. Dabei

644 Abt. FHO (I) Nr. 2096/44 g.Kdos., Kurze Beurteilung der Feindlage vom 27.6.1944,
BA-MA, RHD 18/249, S. 290-292.
645 Hitler im Rückblick. Lagebesprechungen im Führerhauptquartier. Protokollfragmente
aus Hitlers militärischen Konferenzen 1942-1945, hg. von Helmut Heiber, München
1964, S.615 (31.8.1944).

347
würde sie zugleich fast die Hälfte ihrer Kräfte freimachen und könnte durch
einen Flankenangriff nach Süden die Heeresgruppe Mitte entlasten. Tagelang
rang Zeitzler auf dem Berghof mit Hitler um die entsprechende Genehmigung.
Es war eine der heftigsten operativen Kontroversen während des Zweiten
Weltkriegs.646 Zeitzler hatte die Unterstützung der Oberbefehlshaber der bei­
den Heeresgruppen, doch der »Führer« blieb halsstarrig bei seiner Absicht,
kein Gelände preiszugeben. Der Generalstabschef beschwor die absehbare
Katastrophe und erklärte, der Krieg sei militärisch verloren und müsse been­
det werden. Anschließend bat er um seine Ablösung, was Hitler verweigerte.
So blieb Zeitzler einfach zu Hause und kam nicht mehr zu den Lagebespre­
chungen.647 Es oblag dann Heusinger, ihn vorübergehend zu vertreten und
den langwierigen Kampf um die Räumung des Baltikums weiterzuführen. Die
Unterstützung Gehlens hatte Heusinger dabei nicht, denn der Chef FHO mel­
dete sich ebenfalls krank. In seinen Memoiren behauptete er später, er habe
eine Blutvergiftung gehabt, in seinen Personalunterlagen ist von einer Pansi­
nusitis (Nasennebenhöhlen-Entzündung) die Rede. Zeitgenössisch schrieb er
von einer »recht unangenehmen Kiefernhöhlenvereiterung« als Ergebnis einer
Erkältung, die er sich im April während der Kur in Karlsbad zugezogen hat­
te.648 Anfang Juli legte er sich wegen einer Sepsis ins Lazarett von Lötzen. Es
brachte Gehlen jedenfalls für mehrere Monate aus der Schusslinie, zunächst
ins ostpreußische Angerburg,649 dann in das heimatliche Breslau. Er wird es
nicht bedauert haben.
Es war nun wieder an Wessel, mit möglichst zutreffenden Lagebeurteilun­
gen zu helfen, die Krise an der Ostfront zu überwinden. Bisher hatte die Abtei­
lung FHO »mit ihren Prognosen über Ansätze und Ziele der sowjetischen Som­
meroffensiven nördlich der Karpaten mehr Verwirrung als Nutzen gestiftet«,
wie der Historiker Hans-Heinrich Wilhelm meint.650 Während der historischen
Ereignisse musste Gehlen erleben, dass die Feindpropaganda das Versagen der
deutschen Aufklärung öffentlich thematisierte. In Sendungen des Nationalko­
mitees Freies Deutschland am 4. und 5. August 1944 hieß es, dass die Soldaten
die Fehler der Führung mit ihrem Blut bezahlen mussten.

646 Siehe hierzu Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, S. 560 – 563.
647 Zeitzler erhielt später als Pensionär Briefe von Manstein, Halder sowie häufiger von
Speidel, von Gehlen findet sich nichts.
648 Schreiben Gehlens aus dem Lazarett an seinen Karlsbader Bekannten vom 4.7.1944,
Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 13.
649 In Angerburg erhielt Gehlen von seiner »Bande«, den Stabshelferinnen und Offizieren,
einen Blumenstrauß mit besten Wünschen zur Genesung; siehe Dankschreiben Geh­
lens vom 10.7.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 13.
650 Wilhelm, Prognosen, S. 62.

348
Wie die Aussagen gefangengenommener deutscher Kommandeure und
Stabsoffiziere zeigen, hat die deutsche Führung nicht einmal erkannt, an
welcher Stelle der Schwerpunkt der sowjetischen Sommeroffensive liegen
würde, und rechnete mit einem Großangriff viel weiter südlich. Durch dieses
Versagen hat der Ic der Heeresgruppe Mitte und die deutsche Luftwaffe im
Mittelabschnitt eine schwere Schuld auf sich geladen.651

Der angesprochene Ic war Oberst i. G. Hans-Heinrich Worgitzky, zehn Jahre


später Stellvertreter Gehlens beim BND.
Die Feindlagebeurteilungen unterschrieb Gehlen erst wieder am 29. Sep­
tember 1944. Da war das Schlimmste vorbei. Am 1. August hatte in der Pan­
zerschlacht bei Warschau die sowjetische Offensive in der Mitte im Wesentli­
chen zum Stehen gebracht werden können. Die Heeresgruppe Nord zog sich
unter dem feindlichen Druck schrittweise auf Kurland zurück, wo sie sich bis
zum Kriegsende erfolgreich verteidigen konnte, im Westen übernahm Model
am 16. August den Oberbefehl und konnte den Vormarsch der Alliierten auf
die Reichsgrenze entscheidend verlangsamen, denn Eisenhower hatte seine
Linien überdehnt und benötigte Zeit für den Aufmarsch. Und der von Gehlen
beschworene feindliche Schwerpunkt bei Kowel?
Am 18. Juli hatte die 1. Weißrussische Front ihre lange erwartete Offen­
sive mit einer gewaltigen Übermacht im Großraum Kowel eröffnet. Die Hee­
resgruppe Nordukraine hatte inzwischen neun ihrer 33 Divisionen an die
zerschlagene Heeresgruppe Mitte abgeben müssen. Es war der Beginn einer
weiteren Rückzugsschlacht über 350 Kilometer, die nach vier Wochen vor­
erst an der Weichsel und am Rand der Karpaten endete, weiter im Süden die
Heeresgruppe A auf die ungarische Grenze zurückwarf. Mitte August eröff­
nete der Gegner bei der Heeresgruppe Südukraine seine Offensive, die von
Gehlen vielfach vorausgesagte Balkanlösung, die inzwischen von FHO aber
als »unwahrscheinlich« eingestuft worden war.652 Auch hier waren der Hee­
resgruppe zwischenzeitlich zehn Divisionen abgezogen worden. Während
Wessel damit rechnete, dass der feindliche Schwerpunkt weiterhin zwischen
Karpaten und Warschau liegen werde – hier kamen die Offensiven aber gerade
zum Erliegen -, führte die neue Offensive Ende August zum Zusammenbruch
im rumänischen Raum und zum Frontwechsel Rumäniens und Bulgariens,
was die deutsche Heeresgruppe E in Griechenland dazu zwang, durch einen

651 Zit. nach: Pahl, Fremde Heere Ost, S. 228.


652 Wessel rechnete lediglich mit örtlichen Fesselungsangriffen, nicht mit einer Angriffs­
operation größeren Ausmaßes mit weitreichender operativer Zielsetzung; Beurteilung
der Gesamtfeindlage vor deutscher Ostfront, Stand 15.8.1944, BA-MA, RHD 18/249,
S. 303-308.

349
dramatischen Rückzug wieder Anschluss an die deutsche Front zu finden.653
Für Gehlen persönlich entscheidend war es aber in dieser Zeit, dass er den
Staatsstreichversuch vom 20. Juli 1944 im sicheren Lazarett überstand und die
in seiner Abwesenheit von Wessel geführte Abteilung nicht von den nachfol­
genden Repressalien in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Im April 1944 hatte Heusinger eine Mitwirkung an der Verschwörung abge­
lehnt mit der fatalistischen Begründung, »ein Umsturz ändere nichts, man
müsse sich dem Gedanken eines Endes ohne Rettung ergeben«.654 Sein Abtei­
lungschef-Kollege Gehlen hatte sich, wie bereits erwähnt, von der Idee eines
Staatsstreichs von Anfang an distanziert. Er konnte der moralischen Haltung
eines Henning von Tresckow gewiss nichts abgewinnen, einem der Hauptver­
schwörer, der an Stauffenberg geschrieben hatte:

Das Attentat muß erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muß
trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den
praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbe­
wegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den
entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.655

Tresckow, der prädestinierte Führer des Umsturzes, diente zu dieser Zeit als
Chef des Generalstabs der 2. Armee, die in der Heeresgruppe Mitte im Brenn­
punkt der Abwehrkämpfe stand. Stauffenberg übernahm seine Aufgabe. Geh­
len stand nicht auf seinem Plan, auch nicht die Abteilung Fremde Heere Ost.
Deren Chef hielt es anscheinend für aussichtsreicher, bei dem Versuch des
Staatsstreichs nicht im Wege zu stehen. Auch die Resignation Heusingers, es
gebe keine Rettung, teilte Gehlen nicht. Er war aber von Oberst Hansen, der
1942 für einige Monate bei FHO die Gruppe Südost geleitet hatte, darüber infor­
miert worden, dass er ein Treffen mit einem Abgesandten Churchills in Süd­
frankreich arrangiert habe. So wollte er herausfinden, ob die britische Regie­
rung nach einem Umsturz mit einer neuen deutschen Regierung verhandeln
würde. Hansen kam deprimiert von der Begegnung zurück. Es werde keine
Ausnahme von der Forderung einer bedingungslosen Kapitulation geben.656

653 Am 3. November 1944 wurde Guderian als dem neuen Chef des Generalstabs des Heeres
eine Ausarbeitung von FHO vorgelegt. Sie diente der Rechtfertigung gegen den Vorwurf,
nicht nachdrücklich genug vor der sowjetischen Offensive Jassy-Tiraspol in Rumänien
gewarnt zu haben; zit. nach: Wilhelm, Prognosen, S. 62, Anm. 199.
654 Peter Hoffmann: Widerstand, Staatsstreich, Attentat, Frankfurt a. M. 1971, S. 406.
655 Brief Tresckows an Stauffenberg, Juli 1944, zit. nach: Bodo Scheurig: Henning von Tres­
ckow. Eine Biographie, Oldenburg 1973, S. 184.
656 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 2.3.1972, IfZ, ED 100-69-51.

350
Generalmajor Henning von Tresckow, 1944

Der militärische Widerstandskreis um Stauffenberg entschloss sich, eine


Lagebesprechung Hitlers am 20. Juli 1944 zu nutzen, um das lange geplante
Attentat zu verüben und unter dem Kartentisch eine Bombe zu platzieren.
Stauffenberg selbst musste die schwierige Aktion in Rastenburg durchfuhren
und flog dann nach Berlin zurück. Dort hatten die Verschwörer gezögert, die
vorbereiteten Maßnahmen für den Umsturz konsequent umzusetzen. Erst mit
Stauffenbergs Rückkehr kam der Staatsstreich in Gang. Doch der nur leicht
verletzte Hitler war schneller und nahm grausam Rache. Er ließ einige der
beteiligten Offiziere im Hof der Bendlerstraße erschießen, und durch die nach­
folgenden Untersuchungen und Verhaftungen kamen Hunderte Angehörige
des Widerstandskreises ums Leben.
Gehlen gibt in seinen Memoiren an, er sei zwei oder drei Tage vor dem
Attentat im Breslauer Lazarett durch einen Besuch von Oberst i. G. Wessel Frei­
herr von Freytag-Loringhoven über den Beginn der Aktion am 20. Juli unter­
richtet worden.657 Loringhoven hatte unter Canaris die für Sabotage zustän­
dige Abwehrabteilung II geführt. Nach der Auflösung der Abteilung Ausland/
Abwehr im OKW hatte er im OKH die Abteilung Heerwesen geleitet und die
Möglichkeit genutzt, für den Attentäter Stauffenberg den englischen Spreng­
stoff und die Zünder zu besorgen. Warum er Gehlen vom geplanten Attentat
unterrichtet haben soll, ist nicht recht verständlich. Wahrscheinlich handelte
es sich um einen persönlichen Krankenbesuch, bei dem er vielleicht Andeutun­
gen gemacht hat. Zeitgleich versuchte Stieff Heusinger eine Warnung zukom­

657 Gehlen, Der Dienst, S. 47.

351
men zu lassen, um zu verhindern, dass dieser durch die Bombe verletzt wur­
de.658 Da Gehlen nicht zur Runde der Führerlage gehörte, wäre ein ähnliches
Vorgehen durch Loringhoven überflüssig gewesen. Im Breslauer Lazarett war
Gehlen ohnehin weitab vom Schuss. Dort zeigte er sich interessiert an einem
Vorschlag des Chefarztes, besondere Lazarette für geschlechtskranke Solda­
ten einzurichten, um in dringenden Krisenlagen »kampfkräftige Einheiten«
zusammenstellen zu können. Gehlen versprach, den Vorschlag an den Chef
des Generalstabs heranzutragen. Er fühlte sich jedenfalls in dem Breslauer
Lazarett »ausserordentlich gut aufgehoben«, sodass er es seinem Schwager
Major i. G. Joachim von Seydlitz-Kurzbach empfehlen konnte, der mit einem
Magengeschwür in die Innere Abteilung kam.659
Nach dem Krieg hat Gehlen auf die Frage von Wessel, ob er vom Attentat
gewusst habe, geantwortet, er sei von »gewissen Bestrebungen gegen die Füh­
rung Hitlers« unterrichtet gewesen, wegen der Gefährlichkeit habe er nicht mit
Wessel darüber gesprochen.660 Bemerkenswert ist die Betonung, es sei um die
»Führung« Hitlers gegangen. Das war, wie aus anderen Äußerungen bekannt
ist, der Punkt gewesen, an dem er mitziehen konnte, nämlich die Kritik an
Hitlers Eingriffen in die militärische Führung. Das bedeutete nicht Regime­
wechsel. Gehlen hat in seinen Memoiren etwas gestelzt eingeräumt, dass er
einen Hochverrat nur bei einem besonderen nationalen Notstand anerkennen
könne, und schließlich erklärt: »Mit meinen Freunden, die das Letzte gewagt
haben, erkenne ich diesen Notstand unter Hitlers verderbenbringender Füh­
rung als gegeben an.«661 Das war Anfang der 1970er-Jahre, eine ganz andere
Zeit, und da schien es angebracht, dem 20. Juli seine Reverenz zu erweisen.
Auf diese Weise verband er sich einerseits spät mit seinen »Freunden« wie
Tresckow und Stauffenberg, die in der Bundesrepublik längst zu identitäts­
stiftenden »Helden« geworden waren, und stieß zugleich nicht jenen Wehr­
machtskameraden vor den Kopf, die auch im BND nicht der westdeutschen
Geschichtspolitik zu folgen vermochten. Heusinger hatte noch 1958 große
Mühe, als Generalinspekteur der Bundeswehr die Anerkennung des 20. Juli als
traditionswürdig durchzusetzen.662 Gehlen distanzierte sich hingegen zeitle­

658 Meyer, Heusinger, S. 267-268. Heusinger stand im Augenblick der Bombenexplosion,


die Hitler galt, direkt neben dem Diktator am Lagetisch und wurde schwer verletzt,
später im Krankenhaus verhaftet und dann im September 1944 wieder entlassen, weil
man ihm eine direkte Verbindung zum Widerstand nicht nachweisen konnte.
659 Schreiben Gehlens an Professor Gottron (?) vom 26.12.1944, Gehlen-Kisten, Mappe
Nr. 13, mit dem Hinweis, dass die Art der Durchführung inzwischen bei der Organisa­
tionsabteilung sowie vom Heeresarzt geprüft werde.
660 Aktennotizen zur Geschichte der Org., Sept. 1952, BND-Archiv, N 1/1.
661 Gehlen, Der Dienst, S. 47.
662 Meyer, Heusinger, S. 628 – 636.

352
bens von zivilen Widerstandskämpfern und Emigranten, auch wenn sie am
Rande des 20. Juli eine Rolle gespielt haben. Seit 1944 lebte er in der Vorstel­
lung, es sei dem sowjetischen Geheimdienst gelungen, mit Martin Bormann
und der sogenannten Roten Kapelle die deutsche Führung zu unterwandern.
Das wurde nicht nur eine wohlfeile Erklärung für die Niederlage von 1945,
sondern zu einer geradezu fixen Idee, die er in der Nachkriegszeit mit ehema­
ligen Angehörigen der Gestapo und der Abwehr in seinem Dienst teilte. Die
Überzeugung, dass die Rote Kapelle überlebt habe und jetzt führende Kreise
der Bundesrepublik infiltriere, verfolgte er später mit einer bemerkenswerten
Besessenheit.663
Er habe Glück gehabt, nicht sofort in den Kreis der Verdächtigen des
20. Juli geraten zu sein, schreibt Gehlen in seinen fragwürdigen Erinnerungen -
warum eigentlich diese falsche Dramatisierung? Die Gestapo hätte vermutlich
kaum etwas finden können, was ihn belasten konnte, außer den dienstlichen
Kontakt zu einigen der Verschwörer. Loringhoven hat sich am 26. Juli, unmit­
telbar vor seiner Verhaftung durch die Gestapo, das Leben genommen. Durch
ihn drohte Gehlen also keine Gefahr, als möglicher Mitwisser in Verdacht zu
geraten. Die Frage, warum er abseitsgestanden habe, wo seine »Freunde« »das
Letzte« gewagt haben, umging er mit dem Verweis auf seinen Lazarettaufent­
halt. Als es 1949 bei dem anstehenden Spruchkammerverfahren um seine
angestrebte Entnazifizierung ging, war er zunächst noch mutiger gewesen.
Dort ließ er eine Erklärung Heusingers vorlegen, dass Gehlen angeblich zum
Kreis der Männer gehört habe, »die Hitler beseitigen wollten«, und es sei Ein­
geweihten als ein Wunder erschienen, dass er nach dem 20. Juli nicht verhaftet
worden sei.664
In Kenntnis der Persönlichkeit Gehlens wird man zweifeln können, ob er
bereit gewesen wäre, auch in aussichtslos erscheinender Lage »das Letzte«
zu wagen, wie etwa Loringhoven. Der hatte bei einem Treffen von Gleichge­
sinnten im Frühsommer 1944 gesagt: »Aber auch wenn es nicht gelingt, wird
wenigstens in der deutschen Geschichte stehen, daß Menschen ihr Leben
eingesetzt haben, um diesen Verbrecher zu beseitigen.«665 Gehlen, das steht
fest, fühlte sich nicht dazu berufen, und der Lazarettaufenthalt hat ihn der
Not enthoben, sich entscheiden zu müssen. Er hätte auch sonst seinen Dienst
am 20. Juli weder im Entscheidungszentrum der Berliner Bendlerstraße noch
in der Rastenburger Lagerbaracke geleistet, sondern wäre routinemäßig im
benachbarten OKH-Hauptquartier Mauerwald anwesend gewesen – sofern

663 Siehe dazu Sälter, Phantome, S. 411- 417.


664 Bescheid der Münchener Spruchkammer, 7.7.1949, Bundeskanzleramt, Verschluss­
sachen-Registratur, Personalakte Präsident Gehlen.
665 Alexander Dohna-Schlobitten: Erinnerungen eines alten Ostpreußen, Berlin 1989, S. 186.

353
Hitler ihn nicht überraschend zur Lagebesprechung befohlen hätte. So hätte
ihn das Attentat und seine unmittelbaren Folgen nicht treffen können. In
Gewissensnot wäre er geraten, wenn im Zuge des Umsturzversuchs die Loya­
lität der einzelnen Dienststellen abgefragt worden wäre.
Als einen Tag nach dem Scheitern des Attentats die Abteilungschefs des
Generalstabs aufgefordert wurden, ihren Offizieren klarzumachen, dass der
Anschlag auf den »Führer« die Tat gewissenloser Verräter und Feiglinge gewe­
sen sei, blieb dem abwesenden Gehlen diese Mutprobe erspart. Sein Freund
Baron von Roenne, Chef Fremde Heere West, verurteilte zwar bei dieser Gele­
genheit die Tat, von deren Vorbereitung er gewusst, an der er aber nicht teil­
genommen hatte. Dann freilich verteidigte er die Gesinnung der Attentäter.
Es seien keine Feiglinge und gemeine Vaterlandsverräter gewesen. Schon
nachmittags kam es zum Verhör, schließlich wurde der Oberst verhaftet. Offi­
ziell aus der Wehrmacht ausgestoßen, stand er in ziviler Kleidung am 5. Okto­
ber 1944 vor dem Volksgerichtshof und wurde zum Tode verurteilt. Er gehörte
dann zu jenen, die Mitte Oktober 1944 unter rüden Witzen des Henkers bei
gellender Radiomusik an Fleischerhaken in Berlin-Plötzensee erhängt wurden.
Gehlen ist sicherlich betroffen gewesen von diesem Schicksal seines Freun­
des, dessen tiefe religiöse Bindung erst in später veröffentlichten Briefen deut­
lich geworden ist. Immerhin duldete es Gehlen stillschweigend, dass sich sein
Referatsleiter Karl Ogilvie um Roennes Witwe kümmerte, obwohl das offiziell
verboten war.666 Nachdem er fast 30 Jahre später in seinen Memoiren Roenne
rückblickend sogar seinen Freund genannt hatte,667 schrieb er der Witwe per­
sönlich und bezeichnete ihren ermordeten Mann als einen der »begabtesten
Generalstabsoffiziere« und sich als seinen Förderer.668
Man wird annehmen können, dass ihn in den Tagen nach dem Attentat der
Tod von Ludwig Beck, den er acht Jahre zuvor als Generalstabschef kennenge­
lernt hatte, betroffen gemacht hat, ebenso wie die vielen Namen von verurteil­
ten und hingerichteten Widerstandskämpfern, die ihm aus dem dienstlichen
Bereich bekannt waren. Zweifel an der eigenen Haltung sind dadurch offenbar
nicht ausgelöst worden. Gehlen blieb in Deckung und setzte aufs Überleben.
Einem Bekannten schrieb er zwei Wochen vor dem Staatsstreich, es werde
ihm »jeden Tag bewusst, wie sehr die persönlichen Dinge hinter den gro­
ßen Schicksalsfragen zurücktreten«. Er werde gegenwärtig im Lazarett von

666 Ogilvie im Interview am 11.8.1981, BA-MA, MSg 2/3240, S. 39.


667 Gehlen, Der Dienst, S. 45.
668 Briefe Gehlens an Ursula Freifrau von Roenne, 9.5.1973 und 20.6.1974, zit. nach: Mag­
nus Pahl, Motive und Ziele – Geheime Aufzeichnungen von Oberst i. G. Alexis Freiherr
von Roenne, in: Attentat auf Hitler. Stauffenberg und mehr, hg. von Linda von Keyser­
lingk u. a., Dresden 2014, S. 46.

354
Dr. Gieseking behandelt. »Er kommt mittags und abends und malträtiert
meine Nase mit Kokain und allen möglichen Marterinstrumenten in der
Ihnen bekannten Form. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und finde
es sogar ganz angenehm.«669 Am 5. Oktober verabschiedete er sich aus dem
Lazarett mit einem schriftlichen Dank für »die Gastfreundschaft, die ich im
Studentenheim genossen habe und für die Betreuung durch die Schwestern,
welche sich grösste Mühe gaben, mir das Leben so angenehm wie möglich zu
machen«.670
Nachdem er Anfang Oktober 1944 die Abteilung wieder übernommen hatte,
schrieb er seinem Vorgänger Kinzel einen Brief. Er beschrieb seine dreimo­
natige Erkrankung und den Lazarettaufenthalt. Die Abteilung fahre im »alten
Gleise, gekennzeichnet durch das Bestreben einer möglichst sachlichen
Arbeit«. Doch habe sich personell natürlich eine Menge geändert.

Im ganzen bin ich mit der Zusammensetzung sehr zufrieden, da sich unter
meinen jetzigen Herren keine einzige Niete befindet. Sehr froh bin ich auch,
dass meine Abteilung nicht von den unseligen Ereignissen des 20. Juli berührt
worden ist. Ich führe es darauf zurück, dass ich mich bemüht habe, alle Her­
ren durch häufige Besprechung der Lageentwicklung und ihrer Auswirkun­
gen innerlich an der Strippe zu halten.

Kein Wort also im politischen Sinne, von Führertreue oder Ähnlichem, obwohl
er doch damit rechnen musste, dass sein Schriftwechsel von der Gestapo über­
wacht wurde. Stattdessen eine »schneidige«, aber sicher nicht ernst gemeinte
Bemerkung darüber, dass er schon längere Zeit nicht befördert worden war:

Ich selbst hoffe, dass ich gelegentlich nun auch einmal den Absprung finden
kann, an die Front zu kommen, damit ich nicht als Oberst mein militärisches
Leben beschließe. Herrn General wünsche ich für die kommende Zeit von
Herzen alles Gute und alles Soldatenglück.671

Das Schicksal seines ehemaligen Regimentskameraden und Abwehrspezialis­


ten Bamler, der als Divisionskommandeur beim Zusammenbruch der Heeres­
gruppe Mitte in sowjetische Gefangenschaft geraten und zum Kommunismus
konvertiert war, dürfte Gehlen vor Augen geführt haben, welche Gefahren ihm

669 Schreiben Gehlens an Borgmann vom 10.7.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 13.
670 Schreiben Gehlens an Dr. Deschka vom 5.10.1944, ebd.
671 Schreiben Gehlens vom 19.10.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 76. Als Adressat ist Kinzel
zwar nicht direkt genannt, doch spricht für die Vermutung der Zusammenhang des
Schreibens.

355
bei einem Fronteinsatz drohten. Bamler warb jedenfalls nun im Rahmen des
Nationalkomitees Freies Deutschland um deutsche Überläufer und einen Waf­
fenstillstand im Osten, während Gehlen die Wlassow-Bewegung unterstützte,
also auf Überläufer der Roten Armee setzte, und bereits daran dachte, sich
nach einer deutschen Niederlage den Amerikanern zur Verfügung zu stellen.
Die Frage des 20. Juli hat ihn offensichtlich zeitlebens beschäftigt, doch nur
im Stillen, Äußerungen in der Öffentlichkeit oder zumindest intern im BND
sind nicht bekannt. Da spielte wohl auch eine Rolle, dass Otto John Anfang
der 1950er-Jahre ein scharfer Konkurrent wurde, als dieser den Bundesverfas­
sungsschutz übernahm. John hatte im Krieg für die Abwehr in Spanien und
Portugal gearbeitet und für den Widerstand wichtige Verbindungen geschaf­
fen. Dass er dann in die DDR überlief, muss das Thema des Widerstands für
Gehlen ebenso suspekt gemacht haben wie der Umstand, dass man Stauffen­
berg eine Ostorientierung nachsagte.672
Gehlen verhielt sich letztlich nicht anders als die meisten seiner ehemaligen
Vorgesetzten und Kameraden, die der kleinen Gruppe von Verschwörern skep­
tisch bis ablehnend gegenüberstanden. Das muss keineswegs aus politischen
Überzeugungen so gewesen sein. Wenn Gehlen von Anfang an vom Scheitern
eines möglichen Staatsstreichs überzeugt gewesen ist, dann mag er sein eige­
nes Verhalten schlicht als Lebensklugheit verstanden haben. Stauffenberg,
Tresckow und die anderen waren hingerichtet worden. Sie konnten die Pas­
sivität der Kameraden nicht anprangern und blieben eine unausgesprochene
Anklage. Heusinger, der immerhin zeitweilig inhaftiert gewesen war, mokierte
sich 1948 darüber, dass Halder sich bei seinem Entnazifizierungsverfahren
durch die ewige Betonung seines Widerstands unglaubwürdig gemacht habe.
Wenn er schon frühzeitig den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes
erkannt habe, werde jeder sagen, dann hätte er doch nicht so lange mitma­
chen dürfen.673
Dabei konnte Heusinger im Gegensatz zu Gehlen für sich in Anspruch neh­
men, dass in seiner Abteilung während des Krieges offen und ungeschützt im
Kreis der jungen Offiziere Hitler kritisiert und nächtelang über die Frage dis­
kutiert worden ist, ob ein Attentat unternommen werden sollte oder nicht.674
Und Heusinger hat sich selbst zu dieser auch moralisch begründeten Opposi­
tion nach dem Krieg offen bekannt.675 Während seines Lazarettaufenthaltes,
wo er die beim Attentat erlittenen Verletzungen auskurierte, und während sei­
ner Gestapohaft erhielt Heusinger anteilnehmende Briefe von vielen Bekann­

672 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1, S. 857-863.
673 Meyer, Heusinger, S. 332 (15.2.1948).
674 Ebd., S. 276.
675 Siehe dazu insgesamt Heusinger, Befehl im Widerstreit.

356
ten und Kameraden. Ob sich darunter auch sein ehemaliger Untergebener
Reinhard Gehlen befand, ist nicht klar.676 Gehlen war zwar selbst im Lazarett,
aber Kontakte zu einem, der verdächtigt wurde, von den Vorbereitungen zum
Staatsstreich gewusst zu haben, waren nicht ungefährlich. Heusinger erhielt
von dem ihm nahestehenden Hauptmann Hanns-Gero von Lindeiner-Wildau
einen besonders herzlichen Brief, worauf dieser von der Geheimen Feldpoli­
zei festgenommen wurde. Nach einer ersten Untersuchung wegen Mangels
an Beweisen vorläufig auf freien Fuß gesetzt, holte ihn Gehlen in seine Abtei­
lung.677
Gehlen fand seinen eigenen, ambivalenten Weg. Für ihn war es offensicht­
lich nicht, wie etwa für Stauffenberg, eine »Frage der Ehre«,678 sich dem Dik­
tator in den Weg zu stellen, sondern eine Frage der praktischen Vernunft und
der Erfolgsaussichten. Am Umsturz wollte er sich daher nicht beteiligen, doch
wenn es wider Erwarten gelungen wäre, das Regime zu beseitigen, hätte er
zweifellos zur Verfügung gestanden, um die neue Führung darin zu unterstüt­
zen, eine Verständigung mit den Westmächten zu erreichen und den Kampf
gegen die UdSSR fortsetzen zu können. Beim Scheitern der Verschwörer lag
die Betonung auf der unbedingten Fortsetzung des Kampfes gegen den Bol­
schewismus, eine wohlfeile Rechtfertigung, den aussichtslosen Krieg an der
Ostfront auch im Zeichen des Hakenkreuzes bis zum bitteren Ende fortzuset­
zen und dann darauf zu vertrauen, dass die Gegensätze zwischen den Kriegs­
partnern aufbrechen und neue Chancen eröffnen würden. Während auch
Stauffenberg die Meinung vertrat, die Westalliierten könnten es sich gar nicht
leisten, auf Deutschland als Gegengewicht zur Übermacht der UdSSR auf dem
Kontinent zu verzichten, erwog Tresckow ernsthaft (vor der Invasion) eine Ver­
ständigung mit Moskau, weil er meinte, es sei von den Westalliierten nichts zu
erwarten, Russland aber werde der Sieger auf dem Kontinent sein.679
Bereits im Vorfeld des Staatsstreichs hatte im Mai 1944 Adam von Trott zu
Solz im Auftrag der wichtigsten Repräsentanten des militärischen und zivilen
Widerstands, Ludwig Beck und Carl Goerdeler, versucht, mit Allen Dulles, dem
Repräsentanten des US-amerikanischen Geheimdienstes OSS in der Schweiz,
Kontakt aufzunehmen, um den Weg für eine Verständigung zu ebnen. Er

676 Meyer, Heusinger, S. 288-289, erwähnt unter den zitierten Briefen Gehlen nicht.
677 Ebd., S. 289. Lindeiner war der Sohn des letzten DNVP-Generalsekretärs, er trat nach
1945 in den Staatsforstdienst ein, gehörte 1959 bis 1961 für die CDU dem Deutschen
Bundestag an, trat dann in den diplomatischen Dienst ein und wurde Botschafter in
Kamerun.
678 Christian Graf von Krockow: Eine Frage der Ehre. Stauffenberg und das Hitler-Attentat
vom 20. Juli, Berlin 2002.
679 Hoffmann, Widerstand, S. 749.

357
warnte vor dem wachsenden Einfluss der Russen in Deutschland, etwa durch
die Propaganda des Nationalkomitees Freies Deutschland und die Anwesen­
heit von Millionen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen aus dem Osten.680
Denkbar, dass auch Gehlen darum wusste. Er verteilte jedenfalls auf dem
Dienstweg am 2. Juni 1944 eine Denkschrift über »Grundlagen und Ziele der
sowjet-russischen Außenpolitik«,681 die vermutlich von Legationsrat Gustav
Hilger stammt, dem russlandpolitischen Berater des Auswärtigen Amts. Geh­
len schätzte den Fachmann aus der Zusammenarbeit bei der Etablierung der
Wlassow-Bewegung und brachte ihn nach 1945 zeitweilig in seiner Organisa­
tion unter. Hilger wurde später von der CIA und dem US State Department
als Berater beschäftigt und kehrte dann wieder ins Auswärtige Amt zurück.
Hilgers Russlandbild, an dessen zutreffender Beschreibung der eher unpoli­
tische Berufsoffizier Gehlen nicht zu zweifeln hatte, stellte einen traditionel­
len Expansionsdrang des östlichen Riesenreiches in Rechnung, der durch die
Ideologie des Kommunismus lediglich eine »verstärkte Stoßkraft« verliehen
bekommen habe. Die territorialen Ziele Moskaus lägen bei den Ostseeaus­
gängen und reichten im Süden bis zum Persischen Golf. Sie kollidierten mit
den alliierten Interessen, und daher sei es nur eine Frage der Zeit, bis es »zur
Austragung der nur notdürftig verschleierten Gegensätze« kommen werde.682
Es war eine scheinbar realpolitische Sichtweise, für die man auf westli­
cher Seite im Prinzip Zustimmung finden konnte. Wofür Gehlen offenbar das
Verständnis fehlte, war die Einsicht, dass sich die Alliierten weder mit dem
NS-Regime noch mit einem nationalkonservativen Nachfolgeregime in Ver­
handlungen einlassen würden. Die Forderung nach einer bedingungslosen
Kapitulation war aus ihrer Sicht nicht verhandelbar, und sie hatten keine Ver­
anlassung, sich vor einem Sieg der Anti-Hitler-Koalition auseinanderdividieren
zu lassen. Dulles in der Schweiz, auf den die Verschwörer setzten, vertrat in
der US-Administration eine Außenseiterposition. Er befürchtete zu Unrecht,
dass der deutsche Widerstand sich nach Osten orientieren und die westlichen
Alliierten damit ins Hintertreffen geraten könnten. In Dulles fand Gehlen in
den 1950er-Jahren einen einflussreichen Auftraggeber als CIA-Chef.
Die Denkschrift vom 2. Juni 1944 war alles andere als ein Dokument des
Widerstands. Innerhalb der NS-Führung gab es schon längst ähnliche Hoff­
nungen auf ein Auseinanderbrechen der Anti-Hitler-Koalition. In Gehlens
Abteilung hatte schon 1943 Major Rittberg die Idee geäußert, dass man den
Westalliierten das Material von FHO über die Rote Armee in die Hände spielen

680 Hoffmann, Widerstand, S. 283.


681 BA-MA, RH 2/1980.
682 FHO/Chef, Grundlagen und Ziele der sowjetrussischen Aussenpolitik, 2.6.1944, BA-MA,
RH 2/1980.

358
müsste, um sie über das Potenzial ihres Verbündeten und seine Gefährlichkeit
zu informieren.683 Es gibt keinen Beleg dafür, dass Gehlen – angeblich über
Hermann Baun – bei den Briten entsprechend vorfühlen ließ und abgewiesen
wurde, wie behauptet wurde.684 Es markierte auch nicht die einzige Option
Gehlens für die nahe Zukunft. Die Gespräche mit seinem Stellvertreter Wessel
hatten zu der Erkenntnis geführt, dass man für die Nachkriegsplanung recht­
zeitig Stützpunkte in den Alpen anlegen müsste, um zu verhindern, dass das
wichtigste Material von FHO im Chaos der ersten Zeit zerstreut oder gar ver­
nichtet wurde.685
Das spricht für die spätere Behauptung Gehlens, er habe im Gegensatz zu
vielen NS-Führern nicht daran geglaubt, dass es schon vor oder kurz nach
einer militärischen Niederlage der Wehrmacht zu einem Bruch in der Anti-
Hitler-Koalition kommen würde.686 Diese Aussage bezieht sich freilich auf das
Frühjahr 1945, nicht auszuschließen also, dass er wie die meisten in seiner
Umgebung auch schon 1944 auf einen Allianzwechsel gehofft hat, dann wäre
Fremde Heere Ost bei einer Kontinuität der Wehrmacht deren Bestandteil
geblieben und Gehlen hätte bei der Ausschaltung der SS deren nachrichten­
dienstliche Kompetenzen an sich ziehen können. Das bleibt eine Spekulation,
doch wird man in Anbetracht seiner Persönlichkeit davon ausgehen können,
dass er sorgsam alle denkbaren Möglichkeiten in Betracht gezogen hat, um
sein wichtigstes Ziel zu erreichen: sich selbst und seine berufliche Basis wohl­
behalten durch die sich abzeichnende Katastrophe zu bringen.

11. Vorbereitungen auf das Ende (1944/45)


Ende September 1944 kehrte Gehlen in seine ostpreußische Dienstbaracke
zurück. Er wird dort Heusinger noch einmal begegnet sein, als dieser aus der
Haft entlassen und nach einem »Abschiedsbesuch« bei Hitler in die Führerre­
serve versetzt worden war, nicht ohne sich zuvor von seiner Operationsabtei­
lung persönlich zu verabschieden. Gehlen dürfte aufmerksam verfolgt haben,
wie die Heeresführung mit den angeblichen Verrätern des 20. Juli verfuhr.
Guderian, sein neuer Vorgesetzter, spielte eine besonders unrühmliche Rolle
bei dem sogenannten Ehrenhof, der betroffene Offiziere aus dem Heer »uneh­
renhaft« ausstieß und sie damit den Schauprozessen des Volksgerichtshofes
auslieferte. Wie Gehlen darauf reagiert hat, ist nicht bekannt.

683 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 96.


684 Reese, Der deutsche Geheimdienst, S. 39 (ohne Beleg).
685 Aktennotizen zur Geschichte der Org., Sept. 1952, BND-Archiv, N 1/1.
686 Gehlen, Der Dienst, S. 97.

359
Auf der fachlichen Ebene lag ihm Guderian, der im Ersten Weltkrieg selbst
als Nachrichtenoffizier eingesetzt gewesen war und in dessen Nähe Gehlen
während des Frankreichfeldzugs Guderians höchst erfolgreiche Truppenfüh­
rung hatte erleben können. Dass der hochdekorierte Panzerführer nach der
Wende vor Moskau von Hitler kaltgestellt worden war, schmälerte nicht sein
Ansehen im Generalstab. Der Feuerkopf mit Starallüren (Spitzname »Heinz
Brausewetter«)687 war inzwischen als »Bürogeneral« (Generalinspekteur der
Panzertruppen) offenbar ruhiger geworden. Als frisch ernannter General­
stabschef mit der Zuständigkeit für die Ostfront wusste er offenbar die flei­
ßige Arbeit der Abteilung FHO zu schätzen, die ihn zuverlässig unterstützte.
Meinungsverschiedenheiten in der Lagebeurteilung und in operativen Fragen
sind zwischen Guderian und Gehlen nicht bekannt geworden, bei Gehlens
ausgeprägter Anpassungsfähigkeit im Umgang mit Vorgesetzten waren sie
auch nicht zu erwarten. Nach Kriegsende blieben die Beziehungen zwischen
den beiden unterschiedlichen Charakteren distanziert, geprägt vom früheren
dienstlichen Vorgesetztenverhältnis.
Kurz nach Gehlens Rückkehr begannen in Mauerwald wegen der näher­
kommenden Russen die Rückverlegungen ins Lager »Maybach« bei Zossen.
Der Balkan war inzwischen verloren gegangen, die Heeresgruppe Nord in Kur­
land eingeschlossen, in der Mitte hielten sich die Truppen von Ostpreußen bis
Warschau, im Süden an der Karpatenlinie und in Ungarn. Der neue General­
stabschef Guderian sorgte sich nach Kräften darum, die Ostfront durch Befes­
tigungsarbeiten zu stabilisieren und Vorbereitungen dafür zu treffen, um die
mit Sicherheit zu erwartende Winteroffensive der Roten Armee aufzufangen.
Militärisch hatte sich die Wehrmacht auch im Westen an der Reichsgrenze
noch einmal halten können. Es war damit zu rechnen, dass die Westalliierten
ebenfalls noch einige Zeit brauchen würden, um ihren Angriff auf das Reich
logistisch vorzubereiten.
Hier sah Hitler die Chance zu einem überraschenden Gegenschlag, den
er wie 1940 in den Ardennen ansetzen wollte, um erneut die Kanalküste zu
erreichen und die Alliierten aus Westeuropa zu vertreiben. Anschließend
hoffte der Diktator, mit den frei werdenden Kräften eine operative Reserve
für die Ostfront gewinnen und so Stalins Armeen zurückschlagen zu können.
Vorerst musste der Osten also erneut mit den vorhandenen Kräften aushar­
ren. Allerdings zog Hitler Guderians neu aufgestellte Festungstruppen nach
dem Westen ab und ließ sich bei Budapest in eine kräftezehrende Schlacht

687 Hans-Heinrich Wilhelm: Heinz Guderian. »Panzerpapst« und Generalstabschef, in: Die
Militärelite des Dritten Reiches, hg. von Ronald Smelser und Enrico Syring, Berlin 1995,
S. 187-208, hier S. 200.

360
hineinziehen, die bald die Masse der im Osten verfügbaren Panzerverbände
verschlang.
In dieser Situation kam es für FHO wieder darauf an, Zentrum und Zeit­
punkt der nächsten sowjetischen Großoffensive rechtzeitig zu erkennen, und
so musste sich Gehlen nach der Rückkehr aus dem Lazarett bemühen, Gude­
rian die Leistungsfähigkeit von FHO zu beweisen. Nach den Erinnerungen von
Wessel:

Aber noch war Krieg! Und vordringlicher die Lösung der Frage, was von uns
zu tun sei, um den Krieg zu verkürzen. Als einzige, für uns in Betracht kom­
mende Möglichkeit sahen wir den Weg der Pflichterfüllung: Klare, nüchterne,
nichts beschönigende Beurteilungen der Feindlage.«688

Dem Dilemma, damit den Krieg zu verlängern und Mitverantwortung für


das Massensterben zu tragen, entkam man mit dieser Einstellung nicht. Wie
»Pflichterfüllung« unter den gegebenen Umständen den Krieg verkürzen
konnte, blieb Wessels Geheimnis und ist vermutlich seine Maxime gewesen,
als er drei Monate stellvertretend die Abteilung durch die heikle Phase nach
dem 20. Juli 1944 führen musste. Bereits am Tag nach dem Attentat hatte Gude­
rian als neuer Generalstabschef den verbliebenen Offizieren im Generalstab
des Heeres vorgeworfen, die vielfach skeptische Beurteilung der Ostlage sei
»Defaitismus und Schwarzseherei«. Er drohte mit Festnahme und Erschie­
ßung. Die bisherige Arbeit bezeichnete er als »eine einzige Verneinung«.689
Er ließ eine vom Moskauer Rundfunk am 19. Juli ausgestrahlte Erklärung des
kriegsgefangenen deutschen Generalleutnants Edmund Hoffmeister verteilen.
Die Äußerungen Hoffmeisters seien eine Schande für den Generalstab. Alle
Generalstabsoffiziere seien darüber zu belehren, »daß sie in dem unglückli­
chen Falle einer Gefangennahme den Mut aufzubringen haben, außer der
Angabe ihres Namens jede weitere Aussage zu verweigern«.690
In der benachbarten Operationsabteilung hielt Guderian nach der Verhaf­
tung Heusingers den jungen Offizieren eine Standpauke mit NS-Parolen und
Beschimpfungen, nachdem er zuvor angeordnet hatte, sämtliche General­
stabsoffiziere der Abteilung binnen 24 Stunden an die Front zu versetzen, was
dann doch einige Zeit brauchte.691 Guderian dürfte sich auch jener mahnen­
den Worte bedient haben, die er in einem Befehl vom 25. August 1944 »an alle
Generalstabsoffiziere« gerichtet hatte: »Niemand darf fanatischer an den Sieg

688 Wessel, Erwartungen, S. 278.


689 Zit. nach: Hellmuth Stieff: Briefe, hg. von Horst Mühleisen, Berlin 1991, S. 369.
690 ChefGenStdH Nr. 43/44, 26.7.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 16.
691 Meyer, Heusinger, S. 287.

361
glauben und mehr Glauben ausstrahlen als Du. [...] Es gibt keine Zukunft des
Reiches ohne den Nationalsozialismus. Deshalb stelle Dich bedingungslos vor
das nationalsozialistische Reich.«692 Wessel, der wie Gehlen und viele andere
solche Parolen längst nicht mehr verinnerlichte, hatte FHO also still durch die
schwierigen Wochen gebracht.
Nach der Rückkehr seines Chefs übernahm dieser wieder die Bewertung
der Feindlage »im Großen«. Dieses Mal bekam sie einen auffälligen politischen
Teil. Wenn er sich auch vordergründig gesehen in die mögliche Sichtweise des
Gegners versetzte, so lag seinen Erörterungen und Prognosen doch offensicht­
lich die eigene Denkweise zugrunde, und er lieferte dem Generalstabschef die
gewünschten Argumente gegen eine weitere Schwächung der Ostfront. Nicht
zuletzt klang noch immer die Hoffnung auf einen Allianzwechsel durch, natür­
lich geschickt verkleidet als angebliches Kalkül des Gegners. So schrieb Gehlen
in der Beurteilung vom 7. Oktober 1944 als Vermutung der anderen Seite, dass
eine Entscheidung des Krieges heranreife und damit der »natürliche Gegen­
satz« in den politischen Zielen der »Angloamerikaner« und der Russen Rei­
bungsflächen schaffen werde. Weiter hieß es:

Die politische Führung [in Moskau] wird sich dabei im klaren sein, daß allein
das Deutsche Reich dem sowjetrussischen Anspruch auf Europa militärisch
und politisch Einhalt gebieten und damit auch für die Angloamerikaner spä­
ter zu einem wertvollen militärischen Faktor werden kann, wenn es gilt, die
Alleinherrschaft des bolschewistischen Imperialismus von Europa fernzu­
halten.693

Das war insofern eine durchaus wagemutige Spekulation, weil sie als Defätis­
mus und mangelnder Glaube an den »Endsieg«, aber zugleich auch als Beitrag
zur Durchhaltepropaganda ausgelegt werden konnte. Gehlen leitete aus dieser
Überlegung die Prognose ab, dass sich der Feind darauf konzentrieren werde,
»sich die notwendige Machtstellung in Mitteleuropa zu sichern, solange das
Einvernehmen mit den Angloamerikanern noch nicht ernstlich gestört ist«.
Das Hauptziel werde der »Wettlauf nach Berlin« sein, für andere Operationen
im Südosten oder Norden werde die sowjetische Führung nicht mehr Kräfte
aufbieten, als unbedingt nötig seien. Im Bereich der Heeresgruppe Mitte und
Nord zeichne sich dagegen eine neue große Angriffsoperation ab – nachdem

692 Zit. nach: Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und
nach 1945?, Frankfurt a. M. 22005, S. 208. Zum Hintergrund siehe auch Das Deutsche
Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1, S. 625.
693 Abt. FHO (I) Nr. 3508/44 gKdos, Beurteilung der Feindlage vor deutscher Ostfront, Stand
7.10.1944, BA-MA, RHD 18/249, S. 318 (Hervorh. im Original).

362
Reinhard Gehlen als Generalmajor,
Dezember 1944

Gehlen noch hinsichtlich der Sommeroffensive auf einen Schwerpunkt im


Süden gesetzt hatte, schwenkte er nun also um auf die Mitte.
Dabei konzentrierten sich die laufenden Kämpfe immer noch und mit
zunehmender Intensität auf den Südosten. Bei seiner nächsten größeren
Lagebeurteilung am 10. November 1944 vertrat er dennoch den Standpunkt,
dass »sich bezüglich der vermuteten Operationsabsichten des Gegners keine
grundlegenden Änderungen, sondern nur einige durch die Weiterentwick­
lung der Lage bedingte Abwandlungen ergeben« hätten. Er führte das auf die
deutschen Abwehrerfolge der letzten Wochen zurück, dass man offenbar die
ursprüngliche Planung des Gegners (von der Gehlen eigentlich nichts Konkre­
tes wissen konnte) nach Zeitablauf und Kräfteansatz erheblich gestört habe.
Dennoch sei vor einer kommenden Großoffensive zu warnen, die, wenn es
nicht gelinge, größere Anfangserfolge zu verhindern, »beträchtliche krisen­
hafte Spannungen« verursachen werde.694
Am 1. Dezember ging für Gehlen ein Traum in Erfüllung. Er hielt die Beför­
derung zum Generalmajor in der Hand. Sein Rangdienstalter war mittelmä­
ßig angesetzt (mit Datum vom 1. Dezember 1944 an 31. Stelle), aber immerhin
konnte er sich nun nicht zuletzt auch des Wohlwollens von Guderian gewiss

694 Abt. FHO (I) Nr. 4012/44 gKdos, Beurteilung der Feindlage vor der deutschen Ostfront
im grossen, Stand 10.11.1944, BA-MA, RHD 18/249, S. 327-330.

363
sein. Dass sich die bestellte neue Generalsmütze als eine Nummer zu groß
erwies,695 nachdem er gerade erst die alte Obristenmütze hatte »aufmöbeln«
lassen,696 mochte wer wollte symbolisch deuten, aber er selbst hat sicher nicht
daran gezweifelt, dass er sich die lang ersehnte Beförderung redlich verdient
hatte, obwohl ihm nach den Maßstäben der Zeit die Truppenbewährung seit
fünf Jahren fehlte. Dennoch beflügelte ihn die Auszeichnung offenbar, wenn er
sich in die Rolle des Feindes zu versetzen hatte und dessen nächste Schach­
züge vorauszusehen versuchte.
In den nächsten vier Wochen standen die Ereignisse in Ungarn im Mittel­
punkt des Interesses.697 Am 8. Dezember 1944 begann die Rote Armee eine
Großoffensive zur Einschließung von Budapest, aus der sich eine langwierige,
blutige Schlacht entwickelte. Die ungarische Hauptstadt wurde zum »Stalin­
grad an der Donau«698 und band bis Mitte März 1945 starke deutsche Kräfte.
Gehlen hatte am 5. Dezember bei einer Auswertung der wichtigsten Gefan­
genenaussagen sowie der Meldungen des Geheimen Meldedienstes und der
Frontaufklärung prognostiziert,699 dass »schon in Kürze« eine Angriffsope­
ration aus dem ungarischen Raum heraus mit dem Ziel Tschechien begin­
nen und parallel dazu ein Stoß von Warschau an die untere Weichsel geführt
werde, um die deutschen Kräfte in Ostpreußen zu vernichten und den Weg in
die norddeutsche Tiefebene zu öffnen. Den Schwerpunkt der Gesamtoperati­
onen sah Gehlen freilich im mittleren Teil der Ostfront, wo ab Mitte Dezember
die volle Angriffsbereitschaft hergestellt sein werde.
Diese Prognose wiederholte Gehlen am 13. Dezember in einem Vortrag vor
den Wehrkreisbefehlshabern der Wehrmacht, denen die territoriale Sicherung
des Reiches oblag.700 Er verband das mit einigen Betrachtungen über Besonder­

695 Schriftwechsel mit der Neißer Uniform-Mützenfabrik Kaps zwischen Oktober und
Dezember 1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 76
696 Am 2. Juli 1944 ließ er – bei hohem Fieber im Lazarett – einem Oberst Schönbeck »für
die Hilfsbereitschaft bei der Mützenverschönerung danken«. Seine Frau sollte die alte
Mütze nach Neiße schicken, um sie dort wenden zu lassen oder »sonstwie kunstgerecht
aufzumöbeln« (Schreiben von Major von der Marwitz, 2.7.1944, ebd.).
697 Gehlen hatte im Juli 1943 den »Orden der Ungarischen Heiligen Krone« verliehen
bekommen; siehe Schreiben des Ungarischen Militärattachés, 20.7.1943, Gehlen-Kis­
ten, Mappe Nr. 24.
698 Krisztián Ungváry: Die Schlacht um Budapest. Stalingrad an der Donau 1944/45, Mün­
chen 1999.
699 Abt. FHO (I) Nr. 4404/44 gKdos, Zusammenfassende Auswertung, Stand 5.12.1944,
BA-MA, RHD18/249, S. 342-346.
700 Abt. FHO (Chef), Vortrag vor den Wehrkreisbefehlshabern am 13.12.1944, BA-MA, RH
2/2601. Gehlen wird drei Wochen vorher bei einem Vortrag an der Luftkriegsakademie
in Berlin-Gatow ähnlich gesprochen haben; siehe Terminmitteilung von Oberst Gehlen,
Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 76.

364
heiten, die in den letzten Monaten bei der Roten Armee zu beobachten gewesen
seien. So lobte er die operative Führung des Gegners während der Sommerof­
fensive und bescheinigte ihr »eine zunehmende Vervollkommnung«, wies aber
zugleich darauf hin, dass parallel dazu dort auch »ein merkliches Nachlassen
an Kühnheit in der operativen Planung« zu verzeichnen sei. Gehlen erläuterte
ausführlich die Probleme einer stetigen Verlängerung der Verbindungen, die
zu großen Nachschubschwierigkeiten geführt hätten. Hoffnung schöpfte er
aus der Beobachtung, dass die mittlere und besonders die untere sowjetische
Führung immer noch einen Mangel an Eigeninitiative zeige. Sie sei außerdem
empfindlich gegen gleich zu Beginn größerer Kampfhandlungen auftretende
Rückschläge. Zudem habe sich die Infanterie weiter verschlechtert, was die
sowjetische Führung durch verstärkten Materialeinsatz wettzumachen versu­
che. »Gelang es jedoch unserer Truppe, die Feuerwalze durchzustehen und die
Infanterie von den Panzern zu trennen, so wurde die Lage stets gemeistert.«
Gehlen zog daraus die Schlussfolgerung, dass es darauf ankomme, Anfangs­
erfolge des Gegners unter allen Umständen durch schnelle und energische
Gegenmaßnahmen zu verhindern. Das führe zur Verwirrung der unteren Füh­
rung und dann könne der Ansturm des Gegners »fast immer mit erheblichen
Verlusten für den Feind zum Stehen« gebracht werden. Sein Verweis auf die
Erfahrungen bei den Kurlandschlachten ließ sich freilich nicht auf die gesamte
Ostfront übertragen, auch nicht auf den besonders gefährdeten mittleren
Bereich. Für seinen bemühten Optimismus gab es keinen Anlass, das muss ihm
selbst auch bewusst gewesen sein. Allenfalls konnte er, wie seine Vorgesetzten,
darauf hoffen, dass die am 16. Dezember überraschend gestartete Westoffen­
sive in den Ardennen ihre weitgesteckten Ziele erreichen und dann ab Jahres­
ende Verstärkungen für die Ostfront zur Verfügung stehen würden. Von daher
musste er eigentlich darauf hoffen, dass sich Moskau mit der lange erwarteten
Winteroffensive noch Zeit lassen würde.
Er reagierte damit auf die Sorge seines Chefs Guderian, der angesichts
der schwachen Kräfte im Mittelabschnitt der Ostfront bisher vergeblich eine
Evakuierung des Kurlandkessels zur Stärkung des Zentrums sowie Frontver­
kürzungen gefordert hatte. Hitler hatte außerdem gegen seinen Widerspruch
SS-Panzerdivisionen zur Befreiung des eingeschlossenen Budapest abgezo­
gen. An der gesamten Ostfront standen nur noch rund 1000 eigene Panzer zur
Verfügung. Deshalb bot es sich an, bei einem Abbruch der Ardennenoffensive
die frei werdende 6. SS-Panzerarmee aus dem Westen zur Stabilisierung des
Mittelabschnitts in den Osten zu verlegen, auch wenn diese stärkste Forma­
tion Hitlers schwere Verluste erlitten hatte und im Westen erst aus der Front
herausgelöst und im norddeutschen Raum wiederaufgefüllt werden musste.
Es würde Wochen dauern, bis sie erneut geschlossen als mögliche operative
Reserve eingesetzt werden konnte.

365
Der Chef des Generalstabs des Heeres ging davon aus, dass dieser Ent­
schluss entscheidend sein würde, um die bevorstehende sowjetische Winter­
offensive abzubremsen, den Einbruch der Roten Armee ins Reichsgebiet zu
verhindern und – bei einem feindlichen Durchbruch – die Ostfront notfalls
zwischen Weichsel und Oder stabilisieren zu können. Er entschloss sich daher,
am 23. Dezember von Zossen aus ins westliche Führerhauptquartier bei Gie­
ßen zu fahren, um Hitler zum sofortigen Abbruch der Ardennenoffensive und
zur Bereitstellung aller verfügbaren Kräfte für die Ostfront zu überreden. Sein
wichtigstes Argument konnte Guderian nur aus der Feindlagebeurteilung zie­
hen. Damit übernahm Gehlen eine wichtige Verantwortung.
Mithilfe einer Reihe von beigefügten Feindlagekarten begründete Geh­
len seine Auffassung, dass an den bisherigen Annahmen festzuhalten sei.701
Budapest sei nicht das Zentrum der sowjetischen Angriffe, sondern der Raum
südlich von Warschau. Das erwies sich später als teilweise richtig, zumin­
dest Budapest betreffend. Der Schwerpunkt der Offensive im Zentrum lag
dann allerdings nördlich von Warschau. Das wiederholte Hinausschieben des
Angriffs in der Mitte sei darauf zurückzuführen, dass die sowjetische Füh­
rung auf eine längere Frostperiode warte. Es erscheine aber auch nicht ausge­
schlossen, »dass der Sowjetrusse im Hinblick auf die Westlage den Anlauf der
Winteroffensive zu einem politischen Kuhhandel mit den Westalliierten aus­
zunutzen« suche, wie angeblich »gewisse, vorläufig noch unsichere Anhalts­
punkte« nahelegten. Es lag auf der Hand, dass die Westmächte auf einen
baldigen Beginn der sowjetische Winteroffensive hofften, die Hitler zwingen
würde, seine Westfront zu entblößen. Dann würden Briten und Amerikaner
Zeit gewinnen, um neue Kräfte heranzuführen und die logistischen Vorausset­
zungen für den Angriff auf das Reich zu verbessern.
Von Gehlen in seinen eigenen Auffassungen bestärkt, trug Guderian am
Heiligen Abend im hessischen Ziegenberg vor. Er legte Hitler, wie üblich begin­
nend mit der eigenen Lage, schließlich die Feindlage an der Ostfront dar. In
seinen späteren Memoiren schilderte er den folgenden Zusammenprall mit
dem »Führer« sogar in Dialogform.702 Im Mittelpunkt der Kontroverse standen
offenbar nicht die möglichen operativen Absichten der Roten Armee, sondern
deren Fähigkeiten, da Guderian mit dem Zahlenmaterial von Gehlen seine
Forderung untermauerte, die inzwischen festgelaufene Ardennenoffensive
sofort abzubrechen und Panzerkräfte nach Osten zu verlegen. Hitler wollte
sich aber nicht zu diesem weitreichenden Entschluss drängen lassen. Die Zahl

701 Abt. Fremde Heere Ost (I) Nr. 4640/44 gKdos, Stellungnahme zur Frage einer etwaigen
Abänderung der sowjetrussischen Operationsabsichten im grossen, Stand 22.12.1944,
BA-MA, RHD 18/249, S. 349-350.
702 Heinz Guderian: Erinnerungen eines Soldaten, Heidelberg 1951, S. 346.

366
der von FHO erfassten Feindverbände selbst konnte Hitler nicht infrage stel­
len, stammten sie doch von der eigenen Fronttruppe. Deshalb zog er Gehlens
Berechnungen in Zweifel und meinte, die aufgelisteten sowjetischen Schüt­
zenverbände seien stark geschwächt und es gebe Panzerverbände, die über
keinen einzigen Panzer verfügten. Was Stalin da aufbiete, sei der »größte Bluff
seit Dschingis Khan«. Und weiter: »Wer hat diesen Blödsinn ausgegraben?«
Zwar versteckte sich Guderian nicht hinter seinem Abteilungsleiter, aber
er scheute doch vor einem deutlichen Widerspruch zurück, zumal der anwe­
sende Himmler seinem »Führer« beipflichtete:

Wissen Sie lieber Generaloberst, ich glaube nicht, daß die Russen über­
haupt angreifen. Das ist alles nur ein Riesenbluff. Die Zahlen Ihrer Abteilung
Fremde Heere Ost sind maßlos übertrieben. Sie machen sich zuviel Gedan­
ken. Ich bin fest überzeugt, daß im Osten nichts passiert.703

Guderian verzichtete auf eine Fortsetzung des Streits, obwohl er, wie er spä­
ter in seinen Memoiren schrieb, davon überzeugt war, dass die Arbeit von
FHO »mustergültig und absolut zuverlässig« war, und als späten Beitrag zur
Legendenbildung Gehlens fügte er hinzu: »Ich kannte ihren Chef, den Gene­
ral Gehlen, lange genug, um ihn und seine Mitarbeiter, seine Methoden und
seine Ergebnisse beurteilen zu können. Die Voraussagen Gehlens haben
sich bewahrheitet. Das ist eine geschichtliche Tatsache. Hitler sah die Dinge
anders.«704 Ob sich der Dialog mit Hitler so abgespielt hat, wie es Guderian
in seinen Memoiren – womöglich als Reverenz an den mittlerweile wichtigen
»Doktor« – berichtet, ist nicht überprüfbar.
Die »geschichtlichen Tatsachen«, auf die sich Guderian in seinen Erinne­
rungen beruft, stimmen so allerdings nicht. FHO unterschätzte nach heutigen
Erkenntnissen die Stärke der sowjetischen Kräfte um bis zu 40 Prozent. Den
beiden Fronten der Roten Armee standen mehr als 7000 Panzer zur Verfügung,
eine gewaltige Überlegenheit, die nach Beginn der Offensive Mitte Januar sehr
schnell deutlich wurde. Die deutsche Fehleinschätzung am Jahresende lag
einerseits an der nachlassenden Effizienz der deutschen Funkaufklärung705
bzw. an der verbesserten sowjetischen Funkdisziplin, und andererseits an
mangelnden Möglichkeiten, Kriegsgefangene zu befragen, die infolge des dra­

703 Ebd., S. 347.


704 Ebd., S. 346. In den Erinnerungen (2003 in 18. Auflage erschienen) sprach er im Vorwort
Dank u. a. an Gehlen für die freundliche Unterstützung aus (S. 10). Im Buch selbst aber
erwähnt er Gehlen trotz langer Bekanntschaft und zeitweilig enger Zusammenarbeit
nur an dieser Stelle in der Schlussphase des Krieges.
705 Pahl, Fremde Heere Ost, S. 232.

367
matischen deutschen Rückzugs im Sommer und Herbst sowie der anschlie­
ßenden »trügerischen« Ruhe im Mittelabschnitt nur in geringer Zahl anfie­
len. Dass die sowjetischen Verbände bei den anhaltend schweren Kämpfen in
Kurland und im Raum Budapest teilweise erhebliche Verluste erlitten, war bei
der Berechnung von Divisionsstärken also nicht zwangsläufig auf die sowje­
tischen Hauptkräfte zu übertragen. Die Einschätzung der Produktionszahlen
der sowjetischen Rüstungsindustrie, für die Gehlen nur wenige Indizien ver­
wenden konnte, sprachen allerdings mehr für seine Annahmen als für Hitlers
Spekulationen.
Entscheidend war aber die Haltung des Generalstabschefs, der dem Kon­
flikt mit seinem Oberbefehlshaber auswich und sich darauf verlegte, bei ande­
rer Gelegenheit seinen Vorstoß zur Rettung der Ostfront, wie er es verstand,
zu erneuern. Das Risiko trugen die Soldaten, die vor der Schlacht keine Ver­
stärkungen erhielten. Bereits eine Woche nach dem Weihnachtsvortrag fuhr
Guderian wieder nach Ziegenberg, um Hitler in der Silvesternacht über die
Lage an der Ostfront zu unterrichten.706 Die Ardennenoffensive war sichtbar
gescheitert, die Gegenoffensive der Alliierten drückte die geschlagenen deut­
schen Verbände in Richtung Rhein zurück. Im Mittelabschnitt der Ostfront
herrschte noch immer Ruhe, im Generalstab des Heeres nervöse Anspan­
nung. Guderian verwies erneut auf die Berechnung des Kräfteverhältnisses
durch FHO, um die Bedrohung zu verdeutlichen. Er forderte die Räumung
Kurlands über die Ostsee, um zusammen mit der Verlegung von Panzerkräf­
ten aus dem Westen an die Weichsel die Abwehrfront zu stärken. Hitler blieb
bei seiner Entscheidung, dass die Ostfront mit den vorhandenen Kräften aus-
kommen müsse.
In dieser Situation blieb auch Gehlen bei seiner gewohnten Haltung, im Rah­
men des dienstlich Möglichen beharrlich, aber auch gewandt seine »Pflicht«
zu tun. Indes wandte sich Guderian mit einer markigen Grußadresse »an alle
Angehörigen des Generalstabes des Heeres«:

An der Schwelle des Jahres 1945 geben wir dem Führer erneut das Wort, in
jeder Lage als seine treuesten Bannerträger zu ihm zu stehen und mit allen
unseren Kräften dafür zu arbeiten, daß unserem Volk und Reich die Zukunft
erkämpft wird, die es durch seine heldenhafte Haltung verdient hat.707

Gehlen hat das offenbar nicht innerlich berührt. Er wusste, was er zu tun
hatte, und benachrichtigte seine Familie, sie solle sich darauf einstellen, am

706 Siehe hierzu ausführlicher ebd., S. 233 – 236.


707 Zit. nach: ebd., S. 231-232.

368
Weihnachtsfeier 1944 von Fremde Heere Ost in Zossen mit Reinhard Gehlen (Mitte) und
seinem Stellvertreter Gerhard Wessel (2. v.r.)

19. Januar, dem Geburtstag der ältesten Tochter, Liegnitz in Richtung Westen
zu verlassen.708 Weil er bereits das Weihnachtsfest 1943 zu Hause hatte ver­
bringen dürfen, musste er jetzt im Dienst bleiben. Er hatte lediglich für wenige
Tage nach dem Rechten sehen können und freute sich darüber, bescheidene
Geschenke für die Kinder beschafft zu haben, mit denen die vier nicht rechne­
ten, weil sie annahmen, es würde angesichts der Kriegslage überhaupt nichts
geben. Die Evakuierung seiner Familie war für Gehlen bereits Ende Juni 1944,
nach dem Durchbruch der sowjetischen Sommeroffensive, ein Anliegen gewe­
sen, als noch niemand wusste, ob es der Wehrmacht noch einmal gelingen
würde, den Feind aufzuhalten. Er hatte sich damals in einem Vortrag bei Heu­
singer, der den Generalstabschef vertrat, mit einem auffallend dramatischen
Szenario gemeldet:

Die Entwicklung der Lage im Bereich der Heeresgruppen Mitte und Nord
lässt es notwendig erscheinen darauf hinzuweisen, dass nach Meinungen aus
verschiedenen Quellen die Sowjetregierung Kindergärten vorbereitet hat, um
bei der Besetzung europäischen Gebietes die Kinder entsprechenden Alters

708 Mitteilung von Christoph Gehlen. Ob der Vater zum Weihnachtsfest zu Hause gewesen
ist, ist ihm nicht erinnerlich.

369
sofort nach der SU zu evakuieren und sie dort zu Kommunisten zu erziehen.
Es wird daher vorgeschlagen, bei den entsprechenden Zivilbehörden eine
dahingehende Anordnung zu veranlassen, dass Mütter mit kleinen Kindern
sofort das ostpreußische Gebiet zu verlassen haben.709

Im Haus des Generalobersten Fromm, dem Befehlshaber des Ersatzheeres,


stellte man sich damals bereits ernsthaft auf einen Treck ein. Fromm wollte
seine Tochter und ihre Kinder nicht den Gefahren eines solchen Trecks aus­
setzen. Er rechnete damit, dass man im Spätherbst von dem westpreußi­
schen Gutshof aufbrechen müsste, und wollte persönlich die Kinder abholen.
Seine größte Sorge war es, dass die Katastrophe den Osten im Winter treffen
könnte. Noch besorgter muss Reinhard Gehlen als Vater von vier kleinen Kin­
dern gewesen sein. Als nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler und nach
der vorübergehenden Stabilisierung der Front an der Weichsel die Befehle zur
Verteidigung des Ostens jede Evakuierung untersagten, hatte Gehlen sich ent­
schlossen, seine Familie erst in letzter Minute, unmittelbar nach Beginn der
sowjetischen Winteroffensive zu evakuieren. Weihnachten 1944 schien der
Zeitpunkt gekommen, um seine Familie darauf vorzubereiten.
Gehlen beauftragte seinen Stellvertreter Wessel am 30. Dezember, unmit­
telbar nach der Rückkehr Guderians, mit dem Entwurf einer Denkschrift zu
»Folgerungen aus der Beurteilung der derzeitigen Feindlage im Osten für die
Kampfführung an der Ostfront«.710 Es war Gehlens Absicherung angesichts der
sich abzeichnenden Katastrophe, von der er eine ganz klare Vorstellung gehabt
haben dürfte. Wenn die Hölle der sowjetischen Großoffensiven anbrechen
würde und das Kriegsende nahte, würde in der Führungsspitze ebenso wie in
den zum Untergang verurteilten Ostarmeen und schließlich bei der späteren
historischen Aufarbeitung die Schuldfrage unausweichlich aufkommen. Geh­
len musste also den Spagat schaffen, sich in der aktuellen Situation zu Wort
zu melden, ohne sich des Defätismus verdächtig zu machen und den »Füh­
rer« offen zu kritisieren, und zugleich aufzuzeigen, dass er rechtzeitig War­
nungen ausgesprochen und ein Rezept für eine erfolgreiche Abwehrschlacht
gewusst habe. Daneben blieb noch Zeit genug, um »dem Ernst der Zeit ent­
sprechend sehr nett und gemütlich mit allen Unteroffizieren, Mannschaften
und Stabshelferinnen innerhalb der Arbeitsgruppen« Silvester zu feiern und

709 OKH/GenStdH/Fremde Heere (Ost), Vortragsnotiz, 1.7.1944, BA-MA, RH 2/2088. Siehe


dazu auch Bernhard R. Kroener: Der starke Mann im Heimatkriegsgebiet – General­
oberst Friedrich Fromm. Eine Biographie, Paderborn 2005, S. 664 – 665. Ein handschrift­
licher Vermerk von Gehlen besagt, dass er den Inhalt am 1. Juli 1944 vorgetragen hat
und zur Antwort erhielt, dass entsprechende Maßnahmen bereits im Gange seien.
710 RH 2/2601; siehe dazu auch Wilhelm, Legenden, S. 68 – 69.

370
der alten Kameraden zu gedenken, die FHO im abgelaufenen Jahr verlassen
hatten.711
Seine »Neujahrsdenkschrift« ist in dieser Hinsicht ein fragwürdiges rheto­
risches Werk. Er ließ sich nicht weiter auf das zahlenmäßige Kräfteverhältnis
ein. Nur eine Grafik wurde dazu angehängt, die immerhin darauf aufmerksam
machte, dass die Rote Armee allein bei Panzerfahrzeugen eine dreifache Über­
legenheit besaß (13.400 gegen 3.496), was allerdings zahlenmäßig in etwa dem
Verhältnis vom 22. Juni 1941 entsprach. Gehlen verwies darauf, dass der Geg­
ner vier Monate Zeit gehabt habe, sich auf die nächste Offensive vorzubereiten.
Der Angriff stehe unmittelbar bevor. Dann wiederholte er seine Standardfor­
mel, dass es bestimmt zu Krisen an der gesamten Ostfront kommen würde,
wenn es nicht gelinge, durch den »Einsatz ausreichender Reserven, insbeson­
dere an schnellen Verbänden, größere Anfangserfolge zu verhindern«. Da aber
seit Monaten keine operative Reserve im Osten vorhanden sei und die Reser­
ven der Heeresgruppen Mitte und A nach Ungarn abgezogen worden seien,
könne die Lage an der Ostfront »zur Zeit nicht als gesichert gelten«. Das war
eine reichlich untertriebene Schlussfolgerung.
Immerhin lokalisierte er den zu erwartenden Schwerpunkt der sowjetischen
Offensive zutreffend bei der Heeresgruppe A und hielt es für unwahrscheinlich,
dass es gelingen könnte, die in Ungarn eingesetzten Verbände rechtzeitig her­
auszulösen. Daher sei das »lebenswichtige« oberschlesische Industriegebiet
gefährdet – immerhin eine Andeutung, dass es dem Ende zugehen könnte.
Sein Hauptgedanke richtete sich, ganz im Sinne Guderians, auf die Lage im
Westen, für die das OKH nicht zuständig war. Er sprach deutlich aus, dass die
Offensive gescheitert sei. Wäre man bereit, die Front auf die Ausgangsposition
zurückzunehmen und die verfügbaren Kräfte herauszulösen, bekäme man, so
seine These, eine operative Reserve für die Gesamtkriegführung. Sie könnte
Sicherheit gegen einen möglichen Feinddurchbruch im Westen schaffen, aber
nach kurzer Auffrischung auch dazu eingesetzt werden, die Initiative im Osten
wieder an sich zu reißen.
Dazu entwickelte Gehlen eine Reihe von Optionen: 1.) die Versammlung
der schnellen Kräfte in Ostdeutschland, um bei einem drohenden sowjeti­
schen Durchbruch zum Gegenangriff überzugehen, 2.) die Operationsgruppe
ostwärts von Posen bereitzustellen, um bei einer russischen Offensive den
bedrohten Frontabschnitt zurückzunehmen, um dann zum Gegenangriff
überzugehen, und 3.) in diesem Falle auch die aus Ungarn heranzuführenden
Verbände einzusetzen, um »eine größere Angriffsoperation gegen den Russen
zu führen«. Angeblich hatte er keinen Zweifel,

711 Schreiben Gehlens an Dr. Voss, Hagen, 11.1.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 76.

371
dass die Kette der russischen Erfolge im Osten ein Ende hat, wenn es gelingt,
unter Einsatz von 20-30 Verbänden in der freien Operation, in der wir dem
Russen überlegen sind, die Initiative wieder in die Hand zu nehmen. Bei
der Stimmungslage des russischen Heeres und der Empfindlichkeit gegen
Rückschläge ist vermutlich bei einer solchen Entwicklung damit zu rechnen,
dass der Russe dann Erfolgsmöglichkeiten unter einigermaßen lohnendem
Einsatz seiner Volkskraft nicht mehr sieht, unter Umständen zu einer poli­
tischen Lösung des Konflikts geneigt ist, bei entsprechenden Erfolgen aber
auch auf längere Dauer erneut in die Defensive gedrängt werden kann.

Das klingt fast nach einer fantastischen Neuauflage der »Barbarossas-Pla­


nung, an der Gehlen vier Jahre zuvor maßgeblich beteiligt gewesen war. Er
kann eigentlich nicht ernsthaft daran geglaubt haben, dass ein solches Szena­
rio auch nur die geringsten Erfolgsaussichten haben könnte. Gehlen ließ nicht
zuletzt die Misere an der Westfront beiseite, die sich während der Ardennen­
offensive im Material- und Treibstoffmangel sowie insbesondere in der erdrü­
ckenden alliierten Luftüberlegenheit gezeigt hatte. Aber die Westfront gehörte
nicht zur Zuständigkeit des OKH. Es entsprach auch nicht den bisherigen
Abwehrplanungen der im Osten eingesetzten Heeresgruppen, die auf sich
gestellt nicht mehr tun konnten, als sich auf eine tief gestaffelte Verteidigung
nach dem Vorbild des sogenannten Großkampfverfahrens von 1918 einzustel­
len.712 Obwohl mehr als 500.000 Arbeitskräfte eingesetzt waren, um zwischen
Weichsel und Oder ein entsprechendes Stellungssystem zu bauen, gab es kaum
Erfolgsaussichten, nachdem bisher alle Verteidigungslinien im Osten durch­
brochen worden waren, ausgerechnet jetzt die Front gegen eine sowjetische
Großoffensive halten zu können.
Der Chef des Generalstabs der am stärksten bedrohten Heeresgruppe A,
Generalleutnant Wolfdietrich Ritter von Zylander, schlug vor, sich kurz vor
Beginn der feindlichen Offensive so weit zurückzuziehen, dass der Gegner ins
Leere liefe, um dann mit gepanzerten Verbänden einen Gegenschlag zu führen.
Über einen solchen Plan wurde schon seit Herbst 1944 diskutiert, was Gehlen
jetzt noch einmal aufgriff, aber für die Grundidee hatte er noch nicht einmal
Zustimmung innerhalb der Heeresgruppe gefunden.713 Der Zeitpunkt für geniale
Manöver war für die Wehrmacht längst vorbei. Dass auch Gehlen dazu neigte,
sich an teils skurrile Ideen zu klammern, zeigt sein Vorschlag, über Lautspre­
cher Panzergeräusche an der Front abzuspielen, um den Feind zu täuschen.714

712 Siehe hierzu ausführlich Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 10/1, S. 495 -
510.
713 Ebd., S. 510.
714 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 4.1.1972, IfZ, ED 100-68-100.

372
Seine fantasievollen »Gedanken« sollten offenbar den Generalstabschef
beflügeln, um Hitler dazu zu überreden, endlich die Westoffensive abzubre­
chen und alle noch verfügbaren Kräfte zum Schutz der Ostgrenze des Reiches
einzusetzen. Das machte Gehlen keineswegs zu einem Durchhaltefanatiker
und Endsieggläubigen. Er lieferte lediglich Guderian Argumente, um den
»Führer« zu längst fälligen Entscheidungen zu veranlassen. Gehlen wird froh
gewesen sein, dass er diese Aufgabe nicht selbst übernehmen musste und im
Hintergrund bleiben konnte. Aber in diesem Fall hielt er es doch für notwendig,
hinter den Kulissen um Verbündete zu werben und dafür auch den Dienstweg
zu verlassen. Er schickte am 4. Januar 1945 Generalleutnant August Winter,
dem stellvertretenden Chef des Wehrmachtführungsstabes (zuständig u. a. für
den westlichen Kriegsschauplatz), auf konspirative Weise eine Abschrift seiner
Guderian vorgelegten Lagebeurteilung.

Da ich zu einer Weitergabe nicht autorisiert bin, bitte ich sie als solche nicht
zu verwerten. Ich wäre dankbar, wenn der Kurier die Notiz nach Kenntnis­
nahme mir wieder zurückbringen könnte. Mit ergebensten Grüßen bin ich
Herrn Generals gehorsamer Gehlen.715

Winter informierte wunschgemäß seinen Chef, Generaloberst Alfred Jodl, und


schickte die Lagebeurteilung zurück: »Mit kameradschaftlichen Grüßen und
Heil Hitler: Ihr Winter.« Beide kannten sich von der Kriegsakademie und Geh­
len übernahm ihn zwei Jahre später in seine Organisation. Winter blieb im
BND bis zu seiner Pensionierung.
Jodl und Winter konnten in ihrer Zuständigkeit für die Westfront eigent­
lich nicht daran interessiert sein, Kräfte an die vom OKH geführte Ostfront
abzugeben. Bei Hitler scheinen sie sich jedenfalls nicht in diesem Sinne ein­
gesetzt zu haben, denn als Guderian am 9. Januar dem »Führer« Gehlens
Zahlenmaterial vorlegte, stieß er auf eisige Ablehnung. »Völlig idiotisch«,
soll Hitler ausgerufen und verlangt haben, den Bearbeiter in ein Irrenhaus
zu sperren. Guderian schrieb später in seinen Memoiren, er habe daraufhin
ärgerlich geantwortet:

Die Ausarbeitungen stammen von dem General Gehlen, einem meiner tüch­
tigsten Generalstabsoffiziere. Ich hätte sie Ihnen nicht vorgetragen, wenn ich
sie mir nicht zu eigen gemacht hätte. Wenn Sie verlangen, daß der General
Gehlen in ein Irrenhaus kommt, dann sperren Sie auch mich gleich dazu!716

715 Zit. nach: Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 93.


716 Guderian, Erinnerungen, S. 350.

373
Hitler wich der unerwarteten Konfrontation aus, aber Guderians Tage waren
damit gezählt. Auch für diese Erzählung Guderians gibt es keine Bestätigung.
Den im Generalstab des Heeres anscheinend bestehenden Hoffnungen,
die Front im Osten halten und im Westen rechtzeitig öffnen zu können, um
Deutschland das Schlimmste zu ersparen, kam Hitler aber nicht in dem erwar­
teten Maße entgegen. Er beugte sich der Notwendigkeit, die Offensive im Wes­
ten zu beenden und die schnellen Verbände zur Auffrischung zurückzuziehen.
Doch er befahl die Fortsetzung des fanatischen Widerstands zur Verteidigung
der Rheinlinie und ordnete an, die Panzerkräfte statt in Ostdeutschland in
Ungarn für eine Offensive am Plattensee einzusetzen.717 Hier zeigte sich, dass
Hitler selbst auf die von Gehlen hinter den Kulissen vorgetragene, ziemlich
naheliegende Argumentation gekommen ist, denn noch Anfang März 1945
äußerte er sich gegenüber Goebbels:

Aber Voraussetzung dafür, daß wir mit der einen oder anderen Seite ins
Gespräch kommen, ist, daß wir einen militärischen Erfolg haben. Auch Sta­
lin muß erst Federn lassen, ehe er mit uns etwas zu schaffen haben will.718

Doch anders als Gehlen und Guderian vertraute Hitler offenbar darauf, dass
die Weichselfront halten würde, und suchte den Erfolg in Ungarn.
Als am 12. Januar die sowjetische Winteroffensive begann, zerbrach die Front
insbesondere im Bereich der Heeresgruppe A sehr schnell. Gehlen war wohl in
der Lage gewesen, kurz vor Angriffsbeginn die sowjetischen Absichten und
Möglichkeiten im Großen und Ganzen richtig einzuschätzen,719 doch es wurde
zugleich deutlich, dass zwar die operative Aufklärung grundlegende Erkennt­
nisse gewonnen hatte, dafür fehlte es jetzt an wichtigen Informationen auf tak­
tischer Ebene. Die Heeresgruppe musste damit rechnen, dass die feindlich ein­
gestellte polnische Bevölkerung alle Informationen über Stellungssysteme und
Truppenbewegungen an die Rote Armee weitergab, während es der deutschen
Seite an Möglichkeiten fehlte, Einzelheiten von der anderen Seite der Front zu
erfahren. Zudem wurde die deutsche Frontaufklärung wieder einmal mithilfe
aufwendiger sowjetischer Scheinstellungen und Attrappen in die Irre geführt.720

717 Lagevorträge des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine vor Hitler 1939-1945, hg. von
Gerhard Wagner, München 1972, S. 637-638 (23.1.1945).
718 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hg. von Elke Fröhlich,
Teil 2, Bd. 15, München 1996, S. 416 (5.3.1945)
719 Abt. FHO (I) Nr. 81/45 gKdos, Beurteilung der Feindlage vor deutscher Ostfront im gros­
sen, Stand 5.1.1945, BA-MA, RHD 18/249, S. 351-356.
720 Heinz Magenheimer: Abwehrschlacht an der Weichsel 1945. Vorbereitungen, Ablauf,
Erfahrungen, Freiburg i. Br. 1976, S. 92. Die Täuschungsmaßnahmen sollten der deut­

374
So kam es zu einem unerwartet raschen und tiefen Durchbruch der deut­
schen Front, was Guderian einmal mehr zu der Forderung veranlasste, der
Heeresgruppe A zusätzliche Divisionen zuzufuhren. Hitler lehnte aber den
Abzug von Verbänden aus dem Westen erneut ab.721 Es blieb bei dem erfolglo­
sen Gegenstoß des Panzerkorps »Großdeutschland« aus Ostpreußen heraus,
was den Anschein erweckt, dass auch Guderian selbst nicht mehr ernsthaft
daran glaubte, dass solche Entschlüsse noch durchführbar und erfolgreich
sein könnten. Gehlen plädierte deshalb vergeblich dafür, lieber Ostpreußen
und das Baltikum aufzugeben, als den Krieg zu verlieren.722 Der Schutz der
Zivilbevölkerung in jenen Gebieten war aus seiner Sicht gegenüber den ope­
rativen Erwägungen eine nachrangige Sorge, auch wenn er sich um die recht­
zeitige Evakuierung seiner eigenen Familie bemühte. Ähnlich dachte er später,
als im Neißeabschnitt ein sowjetischer Durchbruch im Raum Görlitz-Guben
drohte und sich die von ihm vorgeschlagene Bildung von Reservegruppen als
unrealistisch erwies. In einer Vortragsnotiz für den Generalstabschef schlug
er daraufhin vor, durch die Luftwaffe drei riesige Waldbrandkessel zu schaf­
fen, um den Feind aufzuhalten. Was das für die Bevölkerung, insbesondere die
zahlreichen Flüchtlinge bedeuten würde, blieb außerhalb der Betrachtung.723
Das OKH verstrickte sich immer mehr in ein »Konglomerat aus schlichtem
Aktionismus, Selbsttäuschung und Taktik gegenüber Hitler«,724 und Gehlen
ist davon nicht auszunehmen, obwohl er im Gegensatz zu seinem Chef Gude­
rian und anderen hohen Generalen schon längst dabei war, sein persönliches
Kriegsende und den Übertritt zum Feind zu organisieren.
Als kluger Kopf und taktisch-operativ versierter Fachmann dürfte sich
Gehlen schon länger mit der Frage befasst haben, wie sein persönlicher
Frontwechsel aussehen könnte und was alles dabei zu bedenken war. Sicher
teilte er bis zum Frühjahr 1945 auch die vage Hoffnung mancher in der mili­
tärischen Führungsspitze, dass es doch noch zu einem Auseinanderfallen der
Anti-Hitler-Koalition kommen bzw. dass die Westmächte zuerst ins Reichs­
gebiet einbrechen und mit ihnen bei einem allgemeinen Auflösungsprozess
ein Arrangement möglich sein könnte. Doch durch die von Hitler befohlene

schen Seite falsche Erkenntnisse über sowjetische Bereitstellungen und Angriffs­


schwerpunkte vermitteln.
721 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 10/1, S. 518.
722 FHO (Chef), Beurteilung der Feindlage im grossen, 20.1.1945, BA-MA, RH 2/3218; siehe
auch Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 10/1, S. 533.
723 Gedanken zur Lage, 18.2.1945, BA-MA, RH 2/328; Vortragsnotiz Gehlens über die Entfa­
chung von Großwaldbränden als Kampfmittel, 3.3.1945, BA-MA, RH 1/2088. Zum Hin­
tergrund siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 10/1, S. 595 und 597.
724 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 10/1, S. 519.

375
Ardennenoffensive traten die westlichen Alliierten erst Anfang März 1945 zum
Sturm auf das Reich an.
Im Januar/Februar, als sich die Ostfront in Auflösung befand, musste für
Gehlen klar sein, dass der Zeitpunkt für den Beginn seiner Geheimoperation
gekommen war. Nach der Katastrophe von Stalingrad hatte er die Niederlage
der Wehrmacht für sich in Rechnung gestellt und mit seinem engsten Vertrau­
ten Wessel über die Möglichkeit gesprochen, nach einem Zusammenbruch
des nationalsozialistischen Deutschland die Zusammenarbeit mit der stärks­
ten Siegermacht, den USA, zu suchen. Inzwischen war auch Baun eingeweiht,
und nun kam es darauf an, sein persönliches Absetzmanöver samt Schlüssel­
personal und den wertvollsten Dokumenten zu organisieren. Noch bis zum
April konnte er davon ausgehen, dass sich der »Führer« in der Schlussphase
des Krieges in die »Alpenfestung« zurückziehen würde. Mit dem Beginn der
sowjetischen Winteroffensive am 12. Januar 1945 und nach dem schweren
Luftangriff auf Berlin am 3. Februar setzte eine Evakuierungswelle von Dienst­
stellen ein, was sein Vorhaben begünstigte. Er selbst absolvierte eine Reihe von
Dienstreisen, u. a. zu einem Vortrag über »Die sowjetrussische Wehrmacht«
im Rahmen des Lehrgangs für Kommandierende Generale und Korps-Chefs
am 17. Januar in Hirschberg725 – ein Lehrgang, der für ihn selbst den Zugang zu
einem Frontkommando hätte öffnen können.
Angesichts der Entschlossenheit Hitlers, den befohlenen fanatischen
Widerstand mithilfe von Fliegenden Standgerichten726 und dem Terrorappa­
rat Heinrich Himmlers zu erzwingen, kam es für Gehlen darauf an, mit seiner
Operation, die als Fahnenflucht bzw. Defätismus verstanden werden konnte,
nicht das Misstrauen der Schergen des NS-Regimes zu erregen.
Es zahlte sich aus, dass Gehlen stets bemüht gewesen war, mit der SS zu
kooperieren, ohne sich zu kompromittieren. Schon in der frühesten Zeit im
OKH, insbesondere seit der Blomberg-Fritsch-Affäre, hatte er bemerkt, dass
man dort Abstand hielt zu den »schwarzen Kameraden«, und dieses Verhalten
übernommen. Gehlen hatte sich im OKH eingerichtet und war den politischen
Implikationen möglichst aus dem Weg gegangen. Er hatte das Glück, in seiner
Dienststellung nicht persönlich mit der Verantwortung für verbrecherische
Befehle konfrontiert zu werden. Sicherlich hat er den militärischen Einsatz der
Waffen-SS im Verlaufe des Ostkrieges schätzen gelernt, nachdem diese ihren

725 Einladung und Zusage Gehlens, 20.12.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 13.
726 In der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs ließ Hitler zusätzlich zu den regulären
Organen der Militärjustiz und dem Polizeiapparat sogenannte Fliegende Standgerichte
bilden, die – an keine Rechtsvorschriften gebunden – vermutete Deserteure zum Tode
verurteilten und hinrichteten. Siehe dazu insgesamt Manfred Messerschmidt: Die
Wehrmachtjustiz 1933-1945, Paderborn 2005.

376
anfänglichen Mangel an Professionalität überwunden hatte. Das höhere Offi­
zierskorps Himmlers bestand ohnehin zumeist aus ehemaligen Soldaten. Auch
wenn er die rassistische Ideologie der Nazis nicht teilte, so war Gehlen doch
während des Krieges immer stärker von der Auffassung geprägt worden, dass
in der Fähigkeit der Bolschewisten zur politischen Indoktrination die eigent­
liche Gefahr lag. Als der »Führer« nach dem 20. Juli 1944 anordnete, durch die
Ernennung von Nationalsozialistischen Führungsoffizieren (NSFO) die politi­
sche Erziehung in den eigenen Reihen zu verstärken, ist Gehlen aber wie viele
andere Offiziere offenbar nicht der Meinung gewesen, dass die »Fanatisierung
unserer eigenen Truppe mit mindestens gleichwertigen und noch besseren
Mitteln« den Krieg wenden könnte.727 Dem NSFO wurden auch bei Fremde
Heere Ost hauptsächlich Fürsorgeaufgaben übertragen. Dafür hatte Gehlen
Major Kalckreuth ausgewählt, der dagegen vergeblich mit Verweis auf seine
nationale und christliche Gesinnung protestierte. Gehlens Antwort: Genau
deshalb habe er ihn ausgesucht.728
Im Zuge seines Engagements für die Wlassow-Bewegung hatte Gehlen
1943 nicht nur Beziehungen zu Stauffenberg geknüpft, sondern auch zu »ein­
sichtigen« Kreisen der SS – solange er sich davon eine Wende an der Ostfront
versprochen hatte. Allerdings zeigte sich Himmler erst im August 1944 bereit,
die Wlassow-Bewegung anzuerkennen und die Aufstellung von zwei Divisi­
onen zu unterstützen. In seinen Memoiren schrieb Gehlen später: »Aber die
Einsicht kam zu spät. Aus Verzweiflung und Opportunismus geboren, blieb
ihr jeglicher Erfolg versagt.«729 Im Rückblick meinte er feststellen zu müssen,
dass die Wlassow-Bewegung unter Berücksichtigung der »Wahnideen Hitlers
von vornherein zum Scheitern verurteilt war«, und bedauerte die Opfer der
Beteiligten.730
Immerhin hatte sich Himmler im September 1944 bereit gezeigt, Wlassow
persönlich zu empfangen.731 Intern hatte sich dieser zuvor vehement darüber
beklagt, er werde von der Wehrmacht als »Untermensch« behandelt und nicht
seinem Rang gemäß.

727 Gehlen besaß ein eigenes Exemplar der vom SS-Hauptamt herausgegebenen kleinen
Schrift über »Die politische Erziehung in der Roten Armee« (NfD), Gehlen-Kisten,
Mappe Nr. 58. Als »Beispiele geschichtlicher Propaganda der SS« finden sich in seinem
persönlichen Nachlass auch die Schriften »Sicherung Europas« und »Der Weg zum
Reich« (Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 60).
728 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 26.10.1971, IfZ, ED 100-69-237.
729 Gehlen, Der Dienst, S. 90.
730 Ebd., S. 91.
731 Aktennotiz von SS-Standartenführer d’Alquen über die Besprechung Reichsführer-SS
mit General Wlassow am 18.9.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 16.

377
Gehlen (links) mit Offizieren der Russischen Befreiungsarmee, 1944

Die höheren Herren haben scheinbar für mich kein Interesse. Ich bin ja eben
ein Untermensch. Auch vom rein sachlichen Standpunkt kann ich euch nicht
verstehen. Ich kenne doch Stalin persönlich, ich kenne seine Art, und kann
in bestimmten Fällen seine Handlungsweise voraussagen. Ich kenne auch
sämtliche höheren Militärs der Sowjet-Union, ich kann genau sagen, wozu
jeder von ihnen fähig ist. Ihr Deutschen kennt aber alles scheinbar noch viel
besser. Meine Meinung interessiert niemand. Im Resultat sitze ich in meinem
Häuschen in Dahlem, sonne mich im Garten, spiele Karten, während an den
Fronten gekämpft wird.732

Gehlen als Chef FHO verstand kein Wort Russisch, und dem besten Kenner
Stalins und der Roten Armee ging er lange aus dem Weg. Nach dem Empfang
Wlassows durch Himmler traute sich auch Gehlen diesen Schritt zu. Er lernte
Wlassow persönlich kennen und sprach mit ihm mithilfe eines Dolmetschers.
An mehr erinnerte er sich später als Pensionär nicht. Man müsse im Nachrich­
tendienst »auch eine gewisse Distanz wahren. Verhandelt mit Wlassow hatte
immer Strikfeldt, er war mein Organ.«733

732 Vortragsnotiz von S.A. Hauptsturmführer S. Fröhlich, 8.6.1944, ebd.


733 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 1.2.1972, IfZ, ED 100-68-90.

378
Auf ein Dankschreiben Wlassows von Anfang Dezember 1944 für die von
Gehlen gewährte Unterstützung hatte dieser geantwortet:

Durchdrungen von der Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes gegen den


Bolschewismus habe ich gern das meine dazu beigetragen, um das Verständ­
nis für Ihre Gedanken und Ihre Bewegung zu wecken. Ich bin mir klar, dass
auf dem Wege dieses Kampfes noch viele Schwierigkeiten zu überwinden
sein werden; ich bin mir aber auch ebenso klar darüber, dass der zähe und
von allen Schwierigkeiten des Tages unbeirrte Wille zum gemeinsamen Ziel
schließlich den Erfolg erzwingen muss. Der Kampf und der Weg zum Erfolg
wird zugleich aber auch die Grundlage schaffen für das Verständnis der bei­
den Völker über die Verschiedenheit der Sprache hinweg.734

Im Frühjahr 1945 sah Gehlen keinen Anlass, in die später von ihm als Tragö­
die bezeichnete Entwicklung einzugreifen, die zum Untergang Wlassows und
seiner »Befreiungsarmee« führte, obwohl sein ehemaliger und künftiger enger
Mitstreiter Herre inzwischen zum Stabschef bei Wlassow aufgerückt war. Ob
seine Zurückhaltung auch damit zu tun hatte, dass ihm inzwischen Informa­
tionen über eine angebliche kommunistische Unterwanderung der Bewegung
vorlagen, muss offenbleiben.735 Er hatte sich schon seit Monaten regelmäßig
durch die Spitzel »Zarah« und »Leander« informieren lassen, die der Abwehr­
offizier beim General der Freiwilligenverbände führte.736
Was ihn nun, da die Aufstellung einer »Befreiungsarmee« zu spät kam und
militärisch sinnlos war, an der Kollaborationsbereitschaft von Teilen der ein­
heimischen Bevölkerung im Osten interessierte, war die Frage, inwieweit er sie
für die Nachrichtengewinnung nutzen konnte. Seit 1943 hatte sich eine Zusam­
menarbeit mit dem Stab des Unternehmens »Zeppelin« (UZ) im Reichssicher­
heitshauptamt eingespielt. Unter der Leitung von SS-Sturmbannführer Erich
Hengeihaupt, Leiter der Ostgruppe im Amt VI des RSHA, führte die Zentrale
des Unternehmens Außenkommandos im Frontgebiet mit dem Auftrag des
SD-Chefs Schellenberg, gefangen genommene Sowjetsoldaten darauf zu über­
prüfen, ob sie für Agenteneinsätze jenseits der Front infrage kamen. UZ blieb
darauf angewiesen, dass die Frontaufklärungsstellen, die fachlich FHO unter­
standen, im Zuge der ersten Überprüfung von Kriegsgefangenen Hinweise auf
geeignete Kandidaten gaben. Nach deren Ausbildung und Vorbereitung konnte

734 Schreiben Gehlens an Wlassow vom 6.12.1944, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 76.
735 Meldung über den Stab Wlassow zu Händen Generalmajor Gehlen, 10.1.1945, BA-MA,
RH 2/2548.
736 Der letzte Bericht der V-Person »Zarah« stammt vom 21. April 1945; Gehlen-Kisten,
Mappe Nr. 16.

379
UZ die notwendigen taktischen Informationen, etwa über die im Einsatzgebiet
der Agentengruppe dislozierten sowjetischen Armeeverbände, nur durch die
Ic-Offiziere an der Front bzw. durch FHO erhalten. So hatte sich seit 1943 eine
engere Kooperation auf der Arbeitsebene eingespielt. Auch wenn die meisten
Unternehmungen von »Zeppelin« dilettantisch scheiterten, nicht zuletzt weil
der sowjetische Militärgeheimdienst den Apparat schnell unterwandert hatte,
so profitierte Gehlen doch in begrenztem Umfang von dieser Art der Informa­
tionsbeschaffung.
Als nach dem 20. Juli 1944 Himmler Positionen in der Heeresführung über­
nahm, lief Gehlen Gefahr, dass er seine Informationsbasis verlieren könnte.
Schellenberg, der Nachrichtenchef im RSHA, wollte seinen Einfluss nicht
nur auf die Frontaufklärungsstellen ausdehnen, sondern auch den ganzen
Ic-Dienst des Heeres an sich binden.737 Die ehemalige Abwehrabteilung des
OKW war bereits im Frühjahr 1944 als »Militärisches Amt« in das RSHA über­
nommen worden, während man die »arbeitenden« Teile, d. h. die Frontauf­
klärung, zunächst in einer Unterstellung bei der Wehrmacht beließ. Der bis­
herige Leiter des Militärischen Amtes, Oberst i. G. Hansen, war maßgeblich
am Staatsstreichversuch am 20. Juli beteiligt gewesen, dann hatte Schellenberg
den Apparat übernommen. Ihm gelang es, die Frontaufklärung zumindest in
»fachlicher« Hinsicht stärker an sich zu binden.
Zum »Chef Frontaufklärung« im Militärischen Amt des RSHA wurde mit
Oberst i. G. Buntrock ein erfahrener Ic-Offizier der Ostfront ernannt, der das
Vertrauen der militärischen Stellen besaß und später einer der engsten Mitar­
beiter Gehlens im BND wurde. Im OKH befürchtete man nun, dass Schellen­
berg als nächsten Schritt die gesamte Feindauswertung bei den Frontstäben
an sich ziehen würde. Gehlen leitete deshalb mithilfe von Buntrock ein raffi­
niertes Manöver ein, um Schellenbergs Ambitionen zu bremsen. Er hat später
oft von dieser Erfahrung Gebrauch gemacht. Er lud Schellenberg Ende 1944
ein, die FHO-Zentrale zu besuchen und einen Tag lang die laufende Arbeit zu
beobachten – was zu dem erhofften Ergebnis führte: Schellenberg räumte ein,
dass die Sammlung und Auswertung der Lageberichte und Nachrichten mit
großer Professionalität und Erfahrung geschehe. Sein eigener Bereich sei dazu
noch lange nicht in der Lage.738 Der Protegé Himmlers hatte theoretisch wohl
durchaus verstanden, »dass die Führung eines Spionageapparates ein trocke­

737 Siehe hierzu auch die kleine Studie von Gehlen: Die Übernahme des Amtes Ausland-
Abwehr in das Reichssicherheitshauptamt, August 1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 65.
738 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 91 (ohne Beleg). Gehlen selbst berichtete 1976 von
diesem Schachzug in seinem Interview mit dem MGFA, 10.11.1976, S. 120, BND-Archiv,
N 13/2.

380
nes, nüchternes und sprödes Handwerk« ist.739 Aber im Gegensatz zu seinem
spröden Gegner Gehlen liebte Schellenberg den Hauch des Abenteuerlichen,
der aus der Zentrale von FHO beizeiten verbannt worden war.
Hier trafen zwei Konkurrenten aufeinander, die beide längst nicht mehr
an den »Endsieg« glaubten und ihre Möglichkeiten zu nutzen versuchten,
um den bisher heterogenen nachrichtendienstlichen Apparat gegenüber der
Sowjetunion zu bündeln und sich so eine Karriere nach der Niederlage zu
sichern. Es waren zwei Spieler, die sich gegenseitig belauerten und sich in den
letzten Tagen des Krieges annäherten. Beide brauchten einander in gewisser
Weise. Für Schellenberg war Gehlen, so behauptete er später in britischer
Gefangenschaft, sein stärkster Befürworter innerhalb der Wehrmacht, dessen
Unterstützung er umso mehr benötigte, weil sein Chef Ernst Kaltenbrunner
die Aktivitäten seines Untergebenen misstrauisch beobachtete. Als Gehlen im
April 1945 wegen einer Lagebeurteilung seinen Posten verlor, erklärte Kalten­
brunner gegenüber Schellenberg: Gehlen, dieses »Würstchen«, habe sich wohl
zu sehr auf Schellenbergs armseligen Nachrichtendienst verlassen. Wenn es
eines Tages seinetwegen ähnliche Schwierigkeiten beim »Führer« geben sollte,
werde er ihn nicht verteidigen. Dann würde auch Schellenberg auf schnellstem
Wege entlassen.740
Die Verbindung zu Schellenberg ist kein Beleg für eine gesinnungsmäßige
Nähe zur SS-Führung. Es war ein nüchternes Kalkül, mit dem Gehlen sich am
Ende durchgesetzt hat.741 Für die Bündelung und den Erhalt der verschiede­
nen antisowjetischen Institutionen sprachen durchaus fachliche Gründe. Sie
verschafften aber dem Dirigenten zugleich auch persönliche Vorteile, um sich
den Westalliierten bzw. einer künftigen deutschen Regierung als unentbehr­
lich anbieten zu können.

739 Klaus Harpprecht in seinem Vorwort zu Walter Schellenberg: Aufzeichnungen. Die Me­
moiren des letzten Geheimdienstchefs unter Hitler, Wiesbaden und München 1979,
S. 12.
740 Bericht über Schellenberg, 12.7.1945, National Archives Kew, KV 2-2862 Reinhard Geh­
len.
741 Im Juni 1945 wurde Schellenberg inhaftiert und konnte durch seine Zeugenaussage beim
Nürnberger Kriegsverbrecherprozess eine langjährige Haftstrafe vermeiden. Angeblich
hat Schellenberg Informationen über die Sowjetunion an Allen Dulles weitergegeben.
Im April 1949 wurde er vom Militärgerichtshof Nr. IV im Wilhelmstraßen-Prozess zu
sechs Jahren Haft verurteilt. Nach zwei Jahren, in denen er seine Memoiren schrieb,
wurde er im Dezember 1950 wegen eines Leberleidens vorzeitig aus dem Kriegsverbre­
chergefängnis Landsberg entlassen. Nach 1945 lebte Schellenberg nach Angaben von
Klaus Harpprecht von den Tantiemen und Honorarvorschüssen für seine Autobiografie.
Zudem soll er auch den britischen Geheimdienst beraten haben. Er starb 42-jährig am
31. März 1952 im italienischen Turin an Krebs; siehe Klee, Personenlexikon, S. 529-530.

381
Schellenberg gab seine Bemühungen um den Ic-Dienst keineswegs auf.
Himmlers neue Funktionen als Befehlshaber des Ersatzheeres und als Ober­
befehlshaber von Heeresgruppen, zunächst am Oberrhein, dann in Pommern,
gaben Schellenberg die Möglichkeit, eine erste Gruppe von 100 Offizieren,
Unteroffizieren und Mannschaften, die eine Ic-Schulung erhalten hatten,
für den Übertritt ins RSHA anzufordern.742 Otto Skorzenys SS-Jagdverbände
nutzten die Verbindung mit FHO, um ihre Sabotageaktionen im sowjetischen
Hinterland zu organisieren. Im Gegenzug überließ die SS Gehlen den Oberst
Ernst Hoyer, einen ehemaligen Regimentskommandeur, der in sowjetischer
Gefangenschaft für das Nationalkomitee Freies Deutschland angeworben und
als Agent ins Reich geschickt worden war. Aus der Gestapohaft wurde er FHO
zur freien Verfügung überlassen, angeblich um ihn für ein Funkspiel einzu­
setzen.743
Gehlen reagierte auf Schellenbergs Bemühungen mit dem Vorschlag, die
Frontaufklärung auf eine breitere Basis zu stellen, indem man sie als Partisa­
nenbewegung tarnte. Durch das schnelle Vorrücken der sowjetischen Truppen
sei ein Teil der Verbindungen abgerissen. Zudem sei es durch die Erfolge der
Roten Armee immer schwieriger geworden, neue russische Agenten anzu­
werben. Gehlen regte deshalb an, es solle »zum Zwecke der Nachrichtenbe­
schaffung durch entsprechend eingesetzte kampfkräftige Agentengruppen
im rückwärtigen Feindgebiet ein neues, nichtdeutsches Nachrichtennetz als
>Geheimbund der grünen Partisanen< geschaffen werden«. Formell solle dieser
unter russischer Führung stehen und ausschließlich jenseits der Front zum
Einsatz kommen. Diesseits der Front sollten nur Nachrichtenwege aufgebaut
werden. Man brauche einen weitgehenden Einsatz von nichtdeutschen Agen­
ten, um ganz Osteuropa bis in die Tiefe des sowjetischen Raumes abzudecken.
Die nationalrussisch geprägte Wlassow-Bewegung dürfe dabei nicht im Vor­
dergrund stehen. Gleichzeitig würden vermehrt deutsche V-Leute für die takti­
sche Aufklärung im Frontgebiet benötigt.744 Dazu sollten rund 1000 Freiwillige
aus der Truppe erfasst werden, die zum Einsatz hinter der Front bereit waren.
Bemerkenswert war die Fixierung auf die Nachrichtenbeschaffung, auch
wenn die Agentengruppen in der Lage sein sollten, »die Erkundungstätig­
keit gelegentlich auch gegen feindliche Spionageabwehr mit Waffengewalt zu
erzwingen«. Er war sich ziemlich sicher, dass die polnische Exilregierung in

742 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 91.


743 Ebd., S. 351. Bei einem nachrichtendienstlichen Funkspiel wird ein verdeckt operieren­
der feindlicher Funker durch eigenes Personal ausgetauscht, um dem Feind gefälschte
Meldungen zukommen zu lassen, ohne dass dieser es merkt.
744 Vortragsnotiz Gehlens über Maßnahmen zur Aktivierung der Frontaufklärung,
25.2.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 65.

382
London »zu einer Zusammenarbeit gegen den Bolschewismus ohne politi­
sche Bedingungen bereit« sei und für eine kampfkräftige Agentenaufklärung
einen Teil der erforderlichen Waffen zur Verfügung stellen würde. Sie habe
zwar die antideutsche Widerstandsbewegung offiziell aufgelöst, baue sie aber
insgeheim im sowjetisch besetzten Teil Polens wieder auf. Die Zusammen­
arbeit mit den Polen mithilfe einer »Organisation der grünen Partisanen«
würde nicht von deutscher, sondern von antibolschewistisch-russischer Seite
her erfolgen. So könnte man vermeiden, dass die Kooperation eine irgendwie
politische Dimension bekäme. Er habe sich, so Gehlen in seiner Vorlage für
Guderian, bereits von Schellenberg die beschriebenen Maßnahmen genehmi­
gen lassen. Der geheime Meldedienst des RSHA verfüge darüber hinaus über
verschiedenste Möglichkeiten, die politischen Verhältnisse auf dem Balkan
auszunutzen und mit »Fernverbindungen in die sowjetrussische Führung«
hineinzuwirken.
Es ging Gehlen also nicht um größere bewaffnete Widerstandsgruppen, wie
sie im Baltikum, in Polen und in der Ukraine bereits existierten. Die Verbindun­
gen zu ihnen würden nach dem Zusammenbruch des Reiches zwangsläufig
abbrechen. Von deutscher Seite würde man sie nicht militärisch unterstützen
können. Außerdem verfolgten diese antisowjetischen Kampfgruppen eigene
Ziele, die nach nüchterner Einschätzung gegen die siegreiche Rote Armee und
Stalins Sicherheitsapparat keine Überlebenschance hätten.
Die sicherlich von Bauns fantasievollen Projektionen inspirierten Über­
legungen Gehlens richteten sich schon im Februar 1945, als der durchschla­
gende Erfolg der sowjetischen Winteroffensive außer Frage stand, ganz auf
die Nachkriegszeit. Er würde seine diesbezüglichen Pläne nur verwirklichen
können, wenn er sich bis zum letzten Tag des Krieges offiziell im rein mili­
tärischen Rahmen bewegte und beim Sammeln von Ressourcen eine direkte
Konfrontation mit seinem Konkurrenten Schellenberg vermied. Unter diesen
Bedingungen gelang es ihm, eine Reihe von Institutionen anzuzapfen, um
die meist unter SS-Ägide gesammelten Informationen über den »Ostraum«
in die Hände zu bekommen. Dazu gehörten etwa das Wannsee-Institut und
andere Forschungsstellen sowie der »Forschungsdienst Ost«, eine weitere
Dependance des RSHA, die Listen über bestehende antisowjetische Gruppen
führte und sich dazu auch sowjetischer Quellen bediente, die über das Auftre­
ten von »Wlassowbanden«, »räuberische Partisanen und Deserteurbanden«
berichteten.745
Gehlen war hauptsächlich am Schicksal der militärischen Frontaufklä­
rungskommandos interessiert sowie an anderen Resten der Abwehr, die er

745 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 90.

383
jetzt stärker an sich zu binden versuchte,746 nicht an der als verloren einge­
schätzten Wlassow-Armee und den von der SS geführten Diversionsgruppen.
Eine Vergeudung wertvoller Kräfte war aus seiner Sicht auch die sogenannte
Werwolf-Organisation, die Himmler seit September 1944 aufbauen und von
Skorzeny trainieren ließ, um bei einer Besetzung des Reichsgebiets im Rücken
des Feindes eine deutsche Partisanenbewegung zum Einsatz zu bringen. Aus­
rüstung und Bewaffnung sollte das OKH organisieren. Dort wurde der militä­
rische Nutzen einer solchen Freischärlertruppe als gering eingeschätzt. Die
Freiwilligen, die im Hinterland des Feindes schnell verloren gehen würden
und den Feind zu drastischen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevöl­
kerung veranlassen könnten, würden außerdem die Fronttruppen behindern,
die nach der Vorstellung vieler im Westen den Alliierten den Vormarsch auf
das Reichsgebiet nicht um jeden Preis versperren sollten. Wer hoffte, dass es
über militärische Kanäle zu einer Verständigung mit den Alliierten kommen
könnte, musste sich darüber im Klaren sein, dass eine aktive Terror- und Par­
tisanentätigkeit der SS solche Hoffnungen zunichtemachen würde. Deshalb
verfolgte das OKH eine hinhaltende Politik gegenüber der Werwolf-Bewegung
unter SS-Obergruppenführer Hans-Adolf Prützmann und drängte darauf, sie
nur in enger Anbindung an die örtlichen Frontkommandos einzusetzen, vor­
zugsweise im Rahmen der militärischen Aufklärung.747
Gehlen hat sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt, sich sogar mit histori­
schen Beispielen befasst,748 und durch den ehemaligen Leiter der Abwehrstelle
Warschau, Oberstleutnant Johannes Horaczek, eine Studie über den im Okto­
ber 1944 gescheiterten Aufstand der Polnischen Heimatarmee anfertigen las­
sen.749 An diesem konkreten Fall ließ sich zeigen, dass bewaffneter Widerstand
nicht auf längere Dauer im Untergrund operieren konnte und ein Aufstand
scheitern musste, wenn kein rechtzeitiger Entsatz durch reguläre Truppen
möglich war. Der Fall zeigte auch, dass im Falle des blutigen Scheiterns gerade
jene Kräfte verloren gingen, die für eine geheime Aufklärungsarbeit gegen­
über der Besatzungsmacht besonders wertvoll waren – eine Lehre, die Gehlen

746 So bemühte Gehlen sich z. B. um eine Kommandierung von Wilfried Strik-Strikfeldt,


dem wichtigen Russlandexperten, zu FHO; siehe Schreiben Gehlens vom 11.1.1945,
Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 76. Strikfeldt sollte eine größere Arbeit über die Anfänge der
Wlassow-Bewegung zu Ende bringen.
747 Siehe Volker Koop: Himmlers letztes Aufgebot: die NS-Organisation »Werwolf«, Böhlau
2008.
748 In Gehlens persönlichen Unterlagen findet sich das kleine Bändchen von Arthur Ehr­
hardt: Kleinkrieg. Geschichtliche Erfahrungen und künftige Möglichkeiten, zuerst Pots­
dam 31944 [zuerst 1935].
749 Oscar Reile: Geheime Ostfront. Die deutsche Abwehr im Osten 1921-1945. Die Abwehr
im Kampf mit den feindlichen Geheimdiensten im Osten, München 1963, S. 195.

384
Konkurrenten Walter Schellenberg und Otto Skorzeny, 1943

auch in der Nachkriegszeit beachtete. Als Skorzeny seine Überlegungen am


15. März 1945 bei Gehlen vortrug, gab sich dieser nicht überzeugt und will das
Ganze als »Augenwischerei« bezeichnet haben. Genau in diesem Augenblick
begann ein schwerer US-Luftangriff auf das Lager »Maybach« und eine Bombe
detonierte 20 Meter von dem Haus entfernt. Skorzeny verschwand unter dem
Tisch, Gehlen stellte sich ruhig unter eine Türfüllung, den sichersten Platz. Die
Sekretärin im Vorzimmer wurde vom Luftdruck aus dem Fenster geschleudert.
So wenigstens die Darstellung Gehlens.750
In dieser Begegnung steckt wahrscheinlich der Kern der späteren Behaup­
tung Schellenbergs gegenüber den Alliierten, im März habe ihm Gehlen in
einem dreistündigen privaten Gespräch erklärt, dass nach seinen Berechnun­
gen der Kampf in zwei Monaten zu Ende sein werde. Auf diesen Fall müsse man
sich einrichten. Der einzige Mann mit Vorstellungskraft und Energie, der diese
Aufgabe übernehmen könne, sei Himmler. Als Befehlshaber des Ersatzheeres
solle er Schellenberg – zusammen mit Gehlen und den besten Generalstabsof­
fizieren – beauftragen, den Widerstand zu organisieren und eine Heimatarmee
nach polnischem Vorbild aufzubauen. Gehlen habe behauptet, dass Schellen­
berg sein persönliches Vertrauen besitze und er sich ihm freiwillig unterstellen
würde. Auch die Armee würde auf Schellenberg bauen. Er werde sich für vier

750 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 16.12.1971, IfZ, ED 100-69-227.

385
Wochen beurlauben lassen, aber tatsächlich im Ausweichquartier des OKW
in der Nähe von Berchtesgaden (Deckname »Frankenstrupp«) in aller Stille
die Vorbereitungen treffen. Er habe bereits eine Studie über die polnische Hei­
matarmee in Auftrag gegeben und fordere Schellenberg auf, auf seiner Seite
ähnlich vorzugehen.751
Schellenberg versprach strikte Verschwiegenheit und sagte zu, die Sache zu
überdenken und anschließend Himmler dafür zu gewinnen. Zehn Tage später
habe er die Unterlagen durch einen Kurier – an Kaltenbrunner vorbei – an den
Reichsführer SS überbringen lassen, mit der mündlichen Empfehlung, auch
General Walther Wenck einzuweihen, weil dieser wohl Nachfolger von Gude­
rian als Generalstabchef des Heeres werden würde. Als Schellenberg Himmler
persönlich den Plan erläutern wollte, habe dieser ihn abrupt unterbrochen und
das Unternehmen als kompletten Unsinn bezeichnet. Dass eine Untergrund­
armee nicht sofort gegen den Einmarsch einer feindlichen Armee auftreten,
sondern sich besser in aller Stille auf einen späteren Aufstand gegen die Besat­
zungsmacht vorbereiten sollte, war für Himmler, der gerade schmählich durch
Hitler von seinem militärischen Kommando entbunden worden war, eine
nicht akzeptable Vorstellung. Wenn er, Himmler, darüber mit Wenck diskutie­
ren würde, wäre er der höchstrangige Defätist des Reiches, was dem »Führer«
umgehend zu Ohren käme. Das brauche er aber nicht im Detail diesem Gehlen
zu erzählen. Es reiche, dem General zu erklären, dass Himmler den Plan strikt
ablehne. Es sei typisch für den erstklassigen Generalstabsoffizier, in »Fran­
kenstrupp« zu sitzen und Nachkriegspläne auszuhecken anstatt zu kämpfen.
Natürlich sind solche späteren Berichte von ehemaligen SS-Offizieren
mit Vorsicht zu behandeln, die es dem Kameraden Gehlen verübelten, dass
er sich erfolgreich zu den Amerikanern hatte absetzen können. Handelt es
sich bei diesem Bericht Schellenbergs um die fantasievolle Ausschmückung
unverbindlicher fachlicher Gespräche mit Gehlen? Es ist deutlich erkennbar,
dass Gehlen hier offenbar eine gut durchdachte Legende für sein geplantes
Untertauchen in den Alpen konstruiert hat und sich dafür der Eitelkeit seines
Konkurrenten Schellenberg zu bedienen wusste. Den angeblichen Plan einer
Widerstandsarmee gegen die alliierten Besatzer Himmler anzubieten, war ein
geschickter Schachzug, um sich selbst vor dem möglichen und »berechtigten«
Vorwurf des Defätismus zu schützen.752

751 Hierzu und zum Folgenden Auswertung der Vernehmung Schellenbergs in britischer
Gefangenschaft, 12.7.1945, National Archives Kew, KV 2-2862 Reinhard Gehlen; siehe
auch Reese, Der deutsche Geheimdienst, S. 51; Pahl, Fremde Heere Ost, S. 302-303.
752 Bei späteren Befragungen stießen die Amerikaner auf einige Offiziere, die wie Schellen­
berg die Existenz eines Planes von Gehlen bestätigten, nach der Niederlage den Kampf
gegen die Westmächte fortzusetzen. Gehlen wurde von Critchfield am 11. Juli 1952 dazu

386
Ende 1944 hatte Gehlen Hermann Baun, den Leiter von »Walli I«, in seine
Pläne eingeweiht. Es war der Beginn einer Schicksalsgemeinschaft, die nur
wenige Jahre überdauerte, bis Gehlen 1948 Baun endgültig als Konkurrenten in
der Organisation kaltstellte. Der russlanddeutsche Baun, 1897 in Odessa gebo­
ren, hatte schon in den 1930er-Jahren für die Abwehr gearbeitet. Er war der
Kopf der deutschen Militärspionage während des Ostkrieges. Von Vorgesetzten
wurde er als fleißiger, strebsamer Offizier mit hervorragenden Landeskennt­
nissen eingeschätzt. Ende 1943 hatte ihm Gehlen persönliches Geschick und
taktvolle Zusammenarbeit mit FHO bescheinigt.753 Untergebene erinnerten
sich später an seine Neigung, Entscheidungen allein zu treffen, ein Mann, der
zwar wusste, was er wollte, was er aber oft nicht klar und deutlich genug auf
dem Papier formulieren konnte. Durch seine rastlose Tätigkeit an der gesam­
ten Ostfront war Baun während des Krieges, erst recht in den letzten Monaten
der Zusammenarbeit mit Gehlen, körperlich und nervlich sehr angegriffen,
wie der britische Geheimdienst nach seiner Gefangennahme im Sommer 1945
notierte. Er sei starker Kettenraucher und Trinker, nervös und – für Bauns Auf­
nahme bei den Alliierten besonders wichtig – ein eher unpolitischer Soldat.754
Mit Baun traf Gehlen einen erfolgreichen, einsatzerfahrenen Agentenfüh­
rer, der ihm das bieten konnte, was Gehlen für seine Nachkriegspläne unbe­
dingt brauchte. Dass Baun sich Gehlen in der Schlussphase des Krieges auf
einer persönlichen Basis unterstellte, war Ausdruck einer sinnfälligen Überle­
bensgemeinschaft. Baun musste befürchten, mit seiner Truppe gänzlich vom
SD übernommen zu werden. Würde Baun zu Schellenberg wechseln, verlöre
Gehlen »ein Auge«, denn Baun behielt die hinter dem Vormarsch der Roten
Armee zurückbleibenden Elemente der Abwehr in der Hand, die später für die
US Army von Bedeutung waren. Die Verbindung zu Baun machte Gehlen zur
Chefsache. Selbst sein Vertreter Wessel war nur begrenzt unterrichtet.755
Gehlen hatte zweifellos ein Interesse daran, dass Baun mit seiner Frontauf­
klärung bei den höheren Führungsstäben besser bekannt wurde und seine
Arbeitsweise stärker systematisierte bzw. auswertete. So ließ er vermutlich
1943 durch eine kleine Kommission zehn Wochen lang zwölf Verbände der

befragt, der, ebenso wie Wessel, dies zurückwies. Die Studie zur polnischen Heimat­
armee habe lediglich dazu gedient, den Kontakt zu Wessel zu halten, der seinerseits
erklärte, die Anfertigung der Studie habe eine Deckung für die Verlagerung der Materia­
lien von FHO in den Alpenraum geboten; siehe Statement of General Gehlen on Walter
Schellenberg Story, in: Forging an Intelligence Partnership. CIA and the Origins of the
BND, 1945-49: a Documentary History, hg. von Kevin Ruffner, Bd. 1, o.O. 1999, S. 17-18.
753 BA-MA, Pers 6/12484.
754 Pahl, Fremde Heere Ost, S. 315 – 316.
755 Aktennotizen zur Geschichte der Org., Sept. 1952, BND-Archiv, N 1/ 1.

387
Frontaufklärung III, zwei Lager und ein russisches Jagdkommando inspizie­
ren. Rund 200 russische Agenten und Freiwillige wurden befragt und beob­
achtet. 167 Charakterstudien waren das Ergebnis der Untersuchung, deren
wissenschaftliche Methodik und Systematik von Professor Rudolf Hippius,
dem Leiter des Instituts für Sozial- und Völkerpsychologie der Universität
Prag, entwickelt worden war.756 In der Studie wurden, im Gegensatz zu der
berüchtigten SS-Broschüre Der Untermensch, die russischen »Typen« sachlich­
nüchtern beschrieben, mit der Absicht, dieses »Menschenpotenzial« optimal
für die Gegenaufklärung nutzen zu können. Die Betonung der vermeintlichen
Überlegenheit »des Deutschen« korrespondierte mit dem Appell, sich auf die
kulturellen, sozialen und psychologischen Besonderheiten der russischen Frei­
willigen einzustellen.
Später sprach Gehlen stets davon, dass ihm Baun direkt unterstellt gewe­
sen sei, doch das war wohl eher ein klug arrangiertes Szenario für Außenste­
hende, das beiden half. Das zeigt deutlich der formelle Schriftwechsel anläss­
lich der jeweiligen Geburtstage. So leitete Gehlen am 17. Dezember 1943 ein
Glückwunschschreiben mit den Worten ein: »Lieber Herr Baun! Zu Ihrem
heutigen Geburtstag spreche ich Ihnen auch im Namen aller meiner Offi­
ziere meine allerherzlichsten Wünsche aus.« Er sandte ihm ein persönliches
Porträt »als Erinnerung an unsere gemeinsame Arbeit wie gleichzeitig als
persönlichen Dank für die stets bewiesene Kameradschaft.« Bei der gemein­
samen Arbeit werde es wohl auch im nächsten Jahr »noch viele Nüsse zu kna­
cken geben«.757
Ein Jahr später sandte Baun zum Jahreswechsel 1944/45 »für das im
vergangenen Jahr stets gezeigte Wohlwollen und die erwiesene Unterstüt­
zung« seinen »ganz gehorsamsten Dank«. Gehlen antwortete wieder mit der
Anrede: »Lieber Herr Baun!« Er dankte für den rastlosen Einsatz und erklärte:
»Die Zusammenarbeit mit Ihnen ist mir durch Ihr stets bereitwilliges Ein­
gehen auf meine Gedanken und vielfachen Wünsche besonders angenehm
und erfreulich gewesen und hat uns über den dienstlichen Rahmen hinaus
auch persönlich nahegebracht.« Für das neue Jahr wünschte er sich, dass die
erfolgreiche Zusammenarbeit »zum grossen gemeinsamen Ziel« führen wer­

756 Rudolf Hippius: Volkstum, Gesinnung und Charakter. Bericht über psychologische
Untersuchungen an Posener deutsch-polnischen Mischlingen und Polen, Stuttgart
1943. Das Ergebnis war eine geheime Broschüre, ohne Verfassername und Heraus­
geber, mit dem Titel »Der Russe im geheimen Aufklärungsdienst im Ostfrontgebiet.
Charakter – Auswahl – Führung«. Sie gehörte zu einer geplanten Serie »Fremdvölker
im Dienst der deutschen Gegenaufklärung im Osten«. Ein Exemplar fand sich in den
Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 47.
757 Schreiben Gehlens an Baun, 17.12.1943, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 13.

388
de.758 Zu diesem Zeitpunkt war der »Herr Baun« bereits in Gehlens Absichten
eingeweiht.
Gehlen hatte Major Heinz-Georg von Twardowski zu Baun abgestellt, um
ihn gegen Begehrlichkeiten von SS und SD abzusichern. Gleichzeitig durfte
Baun schon seit Herbst 1944 den »großen Stempel« von FHO verwenden, der
eine »notgeborene Unterstellung« signalisierte. Gehlen nutzte nun auch die
Gelegenheit, Baun einzuspannen, um den Ic-Offizier der Heeresgruppe Nord
über die Feindlage zu informieren und Kontakt zu halten.759 Weniger eng war
der Kontakt Gehlens zu einem Kameraden Bauns, dem Oberstleutnant Ernst
zu Eikern, dessen Leitstelle II Ost für Sabotage und Zersetzung im Osten
zuständig war.760
Siegfried Graber, einer der engsten Mitarbeiter Bauns und mit ihm 1946
einer der Männer der ersten Stunde der Organisation Gehlen, behauptete
später, dass die Kenntnisse über den RSHA-Apparat damals sehr rudimentär
gewesen seien.761 Das dürfte umgekehrt auch für Schellenberg gegolten haben.
Für Baun seien SS und SD »Horrorgruppen« gewesen, für die er nichts übrigge­
habt habe, so Graber, und die ihn an seine Erlebnisse während der Russischen
Revolution erinnerten.762 Baun habe zu ihm, Graber, gesagt, diese Leute hätten
wegen ihrer NS-Vergangenheit und ihrer Schandtaten bei den Siegern keine
Gnade zu erwarten und würden infolgedessen vor ihrem endgültigen Untergang
noch möglichst viele ihrer Gegner liquidieren, was im April 1945 u. a. auch zur
Ermordung von Canaris geführt habe. Baun weihte Graber am 30. Januar 1945
in die mit Gehlen besprochenen Pläne ein und behielt die für seine Leitstelle I
Ost bereits ausgegebenen SS-Soldbücher in seinem Schreibtisch.
Eine Woche zuvor hatte er sich um die Evakuierung der Familie Gehlen aus
dem schlesischen Liegnitz gekümmert. Es handelte sich um Gehlens Ehefrau,
das Dienstmädchen und die vier kleinen Kinder samt größerem Gepäck, die
mit Wehrmachtfahrzeugen transportiert wurden, getarnt als V-Leute, die in
Sicherheit gebracht werden müssten. Diese Tarnung war erforderlich, denn
SS- und Feldjägerkommandos durchstreiften das Land im Rücken der zusam­
menbrechenden Ostfront und machten mit »Defätisten« und Deserteuren kur­

758 Schreiben Bauns an Gehlen, 3.1.1945, ebd.


759 Schreiben Gehlens an den Ic-Offizier, 6.12.1944, ebd.
760 Weihnachtswünsche Eikerns für Gehlen, 22.12.1944, ebd., mit dem erkennbaren Bemü­
hen, dem »hochverehrten Herrn General« zu gefallen und Kontakt zu dessen Stellver­
treter Wessel zu halten.
761 Kommentierung Siegfried Grabers von Altunterlagen, 1981, BND-Archiv, N 4/15.
762 Baun war 1919 aus der deutschen Armee ausgeschieden und nach Odessa zurückge­
kehrt, wo er am deutschen Konsulat arbeitete (von 1929 bis 1937 in Kiew); Personalakte
des AA, BND-Archiv, N 11/1, S. 79.

389
zen Prozess.763 Baun ließ seine Beziehungen zum SD spielen und erwies dem
General und Mitverschworenen aus Dankbarkeit764 eine Gefälligkeit, die seine
Familie vor Kontrollen schützte, mit denen eine wilde Flucht der ostdeut­
schen Bevölkerung verhindert werden sollte. Dabei war Gehlen natürlich gut
informiert darüber, welche Gefahr den Menschen beim Einmarsch der Roten
Armee drohte.765
Die Fahrt für Familie Gehlen ging am 21. Januar 1945 zunächst nach Rei­
chenbach auf ein Gut, wo Wlassow-Verbände einquartiert waren.766 Nach einer
Übernachtung fuhr die kleine Kolonne mit anderen schlesischen Familien im
Pkw nach Dresden in das Hotel von Bauns Frau. Am nächsten Tag brachte
Baun Gehlens Frau mit ihren Kindern zu Verwandten nach Naumburg (Saale),
wo vorübergehend auch die Akten von FHO eintrafen, die man in leeren Wein­
kellern verstaute. Ende März, als der sowjetische Vormarsch bedrohlich näher­
rückte, fuhr die Kolonne bei Luftangriffen auf Leuna des Nachts ins bayeri­
sche Hof und weiter nach Cham in der Oberpfalz. Untergebracht auf Schloss
Gutmanning, das einem Essener Industriellen gehörte, erlebten die Kinder
amerikanische Tiefflieger, die auf Fußgänger schossen. »Auf unserem langen
Schulweg zu Fuß über mehrere Kilometer mußten wir immer wieder Deckung
unter Bäumen und Büschen suchen. Es war eine Zeit des Hungers, die uns
Rüben auf dem Feld klauen ließ und durch fleißiges Sammeln von Brennes­
seln zu einem guten Spinat führte. Dort (im bayerischen Cham) erlebten wir
die Kapitulation.«767 Gehlens Bruder Walther kam am 20. Februar bei einem
Luftangriff auf Nürnberg ums Leben.768
Baun hatte die Evakuierung der Familie Gehlen im Zuge der Verlegung sei­
nes eigenen Stabes veranlassen können. Nach einem schweren Luftangriff auf
Berlin hatte ein Vorkommando Mitte Januar Harnekop bei Berlin verlassen und
eine neue Stabsunterkunft in Dresden bezogen. Baun und seine Truppe kamen
in einem Hotel am Neumarkt unter, das Verwandten gehörte.769 Am 12. Feb­
ruar verließ einer seiner wichtigsten Mitarbeiter, Siegfried Graber, die Stadt,
um an der Beerdigung seiner Frau im Sauerland teilzunehmen. Das bewahrte
ihn vor dem verheerenden Luftangriff auf Dresden am 13./14. Februar. Gehlen

763 Siehe Gehlen, Der Dienst, S. 102.


764 BND-Archiv, N 4/15, S. 42 und 73.
765 Eine Sammlung typischer Beispiele vom Verhalten der sowjetischen Truppen, z.B.
durch Berichte der Frontaufklärung Bauns, findet sich in Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 65.
766 Bericht Herta Gehlen, 16.12.1971, IfZ, ED 100-69-5.
767 Interview mit Christoph Gehlen, 11.9.2012.
768 Den Sohn Peter Christian Gehlen unterstützte Reinhard Gehlen 1956, als dieser in die
USA auswanderte und eine Karriere bei der US Army machen wollte; NA Washington
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol3_10F2.
769 Siehe Erinnerungen Grabers, Nachlass Graber, BND-Archiv, N 4/20, S. 70.

390
schickte danach sofort zwei Offiziere von FHO in die stark zerstörte Stadt, um
Baun und seinen Stab zu suchen und eventuell wichtige Unterlagen zu bergen.
Der Auftrag erwies sich als undurchführbar, da in dem fast vollständig zerstör­
ten und teilweise noch brennenden Hotel niemand mehr lebte. Ein Flüchtling
erzählte, die meisten Personen seien aber noch herausgekommen. Als Graber
am 18. Februar in Bad Elster die geflüchtete Leitstelle I Ost wieder erreichte,
erzählte Baun noch immer schockiert über die Flucht aus dem Keller und von
dem grauenvollen Weg zu den Elbwiesen, die Rettung verhießen. Bei bis zu
25.000 Toten in der Stadt nahmen sich die Verluste an Wehrmachtangehörigen
(ca. 100) äußerst gering aus.770 Baun, der in Dresden seine Ehefrau verloren
hatte, heiratete wenige Tage später seine Vorzimmerdame Fräulein Meyer.
Gehlen dürfte höchst erfreut darüber gewesen sein, dass Baun die Bombardie­
rung Dresdens überlebt hatte, denn der spielte bei seinen weiteren Plänen eine
große Rolle. Er ließ gleichzeitig intern eine Studie anfertigen über die während
des Ostfeldzuges gemachten Erfahrungen mit der Frontaufklärung.771
Wie intensiv er sich bereits gedanklich mit seiner angestrebten künftigen
Aufgabe beschäftigte, zeigt seine Bearbeitung einer Studie zu »Wissen und Wis­
senschaften vom Feind«, die ihm Major Wilhelm Ritter von Schramm Anfang
März 1945 zusandte. Schramm war gelernter Journalist, während des Krieges
in der Propagandaabteilung des OKW tätig und war seit September 1944 mit
der Abfassung des Wehrmachtberichts beauftragt. In der Nachkriegszeit war
er Militärhistoriker, der sich vor allem mit Nachrichtendiensten beschäftig­
te.772 Das Manuskript Schramms lobte Gehlen, weil darin seiner Auffassung
nach »in ausgezeichneter Form die Wesensart des Feindnachrichtendienstes«
erfasst worden sei. Und er fügte eine längere eigene Betrachtung mit Gedanken
dazu an, die zusätzlich aufgenommen oder deutlicher hervorgehoben werden
sollten.773
Es gebe zweierlei Einstellungen zum Feind, betonte Gehlen in seiner Anmer­
kung. Die politisch-militärische richte sich darauf, die Widerstandskraft des

770 Siehe dazu umfassend Rolf-Dieter Müller u. a.: Die Zerstörung Dresdens 13. bis 15. Feb­
ruar 1945, Göttingen 2010.
771 Der Beitrag der Frontaufklärung zur Beurteilung der feindlichen Operationsabsichten
im Laufe des Ostfeldzuges bis Ende 1944 und die hierbei gemachten Erfahrungen, März
1945, BA-MA, RH 2/2564. Verfasser ist offensichtlich Major i. G. Horst Hiemenz gewesen,
Gruppenleiter Russland-Balkan.
772 Siehe u. a. Schramm, Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg.
773 Schreiben Gehlens an Ritter von Schramm, 14.3.1945, BA-MA, RH 2/1984. Die erhaltene,
schlecht lesbare Kopie bricht nach 18 Seiten ab. Schramm berichtet in seinem später
erschienenen Buch (Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg, S. 351), Gehlens Brief habe ihn
damals nicht mehr erreicht. Er habe den Text dann 1966 zufällig unter den amerikani­
schen Beuteakten im National Archive in Alexandria gefunden.

391
Gegners zu brechen und ihn mit allen Mitteln niederzuwerfen. Da gebe es kein
Abseitsstehen, da sei »eine objektive Einstellung zum Gegner staatsfeindlich,
widerpolitisch und widernatürlich, weil sie die kämpferischen Impulse der
Kriegführung lähmt«. Ähnliches gelte für das politisch-geistige Gebiet. Auch
hier gebe es keine Neutralität oder private Vorbehalte. In einem totalen Krieg
müsse auch auf geistigem Gebiet klar Partei genommen werden, da sei jedes
Mittel recht, um »höchste Gesichtspunkte des eigenen weltgeschichtlichen
Auftrags« gegenüber dem Feind durchzusetzen.
Eine andere Einstellung zum Feind diene nicht direkt dem Kampf, sondern
der Vorbereitung des Kampfes. Um sie gehe es beim Thema Nachrichtendienst.
Um den Feind richtig zu treffen, müsse man vorher möglichst viel Wissen über
ihn gesammelt haben. Dazu brauche es eine Aufklärung über alle den Geg­
ner betreffenden Einzelheiten. Das sei Aufgabe des Ic-Dienstes. Er liefere dem
Kompaniechef ebenso die Unterlagen für seine Entschlüsse wie dem Feldherrn
für die großen Operationen. Dazu führte Gehlen einige historische Beispiele
an. Das heutige Wissen über den Feind beruhe

in erster Linie auf mehr oder minder vollständigen zahlenmäßigen Unterla­


gen und auf einer neuzeitlichen statistischen Technik, die es ermöglicht, in
alle zahlenmäßig zu erfassenden technischen Größen der feindlichen Wehr­
macht und Rüstung Einblick zu gewinnen. [...] Gegenüber der systematisch­
statistischen Erfassung des Feindes, seiner Kräfte und Bewegungen spielt
aber die Spionage im alten romanhaften Sinne heute eine viel geringere Rolle
als sich der Außenstehende das im allgemeinen vorstellt.

Im wissenschaftlichen Zeitalter müsse sich auch der Ic-Dienst wissenschaft­


licher Methoden bedienen und dürfe sich nicht auf das bloße Sammeln von
statistischem Material beschränken. Kein Aspekt dürfe vernachlässigt wer­
den. Eine »totale Aufklärung« sei die Voraussetzung für jeglichen Erfolg. Man
müsse auch »das feindliche Volk und seine Mentalität, seinen moralischen
Wert und seine politischen Kräfte, also seine Dynamik kennen und sie mit ein­
kalkulieren, denn sie sind es ja erst, die seinen Waffen Kampfwert verleihen
und die Intensität seiner Kriegführung bestimmen. Auf dieser höheren Ebene
über dem bloß statistischen Wissen beginnt die eigentliche Wissenschaft vom
Feind.« Sie habe neben der mathematischen auch eine psychologische und
philosophische Seite.

Die neuzeitliche Wissenschaft vom Feind ist umfassend geworden. Sie hat
tausend Augen und Ohren am Gegner [...] Wie jede Wissenschaft ist sie unbe­
einflußbar und unbestechlich, rücksichtslos offen und objektiv. Nur so kann
sie ihre Aufgaben erfüllen. Sie sucht die Wahrheit über den Feind, nichts ande­

392
res. Auch durch nicht eigentlich militärische Tendenzen, die mitunter nicht
ausbleiben, darf sie sich in dieser Wahrheitssuche nicht irre machen lassen
[...] Richtig und sorgfältig geführt, dauernd ergänzt und auf dem Laufenden
gehalten, kann sie mehr vom Feinde verraten als die umfassendste Spionage.

Der gute Feindbearbeiter müsse

vor allem das geistige Band seines Materials aufspüren und sich dadurch
über den Techniker und bloßen Handwerker erheben. Er wird logisch und
scharfsinnig schließen und sich klar sein darüber, was diese und jene Anzei­
chen bedeuten können. Aufgrund bestimmter Erfahrungen wird er allerdings
bald mit Sicherheit gewisse Feindabsichten, oft aus scheinbar nebensächli­
chen Zeichen, Voraussagen können. Engste Vertrautheit mit den Verfahren,
Gewohnheiten und Methoden des Feindes gehören zu seinem Handwerk.
Wenn er ein Künstler ist und nicht nur ein Könner, wird er sich an die Stelle
des Feindes versetzen und von ihm aus die Lage beurteilen.

So könne die regelmäßige Feindbeurteilung zu einer »Art kriegswissenschaft­


licher Prophezeiung« werden, die nicht auf glückliche Zufallsfunde des Bear­
beiters angewiesen ist.

Denn auch hier waltet eine geheime Anziehung, die man nicht näher erklären
kann, wie in den Wissenschaften. Es gehört jedenfalls ein Stück von Gelehr­
tenfleiß, wissenschaftlicher Forscherdrang und Liebe zur Sache dazu und
schließlich Soldatenglück, um zum wahren und vollständigen Bilde vom
Feinde und seiner Kriegführung zu gelangen.

Der Feindbeurteiler als »Schöpfer und Gestalter« ergänze mit seinem »fausti­
schen Trieb« den »kriegerischen Genius« des Feldherrn, der über der Wissen­
schaft und ihren Methoden und erst recht über den bloßen Zahlen der Statistik
stehe.

Kraft seines Genius rührt er an das Geheimnis, das sich hinter den Zahlen,
dem Sicht- und Greifbaren verbirgt und wagt auch gegen sie. Der Feldherr ist
also der wahre Vollender des Feindwissens und dessen Meister im Krieg. Er
setzt es in seine Entschlüsse und Taten um und macht damit die Geschichte,
wie sie ihm wesensverwandte Geschichtsschreiber nachzeichnen.

Gerade weil es in allen Kriegen entscheidende Augenblicke gibt, wo auch die


beste Feindwissenschaft versagt, brauche es die bewährte Schau des Feld­
herrn, der bisweilen gegen die Meinung des Spezialisten handelt.

393
Ob diese »philosophischen« Betrachtungen Gehlens, entstanden im März
1945, mitten im Zusammenbruch, von ihm selbst stammen oder auf der Vor­
lage eines Mitarbeiters beruhen, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen.
Sie geben aber einen tieferen Einblick in Gehlens Denkweise und werfen ein
Licht auf seinen umfassenden geistigen Anspruch, der aber letztlich hohl
und pathetisch blieb, angeregt sicherlich durch mancherlei frühere Lektüre
wie natürlich auch durch das Manuskript von Schramm, das nicht erhal­
ten ist.774 Bezeichnend ist auf jeden Fall Gehlens Vorstellung, dass es eines
»totalen« Nachrichtendienstes bedürfe, in dem wenige begnadete »Schöpfer
und Gestalter« durch die Auswertung von Informationen und eine intuitive
Lagebeurteilung der obersten Führung die entscheidenden Grundlagen zum
Erfolg schaffen. Er war mittlerweile erfahren genug, um abschließend einen
verschleierten Hinweis einzufügen, dass die »Prophezeiungen« natürlich im
entscheidenden Moment auch versagen könnten. Mit diesem Anspruch und
geistigem Rüstzeug stand Gehlen in den letzten Kriegstagen bereit, eine zweite
Karriere anzutreten.
Sein gesamtes Archiv hatte er Anfang Februar 1945 bereits »in eine luft­
schutzsichere Unterkunft abgeschoben«, wie er General Erfurth schrieb,
dem bisherigen Leiter des Verbindungsstabes Nord in Finnland. Erfurth, den
Gehlen von seinem Besuch an der finnischen Front im Sommer 1941 kannte,
gehörte nach der Räumung Finnlands zu der wachsenden Zahl »arbeitsloser«
Generale und NS-Funktionäre, die in Sonderpositionen abgestellt ihre Kriegs­
erfahrungen aufarbeiteten und sich so auf das Kriegsende vorbereiteten. Sei­
ner Bitte, ihm die im FHO-Archiv liegenden Unterlagen der Finnlandfront nach
Markkleeberg zu schicken, konnte Gehlen nicht nachkommen, versprach aber,
sobald »es die derzeitige starke Arbeitsbelastung der Abteilung zulässt«, einen
Offizier abzustellen, um die entsprechenden Unterlagen auszusortieren und
sie Erfurth dann zugänglich zu machen.775 Auch über dieses Versprechen ist
das Kriegsende hinweggegangen. Neben der Verfilmung und Evakuierung sei­
nes Archivs kümmerte sich Gehlen insbesondere um die Sicherung der Perso­
naldaten seiner wichtigsten Mitarbeiter. Er ließ Ende Januar eigens entworfene
Personalblätter ausfüllen, die ihm nach einem Übertritt zu den Amerikanern
nützlich sein könnten, wenn die offiziellen Unterlagen des Heerespersonal­
amts womöglich vernichtet oder längere Zeit nicht zugänglich sein würden.776

774 Der Inhalt des Manuskripts dürfte sich im Wesentlichen wiederfinden in Schramms
1974 mit Unterstützung von prominenten Ehemaligen von FHO veröffentlichten Schrift
Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg, die bis 1983 immerhin vier Auflagen erlebte und u. a.
die zahlreichen Legenden und Schönfärbereien von FHO kolportierte.
775 Schriftwechsel Gehlen-Erfurth,7. und 12.2.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 13.
776 Siehe Gehlen-Kisten, Mappen Nr. 27, Nr. 32, Nr. 78 und Nr. 82

394
Die unter Wahrung des dienstlichen Anscheins betriebene konspirative
Vorbereitung auf das Kriegsende zwang ihn dazu, jeder möglichen Verwick­
lung in einen direkten Fronteinsatz aus dem Weg zu gehen. Deshalb hatte er
vorsorglich seinen Stellvertreter Wessel als Ic-Offizier für Himmlers aussichts­
loses Bemühen zur Verteidigung Pommerns zur Verfügung gestellt. Gegenüber
Wessel hat Gehlen offenbar argumentiert, es müsse verhindert werden, dass
Himmler den Ic-Bereich mit eigenen Leuten besetze.777 Natürlich hätte die
Übernahme des Ic-Bereichs durch die SS Gehlens beabsichtigte Zusammenar­
beit mit den Amerikanern erschweren können. Am Ende hätte er womöglich
zusammen mit den meisten seiner Offiziere eine SS-Uniform anziehen müs­
sen, mit allen Konsequenzen für die Begegnung mit dem Feind. Gleichzeitig
erhielt Wessel auf diese Weise Gelegenheit, die für seine Karriere wichtige
Frontbewährung zu absolvieren. Dennoch wird er von diesem Einsatz vermut­
lich nicht begeistert gewesen sein, während sein Chef bereits die Evakuierung
aus Zossen vorbereitete.
Zum militärischen Scheitern der Heeresgruppe Weichsel innerhalb weni­
ger Wochen trug auch der Mangel an Aufklärungsmitteln bei. Erneut kam es
zu einer eklatanten Unterschätzung der Stärke des Feindes und seiner Mög­
lichkeiten.778 Wessel traf dabei kaum eine Mitschuld. Bedeutsamer war das
von Gehlen beschworene Hineindenken von FHO in den Gegner, bei dem »die
größte eigene Gefahr als wahrscheinlichste Option des Gegners angenommen
werden muss«.779 Der Generalstab des Heeres hatte fest damit gerechnet, dass
die Rote Armee im Zuge ihrer Offensive direkt auf Berlin marschieren werde,
was auch tatsächlich der Absicht Schukows entsprach; aber Stalin hatte dann
in letzter Minute seinen Feldherrn ausgebremst und eine Kräfteverlagerung
zur Bereinigung der Flankenbedrohung aus Pommern heraus befohlen. Das
meinte vermutlich Gehlen in seinen philosophischen Bemerkungen Mitte
März 1945, wenn er einräumte, dass es in entscheidenden Momenten des Krie­
ges trotz aller nachrichtendienstlichen Bemühungen zu unerwarteten Ent­
wicklungen kommen könne. Folgt man seinen grundsätzlichen Überlegungen,
dann hatte man sich in diesem Falle wohl richtig in das Denken des feindlichen
Feldherrn hineingedacht, aber doch zu wenig verstanden von der sowjetischen
Führungsstruktur und der Mentalität Stalins.
Im Zuge dieser Auseinandersetzung um den operativen Schwerpunkt der
deutschen Abwehr ist es vermutlich zur letzten persönlichen Begegnung Geh­
lens mit Hitler gekommen, die er in seinen Memoiren wohlweislich verschwieg.

777 Aktennotizen zur Geschichte der Org., Sept. 1952, BND-Archiv, N 1/1.
778 Siehe zu diesem Komplex ausführlich das Fallbeispiel bei Pahl, Fremde Heere Ost,
S. 243-291.
779 Zit. nach: ebd., S. 291.

395
396
Der damalige Oberleutnant Max Ritter von Tessenberg, Sachbearbeiter in der
Gruppe I (Auswertung) von FHO, erinnerte sich später an einen Vortrag seines
Chefs in der Reichskanzlei im Februar 1945. Dabei soll Gehlen die Auffassung
vertreten haben, dass der sowjetische Aufmarsch gegen Berlin bei Frankfurt
(Oder) begonnen habe und der Gegner mehr als 300 Artilleriegeschütze pro
Kilometer einsetzen könne. Hitler habe ihn barsch mit dem Hinweis abgefer­
tigt, er verfüge über Aussagen von »Rückwanderern«, also Soldaten, die sich
zu den deutschen Linien zurückgeschlagen hatten, die behaupteten, in diesem
Raum gebe es gar keine Russen. Hitler soll gesagt haben: »Ich brauche Ihre
Dienste nicht mehr, schreiben Sie Kriegsgeschichte im bayerischen Wald.«780
Das Scheitern der deutschen Operationen in Pommern leitete das Ende
Gehlens als Chef der Abteilung Fremde Heere Ost ein und gab letztlich den
Ausschlag für seine spätere Entlassung. Hitler forderte Aufklärung. Gehlen
beauftragte damit seine zuständige Gruppe I. Sie ging von der zutreffenden
These einer »schnellen Entschlussänderung« des Feindes aus, denn das ent­
lastete die Feindaufklärung. Am 7. März musste Gehlen beim Generalstabs­
chef vortragen.781 Gegenüber Guderian verhielt sich Gehlen wie üblich sehr
geschickt. Er sprach von den jüngsten Entwicklungen und behauptete, dass
Operationen gegen Pommern zu erwarten gewesen seien. Das sei von seiner
Abteilung auch rechtzeitig erkannt worden. Angaben über den Umfang der
feindlichen Offensive wären aber nicht möglich gewesen. Gehlen verschwieg,
beschönigte und verkürzte Fakten. Forsch behauptet, aber falsch war seine
Feststellung, dass sich die »Rote Führung« erst am 26. Februar zu der Beseiti­
gung der Flankenbedrohung entschlossen habe. Angesichts des bestehenden
Kräfteverhältnisses werde die Rote Armee künftig noch beweglicher reagie­
ren und damit auch in Zukunft das »rechtzeitige Erkennen kurzfristiger Ent­
schlussänderungen erheblich erschweren, wenn nicht im Hinblick auf die eige­
nen, zur Verfügung stehenden Aufklärungsmittel unmöglich machen«.782
Die Abteilung FHO sollte auf Hitlers Befehl hin verkleinert werden, was Geh­
len außerordentlich geschickt zu unterlaufen verstand. Mit Organisations- und
Stellenplänen kannte er sich gut aus, und so gelang es ihm, Stärke und Funkti­
onsfähigkeit seiner Abteilung zu erhalten, in dem er eine »führungswichtige«
Gruppe als Kern beließ und alle anderen Gruppen formell an nachgeordnete

780 Interview von David Kahn mit Angehörigen der Nachrichtendienste im Zweiten Welt­
krieg (1970), BA-MA, MSg 2/3286. Zu dieser letzten Begegnung mit Hitler befragt, konnte
sich Gehlen später an keine Einzelheiten mehr erinnern; Gehlen im Interview mit Elke
Fröhlich, 26.10.1971, IfZ, ED 100-69-237.
781 FHO (Chef), Die sowjetischen Operationen gegen den pommerschen Raum, Vortrags­
notiz, 7.3.1945, BA-MA, RH 2/2142.
782 Siehe die eingehende Analyse bei Pahl, Fremde Heere Ost, S. 297-298.

397
Dienststellen ausgliederte.783 Stattdessen kam es zu Veränderungen in seinem
dienstlichen Umfeld, die seinen Spielraum erweiterten. Gehlen hat daraus spä­
ter zwei Legenden gestrickt, die zu einem der Gründungsmythen der Org bzw.
des BND geworden sind.
Zum einen handelte es sich um seine Suspendierung von der Position des
Abteilungsleiters und die Versetzung in die Führerreserve, d. h. ein Personal­
reservoir für Offiziere ohne aktuelle Verwendung. Vorausgegangen war die
Entlassung seines Chefs Guderian am 28. März 1945, den Hitler nach dem Vor­
trag der Feindlage zornig nach Hause geschickt hatte.784 Die spätere Schilde­
rung Guderians in seinen Memoiren mag auch an dieser Stelle gefärbt sein. Er
berichtete, Hitler habe gewütet, er sei von ihm, Guderian, und seinem »irrsin­
nigen General Gehlen« immer wieder falsch beraten worden. Gehlen sei ein
Narr. Die beiden Männer hätten sich angebrüllt, dann habe Hitler die anderen
Offiziere aus dem Lageraum geschickt und leise gesagt: »Herr Generaloberst
Guderian, Ihr Gesundheitszustand macht es erforderlich, dass Sie sofort einen
sechswöchigen Erholungsurlaub antreten.«785 Zwölf Tage später erhielt auch
Gehlen seine Versetzung in die Führerreserve – für beide angesichts des Zorns
Hitlers eine relativ glimpfliche Abstrafung. Wofür? Weil der Diktator erbost
war, dass Gehlen ihm stets die ungeschminkte Wahrheit über die Lage an der
Ostfront vorgehalten hatte? Wohl kaum. Es handelte sich offenkundig um eine
Spätfolge des Pommern-Desasters. Mitte März hatte Hitler die Stenogramme
der Lagebesprechungen sogar Goebbels zur Lektüre angeboten, um zu zeigen,
dass er stets darauf hingewiesen habe, dass sich der sowjetische Stoß gegen
Pommern wenden werde und nicht – wie seine Experten meinten – direkt auf
Berlin.786 Das entspricht offensichtlich der Wahrheit, deshalb hat vermutlich
Schellenberg recht, wenn er in alliierter Gefangenschaft aussagte, Gehlen sei
wegen dieser Fehlprognose abgesetzt worden.787
Goebbels sprach von der »Intuition«, mit der Hitler richtiggelegen habe,
und kritisierte dessen Führungsstil:788

Der Führer täte besser daran, anstatt seinen militärischen Mitarbeitern


lange Reden zu halten, ihnen kurze Befehle zu geben, dann aber auch mit

783 Das zeigt ein Vergleich der Diensteinteilung der Abteilung vom 21.3.1945 (BA-MA, RH
2/1473) und vom 3.4.1945 (Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 73).
784 Beurteilung der Feindlage, ChefGenStdH am 26.3. vorgetragen, BA-MA, RH 2/2142; Füh­
rerbesprechung am 28.3.1945.
785 Guderian, Erinnerungen, S. 389; Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 94.
786 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Bd. 15, S. 513-514 (15.3.1945).
787 Pahl, Fremde Heere Ost, S. 306.
788 Zit. nach: ebd., S. 307-308.

398
Gute Stimmung bei Fremde Heere Ost Ostern (um den 1. April) 1945 in Zossen; das Referat
Feindlage Heeresgruppe Weichsel (oben Mitte: Referatsleiter Major i. G. Jürg von Kalckreuth)

aller brutalen Energie dafür zu sorgen, daß diese Befehle eingehalten wer­
den. [...] Unsere Generalstäbler haben den Sowjets genau denselben Fehler
zugetraut, den wir seinerzeit im Spätherbst 1941 bei der geplanten Umklam­
merung Moskaus gemacht haben, nämlich, stur und ohne nach links oder
rechts zu schauen, auf die Reichshauptstadt des Feindes loszugehen, ohne
die Flanken abzudecken. Der Führer hat immer wieder betont, daß die Sow­
jets den Fehler nicht noch einmal machen würden, was seine Generäle ihm
nicht glauben wollten.

Himmler habe sich von den Generalen einwickeln lassen, daher trage er die
geschichtliche Schuld für die Katastrophe in Pommern. Von Goebbels zum
Handeln gedrängt, erklärte Hitler, dass seine intuitive Erkenntnis immer von
dem vermeintlichen Besserwissen der Spezialisten übertönt worden sei. Statt
dem von Goebbels geforderten brutalen Vorgehen gab es dann eine leise Ent­
lassung.
Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass Gehlen selbst zur gleichen Zeit
in seinen zitierten Überlegungen zur Philosophie des militärischen Nachrich­
tendienstes – natürlich ohne auf das Beispiel Pommern einzugehen – Hit­
lers Position im Grunde rechtfertigte. Indem er später die Zusammenhänge
umkehrte, präsentierte er sich rechthaberisch als Sieger der Geschichte. Der

399
glimpfliche Ausgang des Streits aber kam ihm gerade recht, um sein lange
geplantes Absetzmanöver in die Alpen zu organisieren. Zunächst bot ihm das
Heerespersonalamt an, eine Division zu übernehmen, was er mit der Behaup­
tung abwendete, er brauche noch einige Zeit, um die Amtsgeschäfte von FHO
zu übergeben. Das war eine Ausrede, denn nachdem gerade erst Wessel von
seiner Position bei der Heeresgruppe abgelöst worden war, konnte er unver­
züglich die Nachfolge Gehlens bei FHO übernehmen und brauchte keine
Einarbeitung. Der »Fuchs«, wie man Gehlen in seiner Abteilung einschätzte,
berief sich außerdem auf einen Sonderauftrag Himmlers.789 Anscheinend hat
er Schellenberg im Reichssicherheitshauptamt angerufen, um ihm eine Aus­
arbeitung über die polnische Untergrundarmee anzubieten. Wieder flunkerte
er, denn die Studie lag schon seit Monaten in seinem Büro und musste nicht
erst erstellt werden.
Gehlen jedenfalls agierte im April 1945 äußerst vorsichtig und geschickt. Er
traf in Zossen Hauptmann Dietrich Witzei, den Führer des Frontaufklärungs­
kommandos 202, dem es gelungen war, Verbindung mit den antikommunisti­
schen ukrainischen Partisanen aufzunehmen. Als Witzei ihm seine Einschät­
zung bestätigte, dass mit den Deutschen kein Partisanenkrieg zu machen sei
und sie bereitwillig der neuen Ordnung folgen würden, soll Gehlen geantwor­
tet haben: »Um Gottes Willen, sagen Sie doch nicht solche Sachen. Sie kom­
men ja in Teufels Küche.«790
Gehlens Interesse an der Ukraine deutet schon auf andere Nachkriegspläne
hin. Dafür brauchte er unbedingt den Stab Baun und seine weitreichenden
Verbindungen, um die Kompetenz von FHO zur taktisch-operativen Feindlage­
bewertung mit einem strategischen Aufklärungsnetz zu verbinden, wie er es in
seiner »Feindwissenschaft« skizziert hatte. Jetzt musste er rasch handeln. SS-
Obersturmbannführer Otto Skorzeny,791 dem nachgesagt wurde, er habe bei der
Entlassung Gehlens seine Hand im Spiel gehabt, und der in der »Alpenfestung«
den letzten deutschen Widerstand organisieren sollte, drängte darauf, dass der
Stab Baun in seine SS-Jagdverbände überführt wurde. Dazu wollte er Baun am
neuen Standort der Leitstelle I Ost in Bad Elster treffen, im Dreiländereck zwi­
schen Böhmen, Bayern und Sachsen. Doch Gehlen war schneller und traf sich
mit Baun einen Tag zuvor, am 4. April 1945, als noch amtierender Chef FHO,
aber zum ersten Male konspirativ mit dem Decknamen »Dr. Schneider«.
Das ominöse Treffen in Bad Elster wurde später zum Gründungsmythos
des BND stilisiert, weil sich hier im Kurhotel Baun mit seinen Abwehrleuten

789 Ebd., S. 302.


790 Bericht Witzeis, zit. nach: ebd., S. 304.
791 Nach Aussage eines Offiziers im Militärischen Amt des RSHA im September 1945 in US
Gefangenschaft, zit. nach: ebd., S. 423.

400
angeblich Gehlen unterstellt habe und Verabredungen getroffen worden seien,
wie die Kontaktaufnahme mit den Amerikanern erfolgen sollte, mit dem Ziel,
einen neuen deutschen Nachrichtendienst zu schaffen.792 Nach Zolling/Höhne
wurde hier »das Meßtischblatt für die spätere Allianz Bonn-Washington
aufgezogen«.793 In seinen Erinnerungen behauptet Gehlen, sein Stellvertreter
Wessel sei dabei gewesen, womit er seinen späteren Nachfolger und zweiten
Präsidenten des BND in diese Legende mit einbezogen hat. Tatsächlich war
Wessel an diesem Tag noch bei der Heeresgruppe Weichsel und übernahm
erst fünf Tage später die Abteilung FHO. Er hat sich nach dem Krieg schwer­
getan, diesen Fehler Gehlens öffentlich zu korrigieren,794 obwohl Gehlens Aus­
sage nahelegte, Wessel habe sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Mit der
Abreise nach Burg Karlstein in der Nacht zum 5. April konnte sich Baun dem
Zugriff Skorzenys entziehen. In Zivil fuhr Baun mit seinen Männern zu einem
Sammelpunkt, ließ sein Material bei einem Bauern einmauern und versteckte
sich in Rettenberg im Allgäu. Um eine sichere Kontaktaufnahme zu gewähr­
leisten, hatten Gehlen und Baun verabredet, aus dem Kürzel für Fremde Heere
Ost (FHO) Codenamen abzuleiten: für Gehlen »Fritz«, für Wessel »Horst« und
für Baun »Otto«.795
Gehlen wusste dank Baun auch genau, wo er sich verstecken konnte. Baun
stand in Verbindung mit dem exilrussischen Oberst Graf von Smyslowski
(alias Regenau, alias Holmston), dem es mithilfe der Abwehr gelungen war,
die sogenannte 1. Russische Befreiungsarmee aufzubauen, eine kleine Truppe
von weniger als 1000 Mann, die sich bei Kriegsende nach Lichtenstein flüch­
tete. Smyslowski ging später nach Argentinien und arbeitete für Gehlen. Wäh­
rend des Krieges hatte er Verbindung zu den Briten durch zwei Funker in Prag
(»Tom I« und »Tom II«), denen er die Nachricht vom Ergebnis der Konferenz
von Jalta verdankte. Das war von entscheidender Bedeutung für die eigene
Absetzbewegung in die künftige US-Zone. Dennoch hatte der Stab Baun das
Pech, später im Allgäu infolge der letzten militärischen Verwicklungen von
den Franzosen überrollt zu werden.796
Gehlen hat die Anreise genutzt, um im oberpfälzischen Cham noch einmal
seine bereits evakuierte Familie zu besuchen. Mit den Kindern und seiner Frau
feierte er am 17. April deren 4L Geburtstag in einem angemessen bescheide­

792 Gehlen, Der Dienst, S. 99-100. Sehr fantasievoll ausgeschmückt findet sich die Szene bei
dem Schriftsteller Gröhler, Herr Gehlen ohne Foto, S. 15-16.
793 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 97.
794 Erinnerung von Gehlens Schwager Joachim von Seydlitz-Kurzbach, BND-Archiv, N 71.
795 Susanne Meinl und Bodo Hechelhammer: Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Muster­
siedlung zur Zentrale des BND, Berlin 2014, S. 140.
796 Kommentar von Graber aus dem Jahr 1981, BND-Archiv, Nachlass Graber N 4/15.

401
nen Rahmen, wie er sich später erinnerte.797 Ob und wann er sie Wiedersehen
würde, war zwar ungewiss, doch hatte er sich alle Mühe gegeben, um mög­
lichst unbeschadet über das Kriegsende zu kommen. Im Augenblick drohte die
größte Gefahr vonseiten der SS, die in den letzten Kriegstagen hemmungslos
gegen jede Form der Verweigerung des »Endkampfes« vorging, Spuren ihrer
Vernichtungspolitik zu beseitigen versuchte sowie Männer und Frauen des
Widerstands, die sich in ihrer Hand befanden, ermordete. Dazu gehörte der
von Gehlen geschätzte frühere Chef der Abwehr, Admiral Canaris, der sich seit
fast einem Jahr in Haft befand. Er wurde in diesen Tagen von einem SS-Stand­
gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet, ebenso wie – neben anderen –
Gehlens früherer Freund und Mitarbeiter Oberst i. G. Alexis Freiherr von
Roenne und dessen Onkel General der Artillerie Friedrich von Rabenau, der
am 14. April 1945 auf Befehl Himmlers im KZ Flossenbürg ermordet wurde. Er
war aus christlicher Überzeugung ein früher Gegner des Nationalsozialismus,
wurde als Mitwisser des militärischen Widerstands nach dem 20. Juli 1944 ver­
haftet, aber niemals angeklagt.
Es ist nicht sicher, ob Gehlen bei seinen eigenen konspirativen Aktivitäten
im April 1945 von den Mordaktionen gegen Canaris, Roenne und Rabenau
erfahren hat. Ziemlich sicher hat ihn die Nachricht von der Hinrichtung des
Oberstleutnants i. G. Karl-Heinrich Graf von Rittberg am 12. April erreicht, der
früher seine »rechte Hand« gewesen war. Über seine persönliche Betroffenheit
hinaus wird er es als deutliche Warnung begriffen haben, dass er gut beraten
war, bei seinem Absetzmanöver größte Vorsicht walten zu lassen. Er hatte Ritt­
berg im Herbst 1944 als Ic an die Heeresgruppe Süd abgegeben, weil er dort
den Schwerpunkt der sowjetischen Offensive erwartete. Dort war Rittberg mit
dem SD aneinandergeraten, der ihn verdächtigte, mit defätistischen Lagebe­
urteilungen die Moral der Heeresgruppe zu untergraben und Informationen
zurückzuhalten. Um den Vorwurf zu untermauern, war der Chef des NS-Füh­
rungsstabes, Generalmajor Rudolf Hübner, im Februar bei Gehlen erschienen,
der jedoch die Möglichkeit von Manipulationen bestritt. Gehlen hatte geglaubt,
Hübner überzeugt zu haben; da muss es für ihn eine böse Überraschung gewe­
sen sein, als er acht Wochen später erfuhr, dass Hübner bei der Heeresgruppe
aufgetaucht war und ein Standgericht veranstaltet hatte. Das ausgesprochene
Todesurteil wurde am 12. April 1945 bei St. Pölten innerhalb von Stunden
vollstreckt, bevor der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe oder Gehlen selbst
intervenieren konnten. Hübner hatte kurz zuvor schon als Kommandeur des
Fliegenden Standgerichts West die Todesurteile gegen die Verantwortlichen
für den Verlust der strategisch wichtigen Brücke von Remagen herbeigeführt.

797 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 29.3.1972, IfZ, ED 100-68-40.

402
Ab dem 28. April 1945 war Hübner Kampfkommandant von München, wo in
den letzten Kriegstagen noch 200 Personen erhängt oder erschossen wurden.
Gehlen hatte also allen Grund, Hübner aus dem Wege zu gehen.798
In anderen Fällen konnte Gehlen seine Informationen nutzen, um einzel­
nen verfolgten Offizieren zu helfen. Auf der Mordliste Himmlers stand z. B. der
General der Infanterie Friedrich Hoßbach, 1934 bis 1938 Hitlers Wehrmachtad­
jutant und damit Zeuge aus dem inneren Führungszirkel. Die Untersuchungen
über seine Nähe zum Widerstand waren noch nicht abgeschlossen. Während
der Schlacht um Ostpreußen war er Ende Januar 1945 von Hitler als Oberbe­
fehlshaber der 4. Armee entlassen worden, weil er gegen dessen ausdrückli­
chen Befehl den Ausbruch der eingekesselten Armee befehlen wollte. Gehlen
hatte Anfang April erfahren, dass Hoßbach von der Gestapo liquidiert werden
sollte. Seine Warnung erreichte Hoßbach im letzten Moment, als das Kom­
mando vor seinem Haus in Göttingen erschien. Er setzte sich mit der Pistole
zu Wehr, worauf Himmlers Abgesandte nach einem kurzen Feuergefecht die
Flucht antraten, denn auch die US-Armee war bereits im Anmarsch.799 Ganz
in der Nähe, in Walkenried/Harz, lebte Gehlens ehemaliger Chef Heusinger, zu
dem ebenfalls ein Mordkommando unterwegs gewesen ist. Gehlens Warnung
erreichte Heusinger freilich nicht mehr. Er hatte sich, wohl auch aus Sorge, in
sowjetische Hände zu fallen, einem durchziehenden höheren Stab angeschlos­
sen und erreichte Ende April Haifing, nordwestlich des Chiemsees, wo er den
Lauf der Dinge abwartete und am 4. Mai 1945 in US-Gefangenschaft geriet.800
In seiner Nebenfunktion als stellvertretender Chef der Führungsgruppe des
Heeres-Generalstabs war Gehlen verantwortlich für die Sicherheit des Haupt­
quartiers und zuständig für die laufende Evakuierung, auch seiner Abteilung
FHO, nach Flensburg bzw. in den Alpenraum. Die sich abzeichnende Vereini­
gung der alliierten und der sowjetischen Armee an der Elbe zwang die mili­
tärischen Führungsstellen, sich auf einen Nord- und einen Südraum aufzu­
teilen und damit den Kampf fortsetzen zu können, wie es ein »Führerbefehl«

798 Siehe die Schilderung der Vorgänge in der eidesstattlichen Erklärung, die Gehlen am
3. November 1950 zugunsten des Rentenanspruchs der Gräfin Rittberg abgegeben hat.
Der Entwurf stammt anscheinend von Wessel mit einer Randnotiz, dass Gehlen – wie
wohl ursprünglich beabsichtigt – seine eigene Verwicklung in den 20. Juli besser nicht
erwähnen sollte; Tagebuch Wessel, BND-Archiv, N 1/4.
799 Siehe Meyer, Heusinger, S. 293; Gehlen, Der Dienst, S. 103.
800 Meyer, Heusinger, S. 294. Nach der Schilderung in Gehlens Memoiren, er habe sich mit
dem Rucksack in Richtung Westen aufgemacht – was etwas nach Entfernung von der
Truppe klingen mochte -, stellte Heusinger in einem Schreiben an Gehlen klar, er habe
seine lange Irrfahrt in Uniform (!) unternommen. Gehlen erinnerte sich aber an eine
andere Schilderung seines zurückgekehrten Boten; Gehlen im Interview mit Elke Fröh­
lich, 4.1.1972, Iß, ED 100-69-95.

403
anordnete. Entsprechend musste auch FHO aufgeteilt werden.801 Eine kleinere
Gruppe zog unter Befehl von Oberstleutnant i. G. Fritz Scheibe nach Norden
und landete schließlich in Flensburg. Die Mehrzahl der Stäbe und auch des
Personals von FHO verlegte nach Süden, kurz bevor amerikanische und sow­
jetische Truppen am 25. April 1945 bei Torgau zusammentrafen.
Drei Tage zuvor war Wessel als kommissarischer Abteilungschef nach
»abenteuerlicher Fahrt« in Bad Reichenhall eingetroffen. Dort befand sich jetzt
der Führungsstab Süd des OKH. Dieser Teil der Alpen füllte sich täglich mit wei­
teren Dienststellen, »Ausweichstellen« und Stäben, die kaum noch über Trup­
pen verfügten.802 Gehlen meldete sich bei Generalleutnant August Winter, dem
Chef des Führungsstabes Süd. Er war also keineswegs auf der Flucht, wie man
meinen könnte, sondern bemühte sich wie Tausende anderer Offiziere und
Funktionäre des Regimes um einen offiziellen Deckmantel, um sich »unsicht­
bar« zu machen und sich so dem drohenden Kampfeinsatz in letzter Minute
zu entziehen. Gehlen will gegenüber Winter, den er später in der Org unter­
brachte, seine Absichten offen erklärt haben. Angeblich habe ihm Guderian
die grundsätzliche Zustimmung gegeben, nachdem man sich einig gewesen
sei, dass sich nach einer deutschen Kapitulation als nächster »Akt der europä­
ischen Katastrophe zwangsläufig die Auseinandersetzung zwischen dem sow­
jetischen System und dem westlichen Freiheitsbegriff entwickeln werde«.803
Der Schriftsteller und Regimegegner Erich Kästner hielt sich zu diesem
Zeitpunkt in Bad Reichenhall auf und schrieb in sein Tagebuch:

Heute früh mußten die Schüler der in Straß hausenden Lehrerbildungsan­


stalt den Gasthof räumen. Die neuen Mieter hatten es eilig. Die neuen Mieter?
Eine Gruppe Generalstäbler. Überall suchen sich jetzt solche Regimentsstäbe
ohne Regimenter und Divisionsstäbe ohne Divisionen einen malerischen
Schlupfwinkel. Sie sind arbeitslos geworden, beschlagnahmen abgelegene
Quartiere, schlafen sich aus, atmen Bergluft, bringen die Chronik ihrer Trup­
pen à jour, vernichten zweideutige Unterlagen, besprechen die Lage, koordi­
nieren künftige Antworten auf peinliche Fragen und lassen, während sie auf
die Gefangennahme warten, in der Küche von einem Offiziersburschen die
weiße Fahne bügeln.804

801 Siehe hierzu ausführlich Pahl, Fremde Heere Ost, S. 311.


802 Siehe umfassend Roland Kaltenegger: Operation »Alpenfestung«. Das letzte Geheimnis
des »Dritten Reiches«, München 2005; zu den mangelhaften Informationen der Alliier­
ten siehe Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München
1996, S. 938-943.
803 Notiz zur Geschichte der Org von August Winter, 18.7.1945, BND-Archiv, N 1/1.
804 Zit. nach: Pahl, Fremde Heere Ost, S. 313-314.

404
Jeder suchte sein persönliches »Rettungsboot«. Im Oberkommando der Wehr­
macht klammerte man sich an die Hoffnung, dass es wie 1918 ein Fortbeste­
hen der Armee geben werde, schon weil die Westalliierten darauf angewiesen
sein würden, notfalls mithilfe der Wehrmacht eine geordnete Entwaffnung
der Millionenarmee zu gewährleisten, erste Kriegsschäden z.B. durch Pio­
niereinheiten zu beseitigen und sich einen Verhandlungspartner zu erhalten.
Bis zur Verhaftung der Regierung Dönitz am 23. Mai schien das auch für die
im Alpenraum versammelten Funktionsträger des NS-Regimes eine mögliche
Überlebensperspektive zu sein. So arbeitete man in den Ausweichquartieren
einfach weiter. Auch Wessel erstellte für FHO noch am 29. April 1945 muster­
gültig seine letzte Feindlagebeurteilung für die Wehrmacht, während gleich­
zeitig Mitarbeiter gefälschte Papiere erhielten, um unerkannt untertauchen zu
können oder um ihre Zugehörigkeit zur Abteilung zu verschleiern.805
Ähnlich verhielt sich der General der Nachrichtenaufklärung, dessen
Dienststelle ebenfalls im Alpenraum untergebracht war. Oberst i. G. Friedrich
Boetzel sorgte dafür, dass seine Männer neue Papiere bekamen, und ließ für
sich selbst durch den Chef des Heeresnachrichtenwesens ein Dokument aus­
stellen, wonach er angeblich eine führungswichtige Aufgabe erfülle und es
ihm verboten sei, über Stärke, Ausstattung und Aufgaben seiner Dienststelle
irgendwelche Angaben zu machen. Damit glaubte er sich vor dem Zugriff der
SS einigermaßen sicher. Im Gegensatz zu Gehlen ließ Boetzel allerdings seine
Akten vernichten. Er war damit aus dem Spiel jener, die versuchten, sich mit­
hilfe ihrer vermeintlich wichtigen Informationen über die UdSSR den West­
mächten anzudienen.
Dazu gehörten auch führende Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptes.
Skorzeny hatte auf eigene Faust versucht, die Frontaufklärung der Wehrmacht
im Handstreich aufzulösen und in seine SS-Jagdverbände einzugliedern. Geh­
len hatte, wie bereits geschildert, in Bad Elster Baun ermutigt, sich diesem
Ansinnen zu entziehen. Unterstützt wurde er von Oberst Buntrock, dem Chef
der Abteilung Frontaufklärung im Militärischen Amt des RSHA, der die Auf­
fassung vertrat, dass nur das OKW über die Auflösung entscheiden könne.
Noch am 1. Mai stritten sich Buntrock, der später eine herausragende Karriere
im BND machte, und Kaltenbrunner, der Chef des RSHA, über diesen Punkt.
Buntrock dachte offenbar auch daran, sich mit einem Reststab am Chiemsee
bereitzuhalten, um im Falle eines plötzlichen militärischen Zusammenpralls
zwischen Ost und West sein Wissen den Alliierten zur Verfügung zu stellen.
Ebenso entzogen sich die Frontaufklärungstruppen II dem Zugriff Skorze­
nys und ließen sich den Auftrag erteilen, ein Widerstandsnetzwerk aufzuzie­

805 Zum Folgenden siehe ebd., S. 313.

405
hen und Verbindung zum antisowjetischen Untergrund in Polen und der Ukra­
ine zu halten.806 Der Chef der Leitstelle II Südost, Oberstleutnant Kurt Fechner,
war schon Ende März 1945 von Skorzeny wegversetzt worden. Doch Fechner
war untergetaucht und bot später den Alliierten sein Wissen an, was ihm den
Spitznamen »österreichischer Gehlen« eintrug.807 Schellenberg verhielt sich
nicht anders. Er sorgte dafür, dass die Mitarbeiter des RSHA gefälschte Papier
erhielten. Sie sollten sich verstecken und besondere Anweisungen abwarten.
Schellenberg ordnete im Gegensatz zu FHO freilich die Vernichtung aller ope­
rativen Dokumente an. Kaltenbrunner verlegte seine Dienststelle nach Bad
Aussee und tauchte Anfang Mai mit falschen Papieren in einer Jagdhütte unter,
wo er später in US-Gefangenschaft geriet. Aus der bunten Schar der Feindauf­
klärer sollte am Ende der »graue« Gehlen das Rennen machen.
Er hatte dafür gesorgt, dass seine wichtigsten Unterlagen über die UdSSR
und die Rote Armee in 50 Stahlkisten nach Bad Reichenhall geschafft worden
waren. Dort kümmerte er sich dann selbst um die Vergrabung am Wendelstein,
während Wessel mit dem täglichen Dienstbetrieb betraut war. Dank sorgfäl­
tiger Planung hatte er einen Mitarbeiter von FHO, im Zivilberuf Forstmeis­
ter, einsetzen können, um mehrere Verstecke für das Material auszusuchen.
Ebenso ließ er heimlich Lebensmittel und Ausrüstungen in die Berge schaf­
fen und organisierte einen Kurierdienst. Zu seiner persönlichen Ausstattung
gehörten angeblich ein Zelt, ein Buch des Historikers Jacob Burckhardt, eine
bunte IIIustrierte, ein Lederetui mit Buntstiften und ein Brief von Guderian.808
Man sieht, Reinhard Gehlen dachte an alles, an mögliche Mußestunden mit
hochgeistiger Literatur ebenso wie an Entspannung mit IIIustrierten und
Buntstiften, die für Einträge auf Lagekarten kaum noch gebraucht wurden.
Am 28. April verließ er das OKH-Quartier in Bad Reichenhall. Er hatte sich
einen DKW Typ Meisterklasse besorgt und ließ sich wieder von Oskar Thielert
chauffieren, seinem alten Fahrer, der nach einer Verwundung in Zossen erneut
zu ihm gestoßen war. Über sein Ziel sprach der wortkarge Gehlen nicht. Er
ließ sich zunächst ins 20 Kilometer entfernte Ruhpolding fahren, wo er seinen
Fahrer samt Gepäck ohne Erklärung über Nacht in einem Gasthof zurückließ.
Am nächsten Vormittag kam Gehlen zurück und lotste seinen Fahrer persön­
lich nach Karte ins Gebirge. Während der bis in die Nacht dauernden Fahrt
wurden der schweigsame General und sein Fahrer viermal von SS-Kontroll­
posten gestoppt. Gehlen ließ sich den Frontverlauf der amerikanischen Trup­
pen erläutern und konnte dann ungehindert weiterfahren. Sein Ziel war das

806 Ebd., S. 316.


807 Ebd., S. 426.
808 Ebd., S. 318 unter Berufung auf die Aussage von Klaus Ritter.

406
Die Elendalm, Gehlens Versteck im April/Mai 1945 in der »Alpenfestung«, undatiertes Foto

vorbereitete Versteck an der Elendalm, einer entlegenen Forsthütte, die er


25 Jahre zuvor während seiner Ausbildung an der Infanterieschule in München
kennengelernt hatte. Den Fahrer ließ er ohne weitere Anweisungen bei einem
Forsthaus in der Nähe zurück.809
Von diesem Augenblick an konnte Gehlen als Deserteur gelten und lief
damit Gefahr, in die Hände herumirrender SS-Gruppen zu geraten. Auch
dafür hatte er vorgesorgt und konnte darauf vertrauen, dass er z. B. Rückhalt
finden würde bei seinem früheren Kriegsschulkameraden Siegfried Westphal,
der jetzt als General der Kavallerie die Funktion eines Chefs des Stabes beim
Oberbefehlshaber West einnahm. Offiziell galt für ihn noch immer die Beor­
derung zur Führerreserve.
Bei der Hütte traf er am 29. April sechs Offiziere und drei Stabshelferin­
nen seiner ehemaligen Abteilung, die für den Notfall leicht bewaffnet waren.
Obwohl nicht ungemütlich, wenn man die kargen Verhältnisse mit der elenden
Überlebenssituation von Millionen anderen Deutschen in diesen Tagen ver­
gleicht, so war Gehlens Flucht aus dem »Endkampf« etwas früh erfolgt. Erst
am nächsten Tag beging der »Führer« in Berlin Selbstmord, was ein Glück

809 Vernehmungsprotokoll Thielerts vom 26.6.1963, BStU, MfS, HA IX/11, FV 5/72, Bd. 11,
Teil 2, Blatt 367-371.

407
auch für die kleine Gruppe auf der Elendalm gewesen ist, hatte doch Hitler
noch bis Mitte April die Möglichkeit erwogen, sich selbst in die »Alpenfestung«
zu begeben. Nicht auszudenken, was das für Gehlen und seine Gruppe bedeu­
tet hätte. Preußisch korrekt verhielt sich sein Stellvertreter Wessel, der bis zur
Kapitulation die Verbindung zu Baun und seinem Agentennetz zu halten ver­
suchte. Erst am 6. Mai 1945 verließ er Bad Reichenhall und suchte als Letz­
ter seinen Schlupfwinkel bei Ruhpolding auf. Mit seinem Begleiter verfolgte
er das Vorrücken des Uhrzeigers bis zum Beginn des Waffenstillstands. Und
dann, nicht eine Sekunde früher, aber in genau der ersten Sekunde danach
stieg er in die Berge.810 Die bemerkenswerte Erzählung beleuchtet treffend die
Geisteshaltung derjenigen Offiziere, für die scheinbar korrektes Verhalten ein
moralischer »Krückstock« in schwierigen Zeiten sein sollte. In der Kapitulati­
onsurkunde vom 9. Mai 1945 hatte sich die Wehrmacht freilich dazu verpflich­
tet, dafür zu sorgen, dass ihre Angehörigen in den Orten und Stellungen ver­
blieben, die sie am 8. Mai bezogen hatten.
Während Gehlen in seinem Versteck darauf wartete, dass sich in den ersten
Tagen nach Kriegsende die Emotionen auch der feindlichen Soldaten so weit
gelegt haben würden, dass eine Kontaktaufnahme weniger gefährlich erschien,
verhielt sich sein Vorgänger als langjähriger Chef der Abteilung Fremde Heere
Ost ganz anders. Eberhard Kinzel hatte 1943/44 als Chef des Generalstabs der
Heeresgruppe Nord eine glänzende militärische Leistung vollbracht, hatte das
Ritterkreuz erhalten und war zum Generalleutnant befördert worden. Im Sep­
tember 1944 übernahm er die 337. Volksgrenadier-Division, die im Rahmen der
9. Armee zur Verteidigung Warschaus eingesetzt wurde. Nach einem katastro­
phalen Rückzug wurde sie der 2. Armee in Westpreußen unterstellt, die Reste
blieben im April im Kessel von Danzig. Kinzel hatte sein Kommando rechtzei­
tig abgeben können und war am 21. März 1945, nach der Ablösung Himmlers
als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel, zum Chef des Generalstabs
der Heeresgruppe ernannt worden. Einen Monat später ernannte ihn Dönitz
mit der Beförderung zum General der Infanterie zum Chef des Generalstabs
vom Operationsstab Nord. Anfang Mai gehörte er zur Delegation unter Gene­
raladmiral Hans-Georg von Friedeburg, der im Hauptquartier des britischen
Feldmarschalls Montgomery eine Teilkapitulation für den Nordwestraum aus­
handeln sollte. Nach der Verhaftung der geschäftsführenden Reichsregierung
Dönitz und des OKW durch die Briten am 23. Mai 1945 blieb Kinzel zunächst
Chef des Verbindungsstabes bei Montgomery. Vier Wochen später wurde
ihm mitgeteilt, dass er in Glücksburg, wo er mit seiner Frau wohnte, weitere
Befehle abwarten solle.

810 Ebd., unter Berufung auf eine Mitteilung von Hans-Erdmann Schönbeck.

408
Eberhard Kinzel, Gehlens Vorgänger als Chef FHO, stellt sich der Verantwortung: Teil­
kapitulation in Lüneburg am 4. Mai 1945, Feldmarschall Bernard Montgomery (2. v.l.),
Admiral Hans-Georg von Friedeburg (3. v. r.), General Kinzel (2. v. r.), Konteradmiral
Gerhard Wagner (r.)

Für Kinzel war der Augenblick gekommen, vor dem er sich gefürchtet hatte,
die Einweisung in ein Kriegsgefangenlager. Er schrieb einen Abschiedsbrief an
Generalfeldmarschall Ernst Busch, seinen früheren Oberbefehlshaber, um sich
bei ihm »abzumelden«. »Ich kann eine lange Gefangenschaft unter wer weiß
was für Umständen, eine ständige Trennung von meiner Frau und die Aussicht
auf gar keine Zukunft schlecht ertragen.« In einem weiteren Brief an seinen
älteren Bruder, den Vizeadmiral Walther Kinzel, regelte er seine Hinterlassen­
schaft und ließ sich dann gegen Mitternacht von seinem langjährigen Fahrer
zu einem Ort 20 Kilometer südlich von Flensburg fahren, gab Order, den BMW
Feldmarschall Busch zu bringen, der sich für das Fahrzeug interessiert hatte.
Anschließend erschoss er zunächst seine Begleiterin, die eine fiktive Ehe mit
ihm geführt hatte, dann sich selbst.811

811 Die beiden Briefe und der Untersuchungsbericht des britischen Befehlshabers Nord-
Schleswig-Holstein finden sich in BA-MA, MSg 2/14051. Im Internet wird auf diver­
sen Seiten fälschlich behauptet, Kinzel habe zusammen mit Admiral Friedeburg am
23. Mai 1945, also noch am Tag der Auflösung und Internierung der Dönitz-Regierung,
Selbstmord begangen.

409
Ein früherer Mitarbeiter Kinzels war später der Meinung, dass bei Kinzels
Selbstmord offenbar auch sein Fehler vom Juli 1940 eine Rolle gespielt haben
müsse, als er für die Führung allzu optimistische Perspektiven für einen Angriff
gegen die UdSSR entworfen und die Bedingungen des Winters nicht berück­
sichtigt hatte. Kinzel habe darunter stark gelitten.812 Sein Nachfolger Gehlen,
der den Feldzug 1940/41 an höchster Stelle mit vorbereitet hatte, blieb zeitle­
bens davon überzeugt, dass die Deutschen – wäre man bei dem ursprüngli­
chen Plan geblieben – den Krieg gegen Russland hätten gewinnen können.813
Die Geschichte und vor allem der »Führer« hatten gegen ihn entschieden.
Reinhard Gehlen, den die Suche nach dem »Einmaligen« und »Besonderen«
in den Offiziersberuf geführt hatte, hoffte auf eine zweite Chance, um diesem
Ziel noch näher zu kommen.

812 So aufgrund eines Gesprächs mit Kinzel während des Krieges vom ehemaligen Referats­
leiter FHO Karl Ogilvie in seinem Interview am 11.8.1981 erwähnt, BA-MA, MSg 2/3240,
S. 51. Ogilvie selbst hatte im Herbst 1941 als Sonderbearbeiter bei Fremde Heere Ost,
damals also unter Kinzel, eine Studie über die amerikanische Bedrohung anzufertigen,
siehe ebd., S. 22-28. Zu Kinzels Verantwortung 1940 siehe oben S. 157.
813 Gehlen, Der Dienst, S. 90.

410
Zwischenbilanz: Erfahrungshorizont am
Ende seiner militärischen Karriere

Generalmajor Reinhard Gehlen hat sich am Ende des Zweiten Weltkriegs


weder am Ziel noch am Endpunkt seiner militärischen Karriere gesehen. Der
43-jährige Berufsoffizier mit ungebrochener Passion hätte sich bei einem
anderen Verlauf des Krieges noch die schönsten Hoffnungen auf einen wei­
teren Aufstieg innerhalb der Heeresführung machen dürfen. Das damalige
Anforderungsprofil für Generalstabsoffiziere in höheren Stäben erfüllte er
jedenfalls in besonderem Maße, von fehlender Fronterfahrung abgesehen, und
die überschaubare Zahl von Konkurrenten kam ihm zweifellos entgegen.814
Er durfte als der Bestbeurteilte seines Jahrgangs erwarten, dass es nicht bei
einem goldenen Generalsstern bleiben würde. Nicht allzu vermessen wäre es
gewesen, wenn er sich Hoffnung gemacht hätte, es einmal bis zum General­
stabschef des Heeres zu bringen. Bedenkt man seinen Werdegang und die Ziel­
strebigkeit seines beruflichen Aufstiegs, wäre es verwunderlich, wenn er sich
das nicht zugetraut hätte.
Freilich, es fehlte ihm eine wirkliche Frontbewährung, was allerdings auch
nicht die Perspektiven von Adolf Heusinger schmälerte, der als Chef der Opera­
tionsabteilung jenen Wunschposten des jüngeren Gehlen so lange blockierte,
bis der Krieg verloren war. Er hatte deshalb Anfang 1942 die zufällig sich bie­
tende Chance ergriffen, Leiter einer Abteilung im Generalstab zu werden, die
er, zunächst ohne spezielle Fachkenntnisse, mit großem Talent zu reorganisie­
ren verstand und die ihm zugleich die Möglichkeit eröffnete, sich weiterhin in
das operative Geschäft einzubringen. Auch wenn die »Erfolge« seiner Abtei­
lung Fremde Heere Ost bei nüchterner Betrachtung jenen Glanz verlieren, mit
dem Gehlen zeitlebens hausieren gegangen ist: In den 38 Monaten seiner Tätig­
keit hat er die organisatorischen Fähigkeiten, die er während seiner General­
stabsausbildung gelernt hatte, erstaunlich erfolgreich eingesetzt, wenngleich
er vieles anpackte, was nicht immer von Erfolg gekrönt gewesen ist.
Fremde Heere Ost ist in der Zuarbeit für die militärische Feindlagebeurtei­
lung so gut gewesen, wie es die damaligen technischen Möglichkeiten zuge­
lassen haben. Die strategische Aufklärung, die nicht in die Zuständigkeit von

814 Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs hatten dem Heer lediglich 415 voll qualifizierte
Generalstabsoffiziere zur Verfügung gestanden, siehe Megargee, Hitler und die Gene­
räle, S. 151.

411
FHO fiel, war gegenüber der Sowjetunion – gemessen an den Möglichkeiten
des Eindringens in höchste Führungsprozesse des Gegners – sicher viel zu
schwach, um eine wirksame Hilfe für die Kriegführung zu sein. Sie spielte zum
Kriegsende hin, als Hitler bei seinen Entscheidungen nahezu beratungsresis­
tent geworden war, ohnehin keine Rolle mehr.
Problematisch blieben auch die taktisch-operativen Prognosen, die Geh­
lens persönliche Spezialität gewesen sind. Im Vergleich zu seinen Kollegen in
den Generalstäben anderer Armeen seiner Zeit können sich seine prognosti­
schen Leistungen sicher sehen lassen. Er hatte es mit der Übernahme der Füh­
rung von FHO ab 1942 mit einem weit überlegenen Gegner zu tun, der Schritt
für Schritt die Wehrmacht nach Westen zurückdrängte und ihr schwere Nie­
derlagen zufügte – für die eigene Feindaufklärung keine leichte Situation. Die
schwerwiegenden Fehleinschätzungen der Lage vor Beginn der großen sow­
jetischen Offensiven sind nicht zuletzt auch auf die meist erfolgreichen Täu­
schungsmaßnahmen der Roten Armee zurückzuführen, die Gehlen mit seinen
vergleichsweise geringen Möglichkeiten nicht aufzudecken verstand. Sein
wirksamstes Instrument bildete die Funkaufklärung, mit der es FHO ermög­
licht wurde, größere Bewegungen des Feindes zu analysieren und innerhalb
eines sehr begrenzten zeitlichen Horizonts vorherzuberechnen. Ansonsten
lag das Verdienst für die taktisch-operative Feindaufklärung »vorn« bei den
Ic-Offizieren der Frontverbände.
Es gelang Gehlen, sich eine Position als vermeintlich bester Kenner der
Roten Armee zu verschaffen, diese trotz des sich abzeichnenden Zusammen­
bruchs der Ostfront zumindest innerhalb der militärischen Führungsspitze
glaubhaft zu erhalten und bis in die letzten Kriegstage auf seinem Posten aus­
zuharren, ohne sich in größerem Maße in das Netz eines verbrecherischen
Regimes zu verstricken. Dass seine strategischen Einschätzungen über das
Potenzial und die Absichten des Gegners, die er nicht selbst, sondern von
Zeitzler oder Heusinger vortragen ließ, bei Hitler im letzten Kriegsjahr auf
vehementen Widerspruch stießen, ist nicht verwunderlich, weil sich der Dikta­
tor dagegen sträubte, die bevorstehende Niederlage im engsten Führungskreis
einzugestehen. Dass Gehlens Einschätzungen der gegnerischen Stärke sogar
noch hinter den tatsächlichen Verhältnissen zurückblieben und er mit seinen
Prognosen meist danebenlag, zeigt das Ausmaß der Realitätsverdrängung im
Führerhauptquartier, und nicht nur dort.
Gehlen freilich verfügte über ein gewisses Maß an nüchternem Realismus
und hatte sich längst innerlich vom NS-Regime und vom »Führer«-Mythos
gelöst. Gegenüber der Partei und ihren rassenideologischen Dogmen hielt er
Distanz. Ein »Nazi« in diesem Sinne war er also nicht. Aber Gehlen war in
seiner Position über die Verbrechen an den Juden, den Kriegsgefangenen und
den Zivilisten besser informiert als die meisten Deutschen. In die Verbrechen

412
war er teilweise verstrickt, auch wenn ihm keine persönliche Verantwortung
für verbrecherische Befehle nachgewiesen werden konnte. Er war im OKH ein
Mann in der zweiten Reihe, der sich still anpasste und auf seine unmittelbaren
dienstlichen Aufgaben konzentrierte. Sein zeitweiliger Einsatz für die Wlas­
sow-Bewegung und für eine bessere Behandlung der Zivilbevölkerung blieb
innerhalb des Spielraums des NS-Regimes, sorgsam darauf bedacht, politisch
nicht anzuecken, andere gegebenenfalls zu ermutigen und insgeheim zu unter­
stützen, aber sich selbst bedeckt zu halten, was es nicht leichter macht, sein
damaliges Denken und Handeln zu interpretieren. Er habe, so schreibt er in
seinen Memoiren, im Vortrag gegenüber Hitler seine eigene Ansicht vertreten,
»darauf bedacht, daß sie der Denkart Hitlers einleuchtete«.815
Hitler als der »größte Feldherr aller Zeiten« – von solchen pathetischen
Übertreibungen ist Gehlen, der seit dem Sommer 1940 dicht an den strate­
gisch-operativen Entscheidungen dran war, vermutlich frei gewesen. Eher
dürfte er an den Lippen seines väterlichen Förderers, Generalstabschef Hai­
der, gehangen haben, für den Hitler der »böhmische Gefreite« und Autodi­
dakt blieb. Sosehr die Brutalität und Entschlusskraft des Diktators in diesem
feinsinnigen militärischen Herrenklub auch zu imponieren vermochte – als
die Kriegführung in die Krise geriet, erodierte der Respekt vor dem »Obersten
Befehlshaber der Wehrmacht«. Dass Hitler im Dezember 1941 auch den Ober­
befehl über das Heer direkt übernahm, änderte nichts an den stillen Vorbehal­
ten mancher Generalstäbler.
Hinter der Fassade einer äußerlich stark ausgeprägten Anpassungsfähig­
keit, die seinen unmittelbaren Vorgesetzten so sehr gefiel, hatte sich Gehlen
genügend innere Unabhängigkeit bewahrt, um sich in dem internen Streit
um strategische und taktisch-operative Optionen sowie um Grundzüge der
Besatzungspolitik im Osten für andere Lösungen einzusetzen, als sie der »Füh­
rer« bevorzugte. Gehlens Engagement etwa für die Wlassow-Bewegung blieb
allerdings in der Deckung, die ihm seine Vorgesetzten boten. Er beherrschte
perfekt das Intrigenspiel und das vorsichtige Taktieren, um sich im höchsten
militärischen Führungskreis erfolgreich behaupten zu können, unauffällig und
effizient, jedem politischen Fallstrick ausweichend.
Das moralisch-ethische und politische Aufbegehren der wenigen Kamera­
den, die sich – wie Tresckow und Stauffenberg – zu einem Staatsstreich bereit­
fanden, teilte er – bestenfalls – sehr bedingt. Ihre moralischen Argumente hielt
er offenbar nicht für zwingend. Das war nicht seine Ebene. Er hatte sich wie die
meisten älteren Offiziere darauf eingestellt, die Erfüllung der eigenen Dienst­
aufgabe in den Mittelpunkt des Denkens zu stellen. Über Fragen von Politik,

815 Gehlen, Der Dienst, S. 94.

413
Moral und Recht konnte man ohnehin nicht frei diskutieren. Es reichte für
Gehlen aus, dass er mit dem Feindbild UdSSR einen Gegner vor Augen hatte,
dessen politische und moralische Verworfenheit außer Frage stand, auch wenn
man kein Anhänger der nationalsozialistischen Idee war. Ansonsten bildete
die Wehrmacht, wie er seit 1920 ihren Aufstieg erlebt hatte, trotz der kritischen
Beurteilung mancher Erscheinungen seine Welt, in der er ganz aufging. Man
kann davon ausgehen, dass er den Krieg, den die Wehrmacht führte, als einen
»gerechten« und sinnhaften verstand, nicht in Hitlers hypertrophem Welt­
herrschaftswahn, aber doch in einem nationalstaatlich-konservativen Sinn
deutscher Groß- und Weltmachtpolitik wilhelminischer Prägung. Gehlen gab
sich noch als Pensionär persönlich davon überzeugt, dass der Russlandfeld­
zug »richtig war. Er hätte auch gewonnen werden können, wenn er politisch
geführt worden wäre.«816 Kritik an den taktisch-operativen Entscheidungen
Hitlers wurde allenfalls hinter seinem Rücken im kleinen Kreis geäußert. »Wir
haben immer gesagt, er müsste einmal auf die Kriegsschule«, meinte Gehlen
im Rückblick.817 Dass der ehemalige Gefreite auf die Überheblichkeit seiner
Generalstabsoffiziere allergisch reagierte, war verständlich.
Gehlens Schlussfolgerung aus der 1943 gefestigten Einsicht, dass der Krieg
nicht mehr zu gewinnen war, entsprach der Einstellung vieler anderer Offi­
ziere: das persönliche Überleben dadurch zu gewährleisten, dass man »bei
der Fahne« blieb, für sich selbst und die unmittelbar anvertrauten Soldaten
möglichst darauf bedacht, zwischen fanatischen Durchhaltebefehlen der eige­
nen Führung und einem unerbittlichen Feind nicht in eine ausweglose Lage zu
geraten. Truppenoffiziere konnten sich unter Umständen in Gefangenschaft
begeben. Ein Generalstabsoffizier wie Gehlen im fernen Hinterland musste
seine Rolle bis zur Gesamtkapitulation spielen. Er gehörte allerdings zu den
wenigen, die sich früh Gedanken gemacht haben über den Augenblick danach.
Es gab wohl kaum einen anderen, der dieses Problem der »Anschlussverwen­
dung« so konsequent und systematisch angegangen ist.
Am Ende hat er sich offenbar keine IIIusion mehr darüber gemacht, dass
die vom Feind geforderte bedingungslose Kapitulation zur zeitweiligen Auflö­
sung der Wehrmacht führen würde, und deshalb den radikalen gedanklichen
Schritt in fremde Dienste gewagt. Es wurde die erfolgreichste Operation seines
Lebens, systematisch bis ins Detail – sprichwörtlich generalstabsmäßig – vor­
bereitet und durchdacht, vom Glück begünstigt und konsequent realisiert. Es
war ein Bruch in seinem Leben und in seiner beruflichen Laufbahn, den er
aber 1945 vermutlich nicht so stark empfunden hat, wie es sich aus heutiger

816 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 1.2.1972, IfZ, ED 100-68-83.


817 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 31.1.1972, IfZ, ED 100-68-167.

414
Sicht darstellt. Doch Gehlen hat sich dann im Zuge der späteren Neuaufstel­
lung deutscher Streitkräfte im Gegensatz zu vielen anderen Kameraden gegen
eine Wiederverwendung entschieden. Insofern hat er 1945 seine Karriere als
Berufsoffizier tatsächlich beendet und eine zivile Tätigkeit ergriffen, in die er
seine bisherigen Erfahrungen und Verbindungen einbringen konnte.
Er stand am Beginn einer erstaunlichen politischen Karriere. In den aben­
teuerlichen Maitagen am Ende der blutigsten militärischen Auseinanderset­
zung der Weltgeschichte, bei der er eine nicht unwichtige Rolle gespielt hatte,
war ihm das sicher nicht bewusst. Noch war er ganz der »General«, und das
blieb er in seinem Selbstverständnis bis zu seinem Tode. Doch bereits kurze
Zeit nach Kriegsende mutierte er zum »Dr. Schneider«, wenn auch zunächst
als bloße Tarnung. Das schnelle Verstecken der Generalsuniform machte
ihn freilich noch nicht zu einem Zivilisten. Viel zu stark wog seine militäri­
sche Konditionierung. Für den späteren BND erwies sich das als Erblast, aber
auch – zumindest in der Gründungsphase – als Chance. Denn Gehlen verstand
es, gleichgesinnte, langjährig vertraute Kameraden um sich zu versammeln,
die für Jahrzehnte die Leitungsstruktur des BND bilden sollten.
Ein prüfender Blick auf den »General«, d. h. auf Gehlens Persönlichkeit, wie
sie bis 1945 maßgeblich ausgeprägt und gefestigt war, zeigt eine erstaunliche
Nähe zu Beschreibungen, wie es sie von Zeitgenossen und Historikern über
seinen Förderer Franz Halder gibt, zu dem Gehlen zwischen Oktober 1939 und
März 1942 ein enges Verhältnis gehabt hat. Man kann vermuten, dass Hai­
der für Gehlen ein Vorbild gewesen ist, dem nachzustreben er bemüht war.
Wenn man die Charakterisierung Halders durch dessen Biografen Christian
Hartmann nimmt, erscheint der ehemalige Adjutant und »Führungsgehilfe«
Reinhard Gehlen tatsächlich fast wie sein Spiegelbild.818 Über den feldgrauen
Pedanten und »vollendeten Spießbürger« lästerten Kritiker, andere hielten
ihn für einen »unglaublichen Könner und prachtvollen Menschen«. Hartmann
hat wohl recht, wenn er meint, solche Widersprüche sind unausweichliches
»Schicksal jeder nur einigermaßen historisch bedeutsamen Persönlichkeit«,
die vielleicht auch »als Ausdruck eines in sich widersprüchlichen und ver­
schlossenen Naturells verstanden werden können«.819
Halder habe den »klassischen Typus des Generalstäblers« verkörpert, ein
zurückhaltender Offizier, der eher einem Wissenschaftler ähnelte. Er sei nicht
durch den Dienst in der Truppe geprägt gewesen, sondern fasziniert von der
»Synthese zwischen Armee und Wissenschaft«. Sehr früh schon für diese Elite
innerhalb der Elite qualifiziert, war er sich dessen bewusst, dass er sich diese

818 Hartmann, Halder, S. 67-77.


819 Ebd., S. 69.

415
Position durch Leistung und Bewährung verdient hatte, nicht durch ange­
stammtes Geburtsrecht. Die Kultivierung des Leistungsgedankens förderte
eine überdurchschnittliche Belastbarkeit und Zähigkeit. Gehlens Nachfolger
als Adjutant bei Halder, Conrad Kühlein, im BND später ein enger Mitarbeiter
Gehlens, beschrieb den Halder des Jahres 1942 so: »Er war ein unermüdlicher
Arbeiter, der seine Gesundheit aufs Spiel setzt, indem er durch Monate bis
in die Morgenstunden tätig war. Ich habe ihn wiederholt seinen Arbeitsstuhl
um 7.00 Uhr morgens verlassen sehen, wenn ich die Baracke für die Frühlage
betrat. Um 9.00 Uhr erschien er dann bereits wieder zum Dienst.«820 Für Geh­
len wäre eine ähnliche Beschreibung zutreffend gewesen.
Es war der Ausdruck einer fast ausschließlichen Fixierung auf den militäri­
schen Beruf, wie sie schon der ältere Moltke als notwendig erklärt hatte, und
die im Krieg dazu führte, dass es auch für Gehlen praktisch kein Privatleben
mehr gab. Konnte er im geringsten Maße privaten Neigungen nachgehen, dann
widmete er sich den Feldern Biologie, Medizin und Mathematik. Trotz der
»unerhörten Arbeitskraft« reichte der Einsatz kaum dazu aus, die zugewiese­
nen Aufgaben vollständig auszufüllen. Halders Konkurrent Manstein schrieb
später in seinen Memoiren polemisch: »Wie die meisten aus dem bayerischen
Generalstab hervorgegangenen Offiziere beherrschte Halder alle Zweige der
Generalstabstechnik hervorragend. Dazu war er ein unermüdlicher Arbeiter.
Das Wort Moltkes >Genie ist Fleiß< war ihm wohl Wegweiser. Das heilige Feuer,
das den wahren Feldherrn beseelen soll, dürfte jedoch kaum in ihm geglüht
haben.«821 Seinem Bewunderer Gehlen hätte er ein ähnliches Zeugnis ausstel­
len können.
Gehlen war weniger eine schöpferisch veranlagte Natur als ein Systema­
tiker. Im Generalstabsdienst war sein Denken darin geschult, Probleme und
Aufgaben durch großes Wissen und Erfahrung planmäßig zu lösen. Führte
methodisches Vorgehen nicht weiter, konnten Pedanterie und Starrsinn die
Folge sein. Mangelte es darüber hinaus an Begabung, musste sie der Ehrgeiz
durch Fleiß ersetzen. Halder und Gehlen waren sich ihrer persönlichen Gren­
zen aber offenbar durchaus bewusst und bedienten sich eines konsultativen
Führungsstils, ließen Vorlagen und Studien erarbeiten, bevor sie zu Entschlüs­
sen kamen, und belohnten ihre Mitarbeiter mit einer fürsorglichen Zuwen­
dung, anders als Truppenführer wie Manstein, die einsame Entschlusskraft zu
demonstrieren pflegten.
Anders als Halder entwickelte Gehlen eine im Gegensatz zu seiner kon­
servativen Waffengattung Artillerie ungewöhnliche Aufgeschlossenheit für

820 Aussage Kühleins vom 23.4.1948, zit. nach: ebd., S. 69.


821 Manstein, Verlorene Siege, S. 76.

416
moderne technische Entwicklungen. Dabei pflegte der 20 Jahre jüngere Gehlen
aber keinen altmodischen Habitus. Während Halder mit einer ritualisierten
Korrektheit vielfach dem 19. Jahrhundert verbunden war, zeigte sich Gehlen
bei aller Korrektheit dienstlicher Formen »moderner«, lockerer, umgänglicher.
Hartmann bescheinigt »seinem« Halder aber immerhin eine bemerkenswerte
politische Wandlungs- und Einsichtsfähigkeit.822 Das musste der ehemalige
Adjutant Gehlen erst noch unter Beweis stellen.
Hinter seiner dienstlichen Erscheinung verbarg sich auch bei Gehlen ein
Maß an Sensibilität, das für einen höheren Offizier ungewöhnlich war, Gefühle,
die er im Gegensatz zu seinem Chef Halder, der zu Tränenausbrüchen neigte,
aber viel besser zu beherrschen gelernt hatte. Hier spielen Kindheit und Jugend
eine wichtige Rolle, weil er im Elternhaus zwar Zuwendung und Verständnis
erfahren hatte, die er sich durch Fleiß verdienen musste; der Vater verlangte
Respekt, aber keine Unterwerfung. So hatte der junge Gehlen Autorität willig
zu respektieren gelernt. Doch hatte die Aufdeckung der Familiengeheimnisse
offenbar auch früh eine innere Distanz gefördert, eine Bereitschaft, sich –
wenn es dem eigenen Nutzen diente – auf eine stille Doppelmoral einzulassen.
Das machte es ihm nicht schwer, sich während seiner Reichswehrzeit von
der Politik fernzuhalten und sich auch in der Wehrmacht nur so weit der
politischen Sphäre anzunähern, wie es unausweichlich schien, ohne sich ver­
einnahmen zu lassen. Im Zentrum seines nationalkonservativ-borussischen
Politikverständnisses stand die Armee, sein Arbeits- und Lebensmittelpunkt.
Damit verband sich keine geistige Tiefe, seine »Weltanschauung« beschränkte
sich auf einen der Parteipolitik abholden Patriotismus, der sich im autoritären
Machtstaat vollendete. Das ließ eine frühe innere Distanz zum Nationalsozia­
lismus zu, nicht aber einen aktiven Widerstand, bei dem nicht zuletzt auch die
Einheit der Armee auf dem Spiel zu stehen schien. Das bemühte Fernhalten
von der Politik schützte auch in seinem Falle nicht davor, in die verbrecheri­
schen Dimensionen der Politik verstrickt zu werden. Ein jüngerer Mitarbeiter
schätzte ihn so ein: Er habe sich nie exponiert. Man wusste schon, dass er kein
Nazi war. »Aber nach außen hin hat er alles brav gemacht, so wie es verlangt
war.«823 Alles andere als ein Hasardeur, konzentrierte sich Gehlen zum Kriegs­
ende darauf, sein persönliches »Rettungsboot« zu Wasser zu bringen.
War er darauf vorbereitet, was kommen würde? Wie gut war er vernetzt
und abgesichert? Was durfte er erwarten? Die langfristige und systematische
Vorbereitung auf den Übertritt zur westlichen Siegermacht, sein konspiratives
Geschick, das unauffälliges Agieren auch gegenüber Partei und SS, die Kon­

822 Hartmann, Halder, S. 73.


823 Interview David Kahn mit Max Ritter von Tessenberg (1970), BA-MA, MSg 2/3286, S. 21.

417
zentration auf die selbst gestellte Aufgabe, gaben ihm vergleichsweise gute
Startchancen. Doch im Mai 1945 stand Reinhard Gehlen wie nahezu alle Deut­
schen, insbesondere seine Gruppe der Berufsoffiziere, am tiefsten Punkt sei­
nes Lebens. Er konnte glauben, ein hoch spezialisierter Fachmann in seinem
Beruf zu sein, auf den ein moderner Staat, insbesondere die Weltmacht USA,
nicht verzichten konnte. Aber die Zukunft Deutschlands und die seiner Wehr­
macht lagen 1945 auch für ihn völlig im Dunkel. Gehlen war kein Träumer.
Als Realist war ihm klar, dass es nach dieser selbst verschuldeten Katastro­
phe Jahrzehnte dauern würde, bis ein »Wiederaufstieg« möglich sein könnte.
Eine Kontinuität wie nach 1918 war nach dem erkennbaren Willen der Sieger­
mächte ausgeschlossen, und wie sein Vater nach einem verlorenen Weltkrieg
ins Verlagsgeschäft zu gehen, war für ihn kein erstrebenswertes Ziel. Falls der
Übertritt zu den Amerikanern misslingen würde, kam für ihn ein Jura- oder
Medizinstudium in Betracht.824

824 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 16.12.1971, IfZ, ED 100-69-10.

418
II. In US-Diensten
1. Von der »Alpenfestung« zur US Army (1945/46)
»Wir genossen diese letzten Tage in der Freiheit«, schrieb Gehlen in seinen
Memoiren über den dreiwöchigen Aufenthalt in der »Alpenfestung«. Das unge­
bundene Leben im Kreis seiner vertrauten Untergebenen war zu einer inten­
siven und sentimentalen Erinnerung geworden, die er ein Vierteljahrhundert
später ungewöhnlich liebevoll und ausführlich beschrieb. »Diese Tage des
Lebens in der freien Natur waren wirklich bezaubernd.«1 Als der Schnee Anfang
Mai 1945 weitgehend geschmolzen war, verließ die kleine Gruppe tagsüber aus
Sorge vor einer Überrumpelung die Hütte und baute sich ein sorgfältig getarn­
tes Zeltlager in einer Fichtenschonung. Man hatte sich an ein ruhiges Verhal­
ten gewöhnt, was die Sinne für die Geräusche in der Natur schärfte. Für die
Verpflegung sorgte ein Trupp Gebirgsjäger, die mit ihren Mulis Konserven aus
einer Blockhütte in der Nähe des Forsthauses heranschafften. Gehlens Gruppe
hatte Glück, denn sein zurückgelassener Fahrer begegnete bereits wenige Tage
später einigen GIs, die auf der Suche nach untergetauchten deutschen Solda­
ten waren. Sie machte sich unter Mithilfe des Stabsgefreiten auf den Weg zur
Elendalm – und stießen auf ein leeres Nest.2
Zwar wärmte die Frühlingssonne die Gruppe flüchtiger Wehrmachtsolda­
ten, und der General genoss die Idylle; aber aus antrainierter Vorsicht empfand
er Dankbarkeit, als sich Hauptmann Johannes Weck wieder zurückmeldete.
Dieser hatte seine Wehrmachtuniform mit seiner alten Dienstbekleidung eines
Oberforstmeisters getauscht und sich bei der Forstverwaltung den Schlüssel
zu einer anderen, wenig bekannten und schwer zugänglichen Berghütte geben
lassen. Oberhalb einer steilen Wand verlebte Gehlen nun mit seinen Offizieren
und »Blitzmädchen«, weiblichen Hilfskräften, bei fantastischer Sicht auf das
Alpenpanorama einige entspannende Tage. Man freute sich über die zahlrei­
chen Gämsen, denen man ständig begegnete. Vielleicht rührte aus dieser Zeit
die Vorliebe des späteren BND-Präsidenten für einsamen Campingurlaub.
Bei aller sorgfältigen Planung eines Absetzmanövers aus dem Untergang
der Wehrmacht konnten die weiteren Aussichten nicht zuverlässig kalkuliert

1 Gehlen, Der Dienst, S. 106. In dem Spiegel-Porträt von 1954 ist von einer Beschießung
der tagsüber in der Hütte weilenden Stabshelferinnen die Rede, vom Auftauchen einer
ganzen Kompanie, was Anlass zur Verlegung gegeben habe; »Des Kanzlers lieber Gene­
ral«, S. 17. Die Episode wird in den Memoiren nicht erwähnt. Im Interview mit Elke Fröh­
lich bestätigte er, dass die Amerikaner zur Sicherheit zuerst in das Haus hineingeschossen
und damit die drei Helferinnen »zu Tode erschreckt« hätten. Veröffentlichen wollte er
diese Episode allerdings nicht; Interview, 4.1.1972, IfZ, ED 100-69-95.
2 Vernehmungsprotokoll Oskar Thielert, 26.6.1963, BStU, MfS, HA IX/11, FV 5/72, Bd. 11,
Teil 2, Blatt 370.

421
werden. Die Ungewissheit der nächsten Tage muss auf Gehlen gelastet haben.
Es war wohl ähnlich wie bei einer bevorstehenden feindlichen Groß offensive.
Man konnte nie sicher sein, nicht etwas Wichtiges übersehen und das Verhal­
ten des Feindes richtig berechnet zu haben. Jetzt war er völlig abgeschnitten
von allen Informationen jenseits des Gamsbockreviers. Man wird zwar anneh­
men können, dass die Gruppe zumindest über ein Radio verfügte, aber davon
schreibt er nichts in seinen Memoiren.
Es entsprach nicht seinem Naturell und bisherigen Führungsstil, über
ungewisse Zukunftsfragen mit Untergebenen längere Gespräche zu führen,
allenfalls mit einem engen Vertrauten unter vier Augen. Man wird sich also
vorstellen dürfen, dass während der Frühlingstage auf der Alm Alltäglichkeiten
bevorzugte Gesprächsthemen waren. Wahrscheinlich gelang es Gehlen unter
diesen Bedingungen tatsächlich, die extreme Anspannung der letzten Wochen
und Monate, ja der Kriegsjahre insgesamt abzulegen. Es gab zum ersten Mal in
seinem Berufsleben die Möglichkeit, so etwas wie innere Freiheit zu empfin­
den, ohne Vorgesetzte, Termine, Besprechungen und dienstliche Konflikte. Die
Almbewohner verdrängten vermutlich auch kritische Reflexionen über das
untergegangene Dritte Reich. Gehlen hat jedenfalls nichts darüber berichtet.
Er blickte nach vorn und nicht zurück.
Der General als Führer seiner Rumpfeinheit war nach außen hin sicher
um den Eindruck bemüht, »alles im Griff« zu haben. Er verfügte über Infor­
mationen, dass man sich in einem Gebiet aufhielt, wo mit dem Auftreten der
US Army als Besatzungsmacht zu rechnen war. Problematisch konnte der
erste Kontakt mit den GIs sein, falls sie ihn ohne Weiteres in einem Gefange­
nenlager verschwinden lassen würden. Es konnte ihm auch Gefahr für Leib
und Leben drohen. Nicht zuletzt war sogar eine Auslieferung an die Rote
Armee denkbar. In Böhmen lieferten die Amerikaner den abtrünnigen Sow­
jetgeneral Andrej Andrejewitsch Wlassow mit seiner Truppe an die Russen
aus, die ihn zum Tode verurteilten und hinrichteten. Gehlens Vorbild, der
deutsche Spionagechef im Osten während des Ersten Weltkriegs, Oberst Wal­
ter Nicolai, wurde in diesen Tagen vom NKWD verschleppt und in Moskau
verhört. Er starb während der Haft am 4. Mai 1947 im Hospital des Butyrka-
Gefängnisses im Alter von 74 Jahren.
Von solchen Einzelfällen erfuhr Gehlen im Mai 1945 natürlich nichts, aber
er dürfte sich keine IIIusionen gemacht haben, was ihm in sowjetischer Haft
drohen könnte. Also zeigte er sich fest entschlossen, sein Schicksal um jeden
Preis mit den Amerikanern zu verbinden. Seine Hoffnung, eine reguläre Kriegs­
gefangenschaft vermeiden zu können und schnell Verbindung zu fachkundigen
Experten des US-Militärgeheimdienstes zu erhalten, war reichlich vermessen.
Seine Annahme, diese könnten an seinem Fachwissen über die Rote Armee
und an der Möglichkeit interessiert sein, die entsprechende deutsche General-

422
Stabsabteilung für sich arbeiten zu lassen, konnte sich rasch als Wunschden­
ken erweisen.
Zwar war damals bekannt, dass es wachsende Gegensätze in der bisheri­
gen Anti-Hitler-Koalition gab, aber unser heutiges Wissen über den Bruch des
Kriegsbündnisses und die Entwicklung hin zu einer möglichen militärischen
Konfrontation konnte aus Gehlens Alpen-Perspektive nur Spekulation sein.
Im April/Mai 1945 waren auch die zwischen den Siegermächten diskutierten
Pläne zu einer späteren Aufteilung Deutschlands in mehrere unabhängige
Staaten nicht vom Tisch, und auf amerikanischer Seite rechnete man damit,
die eigenen Truppen innerhalb von zwei, drei Jahren wieder aus Europa abzie­
hen zu können. Wo hätte in diesen, keineswegs unwahrscheinlichen Fällen der
Platz für die Gruppe Gehlen sein können? War es also klüger, seine Dienste
den Briten anzubieten? Gehlen war kurz vor Kriegsende durchaus unschlüssig
gewesen und hatte sich bemüht, über Oberstleutnant Hermann Baun ein Sig­
nal an die Briten zu geben. Als ihm berichtet wurde, dass drei Männer in Zivil
bei der Elendalm nach ihm gesucht hätten, nahm er an, dass es der britische
Secret Service gewesen sei.3
Nach der Kapitulation am 8. Mai existierte außerdem noch bis zum
23. Mai 1945 eine ominöse Reichsregierung in Flensburg unter Großadmiral
Karl Dönitz, und die im Alpenraum teils versteckten bzw. mit der US Army in
Kontakt befindlichen Wehrmachtstäbe hofften in den ersten Tagen nach der
Kapitulation darauf, mit den westlichen Siegermächten »ins Geschäft« kom­
men zu können, sei es mit Ordnungs- und Wiederaufbauarbeiten, sei es als
stille Reserve für eine mögliche Konfrontation der Westmächte mit der Roten
Armee, die im Osten und Südosten in den Alpenraum eindrang. Trotz der
bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 blühten nicht
nur in Almhütten solche IIIusionen mancher Spitzenmilitärs. Erst die Anord­
nungen der alliierten Militärregierung, die Verhaftung der Regierung Dönitz
und schließlich die Entschlüsse der alliierten Siegermächte auf der Potsdamer
Konferenz setzten klare Signale. Sie bedeuteten die völlige Entmilitarisierung
des besetzten Deutschland und das Ende von Hitlers Wehrmacht.
Wenigstens brauchte sich der General keine großen privaten Sorgen zu
machen. Hausstand und Familie waren in letzter Minute aus Schlesien nach
Bayern gebracht worden. Auch sein Schwager Joachim von Seydlitz-Kurzbach,
zuletzt als Major i. G. im Hauptquartier des Armeeoberkommandos 9 bei
Tangermünde am 7. Mai in US-Gefangenschaft geraten, hatte seine Familie
rechtzeitig nach Westfalen in Sicherheit bringen können.4 Theoretisch hätte

3 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 10.12.1971, IfZ, ED 100-69-219.


4 Angaben auf der Karteikarte zu seiner Person in der WASt.

423
sich Gehlen selbst natürlich auch darauf einstellen können, das Ende seiner
Karriere als Berufssoldat zu akzeptieren und sein Leben künftig in ziviler Ver­
wendung zu führen, womöglich nach dem Vorbild seines Vaters als Verlagsdi­
rektor, oder seiner alten Neigung folgend, als Medizinstudent mit Anfang 40
bei null anzufangen. Aber warum sollte er darauf verzichten, seine militärische
Karriere, um welchen Preis auch immer, fortzusetzen, solange er sich dafür
noch eine Chance ausrechnen konnte?
Zehn Tage nach Kriegsende schien es an der Zeit zu sein, sich bei der
nächsten amerikanischen Ortskommandantur zu melden. Doch zunächst griff
Gehlen die Idee auf, Pfingsten bei den Eltern eines Untergebenen am nahen
Schliersee zu verbringen. So schlich sich die Gruppe, gleichsam kriegsmäßig,
von der Maroldschneid-Nordseite auf halbem Hang Richtung See. Die Dienst­
grad-Abzeichen hatte man am Vorabend vorsichtshalber abgelegt, Gehlen und
vier seiner Generalstabsoffiziere zogen die »roten« Hosen aus, die Uniform­
kleidung mit einem breiten roten Streifen, die das Kennzeichen der General­
stäbler war. Wegen der vielen Patrouillen amerikanischer Militärpolizei löste
sich die Gruppe auf. Einzeln schlug man sich weiter durch. Als Gehlen plötzlich
in einer kleinen Ortschaft einer Gruppe französischer Gebirgsjäger begegnete,
reagierte er kaltschnäuzig, wie er trotz seiner im Allgemeinen zurückhaltenden
Art auch sein konnte, mit einem fröhlichen »Bonjour« und zog seines Weges.
Auf der anderen Hangseite traf man wieder zusammen und genoss zwei Feier­
tage lang die Gastfreundschaft der Eltern eines Kameraden. Dann griffen die
Männer am 23. Mai 1945 wieder zu den Rucksäcken und marschierten zum
Bürgermeisteramt, wo ein US-Ortskommandant residierte.
Der junge Oberleutnant reagierte verständlicherweise ganz aufgeregt auf
seinen »Fang«. Er sprach aber kein Deutsch, und Gehlen mit seinen Offizieren
kein Englisch – nicht gerade eine günstige Ausgangslage für das Kennenlernen.
Mit einem Jeep einzeln zur Division in Wörgl verfrachtet, traf man schließ­
lich beim G-2-Offizier, zuständig für die Feindlage, auf einen sachverständi­
gen »Kollegen«. Doch dieser interessierte sich lediglich für die Verhältnisse
in Deutschland während des Dritten Reichs. Dann ging es weiter zum Armee­
korps nach Salzburg, schließlich nach Augsburg in ein großes Vernehmungs­
lager der 7. US-Armee, wo der zuständige Offizier zu dem Eindruck gelangte,
dass Gehlen kein bedeutender Gefangener sei. Er interessierte sich ebenfalls
nur für innerdeutsche Verhältnisse, über die sich der General aber weitgehend
ausschwieg.
Vergeblich versuchte Gehlen stattdessen auch ihn von der Gefährlichkeit
des Sowjetkommunismus zu überzeugen. Das war schließlich die Vorausset­
zung für seinen Plan, sich den Amerikanern als Gehilfe anzudienen. Doch bis­
lang hatte er nur US-Offiziere angetroffen, die – wie er meinte – der offiziellen
Propaganda anhingen und daran glaubten, dass die verbündete UdSSR auf

424
dem Weg zu einem liberalen Staat sei. Sie hätten keinerlei Vorstellungen von
den expansiven Zielen von »Uncle Joe« (Stalin) gehabt.5
Immerhin ließen ihn die Amerikaner im Lager Augsburg-Bärwald gewähren,
als er begann, seine Einschätzungen zu Papier zu bringen, worauf er sich vor
seiner Gefangennahme intensiv vorbereitet hatte. Eine Denkschrift Gehlens
über »Russlands militärpolitische Ziele in Europa«, geschrieben im Seventh
Army Interrogation Center (SAIC), trägt das Datum vom 15. Juni 1945.6 Die
Studie stützte sich auf die erwähnte Professorendenkschrift von 19447 sowie
auf eine handschriftliche Ausarbeitung über »Russische Expansionspolitik in
der Vergangenheit und Gegenwart«, die vermutlich von Gehlen selbst stammt,
und eine kurze historische Übersicht einschließlich des Russlandfeldzugs aus
machtpolitischer Sicht sowie eine Zusammenstellung von sowjetischen Hee­
resberichten vom Mai 1945, die ihm offenbar aus der Presse zur Verfügung
gestellt wurden. Der alte Vertraute aus dem Krieg Wilfried Strik-Strikfeldt, der
Gehlen im Lager zufällig begegnete, erlebte ihn »zuversichtlich und ungebro­
chen. Er hatte Pläne, die weit in eine neue Zukunft wiesen, während die meis­
ten anderen nur in die Vergangenheit zurückblickten.«8
Eine Woche später, am 21. Juni 1945, fand daraufhin eine ausführliche
Befragung Gehlens über »Notes on the Red Army – Leadership and Tactics«
statt.9 Mit seinen Ausführungen erläuterte und erweiterte er die vorgelegte
Denkschrift. Er beschrieb den russischen Charakter unter Verweis auf Dos­
tojewski als eine Kombination aus starkem Intellekt und tiefer emotionaler
Seite, was »den Russen« letztlich unberechenbar mache. Er sei geprägt von
einem Schwanken zwischen Extremen, mit einem Hang zum Schematismus
und Misstrauen gegenüber jedermann. Diese auch im westlichen Russlandbild
verankerten Stereotype wendete er sodann auf seine Erfahrungen während
des Zweiten Weltkriegs an: Russen hätten auf deutscher Seite (als Hilfswillige)
tapfer und selbstlos gekämpft, um dann überraschend in brutaler Weise ihre
Offiziere zu töten.
Auf sachlicher Ebene beschrieb er mit spürbarer Anerkennung, dass die
russische Führung während des Krieges dazugelernt habe. Das zeigte sich
zum Beispiel beim Kommissarsystem, wo nach anfänglicher Verunsicherung
die Politoffiziere sehr schnell wieder den Kommandeuren unterstellt wurden.
Stalin sei bei der militärischen Führung des Krieges ein ruhender Pol gewe­
sen – das war offenbar im Gegensatz zu Hitler gemeint.

5 Gehlen, Der Dienst, S. 108.


6 BND-Archiv, N 13/1.
7 Siehe Teil I, S. 349 -350.
8 Strik-Strikfeldt, Gegen Stalin und Hitler, S. 244.
9 NA Washington, SAIC/R.

425
Auf taktischer Ebene sei der Vorschlag von Marschall Boris M. Shapos­
hnikow zur Zusammenfassung von Panzerwaffe und Artillerie von großer
Bedeutung gewesen, um bei einem Gegenangriff auch materielle Überlegen­
heit zu erzielen. So sei es im Sommer 1942 gelungen, sich den deutschen Ein­
schließungen zu entziehen und den Rückzug an die Wolga zu sichern. Gehlen
beschrieb aus seiner Kenntnis die russischen Führungsprinzipien und Offen­
sivtaktiken und machte Bemerkungen zu einigen russischen Heerführern. Das
gehörte zum Standardwissen von Fremde Heere Ost (FHO).
Bei seinen Schlussfolgerungen bemühte er sich um eine Verbindung von
taktischen Erfahrungen und der angeblich großen Bedeutung psychologischer
Faktoren. Wegen der Besonderheiten des russischen Charakters verdienten
nicht nur die materiellen Bedingungen der Kriegführung Beachtung, sondern
auch die Qualität und die Beweglichkeit der russischen Führung. Wenn es
gelinge, »dem Russen Anfangserfolge zu verwehren«, sei die Schlacht schon
halb gewonnen. Das russische Streben nach schnellen Erfolgen könne nur
gekontert werden durch eine flexible Führung mit einer starken gepanzerten
Reserve.
In diesem Sinne konnte er sich vorstellen, dass eine starke gepanzerte ope­
rative Reserve im Raum Posen die russische Winteroffensive vor einem halben
Jahr zum Stillstand hätte bringen können oder wenigstens starke russische
Kräfte aus Polen und Ostpreußen auf diesen Raum gezogen hätte. Wenn die
Russen zumindest zeitweilig gezwungen werden, in die Defensive zu gehen,
würde dies die Fähigkeiten der Truppen ebenso wie die der Führung schnell
erschüttern. Aber die Sturheit der Russen dürfe nach Auffassung Gehlens auch
nicht unterschätzt werden. Wenn ein Feind tief in sein Land eindringt, sei der
Russe fähig, unerwarteten Mut und Entschlossenheit zu entwickeln. Das habe
seine Wurzeln in den »geo-politischen Bedingungen, die den Russen hervor­
gebracht haben«.
Gegenüber den US-Offizieren vermied Gehlen es, die deutsche Führung
offen zu kritisieren, und beschränkte sich darauf, ein vermeintliches Erfolgs­
rezept für den Kampf gegen die Rote Armee zu skizzieren. Die merkwürdige
Verbindung taktischer Erfahrungen der Wehrmacht mit einer angeblichen
Psychologie »des Russen« klang für die amerikanischen Vernehmungsoffi­
ziere vermutlich nicht so befremdlich, wie Gehlen in seinen Memoiren später
annahm. Natürlich vermieden sie es, über ihren damaligen russischen Ver­
bündeten und Mitsieger über die Wehrmacht ausgerechnet von einem »Nazi­
general« Hinweise und Ratschläge anzunehmen. Aber zu den Informationen
über die Rote Armee, die Gehlen zu liefern bereit war, gehörten auch Aussa­
gen über den sowjetischen Spionage- und Aufklärungsdienst. Hierbei vergaß
Gehlen nicht den Hinweis, dass Rotarmisten, die Ende 1944 an der Ostfront
in deutsche Gefangenschaft geraten waren, von Politschulungen berichteten,

426
Kriegsgefangenen-Fotos
der US Army von Rein­
hard Gehlen, 1945

wonach ein Konflikt zwischen der UdSSR und den Westmächten unausweich­
lich sei.10
Noch bereitete man sich auf amerikanischer Seite auf einen baldigen Abzug
aus Europa vor, obwohl sich die Stimmen mehrten, die vor einem möglichen
Zusammenstoß mit der Roten Armee warnten. Zu ihnen gehörte General
George S. Patton, amerikanischer Kriegsheld, inzwischen Oberbefehlshaber
der 3. US-Armee und Militärgouverneur von Bayern. Er verzögerte die Entna­
zifizierung und dachte wie zuvor Churchill an ein mögliches Zusammenge­
hen mit den Deutschen, um notfalls gegen die Russen zu kämpfen.11 Gehlens
Aussichten, gehört zu werden, waren also im Prinzip nicht ungünstig. Doch es
wäre zweifellos naiv gewesen, anzunehmen, er würde von den Amerikanern
mit offenen Armen in Empfang genommen werden.
Ohne dass Gehlen davon wusste, befand sich auch Adolf Heusinger im
Lager. Im Gegensatz zu seinem früheren Untergebenen nutzte Heusinger die
Gelegenheit, seine ersten Abrechnungen mit Hitlers Kriegführung zu Papier zu
bringen, denn er musste als ehemaliger Chef der Operationsabteilung damit
rechnen, in den bevorstehenden Vernehmungen zu den brennenden Fragen
von Schuld und Irrtum befragt zu werden. Heusinger war sich »des gründlich
ruinierten Ansehens des deutschen Militärs bewußt« und scheute sich nicht,
die »bittere Wahrheit« auszusprechen«, dass insbesondere die Generalität

10 Befragung Gehlens, 24.6.1945, Notes on the Red Army – Intelligence and Security,
OMGUS Handbuch, Agent General Top Secret (AGTS), Bundesarchiv (BA) Koblenz, 42/3.
11 Zur Biografie siehe u.a. Trevor Royle: Patton. Old Blood and Guts, London 2005. Er
wurde intern vielfach kritisiert, schließlich abgelöst und starb bei einem Autounfall am
9. Dezember 1945.

427
Captain John R. Boker, 1951

ihrer Verantwortung gegenüber dem Vaterland nicht gerecht geworden sei.12


Zu solchen Einsichten ist Gehlen nie gekommen. Der »bitteren Wahrheit«
wich er aus und wollte zwei Wochen nach Kriegsende mit den Amerikanern
lieber über andere Dimensionen sprechen.
Das Erfassungsblatt der US-Streitkräfte zeigt einen erschöpften und abge­
magerten Gefangenen, dem, so könnte man meinen, seine Enttäuschung ins
Gesicht geschrieben stand. Da versprach der plötzliche Abtransport mit zahl­
reichen anderen deutschen Offizieren nach Wiesbaden eine mögliche Wen­
dung, doch als er mit der Begründung, er sei ein Gestapogeneral, im Gefäng­
nis landete, protestierte er vergeblich. Das unfreundliche Aufsichtspersonal
rührte an seiner tief sitzenden Sorge vor tätlichen Übergriffen. Da begegnete er
auf dem Gefängnisflur seinem alten Chef und Förderer Franz Halder. Der ehe­
malige Adjutant fiel erleichtert dem früheren Generalstabschef in die Arme.
Nun wendete sich tatsächlich das Blatt zu seinen Gunsten.
Halder gehörte zu einer Gruppe von prominenten zivilen und militäri­
schen Widerstandskämpfern, die von den Amerikanern aus den Händen der
SS befreit worden waren. Allzu gern ließ sich Gehlen jetzt, anders als im Jahr
zuvor, dem 20. Juli zurechnen, zumal sich damit die Behandlung durch seine
Bewacher positiv veränderte. Zusammen mit dieser Gruppe kam er in die Villa
Pagenstecher, einem Vernehmungslager der höchsten US-Kommandobehörde
in Europa USFET (United States Forces European Theatre).
Gleich am Tag nach seiner Ankunft begrüßte ihn ein Captain Boker, der
ihn bat, sich neben ihn in die Sonne auf eine Bank im Garten zu setzen. Diese

12 Siehe Meyer, Heusinger, S. 294.

428
US-General Edwin L. Sibert, ca. 1947

spätere Erinnerung Gehlens zeigt den Stimmungsumschwung, der ihn damals


erfasst hatte, zumal dieser Offizier ihm gleich sympathisch gewesen ist, denn
er entsprach nicht nur den deutschen Vorstellungen eines Offiziers, sondern
war der erste Russlandexperte, dem Gehlen auf amerikanischer Seite begeg­
nete und der seine Einschätzung teilte, dass der Bruch der Anti-Hitler-Koali­
tion nur eine Frage der Zeit sei.
Hier trafen sich zwei Gleichgestimmte, die später eine lebenslange Freund­
schaft verband. Es war, wie Gehlen rückblickend feststellte, die »entschei­
dende« Begegnung »für die weitere Entwicklung meiner Pläne«.13 Nun schien
es an der Zeit zu sein, »die Karten auf den Tisch zu legen« und seine persön­
lichen Erwartungen anzusprechen. In mehreren langen Gesprächen tasteten
sich beide an diesen heiklen Punkt heran. Da sich Boker immer aufgeschlos­
sener zeigte, nahm Gehlen zu Recht an, dass dieser inzwischen auch die
Zustimmung seines Vorgesetzten, General Edwin L. Sibert, des Militäraufklä­
rungschefs (G-2) des Oberkommandos der 12. amerikanischen Armeegruppe,
sowie des Chefs des Stabes, General Walter Bedell Smith, zu diesem Dialog
hatte. Eingeweiht war natürlich auch Colonel William R. Philp, der Komman­
deur des Befragungszentrums. Captain John R. Boker, ein Nachrichtenoffizier
deutscher Abstammung, aber stolz darauf, bereits in dritter Generation Ame­
rikaner zu sein,14 führte die zur Unterstützung Gehlens gebildete Stabsgruppe.

13 Gehlen, Der Dienst, S. 109.


14 Boker legte großen Wert darauf, dass die Angabe in Gehlens Memoiren, er sei deutscher
Abstammung und in zweiter Generation Amerikaner, für die englische Ausgabe kor­
rigiert werde. Er sei stolz darauf, Amerikaner in dritter Generation zu sein; Boker an
Irving, 11.1.1972, IfZ, ED 100-69-300, S. 303.

429
Über die politisch heiklen Kontakte wurden zunächst weder die militäri­
schen Vorgesetzten Siberts, das Kriegsministerium in Washington noch des­
sen Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) eingeweiht.15 Es war aus
Siberts Sicht keine große Sache – eine Reihe von kriegsgefangenen Offizieren,
die Informationen zu Papier brachten.16 Boker, der von dem besonderen Wert
der Gruppe Gehlen überzeugt war, agierte äußerst vorsichtig in einem Umfeld
des Hauptquartiers, in dem die Aufdeckung deutscher Kriegsverbrechen und
die Kooperation mit sowjetischen Verbindungsoffizieren die allgemeine Stim­
mung prägten.
Man verständigte sich darauf, Gehlen die Erlaubnis zu erteilen, eine Gruppe
von acht Offizieren von FHO zusammenzuziehen, um zu zeigen, über welche
speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten seine ehemalige Abteilung verfugte. In
einer handschriftlichen Aufstellung über »Schlüsselkräfte« benannte Gehlen
Persönlichkeiten, die durch ihre bisherige Verwendung als Spezialisten des
Ic-Dienstes durch andere Personen schwierig zu ersetzen sein würden und
die ihrem Charakter, ihrer politischen Einstellung und ihrem Werdegang nach
als unbedingt zuverlässig und verschwiegen gelten könnten.17 Dazu gehörten
unter anderen sein Stellvertreter Gerhard Wessel, der sich seit Mitte Mai im
Kriegsgefangenenlager Kitzbühel befand, und Klaus Ritter, der in der Nähe von
Bayrischzell gefangen genommen worden war. Mit einem persönlichen Schrei­
ben Gehlens brachten die Amerikaner die ehemaligen Mitarbeiter dazu, dem
Ruf ihres Chefs zu folgen, ohne zu wissen, worauf sie sich einließen. Einer von
ihnen registrierte besorgt eine Notiz der New York Times, wonach angeblich
britische und amerikanische Offiziere über den Plan sprachen, alle Offiziere
des deutschen Generalstabs samt ihren Familien nach entlegenen Kolonien
wie den Falklandinseln zu verbringen.18
Mit der Vorlage von Gehlens Gesellenstück als Chef FHO, der alten Studie
über die »Lage des deutschen Heeres im Frühjahr 1942«,19 konnten die ame­
rikanischen Nachrichtenoffiziere sicher nicht viel anfangen. Aussagekräftiger
über die Leistungsfähigkeit der Gehlen-Organisation waren zweifellos weitere
Ausarbeitungen wie »Arbeitsweise und Methoden des deutschen Ic-Dienstes

15 Siehe Report of Initial Contacts with General Gehlen’s Organization by John R. Boker jr.,
1.5.1952; in: Ruffner (Hg.), 1945-49, Bd.I, S. 19-22. Ausführlich beschrieb Boker seinen
Einsatz auch für David Irving, der die englische Ausgabe von Gehlens Memoiren Anfang
der 1970er-Jahre betreute; siehe Schreiben Bökers vom 11.1.1972, IfZ, ED-100-69-300,
S. 300-316.
16 Report of Interview with Brigadier General Edwin L. Sibert on the Gehlen Organization,
26.3.1970; in: Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I, S. 43 – 50, hier S. 43.
17 Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 74 (o. D.).
18 Notiz vom 12.7.1945, BND-Archiv, N 22/1.
19 Typoskript vom August 1945, BA-MA, MSg 1/1429 (aus einer Abgabe Gehlens).

430
im Osten während des Krieges«, »Kurzer Überblick über russische Maßnah­
men zur Tarnung und Verschleierung von Aufmärschen und Truppenbewe­
gungen«, »Aufgaben und Arbeitsweise des Armee-Ic« und über »Auswerteme­
thoden des deutschen Ic-Dienstes im Osten«.20 Insbesondere die letztgenannte
Studie betonte die überragende Bedeutung der Auswertung gegenüber der
Beschaffung, womit sich Gehlen von Baun abhob. Die später von ihm rekla­
mierte Idee einer Zusammenlegung beider Bereiche entsprach also nicht den
Kriegserfahrungen, sondern entsprang seiner Konkurrenz zu Baun.21
Die Situation änderte sich weiter zugunsten Gehlens, als er den Standort sei­
ner vergrabenen Schätze preisgab. Die Dokumente und Materialien von FHO
wurden aufgespürt. Boker hielt es für wichtig, die deutschen Spezialisten und
ihre Dokumente zusammenzulassen. Das Pentagon hingegen war nur an den
Dokumenten und allenfalls an einzelnen Personen für Befragungszwecke inte­
ressiert. So mussten die Akten komplett zur Auswertung in das Befragungszen­
trum des Kriegsministeriums in Fort Hunt, Virginia, geschickt werden. Boker
gelang es immerhin, seinen Vorschlag durchzusetzen, sich bei der Auswertung
einer kleinen deutschen Expertengruppe zu bedienen, die er sofort in Marsch
setzen konnte. So ließ sich auf längere Sicht vielleicht eine positive Entschei­
dung in Washington befördern, die geheimdienstliche Zusammenarbeit mit
den Deutschen aufzunehmen.
Das war Teil eines sehr viel größeren Unternehmens. Bereits 1943 hatten
Briten und Amerikaner sich darauf verständigt, die künftige Beute an deut­
schen Dokumenten mit nachrichtendienstlichem Wert gemeinsam auszuwer­
ten und sich dazu einer Gruppe ausgewählter deutscher Generalstabsoffiziere
und anderer Spezialisten zu bedienen (»Hill Project«). Angesiedelt wurde das
Unternehmen 1945 in Camp Ritchie, Maryland.22 Im März 1946 wurden ins­
gesamt 1572 deutsche Kriegsgefangene in dem Projekt beschäftigt, das längst
nicht mehr der Sicherstellung des alliierten Sieges diente, sondern der Vorbe­
reitung einer ausreichenden Abwehr eines möglichen sowjetischen Angriffs
auf Westeuropa. Die Erfahrungen der besiegten Wehrmacht schienen in die­
sem Zusammenhang von besonderem Wert zu sein.
Zusammen mit sechs vertrauten Mitarbeitern flog Gehlen in Begleitung
von Captain Boker am 21. August 1945 über den Atlantik. Zurück blieb Wessel,
der als Gehlens Stellvertreter und Platzhalter in Oberursel bei Frankfurt am
Main ein Auge auf Baun haben sollte und ansonsten Anweisung erhielt, nur

20 BND-Archiv, N 13/1.
21 Thomas Wolf: Die Anfänge des BND, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016),
S. 191-225, hier S.211.
22 Siehe Derek H. Mallett: Hitlers Generals in America. Nazi POWs and Allied Military Intel­
ligence, Lexington 2013.

431
mit Gehlens ausdrücklicher Zustimmung aktiv zu werden, allerdings auch ver­
suchen sollte, soweit möglich Kontakte zu knüpfen zu früheren und potenziel­
len Mitarbeitern.23 Gehlen wurde begleitet von Oberst i. G. Konrad Stephanus
(Ic der Heeresgruppe A), Major i. G. Albert Schoeller (stellvertretender Leiter
der Führungsgruppe FHO, zuständig für die tägliche Feindlagebeurteilung),
Major i. G. Horst Hiemenz (Gruppenleiter II – Gesamtlage Russland-Balkan),
Major i. G. Hans Hinrichs (Referatsleiter Ile, Auswertung sowjetischer Füh­
rungs- und Einsatzgrundsätze), Major i. G. Karl Freiherr von Lütgendorf (Ic der
8. Armee) und Hauptmann Herbert Füner. Das waren also gleichsam die »Män­
ner der ersten Stunde« in der Geschichte des späteren Bundesnachrichten­
dienstes, und sie blieben für fast ein Jahr zusammen in den USA.
Der Reisebericht Gehlens in seinen Memoiren spiegelt die ungewöhnlichen
Umstände dieses Fluges wider. Drei Tage hatten die Offiziere Zeit, sich aus
eigenen Mitteln als Zivilisten zu verkleiden. Da Stephanus keinen Koffer fand,
nahm er seinen Geigenkasten, um persönliche Sachen unterzubringen. So
hätte man die Generalstäbler für eine Orchestertruppe halten können.24 Dabei
flogen sie in der Dienstmaschine von General Bedell Smith, dem künftigen
US-Botschafter in Moskau und späteren CIA-Chef, weshalb prompt bei einer
Zwischenlandung auf den Azoren eine Ehrenkompanie antrat. Die Deutschen
durften daraufhin das Flugzeug nicht verlassen, um die Tarnung nicht zu
zerstören. Nach einer weiteren Zwischenlandung in Neufundland und einem
33-stündigen Flug traf die Gruppe am 22. August 1945 in Washington ein. Statt
eines freundlichen Empfangs erwarteten sie ein Gesundheitstest und danach
ein Gefangniswagen.25
Gehlen versuchte während der Fahrt in dem fensterlosen Fahrzeug heraus­
zufinden, wohin es ging. Er schätzte zutreffend einen Ort 20 Kilometer südlich
von Washington. Sie landeten in einem geheimen Vernehmungslager, gleich­
sam in Einzelhaft bei einem missgünstigen Lagerkommandanten. Außerhalb
der Arbeitszeiten waren sie gezwungen, »hinter verschlossenen Türen zu sit­
zen, wenn man auf den Lokus wollte, musste man klopfen«. Die Behandlung
war aber durchaus korrekt, das Essen vorzüglich. Die Art der Unterbringung
habe aber auf einige Herren belastend gewirkt, schrieb Gehlen Ende Oktober.26
Dazu trug auch bei, dass es zunächst nicht erlaubt war, Briefkontakt mit den
Familien aufzunehmen.

23 Gehlen, Der Dienst, S. 112-113.


24 Ebd., S. 112.
25 Mit leichten Abweichungen und anderen Details hat Gehlen seine erste Atlantiküberque­
rung auch in dem Brief an Wessel vom 28. November 1945 geschildert; Gehlen-Kisten,
Mappe Nr. 69.
26 Brief Gehlens an Wessel vom 28.10.1945, ebd.

432
Eric Waldman, 1946

Der Lagerkommandant unternahm nach dem Eindruck Gehlens alles, um


die Betreuung durch den Abgesandten des War Departments zu konterkarie­
ren.27 Bei diesem handelte es sich um den First Lieutenant, später Captain Eric
Waldman, einen jüdischen Emigranten aus Wien, der durch den Holocaust
einen großen Teil seiner Familie verloren hatte. Gehlen deutete das in seinen
Memoiren sehr vorsichtig an und benannte ihn dort nur mit seinem Deck­
namen Erikson. Er sei ein »vertrauenswürdiger und warmherziger Mann«
gewesen, der später zu einem engen Freund wurde und in den nächsten drei
Jahren beim Aufbau der Organisation Gehlen immer wieder wichtige Hilfe­
stellungen leistete.28 Im Spätsommer 1945 kümmerte er sich persönlich um
Gehlens Familie, die er aus ihrem unsicheren Quartier in Cham abholte und
nach Oberstaufen im Allgäu ins Hotel zur Krone begleitete.
Waldman hatte 1945 an einem Handbuch über die Sowjetarmee mitgear­
beitet und war im Juni von seinem Vorgesetzten Dimitri Shimpkin beauftragt

27 Gehlen, Der Dienst, S. 113-114.


28 Waldman war 1938 aus Wien emigriert und 1942 in die US Army eingetreten, er war
ausgebildeter Artillerist wie Gehlen, hatte einen Lehrgang für die Befragung von Kriegs­
gefangenen absolviert und war 1944/45 in der G-2-Abteilung des Kriegsministeriums als
Spezialist in deutscher Taktik tätig. Nach der Etablierung der Organisation Gehlen inner­
halb der CIA verließ er die Army und machte eine erfolgreiche akademische Karriere. Zu
seiner Biografie siehe Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 153-154.

433
worden, sich um eine Gruppe von kriegsgefangenen deutschen Offizieren
zu kümmern, die in den USA eintreffen würden. Sie brächten eine Reihe von
Unterlagen mit und könnten nützlich sein, um durch eine Reihe von Studien
die Kenntnisse der G-2-Abteilung zu erweitern.29
Gehlens Arbeitsgruppe, als »Bolero Group« bezeichnet, gewann das Ver­
trauen der G-2-Fachleute des War Departments.30 Boker, der zu seinem Bedau­
ern die Begleitung Gehlens an seinen Freund Waldman abgeben musste,
gewann im Pentagon den Eindruck, dass die Russlandsektion des G-2 zwar
sehr gut über die UdSSR informiert war, aber annahm, dass die Gehlen-Gruppe
als Zuarbeiter des europäischen Oberkommandos von Bedeutung sein könnte.
Selbstverständlich wurden die deutschen Kriegsgefangenen wie üblich abge­
hört, womit Gehlen offenbar gerechnet hatte, denn er fand nach kurzer Zeit
die Mikrofone. Abhörprotokolle haben sich in seinen Unterlagen in Fort Hunt
kürzlich nicht mehr gefunden. Die Akte enthält nicht einmal den üblichen Ver­
merk »Withdrawal Notice«.31 Es ist aber anzunehmen, dass Gehlen bei Gesprä­
chen in der Unterkunft von vornherein vorsichtig gewesen ist.
Am 1. September 1945 besprach Gehlen mit US-Oberst John Raymond
Lovell, dem früheren Militärattaché in Berlin, die Durchführung der beab­
sichtigten Arbeiten. Es war ein beachtliches Pensum. Mit nur sieben Mitarbei­
tern sollte er innerhalb von drei Monaten für das War Department insgesamt
86 Projekte durchführen, zunächst hauptsächlich Beiträge zur Aktualisierung
des von Captain Waldman während des Krieges verfassten »Handbook on the
Red Army«. So lieferte Gehlen Studien etwa über »Mobilmachung und Auf­
marsch der Roten Armee«, »Desertieren und Überlaufen in der Roten Armee
während des Zweiten Weltkriegs« sowie »Einfluß des Geländes und Klimas
auf die motorisierte Kriegführung im europäischen Teil der UdSSR«.32 Hinzu
kamen 42 Beurteilungen höherer sowjetischer Führer und zahlreiche Projekte
verschiedenster Art, etwa die Auswertung von 2000 Soldbüchern mit Entlas­
sungsscheinen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, ein Verzeichnis der
Feldpostnummern der Roten Armee und ihrer Fahrzeugkennzeichen.
Am 2. September 1945 war die Gruppe Gehlen arbeitsbereit. Sie beschränkte
sich zunächst darauf, die mitgebrachten Materialien aus den vergangenen

29 Debriefing of Eric Waldman on the US Army’s Trusteeship of the Gehlen Organization


during the Years 1945 -1946, 30.9.1969; in: Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I, S. 45.
30 Siehe dazu auch Bodo Hechelhammer: Unter amerikanischer Flagge: Die »Bolero-Group«
von Reinhard Gehlen; in: Achtung Spione! Geheimdienste in Deutschland 1945 bis 1956.
Essays, hg. von Magnus Pahl, Gorch Pieken und Matthias Rogg, Dresden 2016, S. 45 – 55.
31 Auskunft des Historikers Sönke Neitzel, siehe auch dessen Werk: Abgehört. Deutsche
Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, Berlin 2005.
32 BND-Archiv, N 13/1.

434
Kriegsjahren entsprechend den Fragestellungen der Amerikaner aufzubereiten
und mit den zur Verfügung gestellten aktuellen Presseberichten und geheimen
Informationen zu verbinden.33 Die erste Studie listete die deutschen Kenntnisse
über die Dislozierung der sowjetischen Nachrichtenregimenter auf. Hier kam
die entsprechende Kartei zum Einsatz, deren Einträge allerdings im April ende­
ten, sodass mit Gehlens beschränkten Mitteln über den augenblicklichen Stand­
ort allenfalls Mutmaßungen möglich waren. Vorschläge für eine Fortführung
der Funkaufklärung gegen die UdSSR unter Verwendung von deutschen Spe­
zialisten und Erfahrungen boten sich an und wurden von Gehlen vorgetragen.
Allgemeine Überlegungen zur Rundfunküberwachung und Luftaufklä­
rung waren für die deutsche Seite letztlich blasse Theorie, weil sie dazu im
Augenblick keinen Zugang hatte. Zu den im Krieg bewährten Methoden, die
man den Amerikanern empfahl, gehörte speziell die »Vernehmung der aus
dem russischen Gebiet in amerikanisches Gebiet übertretenden Flüchtlinge
und entlassenen Kriegsgefangenen«. Diese sollten in Sammellagern über ihre
Beobachtungen vernommen werden. Hier könnten auch unscheinbare Details
wie die Beschriftung von sowjetischen Militärfahrzeugen, die Belegung von
Ortschaften etc. dazu beitragen, Informationen über die Dislozierung von
Truppenverbänden zu erhalten. Kämen dazu Beobachtungen von Uniformen,
die Auskunft geben zum Beispiel über Spezialverbände und Waffengattungen,
und die Auswertung der Sowjetpresse bezüglich Beförderungen und Auszeich­
nungen von Kommandeuren, könnten damit die Truppenfeststellungen bestä­
tigt werden.
Oberst Lovell besuchte Gehlen gelegentlich und informierte sich über den
Fortgang der Arbeiten. Anlässlich des Geburtstages von Major Lütgendorf am
15. Oktober traf man sich mit den US-Offizieren, die im War Department die
entsprechenden Arbeitsgebiete betreuten. Mitte November waren fast alle
Projekte abgeschlossen, mit 716 Schreibmaschinenseiten sowie 68 Karten und
Anlagen. Bei so viel Fleiß und Aufgeschlossenheit gewährten die Amerikaner
Verbesserungen bei den Unterkünften und schufen Erleichterungen für die
Deutschen. Ihnen standen drei komfortable Baracken zur Verfügung, die Ver­
pflegung war so reichlich, dass Lebensmittel und Zigaretten an die Angehöri­
gen in Deutschland geschickt werden konnten. Vormittags arbeitete man an
den Akten, nachmittags lernte man fleißig Englisch.34
Bei den Ausarbeitungen zu den strategischen Fragestellungen übernahm
Gehlen persönlich die Federführung. Wie so oft blieben ihm auch jetzt

33 Siehe Übersicht über die Tätigkeit während des ersten Arbeitsvierteljahres, 20.11.1945,
Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 70.
34 Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 142.

435
hauptsächlich Mutmaßungen über Absichten und Verhalten des Feindes. Bei
einer Studie über die »Umgliederung der russischen Kräfte in Europa nach
Kriegsbeendigung«35 ging er von der letzten Lagefeststellung durch FHO am
5. Mai 1945 aus, berücksichtigte die bisherige Presseauswertung seiner Mit­
arbeiter und die vorliegenden amerikanischen Feststellungen. Im Ergebnis
sah er sich in seiner Vermutung bestätigt, dass die Sowjetarmee dabei war,
ihre kriegsbedingte Massierung in Zentraleuropa zu verringern und 20 Pro­
zent ihrer Kräfte zur Demobilisierung in die Tiefe Ostmitteleuropas zurück­
zuführen.
Zunehmende Spannungen im Nordiran, der 1941 durch sowjetische Trup­
pen besetzt worden war, sorgten für ein verstärktes Interesse der Amerika­
ner an den Aufklärungsmöglichkeiten im Kaukasus, um Stalin zum Rückzug
zu zwingen. Hier konnte die Gruppe Gehlen mit eigenen Erfahrungen und
Informationen aus dem Krieg dienen, etwa auch mit einer Studie über die
sowjetischen Grenztruppen36 und der Ermutigung, dass nachrichtendienstli­
che Aufklärung in der Kaukasusregion besonders günstige Umstände nutzen
könne.
Inzwischen hatten sich die Amerikaner davon überzeugt, dass es sich
durchaus lohnte, die Gruppe Gehlen darauf anzusetzen, die eigenen Lagefest­
stellungen zu kommentieren und zu ergänzen. Eine Gruppe von vier US-Spe­
zialisten für die militärische Aufstellung der Roten Armee in Oberursel hatte
Verbindung mit Waldman in Washington, der die Nachrichten an die deutsche
Gruppe in Fort Hunt weitergab. Das förderte sicherlich das Selbstvertrauen
Gehlens, der den Eindruck hatte, dass der militärische Nachrichtendienst der
US-Armee hinsichtlich der UdSSR noch in den Kinderschuhen steckte. Dass er
tatsächlich vom War Department alle dort verfügbaren Informationen erhielt,
ist wohl nicht anzunehmen, aber im Tagesgeschäft der Lagefeststellung der
sowjetischen Streitkräfte in Europa spielte sich die deutsch-amerikanische
Zusammenarbeit ein und funktionierte reibungslos.
Gehlens Ehrgeiz ging natürlich darüber hinaus. Er sah sich in der einzig­
artigen Situation, als hochrangiger Vertreter des deutschen Generalstabs
die Siegermacht USA von der Nützlichkeit einer künftigen Zusammenarbeit
überzeugen zu können. In zwei Studien über die zweckmäßige Gliederung des
obersten Führungsapparates der Wehrmacht hielt er sich mit Kritik an den
früheren Strukturen und Arbeitsweisen zurück, zumindest das ihm vertraute
ehemalige Oberkommando des Heeres und speziell die Operationsabteilung

35 Studie vom 6.12.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 70.


36 Gliederung und Dislokation der NKWD-Verbände im Russisch-Iranischen Grenzraum,
29.12.1945, ebd.

436
lobte er uneingeschränkt.37 Nach seiner Einschätzung werde es aber nie eine
ideale Organisationsform geben.
»Es kommt darauf an, diejenige zu finden, welche am wenigsten Reibungen
verspricht und für schnellstes Handeln bürgt.«38 Und weiter: »Nur eine klare
und einfache Organisation, bei welcher alle Teile so klein, als nach ihrer Auf­
gabe nur möglich, gehalten werden, erlaubt schnelles und einfaches Arbeiten.«
Daneben sei eine »gründliche und gleichmäßige Durchbildung des Führungs­
körpers« notwendig, und zwar auf der höheren Ebene wie in den nachgeord­
neten Stäben. Dann könne man im »Auftragsverfahren« arbeiten. Es war ein
Idealbild, das weder die Wehrmacht unter den Bedingungen des Krieges noch
anschließend Gehlen selbst beim Aufbau seiner Organisation erreichte.39
Gehlen war seinem Naturell nach zu sehr Pragmatiker, um sich über solche
Widersprüche allzu sehr den Kopf zu zerbrechen. Er bemühte sich auch jetzt,
das Beste aus einer Situation herauszuholen, selbst wenn seine amerikanischen
Gesprächspartner offensichtlich mehr an den verwertbaren Informationen zur
Lagefeststellung interessiert gewesen sind. Gehlen ließ sich davon nicht abhal­
ten und lieferte Beurteilungen zur aktuellen militärpolitischen Lage, wohl um
zu demonstrieren, dass er der beste Kenner der sowjetischen Kriegführung
und Strategie sei. Sein Credo fasste er später in seinem Standardvortrag über
die sowjetische Operationsführung im Zweiten Weltkrieg zusammen.40
Zweifellos verfügte er über besondere Fähigkeiten, sich mit operativen Fra­
gen auseinanderzusetzen, und über einen reichen Erfahrungsschatz die Rote
Armee betreffend, die sich oft genug nicht entsprechend seinen Prognosen
verhalten hatte. Doch wie zuverlässig war diese Erfahrung, wenn es um die
Einschätzung der sowjetischen Militärpolitik unter den gegenwärtigen Bedin­
gungen, ein halbes Jahr nach Beendigung des Krieges in Europa, ging?

37 Denkschrift Gehlens: Ansichten des deutschen Generalstabes des Heeres über die deut­
sche militärische Spitzengliederung, 18.9.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 65. Ähnlich in
der Studie über Zweckmäßige Organisation des Führungsapparates der Wehrmacht auf
Grund der Kriegserfahrungen, ebd. Sie ist später offenbar auch in die Hände der Stasi
gefallen und dort überliefert unter BStU, MfS, HA IX/11, FV 5/72, Bd. 9.
38 Denkschrift vom 18.9.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 65, Blatt 9.
39 Ähnlich kritiklos haben auch andere Generalstabsoffiziere in der seit 1946 für die His­
torical Division der US Army unter der Leitung von Halder arbeitenden Gruppe geur­
teilt. Von insgesamt 2500 Studien befassten sich immerhin 66 mit dem OKH und dem
Generalstab; siehe Hackl, Generalstab, S. 12. In der Studie des ehemaligen Leiters der
Operationsabteilung, Greiffenberg (ebd., S. 113-126), hieß es schlicht, seine Abteilung
habe bestens funktioniert. Daher würden sich Verbesserungsvorschläge erübrigen. Das
demonstriert das Selbstverständnis dieser kleinen Elite in der Heeresführung, die doch
gerade einen weiteren Weltkrieg verloren hatte.
40 BND-Archiv, N 13/1.

437
Mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der ersten Evaluierung
im November hatte das War Department mehr als hundert weitere Aufträge
für die nächsten sechs Monate erteilt, die neben der order of battle der Roten
Armee in Europa jetzt auch auf die Möglichkeiten der Gewinnung von poli­
tischen und militärischen Nachrichten gegenüber der UdSSR zielten.41 Das
bedeutete eine erhebliche Herausforderung für Gehlen, der über keinen eige­
nen Apparat mehr verfügte und bis zum Kriegsende in dieser Beziehung stark
von Baun und seiner Abwehrgruppe abhängig gewesen war. Zu seinem Leid­
wesen reagierten seine Gesprächspartner um die Jahreswende 1945/46 auf
seine Vorschläge zur Errichtung eines deutschen Nachrichtendienstes unter
seiner Führung weiterhin ausweichend. Man müsse abwarten, »bis sich die
öffentliche Meinung gegenüber Deutschland beruhigt und gegenüber den Rus­
sen abgekühlt habe«.42
Das konnte dauern, denn in Nürnberg war gerade erst der Prozess gegen
die Hauptkriegsverbrecher eröffnet worden. Der ehemalige Oberbefehls­
haber des Heeres, Walther von Brauchitsch, in dessen Nähe Gehlen selbst
bis zu dessen Ablösung im Dezember 1941 gearbeitet hatte, versuchte am
19. November 1945 vor dem Internationalen Militärgerichtshof eine Ehren­
rettung der Heeresführung. In seinem Schlusswort, dessen Abschrift Gehlen
später innerhalb seiner Organisation wie ein Glaubensbekenntnis kursie­
ren ließ,43 betonte Brauchitsch, dass die überwiegende Mehrheit der älteren
Offiziere christlich erzogen worden sei. Daher wären ein Eidbruch und eine
Ermordung Hitlers nicht möglich gewesen. Andere hätten einen Bürgerkrieg
befürchtet, und es habe nicht Aufgabe der führenden Offiziere sein können,
»der Armee das Rückgrat zu brechen«. In der Stunde der höchsten Gefahr sei
die Armee also nicht in der Lage gewesen, die politische Führung in eigene
Hände zu nehmen.
Diese Rechtfertigung der Männer, die sich wie Gehlen dem militärischen
Widerstand verweigert und Hitlers Kriegführung bis zum bitteren Ende mit­
gemacht hatten, trug nicht gerade dazu bei, das Ansehen der Wehrmacht zu
retten. Der Generalstab des Heeres blieb gleichsam auf der Anklagebank und
es fehlte damals nicht viel und er wäre zu einer verbrecherischen Organisation
erklärt worden.44 In dieser Situation wäre es politisch fatal gewesen, bekannt­
zugeben, dass es eine letzte arbeitsfähige Einheit der Wehrmachtführung gab,
die im Dienst der US-Armee stand.

41 Siehe Übersicht über die bisherige Tätigkeit der B-Gruppe, 5.5.1946, Gehlen-Kisten,
Mappe Nr. 70.
42 Gehlen, Der Dienst, S. 118.
43 Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 63.
44 Siehe den Überblick von Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse, München 2006.

438
Hermann Baun, 1945

Die amerikanischen Militärs testeten vorerst, welchen Nutzen sie aus den
verschiedenen Angeboten hochrangiger deutscher Kriegsgefangener ziehen
könnten. Im europäischen Hauptquartier zeigte man sich im Herbst 1945 aus
Sorge vor einer wachsenden kommunistischen Unterwanderung auch der
westlichen Besatzungszonen daran interessiert, die eigenen Fähigkeiten zur
Gegenspionage auszubauen. Zuständig war das Counter Intelligence Corps
(CIC) des G-2 USFET mit Sitz in Frankfurt am Main. Also suchte man nach
brauchbaren ehemaligen Angehörigen von Gestapo, Sicherheitsdienst, Gehei­
mer Feldpolizei und zugleich auch nach ehemaligen Abwehroffizieren, die in
der Lage sein könnten, gegen den sowjetischen Nachrichtendienst zu arbeiten.
Der Blick richtete sich dabei nicht zwangsläufig auf die militärischen Lage­
bearbeiter des General Gehlen. Mit Baun verfügten die Amerikaner, so glaub­
ten sie, über einen geeigneten Fachmann. Hier beginnt die erste Legende, die
Gehlen später um die Entstehung seiner Organisation gesponnen hat. In sei­
nen Memoiren behauptete er, dass er von amerikanischer Seite im Dezember
1945 das Angebot erhalten habe, die Gegenspionage in kleinem Maßstab durch
die ihm unterstehende Gruppe Baun freizugeben, also »die ersten Anfänge
einer aktiven Arbeit einzuleiten«.45 Aber war ihm Baun tatsächlich unterstellt
und arbeitete dieser nach seinen Anweisungen? Der im Rahmen der UHK-For­
schungen zugänglich gewordene Briefwechsel Gehlens aus dieser Zeit zeich­
net ein anderes Bild.46

45 Gehlen, Der Dienst, S. 116.


46 Der komplette Schriftwechsel ist enthalten in: Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69. Einzelne
Briefkopien aus dem Schriftwechsel finden sich auch im BND-Archiv, und zwar in der
»Chronik« sowie im Nachlass Wessel.

439
Nachdem Gehlen und Baun im April 1945 in Bad Elster vereinbart hatten,
auf getrennten Wegen mit den Amerikanern Kontakt aufzunehmen und die
Zusammenarbeit nach Möglichkeit später fortzusetzen, war auch Baun – nach
Gehlen – in US-Gefangenschaft gegangen. Dank glücklicher Umstände konnte
er bis Ende Juli unmittelbare Verbindungen zu Angehörigen seiner Gruppe
aufrechterhalten. Das ermutigte ihn, den G-2-Offizieren, die ihn im Verneh­
mungszentrum Freising aufgesucht hatten, zwei ausführliche Vorschläge für
eine Wiederaufnahme der Tätigkeit seiner Gruppe zu unterbreiten.47 General
Sibert sorgte unter größter Geheimhaltung für die Verlegung von Baun nach
Oberursel, wo dieser – während Gehlen zur gleichen Zeit in den USA militä­
rische Ausarbeitungen erstellte – den Aufbau eines im US-Auftrag gegen die
UdSSR arbeitenden deutschen Nachrichtendienstes plante.48 Dabei dürfte er
gar keine Kontakte mehr zu Agenten in der Sowjetunion besessen haben, die
er hätte aktivieren können. Bauns Versuch, wieder eine Verbindung zu dem
exilrussischen General Anton W. Turkul zu knüpfen, der die Abwehr im Krieg
mit gefälschten Nachrichten beliefert hatte, schlug fehl, weil dieser inzwischen
für eine CIC-Einheit in Salzburg arbeitete. Falls dieser – wie Baun annehmen
musste – seine vermeintlichen Quellen in der UdSSR für eine andere Einheit
des US-Geheimdienstes aktivieren sollte, müsste der Wert eines von Baun
oder Gehlen wieder aufgebauten deutschen Geheimdienstes in den Augen von
Sibert als zweitrangig erscheinen.
Baun verlegte sich deshalb darauf, Turkul mit frei erfundenen Behaup­
tungen als sowjetischen Doppelagenten zu denunzieren.49 Briten und Ame­
rikaner gingen solchen Gerüchten nach. Sie fanden aber weder gegen Turkul
noch bei seinem exilrussischen Mitarbeiter Longin Ira und Richard Kauder,
die zu dem Trio gehörten, das Gehlen während des Krieges mit Nachrichten
versorgt hatte und die sich inzwischen in alliierten Händen befanden, Beweise
für eine wissentliche oder unwissentliche Steuerung durch den sowjetischen
Geheimdienst. Dieser versuchte vergeblich, Kauder zu entführen, denn auch
in Moskau hielt man es für durchaus möglich, dass sich die »Max«-Berichte
der deutschen Militärspionage auf ein feindliches Agentennetz gestützt haben
könnten. Ein Jahr später legten Baun und Gehlen noch einmal nach. Ihre

47 Die Entwicklung des »Geheimen Meldedienstes« in der Zeit vom Ende des 1. bis zum
Abschluß des 2. Weltkrieges (12 Seiten u. Anlagen mit Organigrammen) sowie eigen­
händige Skizze des Lebenslaufes von Baun und Vorschlag für eine Arbeit in der Zukunft;
Die sowjetische Agentenabwehr und Gegenspionage im Operationsgebiet der Ostfront,
verfilmte Studie aus dem Jahre 1943 mit zahlreichen Anlagen, Gehlen-Kisten, Mappe
Nr. 80.
48 Meyer, Klatt, S. 889.
49 Ebd., S. 893-894.

440
eigene frühere Abhängigkeit von den Funksprüchen Kauders (»Klatt«) aus
Sofia verschwiegen sie wohlweislich und räumten ein:

Bei den meisten Nachrichten aus diesen Quellen (Turkul-Klatt) stellte sich
heraus, dass sie aus Zeitungs-, Rundfunk- oder Situationsberichten von
Feindlage-Offizieren stammten. Sie passten in den Rahmen der situativen
Entwicklung und wurden von dieser bestätigt. Diesen Berichten mangelte
es an eindeutigen und detaillierten Informationen oder sie enthielten nur
solche Details, die den Berichten Glaubwürdigkeit verleihen, aber nicht über­
prüft werden konnten. Deswegen hatten die Berichte von Turkul und Klatt
keine größere Bedeutung. Ihre Bewertung könnte mit einem Nutzen von
30 Prozent angegeben werden.50

Baun hatte Ende 1945 die Genehmigung zu einigen Reisen erhalten, um die
Verbindungen zu seinen eigenen Leuten aus der Abwehr zu knüpfen. Er schlug
vor, seine Organisation innerhalb von sechs Monaten auf die Beine zu stellen.
Die Zentrale sollte in Südamerika oder im Fernen Osten angesiedelt werden,
mit Anlaufstellen in Argentinien. Sein ständiger Vertreter würde die Zentrale
führen mit einer Organisationsabteilung, einer Personalabteilung, Kasernen­
verwaltung, Funkzentrale, Melde-Sammelstelle, Ausbildungsschule, Funkern
und Hauptagenten sowie einer Kontrollorganisation. Stützpunkte sollten in
China, Afghanistan, dem Iran, der Türkei jugoslawien, Italien, Spanien, Frank­
reich, Deutschland, Österreich, England und Schweden aufgebaut werden.
Dazu wäre eine Finanzierung von etwa 40 Millionen Dollar nötig, außerdem
Mittel für den Ankauf von Gelände, Gebäuden und Material.
Baun selbst wollte einen Sitz in getarnter Form in unmittelbarer Nähe des
»Kunden« USA einrichten, mit einem kleinem Stab, einer Sichtungsstelle für
militärische, wirtschaftliche und politische Berichterstattung, einer Funk­
station und Flugzeugen für eine Kurierstaffel. Während Gehlen in den USA
Lagekarten studierte und darauf hoffte, mit seinen strategischen Überlegun­
gen Gehör zu finden, machte sich Baun bereits sehr konkrete Gedanken über
eine Presse- und Rundfunkauswertung, über einen geheimen Haushalt und
die mögliche Gliederung einer Agentenleitstelle, Möglichkeiten zum Aufzie­
hen eines beweglichen Agentennetzes und vorbeugenden Geheimschutz, etwa
durch die Tarnung als Wanderzirkus, Reiseleiter und Wandervereine sowie
über mögliche Wege, um in den fremden Nachrichtendienst unmittelbar ein­
zudringen.

50 Operation Rusty, Counter Intelligence Report No. 53, 8.11.1948, zit. nach: ebd., S. 916.

441
Colonel Philp, Commanding Officer
Camp King, danach in Pullach, sowie
Jo-Ann und Eric Waldman, 1949

Im September 1945 traf Baun Gehlens Statthalter Wessel in einem Verhör­


zentrum in Oberursel bei Frankfurt am Main. In Camp King, einem ehemaligen
Durchgangslager der Luftwaffe für gefangene alliierte Piloten, nahmen beide
die Zusammenarbeit auf, was praktisch bedeutete, dass Baun mit dem Aufbau
seiner »Organisation X« unter amerikanischer Aufsicht begann. Er war gegen­
über dem gleichrangigen Wessel, der noch keinen Kontakt zu seinem General
hatte, der aktiv Handlungsfähige. Vorrangige Maßnahme war die Suche nach
geeigneten Mitarbeitern, um erste Außenstellen zu besetzen, sogenannte
Generalvertretungen (GV). Die wichtigste wurde in Karlsruhe unter dem frü­
heren Abwehroffizier Alfred Benzinger geschaffen. Sie nahm später in der Org
eine herausragende Position ein und wurde zum wichtigen Einfallstor für ehe­
malige Nazis, denn ihre erste Aufgabe war entsprechend den amerikanischen
Wünschen die Gegenspionage.
Bauns Organisation wurde aus dem Lagerkomplex herausgelöst und einem
eigenen Projektoffizier unterstellt: Lieutenant Colonel John R. Deane jr. Bauns
Stab bezog zusammen mit Deane in der Nähe des Lagers ein abgelegenes Haus,
das wegen seines Anstrichs den Decknamen »Blue House« erhielt. Schritt­
weise wurden im Herbst 1945 Mitarbeiter angeworben und im Raum Frankfurt
untergebracht. Doch die grundsätzliche Zustimmung aus Washington stand
noch aus, daher lagen die weiteren Reisepläne von Baun beim CIC auf Eis. Die
Amerikaner zeigten sich besorgt, dass er durch seine Kontakte bereits enttarnt
sein könnte.

442
Das »Blue House« in Oberursel, ca. 1947

Unterdessen hatte Baun Gelegenheit gefunden, Gehlen einen Brief zukom­


men zu lassen, in dem er ihn über die laufende Entwicklung unterrichtete.51 Er
sei hinsichtlich der weiteren Arbeit noch nicht festgelegt, sodass er in der Lage
sei, den »Wünschen« des sehr geehrten Herrn Generals und der amerikani­
schen Herren noch zu folgen. Seine Organisation solle aber nicht militärisch
aufgebaut sein, sondern als rein wirtschaftliche Unternehmungen im Ausland
getarnt werden. Alle Mitarbeiter könnten dann an ihrem Bestimmungsort mit
anderen Namen und ausländischen Papieren auftreten. Er habe immer wieder
klargestellt, dass er nicht bloß die wichtigsten V-Männer organisieren wolle,
sondern der »Leiter des Netzes des geheimen Meldedienstes im Osten« sein
werde. Wessel sei über seine Pläne informiert. Beide hofften, mit Gehlen am
Jahresende sprechen zu können.
Drei Tage später ist ein Brief von Wessel an Gehlen datiert.52 Der gesamte
Briefwechsel gewinnt seinen besonderen Informationswert, weil hier die bei­
den künftigen BND-Präsidenten in den ersten Monaten unter amerikanischer
Ägide um die Weichenstellung für einen deutschen Nachrichtendienst gerun­
gen haben. In seinem ersten Schreiben berichtete Wessel davon, dass er mit

51 Baun an Gehlen, 27.10.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.


52 Wessel an Gehlen, 30.10.1945, ebd.

443
Gehlen, Waldman und Paul Laser, War Department Civilian, 1946

seiner kleinen Gruppe Ende August von Wiesbaden nach Oberursel verlegt
worden sei. Man habe mit den amerikanischen Herren ein nettes Haus allein
zur Verfügung gehabt, samt einem Stadtausweis, sodass kein Gefangenenge­
fühl entstanden sei.
Kein Wunder also, dass Gehlen nach dieser Information darauf drang, in
seinem Lager bessere Bedingungen zu erhalten. Als man ihm eine Verlegung
in das Camp Ritchie anbot, lehnte Gehlen aber ab. In dem Ausbildungslager
für Propaganda und psychologische Kriegführung waren während des Krieges
etwa 20.000 Rekruten, hauptsächlich deutsche und österreichische Emigran­
ten, darunter viele Juden, ausgebildet worden.53 Man könne seinen Mitarbei­
tern nicht zumuten, vielleicht erkannt zu werden und dann später nach Rück­
kehr ins Zivilleben Nachteile zu erleiden.54
Waldman, der vermutlich selbst in Camp Ritchie ausgebildet worden war,
sorgte daraufhin wie erwähnt für ähnliche Erleichterungen, wie sie Wessel in
Deutschland genießen konnte. Die Gruppe wohnte nun in zwei kleinen Häu­
sern im Wald, und in Begleitung eines amerikanischen Offiziers durfte Gehlen

53 Siehe dazu Christian Bauer und Rebekka Göpfert: Die Ritchie Boys. Deutsche Emigran­
ten beim US-Geheimdienst, Hamburg 2005.
54 Gehlen an Oberst Lovell betr. Erwartungen zum Camp Ritchie, 8.11.1945, BND-Archiv,
N 13/1.

444
mit seinen Leuten gelegentlich nach Washington fahren, Einkäufe tätigen und
sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt erklären lassen.55
In seinem ersten Bericht an Gehlen wurde erkennbar, was Wessel bis zum
Jahresende stark beschäftigte. Es war seit September das Projekt der Familien­
verlegung. Baun plante eine Evakuierung ins Allgäu, wofür er aber erst nach
Wochen die Erlaubnis erhielt. Für November, so Wessel weiter, sei ein Flug
nach Washington geplant, um ihn und Baun zusammen mit den Unterlagen
in die USA zu bringen. Man sei von den Verhältnissen in Deutschland völlig
abgeschlossen. Es solle einige Geheimorganisationen kommunistischer und
nationalsozialistischer Prägung geben, die Überfalle auf die Besatzungsmacht
durchführen wollten. »Ich glaube, dass der Kommunismus mit allen Mitteln
versuchen wird, auf innenpolitischem Wege an die Macht zu kommen, woge­
gen die anderen Parteien nichts Nennenswertes werden unternehmen können.
Die Masse des Volkes scheint weiterhin apathisch zu sein und sich treiben zu
lassen.«56 Wessel hoffte »auf ein frohes Wiedersehen« in drei oder vier Wochen.
Gehlen musste alarmiert sein, dass Baun zu seinen Lasten das Rennen
bei den Amerikanern machen könnte. Er ließ umgehend eine eigene Studie
»Gegenwärtige Möglichkeiten der Gewinnung von politischen und militäri­
schen Erkenntnissen und Auflistung von möglichen Fragestellungen der Auf­
klärung hinsichtlich der SBZ, Polens und des Ostseeraums« anfertigen – also
sehr viel »bescheidener« als das Programm von Baun. Das entsprach eher den
Vorstellungen des Kriegsministeriums in Washington, das verständlicherweise
zögerte, Bauns umfassende Pläne zu genehmigen und lediglich die Aufklärung
in West- und Mitteleuropa gestattete.57
Gehlen reagierte auch auf das vorrangige Interesse der Amerikaner an der
Gegenspionage. Die westlichen Besatzungszonen, so führte er aus, bedürften
»sorgfältiger Beobachtung der propagandistischen Beeinflussung und kom­
munistischen Durchdringung dieses Raumes«. Wie wollte er das mit seiner
Gruppe bewerkstelligen, die derzeit lediglich Zeitungen auswerten konnte?
Gehlen verwies schlicht auf die Gemeindewahlen in Deutschland, die er als
Gradmesser des sowjetischen Einflusses bewerten wollte. Außerdem könnte
die sowjetische Kritik an alliierten Kontrollmaßnahmen Hinweise darauf
geben, welchen Kurs die UdSSR einschlagen wolle, wobei man allerdings in
Rechnung stellen müsse, dass Moskau häufig die Absicht verfolge, Verwirrung
zu stiften und diese für sich zu nutzen.58 Diese allgemeinen Ratschläge dürften
für die Amerikaner wenig hilfreich gewesen sein.

55 Gehlen, Der Dienst, S. 166.


56 Wessel an Gehlen, 30.10.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.
57 Anweisung vom 10.12.1945, zit. nach: Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 109.
58 Studie Nr. 3, 2.11.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 81.

445
Welchen Vorrang für Gehlen die Regelung seiner familiären Verhältnisse
hatte, zeigt seine Antwort auf Wessels ersten Bericht. Es lag Gehlen daran,
dass sich bei einer Verlegung die Situation für seine Familie mit vier kleinen
Kindern nicht weiter verschlechtern dürfe. Er wünschte sich für sie eine eigene
Kochgelegenheit, da nach seiner Meinung hier unter Frauen der häufigste
Reibungsgrund entstehe. Seine Frau solle eine angenehme Umwelt erhalten,
keinesfalls eine neue Unterkunft außerhalb der amerikanischen Zone. Geh­
lens zweite Bitte gegenüber Wessel betraf Therese von Lüttwitz, eine Jugend­
bekannte, durch die er seine Frau kennengelernt hatte. Sie war die Patentante
seiner dritten Tochter und eine »Schlüsselkraft« bei FHO gewesen. Sie kenne
seine Gedankengänge. Gehlen plagte die Sorge, sie könnte wegen ihrer kranken
Mutter in die Sowjetzone gehen.59
Erst zwei Wochen später reagierte der General auf die dienstlichen Pro­
bleme. In einem weiteren Brief an seinen Vertreter in Oberursel erklärte er sich
mit den Vorschlägen von Baun und Wessel einverstanden.60 Er werde versu­
chen, das bei den Amerikanern durchzusetzen, und sei bereit, wenn gewünscht,
für einige Jahre selbst in dem von Baun gedachten und beabsichtigten Rahmen
mitzuarbeiten. Dagegen behauptete Gehlen später in seinen Memoiren, Baun
sei vom CIC bis 1949 nicht über seine weiter gehenden Gedankengänge ins
Bild gesetzt worden.61 Baun habe daher eigenständige Pläne für die künftige
Aufklärungsarbeit nach dem Vorbild der Canaris-Organisation von 1940 ent­
wickelt. Beschaffung und Auswertung sollten unabhängig voneinander organi­
siert werden. Das habe, so Gehlen später, nicht seinen eigenen Absichten ent­
sprochen – was durch seinen Brief vom 15. November 1945 als Verschleierung
der damaligen Verhältnisse widerlegt wird. Auch seine Behauptung, Bauns
Lösungsvorschlag habe nicht den Vorstellungen von G-2 USFET entsprochen,
ist definitiv falsch, wie der weitere Verlauf der Entwicklung zeigte.
Gehlen dachte Ende 1945 vielmehr daran, Baun und seinen im Entstehen
begriffenen Apparat gleichsam zu unterwandern. Er wies Wessel an, darauf zu
achten, dass nur solche Mitarbeiter gewonnen werden, die gemäß den früher
mit ihm oft besprochenen Grundgedanken »bis in das letzte Winkelchen ihrer
Seele überzeugt sind«. Wenn jetzt Leute herangezogen werden, dann solle
Wessel ihnen unter Berufung auf Gehlen diese Gedanken genau auseinander­
setzen. Er selbst mache nur Personen namhaft, deren »innerer Gefolgschaft«
er sich ganz sicher sei, damit sei die Gewähr gegeben, »dass niemand beteiligt
ist, der nicht aus vollem Herzen mitmacht«.62

59 Gehlen an Wessel, 15.11.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.


60 Gehlen an Wessel, 28.11.1945, BND-Archiv, N 1/1.
61 Gehlen, Der Dienst, S. 122.
62 Gehlen an Wessel, 28.11.1945, BND-Archiv, N 1/11.

446
Gehlen hoffte also offenbar darauf, dass Wessel die Schlacht gegen Baun
für ihn eröffnete, indem er sich um die Auswahl und Motivation des Perso­
nals kümmerte. Woher Gehlen den Optimismus nahm, dass statt der obsku­
ren Nachrichtenhändler, Abenteurer und Haudegen Bauns genügend anti­
kommunistische »Idealisten« für die künftige Organisation gewonnen werden
könnten, blieb sein Geheimnis. Ob ehemalige Angehörige von FHO bzw. aus
dem Kreis der Ic-Offiziere für eine Mitarbeit empfänglich waren, musste sich
erweisen. Es war aus Sicht Gehlens klar: Am wichtigsten sei es, die künftigen
Mitarbeiter auf seine Person einzuschwören. Deshalb wiederholte er in seinem
Brief an Wessel seinen Grundgedanken.
Die Lage Deutschlands und Europas sei ohne Parallele. Wie 1943 bespro­
chen, habe der Krieg in die totale Niederlage geführt. Ein Wiederaufstieg
Deutschlands zu einem selbstständigen Faktor der europäischen Politik sei
in den nächsten 50 Jahren nicht möglich. Die Zeit der Nationalstaaten sei in
Europa zugunsten eines Zusammenschlusses von Staaten des gleichen Kul­
turkreises und Wirtschaftsraumes vorbei. Und weiter: Deutschland habe ein
Drittel seiner Volks- und Wirtschaftskraft nahezu verloren. Slawentum und
Kommunismus, »beides Erscheinungsformen der gleichen Ursache« (was
meinte er wohl damit?), hätten Europa bis zur Elbe gewonnen. Es gelte, die
verbleibende Substanz des deutschen Volkes zu erhalten und in seine Aufga­
ben im westlichen Kulturkreis einzuarbeiten. Man müsse sich eindeutig für
den Westen entscheiden, anderenfalls würde Deutschland unter dem Kommu­
nismus im Slawentum aufgehen. Die USA würden der künftig entscheidende
Faktor der Weltpolitik sein.
»Ich bin Optimist und glaube durchaus, daß noch die Chance besteht, daß
ein neues, besseres Deutschland, wenn auch in bescheidenem Rahmen, wie­
derersteht.« Sollte es anders kommen und Deutschland kommunistisch wer­
den, »wird darin kein Platz für uns sein«. Ein solches Deutschland wäre mit
anderem Mäntelchen nichts anderes als das nationalsozialistische der letzten
Jahre. In der Bereitschaft zur bedingungslosen Kooperation mit dem Westen
dürfe man sich also durch nichts beirren lassen, auch wenn man manches,
was »auf dem politischen Brett« geliefert werde, runterschlucken müsse, was
einem »national gesinnten Deutschen schwer« ankomme. Es gebe überhaupt
nichts, was sie beirren dürfe, solange ihre persönliche Ehre nicht berührt sei.
Das alles sei für Wessel nichts Neues.
Es komme jetzt darauf an, das auf beiden Seiten entstandene Vertrauen
durch beste und gründlichste Arbeit, wie aus der alten Abteilung gewohnt,
weiter zu festigen. In seinen Akten habe er Unterlagen über die Gliederung des
Ic-Dienstes im Osten aus dem Jahre 1943 gefunden. Die werde Baun gebrau­
chen können. Er lege sie bei mit der Bitte um spätere Rückgabe, ebenso einige
Abwehrunterlagen, etwa über den Verdacht gegenüber der berühmten Film­

447
Schauspielerin Zarah Leander, für den Moskauer Geheimdienst zu arbeiten,
über russische Konzentrationslager und eine Liste führender Männer im geg­
nerischen Nachrichtendienst.
Dann berichtete Gehlen über die bisherigen Gespräche in den USA und
vergaß nicht, familiäre Angelegenheiten anzusprechen. Er bat darum, seinen
Bruder Johannes aufsuchen zu lassen, der mittellos in einem Krankenhaus in
Heidelberg liege und eine geringe Hoffnung auf Verwendung in den USA habe.
Vielleicht könne Wessel ihn beschäftigen. Er solle unbedingt die Adresse von
Fräulein von Lüttwitz ermitteln, die einen vollständigen Überblick über Perso­
nalien und Verhältnisse in der früheren Abteilung FHO habe und vielleicht bei
Baun arbeiten könne.

So mein Lieber, nun will ich schließen. Wir werden unseren Weg in der
erprobten Kameradschaft und persönlichen Verbundenheit weitergehen,
machen Sie Ihre Sache, bis wir uns Wiedersehen, weiter so gut. In herzlicher
Freundschaft grüßt Sie stets Ihr Fritz.63

Diese ungewöhnliche Ansprache des sehr viel jüngeren Stellvertreters zeigt,


wie emotional Gehlen an dieser Verbindung hing, weil er selbst im fernen
Amerika isoliert und seine Lage zwar nicht hoffnungslos, aber im Augenblick
äußerst undurchsichtig war.
Einen Tag später wandte sich Gehlen mit einem Brief direkt an Baun, der
sehr förmlich gehalten war. Man habe sich seit der letzten großen Besprechung
in Bad Elster nicht mehr gesehen. Er danke ihm für »die treue und aufopfe­
rungsvolle Arbeit in den letzten drei Jahren. Das Gefühl, auf diesem innenpo­
litisch heiklen Gebiet einen Mitarbeiter von so hohen charakterlichen Qua­
litäten und so unbedingter Gefolgschaftstreue zu haben, hat mir diese Zeit
leichter gemacht.« Gehlen dankte für die Hilfe bei der Flucht seiner Familie aus
Schlesien und sandte Glückwünsche zur Heirat Bauns in den letzten Kriegs­
tagen.64 Es war der durchsichtige Versuch Gehlens, den rangniedrigeren Baun
wieder »in die Reihe« zu zwingen, wohl wissend, dass es mit Bauns »Gefolg­
schaftstreue« nicht weit her war, ebenso wie mit dessen »charakterlichen Qua­
litäten«.
Die zunehmenden Spannungen innerhalb der früheren Kriegsallianz und
speziell die Zuspitzung im Nordiran, wo Stalin seine Truppen nicht zurückzie­
hen wollte, ließen Gehlen darauf hoffen, mit seinen strategischen Erfahrungen
bei den Amerikanern stärker Gehör zu finden. In einer Studie über »Russische

63 Gehlen an Wessel, 28.11.1945, BND-Archiv, N 1/1. »Fritz« war der Codename von Gehlen.
64 Gehlen an Baun, 29.11.1945, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.

448
Operationsmöglichkeiten nach Westen im mitteleuropäischen Raum« kam er
zu dem Ergebnis, dass aus ihrer defensiven Aufstellung heraus die Rote Armee
ausreichend stark sei, um mit Aussicht auf einen schnellen Erfolg den Kampf
mit den derzeitigen Besatzungskräften der Westmächte aufnehmen zu kön­
nen. Er glaube allerdings nicht, dass Russland in baldiger Zukunft einen Kon­
flikt mit den USA und Großbritannien suchen werde.65
Nicht zuletzt mit Blick auf die Spannungen im Kaukasus ließ er nach seinem
früheren Mitarbeiter und Stabschef der Wlassow-Armee, Oberst Heinz Danko
Herre, suchen, der dann im März 1946 in Fort Hunt eintraf und von Gehlen
sofort zu seinem Stellvertreter ernannt wurde. Außerdem sorgte er dafür, dass
der aus seiner Sicht erfahrenste deutsche Russlanddiplomat, Gustav Hilger, zu
seiner Gruppe stieß. Zur Jahreswende verfasste Gehlen noch einmal einen sehr
persönlichen und emotionalen Brief an Wessel,66 denn er spürte offenbar die
Unsicherheit der Entwicklung in Oberursel, und nur über Wessel konnte er
versuchen, Einfluss zu nehmen.
Am Silvesterabend habe er an ihn gedacht, so begann der General und
berichtete dann von der Weihnachtsfeier mit den Amerikanern, die sehr kame­
radschaftlich und harmonisch verlaufen sei. Kleine Weihnachtsgeschenke
waren vorbereitet worden, und am Heiligen Abend begann die Feier mit einem
Weihnachtslied, dann habe er die Weihnachtsgeschichte vorgelesen und seine
persönliche Ansprache angeschlossen. Der Weihnachtsmann habe mit geist­
reichen Sprüchen die Geschenke verteilt.
Gehlen machte sich jetzt vermehrt Gedanken um die Gewinnung von
Personal. Bei allen Kandidaten setze er auf persönliche Zuverlässigkeit und
Belastbarkeit. Es würden insbesondere Hilfskräfte fehlen, wofür man früher
weibliches Personal zur Verfügung hatte. Das ginge natürlich jetzt nicht ohne
Weiteres. Deshalb machte Gehlen Vorschläge für die Anwerbung und Unter­
bringung von weiblichen Hilfskräften, obwohl er kaum Einblicke in die derzei­
tigen Verhältnisse in Deutschland hatte. Er fügte eine Liste mit Personen bei,
deren Aufenthalt festgestellt werden sollte.
Bemerkenswert an dem Schreiben sind vor allem seine Überlegungen, ob
man die eigenen Familien vorsorglich in die Auswandererliste bei einem US-
Konsulat eintragen lassen sollte. Bei einer Jahresquote von 27.000 Auswande­
rern komme es darauf an, die eigenen Familien möglichst weit vorn auf der
Liste zu platzieren. Dieses Kontingent sei zwar eigentlich für Opfer des NS-
Regimes gedacht, aber vielleicht ließe sich mit den Amerikanern klären, wie
die Hindernisse aus dem Weg geräumt werden könnten. Gehlen befürchtete

65 Studie B-16 (vermutlich Anfang 1946), Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 70.


66 Gehlen an Wessel, 2.1.1946, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.
aber, »solange die Dinge in Nürnberg nicht geklärt sind, wird das wohl schwie­
rig bleiben«.
Es zeigt sich, dass Gehlen angesichts der unsicheren politischen Verhält­
nisse einen möglichen Konflikt zwischen den Besatzungsmächten nicht völlig
ausschließen wollte und daher an die Sicherheit seiner erst vor einem Jahr aus
Schlesien vor der Roten Armee geflohenen Familie dachte. Die Skrupellosig­
keit, sich einen persönlichen Vorteil zulasten von NS-Opfern verschaffen zu
wollen, spricht für sich. Schließlich wird klar, dass er sich der Bedeutung des
Nürnberger Prozesses bewusst gewesen ist, auch wenn er ihn – wie sich später
zeigen sollte – zumindest im Hinblick auf die Anklagen gegen die Wehrmacht­
führung ablehnte.
An der Jahreswende 1945/46 war nicht nur für Gehlen völlig offen, wie es
mit seinen Plänen weitergehen sollte. Die Zuständigkeiten und Kompetenzen
innerhalb des amerikanischen Nachrichtendienstes schienen völlig undurch­
schaubar, was durch den Wechsel seiner Ansprechpartner noch erschwert
wurde. Es dauerte eine Zeit, bis sich mit der Aufstellung der Central Intelli­
gence Group, einem Vorläufer der CIA, eine gewisse Klärung abzeichnete. Für
Baun stellte sich die Situation ähnlich undurchsichtig dar. Gehlen saß zwar
mit seiner kleinen Gruppe im Zentrum der Macht, wo die weltweite Spionage
der USA organisiert wurde, musste sich aber hauptsächlich auf militärische
Lagefeststellungen beschränken und damit dem militärischen europäischen
Hauptquartier in Frankfurt zuarbeiten. Dort wiederum saß Baun, der dem CIC
kaum handfestes Material liefern konnte und am liebsten von Washington aus
ein globales Spionagespiel betrieben hätte.
Mitte Januar 1946 beklagte er in einer Aktennotiz, dass er Schwierigkeiten
habe, mit den Amerikanern ins Spiel zu kommen, die kein sonderliches Inte­
resse zeigten, ihn gegen die Russen im großen Stil aufklären zu lassen und
stattdessen darauf drängten, in der Gegenspionage aktiv zu werden, was frei­
lich nicht Bauns Metier war.67 So oder so, ohne Geld würde ohnehin nichts
gehen, und daran mangelte es nach wie vor. Seine Pläne, durch die Gründung
von getarnten Wirtschaftsunternehmen Geld für die Spionagetätigkeit zu
beschaffen, lagen auf Eis. So erwärmte sich auch Baun für den Gedanken, einen
vorsorglichen Transfer der Familien in die USA zu organisieren, »bei Zurück­
lassung der kämpfenden Teile in Europa«. Es war also nur an die Familien des
Führungspersonals gedacht, um dann bei einem möglichen Rückzug der Ame­
rikaner aus Europa von Washington aus die Feindaufklärung steuern zu kön­
nen. Dabei setzte Baun unter anderen auf seinen ehemaligen Schulkameraden

67 Aktennotiz betr. Org. X, 15.1.1946, BND-Archiv, N 11/2. Kommentare dazu im Nachlass


Graber, BND-Archiv, N 4/15.

450
Dr. Roman Schellenberg, mit dem er das Gymnasium in Odessa besucht hatte.
Als Ingenieur bei Rheinmetall hatte Schellenberg angeblich Mitte der 1920er-
Jahre ein Abkommen mit den Russen zur Ausbildung deutscher U-Boot-Besat­
zungen im Schwarzen Meer abgeschlossen. Nun sollte er für das Erstellen von
Exposes zuständig sein, denn in der Abfassung von schön formulierten Aus­
arbeitungen verfugte Baun nicht über die Erfahrung des General Gehlen.
Die geplante Evakuierung der Familien bezog Gehlen zunächst ganz kon­
kret auf seinen Bruder. Er wollte ihn unbedingt in den USA bei sich haben.
Der Physiker Johannes verfugte zwar weder über militärische noch über nach­
richtendienstliche Erfahrungen, aber er hatte gute Englischkenntnisse. Mitte
Januar 1946 fand Wessel Gelegenheit, auftragsgemäß mit zwei US-Offizieren
Gehlens Bruder in Heidelberg aufzusuchen. Dieser machte jedoch auf die drei
Besucher einen ausgesprochen negativen Eindruck. Er wirkte egoistisch und
unsolide. Die Amerikaner gelangten zu dem Schluss: »Der würde nur Herrn
Gehlen und seiner Gruppe in den Staaten schaden.«
Wessel vermittelte in dem Fall und sorgte dafür, dass Johannes Gehlen von
Baun und seiner Beschaffungsorganisation betreut und versorgt wurde. Die
beabsichtigte Unterbringung in Schweden, Johannes’ Ehefrau war Schwedin,
und die Übertragung nachrichtendienstlicher Aufgaben scheiterten, weil die
schwedische Regierung eine Einreisegenehmigung verweigerte.68 Als Reinhard
Gehlen im Sommer nach Deutschland zurückkehrte, gelang es ihm, seinen
Bruder illegal nach Italien zu schaffen, der eigentlichen Heimat von Johannes.
Er wurde mit zwei Begleitern, ehemaligen Gebirgsjäger-Offizieren, nach dem
Grenzübertritt am Hirzer in Südtirol (Französische Zone) entdeckt, verhaftet
und ins Gefängnis nach Bozen und Mailand gebracht. Nach Intervention der
Amerikaner ließen ihn die Italiener frei und Johannes schlug sich ohne Papiere
nach Rom durch. »Onkel« Ferdinand Thun-Hohenstein übernahm ihn als per­
sönlichen Sekretär an der Spitze des Malteserordens. Mit dem Auftrag, sich um
die Wiederanknüpfung der internationalen Verbindungen zu kümmern, war
Johannes fortan eine scheinbar wertvolle Sonderverbindung. Kurierin wurde
eine schwarzhaarige italienische Schönheit, die sich in einen der ehemaligen
Soldaten verliebt hatte und ihn heiraten wollte, wie sich Siegfried Graber erin­
nerte.69
Im Frühjahr 1946 war es Gehlen immer noch nicht gelungen, von Fort Hunt
aus die eigenen Pläne voranzutreiben. Über seinen Betreuer Captain Wald­
man konnte er hoffen, eine »Brücke des Verständnisses« zu schlagen, um sich
in Washington als der Mann zu präsentieren, der scheinbar über den großen

68 Tagebuch Wessel, 16.1.1946, BND-Archiv, 42507.


69 Erinnerungen Grabers, S. 42, BND-Archiv, N 4/15.

451
Überblick verfügte und auch einiges zur Gegenspionage zu sagen hatte, die
den Amerikanern so am Herzen lag. Gehlen fertigte also eine Studie über »Die
Probleme der westlichen Besatzungszonen Deutschlands im Lichte der russi­
schen Ziele« an.70 Es gehe ihm darum, zu verhindern, schrieb er, dass am Ende
der gegenwärtigen Entwicklung ein kommunistisches Deutschland stehe.
In Ostdeutschland werde die kommunistische Idee unter Benutzung und
Umdrehung von Gedanken der NS-Lehre in eine von der russischen Version
etwas abweichende Form des Kommunismus gebracht. Eifrig seien die Rus­
sen bemüht, alle Bevölkerungskreise für sich zu gewinnen, und sie betrieben
einen energischen Wiederaufbau, wofür Gehlen einige Beispiele vom Hören­
sagen nannte. Die sowjetische Umerziehungspolitik könne sich der gleichen
Mittel bedienen wie der Nationalsozialismus. Die Demokratisierung im Wes­
ten müsse dagegen in langer mühsamer Arbeit vermittelt werden und dabei
eine ausreichende Gegenwirkung gegen die kommunistische Propaganda ent­
wickeln.
Dieser Gedanke verblüfft, denn eigentlich hätte Gehlen doch darauf ver­
weisen können, dass die deutsche Bevölkerung nach zwölf Jahren Nationalso­
zialismus durch permanente Hasspropaganda gegen den Bolschewismus als
»abgehärtet« gelten konnte. Der Gründungsaufruf der KPD hatte sich freilich
offen gegen eine Sowjetisierung Deutschlands ausgesprochen und das Ziel
einer bürgerlich-demokratischen Regierung proklamiert. Dass Stalin tatsäch­
lich ernsthaft an ein im westlichen Sinne demokratisches Deutschland gedacht
hat, um die Viermächteverantwortung für Deutschland zu festigen und seinen
Zugriff auf die Ressourcen des Ruhrgebiets abzusichern, wird heute von eini­
gen Historikern für möglich gehalten.71
Für Gehlen stand die Sowjetisierung ganz Deutschlands als Ziel Stalins
außer Frage. Das wichtigste Problem in den westlichen Zonen sei die soge­
nannte Reeducation, schrieb er. Sie werde nur gelingen, wenn der Lebensstan­
dard des arbeitenden Volkes möglichst rasch gehoben werde. Eine politische
Umerziehung hielt er demgegenüber für wenig hilfreich, vor allem dürfe die
Entnazifizierung nicht an der bloßen Parteizugehörigkeit festgemacht wer­
den. Gehlen: Es habe in der Partei auch viele Gegner des Systems gegeben.
Der Widerstandskämpfer Goerdeler sei zum Beispiel Mitglied der SS gewesen.
Dagegen habe es unter den Nichtparteigenossen viele fanatische Anhänger
Hitlers gegeben. Gehlen bewegte sich mit dieser Einschätzung teilweise außer­
halb des Mainstreams der öffentlichen Meinung.

70 Studie vom Februar 1946, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 65.


71 Siehe Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Ber­
lin 1994; dagegen: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf
dem Weg zur Macht, Berlin 1998.

452
Es müsse das Ziel sein, alle Persönlichkeiten, die für die Zukunft eine Gefahr
darstellen, auszuschalten, gleichzeitig aber alle Kräfte, die für eine »positive
Mitarbeit im Sinn der Gedanken Amerikas und im Sinne der Abwehr des Kom­
munismus in Frage kommen, nutzbar zu machen«.72 Er empfahl den Amerika­
nern einen »gemäßigten« Weg, der im Zuge der angelaufenen Entnazifizierung
nur die im parteipolitischen Leben besonders hervorgetretenen oder durch
ihre Ideologie abgestempelten Persönlichkeiten erfassen sollte. Alle übrigen
belasteten Persönlichkeiten sollten eine Bewährungsfrist erhalten. Das werde
die Bevölkerung als befriedigende Lösung empfinden. Der Gedanke der Rache
oder Bestrafung – »soweit es sich nicht um kriminelle Dinge handelt« – sollte
zurücktreten. Politik könne man nur mit dem kühlen Verstande und nicht mit
Gefühlen machen. Prüfstein sollte sein: »Was nutzt Amerika und entspricht
seinen Idealen?«
Es ging Gehlen bei seinen Erörterungen speziell um eine Warnung vor dem
bayerischen Minister Schmitt. Der KPD-Mann Heinrich Schmitt war 1945 von
den Amerikanern aus dem Zuchthaus Landsberg befreit worden und gehörte
als Sonderminister für Politische Befreiung dem ersten Kabinett des bayeri­
schen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner an. Gehlens Sorge vor einer
kommunistischen Unterwanderung der westlichen Besatzungszonen korres­
pondierte mit seiner gleichzeitigen Beschwichtigung von Befürchtungen auf
alliierter Seite, der Nationalsozialismus könne in Deutschland zurückkehren.
Gehlen: Ein solches »System, das in dieser Weise versagt hat und seine mora­
lische Minderwertigkeit so augenfällig bewiesen hat«, werde »auf Jahre hin­
aus« nicht wieder populär werden. Man könne also den Gedanken der Rache
ausschalten und es sich leisten, großzügig gegenüber den früheren Anhängern
zu sein. Auffällig ist bei diesen Bemerkungen, dass Gehlen dem NS-Regime
»Versagen« und »moralische Minderwertigkeit« bescheinigt, den Begriff »Ver­
brechen« aber vermeidet. Das mag seiner Abneigung gegen die laufenden Ver­
fahren in Nürnberg geschuldet gewesen sein.
Gehlen in seiner Empfehlung weiter: Das amerikanische Entnazifizierungs­
gesetz sei infolge der kommunistischen Unterwanderung untauglich. Die Mili­
tärregierung solle Schritt für Schritt einen Kurswechsel vollziehen und eine
Amnestie erlassen, die zu einem gewaltigen Propagandaerfolg werden könne.
Wenn man die Entnazifizierung auf die von ihm empfohlenen Gesichtspunkte
umstellen würde, könnte man damit einen »kräftigen Schlag gegen die russi­
schen Bemühungen« führen. Nach seinen Berechnungen werde das kritische
Stadium in der Entwicklung aller deutschen Probleme im Jahre 1947 eintre­
ten. Dann werde die Gefahr eines Umschlags zugunsten der kommunistischen

72 Studie vom Februar 1946, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 65, Blatt 12-13.

453
Ideen »in höchstem Maße« bestehen. Es gelte daher, rechtzeitig Gegenmaß­
nahmen einzuleiten. Bei diesen Erwägungen sei aber »der Fall ausgeschaltet,
dass die Entwicklung der Weltpolitik ein galoppierendes Tempo einschlägt« -
der General vergaß also nicht die Eigensicherung hinsichtlich seiner »Berech­
nungen«, ein offensichtlicher Euphemismus, da sie lediglich auf der Auswer­
tung von Zeitungslektüre beruhten.
Ob nun die große weite Welt oder die innere Ordnung in der kleinen ameri­
kanischen Besatzungszone in Deutschland – es gab in den beiden Arbeitsgrup­
pen ehemaliger deutscher Nachrichtenoffiziere drängende interne Probleme.
Die Überführung von Herre, der in den USA dringend von Gehlen erwartet
wurde, gab Wessel die Gelegenheit, Nachrichten aus Oberursel überbringen
zu lassen.73 Er beklagte, dass viele neue Probleme aufgetaucht seien, die Geh­
lens lenkender Hand bedürften. Wessel bat darum, dass man den Amerikanern
gegenüber deutlich mache, dass er als Gehlens Generalstabsoffizier in Oberur­
sel befugt sei, dessen Arbeitsergebnisse nutzbar zu machen. Es mangelte ihm
offenbar an sinnvoller Arbeit, und vor allem litt er unter dem konkurrierenden
Führungsanspruch von Baun.
Wessel bestritt nicht dessen fachliches Können, mit dem Baun das Ver­
trauen der Amerikaner gewinnen könne. Er sei freilich ungewöhnlich miss­
trauisch, »besonders gegenüber Juden«, und das Produkt einer einseitigen
Bildung. Baun könne keinen klaren Gedanken fassen, was Verhandlungen
stets schwierig mache. Er bedürfe einer unmerklichen Führung, dabei sei er
durch seine junge Frau beeinflussbar. Diese sei gewandt, charmant, liebens­
würdig, sei aber sehr jung in eine bedeutende Stellung gelangt und kämpfe nun
mit allen Mitteln um den Einfluss auf ihren Mann. Sozial tiefer stehend, mit
unbekannter Herkunft sei Frau Baun von einem Minderwertigkeitskomplex
geprägt, der sie zu lästigen Intrigen veranlasse.
Wessel verfügte, wie sich zeigt, mit seinen 33 Jahren über einige Lebens­
erfahrung und Menschenkenntnis. Aber ohne die Rückendeckung seines
Generals sah er sich offenbar nicht in der Lage, Baun auftragsgemäß in seine
Schranken zu weisen. So plädierte er auch dafür, die Familienunterstützung
durch die Amerikaner beizubehalten und nicht der Gruppe Baun zu übertra­
gen, was die Abhängigkeit der Gehlen-Gruppe natürlich weiter verstärkt hätte.
Die Gefahr eines Auseinanderdriftens der beiden Gruppen machte Wessel
große Sorgen. Das eigentliche Problem dabei sei Baun selbst, der freilich die
einzige Chance darstelle, bei den Amerikanern endlich mit der praktischen
Arbeit beginnen zu können. Am besten wäre es, einerseits die US-Verbindungs­
offiziere »vorsichtig« über die »Abstammung« Bauns zu unterrichten. Das

73 Wessel an Gehlen, 5. und 8.3.1946, BND-Archiv, N 1/1.

454
heißt darüber, dass Baun praktisch keine Kompetenz im Bereich der Gegen­
spionage habe. Andererseits sollte man bei jeder Gelegenheit die Zusammen­
gehörigkeit beider Gruppen betonen und die Verbindung zu Gehlen sicher und
regelmäßig gestalten. Leider gebe es keine Möglichkeit, offiziell Gehlens Ein­
verständnis zum Beginn der Arbeit von Baun einzuholen, was Wessel offenbar
zumindest nach außen hin für notwendig hielt, um gegenüber Baun die Unter­
stellungsverhältnisse zu betonen. Die Aufnahme der Arbeit auf dem Feld der
Gegenspionage würde außerdem möglicherweise darin resultieren, dass die
herangeführten ehemaligen Ic-Offiziere der Gruppe Wessel wieder absprän­
gen. Die einzige Nachrichtenquelle, die seine Gruppe auswerten könne, sei die
englischsprachige Presse, womit man Baun zuarbeite.
Schließlich trieb Wessel die Sorge um, dass es durch die Entfernung zu
seinem General zur Entfremdung zwischen ihnen kommen könnte. Seine
ursprüngliche Absicht, selbst in die USA zu fliegen, hatte Wessel aufgegeben,
vor allem weil er, wie er freimütig einräumte, in Deutschland relativ frei und bei
seiner Familie sei. Deshalb fragte er Gehlen, ob dieser noch uneingeschränktes
Vertrauen zu ihm habe. Der General habe ihn ja nicht nur als rein fachlichen
Mitarbeiter bei sich haben wollen, sondern als Menschen, mit dem er über den
Alltag und das Allgemeine hinausgehende Fragen und Probleme besprechen
könne. Es könnte für Gehlen unkameradschaftlich und undankbar erscheinen,
wenn er auch dieses Mal nicht die Gelegenheit nutze, in die USA zu kommen.
Dennoch bat er Gehlen, er möge ihn an dem Platz verwenden, wo ihm sein
Vertrauen erhalten bleibe.
Hinsichtlich des Problems der Familien erklärte Wessel, dass man alliierte
»Schutzbriefe« besorgt habe, was im Augenblick ausreichend erscheine. Die
von Gehlen vorgeschlagene Anmeldung zur Auswanderung sei noch nicht
geklärt. Da die Aufnahme in offizielle Listen nicht ohne Gefahr sei, habe man
bei einer schnellen Veränderung der Lage in Europa eine Notlösung aus eige­
nen Mitteln geplant. Man könnte vielleicht den Transport der Familien zur
Küste organisieren, aber spätestens dann wäre doch die Hilfe der Amerika­
ner notwendig. Wie sollte man sonst über den Atlantik kommen? Ansonsten
sei das Lagerleben in leiblicher Hinsicht hervorragend, ja, man müsste sich
eigentlich gegenüber »den deutschen Mitmenschen draußen« schämen.
Mit einigen persönlichen Zeilen drückte Wessel seinen Dank für die Briefe
und die von Gehlen übermittelten Grundgedanken aus. Die Welt sei voller
Hass und Anklage, sie sehe Schuld als Verfehlung, nicht aber auch als Schick­
sal. Die deutsche Schuld wollte Wessel ja keineswegs leugnen, hier äußerte er
sich deutlicher als sein General. Aber, so meinte er, das Schicksal gehöre dazu
und damit auch die Tragik. Wessel bedauerte es, dass »die Masse« mit dem
Geschenk der Demokratie zufrieden sei und im Gegenzug die Kollektivschuld
aufgezwungen bekomme. Wie solle man in diesem Chaos an einem Neuaufbau

455
mitarbeiten? Wegen solcher Fragen seien die früheren mittäglichen Spazier­
gänge so wichtig gewesen. Sie stärkten bei ihm den Glauben an die Zukunft.
So schlecht waren die Aussichten für ein Gelingen des Unternehmens
gar nicht. Es war deutlich, dass Gehlen seinen Tiefpunkt im Frühjahr 1946
zu überwinden begann und nicht mehr daran dachte, Baun den Vortritt bei
der Wiederaufnahme der nachrichtendienstlichen Arbeit zu überlassen und
sich selbst womöglich auf die Auswertung zu beschränken. Baun wiederum
kam mit seinem Plan, nach dem Vorbild der alten Abwehr die Nachrichtenbe­
schaffung durch ein weltweites Spionagenetz zu betreiben, allein nicht voran.
So schrieb er, abgestimmt mit Wessel, stilgerecht dem »sehr verehrten Herrn
General« seinen Dank für das Wohlwollen, das ihm Gehlen entgegenbringe,
und versicherte, »dass ich in dem von Ihnen vorgezeigten Sinne auch weiter­
hin die Arbeit führen und meine Pflicht tun will«.74
Baun berichtete darüber, dass es ihm nach langen Bemühungen gelungen
sei, durch eine Reise innerhalb Europas die aus dem Krieg geretteten Agen­
tennetze aufzusuchen. General Sibert, der Chef des militärischen Nachrich­
tendienstes (G-2) von USFET, habe zwar einen Antrag in Washington gestellt,
die Agententätigkeit vorläufig nur im europäischen Raum wieder durch Baun
aufnehmen zu lassen, doch die Antwort lasse leider auf sich warten. Intern
gab es auch Zweifel, ob die Arbeit wirklich zum Tragen kommen könnte. Dann
müsste man sich auf die Befragung und Beschaffung von schriftlichen Aus­
arbeitungen einiger Militärfachleute beschränken und auf die Überführung
wertvoller Personen in die USA umstellen. Im Januar habe dann Colonel Philp
zumindest die Genehmigung für die Arbeit im Bereich der Gegenspionage
erteilt, und zwar – nach der alten Gliederung bei OKW/Ausland/Abwehr – im
früheren Bereich IIIc, das heißt bei den Behörden im Inland. Die Arbeit im
Bereich Ulf (Abwehr im Ausland) und I (Geheimer Meldedienst) dürfte höchs­
tens inoffiziell aufgenommen werden.
Baun hoffte darauf, mit einigen Mitarbeitern möglichst bald aus dem Lager
entlassen zu werden, um dann an den künftigen Sitz seiner Organisation zie­
hen und die Arbeit aufnehmen zu können. Er würde sich in dieser Phase zwar
gern mit Gehlen austauschen, aber die amerikanische Seite habe kein persön­
liches Treffen genehmigt. Inzwischen habe er bereits begonnen, den inner­
staatlichen russischen Funk abzuhören. Dafür hatte er ein Tornister (funk)
gerät erhalten. Im amerikanischen Hauptquartier in Frankfurt am Main inte­
ressierte man sich für die Ergebnisse und plante sogar eine Erweiterung der
Aktion, die aber von einem US-Offizier geleitet werden sollte. Baun wollte sich
jetzt darauf konzentrieren, seinen alten Vorschlag eines europäischen Agen­

74 Baun an Gehlen, 9.3.1946, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.

456
tennetzwerks zu realisieren, das zwar offiziell Spionageabwehr, inoffiziell aber
auch die Aufklärung im Ausland betreiben sollte. Die Ergebnisse würde man
dann dem G2 in Frankfurt übergeben.
Baun musste, lediglich durch die mageren Mitteilungen Gehlens informiert,
in Rechnung stellen, dass der General in den USA sehr viel weiter gekommen
sein könnte und Zugang zu politischen und strategischen Informationen
hatte. Er bat ihn also um gewisse Unterlagen über die allgemeine politische
Lage und genaue Richtlinien, um die eigenen Leute entsprechend einsetzen
zu können. Er habe derzeit noch riesige Schwierigkeiten zu überwinden, denn
es fehle vollkommen an Möglichkeiten, seine Organisation zu tarnen, um das
nötige Geld und Material zu beschaffen, und zwar in einem »völlig verarmten
und durch den Schwarzmarkt beherrschten Land«. Baun hoffte, wie erwähnt,
darauf, seine Agentennetze weitgehend unabhängig von den Amerikanern
fuhren und finanzieren zu können. Um einen Einstieg in die Geldbeschaffung
zu finden, brauchte er freilich eine Anschubfinanzierung durch die US-Mili­
tärs, wofür die Unterstützung durch Gehlen vielleicht nützlich sein könnte.
So unterschrieb Baun seinen Brief mit seinem Decknamen: »stets ganz gehor­
samst Ihr Otto«.
Gehlen traute dieser Unterwürfigkeit offenbar nicht, wie ein Brief einige
Tage später an Wessel verrät.75 Das Schreiben hatte er einem amerikanischen
Leutnant mitgeben können, der ein Spezialist für die chemische Kriegführung
war. Auf diesem Gebiet hatte Gehlen nichts zu bieten, und so hatte er den Ame­
rikaner auf Baun verwiesen, um nähere Angaben oder zumindest Namen von
verfügbaren deutschen Spezialisten zu erhalten. Das war eine heikle Sache,
weil es um deutsche Rüstungsgeheimnisse und mögliche Kriegsverbrechen
ging. Gehlen war sich nicht sicher, ob Baun innerlich in einem solchen Falle
mitziehen würde. Womöglich sei Baun durch seine zeitweilige Haft in Moos­
bach, einem Internierungslager für deutsche Kriegsverbrecher, verbittert und
ablehnend. Deshalb sollte Wessel notfalls vermitteln.
Baun kam einen Schritt voran, als am 1. April 1946 seine Organisation als
Unternehmen »Rusty« offiziell mit der Beschaffung von Nachrichten beginnen
durfte. Parallel dazu konnte auch die »Bolero-Gruppe« Gehlens in den USA
zufrieden mit der bisherigen Auswertungs- und Studienarbeit sein.76 Hinzu
kam ein positives Votum eines kombinierten britisch-kanadisch-amerikani­
schen Stabes der German Military Document Section über »German Opera­
tional Intelligence«. In der Studie wurde der deutschen Feindaufklärung an

75 Gehlen an Wessel, 24.3.1946, ebd.


76 Übersicht über die bisherige Tätigkeit der B-Gruppe vom 30.3.1946, Gehlen-Kisten,
Mappe Nr. 70.

457
der Ostfront eine hochwertige professionelle und erfolgreiche Arbeit beschei­
nigt – im Gegensatz zu den Leistungen an der Westfront.77 Die Westalliierten
hatten damals noch nicht entdeckt, dass Gehlen, wie bereits erwähnt, einem
Nachrichtenschwindler aufgesessen war.78
Seinem Adlatus und jungen Stellvertreter in Oberursel machte Gehlen in
einem weiteren Schreiben ebenso Mut wie in einem parallelen Brief an Baun.79
Es laufe aus seiner Sicht alles gut, führte er beschwichtigend aus. Gegenüber
Wessel betonte Gehlen noch einmal seine grundsätzliche Haltung, die sich von
den meisten ehemaligen Kameraden unterschied und auch weiter ging als bei
Baun. »Das Bewußtsein, auf unserer Linie auch der deutschen Sache im oft
erörterten Sinn zu dienen, hat uns veranlaßt, uns mit vollem Bewußtsein auf
den amerikanischen Standpunkt zu stellen.«
In Gehlens eher diffusem Verständnis von der »deutschen Sache«, die auch
charakteristisch für seine Haltung zum Nationalsozialismus gewesen war,
verband sich eine Form von Patriotismus mit dem rationalen Entschluss, sich
auf die jeweils herrschende Macht einzustellen. Er betrachtete seine Situation
ganz nüchtern. Es gehe ihm gut, und es gebe die Aussicht, das Arbeitsverhält­
nis auf eine dauerhafte Basis zu stellen, verbunden mit der Möglichkeit, die
eigenen Familien in absehbarer Zeit aus Deutschland herauszuholen – was
wollte man als Generalstabsoffizier einer vernichteten und geächteten Wehr­
macht unter den damaligen Umständen mehr, ließe sich ergänzen.
Mit Baun müsse man Geduld haben, schrieb Gehlen im Hinblick auf die
Probleme, die der junge Wessel mit dem anderen Gruppenleiter hatte. Er ver­
sicherte Wessel seines uneingeschränkten Vertrauens. Die vergangene Arbeit
habe eine restlose Übereinstimmung zwischen ihnen in allen Fragen der Arbeit
und des Lebens erzeugt. Wessel sei ihm wirklich ein nahestehender Freund
geworden, »der mich ohne viele Worte versteht«. Natürlich wäre es ihm lie­
ber, er hätte ihn hier in den USA. Es sei aber wichtiger, dass er in Deutschland
Gehlens Arbeit unterstütze. Er hoffe, so schrieb der isolierte General jenseits
des Atlantiks etwas umständlich, man werde gemeinsam in die Zukunft gehen,
auch wenn sie über den gegenwärtigen Rahmen hinausführen würde. Wessel
hatte schon ein Jahr später Gelegenheit, voller Wehmut über diese ungewöhn­
lichen Freundschaftsbekundungen Gehlens nachzudenken.
Es folgten im April 1946 weitere Briefe von Gehlen, die hauptsächlich kon­
krete »dienstliche« Hinweise und Bemerkungen enthielten, aber auch die
anhaltende Unsicherheit über die weitere Zukunft widerspiegelten. Die Pro­

77 German Military Document Section, German Operational Intelligence, April 1946, BND-
Archiv, N 13/23.
78 Siehe Teil I, S. 240-241.
79 Gehlen an Wessel, 1.4.1946, BND-Archiv, N 1/1.

458
jekte von Baun liefen gut an, kommentierte der General gegenüber seinem
Stellvertreter.80 Wessel solle bemüht bleiben, diese Arbeit in die eigene Rich­
tung zu lenken, und sich unter Berufung auf Gehlen an US-Oberstleutnant
Deane, den Projektleiter von »Rusty«, halten. Der Einstieg über die Gegen­
spionage sei durchaus zweckmäßig, weil noch nicht klar sei, ob die Zeit für
eine »große Lösung« schon gekommen sei. Man solle insbesondere versuchen,
»den Fernen Osten wieder an die Strippe zu bekommen«, also die alten Ver­
bindungen zu aktivieren.
Es zeigt sich, dass Gehlen durchaus die Notwendigkeit erkannt hatte, aus
seiner bisherigen kleinräumigen Arbeitsweise herauszukommen und über die
militärische Lagebeurteilung hinaus auch ins große Spionagegeschäft einzu­
steigen. Man dürfe aber nichts übereilen. Beide Gruppen sollten versuchen,
allmählich in den amerikanischen Bereich hineinzuwachsen.
Derzeit könne man leider nicht wie früher die Lage in persönlicher Aus­
sprache gründlich erörtern. »Wenn Sie später einmal hier sein werden, werden
Sie vieles besser verstehen.« Gehlen schien also immer noch damit zu rechnen,
dass die Arbeit auch künftig vom Boden der USA aus geleistet würde.
Das zeigen zwei weitere Briefe, die Anfang Mai von ihm in Oberursel ein­
trafen.81 Darin setzte er sich mit den internen Gerüchten und den Zukunfts­
möglichkeiten der Arbeitsgruppen auseinander. Seine eigene Gruppe könnte
zur Entnazifizierung nach Europa zurückgeschickt werden, um anschließend
im Angestelltenverhältnis für das War Department zu arbeiten. Eine zweite
Möglichkeit sei, dass die Gruppe Gehlen die amerikanische Staatsbürgerschaft
erhalten und dann vollständig für die USA arbeiten würde. Oder die Gruppe
könnte bis auf Weiteres nach Europa kommen, um Beschaffung von Nach­
richten (Baun) und deren Auswertung (Gehlen) zusammenzuführen. Die beste
Lösung schien Gehlen noch nicht gefunden zu haben.
Wie sehr Gehlen bei dem Versuch im Nebel stocherte, zumindest die nahe
Zukunft zu erkennen, zeigen seine Anweisungen an Wessel in Oberursel. Um
Führungsstärke zu zeigen, übersandte er Vorschläge für die Regelung der ers­
ten Arbeit und als Anlage eine Übersicht über wichtige Aufklärungsfragen.82
Gehlen steckte den Rahmen für Baun weit ab – wie sollte er in seiner Abge­
schiedenheit auch konkrete und realistische Ziele bezeichnen? Am wichtigs­
ten erschien es ihm, tüchtige Agenten zu finden, mit deren Hilfe sich klären
ließe, ob die UdSSR ihre Ziele in Europa nur auf politischem Wege oder auch
mit militärischen Mitteln zu erreichen beabsichtige. Jede handfeste Informa­

80 Gehlen an Wessel, 7.4.1946, ebd.


81 Gehlen an Wessel, 16. und 21.4.1946, Chronik, BND-Archiv, 4310, Blatt 74 – 86.
82 Gehlen an Wessel, 16.4.1946, BND-Archiv, N 1/1.

459
tion hierzu würde seine Position gegenüber den Amerikanern entscheidend
stärken und ihm Anhaltspunkte für die Festlegung des weiteren Vorgehens ver­
mitteln. Doch das blieb eine IIIusion. Es hatte solche Agenten weder im Krieg
gegeben, noch gab es sie danach.
So blieben Gehlen nur Spekulationen. Es sei möglich, dass die sowjetische
Führung zurzeit daran glaube, alle Ziele allein mit politischen Mitteln errei­
chen zu können. Doch das könne sich jederzeit ändern. Man wisse, wie schnell
die sowjetische Politik eine Kehrtwendung vollziehen könne. Dabei dachte er
wohl an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Gehlen vermutete, dass sich schon im
nächsten Jahr die Entwicklung in der Weltpolitik und in Deutschland klären
werde. Seine Quellen für diese Annahme seien zwar im Vergleich zu früher
spärlicher, aber er – so räumte er freimütig ein – versuche das zu ersetzen
»durch meine Erfahrung und meinen Riecher«. Deshalb sei für ihn jede kon­
krete Nachricht über Gedankengänge der politischen und militärischen Füh­
rungsspitze der UdSSR von allerhöchster Bedeutung. Beschaffen konnte ihm
Baun solche Nachrichten nicht.
So musste sich Gehlen darauf beschränken, Vorschläge entsprechend den
amerikanischen Erwartungen zu machen, die sich auf die Aufklärung über die
Tätigkeit des sowjetischen Nachrichtendienstes und der Satellitenstaaten in
der US-Zone richteten. Dazu sollte die Tätigkeit der kommunistischen Par­
teien und Organisationen, insbesondere deren Einflussnahme auf die Sozial­
demokratie und die Gewerkschaften, beobachtet werden. Einzubeziehen
wären auch jegliche Versuche von kommunistischer Seite, deutschnational
bzw. nationalsozialistisch getarnte Organisationen aufzuziehen. Durch die
sorgfältige Auswertung solcher Aufklärungsergebnisse sollten dann Schluss­
folgerungen über die Absichten der UdSSR gezogen werden können. Vor allem
gelte es, die wechselnden Schwerpunkte im Einsatz sowjetischer Agenten und
deren Aufträge schnell zu erkennen und laufend zu verfolgen. Auf diese Weise
hoffte Gehlen, nicht zuletzt mögliche Überraschungsaktionen der UdSSR
gegen England und Amerika rechtzeitig erkennen zu können. Damit hätte er
vielleicht bei den Amerikanern punkten können.
Die Zielrichtung seiner Vorstellungen zeigt die militärisch-strategische
Prägung seines Denkens. Dazu klammerte sich Gehlen an Gerüchte, Speku­
lationen und vor allem an Zeitungs- und Radiomeldungen. So griff er zum
Beispiel die Meldung auf, dass es angeblich in der sowjetischen Führung eine
gemäßigte Gruppe um Georgi Schukow und eine radikale unter Molotow gäbe.
Sollte man sich also Stalin als eine Art Hindenburg-Figur vorstellen? Vertrete
Schukow noch immer den Gedanken, dass militärisch der Besitz von Mittel­
und Osteuropa sowie der Ostseeausgänge wichtiger sei als die Frage Mittel­
meer und Vorderasien? Liegt tatsächlich der Schwerpunkt des russischen Den­
kens derzeit und künftig im Südosten?

460
Gehlen suchte nach Hinweisen auf Anzeichen für sowjetische Absichten
im europäischen Raum. Neben den Hoffnungen auf Bauns imaginäre Spione
setzte er auf die von FHO vertrauten Indizien herkömmlicher, gleichsam prak­
tisch-militärischer Art: Wie wird die Truppe untergebracht; wird die Besat­
zungsarmee verringert oder verstärkt, wo sind die Panzerarmeen verblieben,
welche Tarnmaßnahmen werden getroffen, welche Ausbildungsschwerpunkte
gesetzt, welche Brückenverstärkungen und Bevorratungen durchgeführt etc.?
Es müssten auch konkrete Fragen zur SBZ untersucht werden, wie Stimmung,
Propaganda, Organisation der Polizei, Anzeichen für die Aufstellung deutscher
Verbände. Weiter: Stimmen Nachrichten von einer Vorzugsbehandlung deut­
scher Generale und Generalstabsoffiziere in sowjetischer Gefangenschaft? Es
müsse Aufklärung stattfinden über die Spitzengliederung der Roten Armee,
die politische Führung, den Agenteneinsatz, die Uniformen und Gliederungen
des NKWD etc.
In einem weiteren Schreiben wenige Tage später betonte Gehlen gegenüber
Wessel die Bedeutung der strategischen Lagebeurteilung.83 Da keine neuen
Erkenntnisse verfügbar seien, müsse man notgedrungen an früheren festhal­
ten. Insgesamt gebe es leider nicht mehr so viele Informationen wie früher. Er
legte eine Liste von rund 40 Namen von Generalstabsoffizieren bei, die alle von
FHO für den Ic-Dienst an der Ostfront ausgebildet worden waren. Es bestehe
zwar die Gefahr, dass sie im Rahmen der Entnazifizierung in Haft kommen
könnten, doch könnte man vielleicht dafür sorgen, dass sie in US-Gewahrsam
genommen würden. Dann könnte man sie für den G-2-Bereich einsetzen. »Es
sind ja alles anständige Kerle, von denen keiner nationalsozialistisch abge­
stempelt ist.« Aber es werde natürlich einige Zeit dauern, bis gute Ergebnisse
(von Baun) hereinkämen, die dann ausgewertet werden könnten.
Aktuell bewegte Gehlen die Entwicklung der Iranfrage. Sei der zögerliche
russische Rückzug aus dem Land womöglich nur ein Prüfstein für die Reak­
tion der diplomatischen Gegner? Es gehe doch wohl im Endziel um die alte
Dardanellenfrage. Nach einem beschränkten Erfolg im ersten Anlauf habe
die sowjetische Führung die Weiterverfolgung vermutlich nur aufgeschoben.
Inzwischen werde durch diplomatische Angriffe auf anderen politischen Fel­
dern, auf denen die Angloamerikaner schwächer seien (Europa), der Boden für
eine Wiederaufnahme der Aktion vorbereitet. Angeblich gebe es stärkere Trup­
penkonzentrationen ostwärts der Oder-Neiße-Linie und eine Zuführung von
15 Divisionen aus Innerrussland nach Polen. Erhebliche Munitionszuführun­
gen seien zu beobachten. In Ostpreußen werde ein großer Panzerausbildungs­
platz errichtet. Es gäbe Verschiebungen von Panzerkräften in Südosteuropa.

83 Gehlen an Wessel, 21.4.1946, BND-Archiv, N 1/1.

461
Das alles könnte natürlich auch die normale Ablösung von Besatzungstrup­
pen sein. Gehlen riet zu vorsichtigen Schlussfolgerungen. »Ob sich solche oder
noch weitergehende Gedanken für die fernere Zukunft hinter dem >Eisernen
Vorhang< verbergen, ist das, was zu klären ist. Vergessen Sie aber über allem
nicht, dass Amerika eine Weltmacht ist, die stets den ganzen Globus betrach­
ten muß, und stellen Sie sich bei der Aufklärungsarbeit darauf ein.«
Hier spiegelte sich die veränderte internationale Lage wider, vom sowje­
tischen Rückzug aus dem Nordiran bis zur Rede Winston Churchills am
5. März 1946 in Fulton, Missouri, wo er in Anwesenheit von US-Präsident Harry
S. Truman vom Eisernen Vorhang sprach, der sich auf Europa herabgesenkt
habe. Die Rede gilt heute als »Fanfarenstoß für den Kalten Krieg«.84
Gehlen konnte also darauf hoffen, dass man ihn eines Tages doch noch für
höhere Aufgaben gebrauchen könnte. Aber es gab keine Entscheidung des War
Department, nur das Interesse einzelner Referenten und die Zuversicht von
Captain Waldman. So musste er sich immer stärker mit der Gegenspionage und
der politischen Aufklärung befassen, für die ihm jegliche Erfahrungen fehlten.
Die Presseauswertung seiner Arbeitsgruppe in Fort Hunt fütterte Gehlen mit
Hinweisen darauf, dass Moskau verstärkt die Parole verbreite, der Faschismus
sei nicht tot, sondern arbeite in Deutschland unter der Decke weiter.85
Selbst aus der westlichen Presse war dieser Tenor zu entnehmen, was Geh­
len sich nur mit dem Wirken östlicher Einflussagenten erklären konnte. Sein
Verdacht richtete sich gegen Korrespondenten der New York Times, und zwar
gegen Tanja Long, weil sie eine geborene Ukrainerin sei, und gegen Raymond
Danielli, der angeblich über Beziehungen zum deutschen Kommunisten Hein­
rich Schmitt, dem für die Entnazifizierung zuständigen bayerischen Minister,
verfüge. Baun solle doch versuchen, auf die beiden jemanden anzusetzen,
um beweiskräftiges Material zu erhalten. Außerdem habe er gehört, dass die
Witwe des ehemaligen weißgardistischen Obersten Smirnow erzählt haben
solle, dass in russischen Offizierskreisen der Sowjetzone von der Besetzung
ganz Deutschlands gesprochen werde. Baun solle versuchen, an die Smirnowa
heranzukommen und die Quellen klären.
Solche Wünsche des Generals konnte Baun problemlos aufgreifen. Von
konkreten Ergebnissen ist freilich nichts bekannt. Wichtiger für ihn war im
Mai 1946, von den Amerikanern grünes Licht für den Ausbau der Tätigkeit sei­
ner Aufklärungsgruppe zu erhalten.86 Die »Frontaufklärung« habe inzwischen

84 David Reynolds: From World War to Cold War. Churchill, Roosevelt and the Internatio­
nal History of the 1940s, Oxford 2006, S. 260.
85 Gehlen an Wessel, 28.4.1946, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.
86 Vorschläge für den Ausbau der künftigen Tätigkeit der Aufklärungsgruppe, Mai 1946,
BND-Archiv, N 11/2.

462
ihre früheren Möglichkeiten reaktiviert, so begründete Baun seinen schriftli­
chen Vorschlag, doch müssten sie nun entsprechend erweitert werden. Dafür
sollten stufenweise Zentralen in Europa, dem Nahen Osten, Zentralasien und
im Fernen Osten aufgebaut werden. Mit befriedigenden Ergebnissen rechnete
Baun in etwa vier Jahren. Seine Vorstellungen zielten auf eine international
organisierte Verbindung antibolschewistischer Gruppierungen in der ganzen
Welt, mit Kontakten zu oppositionellen Kräften im Sowjetlager. Für den Auf­
bau eines wirtschaftlichen Tarnapparates seien im ersten Jahr vier Millionen
Dollar notwendig. Da die Arbeit nicht von Deutschland aus geführt werden
könne, sei er, Baun, bereit, mit seinem Führungsstab in die USA zu gehen und
persönlich die US-Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Es ist erkennbar, dass Baun ein anderes Programm verfolgte als Gehlen.
Beide sahen aber, ein Jahr nach dem Kriegsende in Europa, ihr Heil darin, sich
bedingungslos den Amerikanern zu unterstellen und künftig möglichst von
Washington aus als US-Bürger nachrichtendienstliche Aufgaben zu überneh­
men. Während Baun der utopischen Vorstellung anhing, für die gesamte west­
liche Welt den Kampf gegen den Bolschewismus zu organisieren, tastete sich
Gehlen vorsichtiger und mit nüchterner Einschätzung seiner Möglichkeiten
an die Amerikaner heran.
Dabei blieb für Gehlen die Familienbetreuung ein wichtiges Anliegen,
das er Wessel besonders nachdrücklich ans Herz legte. Die Frau von Herbert
Füner schreibe sehr pessimistische Briefe aus Deutschland, denn sie fühle
sich in einer Atmosphäre wie in der scheinbar harmlosen Anfangsphase der
russischen Revolution.87 Der Drang zur Übersiedlung in die USA scheint im
Mai 1946 im »Blue House« von Oberursel besonders intensiv gewesen zu sein.
Denn nun richtete sich auch Wessel darauf ein, seine Familie möglichst mit
dem ersten Transport über den Atlantik zu schicken, selbst wenn das für ihn
eine Trennung bedeuten würde.88 Aber sie hätten drüben immerhin bessere
Lebensverhältnisse zu erwarten. Und Baun erwartete, demnächst mit seiner
Führungsgruppe samt Familien in die USA übersiedeln zu können.
Gegenüber seinem Konkurrenten Baun spielte Gehlen »in alter Kame­
radschaft« den Ratgeber mit dem großen Überblick. »Mein lieber Otto«, so
schrieb er ihm unter Verwendung des verabredeten Decknamens,89 er habe
ihm in mehreren Briefen seine grundsätzlichen Auffassungen über »die gro­
ßen Zusammenhänge und die für Ihre Arbeit gültigen Schlußfolgerungen«
mitgeteilt. Er sei also der Meinung, dass sich die UdSSR mit dem neuen Fünf­

87 Gehlen an Wessel, 5.5.1946, BND-Archiv, N 1/1.


88 Wessel an Gehlen, 22.5.1946, ebd. Drei Tage später bat er in einem Schreiben an Gehlen
förmlich darum, sich für die Übersiedlung seiner Familie einzusetzen; ebd.
89 Gehlen an Baun, 12.5.1946, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.

463
jahresplan zunächst bemühen werde, in einer gigantischen Anstrengung den
wirtschaftlichen Vorsprung der Westmächte einzuholen. Bis dahin werde sich
Moskau alle Möglichkeiten offenhalten. Gegenwärtig ergäben sich beim politi­
schen Kampf um das mittelosteuropäische Vorfeld Spannungen, die man aber
wegen der sowjetischen Besatzung auch nicht überschätzen dürfe.
»Nach dem mir vorliegenden Material« rechne er im Augenblick nicht mit
Überraschungen. Ausschließen dürfte man sie natürlich nicht völlig, denn man
wisse, dass die Sowjetunion, wenn die Gelegenheit günstig sein sollte, ihre Poli­
tik um 180 Grad drehen könne.

Um mein Bild überprüfen zu können, liegt mir an Meldungen aus erprobten


Quellen, die Auskunft geben, welche politischen und militärischen Gedan­
ken in den führenden Kreisen der SU zur Zeit erörtert werden. Welche Rolle
spielt Stalin? Welche anderen Persönlichkeiten treten hervor? Auf welchem
Standpunkt steht das Politbüro?

Er wäre dankbar, wenn er alle acht Tage über Wessel kurz von Baun hören
würde. Die eingehenden Meldungen solle er im ursprünglichen Wortlaut über­
mitteln, sodass er in der Lage sei, seine Auswertung und Ansicht dazu mitzu­
teilen. »Wenn Sie Material von uns brauchen, sagen Sie Bescheid. Von großer
Bedeutung sind Informationen über die Schwerpunkte der russ. Agententätig­
keit. Außerdem interessiert mich am Rande, mit welchen Gedanken und auf
welchen Wegen die Russen eine vernünftige amerikanische Besatzungspoli­
tik zu sabotieren versuchen.« Zum Schluss gab Gehlen Baun den Rat, weitge­
steckte Pläne systematisch und nicht zu schnell umzusetzen. In Washington
würden Informationen über den russischen Nachrichtendienst gebraucht, die
Gehlens Gruppe nicht liefern könne. Solche Informationen sollten sorgfältig
und schnell bearbeitet werden. Gehlen versäumte es also nicht, deutlich zu
machen, welchen Wert seine Auswertungsgruppe für Bauns Nachrichtenbe­
schaffer habe.
Als Gehlens Verbindungsmann in Oberursel machte sich Wessel ebenfalls
»Gedanken zur Lage«.90 In seinem Anschreiben berichtete er davon, dass die
Aufbauarbeit von Baun vorankomme. Die bereits vorliegenden Ergebnisse
seien sehr gut. Das müsse man den Auftraggebern nur klarmachen. Seine
volle Leistungsfähigkeit werde Baun wohl erst dann erreichen, wenn er in
den USA sein werde. Dann könne er auch seine Leute besser steuern, die im
Fernen Osten, wo derzeit die Hauptinteressen der USA lägen, angesetzt seien.

90 Wessel an Gehlen, 25.5.1946, mit der Ausarbeitung vom 23.5., BND-Archiv, N 1/1, Blatt
161-178.

464
Man sollte die Vereinigung von Beschaffung und »Forschungsarbeit« mög­
lichst beschleunigen. Er selbst arbeite an einer kleinen Studie über die Lage in
Deutschland, die er bald schicken werde, denn er erhalte seit Kurzem die Neue
Zürcher Zeitung, die hervorragend geeignet sei, laufend einen Gesamtüberblick
über das Weltgeschehen zu erlangen. Wessel riet Gehlen, sich ebenfalls um den
Bezug der Neuen Zürcher Zeitung zu kümmern.
Auf dieser Informationsbasis, ergänzt um vorliegende Meldungen über
Gespräche von Informanten mit Offizieren der Roten Armee sowie die Auswer­
tung weiterer Presseorgane und die Mitschriften von abgehörten Rundfunk­
sendungen, kam Wessel zu folgenden Gedanken. Die Entwicklung der Lage
auf politischem Gebiet sei in vielen Fällen schneller und überraschender, als
man es vom Militärischen gewohnt sei. Deshalb sollte man politische Lage­
beurteilungen stets mit gewissen Vorbehalten lesen und bewerten. Diese Ein­
schätzung eines ehemaligen militärischen Lageauswerters war offensichtlich
nicht selbstkritisch gemeint, obwohl er fern aller politischen und insbeson­
dere außenpolitischen Fachgremien sowie ohne fundierte Vorbildung lediglich
höheres Zeitungswissen ausbreitete.
Wessels Meinungen unterschieden sich – keineswegs überraschend – nicht
wesentlich von der Weitsicht seines Generals. Auf die United Nations (UN)
setzte er angesichts der zunehmenden Teilung der Welt in West und Ost nur
geringe Hoffnungen. Die Russen würden zunächst schrittweise ihren politi­
schen Einfluss auf die Länder in Europa ausweiten, die noch nicht zu ihrer
Einflusszone gehörten. Auf diese Weise würden sie versuchen, ihrem Endziel
einer Beherrschung des gesamten europäischen Raums näherzukommen.
Wessel rechnete damit, dass Moskau zum Beispiel die Frage der Dardanellen
und des Balkans in seinem Sinne vorantreiben würde. Die Russen würden die
kommunistischen Parteien durch die Vereinigung mit sozialistischen Parteien
in Italien, Deutschland etc. stärken und ihren Einfluss auf die Gewerkschaften
ausbauen.
Mit der Parole »Kampf gegen den Faschismus« würden die Russen künf­
tig außerdem andere Gruppen zersetzen, wie etwa das Rote Kreuz in Bayern,
sowie kirchliche und kulturelle Kreise durchdringen, um nicht zuletzt auch
Nachrichtenquellen zu gewinnen. Diese Art des »Kulturbolschewismus«
werde sich mit einer Propaganda für die breiten Massen verbinden. »Dahinter
stehen militärische Kräfte, die in der Lage sind, jederzeit Europa in Gestalt
eines Blitzkrieges zu besetzen.« Seine Auffassung über die operativen Mög­
lichkeiten decke sich vollkommen mit der Gehlen-Studie Nummer 16 über die
russischen Operationsmöglichkeiten nach Westen. Die bei ihm selbst vorhan­
denen Unterlagen über das Kräftebild reichten aber nicht aus, zur Frage der
möglichen Durchführung eines sowjetischen Blitzkriegs im Einzelnen Stellung
zu beziehen.

465
Während sich Wessel mangels zureichender Informationen auf dem ver­
trauten militärischen Gebiet zurückhielt, scheute er sich nicht, in der globalen
Strategie Spekulationen anzustellen, die teilweise selbst Gehlen zu weit gin­
gen. Wessels Annahmen, dass die englischen Absichten auf das traditionelle
Gleichgewicht zielten, dass Frankreich geprägt sei von der Angst vor Deutsch­
land und dass die Amerikaner dabei seien, ihren Isolationismus aufzugeben,
waren Allgemeinplätze. Dass Wessel aber annahm, dass die Absicht einer mili­
tärischen Verteidigung Europas von den USA keinesfalls zu erwarten sei, hielt
Gehlen in einer Randnotiz für allzu simpel.
Banal war auch Wessels Einschätzung, dass der Nahe Osten einen Brenn­
punkt bilde und Moskau auf die arabische Frage setze. Auch im Fernen Osten
würden sich die Interessen kreuzen, meinte er. Seine Prognose aber, dass der
neue Fünfjahresplan der UdSSR die Grundlage für eine militärische Überlegen­
heit schaffen könnte, die sich schon in etwa zwei bis drei Jahren zur Durchset­
zung politischer Ziele einsetzen ließe, schränkte Gehlen ein. Im Gesamtpoten­
zial sei das nicht zu erwarten. Wohl aber könnten die Russen ihre Befähigung
zu überraschenden Unternehmungen verstärken. Wessels Spekulationen über
einen künftigen Konflikt der Großmächte, der sich als jahrelanger See-Luft-
Krieg gegen die angelsächsischen Mächte »abspielen werde«, schwächte Geh­
len zu einem »abspielen könne« ab.
Wessels düstere Kriegsprognose ist vor dem Hintergrund der äußerst
schwierigen Situation zu sehen, in der sich die Gruppe Baun – im Gegensatz
zur komfortablen Lage der Gruppe Gehlen – befand. Davon sprach Baun selbst
in einem Schreiben wenige Tage später an den »sehr verehrten Herrn Fritz«.91
Die lähmende Wartezeit sei jetzt glücklicherweise vorbei, aber die Arbeitsbe­
dingungen gestalteten sich extrem schwierig. Er beklagte den Mangel an per­
sönlicher Sicherheit sowie die Unzuverlässigkeit der Menschen und Behörden
außerhalb des »Blue House« in Oberursel. Man habe zwar keine Schwierigkei­
ten, Mitarbeiter zu werben, aber deren Unterbringung und Absicherung stoße
bei den deutschen Behörden und anderen Besatzungsorganen auf eine fast
unübersteigbare Mauer an Gesetzen, Bestimmungen und Verordnungen. Es
gebe keine persönliche Sicherheit, da die deutsche Polizei in ihrer Wirksamkeit
beschränkt sei und die Ausländer überall bevorzugt würden. Er selbst sei in
dem um sich greifenden Bandenwesen überfallen worden. Dieses Chaos sei ein
»Eldorado«, das von Moskau gefördert werde, um sich den Weg nach Westen
zu ebnen.
Der Ort seines Stabes sei völlig deplatziert. »Das Aufmarschgebiet des
Ostens ist Polen, des Westens ist Frankreich, dazwischen liege ich mit mei­

91 Baun an Gehlen, 27.5.1946, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.

466
nem >Korrespondenzbüro< in einem Gebiet, wo beide Seiten ihre Drahtverhaue
errichtet haben.« Ein Absetzen in ruhige Verhältnisse sei notwendig, von wo
aus die »großen Verbindungen« geführt werden könnten. Die Überführung
sollte am besten im Zuge der Evakuierung von Wirtschaftsunternehmen, die
der Reparation anheimfallen, erfolgen. Hier könnte er seine Leute samt Fami­
lien als Fachleute eingliedern. Ähnlich ließe sich die Evakuierung »interessie­
render Persönlichkeiten deutscher Staatsangehörigkeit« nach Großbritannien
und Frankreich organisieren.
Größte Schwierigkeiten sah Baun durch die Entnazifizierung in der US-
Zone. Dadurch werde der Hass auf beiden Seiten »bis zur Weißglut gesteigert.
In diesem Feuer vernichtet die S.U. [Sowjetunion] durch konspirierte Verbin­
dungsleute in den zuständigen deutschen Dienststellen die Intelligenz und
die wertvollsten Elemente.« Ein ähnliches Gesetz solle jetzt für die Ausländer
auf deutschem Boden kommen. Damit werde der aus Osteuropa geflüchteten
Intelligenz der Dolchstoß versetzt. Es fehlten noch immer die Mittel, um durch
eigene Wirtschaftsunternehmen eine Tarnung für die nachrichtendienstliche
Tätigkeit schaffen zu können. Baun dankte abschließend für die Möglichkeit
der Zusammenarbeit mit Wessel. »Wir beide warten nun mit Spannung auf
Ihre Entscheidung und Urteile.« Gemeint war die schrittweise Verlegung der
Führungsgruppe in Stärke von acht bis zehn Familien an einen neuen Ort in
die USA, um den Gesamtaufbau sicherstellen zu können. Für Eventualfälle sei
er dabei, Ausweichmöglichkeiten sicherzustellen, und zwar in Spanien und
Rom, wo man größte Unterstützung finden würde.
Gehlens Fragenkatalog bezüglich der führenden Männer in Moskau konnte
Baun noch nicht beantworten, aber hinsichtlich der sowjetischen Zersetzungs­
arbeit in der US-Zone in Deutschland verwies er auf zahlreiche Aktivitäten,
insbesondere wieder auf die Tätigkeit von Minister Schmitt in Bayern, die »für
unsere Arbeit sehr gefährlich« sei.92 Wessel schrieb dazu parallel: »Den Din­
gen in unserem Vaterland selbst nachzuspüren ist oft noch schwierig, da wir
es in gewissen Fällen vorziehen müssen, scheues Kaninchen zu spielen – aber
auch das wird besser werden.«93 Dabei bezog sich Wessel auf Mitschriften von
Radiosendungen, die er Gehlen mitschickte, deren Qualität und Aussagekraft
der General anschließend monierte und ankündigte, dass Wessel künftig das
entsprechende Material aus den USA erhalten werde.94
In diesen Tagen muss die Entscheidung in Washington gefallen sein, Gehlen
und seine Handvoll Leute wieder nach Hause zu schicken. Die Gründe sind

92 Baun an Gehlen, 31.5.1946, ebd.


93 Wessel an Gehlen, 1.6.1946, BND-Archiv, N 1/1.
94 Gehlen an Wessel, 17.6.1946, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 69.

467
nicht bekannt. Abwegig wäre die Annahme, das Experiment in Fort Hunt hätte
das War Department derartig von der Leistungsfähigkeit der Gruppe Gehlen
überzeugt, dass man sie zum Aufbau eines deutschen Nachrichtendienstes in
die Heimat zurückschickte. Eher ist davon auszugehen, dass die Aussicht, dem­
nächst Baun und Gehlen vereint als »Mitbürger« auf amerikanischem Boden
arbeiten zu lassen, als politischer Albtraum gewirkt hat, dem sich die politi­
sche Administration nicht ausliefern wollte. So überließ man es den Militärs im
europäischen Hauptquartier, die Gruppe Gehlen wieder zurückzuziehen und
auf eigene Verantwortung in begrenztem Maße einzusetzen. Gehlen wusste die
Situation später in seinen Memoiren so darzustellen, dass man in Washington
seine Pläne und die Übernahme der Führung der Gesamtorganisation durch
ihn gebilligt habe.95 Allerdings räumte er ein, dass die praktische Durchfüh­
rung der nachrichtendienstlichen Arbeit zunächst weiterhin allein in der Ver­
antwortung von General Sibert als G-2 der USFET gelegen habe und man leider
nicht Baun nachdrücklich genug über seine Unterstellung unter Gehlen infor­
miert habe. Am 13. Juni 1946 reiste die Gruppe Gehlen mit der Bahn nach New
York, um sich auf einem Truppentransporter zur Überquerung des Atlantiks
einzuschiffen. Mit diesem Datum existiert eine Aufzeichnung des britischen
Inlandsgeheimdienstes MI5, zuständig für die Gegenspionage. Im Rahmen
der alliierten Auswertung des früheren deutschen Nachrichtendienstes hatte
Gehlen für FHO, wie bereits erwähnt, positive Noten bekommen. Wie stand es
aber mit seinen Kenntnissen über den sowjetischen Nachrichtendienst – also
das, was die Alliierten derzeit am meisten interessierte und wofür die Gruppen
Gehlen und Baun künftig tätig werden sollten? Die Briten studierten sogfaltig
Gehlens Antworten aus seiner Zeit in Fort Hunt und kamen zu einem ernüch­
ternden Ergebnis. Gehlen verfüge lediglich über einige Informationen aus der
Kriegszeit und habe keine Ahnung von den Friedensaktivitäten des Gegners,
hieß es.96 Seine Behauptungen zu Unterschieden zwischen dem deutschen und
dem sowjetischen Geheimdienst entsprächen nicht den Fakten.
So hatte er zum Beispiel behauptet, dass die »russische Führung ebenso
wie die deutsche etwa ab 1942 stets ein im allgemeinen klares Bild der Kräfte­
gruppierung und Absichten des Gegners gehabt« habe. »Der Russe« habe aber
mit einem Masseneinsatz von Agenten zulasten der Qualität diesen Erfolg
erzielt, während die deutsche Seite auf Qualität gesetzt habe. Das verdiene den
Vorzug, weil man damit vielleicht weniger Nachrichten gewinne, dafür aber

95 Gehlen, Der Dienst, S. 122-123.


96 Aufzeichnung des MI5, 13.6.1946, National Archives Kew, KV 2-2862 Reinhard Gehlen. In
den damaligen britischen Akten ist fälschlich von einem Reinhard von Gehlen die Rede.
Das ging wohl darauf zurück, dass seine Schwester Barbara einen adligen Diplomaten
von Gehlen geheiratet hatte, der mit Reinhards Familie nicht verwandt war.

468
die gewichtigen. Ein britischer Bearbeiter hielt das für bloße Angeberei. Ein
anderer bemängelte, dass Gehlen behauptet habe, es gäbe einen einheitlichen
sowjetischen Nachrichtendienst mit verschiedenen Abteilungen. Auch das sei
eine Fehlinformation, die wohl daher komme, dass Gehlens Erfahrungen allein
im operativen Bereich lägen und daher sehr einseitig seien. Auf dem Gebiet der
Gegenspionage habe er lediglich Statistiken über angebliche sowjetische Agen­
teneinsätze vorlegen können. Wenn Gehlen gewusst hätte, dass der zuständige
Prüfer auf britischer Seite ein sowjetischer Doppelagent gewesen ist, hätte er
sich vielleicht anders geäußert. Es handelte sich um Harold Adrian Russell
»Kim« Philby, den glühenden Kommunisten und einen der »Cambridge Five«,
der erst 1963 als »Maulwurf« enttarnt wurde und nach Moskau floh.97
Wie sollten die Amerikaner annehmen, dass ausgerechnet Gehlen der geeig­
nete Mann sein könnte, um von der US-Zone aus die Spionageabwehr gegen die
UdSSR zu organisieren, nachdem sie von seinen strategischen Analysen offen­
bar nicht sonderlich beeindruckt waren? Auf dem Felde innenpolitischer Lage­
beurteilung dilettierten die beiden ehemaligen Wehrmachtoffiziere, Gehlen
ebenso wie Baun. Gehlen verfügte hier über keinerlei Expertise, denn das war
während des Krieges, als er sich um die militärischen Operationen an der Ost­
front gekümmert hatte, das Aufgabenfeld von Gestapo und Reichssicherheits­
hauptamt gewesen. Auf Gehlens »Bauchgefühl« und Zeitungswissen würde
sich im Frankfurter Hauptquartier und bei den Verantwortlichen der amerika­
nischen Militärverwaltung niemand ernsthaft verlassen wollen. Die Amerika­
ner verfügten schließlich mit dem CIC über einen viel leistungsfähigeren Dienst.
Bei Baun lagen die Dinge schon etwas anders, denn über ihn konnten die
Amerikaner Einblick in frühere und unter Umständen noch bestehende Agen­
tennetze gewinnen und nicht zuletzt Zugang zu verborgenen SS- und Gestapo­
leuten. Hierfür war Baun nützlich, wenn auch kaum für globale nachrichten­
dienstliche Verbindungen, die er selbst anstrebte. Gehlen war allenfalls, so
schien es, brauchbar, um mit seinem höheren militärischen Dienstgrad und
seiner gefälligen Art den etwas schwierigen Baun zu beaufsichtigen und ein
Netzwerk von Generalstabsoffizieren zu schaffen, auf dessen Fähigkeiten man
eines Tages würde zurückgreifen können. Eines ist sicher: Als Gehlen mit sei­
ner Gruppe über den Atlantik nach Hause kam, gab es niemanden, der sich
hätte vorstellen können, dass dieser unscheinbare ehemalige Wehrmachtge­
neral zehn Jahre später der Chef eines einheitlichen deutschen Auslandsnach­
richtendienstes sein würde – erst recht nicht Gehlen selbst, der noch kurz vor
seiner Rückreise an die Übernahme der US-Staatsbürgerschaft gedacht hatte.

97 Siehe E. H. Cookridge: Karriere. Doppelagent Kim Philby. Meisterspion für London und
Moskau, Oldenburg 1969.

469
2. Vom »Basket« nach Pullach (1946/47)

Nach zehntägiger Überfahrt landete die »Bolero-Gruppe« in Le Havre und


wurde von dem vorausgereisten Captain Waldman in Empfang genommen.
Über Paris-Orly flog die Gruppe weiter nach Frankfurt am Main. Um formell
und unauffällig aus der Kriegsgefangenschaft entlassen zu werden, spaltete
man die Gruppe auf und brachte sie an verschiedene Orte.98 Gehlen kam direkt
nach Oberursel. Er hatte einen Teil seiner Truppe allerdings bereits eingebüßt.
Herbert Füner zog sich zu seiner Familie zurück, kam später wieder zu Baun
zur Auswertung der russischsprachigen Presse. Konrad Stephanus und Heinz
Danko Herre ließ Gehlen bei der Außenorganisation von Baun anhängen, da
sie sich als »nicht krisenfest« erwiesen hätten.99 Hinter dieser Einschätzung
steckt eine eigenwillige Interpretation von Meinungsverschiedenheiten durch
Gehlen. Es ging offenbar um die Verwendung von Lütgendorf. Karl Ferdinand
Freiherr von Lütgendorf aus altösterreichischem Militäradel hatte sich in Fort
Hunt unvorsichtig angesichts der amerikanischen Abhörvorrichtungen abfäl­
lig »über den Wiener Saujuden, Cpt. Eric Waldman«, geäußert. Herre hatte es
offenbar übernommen, auf einen Wink der Amerikaner Gehlen dazu zu drän­
gen, sich von Lütgendorf zu trennen.100 Lütgendorf kehrte deshalb nach Öster­
reich zurück, nicht etwa weil er kein Interesse mehr am Nachrichtendienst
hatte, sondern weil er für die Amerikaner untragbar geworden war. Er machte
später im österreichischen Bundesheer Karriere und wurde schließlich sogar
Verteidigungsminister (1971-1977). Nachdem er verdächtigt worden war, an
illegalen Waffengeschäften beteiligt gewesen zu sein, trat er zurück und starb
unter bis heute ungeklärten Umständen 1981 durch einen Kopfschuss, der offi­
ziell als Selbstmord gedeutet wurde.101
Herre spielte nicht nur eine wichtige Rolle, um Lütgendorf zu beseitigen,
sondern hatte sich auch ganz im Sinne Gehlens darum bemüht, die jüngeren
Kameraden, die es vorgezogen hätten, in den USA zu bleiben und US-Bürger
zu werden, zur Rückreise zu überreden.102 Es wird berichtet, dass Gehlen sich
in Fort Hunt vor allem auf Major Hans Hinrichs gestützt habe, um nicht ange­
sichts der internen Krisen an der Verabredung in Bad Elster zu verzweifeln.103
Nach seiner Ankunft in Oberursel hielt sich Gehlen wieder direkt an seinen

98 Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 143.


99 Notiz Wessels vom 9.7.1946, BND-Archiv, N 1/1.
100 Erinnerung von Graber, S. 182, BND-Archiv, N 4/15.
101 Siehe Manfried Rauchensteiner: Lütgendorf, Karl Ferdinand; in: Neue Deutsche Biogra­
phie, Bd. 15, Berlin 1987, S. 477-478.
102 Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 143.
103 Erinnerung von Graber, S. 49, BND-Archiv, N 4/15.

470
Gehlens Tarnaus­
weis auf den Namen
Hans Holbein

Vertrauten Wessel, der umsichtig alle notwendigen Maßnahmen für das Ein­
treffen der Gruppe geplant und organisiert hatte. Dazu gehörten zum Beispiel
die konspirative Heranziehung der Familien, die ihre Väter nach mehr als
einem Jahr wiedertrafen, und Materiallieferungen für den Beginn der Arbeit,
das heißt Presse wie die New York Herald Tribune, Stars and Stripes, Time,
Times, die Neue Zürcher Zeitung, Prawda, Iswestija, Krasnaja Swesda und die
Ergebnisse des Radioabhördienstes aus Washington, für lange Zeit die haupt­
sächliche Informationsbasis der Gruppe Gehlen.104
Wessel war daran gelegen, möglichst rasch eine Zusammenführung der
Gruppen Gehlen und Baun zu erreichen.105 Das war natürlich ganz im Sinne
seines Generals, aber Gehlen zeigte in dieser Hinsicht offenbar wenig Enga­
gement und überließ Wessel den schwierigen Einsatz zur internen Klärung.
Der kriegsgefangene Generalmajor ließ nach seiner Ankunft eine neue Kar­
teikarte bei den Amerikanern anfertigen, die ihn als Hauptmann der Reserve
Richard Garner auswies, während des Krieges angeblich als Hilfsoffizier im
OKH eingesetzt, von Zivilberuf kaufmännischer Angestellter (Wohnadresse:
c/o Dr. Erhardt, Günthersburgallee 10, Frankfurt am Main). Gehlen verschwieg
also wohlweislich den Status als Generalstabsoffizier und öffnete sich die Mög­
lichkeit, in die von Baun beabsichtigte wirtschaftliche Tarnung zu schlüpfen.
Daraus wurde Ende 1946 eine neue Tarnung als Hans Holbein, Angestellter
bei USFET.

104 Ausarbeitung von Wessel, 29.6.1946, BND-Archiv, N 1/1.


105 Ausarbeitung Wessels: Erster organisatorischer Gesamtauftrag für den Beginn der
Arbeit nach Rückkehr der Gruppe Fritz aus USA, 28.6.1946, ebd.

471
Am 15. Juli 1946, pünktlich um 7.30 Uhr, begann mit einer ersten Bespre­
chung bei Gehlen die Gruppe »Fritz« offiziell mit ihrer Arbeit in Deutsch­
land.106 Die Aufteilung der Zuständigkeiten war rasch geregelt. Gehlen ver­
fügte nur über sieben Mitarbeiter, einen Torso im Vergleich zu seinem früheren
Herrschaftsbereich bei FHO, dem es nach Hitlers Meinung nicht gelungen war,
die Sowjetunion nachrichtendienstlich zu durchdringen. Ob es jetzt möglich
sein würde, die weitere russische Expansion mithilfe der USA zu verhindern,
blieb ungewiss. Vorerst hatte die eigene Existenzsicherung Priorität. Albert
Schoeller verwaltete den größten Schatz, die Kartei, mit deren Hilfe die Mög­
lichkeit bestand, die aktuelle militärische Lage zu interpretieren. Hinrichs
übernahm »Funkauswertung« und Presse, was bedeutete, er hörte Radio und
las Zeitungen. Wie er seine Zuständigkeit für den Feindnachrichtendienst aus­
füllen sollte, blieb offen. Horst Hiemenz sollte die Auswertung der Meldungen
übernehmen, die aus dem eigenen Nachrichtendienst (also über Baun) herein­
kamen. Gustav Hilger hatte die sowjetische Presse hinsichtlich von Wirtschaft
und Politik auszuwerten, Füner das gleiche Material im Hinblick auf militäri­
sche Fragen durchzuarbeiten. Wessel schließlich sollte für die »große Lage«
zuständig sein, was konkret hieß, die Neue Zürcher Zeitung auszuwerten.
Diese Geburtsstunde der Organisation Gehlen (Org) spiegelt etwas von den
bescheidenen und unsicheren Verhältnissen wider, unter denen die Arbeit
aufgenommen werden musste. Die parallel arbeitende Gruppe »Otto« (Baun)
bestand auch nur aus einem Stab von sieben Personen, verfügte aber schon
über ein Netzwerk von Informanten und Außenmitarbeitern. Das war alles
zusammengenommen keine imposante Streitmacht für einen Nachrichten­
dienst im Kampf gegen den übermächtigen sowjetischen Gegner. Die kleine
amerikanische Hilfstruppe, die General Gehlen führte, musste zudem um
ihren inneren Zusammenhalt fürchten. So verständigte man sich am 15. Juli
intern darauf, dass einige Tage Bedenkzeit bleiben würden bis zur endgültigen
Entscheidung, ob nun alle mitmachten oder nicht.
Gehlen zeigte sich besorgt darum, dass seine Leute außerhalb des Lagers
bei Kontrollen auffallen könnten. Deshalb gab es eine lange Liste zur Aus­
gangsregelung und Sondergenehmigungen. Für die Mobilität seiner kleinen
Organisation verfügte er zunächst nur über einen älteren Pkw, und noch
behielten die Amerikaner einen Teil der Gehlen-Akten in den USA zurück, um
eine eventuelle Wiederaufnahme der Arbeit auch dort sicherzustellen. Das war
dem General und seinen Offizieren sicher recht, hofften sie doch immer noch
darauf, unter besseren Bedingungen jenseits des Atlantiks arbeiten zu können.
Bei einer abendlichen Besprechung am 19. Juli mit dem US-Verbindungsoffizier

106 Notiz aus dem Tagebuch von Wessel, ebd., S. 254-255.

472
Waldman ging es um alltägliche Annehmlichkeiten: Wöchentlich sollten die
Mitarbeiter zwölf Schachteln Zigaretten, ein Stück Toilettenseife, ein halbes
Stück Waschseife und eine Packung Candy erhalten.107
Den vermutlich wichtigsten Auftrag der Gruppe übernahm Wessel. Er lebte
zu diesem Zeitpunkt schon mit seiner Familie in Bensheim an der Bergstraße
zusammen und brachte in den nächsten Tagen »Gedanken zu den ideologi­
schen Grundlagen unserer Arbeit im Dienst der USA« zu Papier.108 Es sollte
offenbar ein Manifest werden, mit dem die unterschiedlich geprägten Mit­
arbeiter beider Gruppen, »Fritz« und »Otto«, auf eine gemeinsame »Ideolo­
gie« festgelegt werden konnten. Der vergleichsweise kurze Text von sieben
Seiten, von Gehlen korrigiert, enthielt das Selbstverständnis, mit dem Gehlen
und Wessel angeblich seit 1943 den Übertritt zu den Amerikanern gedanklich
vorbereitet hatten. Er sollte den Bedenken anderer, eventuell auch potenziel­
ler künftiger Mitarbeiter Rechnung tragen. Diese »Gedanken« waren weder
tiefgründig noch komplex, mehr eine Handreichung zur Rechtfertigung des
eigenen Standpunktes, wie sie in Zukunft von Gehlen wiederholt verwendet
worden ist.
Der Text ging von der »einmaligen Handlung« aus, die der »Übertritt der
Gruppe Fritz auf die amerikanische Seite« darstellte, und erklärte die Gründe
dafür als »für einen verantwortungsbewußten Deutschen nahezu zwangsläu­
fig«. Mit der Reklamierung politisch-moralischer Gründe für diesen Schritt
wurden andere mögliche Deutungen und Motive per se ausgeschlossen.109
Sodann folgte im ersten Teil eine schwülstig-pathetische Apologie des deut­
schen Offizierskorps in der Zeit des Nationalsozialismus.
Es sei bis 1933 »im Geist der Tugenden erzogen [worden], die den Ruf deut­
schen Soldatentums begründen: Verantwortungsfreudigkeit in dem Bewußt­
sein einer Verantwortung nicht nur gegenüber dem eigenen Volk, sondern
auch gegenüber der Menschheit und letztlich gegenüber Gott; sittlicher Ernst
und Pflichtbewußtsein; Gerechtigkeitssinn und Ritterlichkeit gegenüber
Freund und Gegner; Selbstbeherrschung, Selbstlosigkeit, Mut und Gehorsam.«
Danach habe man im »Glauben an die persönliche Ehrlichkeit und Anständig­
keit Hitlers« versucht, die erkennbaren Bestrebungen zur Entmachtung der
Heeresführung »auf legalem Wege wieder in das richtige Gleis zu bringen«,
in Unkenntnis der »unfairen Mittel«, die Hitler und die anderen Parteiführer
anwenden würden.

107 Tagebuch-Eintrag Wessel, 19.7.1946, BND-Archiv, N 1/1, S. 258.


108 Ausarbeitung Wessels, Juli 1946, ebd., S. 247-253. Siehe dazu auch den späteren Kom­
mentar von Graber in seinen Erinnerungen, BND-Archiv, N 4/15.
109 Gehlen, Der Dienst, S. 124.

473
Gehlen scheute sich zu diesem Zeitpunkt (1946) nicht, die Tradition des
militärischen Widerstands auch für sich in Anspruch zu nehmen, um dann
gleichzeitig in umständlichen Rechtfertigungen seine Nichtbeteiligung am
Attentat zu verschleiern.

Die Gewissenskonflikte, welche alle an diesen Dingen beteiligten Offiziere


trotz ihrer Erkenntnis der Inkarnation des Bösen in Hitler durchzukämp­
fen hatten, ebenso die ständig wieder auftauchenden Fragen und Zweifel,
ob dem deutschen Volk und der Menschheit mit der gewaltsamen Beseiti­
gung des Regimes während des Krieges überhaupt noch geholfen werden
könnte, sind in ihrer Schwere nur von denen zu ermessen, die das Schicksal
zur Mitwirkung auswählte. Aus den Reihen der an den Umsturzversuchen
Beteiligten oder diesem Kreis zumindest innerlich nahestehenden Offiziere
bildete sich die Gruppe Fritz und entwickelte ihre Planung für den – dann
auch eintretenden – Fall eines Scheiterns aller Umsturzabsichten und des
Zusammenbruches Deutschlands.

Dass Gehlen und Wessel ihre Planungen bereits nach der Katastrophe von
Stalingrad aufgenommen hatten, unabhängig von der Frage des möglichen
Umsturzes, wurde wohlweislich übergangen. Stattdessen nahm man eine
höhere Moral für sich in Anspruch, nämlich die aus der inneren Verpflichtung
des Offiziers resultierende Verantwortung, ȟber den kommenden Tag hinaus
zu denken, zu planen und zu handeln«. Auf dieser ideologischen Grundlage
habe sich dann der Entschluss der Gruppe »Fritz« gebildet, hieß es.
Auf knapp drei Seiten folgt dann eine politische Analyse, die Gehlen teil­
weise schon in früheren Briefen an Wessel entwickelt hatte und die sich
auch in künftigen Vorträgen Gehlens wiederfand. Ausgangspunkt bildete die
Annahme, dass die Weltpolitik in der Zukunft von den Großmächten USA und
UdSSR bestimmt werde. Die USA würden eine »christlich-demokratische, auf
den Menschenrechten aufgebaute Weltordnung vertreten und berufen sein,
die Kultur des Abendlandes weiterzuführen«. Kennzeichen der Sowjetunion
seien das diktatorische Prinzip, Kollektivismus, Freidenkertum und Planwirt­
schaft.
Das »zerschlagene Deutschland« liege in Agonie. Der Wiederaufstieg zu
einem selbstständigen Faktor der europäischen Politik werde »mit Sicher­
heit« innerhalb der nächsten Jahrzehnte, vielleicht sogar für immer auszu­
schließen sein. Stattdessen sei ein Zusammenschluss der »Völker des gleichen
Kulturkreises und gleicher Wirtschaftsräume« zu erwarten, die Zeit der Natio­
nalstaaten also zu Ende gehen. Deutschland werde sich »vorbehaltlos und
kompromißlos« für den Westen entscheiden müssen. Die Gruppe »Fritz« habe
sich daher entschlossen, die Ergebnisse ihrer Kriegsarbeit den Amerikanern

474
zur Verfügung zu stellen. Aus dem gegenseitigen Vertrauensverhältnis ergebe
sich die Verpflichtung,

dass wir uns dieses Vertrauens [der Amerikaner] auch in der Zukunft würdig
erweisen. Wir müssen uns bewußt sein, dass unsere Arbeit im Dienste der
USA und für die USA getan wird – eine Arbeit, die es uns gleichzeitig ermög­
licht, den deutschen Lebensinteressen in weitem Maße dienen zu können.

Das bedeutete eine klare Absage an Bauns Konzept eines internationalisti­


schen Nachrichtendienstes, war aber in seiner bedingungslosen Unterordnung
in den Dienst der USA weit entfernt von einem Gentlemen’s Agreement, das
Gehlen später für sich reklamierte. Davon wird noch die Rede sein.
Die ideologischen Leitlinien vom Juli 1946 bildeten den Versuch, die
ehemaligen Soldaten, die man für den Aufbau nachrichtendienstlicher
Netzwerke benötigte, nicht – bzw. nicht nur – mit materiellen Vorteilen zu
gewinnen. Sie konnten in diesen Tagen Hilfe und Hoffnung in der nackten
Existenzangst und eine geistige Führung bieten, um aus dem Schock des
Zusammenbruchs und den Ressentiments der Niederlage für eine neue Idee
zu arbeiten. So jedenfalls interpretierte das später ein ehemaliger leitender
Mitarbeiter Bauns.110
Das Potenzial dafür war vorhanden, etwa in einem Kreis ehemaliger Gene­
ralstabsoffiziere, die an der Universität Frankfurt am Main getarnt studierten
und »Anschluß an eine im deutschen Sinne tätige Stelle suchten«. Der Lei­
ter dieser Gruppe war Oberst i. G. Hans Lutz, Sohn des »Panzer-Lutz«,111 dem
Vorgänger von Guderian. Ein Mitarbeiter Bauns hatte sich am 13. Juli 1946
konspirativ mit Lutz getroffen, der sich nur unter Verweis auf Gehlen, den er
als »anständigen Menschen« schätzte, bereit zeigte, Baun auch persönlich zu
sprechen. Lutz betonte außerdem, dass er sich mit seinen Kameraden keiner
Stelle anschließen würde, die mit den Amerikanern arbeitet, es sei denn, sein
»Ziehonkel« Franz Halder würde dazu sein Plazet geben. Im Wald von Ober­
ursel kam es dann zum Gespräch mit Baun, man verstand sich, aber Lutz legte
Wert darauf, erst noch mit Gehlen und Halder zu sprechen. Beide stimmten zu,
und bald darauf wurde die Dienststelle Lutz (DN »Org 4711«) eines der besten
Aufklärungsinstrumente innerhalb der Organisation Gehlen. Große Teile des
Netzes wurden allerdings bereits 1947 in der Sowjetzone verhaftet und von der

110 Erinnerungen von Graber, BND-Archiv, N 4/15.


111 Oswald Lutz, erster Leiter der geheimen deutschen Panzerschule im sowjetischen
Kasan, Schöpfer der deutschen Panzerwaffe, 1938 verabschiedet, 1941/42 kurzzeitig
Kommandeur des Verbindungsstabes Transnistrien.

475
SED-Zeitung Neues Deutschland, gestützt auf eine Meldung des sowjetischen
Zentralorgans Prawda, als »Organisation Halder« bezeichnet.112
Mit dem Eintreffen der Karteikisten von FHO am 23. Juli 1946 wurde es
möglich, neue Meldungen über Bewegungen und Stationierung von sowjeti­
schen Streitkräften in Mitteleuropa in einen größeren Zusammenhang einzu­
ordnen.113 Die Analyse ergab zwar keine unmittelbar drohende Gefahr für die
eigene Organisation, deren Mitarbeiter allerdings unverändert von der Sorge
umgetrieben wurden, in sowjetische Hände zu fallen. Wie prekär die eigene
Lage eingeschätzt wurde, zeigt eine Besprechung Gehlens mit Baun über den
Aufbau eines Netzes im Fall drohender russischer Besetzung. Hinsichtlich sol­
cher Eventualpläne zeigten die Amerikaner freilich keine Eile.
Wenige Tage später hatte Gehlen Gelegenheit, General Sibert, seinen Auf­
traggeber und Schutzherrn, in Anwesenheit und mit sprachlicher Vermittlung
von Captain Waldman persönlich kennenzulernen.114 Gehlen konnte nicht
ahnen, dass Sibert nach nur vier Wochen wieder nach Washington wechseln
würde. So gab er sich Mühe, den G-2 USFET für sich einzunehmen. Das erwies
sich als nicht ganz einfach, denn Sibert forderte Gehlen auf, ihm Einzelhei­
ten zum sowjetischen Militär in der SBZ zu melden, Truppennummern, Kfz-
Kennzeichen, Hinweisschilder etc. Gehlen erklärte, dass dieser Auftrag nicht
einfach sei. Womit und wie sollte er auch Nachrichten aus einer Tiefe von
100 Meilen ostwärts beschaffen? Sibert wollte aber keinesfalls drängen. Man
möge nur keine Fehler machen. Offenbar befürchtete er Enthüllungen, die ihm
persönlich angerechnet werden könnten und seine Zukunft in Washington
gefährden würden.
Immerhin konnte Sibert davon ausgehen, dass die kleine Generalstabs­
gruppe Gehlen ein erhebliches militärisches Potenzial für den Nachrichten­
dienst mobilisieren könnte, das über ein Netzwerk von kameradschaftlich
verbundenen Truppenoffizieren einen substanziellen Beitrag zu den Bedürf­
nissen von USFET leisten könnte. Diese vorerst nur lose geknüpften Kontakte
brachten aber zunächst nur verschwindend geringe militärisch verwertbare
Meldungen, wie sie in Frankfurt interessierten. Ohne die Arbeit der Gruppe
Baun blieb Gehlen letztlich »blind«.
Der Leiter der Operation »Rusty«, Lieutenant Colonel Deane, dem die
beiden Gruppen »Information« (Baun) und »Intelligence« (Gehlen) unter­
stellt waren, hielt nichts von den Ambitionen Gehlens, auf deutscher Seite die

112 Ob das auf einer Fehlinformation beruhte oder eine gezielte Desinformation gewesen
ist, muss offenbleiben; Chief Foreign Broadcast Information Branch to Assistant Direc­
tor for Operations, 30.3.1948; in: Ruffner (Hg.), 1945-49, Bd. II, S. 7-9.
113 Eintrag 23.7.1946, BND-Archiv, 4310.
114 Eintrag 29.7.1946, ebd.

476
Gesamtführung zu übernehmen. Seine Vorstellung war es, dass »zwei Pferde
in einem Gespann am besten ziehen«.115 Das führte bei Gehlen zu der Einsicht,
dass die Situation »trotz allen guten Willen auf beiden Seiten« ziemlich labil
war.116 Er schätzte Deane als »prachtvollen Frontsoldaten« ein, der bislang
keine Erfahrung mit nachrichtendienstlicher Arbeit gehabt hatte, und ver­
traute darauf, ihn Schritt für Schritt auf seine Seite ziehen zu können. Sein
Gegenpart Baun zeigte weiterhin keine Neigung, sich in ein Unterstellungs­
verhältnis hineinzufinden, wie Gehlen es für notwendig erachtete. Baun hatte
nun einmal dank seiner Aufklärungsergebnisse die besseren Karten bei den
Amerikanern.
Baun bemühte sich darum, neben der laufenden Spitzelarbeit bei der
Gegenspionage im Inland und der Beschaffung militärischer Informationen
im Nahbereich der SBZ auch seine Kontakte nach Ostmitteleuropa auszu­
dehnen. Den sehr aktiven antisowjetischen Widerstand im Baltikum und die
Reste der ehemaligen polnischen Heimatarmee nutzten insbesondere die Bri­
ten, die ukrainischen Widerstandsgruppen und andere einheimische Oppo­
sitionskräfte in Südosteuropa unterstützten die Amerikaner. Aber in beiden
Fällen konnte Baun mit seinen Erfahrungen während des Krieges und wenigen
noch bestehenden Verbindungen behilflich sein.117 Gehlen nutzte seine frühe­
ren dienstlichen Kontakte, um die Arbeit zu unterstützen und zugleich in sein
Fahrwasser zu geleiten. So schickte er Ende Juli 1946 seinen wichtigsten Für­
sprecher, Captain Waldman, zusammen mit dem Stellvertreter Bauns, Sieg­
fried Graber,118 nach Gmunden am Traunsee (Österreich). Dort trafen sie den
ehemaligen Leiter des Frontaufklärungskommandos (FAK) 106, Kurt Dohnal
(DN »Mallner«) und seinen Stellvertreter Anton Halter (DN »Toni«), die Ende
März 1945 bei der Heeresgruppe Süd eingesetzt gewesen waren und die Gehlen
damals über seine Absichten informiert hatte.
Auf diese Weise verstärkte Gehlen seine Möglichkeiten hinsichtlich Süd­
osteuropas, zusätzlich zu dem bestehenden Netzwerk von Baun, das dieser
hauptsächlich mit antikommunistischen Emigrantengruppen geknüpft hatte.
Mit dem Argument, Bauns Organisation »Otto« sei bei Briten und Sowjets
bereits aufgedeckt, forderte Gehlen von Sibert die Abstellung von vier weite­

115 Debriefing of Eric Waldman on the US Army’s Trusteeship of the Gehlen Organization
during the Years 1945-1946, 30.9.1969; in: Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I, S. 47.
116 Gehlen, Der Dienst, S. 123.
117 Ausarbeitung von Siegfried Graber zur Frage der Arbeit mit Litauern, Letten und Esten,
26.7.1946, BND-Archiv, N 4/1.
118 Siegfried Graber baute 1946 die operative Beschaffung in der SBZ auf, 1956 Leiter der
Schule des BND, nach Differenzen mit Gehlen in den Strategischen Dienst abgescho­
ben.

477
ren US-Offizieren an, um die Kontrolle und Sicherheit bei »Otto« zu erhöhen.
Als seinen persönlichen Beitrag zur Verwirrung des Gegners schlug er eine
Sprachregelung vor, wonach »Otto« in Wirklichkeit für die Briten arbeite und
lediglich eine amerikanische Abdeckung benutze. Der General als Amateur­
spion zeigte sich also bereits vom Virus der Desinformation und des Geheim­
schutzes befallen. Vorsichtshalber entsandte er mit Major i. G. Fritz Scheibe
(DN »Ali«), letzter Leiter der Führungsgruppe FHO, einen eigenen engen Mit­
arbeiter in den Apparat von Baun.119
Rund drei Wochen nach seiner ersten Arbeitsbesprechung in Deutschland
hatte Gehlen Gelegenheit, mit General Sibert die weiteren Modalitäten zu
besprechen. Die kurze Aussprache in Anwesenheit von Waldman begann mit
der gegenseitigen Versicherung, dass man angesichts der sowjetischen Bedro­
hung in einem gemeinsamen Boot sitze. Alle weiteren damit verbundenen Pro­
bleme seien der großen Politik zu überlassen. Gehlen hatte dann Gelegenheit,
seine Arbeitskonzeption zu erläutern. Seine Probleme mit Baun und die Frage
nach der deutschen Führungsspitze innerhalb der Operation »Rusty« wird er
wohl nur angedeutet haben, um – wie es Gehlens Art war – nicht mit der Tür
ins Haus zu fallen.
Das hielt ihn später nicht davon ab, den Eindruck zu vermitteln, dass Sibert
ihm die Führungsspitze für die Gesamtorganisation übertragen habe.120 Nicht
auszuschließen, dass Gehlen für sich das Gespräch als auf gleicher Augen­
höhe empfand, schließlich konnte er für sich in Anspruch nehmen, der rang­
höchste deutsche Mitarbeiter des amerikanischen Generals zu sein. Sein Vor­
trag berührte allgemein die »Geistige Führung der Organisation«.121 Sibert,
so berichtete später Waldman, habe sich lediglich auf den Appell beschränkt,
Baun und Gehlen sollten doch gemeinsam mit den Amerikanern die bolsche­
wistische Gefahr bekämpfen. Es dauerte tatsächlich noch mehr als sechs
Monate, bis es Gehlen gelang, die Amerikaner zur Anerkennung seiner Lei­
tungsposition zu bringen.
Das Gespräch mit Sibert nutzte Gehlen später dazu, die Legende von einem
»Gentlemen’s Agreement« in die Welt zu setzen.122 Demnach sei beschlossen
worden, eine deutsche nachrichtendienstliche Organisation unter Nutzung
des vorhandenen Potenzials zu schaffen, mit der die »alte Arbeit« nach Osten

119 Chronik, 30.7.1946, BND-Archiv, 4310. Major i. G. Scheibe war zuletzt Leiter der Füh­
rungsgruppe bei FHO und dort für die tägliche Feindlagebearbeitung zuständig gewesen.
120 Gehlen, Der Dienst, S. 124-125.
121 Geistige Führung der Organisation: Vortrag Gehlens vor dem G2 der US Army General
Edwin Luther Sibert, 9.8.1946, BND-Archiv, N 1/2, Blatt 150-155.
122 Gehlen, Der Dienst, S. 118-119. Zutreffend jetzt auch die Einschätzung von Wolf,
Anfänge, S. 207.

478
fortgesetzt werden könne. Diese Organisation würde nicht »für« oder »unter«
den Amerikanern arbeiten, sondern »mit« ihnen, und zwar unter ausschließ­
lich deutscher Führung. Sie werde ihre Aufgaben von amerikanischer Seite
bekommen, solange es noch keine neue deutsche Regierung gebe. Die Finan­
zierung werde durch die USA erfolgen, aber nicht aus dem Etat für Besatzungs­
kosten (die von deutscher Seite aufzubringen waren). Dafür erhielten sie alle
Aufklärungsergebnisse. Eine künftige deutsche Regierung werde dann über die
Fortsetzung der Arbeit entscheiden. Bis dahin gelte: »Sollte die Organisation
einmal vor einer Lage stehen, in der das amerikanische und das deutsche Inte­
resse voneinander abweichen, so steht es der Organisation frei, der Linie des
deutschen Interesses zu folgen.«123
Gehlen behauptete in seinen Memoiren, diese Vereinbarung sei damals
nur mündlich getroffen – was Waldman als Augenzeuge ebenso bestritt wie
Sibert124 – und erst später fixiert worden. Die Quellen zu der weiteren Zusam­
menarbeit im Herbst 1946 bestätigen aber, dass die Behauptungen Geh­
lens nicht der Wahrheit entsprechen. Noch sein Nachfolger Wessel hat sich
1985 dieser für das Selbstverständnis des späteren BND zentralen Legende
bedient,125 vielleicht im guten Glauben an das, was ihm Gehlen 1946 nach dem
Gespräch mit Sibert erzählt haben mag. Auch Baun wird von Gehlen in diesem
Sinne unterrichtet worden sein, was seinen Widerstand gegen eine gleichsam
militärische Unterstellung hemmen mochte, aber nicht brach.
Zwei Wochen nach seinem Gespräch mit Gehlen erhielt Sibert eine Note
von dem deutschen General. Darin zeigte sich dieser besorgt darüber, dass
Bauns Organisation von Briten und Sowjets aufgedeckt worden sei und
zugleich wachsende Schwierigkeiten mit dem CIC verursache.126 Ehemalige
Abwehr-Angehörige wären derzeit für den sowjetischen Nachrichtendienst in
der US-Zone und in Österreich tätig – womit subtil unterstellt wurde, dass
Bauns Truppe womöglich schon längst unterwandert sei. Das CIC war bei sei­
ner Suche nach NS-Größen in Künzelsau auf die »Org. 500« gestoßen. Deren
Leiter mit dem Decknamen »Hengl« war SD-Mann gewesen und von Baun
übernommen worden, weil er ihn für einen großen Nachrichtendienstler hielt.
»Hengl« entwickelte zahlreiche Aktivitäten, was bei Schwarzmarktgeschäf­
ten zur Finanzierung seiner Unternehmungen zu Verhaftungen führte und
eine mühsame Freischaltung durch US-Offiziere erforderlich machte. Der Fall

123 Gehlen, Der Dienst, S. 119.


124 Report of Interview with Brigadier General Edwin L. Sibert on the Gehlen Organization,
26.3.1970; in: Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I, S. 44.
125 Gerhard Wessel: BND – der geheime Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik
Deutschland, Beiträge zur Konfliktforschung 15 (1985) 2, S. 5-23, hier S. 10.
126 Notiz Gehlens für General Sibert, 23.8.1946, BND-Archiv, 1111, Blatt 24-27.

479
zeigte, dass Baun offenbar nicht in der Lage war, die von den Amerikanern
gewünschte Diskretion zu gewährleisten.
Dagegen stellte sich Gehlen selbstbewusst als Gesamtleiter dar, der einer­
seits in der Lage war, auf dem Gebiet der Spionageabwehr Hinweise für sowje­
tische Agententätigkeit in der US-Zone vorzulegen, nicht ohne den Seitenhieb
auszuteilen, dass die Beschaffung, also die Arbeit von Baun, hier bisher sehr
»dünn« gewesen sei; andererseits brüstete er sich damit, in der Schweiz und in
Liechtenstein bereits mehrere Verbindungsleute zu haben. Mit seiner Vorlage
für Sibert verband Gehlen einen bezeichnenden Anhang »Plan for the Organi­
zation OTTO«. Sibert reagierte mit den Worten: »If anything goes wrong, God
help the lot of you!«127
Bauns Stellvertreter Graber kommentierte diese gegen seinen Chef gerich­
tete Vorlage später mit bitteren Einsichten.128 Den Plan für eine Neuorganisa­
tion von »Otto« habe Gehlen vermutlich von Major i. G. Hiemenz verfassen
lassen, derjenige Offizier von FHO, der das größte Verständnis und Einfüh­
lungsvermögen für die nachrichtendienstliche Arbeit gehabt habe. Gehlen sei
gegenüber Sibert sehr gewandt aufgetreten, mit einer geschickt aufgebauten
Beweisführung, die für einen Außenstehenden konzis und schlüssig erschei­
nen mochte. Sie entbehrte nicht der üblichen Aussage, die Schuld für Schwie­
rigkeiten liege bei anderen, nicht bei ihm selbst. Graber hielt Gehlens verdeckte
Drohgebärde, es sollte überlegt werden, die Arbeit der Gruppe »Otto« einzu­
schränken, für bemerkenswert. Es zeige sich, dass Gehlen offenbar viel in den
USA darüber gelernt hatte, wie man die Amerikaner psychologisch beeinflus­
sen könne. Mit seinem angedeuteten »Wunsch« habe er freilich noch einige
Monate warten müssen.
Drei Wochen nach seiner ersten persönlichen Begegnung mit Sibert kam es
zu einer weiteren, größeren Besprechung, zu der die Deutschen als Führungs­
trio (Gehlen/Wessel/Baun) antraten.129 Sibert brachte nur wenig Zeit mit,
sodass Gehlen seinen vorbereiteten Lagevortrag kürzen musste. Dem fiel vor
allem der Text über die ideologischen Grundlagen der Arbeit zum Opfer, den
Wessel vorbereitet hatte. Sibert zeigte dafür vermutlich ohnehin kein größe­
res Interesse. Dabei enthielt dieser Teil immerhin einige auffällige, wenngleich
relativierende Einlassungen zur deutschen Kriegsschuld.
Darin hieß es, die Schaffung eines neuen freiheitlich-demokratischen
Deutschland sei im Rahmen eines größeren Zusammenschlusses der westli­

127 So Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 28.10.1971, IfZ, ED 100-69-62.


128 Kommentar von Graber aus dem Jahr 1981 zu »Note for General Sibert«, BND-Archiv,
N 4/15.
129 Bericht für General Sibert, 30.8.1946, BND-Archiv, 1111, Blatt 55 – 66, dort auch die fol­
genden Zitate.

480
chen Völker nur mithilfe der USA möglich, und die deutsche Gruppe glaube,
dass sie durch ihre Arbeit »einen positiven Beitrag dazu liefern können, das
wieder gut zu machen, was aus der vergangenen Epoche als Vorwurf der Welt
auf dem deutschen Volke lastet«. Daraus konnte man eine zumindest indirekte
Anerkennung von Schuld herauslesen. Die Beurteilung der Schuldfrage sei, so
hieß es weiter, einer späteren Generation vorbehalten, »die über den notwen­
digen zeitlichen und inneren Abstand verfugt. Für uns heute genügt zu wissen,
dass die Soldaten aller Dienstgrade ihre Pflicht gegenüber dem eigenem Volk
bis zum letzten erfüllt haben.«
Mehr Aufmerksamkeit fand der Vortrag über die Beschaffungsorganisation,
in dem Bauns Konzeption erläutert wurde. Die Erfahrungen während des Krie­
ges, so hieß es, hätten gezeigt, dass angesichts der Verhältnisse in Ost- und
Südosteuropa sowie Asien nachrichtendienstliche Arbeit in diesen Ländern
nur von Angehörigen dieser Nationen durchgeführt werden kann. Westliche
Ausländer würden im Allgemeinen sofort erkannt, auch wenn sie jahrelang in
diesen Ländern gelebt haben.
Ein Nachrichtendienst in diesen Gebieten könne nur überwiegend auf
ideologischer Grundlage organisiert werden. Trotz unterschiedlicher kul­
tureller Standards seien nur wenige Menschen käuflich. Daher müssten
antisowjetische Gruppen benutzt werden, auch wenn sie – wie die Organi­
sation Ukrainischer Nationalisten (OUN) – während des Krieges gegen die
Deutschen gekämpft haben. Nur sie könnten die Erkundung strategischer
Objekte im feindlichen Hinterland gewährleisten und wichtige Agenten in
entscheidenden Positionen des Gegners gewinnen. Führung und Kontrolle
dieser Organisationen basierten auf dem Vertrauen, das die Führer »Otto«
entgegenbrächten und das sich über viele Jahre entwickelt habe. Der gesamte
Aufbau müsse sich »sorgsam und systematisch« entwickeln. Qualität gehe
vor Quantität.
Wie könne man die Leistungsfähigkeit erhöhen?

Um den Wetteifer der Führer der Unterorganisationen zu fördern und


dadurch allmählich bessere Ergebnisse zu erzielen, hat es sich als wirksam
erwiesen, den erfolgreichen Gruppen mehr, den weniger erfolgreichen klei­
nere Unterstützungen zu zahlen. Im Rahmen eines weitreichenden Nachrich­
tendienstes sei es ebenfalls von Vorteil, jede Operationseinheit mit einem
Wirtschaftsunternehmen zu verbinden, das ihnen Abdeckung und bis zu
einem gewissen Grade auch wirtschaftliche Unabhängigkeit gibt.

Zu den Zielen und Aufgaben hieß es: Die Zentrale sei im Einvernehmen mit
den Direktiven des G-2 USFET aufgebaut und sei eine amerikanische Einrich­
tung, die keine Konkurrenz zu anderen nachrichtendienstlichen Organisatio­

481
nen darstelle. Sie habe aber gewisse Mittel zur Verfügung, die US-Stellen nicht
benutzen könnten, ohne die amerikanische Außenpolitik zu kompromittieren.
Die ideologische Kontrolle der Feldorganisation sollte nicht durch schriftliche
Unterlagen, sondern durch mündlich vorgetragene Gedankengänge erfolgen.
Gehlen übernahm in dieser Hinsicht die Vorstellungen Bauns, zumal man sich
so der Kontrolle entziehen könnte.
Siberts Vorstellung, einen Teil der Organisation in die USA zu verlegen,
könne er unter Umständen zustimmen, denn ein gegen die UdSSR gerichte­
ter Nachrichtendienst bleibe unvollständig, wenn er nur auf Europa begrenzt
wäre. Die Zentrale aus der Reichweite möglicher sowjetischer Einmischungen
herauszubringen sei durchaus vorteilhaft. Eine verlässliche Tarnung könne
ohnehin nur in den USA erreicht werden. Zu der Führung müsse aber auch die
Auswertung kommen. Beide gehörten zusammen. Die Nachteile einer räumli­
chen Trennung von G-2 USFET ließen sich überwinden.
Gehlen machte den Vorschlag für einen Verlegungsplan: Auswertung und
operationeile Führung sollten in den USA über eine zivile Abdeckung zusam­
mengeführt werden. Eine Führungsstelle in Europa würde für eine regelmä­
ßige schnelle Nachrichtenverbindung sorgen. Besonders wichtig sei es, die Tar­
nung so anzulegen, dass es den USA jederzeit möglich wäre, jede Verbindung
mit Personal der ehemaligen Abwehr abzustreiten. Notwendig sei außerdem
die »völlige Verschleierung der Person seines Gründers«. Gehlen hatte also
auch sein persönliches Wohl und seine Führungsposition im Auge, für sich und
seine Leute den Umzug in die USA, mit der Möglichkeit, sich notfalls von Baun
und seiner »Feldorganisation« distanzieren zu können.
Sibert vertrat einen klaren Standpunkt. Gehlens Generalstabstruppe schien
ihm offenbar vertrauenswürdig und willkommen. Die Organisation »Otto«
hingegen barg jede Menge politischer Risiken. Deshalb hielt er die Inspektion
durch einen US-Offizier für notwendig, der sich länger in Europa aufhalten
und sich damit beschäftigen sollte. Die Idee der Wirtschaftstarnung sei gut,
aber man müsse aufpassen, dass sich die Leute nicht zu sehr auf das Geldver­
dienen konzentrierten und den Nachrichtendienst vernachlässigten.
Vor allem aber: Die Gesamtorganisation müsse eine rein amerikanische
werden und ihren deutschen Charakter verlieren – von einem Gentlemen’s
Agreement war also überhaupt nicht die Rede. Er müsse die Garantie geben
können, dass die Organisation nur für die USA und nicht gegen die Amerika­
ner arbeitet. Mit der Annahme der US-Staatsbürgerschaft sei dann auch die
Pflicht zur Loyalität verbunden. Er werde im September in die USA gehen, um
an der Neuordnung der Nachrichtendienste mitzuarbeiten. In einigen Mona­
ten würde man von ihm hören. Eine Übersiedlung komme vielleicht im nächs­
ten Frühjahr in Betracht, da erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden seien,
insbesondere im Hinblick auf das Einwanderungsgesetz.

482
Gehlen übergab als Abschiedsgeschenk zur Erinnerung an die Arbeit Edwin
L. Siberts in Europa einen Druck der FHO-Beurteilungen während des Krieges,
mit der Prüfnummer I. Das war eine Geste des Respekts für seinen Förderer,
der bisher für das Überleben seiner organisatorischen Zelle gesorgt hatte,
zugleich wieder einmal der Wink mit dem Mythos Fremde Heere Ost. Bei der
nachfolgenden internen Aussprache hielt Gehlen fest, dass die Amerikaner -
entgegen den Vorstellungen Bauns – die Gesamtorganisation nicht als freies
Wirtschaftsunternehmen gestalten wollten, das mit Nachrichten handelt, son­
dern als eine dem amerikanischen Staat gehörende Institution mit Beamten­
verhältnis. Das seien sachlich anzuerkennende Forderungen, die man umge­
kehrt genauso gestellt hätte. Nun müsse man sich darauf einstellen und sich
damit abfinden.
Baun äußerte allerdings Bedenken, dass seine Außenorganisationen nicht
mehr mitmachen könnten, wenn das Unternehmen rein amerikanisch würde
und nicht »international« bliebe unter dem Schlagwort »Kampf dem Bolsche­
wismus«. Gehlen erkannte an, dass diese Sorge berechtigt sein könnte, hielt es
aber für entscheidend,

dass wir zum Kampf gegen den Bolschewismus alles einsetzen, und dazu
gehört auch die bedingungslose Erfüllung solcher amerikanischer Forderun­
gen. Wenn der Bolschewismus erst einmal vernichtet sein wird, lässt sich
weiter sehen, ob dann noch ein ND gegen >Russland< in Frage kommt und ob
dabei die betreffenden Unterorganisationen mitmachen werden oder nicht.
Es ist richtig, die Dinge bis zum Letzten durchzudenken, aber entschei­
dend ist, dass wir unsere Aufgabe heute erfüllen. Unsere Entscheidung für
den Westen und damit für Amerika ist eine kompromißlose, und wir haben
damit alles zu tun, um den USA zu helfen – solange nicht die persönliche
Ehre berührt wird.

Gehlen blieb also seiner Grundlinie treu. Er war kein Prinzipienreiter, auch
die ideologische Ausrichtung auf den Antibolschewismus blieb letztlich ein
Mittel zum Zweck. Entscheidend für ihn war das Tagesgeschäft, das heißt die
Sorge darum, seine Organisation um jeden Preis am Leben zu erhalten und
nach Möglichkeit als einen umfassenden Nachrichtendienst zu etablieren -
möglichst im Zentrum der Macht. Um seine angestrebte Position als Chef bei­
der Gruppen abzusichern, hatte Gehlen eine Verpflichtungserklärung für die
Angehörigen der Leitung der Operation »Rusty« vorbereitet. Darin sollte sich
das gesamte Führungspersonal per Unterschrift zum restlosen Einsatz und
zur unbedingten Loyalität bekennen, sich verpflichten, Vorsicht bei Kontakten
walten zu lassen, Ressourcen sorgfältig zu verwalten und zur Geheimhaltung
auch nach Ausscheiden aus dem Dienst. Im Gegenzug würden die USA für die

483
Angehörigen auch dann zu sorgen haben, wenn aufgrund höherer Gewalt das
Arbeitsverhältnis erlischt.130
Abends besprach Gehlen mit Waldman die Eindrücke von dem Lagevortrag
für seinen Chef. Der Captain bestätigte, dass Sibert von der Arbeit voll über­
zeugt sei, auch ohne dass Gehlen Gelegenheit gehabt habe, den zweiten Teil
seiner Ausführungen mit den bisherigen Arbeitsergebnissen vorzutragen.131
Baun, der an seinen eigenen Vorstellungen eines international organi­
sierten antisowjetischen Nachrichtendienstes hing, konnte sich nun kaum
noch IIIusionen machen, seine Ideen umsetzen zu können. Das von Gehlen
demonstrierte Herrschaftsverhalten erzeugte bei Baun eine Art von »General­
stabsphobie, die aus Hochachtungs- und Minderwertigkeitsgefühlen urgrün­
dig ihre Nahrung bezog«.132 Er reagierte jetzt aus der Haltung des »Under­
dogs« heraus und behandelte die Generalstabsoffiziere, die nicht unmittelbar
zur Gruppe Gehlen gehörten, hinter ihrem Rücken mit Verachtung. Indem er
ihnen gern unzumutbare Aufgaben stellte, schaffte er sich zusätzlich erbitterte
Feinde, wie Bauns Stellvertreter Graber die Situation im Rückblick beschrieb.
Hinzu seien jene gekommen, die Bauns Konzeption eines unabhängigen, von
der freien Wirtschaft getragenen antibolschewistischen Nachrichtendiens­
tes keine Chance einräumten und eine solche an Vorbilder der Weimarer
Republik angelehnte Idee angesichts des zertrümmerten und demontierten
Deutschland der Jahre 1946/47 als Utopie ansahen. Nicht zuletzt sei Baun
daran gescheitert, dass es ihm nicht gelang, zu den Amerikanern ein besseres
und freundschaftliches Verhältnis aufzubauen, womit Gehlen kein Problem
hatte.
Baun, der in den ersten Wochen nach dem Eindruck von Graber als loyaler
Partner Gehlens gearbeitet hatte, wurde nach dem Besuch von Sibert misstrau­
isch. Gehlen habe ihm gesagt, berichtete Baun seinem Stellvertreter Graber, er
werde jetzt auch politisch tätig werden. Graber antwortete sarkastisch: »Das
hat uns gerade noch gefehlt. So fing es 1918 bei Hitler auch an!«133 Es ging offen­
sichtlich um die Ausweitung der Beschaffung von vorwiegend militärischen
Nachrichten, um die Ausforschung politischer sowie wirtschaftlicher Informa­
tionen, was angesichts der immensen Arbeit mit dem Aufbau der Beschaffung
für Graber kaum vorstellbar erschien. Gehlen hatte bei Sibert zwar perspek­
tivisch die Voraussetzungen für einen – deutschen – Gesamtdienst skizziert,
der auf allen Gebieten das Potenzial und die Absichten des Gegners aufklären

130 Verpflichtungserklärung, BND-Archiv, 1111, Blatt 88.


131 Kopie des Berichts für General Sibert, 30.8.1946, Chronik, S. 3-12, BND-Archiv, 4310.
Anlagen dazu in Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 71.
132 Kommentar Grabers, S. 49, BND-Archiv, N 4/15.
133 Ebd., S.50.

484
sowie die Gegenspionage umfassen sollte.134 Aber er stellte sich auch nüchtern
auf die vorerst geringen Arbeitsmöglichkeiten ein, die sich in Richtung politi­
sche Aufklärung erst allmählich erweitern lassen würden.
Im Spätsommer 1946 stand die interne Diskussion ganz im Zeichen der
immer noch anhaltenden Diskussion über eine mögliche Verlegung in die USA.
Nach Gehlens Meinung ging alles viel zu schleppend. Die Amerikaner schienen
die »Größe der Aufgabe und der Gefahren noch immer nicht richtig erfasst zu
haben«.135 Es deutete sich an, dass sich Sibert bei seiner geplanten Rückkehr
nach Washington dafür einsetzen wollte, das ganze Unternehmen direkt im
War Department zu verankern.
Gehlen zeigte sich wie stets anpassungsfähig genug, um die Möglichkeit der
Übersiedlung in die USA positiv zu gestalten. Man könne die Lösung nicht ein­
fach ablehnen, sonst hätte man das Kriegsministerium in der Zukunft immer
gegen sich. Also müsse man die Lösung annehmen und auf ihrer Basis versu­
chen, »die Sache weiter zu bauen«.136 Die Hilfe der US Army sei günstig, weil die
Tarnung dann leichter falle. Baun wollte zwar zunächst mitgehen, dann aber
bald wieder nach Europa zurückkehren, um den Kontakt zu seiner Außenor­
ganisation nicht zu verlieren, denn die würde sich sonst verlassen fühlen und
unruhig werden, wie er meinte.
Nach einem Gespräch mit Waldman ordnete Gehlen an, die Vorbereitun­
gen für eine Verlegung der Familien in die USA zu beschleunigen.137 Gleich­
zeitig sei ein Stellungswechsel in Europa vorzubereiten. An Baun erteilte er
den Auftrag, Anzeichen zu beschreiben, die auf einen kurz bevorstehenden
russischen Angriff hindeuten würden. Hier verknüpfte sich die persönliche
Sorge davor, doch noch in die Hände des Feindes zu fallen, mit dem Bestre­
ben, sich den zuständigen amerikanischen Militärs, jetzt wo sein bisheriger
Beschützer Sibert nur schwer erreichbar war, als nützlich in Erinnerung zu
bringen.
Das Ergebnis war eine Zusammenfassung der wichtigsten Meldungen nach
dem Stand vom 30. August 1946. Sie enthielt nur militärische Meldungen, die
den Raum der SBZ betrafen, etwa die Zuführung von Panzerkräften aus Öster­
reich in Richtung Wittenberg, eine starke Belegung des Berliner Raumes mit
weiteren Panzerkräften, die aus Südosteuropa kamen, und weitere Umgrup­
pierungen. Der Raum bis 50 Meilen hinter der Zonengrenze sei vorwiegend mit
Infanterie belegt, dahinter gebe es eine gemischte Belegung mit Panzern und

134 Gehlen, Der Dienst, S. 125.


135 Gespräch Gehlens mit Wessel, 25.8.1946, Chronik, BND-Archiv, 4310.
136 Gespräch Wessel, Gehlen, Baun, 29.8.1946, ebd.
137 Gespräch Gehlen, Baun, Wessel, 31.8.1946, BND-Archiv, N 1/2.

485
Infanterie. Zudem sei ein Aufschließen der Truppen des schlesischen Raumes
nach Sachsen festzustellen.138
Die Organisation drängte die Amerikaner angesichts der Gesamtlage und
einer verstärkten sowjetischen Aufklärungstätigkeit dazu, die eigene militäri­
sche Aufklärung auszubauen. Dafür könnten frühere deutsche Verbindungen
genutzt werden, die in der Tiefe Südosteuropas bestanden. Die Lenkung sollte
von Deutschland aus erfolgen. Es gelte, vier Residenturen in der amerikani­
schen Zone in Österreich einzurichten, außerdem je eine in Wien und Triest.
Durch eine Verbindung mit dem Stab des jugoslawischen Staatschefs Tito
sollte versucht werden, in die Sowjetunion einzudringen, ebenso über Verbin­
dungen zum bulgarischen Militär.139
Am 10. September 1946 traf die deutsche Führungsgruppe mit Major Gene­
ral Withers A. Burress zusammen, der vorübergehend Nachfolger von Sibert
als G2 USFET geworden war.140 Burress zeigte sich besonders interessiert am
Funkeinsatz, den Gehlen noch nicht leisten konnte, und an Stimmungsbe­
richten aus Deutschland, die auch jenseits seiner Kompetenz und Erfahrung
lagen. Gehlens Hauptinteresse blieb die Feindlagebeurteilung. Er musste also
die Amerikaner davon überzeugen, dass die UdSSR eine ernsthafte Gefahr dar­
stellte, um seiner eigenen Organisation Lebens- und Entwicklungsmöglichkei­
ten zu eröffnen. Andererseits durfte er auch nicht übertreiben, denn die US-
Militärs verfügten durchaus über eigene Informationsquellen.
So entspann sich im Anschluss des Besuches von Burress ein bemerkens­
werter Disput zwischen Gehlen und Wessel. Die beiden ehemaligen Spitzen­
leute von FHO mit ihrer langjährigen Erfahrung in der Beeinflussung überge­
ordneter Führung waren sich in der Sache durchaus einig. Wessel kritisierte
aber offen, dass Gehlen gegenüber Burress davon gesprochen hatte, es sprä­
chen 80 Prozent Wahrscheinlichkeit für eine friedliche und 20 Prozent für eine
überraschende Entwicklung. Das hätte man Burress nicht in dieser Form sagen
sollen. Nach seiner Meinung hätte Gehlen die Beurteilung so formulieren sol­
len: Die Sowjetunion sei militärisch im Spätherbst so weit fertig, dass sie Rest­
europa jederzeit ohne größeres Risiko übernehmen könnte. Ob sie so handelt,

138 Zusammenfassung der wichtigsten Meldungen auf dem Order-of-Battle-Gebiet nach


dem Stand vom 30.8.1946, erste Arbeitsergebnisse der Organisation, ebd., Blatt 176 -179.
139 Note for Colonel Fritzsche, Punkte zur Verwendung bei Besprechung mit G2 in Wien,
Chronik, BND-Archiv, 4310, Blatt 53-57.
140 Burress war ein erfahrener Generalstäbler und zuletzt Kommandeur der 100. US-Infan­
teriedivision gewesen. Er übernahm wenige Tage nach dieser Begegnung das Kom­
mando über das VI. US-Korps, diente als Inspector General for European Command
(EUCOM), im Mai 1947 als Kommandeur der U. S. Constabulary, der amerikanischen
Polizeikräfte in Deutschland, ab 1949 als Intelligence Director bei EUCOM.

486
sei eine Frage der politischen Entwicklung, was sich zurzeit nicht abschließend
beurteilen lasse. Rein vernunftgemäße Überlegungen sprächen zwar gegen
eine kriegerische Entwicklung. Aber Diktatoren hätten oft ihre eigenen Lau­
nen, die jeglicher Vernunft zuwiderlaufen.
Gehlen, ganz der Taktiker, erklärte, er habe gegenüber Burress nicht »gleich
in gewissem Sinn als Pessimist« auftreten wollen. Und: Wenn weitere ent­
sprechende Meldungen vorliegen würden, könne man dann in ein oder zwei
Wochen »die Dinge schärfer beim Namen nennen«. Ohne Burress besser zu
kennen, wäre es sicher unklug gewesen, den für Europa zuständigen G-2-Gene­
ral mit düsteren Prognosen beeindrucken zu wollen, ohne handfeste Beweise
für einen bevorstehenden sowjetischen Angriff auf den Tisch legen zu können.
Für die Zukunft vertraute Gehlen auf seine Verbindungen in die USA, gemeint
war wohl Sibert. In einem halben Jahr könne alles geregelt sein. Man müsse
vorsichtig agieren, denn »wir sind ein rohes Ei«.141
Derweil bemühte sich General Sibert in Washington um Lobbyarbeit für
die Gehlen-Gruppe. Er forderte aus der Ferne eine Studie an, um – »without
compromising« – das Interesse von Lieutenant General Hoyt Sanford Vanden­
berg zu wecken. Der renommierte Army-Air-Corps-Offizier hatte Ende 1943
eine Luftwaffenmission in die UdSSR geleitet und war 1946 als Director of Cen­
tral Intelligence Koordinator der verschiedenen US-Nachrichtendienste sowie
Berater des Präsidenten. Lieutenant Colonel Deane erhielt von Gehlen also
einen Überblick über das Personal, einen stichwortartigen Rückblick auf die
kurze Geschichte der Organisation, Beispiele für die Arbeitsweise, Probleme
der Operation »Rusty« sowie ein Memorandum über die militärische und poli­
tische Situation in Europa und in Nahost, samt Grafiken und Tabellen.142
Sibert hatte inzwischen das CIC formell über die Gehlen-Gruppe informiert,
ebenso General Vandenberg. Da traf die Mitteilung ein, dass vom Weißen Haus
die Genehmigung zur Einreise von zehn Personen mit Familien eingetroffen
sei. Die Realisierung sei vielleicht in drei Monaten möglich. Gehlen hielt das
nicht für ausreichend. Er wollte mindestens 30 Personen seiner Organisation
zusammen mit deren Familien möglichst in einem Zuge übersiedeln lassen.
Für die drei Gruppen (»Fritz«/Gehlen, »Otto«/Baun und Presseauswertung/
Herre) sollten jeweilige Tarnfirmen geschaffen werden.143 Die Unterbringung
sollte in der Nähe von Washington erfolgen, die drei Gruppen getrennt, aber
eng beieinander – offenbar nach dem Vorbild, das Gehlen vom ostpreußischen

141 Chronik, 10.9.1946, BND-Archiv, 4310.


142 Besprechung Gehlen, Wessel, Deane, 20.9.1946, ebd. Entwürfe und Anlagen in Gehlen-
Kisten, Mappe Nr. 72; Report of Interview with Brigadier General Sibert 26.3.1970; in:
Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I, S. 44.
143 Chronik, 15.9.1946, BND-Archiv, 4310.

487
Mauerwald her vertraut war. Die Führung der Auswertung überließ Gehlen
jetzt seinem Adlatus Wessel, um sich auf die Durchsetzung seines Anspruchs
auf die Gesamtführung über beide bislang unabhängigen Gruppen konzen­
trieren zu können.144
Zweifellos profitierte aber Gehlen auch in diesen Tagen von den weltwei­
ten Verbindungen Bauns. Von ihm erfuhren Gehlen und Wessel, dass Pater
Augustinus Rösch, einflussreicher Direktor der Caritas in Bayern, von einem
Jesuitenkongress in Rom zurückgekehrt sei.145 Gehlen betonte, dass man
unbedingt versuchen solle, in die Jesuitenkreise hineinzukommen. Ein halbes
Jahr später hatte er Gelegenheit zu einer Aussprache mit Rösch, der später
Kontakte zum Kanzleramt vermittelte. Verbindungen zum Vatikan zu knüp­
fen blieb in dieser frühen Phase eine der wenigen Möglichkeiten, sich ein
wenig von den Amerikanern zu lösen. So kam Gehlen zum Beispiel später an
Meldungen über den Publizisten Eugen Kogon, der durch sein Buch Der SS-
Staat auf sich aufmerksam gemacht hatte. Als dieser bei einer internationalen
Tagung in Rom Enthüllungen über eine bereits laufende deutsch-amerikani­
sche Zusammenarbeit zur Remilitarisierung Westdeutschlands ankündigte,
schlug Gehlen Alarm. Vermutlich mithilfe der Zuträger von Baun ließ er eine
Reihe von diffamierenden Meldungen über Kogon zusammentragen. Gehlen
forderte deshalb das US-Verbindungskommando auf, den Presse-Control-
Officer einzuschalten, um eine Publikation von Kogon in den Frankfurter Hef­
ten zu verhindern.146
Baun hatte bereits im Februar 1945 Prälat Dr. Rudolf Gräber147 ansprechen
lassen. Der bei Baun tätige Oberstleutnant »Gay« weihte seinen Bruder in die
Absicht ein, mit einem Netzwerk Adressen und Anlaufstellen für ausgewählte
Mitarbeiter zu schaffen, die nach Kriegsende zur Wiederaufnahme der Ostauf­
klärung herangezogen werden sollten.148 Graber spielte eine wichtige Rolle bei
der Zusammenführung der verstreut in Westdeutschland lebenden Angehöri­
gen von FHO und Leitstelle I Ost. Er knüpfte Kontakte zu Pater Robert Leiber,

144 Gespräch Gehlen-Wessel, Chronik, 17.9.1946, ebd.


145 Gespräch Gehlen, Baun und Wessel, 19.9.1946, BND-Archiv, N 1/2, Blatt 21.
146 Bericht Gehlens für das US-Kommando vom 6.12.1948, BND-Archiv, 122108_0736. Siehe
demnächst hierzu ausführlich: Klaus-Dietmar Henke: Geheime Dienste. Die politische
Inlandsspionage der Organisation Gehlen 1946-1953, Berlin 2018.
147 Der Theologe Graber galt als völkischer Antisemit, der 1933 um den Brückenschlag der
katholischen Kirche zum Nationalsozialismus bemüht gewesen war. Als der spätere
Bischof von Regensburg 1976 unter anderem auf Betreiben von Joseph Ratzinger eine
Ehrendoktorwürde erhielt, galt er als reaktionärer Rechtsaußen des deutschen Episko­
pats (Hans Küng); siehe zu Graber: Blond und blau, Spiegel 24/1969 vom 9.6., S. 70-72.
148 Ausarbeitung für den Präsidenten des BND über die Geschichte der Beziehungen zwi­
schen BND und Vatikan, 22.9.1982, BND-Archiv, 42507.

488
dem Beichtvater von Pius XII. in Rom, Pater Dr. Gundlach in Rom und Fürst
Waldburg-Zeil. Dr. Graber wurde im Laufe der Jahre mehrfach von Gehlen
besucht und blieb dem Dienst bis Anfang 1971 verbunden. Diese bestehenden
Kontakte zum katholischen Milieu boten für den protestantischen General
einen willkommenen Weg, um seinen Stiefbruder Johannes mithilfe Bauns
und der Amerikaner ins sichere Rom zu schaffen.
Rückenwind erhielt Gehlen von einer ersten schriftlichen Stellungnahme
der Intelligence Branch, G-2 USFET, zu den bisherigen Meldungen von
»Rusty«.149 Innerhalb des letzten Halbjahres seien mehr als 400 Meldungen
abgegeben worden. Davon betrafen zwei Drittel die Aufstellung der Roten
Armee in der SBZ. Eine andere größere Gruppe handelte von industriellen und
wissenschaftlichen Aktivitäten dort. In nur wenigen Berichten zu unterschied­
lichsten Gebieten ging es um Österreich und den Balkan. »Rusty« habe sehr
präzise Angaben zu Sachsen, Westbrandenburg und Mecklenburg gemacht.
29 Meldungen hätten ganz neue Informationen gebracht, zehn mit sehr präzi­
sen Beschreibungen von Einheiten, Installationen, Treibstofflagern etc.
Im Vergleich dazu habe man aus einer anderen wichtigen Quelle, der
Briefüberwachung, eine ähnliche Anzahl von Meldungen gewonnen. Aber
nur eine hätte eine sehr präzise Beschreibung enthalten. »Rusty« habe dazu
beigetragen, dass man die russischen Truppenbewegungen nach Deutsch­
land hinein besser bestimmen konnte. Leider seien aber – wie so oft im
Falle der Sowjetunion – die Aufklärungsmöglichkeiten damit nicht zugleich
erweitert worden. Die Meldungen »Rustys« zu industriellen Aktivitäten
seien zwar oft detailliert gewesen und hätten Informationen aus anderen
Quellen immerhin bestätigen können. Doch eine schnellere Information auf
diesem Feld habe die Operation nicht liefern können. In Einzelfällen habe
es aber immerhin einige zusätzliche wichtige Detailerkenntnisse gegeben.
Nur wenige Berichte hätten die Verhältnisse in der UdSSR betroffen, doch
weil solche Berichte allgemein sehr selten seien, seien sie auch besonders
wertvoll. Deshalb wurde empfohlen, diesen Bereich so weit wie möglich aus­
zudehnen, da in den anderen Bereichen die eigenen amerikanischen Mög­
lichkeiten ausreichend seien.
Besonders hervorgehoben wurde ein Bericht vom 5. August 1946 über den
Aufbau einer deutschen Befreiungsarmee in der UdSSR. Er sei sehr detailliert
und ausführlich, die einzige Information zu einem Gegenstand, über den es
sonst nur Gerüchte gebe. Das sei eine Sache von beträchtlicher Bedeutung für
den G-2 und das Kriegsministerium und sollte bis zum Letzten ausgenutzt

149 Lieutenant Colonel J.L. Collings, Intelligence Branch, 24.9.1946, Chronik, S. 198-201,
BND-Archiv, 4310.

489
Hermann Baun, 1949

werden. Die Glaubwürdigkeit der Quelle sei zwar ungewiss und die Informa­
tion selbst gänzlich neu, doch die Angabe über das Schulungslager in der Nähe
von Kuibyschew (heute: Samara) konnte bestätigt werden.
Insgesamt beurteilte man beim G-2 die Leistungen von »Rusty« bei Kos­
ten von monatlich etwa hunderttausend Dollar nicht überschwänglich, aber
doch zufriedenstellend. Obwohl die Mehrzahl der Meldungen keine Infor­
mationen enthalten hätte, die man nicht durch andere Quellen erlangen
konnte, seien sie doch wertvoll aus folgenden Gründen: Sie seien manchmal
schneller verfügbar als andere Quellen, sie konnten Bestätigungen liefern, sie
enthielten zusätzliche Details, sie seien im Allgemeinen sehr glaubwürdig,
insbesondere durch die bewertenden Kommentare. Die wenigen Berichte
aus dem Innern der UdSSR könnten zwar nicht so leicht bewertet und über­
prüft werden. Die Unbestimmtheit mancher Aussagen mache die Evaluie­
rung schwer. Deshalb sollten künftig vermehrt spezielle Details genannt
werden, ebenso deutliche Hinweise darauf, ob eine mögliche andere Quelle
mehr Details liefern könnte. Als Reaktion auf die Stellungnahme von USFET
beklagte Gehlen angebliche Missstände bei der Weitergabe und Bearbeitung
von Meldungen durch die US-Offiziere, wobei nicht zuletzt wohl auch Über­
setzungsprobleme eine Rolle spielten, und ordnete eine Verbesserung der
Büroorganisation an.150
Dass sich die Auftraggeber zufrieden zeigten, machte es im Spätsommer
1946 möglich, die Lösung der internen Probleme anzugehen. Baun hatte es
erreicht, mit seiner Gruppe Informationsbeschaffung aus dem Lager »Basket«

150 Gehlen am 14.10.1946, ebd.

490
bei Oberursel ausquartiert zu werden, um sich besser abschotten zu können.
Die Amerikaner beschlagnahmten für ihn das abgelegene Waldhaus der Opel-
Familie Weihersgrund im Taunus. Nun wurde Baun nur noch einmal wöchent­
lich durch Deane gestört, der neue Aufträge vorbeibrachte.151
Die letztlich ungeklärte Führungsfrage führte immer stärker zu internen
Konflikten, mit denen Gehlen im Selbstvertrauen auf seine guten Beziehun­
gen zu den Amerikanern und auf seinen Dienstgrad leichter umgehen konnte
als sein Stellvertreter Wessel, der sich als Gruppenleiter auf gleiche Höhe zu
Baun gestellt sah und befürchten musste, von seinem verehrten Chef, dessen
Nachfolger er für wenige Tage bei Kriegsende hatte sein dürfen, aus gleicher
Distanz behandelt zu werden. So drängte er Gehlen unablässig, endlich das
Verhältnis zu Baun zu klären.152 Baun werde immer mehr zu einer Belastung,
dessen bisherige Position (neben Gehlen) die Arbeit der Gruppe Auswertung
erschwere, deren Aufklärungswünsche Baun nicht erfülle.
So entspann sich folgender Dialog.

Wessel: Jedenfalls geht es in der bisherigen Weise nicht mehr weiter. Ich habe
mich bisher immer dagegen gesträubt, Otto etwas vorzuwerfen. Ich kann
mich jetzt aber den ständigen Klagen aller Herren bei uns nicht mehr ver­
schließen, da die Tatsachen völlig eindeutig feststehen. Gehlen: Sie haben in
letzter Zeit einen völlig unbegründeten Soupçon gegen Otto. Er tut was er
kann. Wessel: Das bestreite ich nicht. Ich sehe aber nicht ein, daß man offen­
sichtlich vorliegende Fälle ihm nicht zu sagen wagt, aus Angst, seine Laune
zu verderben, uns fragt auch niemand nach Launen.

Gehlen erklärte die Vorwürfe gegen Baun für »Unsinn«. Das Ganze dürfte eine
für ihn unangenehme Situation gewesen sein, denn sein wichtigster Mitarbei­
ter rebellierte gleichsam und warf ihm unterschwellig vor, nicht energisch auf
die Unterordnung von Baun hinzuwirken, was zulasten von Wessel gehe. Geh­
len wehrte sich mit dem Vorwurf gegenüber Wessel, dieser würde die Dinge um
Baun zu subjektiv beurteilen, worauf dieser beklagte, dass er seine Anliegen
nur gegenüber Gehlen vortragen und nicht übersehen könne, was zwischen
Gehlen und Baun ohne ihn besprochen werde.153 Doch Gehlen ließ Baun vor­
erst gewähren, da sich die Amerikaner zunehmend für dessen Möglichkeiten
der strategischen Aufklärung interessierten. Der anhaltende antistalinistische
Widerstand in der Ukraine warf aus der Sicht des War Department die Frage

151 Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 145.


152 Gespräch Gehlen-Wessel am 25.9.1946, Chronik, BND-Archiv, 4310.
153 Gespräch Gehlen-Wessel, 8.10.1946, ähnlich 14.11.1946, ebd.

491
auf, ob man selbst etwas aus den Fehlern der Deutschen während des Krieges
lernen könnte.154
Zur Jahreswende war Bauns Beschaffung ein wichtiger Faktor, erhöht durch
die professionelle Sichtung und Bewertung der Quellen durch Gustav Adolf
Tietze (DN »Daus«), den promovierten Geologen, der ab 1935 in der Abwehr
gearbeitet hatte.155 Die ehemaligen Offiziere setzten sich in der US-Zone bis
zur Erschöpfung ein, in der SBZ hofften viele brave V-Leute, durch ihre Arbeit
dem Vordringen des Bolschewismus Einhalt gebieten zu können, so Graber.156
Baun konnte Menschen durch sein Auftreten – im Gegensatz zu Gehlen -
beeindrucken. Russen und Ukrainer habe er geradezu fasziniert. Der »Alte mit
dem Bart«, so ein führender Ukrainer, könne aufrütteln, mitreißen, verstehe
etwas von dem Geschäft und den Menschen des Ostens, und er spreche vor
allem deren Sprache.
Mitte November 1946 diskutierten Gehlen und Wessel die Frage, was man
Deane, der ebenfalls nach Washington zurückkehren sollte, mitgeben könn­
te.157 Das neue Drängen zu einer Verlegung in die USA ging nicht auf die deut­
sche Seite zurück. Deshalb vermuteten beide, dass USFET offenbar die Gruppe
Gehlen loswerden wolle, »da wir ein heißes Eisen sind und selbst wegkommen
wollen«. Den vorliegenden Vorschlag von Baun, so Gehlen, habe er nicht abge­
blockt, obwohl er in vieler Hinsicht anderer Meinung sei. Er wolle Baun nicht
verärgern, aber dieser wolle eine viel zu große Organisation. Die Amerikaner
würden die Deutschen für größenwahnsinnig halten. Deshalb wollte Gehlen
vorschlagen, die Vorschläge schrittweise umzusetzen. Dadurch werde kein
Risiko für die andere Seite entstehen. Man könnte sich die Sache ansehen und
»organisch wachsen lassen«.
Konkret dachte er daran, in einem ersten Schritt die War-Department-
Lösung umzusetzen und dazu die Gruppe Auswertung mit einem Verbin­
dungsmann zu Baun, insgesamt 15 Arbeitskräfte mit Familien, über den Atlan­
tik zu bringen. Gehlen sah den Vorteil darin, dass sie und die Amerikaner sich
besser kennenlernen und die Deutschen den Amerikanern zeigen könnten,
»daß wir echt arbeiten und uns den amerikanischen Standpunkt zu eigen
machen«. Die räumliche Trennung von Baun und ein möglicher Zeitverzug
bei der Übermittlung der Nachrichten werde dadurch wettgemacht, dass eine

154 Waldman bat am 30. Oktober 1946 um die Überlassung von Unterlagen über »Deutsche
Fehler in der Verwaltung der Ukraine«, ebd. Das Material dürfte auch eingeflossen sein
in Waldmans spätere Magisterarbeit »An Analysis of Germany’s policies toward the
Eastern Occupied Areas in World War II«, 1951, BA-MA, MSg 1/1422.
155 Tietze war bis zu seiner Pensionierung beim BND für die Quellensicherheit zuständig.
156 Erinnerungen Grabers, S. 51, BND-Archiv, N 4/14.
157 Gespräch Gehlen-Wessel, 19.11.1946, Chronik, BND-Archiv, 4310.

492
unmittelbare Belieferung des War Department durch die Gruppe Auswertung
ermöglicht werde. Auf diese Weise, so ist zu ergänzen, sicherte sich Gehlen die
Führungsposition und den direkten Einfluss im Zentrum der Macht.
Wessel war davon überzeugt, dass Baun immer noch nicht akzeptiert habe,
»dass wir ein amerikanisches Unternehmen werden«. Er wolle unverändert
eine internationale Lösung. Das sei Unsinn, da mache er nicht mit, entweder
man arbeite ehrlich oder man müsse sich von Baun trennen. Als mögliche Füh­
rungsstruktur konnte sich Wessel ein Dreierkollegium vorstellen mit Gehlen,
Baun plus einem US-Offizier.
Er übersah nicht das Problem, dass eine offene Aussprache Gehlens mit
Baun darüber nicht möglich sei, da dieser mit falschen Karten spiele. Man
müsse sich deshalb an Waldman und Deane halten. In einer handschriftlichen
Notiz hielt Wessel seinen Standpunkt so fest:

Endziel ist und bleibt: In voller Loyalität gegenüber den USA die Organisation
aufzubauen und mit ihr den USA und zugleich – im Rahmen eines Denkens
in Kulturkreisen, nicht Nationalitäten – dem Deutschtum zu helfen. Diese
Aufgabe, die eine solche im Dienst der Menschheit ist und ihre Verankerung
im ethischen, moralischen und religiösen Denken und Empfinden des Deut­
schen hat, ist so groß, daß man, um ihr zu dienen und an ihrer Erfüllung
mitzuarbeiten, viele Entsagungen auf sich nehmen muß. Dazu gehört für
mich – und ich glaube auch für Fritz – nicht zuletzt die jetzt entstandene
Notwendigkeit, um der Sache willen vom bisher gewohnten und selbstver­
ständlichen Weg der absoluten Offenheit gegenüber Otto in einigen Punkten
vorübergehend abzuweichen.158

Gehlen und Wessel waren sich einig, dass man in gleicher Weise verräterisch
gegen Baun vorgehen sollte, so wie dieser es selbst betrieb. Alles andere führe
zum sofortigen Bruch, was an sich erwünscht sein könnte, aber dann würde
Baun separat mit den Amerikanern arbeiten und an seinem Größenwahn
zugrunde gehen. Bei allen ethischen, moralischen und religiösen Aspekten, die
Wessel anzuführen verstand, war für Gehlen entscheidend, die Hoheit über die
Finanzen des Gesamtunternehmens zu erringen bzw. zu verteidigen. Für Wes­
sel war es wohl mehr eine Frage der Unterordnung Bauns und seiner eigenen
Autorität. Scheibe, den Gehlen bei Baun eingebaut hatte, versuchte sich gleich­
sam als Vermittler. Nach seinem Urteil war die Organisation Baun angeblich
vorbildlich und sehr gut aufgebaut. Baun sei die Seele des Unternehmens. Er
halte sich für stark, weil er überzeugt davon sei, unentbehrlich zu sein und auch

158 Aufzeichnung Wessels, 26.11.1946, Chronik, BND-Archiv, 4310 (Hervorhebung Wessels).

493
ohne die Amerikaner einen Nachrichtendienst betreiben zu können – was eine
völlige Fehleinschätzung seiner realen Möglichkeiten gewesen ist.159 Baun lehne
es ab, auf der Ebene von Wessel angesiedelt zu werden. Dieser gab zwar vor, sich
notfalls herabstufen zu lassen, aber nur wenn sichergestellt wäre, dass Gehlen
die alleinige Gesamtleitung habe und Baun dieser unterstellt werde. Wessel:

Wenn dieser Unsinn und die Gemeinheiten Ottos [Baun] noch lange so wei­
tergehen, spiele ich nicht mehr mit. Lieber Handwerker werden, als sein
Leben mit solchen Kreaturen Zusammenarbeiten zu müssen. Die Abwehr
verdirbt eben doch den Charakter – und zwar erheblich.160

Mit seinem Anspruch auf die Gesamtleitung des Unternehmens konnte Geh­
len die Insubordination Bauns nicht auf Dauer hinnehmen. Doch seine Scheu
vor einer direkten Konfrontation zahlte sich letztlich aus, denn Baun selbst
machte gravierende Fehler in diesem stillen Ringen. Er versuchte die ameri­
kanischen Verbindungsoffiziere auf seine Seite zu ziehen, obwohl der »ketten­
rauchende Feuergeist Baun« den Projektoffizier Deane mit seiner jungenhaf­
ten Behandlung des Jobs im Nachrichtendienst nicht verstand, erst recht mit
dessen »kindlichem Verhalten« gegenüber den Bolschewisten. Es war ihm
regelrecht zuwider, bei Deane antichambrieren zu müssen, der ihn empfing,
mit einer Zigarre im Mund, lang ausgestreckt auf einem Sofa liegend. Dann
ärgerte er sich maßlos, auch weil er seinen Unmut aufgrund fehlender Eng­
lischkenntnisse nicht wie gewünscht kommunizieren konnte.161
Baun vertraute darauf, dass die Leistungen seiner Agenten Deane impo­
nieren könnten, und übersah, dass bei dem vom Dienstgrad her gleichrangi­
gen 28-jährigen Deane Gehlen als der ältere und höherrangige mehr Respekt
genoss. Bei Waldman kam Baun erst recht nicht an, wenn er sich ihm gegen­
über uneinsichtig gab und eine Unterstellung unter Gehlen ablehnte,162 denn
Waldman hatte keine Veranlassung, an Gehlens Behauptung zu zweifeln, dass
Baun ihm bereits während des Krieges unterstanden habe, was – wie bereits
erwähnt – eine ziemliche Streckung der Tatsachen darstellte. Gehlen regis­
trierte, dass ihn Baun seit September 1946 nicht mehr mit »Herr General«,
sondern mit »Herr Gehlen« anredete.
Wessel empörte sich immer wieder über Baun und hielt dessen Pläne,
»international« zu werden, für moralisch falsch, denn man habe den Ame­

159 Siehe dazu demnächst die UHK-Studie von Thomas Wolf zu BND, Regierung und Parla­
ment.
160 Aufzeichnung Wessels, 26.11.1946, Chronik, BND-Archiv, 4310.
161 So Graber in seinen Erinnerungen, BND-Archiv, N 4/14.
162 Eintrag vom 30.11.1946, Chronik, BND-Archiv, 4310, auch nachfolgend.

494
rikanern versprochen, die Arbeit allein im amerikanischen Interesse zu leis­
ten, was auch im deutschen Sinne sei. Daran würden Gehlen und die gesamte
Gruppe Auswertung festhalten, »es mag biegen oder brechen, wir wollen,
wenn es soweit ist, die amerikanische Staatsangehörigkeit annehmen, nicht
als >Sprungbrett<, sondern in dem alleinigen, ehrlichen Bemühen, den USA und
damit dem Kulturkreis des Westens und in ihnen beschlossen, dem Rest unse­
res Vaterlandes zu dienen«.
Gehlen hielt es nun sogar für möglich, dass Baun den Russen die Informa­
tion zukommen lassen könnte, die FHO befinde sich im Dienst der Amerikaner.
»Das würde die ganze Sache erledigen.« Und er begann, Material gegen Baun
zu sammeln, gleichzeitig aber auch ein Sündenregister der Amerikaner anzu­
legen.163 Dabei blieb man natürlich von der »Sache« her aufeinander angewie­
sen. Gehlens Auswertung brauchte die Nachrichtenbeschaffung Bauns, und
dieser hin und wieder auch die Lagebeurteilungen aus dem Bereich Gehlens,
etwa als »Austauschmaterial für den Schweizer ND-Chef« und den gaullis­
tischen Nachrichtendienst, Kontakte, die Gehlen einige Zeit später selbst
knüpfte.164 Doch vor allem Wessel drängte auf eine Entscheidung. Er selbst war
der Meinung, dass der Apparat Bauns sehr viel leistungsfähiger sein könnte.
Wenn das die Amerikaner merken würden, so meinte er, könnte auch Gehlens
Apparat hineingezogen werden. Deshalb müsse der General darum kämpfen,
zusammen mit einem US-Bevollmächtigten den ganzen Komplex zu führen.
Doch Gehlen dämpfte den Eifer Wessels, schob ihn auf Distanz, indem er
den gewandten Herre zu seinem engsten Berater machte. »Ich bin jetzt im
vortragen dieser Dinge etwas vorsichtiger, um nicht erneut ein völliges Aus­
schalten durch Gehlen zu riskieren, womit der Sache kaum gedient wäre«,
notierte Wessel in seinem Tagebuch.165 Dafür suchte er eine Verständigung
mit Hans-Jürgen Dingler (DN »Dinter«), Oberst i. G. und ehemaliger Leiter der
Abwehrstelle Breslau, und vor allem: ein Vetter von Gehlen. Aber: »Gehlen will
nichts hören.« Denn Baun hatte nun einmal den Beschaffungsapparat in der
Hand. Daher verständigte man sich in einem Dreiergespräch schließlich dar­
auf, vorerst nichts direkt gegen Baun zu unternehmen und eine Lösung über
die Amerikaner zu erreichen.166
Wenn Gehlen erst einmal die Alleinführung habe, so Wessel, könne er auch
in alle Belange der Organisation »Otto« eingreifen und insbesondere bei Baun

163 Erinnerungen Grabers, S. 37, BND-Archiv, N 4/15.


164 Chronik, 6. u. 11.12.1946, BND-Archiv, 4013. Zu den frühen Kontakten siehe demnächst
Wolfgang Krieger (Hg.): Globale Aufklärung – Beschaffung, Operationen, Netzwerke.
Der BND als Auslandsnachrichtendienst.
165 Zit. nach: Chronik, 11.12.1946, BND-Archiv, 4013.
166 Gespräch Gehlen, Wessel, Dingler, 10.12.1946, ebd.

495
eine Vertreterstelle schaffen, damit er nicht demnächst in den USA säße und
Baun hinter seinem Rücken in Europa handle, wie er wolle. Von dieser Posi­
tion aus könnten gleichzeitig die bei »Otto« tätigen ehemaligen Generalstabs­
offiziere gesteuert werden. Dafür wäre Dingler der geeignete Mann. Wessel
machte sich im Anschluss der konspirativen Besprechung daran, eine Ausar­
beitung über die »Festlegung der verantwortlichen deutschen Leiter. Aufga­
ben, Rechte und Pflichten« in Angriff zu nehmen.167 Außerdem erhielt Gehlen
eine Liste »Munition« gegen Baun. Hier wurde neben kleineren Verfehlungen
aufgeführt, dass Baun von den Polen als Kriegsverbrecher gesucht werde und
er gegenüber Gehlen erklärt hatte, Waldmans Schulden bezahlt zu haben und
ihn deshalb in der Hand habe, er wolle Waldman in seiner Organisation die
Stellung eines »Hofjuden« zuteilen.168
Im Dezember 1946 ging Gehlen noch fest davon aus, dass eine Verlegung
in die USA unmittelbar bevorstand, und hatte deshalb angeordnet, die eigene
Auswertungs- und Pressegruppe effektiv auszubauen. Von einer selbststän­
digen deutschen Organisation als Partner der USA war keine Rede. Gehlen
ging es darum, in den USA einen besseren Zugang zu notwendigen Materia­
lien und Institutionen wie Presse, Universitäten, Radiomeldungen etc. zu
haben – und außerdem nicht unwichtig: sich vor den Russen in Sicherheit
zu wissen. Auf amerikanischer Seite hatte aber längst eine interne Diskus­
sion darüber begonnen, ob man es verantworten könne, mit erheblichen US-
Geldern eine halbautonome Spionageorganisation mit den weitreichenden
Zielen, wie sie Baun von Oberursel aus verfolgte, weiter gewähren zu lassen.
Die sei kaum zu kontrollieren, zu teuer, zu sehr der sowjetischen Unterwan­
derung ausgesetzt und berge die Gefahr, das internationale Ansehen der USA
zu gefährden, hieß es in der neu geschaffenen Central Intelligence Group
(CIG).169
Im Dezember 1946 war es Sibert gelungen, bei einem Treffen mit Allen
Welsh Dulles, dem damaligen Präsidenten des Council on Foreign Relations
in New York, eines einflussreichen amerikanischen Thinktanks, die Sache zu
besprechen. Dulles setzte sich vehement für die Institutionalisierung eines
zivilen Auslandsgeheimdienstes der USA ein, was wenige Monate später zur
Gründung der CIA führte, deren Führung Dulles dann im Jahr 1953 selbst über­
nahm. Offenbar empfahl Dulles Sibert, die War-Department-Lösung aufzuge­
ben und Gehlen nicht wieder nach Washington zu holen. Die CIG verständigte

167 Ausarbeitung Wessels, 26.12.1946, BND-Archiv, N 1/2, Blatt 226-237.


168 »Munition« gegen Baun, für Fritz, 25.12.1946, BND-Archiv, N 1/2, Blatt 220.
169 Draft to Deputy A, »Operation Rusty«, 16 October 1946; in: Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I,
S. 159-162.

496
sich mit den Militärs darauf, die Operation zu reduzieren und herauszufinden,
welche Teile auf längere Sicht von Wert sein könnten.170
Samuel B. Bossard erhielt den Auftrag zu einer entsprechenden Studie. Er
hatte dafür zwei Monate Zeit. Während eine Reihe von deutschen Meldun­
gen speziell zur Gegenspionage anhand von amerikanischem Material auf
ihre Glaubwürdigkeit überprüft wurde, verschaffte sich Bossard durch einen
Besuch in Deutschland auch einen persönlichen Eindruck. Er kam zu einer
positiven Gesamteinschätzung. »Rusty« habe das Potenzial, sehr viel mehr
leisten zu können, als die militärischen Bewegungen der Sowjets in Mittel­
und Osteuropa zu beobachten. Bei der Abwägung der Risiken verwies er ins­
besondere auf die Möglichkeit, dass sich dieses Potenzial von »Rusty« zu einer
Untergrundbewegung im Nachkriegsdeutschland entwickeln könnte. Das
deutsche Führungspersonal habe die Fähigkeit, im Falle einer sowjetischen
Aggression Kollaborateure in ganz Mitteleuropa zu mobilisieren und durch
bereits platzierte Langzeitagenten in den sowjetisch besetzten Gebieten Parti­
sanengruppen zu organisieren. Wenn man die Kontrolle über dieses deutsche
Unternehmen aufgeben würde, könnte das für die Amerikaner zu einer Gefahr
werden.171
So schlug Bossard vor, »Rusty« nicht zu liquidieren, sondern umzubauen.
Personal und Projekte sollten überprüft werden. Was weitergeführt werden
kann, müsse besser kontrolliert werden. Deshalb sollte wohl am besten Gehlen
gestützt werden, denn der sei im Vergleich zu Baun das »more convenient and
amenable medium of American control«. Mit seinen Generalstabsoffizieren
könne er als Einziger das »Monstrum« der Baun-Gruppe in den Griff bekom­
men. Deshalb sollten die amerikanischen Autoritäten alles unternehmen,
um Gehlen die Möglichkeit zu geben, die Organisation zulasten von Baun zu
beherrschen. Er sei mehr der Staatsvertreter, der zum Fürsprecher amerikani­
scher Interessen tauge, während Baun, der eigentliche Spionageprofi, auf den
Status eines hochrangigen Operateurs zurückgeführt werden sollte, mit gerin­
ger Weisungsbefugnis. Unter Umständen sei es sogar am besten, ihn zeitweilig
in die USA zu versetzen.
Die Abhörtechnik wäre der US Army bzw. der Navy zu übertragen. Es wäre
außerdem angebracht, die Briten und Franzosen offiziell über die Existenz
der deutschen Organisation zu unterrichten. Im Hinblick auf die zahlreichen
Angehörigen mit einer Gestapo-, SS- oder SD-Vergangenheit empfahl Bossard,
jeden Fall einzeln zu überprüfen. Eine Fortsetzung der Beschäftigung sollte

170 Memorandum von Richard Helms für die Akten über die Besprechung am 19.12.1946;
in: ebd., S. 195. Siehe hierzu demnächst ausführlich Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
171 Report Bossards für General Vandenberg, 5.5.1947; in: ebd., S. 335-358.

497
aber auf die Agentenebene beschränkt bleiben. Die politisch belasteten Perso­
nen müssten also von der Führungsspitze ferngehalten werden.
Trotz der zunehmenden Verschärfung im Ost-West-Verhältnis muss der
Bossard-Bericht vor dem Hintergrund der Möglichkeit gesehen werden, dass
die Siegermächte an der deutschen Einheit festhalten würden. Dann wäre die
Verwendung von früherem NS-Personal in Spitzenpositionen mit antisowje­
tischer Zielrichtung in einem künftigen deutschen Nachrichtendienst kaum
durchsetzbar. Dass die fragile Kooperation der früheren Anti-Hitler-Koalition
bereits ein Jahr später zerbrechen und den Weg zu einer Zweistaatenlösung
ebnen würde, deutete sich zwar für alle sichtbar an, musste aber nicht unbe­
dingt genau so erfolgen.172
Von der Evaluierung durch Bossard ist Gehlen allem Anschein nach nicht
informiert gewesen. Für ihn schien es höchste Zeit, das Problem Baun zu lösen.
Anfang 1947 kam dieser mit der Idee, einen neuen Schwerpunkt in den Berei­
chen Wirtschaft und Gegenspionage zu bilden, weil man hier den Amerika­
nern Angst und sie damit gefügig machen könnte für Forderungen auf anderen
Gebieten. Dafür war Baun bereit, den militärischen Sektor vorerst zurückzu­
stellen. Innerhalb seiner Organisation verbreitete er die Auffassung, »dass er
die amerikanische Hilfe nur zum Aufbau benötigt habe, jetzt aber bereits selb­
ständig und von den Amerikanern völlig unabhängig sei. Sein Ziel sei der Auf­
bau einer internationalen ungebundenen Organisation.« Er führte ein Sonder­
konto, auf dem er Devisen hortete, um später die Tiefenaufklärung vom Nahen
Osten aus gegen die UdSSR aufbauen zu können. Baun fragte Gehlen Anfang
1947 ganz offen, ob er sich nicht eine Anbindung an das FBI denken könnte,
wenn man über das US-Militär nicht weiterkäme. Er habe bereits über einen
Kontaktmann Verbindung mit Direktor John Edgar Hoover aufgenommen.173
Gehlen und Wessel reagierten alarmiert und waren sich einig, dass Baun
auf diese Weise die Auswertergruppe trockenlegen wolle, um sich weiter zu
verselbstständigen.174 Aber sie hatten inzwischen einige Informationen auf
Lager, um Baun bei den Amerikanern anzuschwärzen. Dazu gehörte, dass Frau
Baun bei einem Nachmittagskaffee bei Familie Gehlen eine Brosche im Wert
von 60.000 Reichsmark getragen hatte, die ihr Mann von einem Schwarzmarkt­
händler erworben hatte, um angeblich Geld für den Aufbau seines Nachrich­
tendienstes zu bunkern.175

172 Wolfgang Krieger: German-American Intelligence Relations, 1945-1956: New Evidence


on the Origins of the BND, Diplomacy & Statecraft 22 (2011), S. 28-43, hier S. 33.
173 Denkschrift über die Notwendigkeit neuer Führungsmaßnahmen in der OPERATION
RUSTY, 15.1.1947, Anlage 1, BND-Archiv, N 1/2, Blatt 341.
174 Gespräch Gehlen – Wessel, 10.1.1947, Chronik, BND-Archiv, 4013.
175 Erinnerungen Grabers, S. 40, BND-Archiv, N 4/15.

498
Russlandexperte Gustav Hilger, 1947

Dem amerikanischer Chef des Unternehmens »Rusty«, Deane, wurde zuge­


tragen, dass Gustav Hilger, der als erfahrener Russlanddiplomat Gehlen bereits
in Fort Hunt beraten hatte und nach Oberursel geholt worden war, bei einem
Besuch bemerkt habe, dass Baun unter seinem Bett einen großen Koffer mit
US-Dollar verwahre, die er für seine Operationen einsetze. In einem anderen
Falle habe Baun versucht, Herre, Gehlens Vertrauten, zu erpressen, weil dieser
ein außereheliches Verhältnis unterhielt.176 In dieser Hinsicht war, wie man
weiß, auch Gehlen selbst nicht unangreifbar.
Entscheidend blieb der Kurswechsel, den Siberts Gespräch mit Dulles ein­
leitete. Die Absage an einen Transfer der Gruppe Gehlen in die USA kann als
die eigentliche Geburtsstunde des späteren BND betrachtet werden, denn
ehemalige deutsche Offiziere als im Nachrichtendienst tätige US-Bürger hätte
Bundeskanzler Konrad Adenauer vier Jahre später weder intern noch öffent­
lich als künftigen deutschen Nachrichtendienst akzeptieren können. Gehlen
hätte freilich – wie Wernher von Braun – vielleicht auch in Washington seine
Karriere fortsetzen können.
Stattdessen zogen im Laufe des Januar 1947 Gehlen und die Auswertung,
teilweise mit Familien, in einen Häuserkomplex in Oberursel im Taunus. Hier
entwickelte sich Schloss Kransberg mit dem bezeichnenden amerikanischen
Decknamen »Dustbin«, also Mülltonne (!), durch den Zuzug der Zentrale mit
ihren Familien zum »Capitol« (Deckname) des gesamten Unternehmens. Die
Beschaffung, also Baun, wurde ins ebenfalls im Taunus gelegene, beschlag­
nahmte Kurhaus von Schmitten verlegt.177 Im Lager »Basket« bei Oberursel
blieben der US-Verbindungsstab sowie der Hauptteil der Gruppe Auswertung.

176 Report of Interview with Brigadier General Sibert; in: Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I, S. 47.
177 Chronik, BND-Archiv, 4013.

499
Schloss Kransberg, 1946

Kaffeerunde auf Schloss Kransberg, 1947. In der Mitte Joachim von Seydlitz-Kurzbach, links
daneben Familie Waldman

500
In der Nähe dieser Zentren mussten weitere Objekte bezogen werden, um die
rasch wachsende Zahl von Mitarbeitern aufzunehmen.
Die Entscheidung gegen Baun fiel Mitte Januar 1947. Wessel hatte Gehlen
noch einmal mit einer Denkschrift »über die Notwendigkeit neuer Führungs­
maßnahmen in der Operation Rusty« in seiner Haltung gestärkt und ihn mit
einer Aktennotiz aufgefordert, selbst die schriftlichen Festlegungen für die
Gesamtführung zu machen und dann von Deane sanktionieren zu lassen.178
Doch Gehlen sicherte sich auch bei Sibert ab. Dieser machte geltend, dass die
derzeitige Organisation sehr umfangreich geworden sei, aber keinen Einblick
und keine Gewähr biete, dass sie auf Dauer wirklich im amerikanischen Sinne
arbeite. Wenn Baun sich schon illoyal gegenüber Gehlen verhalte, wie zuverläs­
sig werde er dann in Zukunft sein?179 Sibert erinnerte daran, dass Gehlen die
Bürgschaft für Baun übernommen habe. Das öffnete Gehlen den Weg, seine
Forderung nach Übernahme der Gesamtverantwortung auf deutscher Seite
vorzubringen.
Zwei Tage später konnte Gehlen der Führungsmannschaft eröffnen, dass
Deane ihm »erneut« offiziell die Gesamtleitung übertragen habe.180 Dingler
werde als Chef des Stabes der Beschaffungsabteilung Bauns Vertreter. Also
unterstellte sich Baun »zähneknirschend« und fühlte sich – zu Recht – hinter­
gangen.181 Wessel hatte in seiner Aktennotiz die Formulierung angeregt, die
Beschaffung werde mit US-Hilfe wieder zum dienenden Glied umfunktioniert,
was Gehlen im Gespräch mit Baun dann aber nur am Rande erwähnte und
was wohl nicht nur Höflichkeit war, sondern (laut Graber) auch auf dessen
mangelnden Einblick in die verschiedenen Teile der Beschaffung zurückzu­
führen war.
Zehn Tage später lag das offizielle Bestätigungsschreiben von Deane vor.182
Es enthielt die zusätzliche Anweisung, keine Operationen gegen Großbritan­
nien zu führen und bei der Gegenspionage die Aktivitäten in der britischen
Zone so gering wie möglich zu halten. Gehlen führte jetzt die Bezeichnung
»D-Chef« (Deutscher Chef). Baun wurde Leiter der Dienststelle 100 und
mit der Aufklärung in die Tiefe beauftragt. Nach Erinnerungen von Graber
erschien Gehlen zusammen mit seinem Vetter Dingler und eröffnete Baun das
US-Memorandum. Dabei sei bei Gehlen dieselbe übernächtigte »Blässe des

178 Entwurf der Denkschrift, 13.1.1947, sowie Aktennotiz Wessels, 14.1.1947, BND-Archiv,
1111, Blatt 89-96.
179 Aktennotiz Gehlens, 14.1.1947, ebd., S. 95-96.
180 Festlegung der wesentlichsten Besprechungspunkte, 16.1.1947, ebd., Blatt 97.
181 Nachlass Graber, BND-Archiv, N 4/14.
182 Lieutenant Colonel Deane, The German Chief of Operation Rusty, 25.2.1947, BND-
Archiv, 1111, Blatt 98.

501
Gesichts« zu beobachten gewesen wie im April 1945, als Gehlen und Baun das
Abkommen von Bad Elster abgeschlossen hatten.183
Gehlen nutzte flugs die Unterwerfung Bauns, um die Zahl der hauptamt­
lichen Mitarbeiter drastisch zu erhöhen. Natürlich verfugte er damals kaum
über die Möglichkeit, die Kandidaten einer strengen Überprüfung auf Sicher­
heitsrisiken und politische Belastungen zu unterziehen, wenngleich sie angeb­
lich »nach ihrer Vergangenheit und ihrem Verhalten im Dritten Reich und
nach Kriegsende für eine Verwendung geeignet« erscheinen sollten.184 In der
Praxis verließ er sich offensichtlich mehr auf sein Gespür – was bei persönli­
chen Bekannten, ehemaligen Kameraden und speziell bei Familienangehöri­
gen den Ausschlag geben konnte.
So zog er seinen Schwager Joachim von Seydlitz-Kurzbach in seine Nähe,
obwohl dieser keinerlei nachrichtendienstliche Erfahrung mitbrachte. In
Ermangelung anderer beruflicher Alternativen nahm Seydlitz-Kurzbach das
Angebot an.185 Dies galt auch für seinen Vetter Hans-Jürgen Dingler, zuletzt
Oberst i. G. und Chef des Stabes des LVIII. Panzerkorps,186 sowie seinen jünge­
ren Offizierskameraden Hasso Viebig, der seine Grundausbildung 1934 noch in
Gehlens Stammregiment in Schweidnitz erhalten hatte, als Major 1944 in der
Normandie in britische Gefangenschaft geraten war. Er galt später im Dienst
als Freund des Generals.187 Eine andere Form der Beziehungspflege symboli­
siert die Einstellung des Sohnes seines ehemaligen Generalstabschefs. Der frü­
here Major Heinz Günther Guderian wurde Leiter der Außenstelle Aschaffen­
burg.188 Über Dingler als dem designierten Stabschef bei Baun konnte Gehlen
eine ganze Reihe von Stabsoffizieren an Schlüsselpositionen der Beschaffung
unterbringen und damit diesen Bereich stärker an sich binden.
Auch Captain Waldman hatte Empfehlungen. Er bot sich an, für das Referat
»Kulturbolschewismus« den ehemaligen Intendanten des Münchener Gärt­
nerplatztheaters anzuwerben.189 Fritz Fischer schied allerdings ein Jahr spä­
ter schon wieder aus, so wie manche andere es vorzogen, die verschwiegene
Arbeit »im Dunkeln« bald wieder aufzugeben. Die Anordnung Deanes, dass es

183 Erinnerungen Grabers, S. 123, BND-Archiv, N 4/14.


184 Gehlen, Der Dienst, S. 125.
185 Siehe Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 144.
186 Hans-Jürgen Dingler (DN »Dillberg«), war ab August 1946 zunächst in der Beschaffung
tätig, zuletzt von 1959 bis 1970 Resident in Südafrika.
187 Seit Januar 1947 als Führer eines ND-Netzes, 1959 aus Sicherheitsgründen an die Bun­
deswehr abgegeben, danach als Oberstleutnant G2 beim Wehrbereichskommando I;
BND-Archiv, P 1/1924.
188 Heinz Günther Guderian trat 1956 zur Bundeswehr über und brachte es bis zum Inspi­
zienten der Panzertruppe.
189 Siehe zu dem Fall demnächst ausführlich Henke, Geheime Dienste.

502
Hans-Jürgen Dingler, 1946

für die Einstellung des Schlüsselpersonals der Bestätigung durch den US Com­
manding Officer bedürfe,190 war praktisch bedeutungslos, da es Deane sowohl
an politischer und fachlicher Kompetenz als auch an nachrichtendienstlichen
Vorkenntnissen fehlte. Sibert, der eigentliche Schöpfer und Mentor der Orga­
nisation Gehlen in den ersten Jahren, bedauerte es im Rückblick, dass Gehlen
einen derartig großen Spielraum gehabt habe, weil ihm die Army keine kom­
petenten US-Offiziere entgegengestellt habe. Das galt für Deane, aber auch für
dessen Nachfolger Liebel, von dem noch die Rede sein wird. Eine gewisse Aus­
nahme sei Waldman gewesen, doch dieser habe kaum Einblicke in die Operati­
onen und Winkelzüge gehabt, weil er damit beschäftigt gewesen sei, die alltäg­
lichen Dinge zu regeln. Als ihn Sibert fragte, ob er innerhalb der Organisation
Gehlen irgendeinen bezahlten Informanten oder eine Quelle habe, reagierte
Waldman mit blankem Erstaunen.191
Als Waldman 20 Jahre später befragt wurde, ob er sich an eine heraus­
ragende nachrichtendienstliche Operation in den frühen Jahren erinnern
könne, fiel ihm lediglich die Moskauer Außenministerkonferenz ein, die am
10. März 1947 eröffnet wurde. Dort stellte US-Außenminister George C. Mar­
shall seinen Plan zur einheitlichen Verwaltung Deutschlands und zur wirt­
schaftlichen Vereinigung der vier Besatzungszonen vor. Die Konferenz wurde
ein völliger Fehlschlag, weil sich die Standpunkte der USA und Großbritan­

190 Chronik, 13.3.1947, BND-Archiv, 4013.


191 Report of Interview with General Sibert; in: Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I, S. 50.

503
niens mit dem der UdSSR hinsichtlich Osteuropas, des Mittelmeers, des Nahen
Ostens und Chinas als unvereinbar herausstellten. In diesem Zusammenhang
habe die Gehlen-Organisation im Vorfeld gemeldet, dass die UdSSR die China­
frage auf die Tagesordnung setzen werde. Dabei berief der Dienst sich auf eine
exilarmenische Organisation, die über Zugang zu Anastas Hovhannessi Miko­
jan, einem sowjetischen Minister armenischer Herkunft, verfüge. Angeblich
habe sich US-Außenminister Marshall höchst erfreut gezeigt, dass die Meldung
zutreffend war und wollte wissen, woher der Bericht gekommen sei.192
Der Abteilung Beschaffung wuchs bis zum Sommer 1947 auf rund 200 Mann
Führungspersonal und über 2000 Agenten bzw. Mitarbeiter an. An das alte
Konzept Bauns eines global agierenden, international organisierten Nachrich­
tendienstes gegen die UdSSR war nach dem Bossard-Bericht eigentlich nicht
mehr zu denken. In Washington stieß die eingeschränkt positive Empfehlung
Bossards zur Fortsetzung von »Rusty« und zur zeitweiligen Versetzung von
Baun nach Washington unter den Experten auf beträchtliche Skepsis. Gene­
ral Robert L. Walsh, Director Intelligence des European Command (EUCOM),
plädierte bei einer gemeinsamen Sitzung der zivilen und militärischen Intel­
ligence Chiefs in Washington am 26. Juni 1947 dafür, den Umfang der Gehlen-
Gruppe erheblich zu reduzieren, sie stärker durch US-Personal zu kontrollie­
ren und in eine Reihe von Teileinheiten zu spalten, um zu verhindern, dass sie
als homogene Organisation agieren konnte.193
Walsh hoffte, dass die CIG in der Zukunft einige spezielle Mitarbeiter Geh­
lens in ihre Dienste nehmen könnte, was der spätere CIA-Direktor Richard
Helms nur unter der Bedingung für möglich hielt, dass diese Leute für die Ziele
der CIG effektiv arbeiteten und über keine Verbindung mehr in die Gehlen-
Gruppe verfugten. Admiral Roscoe H. Hillenkoetter, Direktor der Central Intel­
ligence, machte in seiner schriftlichen Stellungnahme den Vorschlag, die von
der Army gesteuerte deutsche Operation völlig einzustellen. Der Fortbestand
irgendwelcher Teile des deutschen Generalstabs sei ein Sicherheitsrisiko für
die USA, das schwerer wiege als alle Informationen, die von dieser Organisa­
tion beschafft werden.194
Im Augenblick konnte der Militärgeheimdienst zumindest auf den Beitrag
zur taktischen Aufklärung der sowjetischen Streitkräfte nicht verzichten. Im
Auge hatte man dabei offenbar auch schon den möglichen politischen Nutzen

192 Ebd.
193 Report of meeting at War Department on 26 June 1947; in: ebd., S. 397-398. Siehe dazu
demnächst auch Wolf, BND, Regierung und Parlament.
194 James H. Critchfield: Auftrag Pullach. Die Organisation Gehlen 1948-1956, Hamburg
2005, S. 103. Hillenkoetter, 1948 neuer Leiter der CIA, schickte ein Jahr später Critchfield
nach Pullach zur Überprüfung des Unternehmens.

504
der Organisation Gehlen, einerseits im Hinblick auf einen künftigen deutschen
Nachrichtendienst, andererseits als Nukleus eines antikommunistischen
Widerstands in der westlichen Besatzungszone im Kriegsfälle.195 Lieutenant
General Stephen I. Chamberlin, Director of Intelligence, Army General Staff,
wies Walsh aber für G-2 EUCOM an, das Unternehmen persönlich stärker zu
beaufsichtigen, und bewilligte weitere finanzielle Mittel des War Department
für ein Jahr. Dann werde man neu über die Weiterführung entscheiden.
Gleichzeitig begann die Umwandlung von General Vandenbergs Central
Intelligence Group, die im Außenministerium angesiedelt gewesen war, zur
Central Intelligence Agency (CIA). Sie sollte im Auftrag des US-Präsidenten
den geheimdienstlichen Kampf gegen die sowjetische Expansion aufnehmen.
Das bedeutete nicht zwangsläufig ein Interesse der zivilen CIA an dem Gehlen-
Dienst mit seiner ursprünglichen militärischen Aufgabenstellung.
Derweil hatte Wessel den Eindruck, dass Gehlen in ihm nur noch den
Repräsentanten der militärischen Auswertung sah, nicht aber »das häufig
mahnende Gewissen«.196 Er erhalte kaum noch Informationen vom Chef des
Stabes, also Herre, und deshalb schrieb er: »Ich schließe das Tagebuch nach
diesem ersten Jahr mit der Hoffnung, daß sich unsere Sache auch in Zukunft gut
entwickelt – unsere Sache, der ich meine zwei einzigen Freunde, die der Krieg
mir gelassen hatte, geopfert habe: Garner [Gehlen] und Schütze [Scheibe].«
Dabei lagen Vorschläge Wessels für eine Reorganisation der Arbeit im Stab
Gehlens vor, die auf frühere Grundsätze der Truppenführung verwiesen. Wes­
sel bemängelte das Fehlen klarer Befehlsverhältnisse, die Unterrichtung der
Gehilfen über die Absichten der Führung würde nicht selten nur fragmenta­
risch erfolgen, weil es Gehlen offenbar an Vertrauen in die Leistungsfähigkeit
seiner Gehilfen mangelte, für weniger wichtige Aufgaben würden zu viel Zeit
und Papier aufgewendet – eine wenig schmeichelhafte interne Kritik an Geh­
lens Führungsfähigkeiten.197
Gehlen zeigte sich gegenüber Wessel nicht mehr als älterer Kamerad und
Freund, sondern als der kühle Chef, der schon deshalb auf größere Distanz
gehen musste, weil er sich entschlossen hatte, die Leitung der Gruppe Auswer­
tung an Adolf Heusinger zu übergeben und deshalb Wessel zu dessen Stell­
vertreter gleichsam degradieren musste.198 Dass er ihm als Ausgleich noch die
stellvertretende Leitung der operativen Beschaffung übertrug, war für Wessel
sicher kein Trost, im Gegenteil, er wurde damit wieder stärker mit den Intrigen
Bauns konfrontiert. Heusinger, ganz der ehemalige Chef der Operationsabtei­

195 Siehe Keßelring, Die Organisation Gehlen, S. 141.


196 Chronik, 15.7.1947, BND-Archiv, 4310.
197 Vorschläge von Wessel für Gehlen, 20.6.1947, BND-Archiv, N 1/2, Blatt 267-281.
198 Besprechung Gehlen-Wessel, 26.7.1947, ebd., Blatt 263.

505
Adolf Heusinger als Chef der Auswertung
in Pullach, 1949

lung, gab sich später im Kreis der Familien großväterlich freundlich, während
seine Frau streng und beherrschend auftrat. Mit ihm, seinem Renommee und
seiner Fachkompetenz, konnte Wessel nicht konkurrieren.
Währenddessen rumorte es weiter in der Abteilung Informationsbeschaf­
fung, in der Baun über zahlreiche Unterstützer verfügte. Sie versuchten, durch
Gerüchte das Vertrauen zur Führung zu erschüttern.199 Gehlen habe »zwar die
richtige Tour, ist aber zu schwach und kann sich nicht durchsetzen«, hieß es.
Der von Gehlen als Stabschef bei Baun eingesetzte Dingler habe keine »deut­
sche Einstellung«, arbeite nur für Geld und schmeichle sich bei den Amerika­
nern ein, meinten die internen Kritiker.

Die Leute in Frankfurt sind Esel, sie machen nichts, können nichts, alles
Anfänger, usw. Es sei beabsichtigt, die deutsche Führung und Auswertung im
Herbst nach USA zu übernehmen, dann werde Herr Baun, der ja die Organi­
sation aufgezogen habe und zu diesem Zweck von den Amerikanern aus dem
Lager geholt wurde, die Führung wieder übernehmen und Ordnung schaffen.
Von Baranowski [Gruppe Exilrussen] ist die Parole ausgegeben worden, nicht
mehr mit Heeresoffizieren zu arbeiten, sondern stattdessen Leute von der SS
in die Arbeit zu nehmen, die viel zuverlässiger seien.

Die aufmüpfige exilrussische Gruppe wurde daraufhin von Dingler mit


Zustimmung von Waldman aufgelöst.200 Doch das blieben Rückzugsgefechte

199 Notiz vom August 1947, BND-Archiv, N 11/2.


200 Richtlinien für die Organisation 1917,14.8.1947, Chronik, BND-Archiv, 4311.

506
der Baun-Fraktion, die nach dem Beschluss Washingtons zwar in der ope­
rativen Aufklärung kürzertreten musste, bei der taktischen Aufklärung aber
unentbehrlich blieb. Gehlens Stabschef Herre mit seinen engen Verbindun­
gen zur amerikanischen Seite erfasste die veränderte Lage besser. Er bereitete
Gehlen darauf vor, sich von den zuständigen US-Militärs bei EUCOM noch
einmal klare Missionen geben zu lassen. Die eigene Frontaufklärung sei die
eigentliche Stärke der Organisation und verfüge über ein fast lückenloses
Bild.201 Da sorgte die Ablösung von John Deane für neue Schwierigkeiten. Der
jungenhafte, unbedarfte US-Offizier wurde durch den älteren Colonel Willard
K. Liebel als Kommandeur des US-Elements bei »Rusty« ersetzt, und dieser
brachte den Befehl mit, den Dienst zum 1. Oktober 1947 grundlegend umzu­
bauen.
Liebel erwies sich als schwieriger Vorgesetzter von Gehlen. Er folgte der
von Washington vorgegebenen Linie, das Ausufern der Organisation einzu­
dämmen und eine strenge Aufsicht zu führen. Gehlen respektierte ihn zwar
als einen erwiesen »tüchtigen Soldaten«, der sogar als Oberst »noch regelmä­
ßig seine Fallschirmabsprünge machte«.202 Aber Liebel verstand seine Position
als die eines Kommandeurs auch gegenüber den Deutschen, was dem gestie­
genen Selbstbewusstsein von Gehlen nicht entsprach. Ein halbes Jahr zuvor
als »D-Chef« bestätigt, wollte er Liebel lediglich als einen »Partner« anerken­
nen, zumal dieser als Colonel im Dienstgrad noch unter ihm stand. Liebel, so
beschrieb ihn später Sibert, »spoke no German, did not like Germans, and did
not hesitate to show it«.203 Waldman berichtet von Vorträgen Heusingers und
Gehlens bei Liebel, die von diesem lautstark mit der Bemerkung kommentiert
wurden, wie dumm doch der deutsche Generalstab gewesen sei. Es kostete
Gehlen einige Mühe, Liebel zu ertragen und sich mit ihm einigermaßen zu
arrangieren.
Zu seinem Glück erwies sich Liebel nicht als unfehlbar. Er hinderte seine
Frau nicht daran, ständig Geschäfte auf dem Schwarzmarkt zu tätigen und
dafür Frau Herre als Dolmetscherin anzustellen. Liebeis Adjutant, Lieute­
nant Esslinger, wurde eines Tages von dem alarmierten Herre aufgefunden,
volltrunken mit einem Pistolenlauf im Mund, um Selbstmord zu begehen. Bei
anderer Gelegenheit verprügelte Esslinger seine Frau derartig, dass Herre sie
in letzter Minute retten konnte. Von seinem Stabschef Herre wurde Gehlen
sicherlich über solche Verfehlungen unterrichtet, was ihn in seiner Abneigung

201 Stichworte Herres für die bevorstehende Besprechung mit General Walsh, 13.8.1947,
Chronik, BND-Archiv, 4310.
202 Gehlen, Der Dienst, S. 129.
203 Interview mit Sibert am 26. März 1970; in: Ruffner (Hg.), 1945-49, Bd. I, S. 48.

507
Colonel Willard K. Liebel in Pullach,
1947/48

gegen Liebel bestärkt haben dürfte. Zu seinem Glück blieb Liebel nur für ein
Jahr.204
Dessen Verdienst, so schrieb Gehlen später in seinen Memoiren, sei es
immerhin gewesen, anerkannt zu haben, dass die beengten Verhältnisse in den
verschiedenen Häusern von »Basket« bei Frankfurt nicht mehr ausreichten,
um der stark angewachsenen Zahl von Mitarbeitern ausreichende Arbeits­
möglichkeiten zu verschaffen. Liebel genehmigte den Umzug in eine größere
Liegenschaft.205 Die Suche nach einem geeigneten Objekt führte ins bayerische
Pullach, wo auf dem abgeschiedenen Gelände der ehemaligen »Reichssiedlung
Rudolf Heß« ideale Bedingungen für das Hauptquartier eines geheimen Nach­
richtendienstes herrschten.206 Zudem eröffnete sich damit die Möglichkeit,
die Doppelstruktur von Beschaffung und Auswertung durch ein gemeinsames
Hauptquartier zu überwinden, also auch die Gesamtführung durch Gehlen zu
stärken.
Die von den Amerikanern angeordnete Umorganisation des Dienstes kam
diesem Streben durchaus entgegen, auch wenn Gehlen rechtzeitig darauf auf­
merksam machte, dass ein zeitweiliges Absinken der Meldungszahlen eintre­

204 Als Gehlen später an seinen Memoiren arbeitete, respektierte er den Wunsch der Ame­
rikaner, Liebeis Auftreten nicht publik zu machen; Gehlen im Interview mit Elke Fröh­
lich, 8.1.1972, IfZ, ED 100-69-104.
205 Gehlen, Der Dienst, S. 129.
206 Siehe dazu insgesamt Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach.

508
ten könnte.207 Wichtigster organisatorischer Einschnitt war die Trennung von
taktischer und operativer Aufklärung, die es Gehlen nicht zuletzt erlaubte,
den Baun-Apparat besser zu kontrollieren und auf die von den Amerikanern
gewollten Schwerpunkte zu konzentrieren. Die »taktische Aufklärung«, auch
immer noch Frontaufklärung genannt, sollte militärische, wirtschaftliche und
politische Informationen in der SBZ sowie bis zur neuen Grenze der UdSSR,
einschließlich der grenznahen Bereiche der Tschechoslowakei und Öster­
reichs, beschaffen. Hier sollte eine weitere Konsolidierung der Arbeit erreicht
werden. Als »strategische Aufklärung« galten alle Verbindungen in die Sowjet­
union und ihre Satellitenstaaten.208 Hier galt es, die bestehenden Kontakte in
beschränktem Ausmaß zu aktivieren.
Gleichzeitig stärkte Gehlen die Auswertung, indem er eine Professoren­
gruppe einbezog.209 Hier sollten die Spitzen der ehemaligen NS-Ostforschung
kurze Studien zu politischen und wirtschaftlichen Fragen der UdSSR für ihn
anfertigen, und zwar durch die Auswertung der Literatur und etwaiger interner
Informationen.210 Die Angehörigen dieser Gruppe wie Peter-Heinz Seraphim,
Theodor Oberländer, Reinhart Maurach, Werner Markert und Werner Conze,
die später die westdeutsche Ostforschung dominierten, standen freilich im
Verdacht einer NS-Belastung, wie bald eine amerikanische Nachfrage zeigte.
Einzelne von ihnen hatten unter anderem eine Schlüsselrolle im Wirtschafts­
stab Ost bei der Ausbeutung der besetzten sowjetischen Gebiete gespielt. Diese
Experten sollten Gehlen hauptsächlich als Nachweis einer vermeintlichen
Kompetenz in strategischer Aufklärung dienen, denn über Spitzenagenten im
Herzen des Feindes verfugte er nicht. Von seinem Vetter Dingler ließ sich Geh­
len eine Aufstellung aller von Baun geknüpften Verbindungen mit politischen
Persönlichkeiten und Gruppierungen geben, um auch hier besser in die Karten
sehen zu können.211
Die Umstrukturierung und der Umzug nach Pullach gaben auch den Anlass,
die Mitarbeiter mit einer neuen Verpflichtungserklärung im Sinne des deut­
schen Chefs festzulegen.212 An erster Stelle stand die »unbedingte Loyalität
gegenüber den USA«. Danach kam die Pflicht, dem Unternehmen »unter rest­

207 Chronik, 20.8.1947, BND-Archiv, 4310.


208 Chronik, 10.9. und 11.11.1947, BND-Archiv, 4311.
209 Chronik 10.9.1947, ebd.
210 Arbeitsplan für Gruppe 45/6, 24.9.1947, Chronik, ebd. Siehe hierzu Corinna R. Unger:
Ostforschung in Westdeutschland, Stuttgart 2007, insbesondere S. 202-215. Dort wird
darauf verwiesen, dass die Angehörigen dieser Gruppe nicht nur die Organisation Geh­
len, sondern später als sogenannter Ostkreis auch die Bundesregierung berieten.
211 Chronik, 12.9.1947, BND-Archiv, 4311.
212 Verpflichtungserklärung, 1.12.1947, Gehlen-Kisten, Mappe Nr. 77.
losem Einsatz meiner Person und meines Könnens zu dienen, dabei meine
persönlichen Interessen hinter die Sache zurückzustellen, wie dies stets als
sittliche Ehrenpflicht galt«. Die Bindung an angeblich althergebrachte Sitten
galt für alle Mitarbeiter, also eigentlich auch für den Chef. Ob sich Gehlen in
Zukunft selbst daran zu halten vermochte, würde sich erweisen müssen.
Die Messlatte legte er hoch: »Persönliche Ehrenhaftigkeit, Treue, Kamerad­
schaft, Verantwortungsbewußtsein, Gerechtigkeitssinn« zur Grundlage der
eigenen Lebensführung und der Arbeit in der Dienststelle zu machen, formu­
lierte einen schier übermenschlichen Anspruch. Besonders wichtig aus seiner
Sicht war die Forderung, die Führung »rückhaltlos anzuerkennen« und sich
ihren Entscheidungen zu fügen. Eine Selbstverständlichkeit, das wusste er, war
das in seiner Organisation nicht, obwohl die meisten Mitarbeiter ehemalige
Soldaten waren. Es wäre ihm zwar lieber gewesen, wenn die Männer ihm ein­
fach vertrauen würden, aber es blieb ihm wohl oder übel nicht erspart, um die
Anerkennung seiner formalen Autorität zu kämpfen.
Die offizielle Gründung der CIA durch die Verabschiedung des National
Security Act am 18. September 1947 ließ für die Gruppe Gehlen die Frage nach
der eigenen Zukunft offen. Die bisherige Anbindung an das US-Militär bot mit
den Aufträgen im Bereich der taktischen Lagefeststellung in Mittelosteuropa
und der Gegenspionage in der US-Zone regional und sachlich eng begrenzte
Tätigkeitsfelder. Die Möglichkeiten der Baun-Truppe sowie Gehlens eigene
militärisch-operative Neigungen zielten darüber hinaus. Würde die Organisa­
tion Gehlen Verbindungen zur neuen CIA knüpfen und damit ihr Aufgaben­
spektrum erweitern können? Von der Antwort auf diese Frage hing zweifellos
die Zukunft des deutschen Unternehmens ab. In der Beurteilung der Sicher­
heit des Westens und der sowjetischen Gefahr lagen die CIA und der kleine
deutsche Dienst eng beieinander, aber die jeweiligen Möglichkeiten und Pers­
pektiven gingen weit auseinander.
In einem ersten Lagebericht zur Sicherheit der Vereinigten Staaten stellte
die CIA Ende September 1947 fest, dass nur die UdSSR die USA bedrohen
könne, aber derzeit militärisch nicht fähig sei, außerhalb von Europa und
Asien anzugreifen. Die UdSSR sei zwar in der Lage, den größten Teil des euro­
päischen Kontinents, den Nahen Osten, Nordchina und Korea zu überren­
nen. Unter den gegenwärtigen Umständen sei es aber unwahrscheinlich, dass
sich Moskau zu einer offenen Aggression entschließen könnte.213 Stattdessen
musste mit einer weiteren Ausbreitung der kommunistischen Bewegung
gerechnet werden. Der Nationale Sicherheitsrat der USA beschloss deshalb

213 Review of the world Situation as it relates to the security of the United States, 26.9.1947;
in: Assessing the Soviet Threat, hg. von Woodrow J. Kuhns, Honolulu 2005, S. 138.

510
auf seiner ersten Sitzung, die CIA mit geheimen Operationen zu beauftra­
gen, um einen Wahlsieg der Kommunisten in Italien zu verhindern. Außer­
dem sollten die Vorbereitungen zur Abwehr einer sowjetischen Aggression
in Europa verstärkt werden, was in Westdeutschland erste Überlegungen für
eine mögliche Wiederbewaffnung hervorrief, um der in der SBZ begonne­
nen Aufstellung paramilitärischer Verbände zu begegnen. Gehlen ließ durch
General Horst von Mellenthin zwei Studien anfertigen, die sich einerseits mit
der militärischen Lage »der antibolschewistischen Länder gegenüber dem
Sowjetblock« befassten, andererseits mit der »Möglichkeit, auch die Wehr­
kraft Westdeutschlands für die Verteidigung Westeuropas gegen sowjetische
Angriffe wirksam zu machen«.214
In der Organisation Gehlen löste das vor allem Fluchtreflexe aus. Da eine
Verlegung in die USA in Friedenszeiten nicht mehr diskutiert wurde, mussten
zumindest die Planungen für eine Verlegung der Zentrale und der wichtigsten
Bereiche der Beschaffung im Kriegsfälle intensiviert werden. Man erinnerte
sich daran, dass führende Angehörige der Abwehr wie die Generale Hans Pie­
ckenbrock (Leiter Beschaffung Abwehr I) und Franz Eccard von Bentivegni
(Leiter der Spionageabwehr und Gegenspionage Abwehr III) sowie zahlreiche
Ic-Offiziere in die Hände der Sowjets gefallen waren. Man konnte also davon
ausgehen, dass dem Gegner grundsätzliche Erkenntnisse über die deutsche
Arbeitsweise, V-Leute und nachrichtendienstlichen Einsätze zur Verfügung
standen. Solche Fehler sollten sich nicht wiederholen. Deshalb galt es, Wis­
sensträger der Organisation dem möglichen Zugriff des Gegners zu entziehen
und vor allem sich selbst zu retten. Man begann also mit ersten Planungen für
den Fall »Jonathan«, einer möglichen Verlegung im Ernstfall durch die Schweiz
und Frankreich nach Spanien, das unter Franco nicht nur geografisch, sondern
auch politisch eine vorübergehende Heimstatt für die Gruppe Gehlen bieten
konnte.215
Das war eine Aufgabe so recht nach dem Geschmack von Reinhard Geh­
len. Sie erforderte konspiratives Geschick und sorgfältige Planung, ähnlich
wie drei Jahre zuvor der Rückzug von FHO in die »Alpenfestung«, jetzt also
hinter die Pyrenäen. Die anstehende Verlegung von »Rusty« nach Pullach
verschaffte ihm die Bekanntschaft mit dem Chef der Bayerischen Landespo­
lizei, Michael Freiherr von Godin. Dieser hatte als junger Polizeioffizier am
9. November 1923 den Schießbefehl gegen Hitlers Demonstrationszug an der
Münchener Feldherrnhalle gegeben, war 1933 in die Schweiz emigriert, wo er

214 Studie über die militärische Lage, 20.2.1948, sowie Studie vom 1.10.1948, erwähnt in
Aufstellung von Studien im Besitz Gehlens, BND-Archiv, N 13/2, S. 74.
215 BND-Archiv, 100017.

511
zusammen mit dem späteren bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoeg­
ner freundschaftliche Beziehungen zu Inspektor Max Ulrich von der Schweizer
Bundespolizei knüpfen konnte. Dieser war für die Beobachtung des deutschen
Exils und der schweizerischen Nazis zuständig gewesen.216
Gehlen, für den das Unternehmen »Jonathan« in den nächsten Jahren zu
einem besonderen persönlichen Anliegen wurde, traf im Dezember 1947 mit
Godin zusammen.217 Nach mehreren weiteren Begegnungen reisten Gehlen,
Godin und Eric Waldman Ende April 1948 nach Bern, um bei einer ersten
Begegnung mit Ulrich mögliche Absprachen zu eruieren. Für die Zusage einer
Unterstützung der Schweizer Behörden im Falle eines Ausweichens der Orga­
nisation Gehlen wurde als Gegenleistung die Zusammenarbeit bei der Spio­
nageabwehr und der Gegenspionage angeboten. Gehlen offerierte außerdem
Erkenntnisse über die ominöse »Rote Kapelle«. Generell zeigte sich später,
dass die Schweizer sehr umfassende Anfragen stellten, aber nach dem Ein­
druck der deutschen Seite zurückhaltend bei der Abgabe eigener Informatio­
nen waren.218
Die Bilanz der ersten zwei Jahre im Dienste der US Army fiel für Reinhard
Gehlen und seine Männer nicht sonderlich ermutigend aus. Man hatte bei der
Siegermacht gleichsam einen Fuß in die Tür setzen können und sich als deut­
sche Hilfstruppe im Bereich der vielfältigen Aufklärungsmöglichkeiten der
Amerikaner etabliert. Doch Gehlens Spielraum außerhalb der militärischen
Feindlagebeurteilung, für die er sich als Fachmann ansah, blieb gering. Die
Möglichkeiten des eigenwilligen Nachrichtenbeschaffers Baun erwiesen sich
letztlich als weitaus geringer, als dieser suggeriert hatte, und waren für die
amerikanischen Militärs ohnehin nicht von besonderem Wert. Für die welt­
weite politische Aufklärung sollte künftig die CIA sorgen. Da blieb die kleine
deutsche Hilfstruppe eine eher marginale Größenordnung. Für Gehlen sorgte
diese Konstellation aufseiten der Amerikaner, abgesehen von seinen internen
Führungsproblemen, für eine gefährliche Situation, die schnell das Ende seines
Traumes vom Überleben in US-Obhut bedeuten konnte.

216 Debriefing of Eric Waldman; in: Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. I, S. 50.
217 Vgl. demnächst Henke, Geheime Dienste.
218 Studie über 40 Jahre Zusammenarbeit mit Schweiz, Frankreich und Spanien, 3.3.1984,
BND-Archiv, 42507; NA/15, S. 214.

512
3. Erste Führungskrisen in Pullach (1948)

Am Nikolaustag, also am 6. Dezember 1947 trafen die ersten Lkw mit dem
Umzugsgut der Zentrale in Pullach ein.219 Camp »Nikolaus« wurde damit zum
neuen Mittelpunkt im Leben von Reinhard Gehlen. Die schönste und größte
Villa, die drei Jahre zuvor noch Martin Bormann bewohnt hatte, bezog Colonel
Liebel mit seinem Stab, was Gehlen nicht erfreulich fand. In seinen Erinnerun­
gen erwähnt er, dass es »einige Mühe gekostet« habe, die Amerikaner davon zu
überzeugen, dass es sinnvoll sei, auch die Familien in das streng isolierte Lager
zu bringen, zumal durch die Beschäftigung von Ehefrauen nicht zuletzt auch
das Arbeitspotenzial eine »beachtliche Verstärkung« erfahren könnte.220 Die
Verbindung persönlicher Interessen und vermeintlich dienstlicher Belange,
die zu einem Kennzeichen seiner Herrschaft in Pullach werden sollte, brachte
damals einige Annehmlichkeiten für die führenden Mitarbeiter, die so von der
Sorge um Schutz und Versorgung ihrer Familien entlastet waren. Das ließ sich
als Entschädigung für die schwierigen Arbeitsverhältnisse in der unmittelba­
ren Nachkriegszeit rechtfertigen und blieb ein Provisorium für nur wenige
Jahre. Aber es betraf eben lediglich die Führungsspitze, nicht die Mehrheit der
Mitarbeiter in der wachsenden Zahl von Außenstellen.
Wenn Gehlen in seinen Memoiren in diesem Zusammenhang davon spricht,
in dieser Zeit habe unter den Mitarbeitern eine »erste Vertrauenskrise«
geschwelt, dann meinte er damit das Unverständnis der Außenmitarbeiter,
die damals eine bessere Ausstattung mit Unterkünften, Fahrzeugen, Büro­
material und vor allem mit Geld forderten, aber naturgemäß keinen Einblick
gehabt hätten, wie sehr er sich persönlich und intensiv mit den Amerikanern
um die Erfüllung solcher Anforderungen bemüht habe. Das trifft tatsächlich
zu, wie eine erste Liste von »Wünschen« zeigt, die er Anfang 1948 über Captain
Waldman den Amerikanern übergab, die in Pullach mit der »7831. Composite
Group« eine Lagerverwaltung und den militärischen Schutz durch 25 GIs
organisierten. Die Dringlichkeitsliste, der im Verlauf des Jahres noch weitere
folgten, betraf die Beschaffung von Häusern und Wohnungen, von Papieren
und Passierscheinen, von Fahrzeugen und Funkgeräten. Waldman war zwei­
fellos bemüht zu helfen, blieb aber an seinen bürokratischen Dienstweg gebun­
den. Den speziellen Wunsch einer Außenstelle nach Ausstattung bewährter
Agenten in der SBZ mit Giftampullen und Schusswaffen lehnte Liebeis Ver­
bindungsstab strikt ab.221 Auch Gehlens Aufforderung, möglichst rasch das

219 Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 151.


220 Gehlen, Der Dienst, S. 130.
221 Chronik, 28.1. und 7.2.1948, BND-Archiv, 4312.

513
Problem einer offiziellen »Entnazifizierung« zu erledigen, ließ sich nicht über
Nacht bewältigen.
Die eigentliche Vertrauenskrise entwickelte sich freilich im inneren Zirkel
und geriet zu einer schwelenden Führungskrise. Sie führte zu einem tiefen Zer­
würfnis insbesondere mit seinem Vertrauten und späteren Nachfolger Gerhard
Wessel. Sachlich stand Gehlens persönliche Autorität auf dem Spiel, letztlich
sogar seine eigene Position. In den Brennpunkt der Krise geriet wieder einmal
der ungelöste Fall Baun, in dem sich Gehlen bisher vor einer klaren Entschei­
dung gedrückt und mit personellen Rochaden beholfen hatte.
»Dr. Schneider«, wie Gehlen mit Decknamen hieß, konnte freilich den
eigenwilligen Konkurrenten nicht einfach vor die Tür setzen, denn er musste
befurchten, dass dieser sich mit der Mehrzahl seiner Agenten einen anderen
Auftraggeber suchen würde. Während Gehlen vordergründig Baun hofierte
und ruhig zusah, wie dieser sich im Netz seiner Eitelkeiten und finanzieller
Machenschaften verstrickte, kam es zu einer Meuterei der beiderseitigen Stell­
vertreter, die die Reibungen zwischen Beschaffung und Auswertung auszuhal­
ten hatten. Wessel sah sich hingehalten und enttäuscht von seinem Chef, erst
recht, als ihm Gehlen überraschend Adolf Heusinger als Leiter der Auswer­
tung vor die Nase setzte und diesen sogar zum »Doktor« machte.222 Heusin­
ger erhielt von »Dr. Schneider« den Decknamen »Dr. Horn«, sollte also in der
alltäglichen zivilen Ansprache nicht hinter seinem ehemaligen Untergebenen
zurückstehen müssen.
Der temperamentvolle Wessel, der während des Krieges gegenüber Heu­
singer eine kritisch-distanzierte Haltung eingenommen hatte, konnte nicht
verstehen, dass Gehlen nicht nur seinen langjährigen Stellvertreter ignorierte,
sondern auch die zunehmende interne Kritik überhörte. Erst ein persönlicher
Brief von Joachim von Seydlitz-Kurzbach an seinen Schwager Reinhold Gehlen
brachte einiges ins Rollen.223 Er konnte es sich leisten, offen Kritik am Füh­
rungsstil des Chefs zu äußern, und wurde später im Dienst wegen seiner Auf­
richtigkeit und seinem »Männerstolz vor Königsthronen« geschätzt.224
Es werde zu unruhig geführt und Entscheidungen würden zu schnell wieder
geändert. Es fehle ein Organisationsbüro und eine Personalverwaltung. Zu vie­
les laufe auf der Basis von Vertrauen und Versprechungen, die oft nicht einge­
halten würden. Darunter leide Gehlens Autorität. Seine Erwartung, man möge
ihm Vertrauen entgegenbringen, sei nicht immer fruchtbar, weil der Eindruck

222 Zu Gehlens Angebot siehe Meyer, Heusinger, S. 328 – 334.


223 Persönlicher Brief von Joachim v. Seydlitz-Kurzbach an seinen Schwager Gehlen, BND-
Archiv, 1172.
224 Erinnerungen Grabers, S. 137, BND-Archiv, N 4/15.

514
bestehe, dass es ihm an Nähe zu seinen Untergebenen mangele. Die Einrich­
tung eines beratenden Führungsgremiums könnte einige Abhilfe schaffen.
Hier zeigte sich, dass Gehlen mit den Methoden der Stabsarbeit in kleinen
Zirkeln, wie er sie im OKH gelernt hatte und wo ihm zuletzt rund 50 Offiziere
unterstanden, eine zusammengewürfelte Großorganisation von mehreren
Tausend Mitarbeitern, davon rund 800 Mann Führungspersonal, mit einem
kleinen Leitungsstab von rund 100 Personen in Pullach, nicht ohne Weite­
res zu führen verstand, zumal die große Mehrzahl der Org-Angehörigen zur
Beschaffung gehörte, von der Gehlen und die von ihm eingestellten älteren
Generalstabsoffiziere in seinem Umfeld wenig verstanden. Sie schirmten ihn
nach »unten« ab, ohne Fühlung mit dem Unterbau der Organisation, wie
Seydlitz-Kurzbach beklagte. So könne die Gefahr eines »Totalitarismus« ent­
stehen. Gehlen sollte den Stabsbetrieb besser organisieren und Besprechungen
effizienter vorbereiten.225 Die chaotische und undurchsichtige Rekrutierung
des Personals in den Außenstellen erwies sich auf Dauer als eigentliche Wur­
zel eines Desasters, das eine größere Zahl von NS-belasteten Personen in die
Organisation führte und das Ansehen sowie die Arbeitsweise des späteren
BND belastete.226
Die unangenehme Kritik seines Schwagers nahm der »Doktor« vermutlich
auch deshalb an, weil er es sich nicht leisten konnte, in dem gespannten Ver­
hältnis zu seinem amerikanischen »Aufpasser« Liebel interne Konflikte zu
offenbaren. Seine Arbeitsrichtlinien für das Jahr 1948 stellten darauf ab, die
Meldungserstattung zu verbessern, die Auswertung insgesamt zu stärken, aber
von der befohlenen strikten Trennung von taktischer und strategischer Aufklä­
rung wollte er nicht lassen227 – und wie immer bei Besprechungen in der Füh­
rung und mit Außenstellenleitern stand der Fall »Jonathan« im Vordergrund.
Die Machtübernahme der Kommunisten in Prag, dann die Blockade Berlins
schürten immer wieder die Sorge vor einem möglichen Überfall, der Pullach
unmittelbar in Gefahr bringen konnte. Da war es sicher beruhigend, die Fami­
lie in unmittelbarer Nähe zu wissen, sodass diese gegebenenfalls schnell mit
US-Hilfe abtransportiert werden konnte. Zu seiner direkten Unterstützung

225 Sehr viel später, von dem Leiter des Archivs zu diesem Brief befragt, meinte Seydlitz-
Kurzbach in einem Schreiben vom 19. März 1988, er sei sich damals in der Kritik mit
vielen jüngeren Offizieren einig gewesen. Später habe er erkannt, dass die Desorganisa­
tion von Gehlen aus Sicherheitsgründen gewollt gewesen sei. Dabei habe sein Schwager
allerdings etwas übertrieben. Es sei eigenartig, dass Gehlen oft zu Menschen eine enge
Beziehung gehabt habe, die wenig effektiv waren, aber sein Vertrauen genossen; BND-
Archiv, N 71/2.
226 Siehe etwa Sälter, Phantome.
227 Chronik, 28.12.1947, BND-Archiv, 4311.

515
bei der Stabsarbeit zog Gehlen den jüngeren Major i. G. Franz Walter Lobe­
danz (DN »Löwe«) als seinen persönlichen Referenten heran. Lobedanz war
ihm von einer zeitweiligen Verwendung bei FHO vertraut, musste freilich als
»ostbelastet« gelten. Er war der Sohn von Reinhold Lobedanz, Mitglied der
Ost-CDU, Ministerpräsident von Mecklenburg und von 1949 bis 1952 Präsident
der Länderkammer der DDR. Aber in solchen Fällen setzte sich Gehlen schon
einmal über die internen Sicherheitsbestimmungen hinweg.228
Nach der Zentrale wurde Anfang 1948 auch ein Teil der Beschaffung nach
Pullach verlegt. Zu dieser Truppe gehörte ein gelernter Mediziner, den Geh­
len persönlich anwarb, die Arztstelle im Lager Pullach zu übernehmen. Sein
Bericht über die merkwürdige Rekrutierung gibt einen Eindruck von der dama­
ligen Atmosphäre und dem auffälligen Verhalten des »Doktor«.229 Hans Winter
erinnerte sich Jahrzehnte später an den 6. Januar 1948, »weil die Ukrainer ihr
Weihnachtsfest hatten und [ich] mich um den Obersten Samjatin kümmern
musste, der im Vollrausch die Kellertreppe hinuntergefallen war«.
Es läutete,

etwa um 22 Uhr, eine Frau an meiner Haustüre, die eine Mütze so tief ins
Gesicht gezogen hatte, dass man sie nicht erkennen konnte. Sie sagte mir,
ein Herr wolle mich sprechen, er warte auf der Strasse. Da ich selbst auch
nicht mehr ganz nüchtern war, ging ich mit dieser Dame (Alo)230 mit. Nach
50 Metern trafen wir immer noch nicht auf den wartenden Herrn und als das
auch nach 100 Metern noch nicht der Fall war, wurde ich plötzlich nüchtern
und überlegte, wie ich es anstellen müsste, damit mir nicht ein paar Gangster
den Rückzug verstellen könnten. Während dieser Gedanken trat plötzlich aus
dem Dunkeln (aber trotzdem mit Sonnenbrille) eine Gestalt auf mich zu und
sagte, er sei der General G.
Ich sah ihn zum ersten Mal in meinem Leben, bis dahin hatte ich nur Baun
gekannt. Er fragte mich, ob ich bereit sei, die ärztliche Versorgung der in Pull­
ach kasernierten Deutschen und auch der nicht kasernierten Amerikaner zu
übernehmen. Das war damals, vor der Währungsreform und ohne sich an
Kliniken anlehnen zu können, keine leichte Aufgabe. Obwohl ich genug zu
tun hatte, reizte es mich doch, einmal wieder das zu tun, was ich gelernt
hatte. Am nächsten Tag, 7. Januar 1948, holte mich der Dr. in einem VW hier
ab, um mir mein künftiges Betätigungsfeld zu zeigen. Und nun kommt der

228 Lobedanz jr. leitete bis 1952 die Personalverwaltung der Org und brachte es später im
BND bis zum Oberst im Auslandsverbindungsdienst – keine vergleichsweise steile Kar­
riere. Zu seiner Person siehe Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 180.
229 Schreiben an den Leiter des Archivs vom 25.8.1985, BND-Archiv, N 44.
230 Gehlens persönliche Sekretärin und Geliebte Annelore Krüger.

516
Punkt, weshalb ich das Alles schreibe: Henning Wilke hätte einen Kriegs­
kameraden, Frauenarzt, der bereit wäre, 2 oder 3 x wöchentlich nach Pullach
zu kommen, um auf seinem Fachgebiet tätig zu sein, ob ich damit einverstan­
den sei. Ich sagte nicht nur ja, sondern ja, ja, ja! Ich habe nie in meinem Leben
ein Ja weniger bereut als dieses!

Dr. med. Hans Winter (DN »Wilden«) erhielt später Verstärkung unter ande­
ren durch den Stiefbruder Gehlens, Dr. med. Hans-Dietrich Schneemilch
(DN »Schlömel«).231
Die Besetzung der Arztstelle war ein vergleichsweise kleiner Erfolg der Per­
sonalpolitik Gehlens. Sehr viel schwerer wog seine Entscheidung, die Leitung
der Auswertung seinem ehemaligen Chef Heusinger zu übertragen, was in die­
sen Tagen Gerhard Wessel, den ehemaligen Vertrauten des »Doktor«, der sei­
nen Platz dafür räumen musste, bis an den Rand der Rebellion trieb. Er fand in
Dingler überraschend einen Gleichgesinnten, der ebenfalls an den Führungs­
entscheidungen Gehlens verzweifelte. Dieser hatte seinen Vetter als Aufpasser
gegenüber Baun bei der Beschaffung installiert. Als Stabschef der Abteilung
sah sich Dingler aber überfordert, die von Gehlen verlangte Umstrukturierung
seiner Abteilung durchzusetzen, und vermutete gegenüber Wessel, dass bei
Gehlen der Kulminationspunkt seiner Fähigkeiten wohl überschritten sei.232
Neben Führungsstil und -entscheidungen Gehlens waren Dingler und Wessel
auch irritiert darüber, dass der »Doktor« eine Reihe von älteren Generalen
anwarb und damit das Milieu seiner Umgebung sowie die möglichen Perspek­
tiven der Organisation veränderte.
Nach der Einschätzung von Seydlitz-Kurzbach diente die Anwerbung der
Generale Adolf Heusinger, Hermann Foertsch, Horst von Mellenthin und
August Otto Winter nicht nur dazu, qualifizierte und zuverlässige Mitarbeiter
für den Aufbau der Organisation zu gewinnen, sondern auch das Potenzial
von befähigten und erfahrenen Offizieren für den möglichen Aufbau deut­
scher Streitkräfte zu erhalten, der angesichts der internationalen Lage näher
zu rücken schien.233 Teil dieser Politik war auch das Streben, ehemalige hohe
Offiziere, die mit ihren Familien in Not geraten waren, durch eine zeitweilige
Beschäftigung bzw. durch finanzielle Zuwendungen zu unterstützen. Das
betraf später auch eine große Zahl von Offizieren außerhalb der Organisation,
einschließlich vieler Spätheimkehrer aus sowjetischen Gefangenenlagern,
eine Aktion, die John von Freyend, letzter Heeresadjutant beim Chef OKW, aus

231 Hinweis bei Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 188.


232 Tagebuch Wessel, 13.1.1948, BND-Archiv, N 1/2.
233 Rückblick Seydlitz-Kurzbach aus dem Jahre 1987, BND-Archiv, N 71/2.

517
seiner Bekanntschaft maßgebender Offizierskreise für Gehlen organisierte.
Man darf vermuten, dass, neben einer humanitären und kameradschaftlichen
Gesinnung, Gehlen dabei auch den Vorteil gesehen hat, mit US-Geldern seinen
Einfluss im ehemaligen höheren Offizierskorps ausbauen zu können, was sich
unter dem Gesichtspunkt gegenseitiger Gefälligkeiten eines Tages auszahlen
konnte. Es gab allerdings auch begehrte Fachleute, die sich der Werbung Geh­
lens entzogen, weil sie nicht eine sichere Position zugunsten eines prekären
Engagements für Pullach aufgeben wollten.234
Wessel und Dingler trafen sich am 15. Februar 1948 zu einer konspirativen
Besprechung, um den agilen Herre für sich zu gewinnen. Dingler übernahm
die Rolle des Anklägers, der eine Reihe grundlegender Führungsprobleme
ansprach und mit heftiger Kritik gegenüber Gehlen verband. Er zweifelte am
Erfolg des Chefs und meinte, der solle besser erst einmal in Urlaub gehen.
Wessel reagierte zurückhaltend und setzte vorerst auf eine wünschbare Ent­
spannung zwischen Gehlen und Dingler.235 Zwei Wochen später legte Dingler
eine Ausarbeitung über die Organisation und ihre künftigen Aufgaben vor.236
Darin sah er die Zerlegung der Gesamtorganisation zum 1. August 1948 vor,
um einen Teil für die sich anbahnende westdeutsche Staatsgründung fit zu
machen. Er forderte eine intensivere Befassung mit der innerdeutschen Ent­
wicklung, eine Neugliederung der Auswertung und eine stärkere Bearbeitung
der Mob-(Mobilmachungs-)Maßnahmen. Mit anderen Worten: Dingler ergriff
Partei für jene in der Organisation, denen der »Doktor« mit seiner unbeding­
ten Anlehnung an die USA zu weit ging und die sich eine »deutsche« Ausrich­
tung wünschten.
Doch es kam für Reinhard Gehlen noch schlimmer. Nach der heftigen Kri­
tik seines Schwagers und dem Angriff seines Vetters sowie dem Murren des
gekränkten Wessel musste er Anfang März 1948 eine schwere Attacke von
Colonel Liebel, seinem amerikanischen Counterpart, hinnehmen. Liebel
übergab ihm ein harsches Memorandum.237 Darin beschwerte er sich über die
Zunahme von Sicherheitsfällen und verlangte »drastische Aktionen zur Ver­
ringerung der Zahl schlechter Agenten«. Er forderte die Androhung von Dis­

234 Graber erinnert sich, dass Gehlen vor der Währungsreform versuchte, Kapitän z. S.
Wichmann, den ehemaligen Leiter der Abwehrstelle Hamburg, und einen anderen
wichtigen Abwehrmann für sich zu gewinnen. Die beiden wurden nach München
eingeladen. Dort führte Gehlen mit ihnen in einem Hotel am Karlstor vergeblich das
Gespräch. Die beiden hatten keine Lust, ihre feste Position in Hamburg aufzugeben
zugunsten einer unsicheren Zukunft bei Gehlen; Erinnerungen Grabers, S. 215, BND-
Archiv, N 4/15.
235 Eintrag 15.2.1948, BND-Archiv, 4312.
236 Eintrag 29.2.1948, ebd.
237 Eintrag, 3.3.1948, ebd.

518
ziplinarmaßnahmen wie Gehaltskürzungen und Entlassungen, um die Arbeit
der Agenten zu verbessern. Gute Berichte könnten nur von guten Agenten
kommen, unfähige sollten ausgeschaltet werden. Seit Beginn der Operationen
waren ca. 80 bis 100 Agenten durch Tod oder Festnahme verloren gegangen.238
Drei Tage später, während Gehlen an seiner Antwort für Liebel arbeitete,
trafen sich Wessel und Dingler erneut zu einem Gespräch über die Zukunft der
Organisation und ihr Verhältnis zu Gehlen.239 Dingler wollte unter den herr­
schenden Verhältnissen nicht länger mitmachen und seinen Entschluss Geh­
len am nächsten Tag mitteilen. Wessel bemühte sich um Vermittlung, sprach
anschließend mit Herre, dann mit Gehlen selbst. Er hoffte darauf, dass Gehlen
und Dingler eine tragbare Lösung finden würden. Das Gespräch zwischen Geh­
len und Dingler am nächsten Tag verlief in erstaunlich ruhiger Atmosphäre.
Gehlen ließ seinen Vetter ins Leere laufen, wollte sich nicht entscheiden und
versprach, sich die Sache noch einmal zu überlegen.
Einen Tag später teilte Gehlen seine Entscheidung nicht Dingler persönlich,
sondern Herre und Wessel mit. Dingler solle so lange bleiben, bis die Umor­
ganisation der Aufklärung durchgeführt sein werde. Danach könne er even­
tuell als Verbindungsoffizier zum Schweizer Nachrichtendienst gehen.240 Eine
völlige Trennung von seinem Vetter versuchte er also zu vermeiden und war
an einer »sanften« Entfernung durch räumliche und zeitliche Distanz inter­
essiert. Das nahm Dinglers Insubordination die Spitze und wahrte auf beiden
Seiten das Gesicht.
Nach der vorläufigen Lösung des Problems mit Dingler kümmerte sich
Gehlen um den stärkeren Gegner Liebel. Auch hier schickte er zunächst Herre
vor, der mit dem Amerikaner die gegenwärtige Lage der Organisation erörterte
und dabei die Forderung erhob, Captain Waldman, Gehlens Fürsprecher, zum
Leiter einer Operation/Section innerhalb des US-Stabes zu machen. Er sollte
künftig die deutsche Abteilung Beschaffung kontrollieren, die Liebel zum
Gegenstand seiner heftigen Kritik gemacht hatte.241 Tags darauf ließ Gehlen
dem US-Colonel ein längeres Antwortschreiben überreichen, mit dem er Lie­
bei eine harsche persönliche Abfuhr erteilte. Das hat Gehlen offenbar selbst
als so ungewöhnlich empfunden, dass er noch Jahrzehnte später in seinen
Memoiren diesen spektakulären Schritt hervorhob.242 Er habe die Annahme
eines bestimmten »Befehls« von Liebel verweigert, weil dieser angeblich auf
den Verlust der Selbstständigkeit der Organisation hinauslief.

238 Fürsorgemaßnahmen bei »Verlusten«, 27.3.1948, BND-Archiv, N 4/1.


239 Eintrag, 6.3.1948, BND-Archiv, 4312.
240 Eintrag, 8.3.1948, ebd.
241 Eintrag 10.3.1948, ebd.
242 Gehlen, Der Dienst, S. 131.

519
Dabei ging es um etwas ganz anderes. Gehlens Organisation war bis zu
diesem Augenblick überhaupt nicht unabhängig gewesen. Er selbst hatte die
völlige Unterwerfung unter die Amerikaner gegenüber seinen Leuten immer
wieder gerechtfertigt. Doch jetzt sah er sich unter dem Druck der internen
Auseinandersetzungen gezwungen, größeren Abstand zu den Amerikanern zu
wahren und den Vorwurf zu vermeiden, er sei ein allzu willfähriger Befehls­
empfänger des US-Kommandos. Neben dieser persönlich wahrgenommenen
Notwehrsituation konnte er darauf vertrauen, dass er angesichts der dramati­
schen Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes – in der Tschechoslowakei über­
nahmen die Kommunisten die vollständige Macht – für die Amerikaner unent­
behrlich sei. Die Chronik des BND berichtet jedenfalls von einem Telegramm
von General Lucius D. Clay, Commander in Chief European Command, an
Lieutenant General Stephen I. Chamberlin, Director of Intelligence im Gene­
ralstab des US-Heeres, vom 5. März 1948: »I have feit a subtle change in Soviet
attitude which I cannot define but which now gives me a feeling that it [war]
may come with dramatic suddenness.«243
Dass Gehlen in seinem Schreiben an Liebel einen für ihn selbst unge­
wöhnlich harten Standpunkt bezog, deutet darauf hin, dass er offenbar nicht
befürchtete, Liebeis Vorgesetzter in Heidelberg könnte gegen den deutschen
General intervenieren. So wies Gehlen zunächst alle sachlichen Vorwürfe als
falsch zurück und verwies auf Fehler der amerikanischen Seite, die zu wenig
Personal einsetze, um Pullach zu unterstützen. Man könne auch nicht nur
mit erstklassigen Agenten arbeiten. Er verfüge über jahrelange Erfahrungen
im Nachrichtendienst an der Ostfront und könne daher behaupten, dass es
letztlich die Masse mache.
Lang und breit schilderte Gehlen die Frühgeschichte des Unternehmens
und die Hemmnisse auf amerikanischer Seite. Er rühmte sich, eine Organi­
sation geschaffen zu haben, die man ohne Übertreibung als die »billigste
nachrichtendienstliche Organisation der Welt« ansehen könne. Ihre Loyali­
tät im antikommunistischen Kampf sei absolut gesichert. Und der General
wurde sehr deutlich: »Sie, Herr Oberst, sind nicht in der Lage, disziplinäre
Massnahmen in der Organisation ohne mein Einverständnis zu treffen«, weil
das gegen die Vereinbarungen mit General Sibert verstoßen würde. Er trage
eine doppelte Verantwortung, sowohl seinem deutschen Gewissen als auch
der amerikanischen Seite gegenüber sowie auch gegenüber den Angehörigen
der Organisation, von denen bereits eine Anzahl in diesem Kampf ihr Leben

243 Eintrag März 1948, BND-Archiv, 4312. Zum Hintergrund siehe Wolfgang Krieger: Gene­
ral Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945 -1949, Stuttgart 1987,
S.337.

520
verloren hätte. Die Masse der Deutschen lehne zwar den Kommunismus ab,
habe aber die Hoffnung auf eine sichere Zukunft verloren. Nicht viele stün­
den wie er in direktem Kontakt mit den Amerikanern, um im Glauben an
den guten Willen der US-Politik nicht erschüttert zu werden. Er bestehe auf
dem Recht, selbst zu entscheiden, es sei denn, es würden erhebliche ameri­
kanische Interessen dagegen stehen. Nach dieser Zurechtweisung folgte die
höflich formulierte Bitte, ihm und seiner Organisation die nötige Hilfe ange­
deihen zu lassen.
Es ist erkennbar, dass Gehlen in dieser Konfliktlage offenbar das ominöse
Gentlemen’s Agreement nur in den Vordergrund rückte, um den »deutschen«
Standpunkt zu betonen und eine gewisse Autonomie zu legitimieren. Dass
Liebel schon einen Tag später überraschend kapitulierte, Gehlens Standpunkt
anerkannte, seinen Befehl zurückzog und sich sogar entschuldigte,244 bedarf
der Erklärung. Wahrscheinlich hatte sich Liebel beim Oberkommando in Hei­
delberg rückversichern wollen und war im Stich gelassen worden. Womöglich
hatte Herre in seinem vorangegangenen Gespräch mit Liebel durchblicken
lassen, dass er von seiner Frau über die Schwarzmarktgeschäfte des Colo­
nel informiert worden sei. Dass er Liebel erfolgreich in die Schranken weisen
konnte, nutzte Gehlen unverzüglich, um an die Lösung der internen Führungs­
querelen zu gehen und notfalls unbequeme Entscheidungen zu treffen, die er
bisher zu vermeiden versucht hatte.
Noch einen Tag vor Liebeis plötzlichem Rückzug besprach Gehlen mit
Dingler, Herre und Wessel die Personalbesetzung bei der Umorganisation der
Beschaffungsabteilung. Er hatte die Absicht, zwei altbewährte Abwehrleute an
die Spitze der Beschaffung zu stellen und so die angestrebte Aufteilung der
Zuständigkeiten verträglich für die Mitarbeiter der Abteilung zu gestalten. Es
handelte sich um zwei erfahrene Fachleute, denen er vertraute und die seine
Linie durchsetzen sollten. Er hatte dafür Oberst i. G. Georg Buntrock (DN
»Bohlen«) angeworben, auf der Kriegsakademie im Jahrgang nach Gehlen, im
Krieg im Truppengeneralstab an der Front, bei Kriegsende Chef der Frontauf­
klärung.245 Er sollte jetzt die Strategische Aufklärung übernehmen. Bei dem
Spitzengespräch dabei war bereits Hans-Ludwig von Lossow (DN »Lersner«).
»Onkel Karlchen«, so sein Spitzname in der Organisation, verfügte über zahl­
reiche Verbindungen in die frühere Abwehr hinein und hatte bisher für Baun
gearbeitet. Unter Gehlen übernahm er später politisch heikle Aufgaben, insbe­
sondere die Kontakte zu Bonner Regierungsstellen.246

244 Aktenvermerk, 11.3.1948, BND-Archiv, 4312, Blatt 97.


245 Zur Person siehe Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 165.
246 Zur Person siehe ebd., S. 180.

521
Dingler und Herre waren sich einig in der scharfen Ablehnung dieser Per­
sonalentscheidung, die letztlich auf ihre eigene Zurücksetzung gegenüber den
älteren Obristen hinauslief. Wessel beschwor die Notwendigkeit, die Einheit
von Beschaffung und Auswertung zu stärken, nicht zu schwächen.247 Drei
Tage später setzte Gehlen nach und teilte Wessel mit, er wolle Dingler sofort
beurlauben, weil mit ihm die Umorganisation nicht durchzuführen sei. Wessel
hielt scharf dagegen und drohte, in diesem Falle selbst gehen zu wollen. Gehlen
konterte mit dem Hinweis auf sein Einvernehmen mit Baun, der für Wessel
ein rotes Tuch war. Wessel verstand deshalb die Einlassung von Gehlen als
Vertrauensbruch.248
Er suchte deshalb zusammen mit Dingler das Gespräch mit Heusinger.
Dingler erläuterte die Gründe für sein Ausscheiden. Ein Problem sei Baun, der
sich im Hintergrund von Gehlen gedeckt immer wieder in die Beschaffung ein­
mische.249 Hier brauche man aber Ruhe und keine ständige Umorganisation.
In einem Brief an seinen Vetter Reinhard wurde Dingler am selben Tag sehr
deutlich. Sein Vertrauen zu ihm und seinem Führungsstil habe starke Einbu­
ßen erlitten, schrieb er. Gehlen vertrete gegenüber den Amerikanern zu wenig
den deutschen Standpunkt. Man sei ihnen nicht unterstellt, sondern vereinbart
sei eine Zusammenarbeit. Gehlen herrsche autoritär, lasse keine Kritik gelten
und niemanden an sich herankommen. Er unterbinde die freie Meinungsäuße­
rung, verstoße gegen alte Führungsgrundsätze, indem er unmittelbar Einfluss
auf die Dingler unterstehenden Organisationen nehme und beschäftige sich
aus Misstrauen gegen seine nachgeordneten Mitarbeiter mit jedem Kleinkram,
sodass keine Zeit zur Besprechung grundlegender Fragen bleibe. Er besitze
nicht »den für einen derartigen verantwortlichen Posten erforderlichen Per­
sönlichkeitswert«. Als Bedingungen für seinen eigenen Verbleib nannte Ding­
ler: Gehlen solle zugestehen, dass eine über ihm stehende Persönlichkeit als
oberste Spitze der Gesamtorganisation eingesetzt werde, zum Beispiel Halder,
dass er die maßgeblichen Persönlichkeiten von Zeit zu Zeit zu gemeinsamer
Aussprache über Ziele und Absichten persönlich zusammenrufe und anhöre,
und schließlich, dass Dingler als Chef der Beschaffung nach den Richtlinien
Gehlens selbstständig und verantwortlich handelt.250

247 Gespräch Gehlen, Dingler, Herre und Wessel, 10.3.1948, Chronik, BND-Archiv, 4312.
248 Gespräch Gehlen, Wessel, 13.3.1948, ebd.
249 Gespräch Dingler, Wessel und Heusinger, 14.3.1948, ebd.
250 Handschriftliche Aufzeichnung Dinglers und Brief an Gehlen am 14.3.1948, ebd.,
S. 114-124. Seydlitz-Kurzbach, der seinem Schwager kurz vorher ähnliche Vorwürfe
gemacht hatte, kommentierte Jahrzehnte später das Ultimatum von Dingler, dieser sei
ein sehr undifferenzierter Mensch gewesen, der nur schwarz oder weiß gekannt habe
und für den Leitungsposten bei der Beschaffung überfordert gewesen sei, da die Situa­

522
Derartig in seiner Autorität herausgefordert, reagierte Gehlen rasch. In sei­
nem Antwortbrief blieb er in der Form verbindlich und freundschaftlich, dem
Vetter gegenüber per »Du«, wies aber in der Sache alle Vorwürfe als falsch
zurück und bat dennoch darum, dass Dingler bliebe. Er habe früher vorge­
habt, ihn zu seinem Stabschef zu machen, die Absicht aber nicht weiterver­
folgt, weil sich zunehmend herausgestellt habe, dass sie beide unterschiedli­
che Vorstellungen und Herangehensweisen hätten. Wenn er nun gehen wolle,
werde er ihn nicht halten, aber seine früheren Verdienste weiterhin zu wür­
digen wissen.251
Einer der hauptamtlichen Residenturleiter brachte am 15. März 1948 seine
»Gedanken zur Lage innerhalb der Organisation« zu Papier.252 Er sei angewor­
ben worden für eine »deutsche« Organisation auf idealistischer Grundlage,
gutgläubig, ohne Rückfragen und unter Zurückstellung ziviler Berufsaussich­
ten. Nach einjähriger Tätigkeit zeige sich, dass eine planmäßige Schulung völ­
lig fehle, die Arbeit eine viel zu geringe Abstützung durch die Besatzungsmacht
erfahre, was immer wieder zu erheblichen Behinderungen führe, während
gleichzeitig eine Exekutivgewalt gegen eigene Agenten fehle, die aufsässig und
unzuverlässig geworden seien, es gebe keine ausreichenden Betriebsmittel und
keinen zuverlässigen Schutz im Ernstfall. Die interne Vertrauenskrise erfor­
dere endlich Antworten der deutschen Führung auf diese brennenden Fragen.
Es fehle an der geistigen und ideologischen Führung der Organisation.
Gehlen reagierte mit neuen »Richtlinien für die Weiterentwicklung der
Organisation bis zum Herbst«.253 Sie zielten auf eine Erhöhung der Leistungs­
fähigkeit, ohne den personellen Umfang zu vergrößern. Er verlangte insbe­
sondere den Ausbau einer effektiven Tiefenaufklärung, abgetrennt von der
taktischen Aufklärung, den Abschluss der Mob-Arbeiten und die Arbeitsbe­
reitschaft des Evakuierungsnetzes bis zum Herbst.
In seinem internen Mehrfrontenkrieg konnte Gehlen den Vorwurf mangeln­
der Effizienz vonseiten Liebeis nicht völlig ignorieren. Von Disziplinarmaß­
nahmen gegenüber den Mitarbeitern wollte er aber nichts wissen, sondern
bemühte sich, deren Überforderung zu erklären. Die ursprüngliche Aufgabe,
die order of battle der sowjetischen Streitkräfte in der SBZ festzustellen, habe
sich in den letzten zwei Jahren wesentlich erweitert (was freilich unter dem
ständigen Drängen von deutscher Seite erfolgte). Jetzt gehe es um die Erfas­
sung des gesamten Kriegspotenzials der UdSSR, die Dislozierung der sowjeti­

tion mit Baun noch nicht geklärt gewesen sei und er wohl unter der unklaren Führung
gelitten habe; Schreiben an den Leiter des Archivs, 19.3.1988, BND-Archiv, N 71.
251 Brief Gehlens an Dingler, 15.3.1948, Chronik, Anlage, BND-Archiv, 4312, Blatt 118 -120.
252 Gedanken zur Lage innerhalb der Organisation, 15.3.1948, ebd., Blatt 121-124.
253 Richtlinien vom 24.3.1948, ebd.

523
schen Streitkräfte innerhalb des Mutterlandes, in den Satellitenstaaten sowie
in Österreich, außerdem um die Politik Moskaus und die Tätigkeit der kommu­
nistischen Parteien, des sowjetischen Nachrichtendienstes und seit Kurzem
auch um die zusätzliche Aufgabe, Meldungen über die sowjetische Luftwaffe
zu beschaffen und Informationen für die Einrichtung von target folders (Ziel­
plänen) zu liefern.
Im Vergleich dazu sei die Finanzausstattung für den Aufwuchs der Orga­
nisation mit derzeit 900 Vollbeschäftigten und 4000 freien Mitarbeitern nur
geringfügig erhöht worden.254 Die Überforderung des Personals sei die Folge
gewesen, nicht zuletzt auch durch Änderungen der politischen Lage, die es
immer schwieriger mache, den »Eisernen Vorhang« zu überwinden. Hinzu
kämen die schlechte wirtschaftliche Lage der Außendienstmitarbeiter und die
Schwierigkeit, notwendige Papiere zu erhalten. Gehlen hob in diesem Zusam­
menhang die Planung für Notmaßnahmen bei Kriegsgefahr hervor. Es müsse
unbedingt Sorge dafür getragen werden, dass die Spitzenorganisation nach der
Schweiz, Spanien und Portugal verlegt werden könne, wofür möglichst bald
informelle Beziehungen geknüpft werden müssten.255
Die überraschend konstruktive Haltung Gehlens gegenüber dem »Herrn
Oberst« (Liebel) stand im Zusammenhang mit der anstehenden Trennung von
Dingler. Gehlen hatte gegenüber Wessel und Dingler eigentlich sein Wort gege­
ben, vor dieser internen Entscheidung nicht mit Waldman und Liebel über den
Vorgang zu sprechen. Doch als Dingler Liebel am 20. März 1948 in Anwesen­
heit von Gehlen seinen Entlassungsantrag vortrug, stellte sich heraus, dass der
Amerikaner längst informiert war.256
Das mag dazu beigetragen haben, das Übergabegespräch aufzuheizen. In
der Runde zusammen mit Herre und Wessel machte Dingler Vorschläge für
sein Ausscheiden und seine neue Verwendung in der Schweiz, mit denen sich
Gehlen voll einverstanden zeigte. Anschließend kam es unter vier Augen zu
einem Zusammenprall zwischen Gehlen und Wessel. Als dieser auf die Ent­
täuschung Dinglers einging, dass Gehlen sein Versprechen gebrochen habe,
rechtfertigte der General sein Verhalten kühl und sachlich. Dann sprach Wes­
sel die künftige Verwendung von Baun an. Gehlen erklärte, er müsse Baun
weiterverwenden, weil er Angst habe, dass dieser anderenfalls zu den Briten
oder Franzosen gehen würde. Verwende man ihn im bisherigen Rahmen der
Außenorganisation, bestünde diese Gefahr auch. Also müsse er ihn stärker
an sich binden. Gehlen wollte Baun zu seinem offiziellen »Abwehr-Berater«

254 Zum Aufwuchs der Org siehe demnächst Wolf, BND, Regierung und Parlament.
255 Memorandum von Gehlen für Liebel, 19.3.1948, BND-Archiv, 4312, Blatt 114 -118.
256 Chronik, 20.3.1948, BND-Archiv, 4312.

524
ernennen, was Wessel für eine unverständliche Hervorhebung hielt. Gehlen
erwiderte abweisend: »Ob Sie das dann eine Schlüsselstellung nennen oder
nicht, ist Ihre Sache, ich nenne es keine Schlüsselstellung.«257
Das Gespräch steigerte sich zum Eklat. Wessel fürchtete den völligen Ver­
lust seiner eigenen Beraterfunktion und drohte damit, als Konsequenz selbst
aus der Organisation auszuscheiden, weil die

ideellen und sittlichen Grundlagen unserer Arbeit verlassen werden, wenn


in die Leitung charakterlich minderwertige Elemente kommen. Gehlen: Das
müssen Sie selbst wissen. Ich trage die Verantwortung und muß danach han­
deln. Außerdem: Legen Sie doch Baun um, wenn Sie das mit Ihrem Gewissen
vereinbaren können. Ich würde mich nicht darum kümmern. Wessel: Ich will
ja gerade gehen, um aus den Gewissenskonflikten herauszukommen. Sie wer­
den wohl nicht annehmen, daß ich einen Mord begehe. Unsere Wege trennen
sich dann.

Wessel unterrichtete anschließend Dingler und dann Heusinger vom Inhalt


der Unterhaltung, unter Betonung des Mordvorschlags und der menschlichen
Enttäuschung, »daß Gehlen selbst ebensowenig wie Baun charakterlich ein­
wandfrei ist«. Heusinger schlug vor, eine Nacht zu überlegen und dann noch­
mals die Aussprache mit Gehlen zu suchen. Anscheinend schätzte Heusinger
den Zusammenprall von Gehlen und Wessel als überhitzt ein, den »Mordvor­
schlag« nahm er offenbar auch nicht ernst, sondern als zynische Geste Geh­
lens, als Spott gegenüber einem Untergebenen, der seine Entscheidung in
Sachen Baun infrage stellte und ihn mit seiner Rücktrittsdrohung unter Druck
setzen wollte.
Wessel kontaktierte nach Heusinger auch Waldman und fragte diesen, wie
er zu Baun stehe. Waldman stimmte zu, dass Baun nicht vertrauenswürdig
sei und dieser, angestachelt von seiner Frau, immer versuchen würde, sich bei
Gehlen dafür zu rächen, dass dieser ihn ausgebootet und unterworfen habe.
Andererseits sei Baun fachlich hervorragend, was man in irgendeiner Form
ausnutzen müsse, zum Beispiel indem man ihn zu einem Berater für Spezial­
falle mache. Vergleichen könne man die Situation mit Firmen, die Kriminelle
dazu benutzen, um Panzerschränke, deren Nummern oder Schlüssel verloren
sind, zu öffnen. Baun dürfe aber keine Weisungsbefugnis haben, dürfe nicht
das Lager verlassen und kein Geld mehr bekommen, »sonst schießt er sofort
gegen uns alle und stürzt die Operation. Ihm »Wachhunde« zu geben ist sinnlos,
er bescheißt sie und uns doch alle.«

257 Gespräche am 23.3.1948, Chronik, ebd.

525
Bei Waldman fand Wessel also Unterstützung für seine Ablehnung Bauns
und so ließ er sich Zeit für ein erneutes Gespräch mit seinem Chef. In sei­
ner anhaltenden Erregung nahm er vermutlich befriedigt Informationen zur
Kenntnis, wonach einige Außenstellenleiter von Gehlen verlangen wollten,
dass bei einem Weggang Dinglers Baun wieder die Leitung der Beschaffung
übernehmen sollte, anderenfalls würden sie ausscheiden. Andere befürchte­
ten, dass Baun erst Herre und Scheibe, die er für Waschlappen halte, aus der
Umgebung des Chefs abschießen würde, um anschließend Gehlen selbst zu
Fall bringen. Wessel wurde gebeten, sich bei dem Chef dafür einzusetzen, dass
dieser eine Aussprache mit allen Organisationsleitern herbeifuhre.258
Gehlen blieb die anhaltende Widerspenstigkeit von Wessel nicht verbor­
gen. Da griff Herre wieder einmal vermittelnd ein. Er warf Wessel in einem
persönlichen Gespräch vor, durch seine eigenständigen Gespräche mit Heu­
singer und Waldman die Sache Baun, die im gemeinsamen Interesse gut stand,
wieder stark zurückgeworfen zu haben. Gehlen sei empört, dass Wessel sofort
zu Heusinger gegangen sei. Vom Besuch bei Waldman wisse er noch nichts.
Wenn das herauskäme, würde es vermutlich den endgültigen Bruch bedeu­
ten.259 Gehlen werde Baun doch nur in Einzelfällen als Berater heranziehen,
was Wessel bezweifelte. Allerdings bezog Herre ebenfalls klar Position gegen
Baun, der unbedingt an die Leine gelegt werden müsse. Er würde das auch
selbst zur Vertrauensfrage machen, ebenso wie Waldman, der bereits mit
Gehlen gesprochen habe. Herre zeigte sich deshalb davon überzeugt, dass die
Dinge schon laufen würden. Es dürfe aber nichts geschehen, was die Person
von Gehlen antastet.
Wessel sah das ganz anders. Sein persönliches Verhältnis zum Chef bestehe
nicht mehr, erklärte er. Dieser sei

charakterlich nicht voll geeignet, um das Schiff, an dem auch wir so erheblich
mitgearbeitet haben, auf die Dauer allein weiterzusteuern. Ich würde sofort
ausscheiden, wenn ich dies wirtschaftlich könnte. Ich kann es außerdem
nicht, weil trotz wiederholter Bitte mir noch immer nicht schriftlich bestätigt
wurde, daß ich den Fragebogen im Auftrage der Amerikaner falsch ausgefüllt
habe. Ich bin also in der Hand der Leitung. Deshalb bleibe ich und werde
alles in Zukunft nur der Sache wegen und ohne persönliche Bindungen und
Rücksichtnahme gegenüber Gehlen tun.260

258 Chronik, 25.3.1948, ebd.


259 Besprechung Wessel/Herre am 29.3.1948, ebd.
260 Welche falsche Angabe Wessel konkret gemacht hatte, ist unklar. Es ist denkbar, dass er
seinen Status als ehemaliger Generalstabsoffizier auf einem Fragenbogen weggelassen
hatte, um der Entnazifizierung zu entgehen.

526
Das war eine tragische Geste, aber der unwiderrufliche Bruch einer Männer­
freundschaft zwischen jenen Männern, die später als Präsidenten des BND
dessen Geschicke für Jahrzehnte steuern würden.
Liebel, den Gehlen ebenfalls vorerst ausmanövriert hatte, zeigte eine
freundliche Fassade. Er dankte Gehlen für eine für ihn ausgerichtete Geburts­
tagsparty, lobte die Arbeit der Organisation und sprach sogar die Hoffnung
aus, dass die gemeinsame Freundschaft niemals zerbrechen werde. Liebel
wartete auf seine Stunde. Als einen Tag später, am 3. April 1948, die Sowjets
mit der Schließung der Eisenbahnverbindungen von Berlin nach Hamburg und
München die Krise in den Ost-West-Beziehungen verschärften, nutzte Gehlen
die Gunst des Augenblicks für sich. Er berief eine Besprechung mit den Orga­
nisationsleitern ein, um ihnen die Weiterentwicklung des Unternehmens aus
seiner Sicht zu vermitteln. Gehlen nahm also die Anregung zu einer solchen
Besprechung auf und nutzte die Chance, seine Autorität im Zeichen der dro­
henden Kriegsgefahr zu stärken.261
Zurzeit sei nicht damit zu rechnen, dass sich die Lage bis hin zum Kriegs­
ausbruch verschärfen könnte, sagte er. Ein kritischer Zeitpunkt sei übers Jahr
zu erwarten.

Jedoch darf Entschluß der SU zu militärischen Handlungen schon vor die­


sem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, wenn ein unerwartetes poli­
tisches Ereignis ohne Zutun beider Teile die Lawine ins Rollen bringt oder
die SU glaubt, den günstigsten Zeitpunkt für die Gewinnung Westeuropas
und Vorderasiens andernfalls zu verpassen. Schlußfolgerung für uns: Weiter­
entwicklung der Organisation so, daß sie ab Herbst 49 den Notwendigkeiten
eines Krieges voll, ab Herbst 48 ausreichend gewachsen ist. Abschluß der
Emergency-Vorbereitungen bis Herbst 48.

Diese Lagebeurteilung mache es notwendig, eine Persönlichkeit im Ausland


einzusetzen, die mit der Gesamtorganisation vertraut sei. Das sei Dingler, der
in die Schweiz gehen werde. Gleichzeitig werde er selbst sich stärker um die
Probleme der Aufklärung kümmern. Das Ziel für die nächste Zeit sei: innerhalb
von sechs Monaten dem taktischen Aufklärungsapparat (bisher Frontaufklä­
rung genannt) einen strategischen zur Seite zu stellen. Eine völlige Trennung
sei natürlich nicht möglich, man könne nachrichtendienstliche Verbindungen
nicht einfach umhängen. Strategische Aufklärung sei »Aufklärung von großen
Einzelverbindungen mit Aufklärungszielen von strategischer Bedeutung und

261 Besprechung Gehlens mit den Organisationsleitern am 5.4.1948, BND-Archiv, 1172;


Stichworte für seine Ansprache in Anlage, BND-Archiv, 4312.

527
die Arbeit mit politisch bedeutenden fremden Volksgruppen im allgemeinen«.
Von Ausnahmen abgesehen verfüge man über solche Verbindungen bisher
noch nicht. Daher würden zunächst diejenigen Ansätze bei der taktischen Auf­
klärung belassen, die zwar taktischer Natur sind, aber durchaus in die Tiefe
reichen. Auch die taktische Aufklärung brauche netzartige Verbindungen, die
teilweise in die Tiefe gehen. Dafür spreche auch, dass persönliche Verbindun­
gen und persönliches Vertrauen bei der Aufklärungsarbeit von großem Vor­
teil seien. Sie sei »ein lebendes Instrument«, das »organisch von selbst weiter
wachsen muß durch entsprechendes Beschneiden wilder Triebe, welches in
eine bestimmte Richtung hin weiter entwickelt werden muß«, offenbarte Geh­
len seine doch recht vagen und theoretischen Vorstellungen gegenüber den
Männern der Praxis.
Er mag geahnt haben, dass diese Ideen vielleicht allzu praxisfern wirken
könnten, und appellierte deshalb an die Organisationsleiter, dass bei ihnen
der Schwerpunkt des Handelns liege und deshalb Anregungen für die weitere
Arbeit von unten nach oben kommen müssten. Er sei sich darüber im Klaren,
dass die Verhältnisse in den einzelnen Bereichen durchaus unterschiedlich
seien. Daher müssten dort auch verschiedene Wege gegangen werden. Sein
Wunsch sei es, dass die Organisationsleiter Ideen entwickeln, die er dann mit
ihnen diskutieren werde. Er kündigte an, dass als Nachfolger von Dingler und
Führer der Information Collection Organization (ICO) bis zur Aufstellung
getrennter Führungsstellen für taktische und strategische Aufklärung von ihm
eine Persönlichkeit präsentiert würde, »die nach Alter, Erfahrung, politischem
Horizont und menschlichen Eigenschaften in der Lage ist, besonders schnell
den persönlichen Konnex zu den Organisationsleitern zu finden, und sich vor
allem als ihr Sprachrohr nach oben betrachtet«.
Den Zeitplan stelle er sich so vor, dass Mitte April die Übernahme der ICO
und die Einarbeitung des neuen Leiters durch Dingler erfolgte, bis Juni die
Planung der notwendigen Veränderungen erfolgt, um eine leistungsfähige stra­
tegische Aufklärung aufzubauen, die Gesamtorganisation wendiger zu gestal­
ten, Meldewege abzukürzen, technische Nachrichtenmittel einzusetzen, den
Mob-Fall vorzubereiten sowie die Tarnung zu verändern oder zu verbessern.
Im Juni sollte dann die Trennung der Führung in taktische und strategische
Aufklärung erfolgen, von Juni bis August die Durchführung der geplanten
Veränderungen. Die von Gehlen konzipierten Maßnahmen dienten letztlich
dazu, den Apparat der Nachrichtenbeschaffung nach der Abschiebung Bauns
irgendwie so umzustrukturieren, dass jetzt die Abschiebung auch von Dingler
ermöglicht und eigene Führungsstärke gezeigt wurde. Das Ergebnis war aller­
dings Verwirrung in dem eingespielten Apparat.

528
Zwei Tage später traf Gehlen erneut mit Dienststellenleitern und dem Lei­
ter Beschaffung zusammen.262 Da zeigte sich, dass im Führungskreis ganz
andere Sorgen bestanden. Der bisher schwierigste Teil seiner Arbeit, erklärte
Gehlen, sei die Zusammenarbeit mit den Amerikanern gewesen. Das habe
sich aufgrund der Lageentwicklung im Großen geändert. Jetzt könne er seinen
Schwerpunkt vermehrt auf die Führung der Organisation legen. Als besonders
wichtig bezeichnete er die geistige Führung und Ausrichtung der Mitarbeiter,
was nach den bisherigen Schwierigkeiten vor allem im Bereich der Aufklärung
notwendig erscheinen musste. Bei der Aussprache wurde von allen Außenstel­
lenleitern die Frage vorgebracht, was im Kriegsfälle mit ihnen werden würde.
Der Fall »Jonathan« lasse keine Vorbereitungen erkennen. Die Mitarbeiter
unten seien äußerst besorgt. Gehlen erklärte, dass die Vorbereitungen für den
»Mob-Fall« bis zum Herbst 1948 abgeschlossen sein würden. Zuvor müssten
noch Vereinbarungen mit dem Schweizer und dem französischen Nachrich­
tendienst getroffen werden.
Nach zwei weiteren Tagen schaltete sich Gehlen erneut direkt in die Abtei­
lung Aufklärung ein.263 Er unterrichtete das Führungspersonal über seine
Absicht, mit dem französischen Nachrichtendienst Verbindung aufzunehmen.
Das erste Gespräch solle am 20. April stattfinden. Er meine die Zusammenar­
beit ernst und wolle an eine Stelle herankommen, die selbst Entscheidungen
treffen könne. Man wolle anbieten, innenpolitische und militärische Nachrich­
ten aus den Besatzungszonen abzugeben. Im Gegenzug sollten die Franzosen
Stellungnahmen dazu abfassen und ergänzende Meldungen aus Räumen zur
Verfügung stellen, die von der Seite der Organisation nicht abgedeckt werden.
Außerdem wolle man Schutz und Unterstützung für die eigenen Leute errei­
chen, die schon jetzt über französisches Gebiet hinweg arbeiten müssen. Das
gelte natürlich erst recht für die Aufnahme von Teilen der Organisation im
Mob-Falle.
Die Amerikaner hätten zwar schlechte Erfahrungen bei der geheimdienst­
lichen Zusammenarbeit mit den Franzosen gemacht, die alles haben, aber
nichts geben wollten. Deshalb sei der Org bisher jegliche Kooperation mit
französischen Stellen verboten worden. Gehlen meinte aber, er habe die Ame­
rikaner inzwischen so weit vorbereitet, dass er die Verbindungsaufnahme auf
eigene Verantwortung in Angriff nehmen könne. Es dürften allerdings für die
US Army keine politischen Schwierigkeiten entstehen. Gehlen:

262 Chronik 7.4.1948, BND-Archiv, 4312.


263 Aktennotiz über die Besprechung Gehlens im Klub am 9.4.1948, Chronik, Anlage, ebd.,
Blatt 10-17.

529
Den Franzosen gegenüber ist besonders zu betonen, dass wir eine deutsche
Organisation sind, die mit Amerikanern zusammenarbeitet und dass gerade
uns Deutschen besonders an einer Zusammenarbeit mit den Franzosen liegt.
Da die Masse der Franzosen immer noch Angst vor den Deutschen hat, muss
besonders herausgestellt werden, dass alle vergangenen Dinge völlig zurück­
zutreten haben, gegenüber der neuen gemeinsamen Aufgabe des Kampfes
gegen den Bolschewismus.

Walter Schenk, ehemaliger Hauptmann der Abwehr (DN »Schack«), seit


13. April 1948 Chef der Beschaffung, 1951 im Stab Gehlen mit Sonderaufgaben
befasst, meinte: Man habe in der Zusammenarbeit mit den USA »trotz vieler
Anfeindungen von deutschen Nationalistischen Kreisen« bereits durch die Tat
die eigene Zuverlässigkeit unter Beweis gestellt. Daher könnten auch die Fran­
zosen Loyalität von der Org erwarten, was sich in der Bereitschaft erweise,
dass man bei einem möglichen Regierungswechsel in Frankreich »illegal mit
den französischen Rechtskreisen Weiterarbeiten« wolle.264
Gehlen verwies außerdem auf die Notwendigkeit, Kontakte zu Spanien
aufzubauen. Man müsse Verbindungen zum spanischen Nachrichtendienst
schaffen, dessen Chef ein alter Freund von Canaris sei, sowie auch in Richtung
Portugal. Es folgte eine Aussprache über einzelne Personen der Org und ins­
besondere über die Nachfolge Bauns. Dessen Anhänger hielten sich bedeckt.
Einer von ihnen meldete sich zu Wort und meinte, der Nachfolger müsse unbe­
dingt ein erfahrener Mann sein. Er selbst habe sich beim Fortgang von Baun
nicht um die Gründe gekümmert. »Ich bin Soldat und arbeite nicht für eine
Person, sondern für die Sache.«
Dieses Stichwort griff Gehlen sofort auf, um in diesem Kreise seine Auto­
rität zu stärken. »Wir arbeiten für eine gemeinsame Idee, nicht im staatli­
chen Rahmen. Die Führung beruht nicht, wie in der Wehrmacht, auf einem
Unterordnungsverhältnis, sondern auf persönlicher Beziehung und persönli­
chem Vertrauen«, erklärte der General. Er selbst sei »durch Zufall und auf­
grund seiner ganzen Vergangenheit in die Stelle des Leiters der Gesamtorga­
nisation gekommen« – den Konkurrenzkampf mit Baun überging er damit.
Seine außerordentlich geschickte Intrige gegen den früheren Konkurrenten
war erfolgreich abgeschlossen, Baun mithilfe der Amerikaner aus dem Auf­
klärungsapparat herausgelöst und ins Abseits gestellt. Um dessen Anhänger
zu versöhnen, bestätigte er Bauns fachliche Qualitäten und deutete an, dass
er Baun nicht persönlich, sondern dessen Ehefrau als gefährlich einschätzte.

264 Zur Anbahnung der französischen Verbindungen siehe demnächst Krieger (Hg.), Glo­
bale Aufklärung.

530
B. ist auf dem Abwehrgebiet [Nachrichtenbeschaffung] einmalig. Er hat
dafür eine geniale Ader. Auf der anderen Seite hat er verschiedene Schwä­
chen, die weitgehend aus 27-jähriger Tätigkeit gegen die Sowjets (davon die
meiste Zeit in der SU selbst) zu erklären sind [...] Es fehlt ihm vor allem die
Fähigkeit klar zu organisieren und zu führen. B. hat die ihm von mir während
des Krieges angebotenen Mitarbeiter, die seine Schwächen ausgleichen soll­
ten, nicht angenommen. Es muss als Tatsache festgehalten werden, dass B.
das Verdienst am Aufbau der ICO zufällt. Er ist dabei aber Wege gegangen,
die die Gefahr in sich bargen, dass sowohl 34 [Gehlen] als auch die gesamte
Organisation das Vertrauen der Amerikaner verlieren. Er hat utopische Ziele
verfolgt und zwar mit Mitteln, die man unter normalen Umständen einer
Kritik unterziehen muss, die eine weitere Mitarbeit überhaupt ausschliessen
würden.
Trotzdem muss er unter den heute für uns gegebenen Verhältnissen wei­
tergehend an den Dingen beteiligt werden als bisher. Die Form hierfür liegt
noch nicht fest, keinesfalls kann er Leiter ICO werden. Wahrscheinlich wird
er persönlicher Mitarbeiter von 34 für Abwehrdinge. Hierbei muss die For­
derung gestellt werden, dass seine Frau völlig aus der Arbeit herausbleibt.265

Weiter ging Gehlen in seinen Bemerkungen über Baun nicht. Dass dieser nun
als Berater direkt unter dem Chef verwendet werden sollte, bedeutete nichts
anderes, als seinen Anhängern Sand in die Augen zu streuen.
Gehlen lenkte dann ab. Für ihn selbst lägen die Probleme in der Hauptsache
nicht bei der Beschaffung, sondern im politischen Rahmen. Es sei ein Glück
gewesen, dass man es anfänglich mit zwei Amerikanern zu tun gehabt habe,
die keine Ahnung vom Geschäft gehabt hätten. Andererseits seien dadurch
auch die vielen alltäglichen Schwierigkeiten zu erklären. Das Wesentliche sei
derzeit der Mangel an amerikanischen Offizieren zur Unterstützung der eige­
nen Arbeit.

In den U.S.A. hatten viele Leute im Hinblick auf unsere Organisation kalte
Füsse und es sind dort um unsere Org. erhebliche Kämpfe geführt worden.
Um allen politischen Konsequenzen zu entgehen, fand zwischen General
WALSH und General Chamberlin vor der Londoner Konferenz ein Briefwech­
sel darüber statt, dass die Organisation aufgelöst ist.

Die Einstellung der Amerikaner habe sich jetzt erheblich geändert.

265 BND-Archiv, 4312, Blatt 15-16. Im internen Schriftwechsel benutzte man nun Ziffern als
Decknamen.

531
Die ganze Lageentwicklung arbeitet für uns. Wir müssen uns aber darüber
klar sein, dass wir die Unfähigkeit der Amerikanischen Armee nicht ändern
können. Eine grundlegende Besserung ist erst zu erwarten, wenn wir eine
offizielle deutsche Einrichtung geworden sind [...] Der gute Wille ist bei den
Amerikanern ohne Zweifel da, aber die Amerikanische Armee ist eben eine
Bürgerwehr.

Was hier als Arroganz des ehemaligen Wehrmachtgenerals durchscheint, der


sich eine durchsetzungsstarke militärische Aufhängung gewünscht hätte,
zielte auf den Appell an seine Leiter, sich in Geduld zu üben und ihn derzeit
mit Beschaffungsanträgen zu verschonen.
Walter Schenk übernahm die Abteilung Beschaffung mit dem Auftrag,
die Sammlung von Informationen über die order of battle der sowjetischen
Streitkräfte auf Polen und Bulgarien auszudehnen.266 Dingler verfasste bei der
Gelegenheit seiner Amtsübergabe einen persönlichen Brief an seinen Vetter
Reinhard und erklärte, warum er unter dessen Leitung nicht mehr arbeiten
könne.267 Er warf Gehlen vor, viel zu spät und nicht nachdrücklich genug die
Interessen der Organisation gegenüber den Amerikanern vertreten zu haben.
Damit meinte er vor allem die Forderung nach einer definitiven Zusage des
Schutzes im Falle von Not und Gefahr. »Wir müssen das Gefühl haben, dass
wir alle bis auf’s Letzte ausgenutzt werden, um dann mit einem Federstrich
liquidiert zu werden.« Die Organisation habe sich bislang so positiv erweitert,
dass sie nicht mehr in derartig »absoluter Form« geführt werden könne. Lei­
der habe Gehlen seinen Vorschlag eines Beratungsgremiums verworfen. Mit
seinem autoritären Führungsstil, der eine »gesunde und positive Kritik« unter­
binde, werde er für die Weiterentwicklung der Organisation von Schaden sein.
In einem langen und sachlich gehaltenen Antwortschreiben wies Gehlen die
Vorwürfe seines Vetters zurück. Er habe gegenüber den Amerikanern nicht mit
der Faust auf den Tisch schlagen können. »Unsere Organisation ist bis Herbst
vorigen Jahres mehrmals gerade haarscharf an dem Punkt vorbei gesteuert,
wo es zu einem Ende hätte kommen können.« Er nehme für sich in Anspruch,
die Amerikaner besser zu kennen, ebenso nach Beratung mit einzelnen Mit­
arbeitern Entscheidungen zu fallen, die nicht jedem gefallen. Er könne nicht
mit Mehrheitsbeschlüssen seine persönliche Verantwortung wahrnehmen und
wolle an dem Grundsatz festhalten, dass Schlüsselpersonen sich als Gentle­
men verhalten und seine Entscheidungen vertreten sollten.268

266 Chronik 13.4.1948, BND-Archiv, 4312.


267 Schreiben Dingler an Gehlen, 14.3.1948, Chronik, ebd., Blatt 114-117.
268 Schreiben Gehlen an Dingler, 15.3.1948, ebd., Blatt 118-124.

532
Es zeigte sich, dass der interne Führungsstreit wichtige praktische Pro­
bleme überdeckt hatte. General Walsh, G-2 EUCOM, beklagte immer wieder,
dass die abgelieferten Berichte meist mehr als einen Monat alt seien. Es fehlte
an einer entsprechenden Anzahl von Agentenfunkern infolge einer mangel­
haften technischen Ausstattung der Org. Peinlich wiederum für die deutsche
Seite war die Klage von Walsh darüber, dass sich die Org zusammen mit Wald­
man für die Entnazifizierung des ehemaligen Intendanten des Gärtnerplatz­
theaters in München so intensiv eingesetzt habe. Fritz Fischer hatte in den
1930er-Jahren das »Fest der deutschen Kunst« inszeniert und war mit allen
NS-Größen bekannt gewesen. Im amerikanischen Gewahrsam hatte er sich
dann vom Nationalsozialismus distanziert und war glimpflich behandelt
worden. Wie bereits erwähnt, hatte ihn Waldman für das Referat »Kulturbol­
schewismus« vorgeschlagen, um zurückkehrende Emigranten, die sich in der
Kultur und Reeducation betätigten, in ihrer politischen Linie einzuschätzen.
Baun, in dessen Zuständigkeit die Gegenspionage 1947 gefallen war, fehlte es
an entsprechenden Erfahrungen. Fischer hatte es nach kurzer Arbeit für Pull­
ach vorgezogen, eine Eisrevue zu inszenieren und auf Tournee nach Südame­
rika zu gehen. Nach seiner Pleite kehrte er wieder nach Pullach zurück.269 In
einem Gespräch mit Liebel forderte Herre die amerikanische Seite auf, die Org
bei Entnazifizierungsfallen ihrer Mitarbeiter zu unterstützen, ohne Rücksicht
darauf, ob sich die Männer falsch verhalten hatten, zum Beispiel durch falsche
Angaben in den Fragebogen.270
Gleich nach Gehlens Bemühungen, einer möglichen Meuterei in der Abtei­
lung Beschaffung zuvorzukommen und das Leitungspersonal auf seine Seite
zu ziehen, eskalierte der Führungsstreit auf höchster Ebene. Wessel musste
zwar akzeptieren, dass mit dem Entlassungsgesuch von Dingler dessen Anlie­
gen erledigt sei, er verteidigte ihn aber noch einmal ausdrücklich und verband
das mit der Bitte, ihn selbst von seiner Aufgabe als stellvertretender Leiter der
ICO zu entbinden. Er habe die Position im Herbst 1947 im Vertrauen auf die
Rückendeckung Gehlens übernommen, was er nun nicht mehr für gegeben
ansah.271 Wenn Gehlen geglaubt haben sollte, dass er diesen Schritt seines frü­
heren Vertrauten einfach ignorieren konnte, dann täuschte er sich. Trotz sei­
nes förmlichen Entlassungsgesuchs, das Gehlen bereits mit dem Angebot einer
Versetzung in die Schweiz gekontert hatte, blieb auch Dingler aktiv.
Liebel, der dritte Kontrahent Gehlens, suchte das Gespräch mit Dingler und
sagte ihm, er sei der Einzige, zu dem er volles Vertrauen habe. Dagegen hätten

269 So der spätere Bericht von Graber, BND-Archiv, N 4/14.


270 Chronik, 13.4.1948, BND-Archiv, 4312.
271 Stellungnahme von Wessel für Gehlen zum Fall Dingler, 14.4.1948, Chronik, ebd.,
Blatt 107-110.

533
sich Gehlen und Herre mehrfach über seinen Kopf hinweggesetzt, ohne ihn zu
informieren. Er spielte auch auf unerlaubte Geschäfte Waldmans an. Liebei
erklärte, Gehlen wolle ihn stürzen. Er bot Dingler eine Stelle als »Generalins­
pekteur« an und wollte in den nächsten Tagen zu General Walsh nach Frank­
furt fahren. So weit wollte Dingler allerdings gegenüber seinem Vetter Gehlen
nicht gehen. Er lehnte höflich ab, blieb aber an einem Sturz Gehlens, der sich
im Augenblick mit Waldman in der Schweiz aufhielt, interessiert.272 Dingler
dachte daran, dass man Heusinger an die Spitze der Org setzen sollte. Da die­
ser aber noch nicht ausreichend eingearbeitet sei, sei Gehlen zurzeit noch zu
wichtig.273 Er reiste deshalb nach Absprache mit Wessel hinter Liebei her, um
ihn so zu beeinflussen, dass ein Bruch mit Gehlen verhindert werde.
Der General war inzwischen aus der Schweiz zurückgekehrt und erfuhr
durch Herre von den Vorgängen. Er ließ Ermittlungen anstellen, um herauszu­
finden, was genau Liebei hinter seinem Rücken mit Dingler besprochen habe.
Bei einer Besprechung mit Herre, Dingler und Wessel zeigte sich Gehlen ver­
ständlicherweise ausgesprochen wütend und unbeherrscht. Wenn Liebei nicht
bis zum Sommer abgelöst werde, wolle er das ganze Unternehmen auflösen. In
diesem Sinne werde er General Walsh schreiben, um Liebei zu »torpedieren«.
Dingler war gerade in die Schweiz abgereist, um seine neue Aufgabe als Ver­
bindungsoffizier zu übernehmen.
Walsh zeigte sich alarmiert und kündigte seinen Besuch in Pullach an. Zwei
Tage zuvor besprachen Heusinger, Wessel und Schenk die Lage in der Hoff­
nung, dass es gelingen werde, den möglichen Bruch zu verhindern.274 Gehlen
bereitete sich mit einem langen Memorandum auf diese für die Zukunft der
Org wahrscheinlich entscheidende Weichenstellung vor.275 Die Besprechung
fand am 20. Mai 1948 in größerer Besetzung statt. In der Begleitung von Walsh
befand sich unter anderen auch Liebel.276 Gehlen dankte für die Möglichkeit,
die gegenwärtigen Probleme mündlich vortragen zu können, und bat darum,
sein Memorandum erst vollständig vorlesen zu dürfen, um dann anschließend
in eine Diskussion darüber einzutreten.
Es folgte der übliche Überblick über die bisherige Arbeit, der in das Bekennt­
nis mündete, ob sich ein künftiges Deutschland vom Westen abwenden würde,
was unwahrscheinlich sei, oder ob ein Krieg ausbrechen würde, man werde

272 Aktennotiz über das Gespräch zwischen Liebel und Dingler, 24.4.1948, BND-Archiv,
1111, Blatt 135.
273 Chronik mit Auszug aus Tagebuch Wessel vom 28.4.1948, BND-Archiv, 4312.
274 Gespräch am 18.5.1948, Chronik, ebd.
275 Memorandum von Gehlen über Schwierigkeiten und Probleme, 19.5.1948, BND-Archiv,
1111, Blatt 187-192.
276 Besprechung am 20.5.1948, ebd., Blatt 167-186.

534
in jedem Falle als eine deutsche Organisation an der amerikanischen Seite
für ein demokratisches Deutschland mit westlicher Tendenz kämpfen. Nie­
mand in der Org, abgesehen von unteren Agenten, würde als Söldner für eine
nichtdeutsche Macht arbeiten. Die Bereitschaft zur Kooperation mit den USA
basiere allein auf ideologischer Überzeugung und der Hoffnung auf die Fair­
ness der Amerikaner. Gehlen mochte sich an diese Hoffnung klammern. Dabei
war er sich zweifellos der Gefahr bewusst, dass ihn seine amerikanischen Auf­
traggeber jederzeit fallenlassen konnten. Also verlegte er sich darauf, die ideo­
logischen Gemeinsamkeiten hervorzuheben.
Kein Wort verlor Gehlen über die internen Spannungen, im Gegenteil. Er
behauptete wahrheitswidrig, dass er in allen Teilen der Organisation per­
sönlichen Respekt genieße, was für den Zusammenhalt wichtig sei. Selbst in
schwierigen Situationen hätten alle zu ihm gestanden in dem Glauben, dass er
den richtigen Weg finden werde. Das verpflichte ihn, sich dafür einzusetzen,
dass die gegenwärtigen Schwierigkeiten möglichst beseitigt werden. Dafür
brauche er aber auch volles Vertrauen der Mitarbeiter. Jeder nehme an, dass
im Kriegsfall Westdeutschland bis zum Rhein verloren gehen würde.

Entgegen meiner früheren Ansicht scheint dieser Krieg unvermeidlich und


wird wahrscheinlich bald beginnen, spätestens 1951. Unsere Vorbereitun­
gen für einen solchen Fall sind wie folgt: Verlegung der verschiedenen Stäbe
in die benachbarten Länder, wo wir unsere Arbeit fortsetzen werden. Ich
werde jedoch häufig zweifelnd gefragt: Werden die Amerikaner, die nicht
in der Lage sind, uns in so vielen kleinen Sachen wirksame Hilfe zu leisten,
die Möglichkeit haben, unsere Verlegung vorzubereiten und uns im Notfall
genügend Hilfe geben?« Ich bin auch gefragt worden: >Sind Sie sicher, daß
die Amerikaner uns nicht nur jetzt benutzen, um uns im Notfall uns selbst
zu überlassen?<277

Neben der Sorge um die Sicherheit der Org im Kriegsfall bewege der allgemeine
Unmut in der Bevölkerung über die Besatzungspolitik die Mitarbeiter. Dadurch
wurde angeblich die Bereitschaft zur Mitarbeit beeinträchtigt. Konkret verwies
Gehlen auf einige Aspekte der Nürnberger Prozesse. Jedermann wünsche, dass
die Kriegsverbrecher bestraft werden, meinte er vorsichtshalber. Aber Mitar­
beiter, die als Zeugen nach Nürnberg gerufen worden seien, hätten bestätigt,
dass die Möglichkeiten der Verteidigung zu schwach wären, dass Männer,
deren Ehrenhaftigkeit und Opposition gegen den Nationalsozialismus außer
Zweifel stünden, in den Tod getrieben (Generaloberst Johannes Blaskowitz)

277 Übersetzung des Memorandums, ebd., Blatt 190.

535
oder vor ein Zivilgericht gestellt worden seien, ohne Möglichkeit, sich auf die
Verteidigung vorzubereiten. Das alles belaste das Gewissen seiner Leute, die
fragten, ob man das mit der Ehre als ehemalige Soldaten vereinbaren könne.
Selbstbewusst behauptete Gehlen, dass er bisher mit allen Schwierigkeiten
in der Org fertiggeworden sei, weil er sich in der Wehrmacht einen guten Ruf
erworben habe.

Aber auch in diesem Falle brauche ich die verständnisvolle Unterstützung


von amerikanischer Seite durch Offiziere, die auf Grund ihrer operationeilen
Erfahrung die deutsche Mentalität kennen und unseren nachrichtendienst­
lichen Problemen volles Verständnis entgegenbringen.

Damit erlaubte er sich eine deutliche Anspielung darauf, dass er Liebel für eine
Fehlbesetzung hielt. Die gewünschte »verständnisvolle« und professionelle
Unterstützung erhielt er später durch den CIA-Mann Critchfield. Aber leichter
wurde Gehlens Arbeit damit keineswegs, im Gegenteil.
Zum Abschluss stellte Gehlen befriedigt fest, dass die US-Militärs der gegen­
wärtigen Konzeption seiner Arbeit zugestimmt hätten. Doch einige existen­
zielle Fragen waren offengeblieben. Dazu gehörte eine Entscheidung über die
Frage, welche Aufgaben der Organisation im Falle eines bewaffneten Konflikts
übertragen würden und in welche Länder seine Leute ausweichen dürften.
Gehlen äußerte dazu bereits konkrete Vorschläge und räumte ein, dass man
an einer Aufteilung der Mitarbeiter nicht vorbeikommen würde.

Ein Teil muß gut getarnt verbleiben, um die Arbeit fortzusetzen. Der andere
Teil, insbesondere die Führungsstäbe, müssen verlegt werden und von außen
gegen das feindliche Gebiet arbeiten. Es muß betont werden, daß alle Mit­
glieder der Organisation ihr persönliches Schicksal nicht in den Vordergrund
stellen. Die Hauptsache ist es, die Möglichkeit für die Fortsetzung der Arbeit
gegen den Bolschewismus zu schaffen. Jeder weiß, daß die Organisation im
Falle eines plötzlichen Krieges mit hohen Verlusten rechnen muß. Es wird
andererseits darum gebeten, auch in einem solchen Falle alle nur mögliche
Unterstützung zu geben, damit die Leistungsfähigkeit erhalten bleibt.278

Sicher verstanden die US-Militärs Gehlens persönliche Sorge, im Ernstfälle


rechtzeitig über Spanien nach Nordafrika zu entkommen, was nur mit ameri­
kanischer Hilfe möglich sein würde. Ähnlich dürfte er drei Jahre zuvor gegen­
über Schellenberg und der SS sowie gegenüber seinen Wehrmachtvorgesetz­

278 Ebd., Blatt 193.

536
ten argumentiert haben. Damals war die Flucht vor dem Feind UdSSR mit
dem gesamten Führungspersonal sowie dem wertvollsten Material gelungen.
Jetzt hoffte er auf eine bindende Zusage der Amerikaner. Fünf Wochen später
begann die Berliner Blockade, die bewies, wie schnell sich die Lage verändern
konnte. Doch auf amerikanischer Seite hielt man sich bedeckt. Die Vorstellung,
die volle Verantwortung für den gesamten undurchsichtigen Gehlen-Apparat
zu übernehmen, fand keine uneingeschränkte Zustimmung. Die Militärs
mochten damit pragmatisch umgehen, aber auch sie mussten die politischen
Implikationen bedenken. Es hatte sich bereits im Ausland ein Wildwuchs von
Naziemigranten gebildet, die im Dunkel geheimdienstlicher Aktivitäten Fuß
gefasst hatten. Vor diesem Hintergrund konnte die mögliche Verlegung von
Einheiten der Organisation Gehlen bedenklich erscheinen, weil sie zu einem
großen Teil selbst politisch belastete Personen umfassten. In Pullach galt als
erstes Gebot der Respekt vor dem persönlichen Geheimnis des Einzelnen, wie
Graber berichtet.279 Um dem Argwohn der Amerikaner entgegenzukommen,
versuchte Gehlen, durch interne Maßnahmen mögliche Konflikte zu verhin­
dern.
In einer Anweisung beschrieb er das Problem so:

Bei der Bearbeitung der Entnazifizierung von Mitarbeitern hat sich gezeigt,
daß eine größere Zahl politisch belasteter Personen eingestellt worden
ist. Da in schwierigen Fällen eine Einschaltung und Unterrichtung von 23
[Verbindungsstab US Army] notwendig ist, ist es nicht immer leicht, 23 das
Anwachsen der Zahl politisch Belasteter, zu deren Gunsten interveniert wer­
den muß, zu erklären. Wenn sich auch auf der einen Seite gezeigt hat, daß
auch politisch Belastete sich als besonders zuverlässige Mitarbeiter bewährt
haben, so ist auf der anderen Seite doch zu überlegen, wie weit stärker poli­
tisch belastete Personen für uns von Nutzen sind.280

Es zeigt sich, dass Gehlen in dieser heiklen Frage nicht moralisch, sondern
ausschließlich nach Nützlichkeit argumentierte und dabei auch mögliche
politische Implikationen in Kalkül zu ziehen verstand. Schließlich hatten die
Amerikaner die problematischen Einstellungen offenbar weitgehend gebil­
ligt, doch anscheinend eher an Ausnahmen gedacht. Baun und die Außen­
stellenleiter waren in jüngster Vergangenheit weit darüber hinausgegangen
und Gehlen musste sich dazu positionieren. Das Ergebnis war ein typischer
Kompromiss:

279 BND-Archiv, N 4/15, S. 231.


280 Anweisung der Leitung über politisch Belastete, 8.6.1948, Chronik, BND-Archiv, 4312.

537
Personen, gegen die polizeiliche Fahndungsmaßnahmen eingeleitet sind
oder gegen die Auslieferungsbegehren schweben, können sich auf Jahre
hinaus nicht sehen lassen. Bei häufigen Interventionen zu Gunsten stärker
belasteter Mitarbeiter besteht durchaus die Gefahr, daß hierdurch die Orga­
nisation in Mißkredit gebracht wird und sich dann auch zu Gunsten beson­
ders wertvoller Mitarbeiter nichts erreichen ließe. Es wäre daher zu überle­
gen, die Einstellung stärker politisch belasteter Personen auf Ausnahmen für
besondere Spezialkräfte zu beschränken. Für untergeordnete Posten müßte
es auch möglich sein, weniger oder gar nicht belastete Personen zu finden.

Gehlen suchte also eine praktische Lösung. Eine »Säuberung« seiner Orga­
nisation aus politischen oder moralischen Gründen stand nicht zur Debatte.
Und er hielt sich auch selbst nicht immer an diese pragmatischen Überlegun­
gen. Als Ergebnis eines langjährigen Integrationsprozesses fanden sich später
die meisten NS-belasteten Mitarbeiter außerhalb der Zentrale, insbesondere in
den Außenstellen. Und den ehemaligen Gestapobeamten Heinz Felfe, an dem
Gehlen Gefallen fand, holte er sich in seine Nähe und überließ ihm ausgerech­
net die Leitung der Spionageabwehr, mit dem Ergebnis, dass Felfe Gehlen und
den BND bis an den Abgrund führte.281
Gleichzeitig übergab er dem Stab von General Walsh ein Memorandum, mit
dem er gegenüber dem G-2 EUCOM die Beschäftigung von politisch belaste­
tem Personal rechtfertigte und mit der ungewöhnlichen Forderung nach einer
Ablösung seines Aufpassers Liebel verband.282 Grundlage der Zusammenarbeit
sei gewesen, so führte Gehlen aus, dass sich die Deutschen mit ihrer jahrelan­
gen operativen Erfahrung zur Verfügung stellen und besonders der Aufklärung
widmen, die für die USA von Interesse sei, ohne politische Gefährdungen zu
riskieren. Damit habe er die Chance gehabt, auch »deutsche Nationalisten«
zu engagieren, die »gute Deutsche« seien, aber gleichzeitig ideologisch an der
Seite der westlichen Demokratien stünden. Nach dieser Weichzeichnung der
politischen Belastung seiner Organisation holte er zum Gegenschlag aus.
Die eigentlichen Schwierigkeiten seien mit dem Amtsantritt von Liebel im
September 1947 entstanden. Dieser habe keine operative Erfahrung, kritisiere
aber die Arbeit der Deutschen, höre Gehlen oft nicht bis zum Ende zu, wenn
er Probleme präsentiere, stattdessen springe Liebel sofort zum Schluss, ziehe
Konsequenzen und ordne an. Liebel zögere, höhere Stellen einzuschalten und
interessiere sich für Kleinigkeiten, die ihm umständlich erklärt werden müss­

281 Siehe demnächst umfassend die UHK-Studie von Gerhard Sälter: Personelle Kontinui­
täten. NS-belastetes Personal im BND.
282 Memorandum Gehlens für Walsh, 9.6.1948, Chronik, Anlage, BND-Archiv, 4312,
Blatt 232-243, Übersetzung Blatt 244-257.

538
ten – mit anderen Worten: Gehlen kritisierte, dass seine Führung des Unter­
nehmens von Liebel nicht anerkannt werde. Dass Walsh auf diese kleinkarierte
Intervention nicht reagierte, ist verständlich, es ging, wie Gehlen wohl zu Recht
vermutete, nicht zuletzt auch um Prestige. So legte Gehlen vier Wochen später
mit einem noch längeren Memorandum nach, in dem er explizit die Ablösung
Liebeis forderte.283 Weder er selbst noch seine Mitarbeiter hätten Vertrauen zu
Liebel, was eine unerlässliche Voraussetzung für die Arbeit sei.
Die politischen Umstände kamen Gehlens Forderung entgegen. Angesichts
der angespannten Lage um Berlin sah sich Walsh gezwungen, mit Gehlen einen
Konsens zu finden, denn dessen Männer leisteten eine willkommene Hilfe im
Brückenkopf West-Berlin. Dieser drängte mit Verweis auf die zunehmenden
politischen Spannungen auf eine schnellstmögliche Lösung der Probleme.284
Zwei Wochen zuvor hatte die Luftbrücke begonnen, mit der die Amerikaner auf
die Blockade West-Berlins reagierten. Obwohl es eine große Zahl von Gründen
gegen die Annahme gebe, dass Russland einen bewaffneten Konflikt provozie­
ren wolle, bestehe doch die Gefahr plötzlicher Feindseligkeiten, die keine Seite
beabsichtige, so Gehlen. Um die Arbeitsfähigkeit der Org aufrechtzuerhalten,
sei eine Reihe dringender Probleme zu lösen, was nicht möglich sei, solange
er mit Liebel arbeiten müsse. Er habe in den letzten Monaten mehrfach daran
gedacht, selbst um seine Entlassung zu bitten, aber das würde zur Folge haben,
dass die Mehrzahl der führenden Mitarbeiter das Gleiche tun würde, und das
wäre das Ende der Org.
Doch Walsh ließ sich nicht drängen und besuchte Gehlen sogar eine Woche
später als ursprünglich geplant. Er traf in Pullach auf eine neu aufgestellte
Führungsgruppe, mit der Gehlen auf die interne Kritik an seiner Stabsarbeit
reagiert hatte. Er machte Generalleutnant August Winter, der bis zu seiner
Pensionierung 1965 beim BND blieb, vorübergehend zum »Stellvertreter des
Deutschen Chefs«, also zu seinem Stellvertreter. Herre wurde »Persönlicher
Mitarbeiter beim D-Chef«. Der aufmüpfige Wessel war stellvertretender Leiter
der Auswertung unter Heusinger geworden.
Vor dem Hintergrund der angespannten Lage um Berlin machte sich Heu­
singer an eine Ausarbeitung über »Militärische Probleme eines Präventivkrie­
ges vom Standpunkt der S. U. gesehen«.285 Er stellte dabei in Rechnung, dass
es sich für Moskau darum handeln würde, eine unmittelbare Gefährdung des
eigenen Territoriums durch den Westen abzuwenden – also ein rein fiktives
und allenfalls theoretisches Szenario. Die UdSSR würde in diesem Falle, so sein

283 Memorandum Gehlens für Walsh, 6.7.1948, BND-Archiv, 1111, Blatt 258-281.
284 Schreiben Gehlens an Walsh, 8.7.1948, ebd.
285 Juli 1948, BND-Archiv, N 1/3, S. 66 – 89. Zur Analyse siehe auch Meier, Heusinger, S. 356 -
359.

539
Ergebnis, danach streben müssen, den Raum bis zur Linie Persischer Golf–
Suez–Malta–Italien–Frankreich–Nordseeküste–Skandinavien zu gewinnen
und die vorgelagerten Gebiete Ägypten–Nordafrika–Spanien–England mili­
tärisch zu überwachen. Außerdem würde eine Vertreibung der Amerikaner
aus Japan erforderlich sein. Nur mit einer solchen Zielsetzung sei ein mög­
licher Präventivkrieg »militärisch berechtigt«. Um ein solches Ziel erreichen
und den gewonnenen Raum gegen eine westliche Gegenoffensive verteidigen
zu können, würde die UdSSR den Friedensumfang ihrer Streitkräfte durch
eine umfassende Mobilmachung mehr als verdoppeln müssen, auf mindes­
tens 389 Divisionen. Aus diesem Ergebnis erhielt die Studie ihren Sinn, weil
sie einerseits eine aktuell drohende Gefahr ausschloss und andererseits den
Umfang dessen skizzierte, was für eine rechtzeitige Warnung den Maßstab bil­
dete. Gehlen sah zwar ebenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass Russland keinen
bewaffneten Konflikt provozieren wollte, meinte aber in einem Brief an Walsh,
dass die gegenwärtige Situation so viele Gefahrenmomente enthalte, dass es
zu einem Ausbruch von Feindseligkeiten kommen könnte, obwohl sie von kei­
ner Seite gewollt seien.286 Deshalb müssten jetzt umgehend die Probleme der
Organisation gelöst werden.
Am 22. Juli 1948 fand dazu eine mehr als vierstündige Besprechung zwi­
schen Gehlen und Walsh statt.287 Als Dienstherr der Org eröffnete Walsh das
Gespräch mit dem Hinweis, dass er große Schwierigkeiten habe, die bewillig­
ten Gelder in D-Mark auszuzahlen. Seit der Währungsreform vor einem Monat
konnte die Org nicht mehr mit Dollars arbeiten, was erhebliche Probleme
bereitete und zu Einsparungen zwang. Walsh wollte offenbar Gehlen den
Wind aus den Segeln nehmen, indem er verkündete, dass seine vorgesetzten
Stellen erkannt hätten, wie wichtig die Org sei. Er selbst werde sich dafür ein­
setzen, dass es zu einer offiziellen Anerkennung und zum Einbau in eine US-
Organisation komme. Vielleicht könnten einzelne Mitglieder beispielsweise
in das State Department übernommen werden. Für die Mitarbeiter aus dem
Bereich Wirtschaft werde man noch leichter Stellen finden. Eine langfristige
Versorgung der ehemaligen Militärs sei am schwierigsten, bei einer friedlichen
Entwicklung vielleicht so, dass die jeweils ältesten Jahrgänge, wenn sie nicht in
Deutschland bleiben wollten, in die USA oder als Instrukteure nach Südame­
rika gehen könnten. Dafür erwartete Walsh Vorschläge von Gehlen.
Für den »Doktor« müssen diese Bemerkungen ein Schock gewesen sein,
denn sie bedeuteten, dass das US-Militär dazu tendierte, die Org aufzulösen

286 Brief Gehlens an Walsh, 8.7.1948, BND-Archiv, 1111, Blatt 284.


287 Aktennotiz über die Besprechung Gehlens mit Walsh, 22.7.1948, Chronik, Anlage, BND-
Archiv, 4312.

540
Robert L. Walsh, ca. 1948

und sich insbesondere von den Teilen zu trennen, gegen die in Washington
politische Bedenken bestanden, also vor allem die strategische Aufklärung
mit dem fragwürdigen Netzwerk von Baun. Gehlens Drohung, bei einem Ver­
bleib Liebeis könnte er um seinen Rücktritt bitten, was zur Auflösung der Org
fuhren würde, konterte Walsh also seinerseits mit dem Szenario einer Auf­
lösung.
Aber Walsh tat so, als ahnte er nicht das Hauptanliegen Gehlens. Seine
konzilianten Ausführungen am Anfang machten es für Gehlen schwer, eine
Überleitung zu finden. Sein Versuch, mit einzelnen Beispielen nachzuweisen,
dass Liebel untragbar sei, zog bei Walsh zunächst nicht. Liebel habe doch ins­
gesamt erfolgreich gearbeitet. Der Frage von Gehlen, ob er nicht einen anderen
Verbindungsoffizier zugeteilt bekommen könnte, wich Walsh mit dem Hinweis
aus, dass man ihm Zeit geben müsse, einen geeigneten Kandidaten zu finden.
Schließlich setzte Gehlen mit dem Hinweis auf Schwarzmarktgeschäfte Lie­
beis nach. Und nun sprang Walsh sofort an, das gehe natürlich unter keinen
Umständen, er werde das prüfen, werde aber Zeit brauchen.
Das Gespräch wechselte zur Finanzfrage. Walsh erklärte, mehr als eine Mil­
lion Dollar könne die Army nicht zur Verfügung stellen, die Air Force würde
wohl 250000 übernehmen, das State Department vielleicht auch. Gehlen solle
seine air section ausbauen und dafür die besten Leute heranholen. Auf die
erneute Frage nach dem Evakuierungsfall sagte Walsh spontan jede Unterstüt­
zung insbesondere für die Familien zu. Im Hinblick auf die allgemeine Lage
erklärte er, dass sich mit dem Eintreffen der »Superfestungen« der Air Force
in Großbritannien die Situation verbessert habe, da auch die Russen wüssten,
welchen Schaden die Bomber anrichten könnten. Eine Konferenz der Außen­
minister im Herbst könnte eine Beruhigung erreichen, aber zuvor gäbe es viel­

541
leicht noch einmal erhöhte Spannungen und man könne nicht wissen, wie die
Sache ausgehe. Zum Abschluss wählte Walsh das fragwürdige Kompliment,
Gehlens Organisation sei »eine der besten, wenn nicht überhaupt die beste
Organisation«, die die USA hätten. Auch das ließ sich noch einmal als versteck­
ten Hinweis darauf verstehen, dass Gehlen nicht die einzige Karte der Ameri­
kaner war und sich keineswegs für unentbehrlich halten sollte.
Gehlen muss frustriert nach Pullach zurückgekehrt sein. So entschloss
er sich zu einem weiteren Vorstoß, um Liebel endlich loszuwerden. Aller­
dings war seine Argumentation bei einem erneuten Gespräch mit Walsh drei
Wochen später immer noch schwach, so der Eindruck von Gehlens Dolmet­
scher »Onkel Jonny« (DN »Roger«). Auf Gehlens Forderung nach sofortigen
Maßnahmen konterte Walsh mit der Behauptung, Liebel sei ein guter Trup­
penoffizier und der beste, der ihm für diese Aufgabe zur Verfügung stehe. Ein
anderer könnte sich womöglich als Trunkenbold erweisen und den könne er
dann auch nicht gleich wieder wegnehmen.
Gehlen hatte sich auf den Einwand vorbereitet und ließ die Katze aus dem
Sack. Er schlug Captain Waldman vor, die Leitung des US-Verbindungsstabes
zu übernehmen. Das hätte für Gehlen praktisch freie Hand bedeutet, da Wald­
man sein eifrigster Fürsprecher auf der amerikanischen Seite gewesen war.
Gesamteindruck DN »Roger«:

Walsh überlegen, klug, sachlich, sieht >Rot< wenn’s um den Colonel geht, setzt
einseitig auf Waldman, dessen Stellung auch schwach ist. Summe: Spiel Geh­
lens, der in diesem Fall nicht mehr überlegen urteilt und handelt. Gefährdung
der Gesamtorganisation.288

Er hätte wissen müssen, dass sein Vorschlag Waldman für Walsh nicht
annehmbar war. Walsh verwies sofort darauf, dass Waldman zu jung und
außerdem kein Seniorofficer sei, um zwischen ihm und Gehlen agieren zu
können. Außerdem – so Walsh entwaffnend – gebe es eine Aversion im Haupt­
quartier Frankfurt gegen Juden.
Die Krise im Verhältnis zu Gehlens Auftraggeber löste sich überraschend,
da Walsh eine Woche später Colonel William R. Philp zum Nachfolger von Lie­
bel ernannte. Er war als Lagerkommandant von Oberursel mit Gehlen vertraut,
begegnete den Deutschen freundlicher und wollte seine Dienstzeit in Bayern
genießen. Bereits ein Jahr später setzte sich die CIA dafür ein, Philp wieder
abzulösen, weil er zuvorkommend, aber im Allgemeinen überfordert sei, die
komplizierte Aufgabe wahrzunehmen, zwischen einem deutschen und einem

288 Gespräch Gehlen – Walsh am 12.8.1948, ebd.

542
amerikanischen Stab zu vermitteln.289 Für den Empfang von Philp ließ Gehlen
sofort ein »Sündenregister« erstellen, in dem die nicht erfüllten Zusagen und
Verpflichtungen des US-Verbindungsstabes aus den letzten vier Wochen auf­
gelistet waren.290
Walsh wollte mit dieser Wahl offenbar erst einmal Ruhe in die Beziehung
zur Gehlen-Truppe bringen, über deren weiteres Schicksal im fernen Washing­
ton bereits in andere Richtungen nachgedacht wurde. Für Liebel, der als Pro-
vost Marshall der US Army nach Wien versetzt wurde, veranstaltete Gehlen
einen Abschiedsabend, von dem sich sein Kritiker Wessel fernhielt, denn ihm
leuchtete die Ablehnung Liebeis durch Gehlens nicht ein und diese heuchleri­
sche Form des Abschieds wolle er auf keinen Fall mitmachen, notierte Wessel
in seinem Tagebuch.291 Liebel war zweifellos unbeliebt in Pullach gewesen, und
mancher amüsierte sich über das kaum verständliche Südstaaten-Englisch
des Troupiers, der sich mehr um die Pflege von Gärten und Häusern kümmerte
und beautification weeks veranstaltete. Nach seiner Versetzung nach Wien
sagte man ihm nach, er habe die Brillen in den WCs seines beschlagnahmten
Hauses als Souvenir abmontieren lassen, weil Hitler in diesem Gebäude öfters
verkehrt habe.292
Entscheidend war jedoch, dass Liebel auf die Autorität der US Army bedacht
gewesen war und sich als Aufpasser des Auftraggebers verstand. Er mochte
wenig vom Nachrichtendienst verstehen, aber er zeigte auch keine Neigung,
sich von Gehlen etwas vormachen zu lassen und dem deutschen General über­
mäßigen Respekt zu erweisen. Damit wurde Liebel zu einer Bedrohung für die
noch immer nicht gefestigte Autorität Gehlens innerhalb seiner Organisation.
Und das in einer äußerst kritischen innen- und außenpolitischen Lage, die
Gefährdungen, aber auch mögliche Perspektiven für die Org bedeuten konnte.
Der Zusammentritt des Parlamentarischen Rats in Bonn am 1. Septem­
ber 1948 signalisierte den Beginn eines westdeutschen Staatswesens, nachdem
sich zuvor durch die unterschiedlichen Währungsreformen und den Beginn
der Blockade West-Berlins die Teilung Deutschlands weiter verfestigt hatte.
Die Entwicklung von zwei gegensätzlichen deutschen Staaten zeichnete sich
ab, was für Gehlen die Frage nach einer »deutschen« Zukunft seiner bisher
gänzlich auf die USA ausgerichteten Organisation aufwarf. Mit der Legende
vom Gentlemen’s Agreement hatte er bereits begonnen, sich gegen den Vorwurf
der Kollaboration zu schützen und sich damit auf eine deutsche Perspektive

289 Memorandum von Richard Helms für Assistant Director for Special Operations (ADSO)
vom 1.9.1949; in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. I, S. 310-311.
290 Chronik, 30.8.1948, BND-Archiv, 4312.
291 Chronik, 27.8.1948, ebd.
292 Erinnerungen Grabers, S. 206, BND-Archiv, N 4/15.

543
auszurichten, die viel früher in Sicht zu kommen schien, als er bislang erwartet
hatte. Diese Perspektive eines deutschen Nachrichtendienstes war freilich im
Augenblick nicht greifbar, denn noch gab es keine westdeutsche Regierung,
der man sich anbieten konnte, und Gehlen brauchte weiterhin die Amerikaner,
um seine Truppe bezahlen und einsetzen, notfalls auch evakuieren zu können.
Als sich der abgeschobene Wessel am 6. September 1948 zum Dienstantritt
als Chef des Stabes in der Auswertung bei seinem neuen Chef Heusinger mel­
dete, kamen die Klagen über die mangelnde innere Geschlossenheit und die
unklare Führung durch Gehlen zum Gespräch.293 Hier wurde vermutlich die
Grundlage für das Einvernehmen beider Männer gelegt, das dazu führte, dass
der ältere Heusinger als potenzieller Generalstabschef künftiger deutscher
Streitkräfte später den jüngeren Wessel mit in den Aufbau der Bundeswehr
hineinzog. Heusinger achtete aber zunächst darauf, dass Gehlen durch interne
Zwistigkeiten nicht weiter beschädigt wurde, denn sein früherer Gruppenlei­
ter war nun einmal die Gewähr für laufende Gehaltszahlungen durch die Ame­
rikaner und die verdeckte Aufstellung eines Reserve-Generalstabs.
Bei einer Besprechung mit seinen beiden Abteilungsleitern über Baun und
die Frage der Zentralisierung stand Gehlen allerdings allein mit seiner Auf­
fassung einer weitergehenden Dezentralisierung, die aus seiner Sicht natür­
lich ein probates Mittel sein konnte, die eigene Führungsrolle zu stärken.294
Heusinger und Schenk drängten Gehlen stattdessen dazu, die undurchsichtige
Dienststelle Baun endlich abzuschieben. Dabei ging es um die Entscheidung
Gehlens vom Mai, Baun nicht fallenzulassen, sondern als seinen persönlichen
Beauftragten zur Dienststelle 9500 (Tigris-Gruppe) in den Nahen Osten zu
schicken, um von dort aus »Tiefenverbindungen« gegen die UdSSR zu füh­
ren.295 Am selben Tag war in Palästina die Unabhängigkeit Israels ausgerufen
worden, was durch den sofortigen Angriff der arabischen Staaten zu einem
Krieg geführt hatte. Bei dem gegenwärtigen brüchigen Waffenstillstand war
zu erwarten, dass die israelische Armee sich demnächst in Galiläa gegen syri­
sche und libanesische Verbände wenden würde. Die Umtriebe des Naziexils
in Damaskus und etwaige Querverbindungen zur Truppe von Baun konnten
womöglich politische Komplikationen auslösen, die am Ende die Existenz
der Organisation gefährden würden. Auch wenn es Gehlen gelungen war, die
internen Rivalitäten auszugleichen und das Arbeitsverhältnis mit der US Army
noch einmal zu befestigen, konnte jede politische Entgleisung die prekäre Lage
der Org so weit gefährden, dass sie in einer Zeit dramatischer außenpolitischer

293 Chronik, 6.9.1948, BND-Archiv, 4312.


294 Besprechung Gehlens mit Heusinger, Schenk und Herre, 10.9.1948, ebd.
295 Besprechung mit Dienststelle 9500,14.5.1948, ebd.

544
Verwicklung und einer akuten Gefährdung der gerade erst entstehenden Bun­
desrepublik vom US-Militär aufgelöst werden könnte, bevor noch eine mögli­
che Überleitung in deutsche Dienste in erreichbare Nähe rückte. Es hätte das
Ende der bislang kurzen politischen Karriere Gehlens bedeutet, der sich dann
womöglich doch entschlossen hätte, ein Medizinstudium zu beginnen.

4. Übernahme durch die CIA (1948/49)

Seit 1945 hatten Gehlen und seine Gefolgsleute die Protektion des US-Militärs,
vor allem des G-2-Stabes im amerikanischen Oberkommando in Frankfurt am
Main, genossen. Die Installierung dieser deutschen Hilfswilligen bei der takti­
schen Nahaufklärung und der Gegenspionage im mitteleuropäischen Bereich
vollzog sich von einem Experiment zu einem Provisorium in mehreren Etappen.
Auf amerikanischer Seite blieben erhebliche politische Bedenken und Zweifel
an der Nützlichkeit dieser ungewöhnlichen und heterogenen Gruppe von ehe­
maligen deutschen Generalstabsoffizieren, zweifelhaften Ex-Abwehroffizieren
und SS-Leuten sowie einem undurchsichtigen Klüngel von Halbprofis und
Dilettanten im Nachrichtengeschäft. Die US-Militärs ließen den weltumspan­
nenden Ambitionen von Hermann Baun einen begrenzten Spielraum, obwohl
sie erkennbar über die unmittelbaren Eigeninteressen der USA hinausreichten.
Mit der Reorganisation der Nachrichtendienste, speziell der Gründung der CIA,
neigte der G-2 in Frankfurt natürlich dazu, sich auf seine ureigenen Aufgaben­
felder zu konzentrieren, zumal die finanziellen Mittel knapper wurden.
Aus der Perspektive des Jahres 1948 hätte Gehlen mit einem weiteren Ver­
bleib bei dem militärischen Auftraggeber bestens leben können, wenn man
ihm endlich einen bequemen Aufpasser und größere Mittel zugeteilt hätte.296
Hatte er bislang eher mit Jahrzehnten gerechnet, bis ein souveräner deutscher
Staat sich einen eigenen neuen Nachrichtendienst suchen würde, überstürzten
sich überraschend die Ereignisse. Die expansive Ausbreitung des Sowjetkom­
munismus durch die Machtübernahme in Prag schürte die Befürchtungen vor
einer ähnlichen Entwicklung in Deutschland, der Aufstand der griechischen
Kommunisten, der Vormarsch der maoistischen Bürgerkriegsarme in China
und die Bildung einer »Volksrepublik« in Nordkorea signalisierten neben ande­
ren Krisenherden in der Welt eine zunehmende Gefährdung des Westens. Mit
der Blockade West-Berlins wurde sie für die Deutschen unmittelbar spürbar.

296 In seinen Memoiren verweist Gehlen – im Rückblick – auf die damalige finanzielle Krise
der Org, die »auf Dauer« nur mit der Übernahme durch die CIA habe gelöst werden
können; Gehlen, Der Dienst, S. 135.

545
Gehlen konnte daher darauf vertrauen, dass angesichts zunehmender
Kriegsgefahr seine Organisation für die US-Militärs letztlich unverzichtbar
sein würde, denn er hatte bereits Vorkehrungen getroffen, um im Notfälle den
Führungskader für eine westdeutsche Exilarmee zu stellen und Aufklärung im
Hinterland des Feindes zu organisieren.297 Er konnte sich also in seinem Selbst­
verständnis noch immer als General sehen, notfalls auch in amerikanischer
Uniform – er persönlich jedenfalls, die meisten seiner Mitarbeiter allerdings
eher nicht. Die Politik hatte sich als ein schwer durchschaubares Aktionsfeld
erwiesen, das für seinen Existenzkampf immer wichtiger wurde, zu dem er
aber von seiner »Insel« in Pullach aus kaum Zugang hatte.
Was ihm – schon aus eigener Einsicht – fernlag, waren subversive, gewalt­
tätige Aktionen schon vor Ausbruch eines möglichen Krieges. Dafür hatten
die USA nach einer Empfehlung von George F. Kennan im Mai 1948 das Office
of Political Coordination (OPC) aufgestellt. Es sollte weltweit selbstständige
Operationen gegen die UdSSR und den Weltkommunismus übernehmen, und
zwar so, dass von außen die Verantwortung der US-Regierung nicht erkennbar
sein würde. Zu den Maßnahmen gehörten Propaganda, wirtschaftliche Krieg­
führung, Sabotage, Subversion und Unterstützung von antikommunistischen
Untergrundgruppen. Den Direktor ernannte der Außenminister, unterstellt
wurde das OPC der CIA.298 Gehlens Org sollte damit Berührung bekommen,
doch hier wich der deutsche General wohlweislich aus.
Ohne seine Mitwirkung entschied man in Washington, die Übernahme
von Pullach durch die CIA prüfen zu lassen. Sie war dabei, sich auch auf dem
nachrichtendienstlichen Operationsgebiet Mitteleuropa zu etablieren. Ob
neben anderen Möglichkeiten und Organisationen auch die Organisation Geh­
len dafür nützlich sein könnte, wurde zur Prüfung dem ehemaligen Lieute­
nant Colonel James H. Critchfield übertragen.299 Das Prüfergebnis war nicht
vorgegeben und sollte innerhalb von vier Wochen durch eigene Anschauung
Critchfields erarbeitet werden, gegebenenfalls durch Verbesserungsvorschläge
ergänzt. Er blieb schließlich bis 1956 und war der letzte Amerikaner, der Camp
»Nikolaus« verließ. Über seine Zeit bei Gehlen verfasste er später wohlwol­
lende Erinnerungen, obwohl sich beide in ihrer aktiven Dienstzeit mensch­
lich nicht besonders mochten.300 Der im Krieg bewährte Frontoffizier hatte
sich nach 1945 für Aufgaben in der Besatzungsverwaltung ausbilden lassen. Er

297 Siehe dazu ausführlich Keßelring, Die Organisation Gehlen.


298 Krieger, Geschichte der Geheimdienste, S. 286.
299 Zur Kurzbiografie Critchfields siehe Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach,
S. 158-160.
300 Critchfield, Auftrag Pullach; zur Bewertung der Beziehungen unter Verweis auf ein
Interview mit Frau Herre Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 159.

546
James Critchfield, 1951

geriet in den Bereich der Spionageabwehr und leitete bis zu seiner Rückkehr
in die USA im März 1948 die Operationen des CIC im besetzten Österreich, wo
sich der Gehlen-Dienst gerade auf dem Rückzug befand.301
Critchfield hatte das Format, um sich in Pullach Respekt und Anerken­
nung zu verschaffen. Er beeindruckte durch seine bedächtige Gelassenheit,
hinter der sich eine ausgesprochen scharfe Beobachtungsgabe verbarg. Mit
Sinn für echten Humor, scharfer Intelligenz mit Blick für das Wesentliche
und bei aller Liebenswürdigkeit auch Härte in der Sache302 wurde Critchfield
in den sieben Jahren gemeinsamer Arbeit zu einem schwierigen Gegenüber
für Gehlen, obgleich er den Dienst fraglos nach Kräften förderte. Der »West­
pointer«303 führte mithilfe des Geldes und war ein hart arbeitender Nachrich­
tendienst-Fachmann, dem Gehlen mit seinen Schlichen nicht beizukommen
vermochte.
Während sich Critchfield im Hintergrund erste Eindrücke verschaffte,
bemühte sich Gehlen in einem persönlichen Memorandum für Walsh, seine
»Gedanken« über die Fortführung der Arbeit an die scheinbar entscheidende

301 Anweisung über die Arbeit in Österreich vom 23.10.1948, Chronik, BND-Archiv, 4312.
Zum Kampf der Geheimdienste in Österreich siehe den kurzen Überblick von Siegfried
Beer: Der Kampf an der »unsichtbaren Front« der Geheimdienste in Österreich; in:
Pahl/Pieken/Rogg (Hg.), Achtung Spione! Essays, S. 301-313.
302 So Graber in seinen Erinnerungen, S. 207, BND-Archiv, N 4/15.
303 Bezeichnung für Absolventen der US-Militärakademie West Point.

547
Stelle zu bringen.304 Walsh freilich wurde kurz danach auf einen anderen Pos­
ten versetzt. Sein Nachfolger als G-2 EUCOM wurde Major General William E.
Hall. In seinem Memorandum gab Gehlen zunächst seine Standarderzählung
über die Frühgeschichte der Org wieder und verwies dann darauf, dass sich
die übertragenen Aufgaben inzwischen erheblich erweitert hätten. Angeblich
werde ihm in den USA (!) bescheinigt, etwa 70 Prozent der Intelligence des
European Theater zu liefern. Ob Walsh aus seiner Einsicht diese Größenord­
nung bestätigen konnte, bleibt offen. Dieses Ergebnis erbringe seine Organisa­
tion, so behauptete Gehlen weiter, mit viel zu geringen technischen und finan­
ziellen Hilfsmitteln. Die derzeitige monatliche Zuweisung von 125.000 Dollar
zwinge zu einschneidenden Kürzungen, mit der Folge, dass man wichtige Ver­
bindungen abschneiden müsse. Während EUCOM mehr an taktischen Ermitt­
lungen interessiert sei, stelle die Air Force Aufklärungsforderungen in die Tiefe
des russischen Raumes, was unter anderem den Ausbau der funktechnischen
Kapazitäten erfordere. Bei Walsh und seinem Nachfolger stieß Gehlen mit die­
ser Argumentation allerdings nicht auf offene Ohren.
Zur gleichen Zeit bildeten die Beneluxstaaten, Großbritannien und Frank­
reich eine gemeinsame Verteidigungskommission, eine Entwicklung, die im
Frühjahr 1949 zur Gründung der NATO führen sollte. Wenn Gehlen also paral­
lel eine »Studie über die Möglichkeit, auch die Wehrkraft Westdeutschlands
für die Verteidigung Westeuropas gegen sowjetische Angriffe wirksam zu
machen«, anfertigen ließ,305 griff er damit eine politische Strömung auf, die in
Kreisen ehemaliger deutscher Militärs bereits heftige Wellen schlug. So hielt
zum Beispiel am 12. April 1948 Felix Steiner, ehemaliger SS-Obergruppenfüh­
rer und einer der bekanntesten Repräsentanten der Waffen-SS, in Hamburg
in einer geschlossenen Gesellschaft einen Vortrag. Er ging davon aus, dass ab
1950 eine militärische Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR
möglich sei. Deutschland gehöre natürlich auf die westliche Seite. Es gelte das
»Menschenpotential« zu ordnen und für den Bedarf an Führungspersonal
geeignete Persönlichkeiten zur Verfügung zu halten. Dazu solle man Verbin­
dungen hersteilen zwischen »anständigen« ehemaligen Offizieren der Wehr­
macht und der Waffen-SS, um in Form eines Schneeballsystems einen »Führer­
komplex von mehreren 1000 einwandfreien, zuverlässigen u. einsatzbereiten
deutschen Soldaten verfügbar zu haben«.306

304 »Entstehung und Entwicklung unserer Organisation. Gedanken über ihre Fortführung«,
Oktober 1948, Chronik, BND-Archiv, 4312, S. 352-366.
305 Studie vom 1.10.1948, BND-Archiv, N 13/2.
306 Befragung von E. Graf v. Nostitz am 12.4.1976, Erinnerungen an die Frühphase der Wie­
derbewaffnung, BA-MA, BW 7/2784. Zur Verbindung Nostitz – Steiner siehe Keßelring,
Die Organisation Gehlen, S. 136.

548
Die Organisation Gehlen bewegte sich mitten in dieser Stimmungslage ehe­
maliger Berufssoldaten, die auf eine Wiederverwendung hofften. Eine künf­
tige deutsche Armee, die im Wesentlichen eine Wiedergeburt der Wehrmacht
darstellen würde, könnte den Anstoß zur Wiederherstellung des Deutschen
Reiches geben. In diesen Kreisen wurden die laufenden Prozesse in Nürnberg,
soweit sie sich gegen einzelne ehemalige Befehlshaber richteten, äußerst kri­
tisch beobachtet. Die Ablehnung einer »Siegerjustiz« brachten viele, auch und
gerade im Kreis der ehemaligen Generalstabsoffiziere, die Gehlen um sich ver­
sammelt hatte, in Verbindung mit der Bereitschaft, sich für eine Wiederbewaff­
nung zur Verfügung zu stellen. Die Einstellung dieser Verfahren wurde dafür
als Voraussetzung angesehen.
Diese Stimmung griff Gehlen auf und machte sich die Kritik zu eigen. Die
Vehemenz seines Einsatzes lässt erkennen, dass es sich um ein persönliches
Anliegen handelte, und nicht nur um die Sorge um die Motivation seiner Mit­
arbeiter. So nahm Gehlen im Nachgang zum Besuch von General Hall dessen
Frage nach der Stimmung der deutschen Bevölkerung auf.307 Er sei zwar der
Meinung, dass man gewisse Animositäten gegenüber einer Besatzungsmacht
nicht allzu schwerwiegend beurteilen dürfe, aber die USA sollten doch dar­
auf achten, grundlegende psychologische Fehler zu vermeiden. Bei der Nie­
derschlagung kommunistischer Unruhen wie kürzlich in Stuttgart sei die US-
Polizei sehr scharf eingeschritten. Das sollte man besser der deutschen Polizei
überlassen. Die Besatzungsmacht müsste sich dagegen stärker um die Säube­
rung des öffentlichen Dienstes von Kommunisten kümmern.

Ich glaube, dass es einen einfachen Weg für eine Säuberung gäbe, wenn die
Besatzungsmacht entweder verlangen würde, dass sich in staatlichen Stel­
lungen keine Kommunisten befinden dürfen, oder dass sie zumindest auf den
Prozentsatz reduziert werden müssen, der den Wahlergebnissen entspricht.
Zur Zeit ist es im deutschen offiziellen Leben so, dass niemand etwas ernst­
haftes gegen die kommunistischen Einflüsse zu unternehmen wagt, weil er
sonst sofort von dieser Seite her als angeblicher ehemaliger Nazi, auch wenn
er dies nicht gewesen ist, oder als Militarist oder Nationalist denunziert und
bis zur Klärung seines Falles, die dann sehr lange dauert, seiner Stellung ent­
hoben wird. Ich lasse zur Zeit eine Studie über die getarnte Durchdringung
des deutschen offiziellen Lebens von kommunistischer Seite her und Vor­
schläge für ihre Beseitigung anfertigen.308

307 Schreiben Gehlens an Hall, 3.11.1948, BND-Archiv, 1111, Blatt 411-416 (deutscher Ent­
wurf Blatt 401-410).
308 Ebd., Blatt 403.

549
Mit der weiten Auslegung des Begriffs »Kommunisten« und der Beschwö­
rung einer weit übertriebenen kommunistischen Unterwanderung versuchte
sich Gehlen offenbar wieder verstärkt als Helfershelfer für die innere Sicher­
heit ins Spiel zu bringen, obwohl es ihm an handfesten Beweisen in der Regel
fehlte.309
Ein zweiter Punkt seien die Nürnberger Prozesse, hier wiederholte Gehlen
seine grundsätzliche Kritik. Und er fügte an, dass er von Verteidigern, die er
teilweise persönlich kenne, wie auch von einigen Mitarbeitern, die als Zeugen
der Anklage in Nürnberg vernommen worden seien, erfahren habe, dass sie
in mehr oder weniger offener Form bedroht würden. Der Kreis der Ankläger
sei aus deutscher Sicht eindeutig abgestempelt, und er glaube, es werde eines
Tages möglich sein zu beweisen, dass Herr Kempner310 direkte Verbindung zu
den Sowjets habe. Indem er den Stellvertreter des amerikanischen Chefan­
klägers zu Unrecht als Handlanger Moskaus verdächtigte, erklärte Gehlen
zugleich den bereits verurteilten Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von
Leeb als unschuldig. Er sei ein anerkannter Gegner des Nationalsozialismus
gewesen und ein besonders frommer Katholik. Man habe Leeb zu drei Jahren
Gefängnis verurteilt, weil er nichts gegen den Kommissarbefehl unternommen
habe. Strafmildernd sei hervorgehoben worden, dass kein Befehl zu finden sei,
auf dem sich seine Unterschrift befinde.

Wenn Sie Herr General mit dem Befehl eines Vorgesetzten nicht einverstan­
den sind, können Sie sich an die Öffentlichkeit wenden oder den Posten ver­
lassen – eine Revolution gegen Ihre Staatsführung könnten Sie wohl kaum
unternehmen.

In einem totalitären Staat könne man sich aber nicht an die Öffentlichkeit
wenden. Leeb sei wegen seiner politischen Einstellung sehr früh von seinem
Posten entfernt worden.311 Nach diesem fragwürdigen Beispiel nannte Gehlen
den Fall des Generalobersten Georg-Hans Reinhardt, der nicht weniger frag­
würdig war.

309 Siehe dazu demnächst ausführlich Henke, Geheime Dienste.


310 Robert Max Wasilii Kempner war einer der wenigen demokratischen Juristen in der
Weimarer Republik gewesen, war 1933 aus politischen Gründen aus dem Preußischen
Innenministerium entlassen worden und 1935 in die USA emigriert.
311 Er bat Hitler im Januar 1942 im Streit um eine operative Entscheidung um die Ablösung
von seinem Posten, nahm trotz seiner kritischen Haltung zum Nationalsozialismus eine
Dotation Hitlers an und sandte ihm nach dem 20. Juli 1944 eine Ergebenheitsadresse.
Zur Biografie siehe Hürter, Hitlers Heerführer, S. 642 – 643.

550
Ich greife diesen heraus, weil das eine Persönlichkeit ist, die – wenn die USA
einmal eine militärische Figur brauchen würden – die einzige wäre, die hier­
für in Frage käme aus Gründen seines untadeligen Charakters, seines For­
mats als Soldat und seines Ansehens in allen anständigen deutschen Kreisen
und seiner Einstellung zur Frage der unbedingten Zusammenarbeit mit den
Westmächten. Dieser Mann wird mit dem Kreis der übrigen durch die Urteile
diffamiert und ausgeschaltet.312

Gehlen leitete aus diesen Fällen eine grundlegende Frage ab. Er habe bereits im
Februar 1946 gemeldet, dass die Richtlinie, die der damalige bayerische kom­
munistische Minister Schmitt – »jetzt Crypto-Kommunist in der SPD« – von
den Sowjets für die Ausarbeitung des Entwurfs des Entnazifizierungsgesetzes
erhielt, vorschrieb, Mittel und Wege zu finden, um alle hochwertigen Kräfte
der deutschen Intelligenz für die Zukunft auszuschalten. Das sei im Anhang
des Gesetzes festgehalten worden, ohne von US-Seite anerkannt zu sein. Die
Nürnberger Prozesse hätten eine ähnliche Wirkung. Bei der Vernehmung eines
Org-Mitarbeiters habe Herr Rapp (Walter H. Rapp, Leiter der Evidence Divi­
sion des Militärgerichtshofs) gesagt:

Ich bin mir völlig darüber klar, dass nach einigen Jahren die ganze Welt die
Nürnberger Prozesse als ein jüdisch-bolschewistisches Manöver bezeichnen
wird, und dass es dann zu einer Entlassung einer großen Zahl der Verurteil­
ten kommen wird. Aber jetzt ist mir dies gleichgültig.

Wie wirke sich das auf die deutsche Öffentlichkeit aus, fragte Gehlen. Fälle wie
Keitel und verantwortliche Parteigenossen, denen der Galgen gehöre, würden
nicht diskutiert. Die kommunistischen Kreise nutzten die anderen Fälle zur
Propaganda gegen die »Intelligenz«, insbesondere auf militärischem Gebiet.
Die »anständigen deutschen Kreise« betrachteten diese Prozesse als Rache
des Siegers.

Auch in unserem Kreis ist die Frage ein Problem, mit dem ich mich persön­
lich vom Standpunkt meines Gewissens und im amerikanischen Interesse mit
dem großen Kreis unserer Mitarbeiter ernsthaft auseinandersetzen musste.

312 Reinhardt war im Januar 1945 wegen operativer Differenzen als Oberbefehlshaber der
Heeresgruppe Mitte von Hitler abgelöst worden. Im OKW-Prozess hatte man ihn im
Oktober 1948 zu 15 Jahren Zuchthaus wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Aus dem
Gefängnis Landsberg 1951 vorzeitig entlassen, nahm Reinhardt als Vorsitzender der
Gesellschaft für Wehrkunde in zahlreichen Denkschriften positiv Stellung zur Wieder­
bewaffnung. Zur Biografie siehe ebd., S. 654-655.

551
Wiederholt bin ich gefragt worden, ob eine Zusammenarbeit mit USA mit
unserer Ehre vereinbar sein. Ich habe das bejaht und verwiesen darauf, dass
der amerikanische Offizier und die Masse des Volkes die Prozesse in der vor­
liegenden Form ablehnen. Gegen den Hinweis, dass es sich letzten Endes um
ein US-Militärgericht handelt, das vom US-Oberbefehlshaber gedeckt wird,
kann ich nur das Argument anführen, dass es sich hier um die Auswirkung
eines noch nicht voll erkannten kommunistischen Einflusses handelt, der
eines schönes Tages beseitigt sein werde. Im übrigen gehe es in der Gegenwart
um so große und wichtige Dinge, dass wir unsere Bedenken dahinter zurück­
stellen müssen. Über die juristische Seite liegen die Experten im Streit.313

Daher beschränke er sich auf eine politische Betrachtung. Die USA hätten sich
keinen Gefallen getan. Von deutscher Seite werde ins Feld geführt, dass Fran­
zosen und Briten nur kriminelle Fälle verfolgt hätten. Erst auf US-Druck hätten
die Briten drei Jahre nach dem Krieg einen Prozess gegen die Feldmarschälle
Brauchitsch, Rundstedt und Manstein eröffnet, was selbst in der britischen
Presse zu einem Proteststurm geführt habe.

Beim kleinen Mann und einem Teil der Intelligenz führt die Tatsache, dass in
der Nürnberger Anklage fast ausschließlich Juden sitzen, zu einem bedauer­
lichen Wiedererwachen des Antisemitismus, der durch das Verhalten der
jüdischen DP’s Nahrung erhält.314

Es würden zwischen der Nürnberger Anklägergruppe und dem Kommunis­


mus sorgfältig getarnte Beziehungen bestehen. Die alte Parole vom angeblich
»jüdischen Bolschewismus« vermied Gehlen wohlweislich. Man möge seine
Worte als offenes Wort von Soldat zu Soldat verstehen.

Auf Grund meiner politischen Ansichten, deren Richtigkeit sich in den ver­
gangenen 3 Jahren auch in jeder Kleinigkeit mir bestätigt hat, fühle ich mich
aus meinem Gewissen als Deutscher heraus und der Verpflichtung, die ich
für jeden guten Deutschen in der Zukunft sehe, eng mit der amerikanischen
Sache verbunden.

Sein einjähriger Aufenthalt in den USA habe ihm gezeigt, wie der amerikani­
sche Soldat denke. Er sei wahrscheinlich einer der wenigen Deutschen, die bei
gleichzeitiger Kenntnis der amerikanischen und deutschen Mentalität zu einer

313 Schreiben Gehlens an Hall, 3.11.1948, BND-Archiv, 1111, Blatt 407-408.


314 Ebd., Blatt 407.

552
objektiven und positiven Kritik fähig sind – was eine anmaßende Selbstüber­
schätzung war. Er empfinde heute Dankbarkeit, aber auch Sorge, dass unter
dem Druck der Währungsreform und sich täglich steigernder Aktivitäten der
Sowjets ein Zeitpunkt gekommen sei, wo sich psychologische Fehler der Besat­
zungsmacht entscheidend auswirken könnten.
Dieser ungewöhnliche Brief zeigt Gehlen rechthaberisch, politisch verbohrt
und empfänglich für den Zeitgeist in Kreisen nationalistischer ehemaliger Sol­
daten. Gegenüber seinem amerikanischen Vorgesetzten versuchte er diesen
anmaßenden Protest zu vermitteln, indem er an ein vermeintlich gemeinsa­
mes Soldatentum appellierte. Es war eine wenig konsistente Argumentation,
die von einer apologetischen Sicht auf die jüngste Vergangenheit getragen auf
das gemeinsame Feindbild des Kommunismus abhob. Auch seine ungewöhn­
lichen Hinweise auf die vermeintliche Rolle der Juden in Nürnberg lenkte er in
Richtung Sowjetkommunismus und nahm mit ihnen vorsichtig einen in ame­
rikanischen Militärkreisen offenbar virulenten Antisemitismus in Anspruch.
Da traf am 18. November 1948 James Critchfield in Pullach ein, getragen von
der amerikanischen Entschlossenheit, innerhalb des etwas desolaten Projekts
»Rusty« Ordnung zu schaffen und dessen Professionalisierung in Angriff zu
nehmen. Selbstverständlich hatte sich Gehlen darauf vorbereitet, dieser Her­
ausforderung zu begegnen und seine Interessen durchzusetzen. Seine »Gedan­
ken zur künftigen Weiterentwicklung der Org« umfassten nicht weniger als
zehn Anlagen.315 Seine Kernthesen wurden von Critchfield in dessen Bericht
referiert.316
Besonders am Herzen lag Gehlen, ein neues cover zu schaffen. Es sollte
unbedingt eine deutsche Abdeckung sein, die es ermöglichten würde, mit der
wachsenden Zahl deutscher Behörden besser umzugehen. Nach Gehlens Idee
sollte seine Organisation zu einem Spezialzweig der deutschen Polizei für die
Schwarzmarktbekämpfung und Devisenkontrolle deklariert werden, geführt
von den Amerikanern, aber unabhängig von der Polizei317 – eine skurrile Vor­
stellung, die offenbar seiner wachsenden Neigung entsprang, rechtzeitig den
Absprung auf die deutsche Seite einzuleiten. Natürlich dachte Gehlen auch
an sich selbst.318 Es sei bisher möglich gewesen, seine Identität geheim zu hal­
ten. Gerüchte, dass Deutsche für den US-Nachrichtendienst arbeiteten, zielten
auf eine vermeintliche Führung durch Halder und Guderian. Jetzt würden die
Anspielungen auf seine Person aber zunehmen. Deshalb sei eine neue Tarnung

315 Memorandum Gehlens, 28.11.1948, BND-Archiv, N 13/2.


316 Ruffner (Hg.), 1945 – 49, Bd. II, S. 120-123.
317 Memorandum Gehlens zur Frage einer neuen Cover, Entwurf vom 28.11.1948, BND-
Archiv, 1111, Blatt 425-426 (offizielle englischsprachige Fassung vom 30.11.1948).
318 Memorandum Gehlens über Change of Cover for 34, 2.12.1948, ebd., Blatt 451-452.

553
erforderlich, um die Möglichkeit zu verbessern, innerhalb Deutschlands her­
umzureisen.
Gehlen hatte sich das schon ausführlich zurechtgelegt. Für ihn sollte es
einen Liechtenstein-Pass geben mit dem holländischen Geburtsnamen sei­
ner Mutter (von Vaernewyck). Dann könne er im Ausland reisen, ohne falsche
Papier benutzen zu müssen, so sein Argument. Mithilfe des Prinzen von Liech­
tenstein, der die Org unterstütze, und des Prinzen Albrecht von Bayern, einem
Mitarbeiter der Org, könnte eine Tarnfirma in der Schweiz gegründet werden.
Auf diese Weise hätte Gehlen die Möglichkeit, einen offiziellen Wohnsitz in
Liechtenstein oder der Schweiz einzurichten (was wohl auch im Kriegsfall
ganz günstig für ihn gewesen wäre). Außerdem könnte man einige Briefe aus
den USA präparieren mit dem Inhalt, dass die angeblichen Geschäfte in den
nächsten Monaten abgeschlossen werden könnten.
Das würde »34« (Gehlen) ermöglichen, überall Reisen in Deutschland und
im Ausland zu machen und seine Familie zu legalisieren. Schließlich wäre eine
Entnazifizierung von »34« nicht mehr notwendig, und – wieder ganz »selbst­
los« gedacht – es eröffne sich die Möglichkeit, für die Org ein Schweizer Bank­
konto zu schaffen. Die notwendigen Schritte könnten unternommen werden
durch Captain Waldman und den Prinzen von Thurn und Taxis, der ein Mit­
glied der Org sei, und mithilfe eines gewissen Schweizer Rechtsanwalts, der
vom Prinzen von Liechtenstein empfohlen worden sei. Diese eigennützigen
Ideen hat sich Gehlen dann aber offenbar noch einmal überlegt und auf ihre
Umsetzung verzichtet. Unter seinen Mitarbeitern hätte das vielleicht missver­
standen werden können.
Seine offiziellen »Gedanken zur künftigen Weiterentwicklung der Organi­
sation« vom 30. November 1948 eröffnete er mit einer Analyse der politischen
Lage.319 Die zunehmende Teilung der Welt könne sich auch militärisch zuspit­
zen. Der Kampf werde sich in den nächsten Jahren auf allen Gebieten verschär­
fen. Er hoffe, dass sich ein Krieg vermeiden lasse. Das sei aber nicht wahr­
scheinlich. Deutschland liege an der Schnittstelle dieser Auseinandersetzung
und könne sich nicht allein behaupten. Aber der Westen brauche Deutschland
als Vorfeld.320 Die »Wiedereingliederung Deutschlands« stoße freilich so kurz
nach dem Krieg auf Bedenken, weil es »in den Augen der öffentlichen Meinung
der Welt durch das vergangene Jahrzehnt noch eine moralische Belastung mit

319 Chronik, ebd., Blatt 427-434.


320 Parallel dazu entstand unter Heusinger und auf Anforderung von EUCOM eine umfas­
sende Studie »The American-Soviet Problem in Europe and the Near East«, mit der
die Verfasser die Amerikaner dazu aufriefen, sich der sowjetischen Bedrohung zu stel­
len, und dazu eine Reihe von Ratschlägen formulierten; siehe dazu Meier, Heusinger,
S. 359-370.

554
sich herumträgt« – eine ziemlich verklausulierte Formulierung Gehlens, um
sich selbst der »Vergangenheitsbewältigung« zu entziehen.
Stattdessen baute er sein politisches Lagebild ganz auf die Unterstützung
durch die USA. Diese müssten auf lange Sicht daran interessiert sein, Deutsch­
land so in die westeuropäische Union einzubauen, dass es politisch und wirt­
schaftlich stark genug ist, um seine »Aufgabe als Vorposten an der Grenze
nach Osten zu erfüllen«.

Das Zeitalter der Nationalstaaten im alten Sinne ist zu Gunsten groesserer


Konzeptionen voruebergegangen. Ein kuenftiges Deutschland ist nur denk­
bar als Glied einer groesseren Konzeption, nach meiner Auffassung im Rah­
men der westeuropaeischen Union. Der Zusammenschluss der westeuro­
paeischen Staaten wird, wenn er zum Erfolge fuehren und einen festen,
abwehrfaehigen Block schaffen soll, die Aufgabe einer Reihe von Souverae­
nitaetsrechten der einzelnen Staaten verlangen. Ebenso wie ein Wiederauf­
bau Deutschlands selbst nur als Foederativstaat in Frage kommt, so ist das
kuenftige, demokratische Deutschland, wenn es Bestand haben soll, nur als
Teilstaat der westeuropaeischen Union denkbar.321

Gehlen ordnete sich damit in die außen- und sicherheitspolitische Diskussion


dieser Zeit ein, die mit der sogenannten westeuropäischen Union allerdings
auf ein Instrument zur militärischen Einhegung Westdeutschlands hinauslief.
Deshalb vertraute er auf die vermeintlichen Interessen der USA, die zwangs­
läufig zum politisch »uneigennützigen Freund« der Deutschen werden und
Deutschland als »Vorposten« Westeuropas stärken würden. Das seien die
Gedanken, die ihn und seine Mitarbeiter von Anfang an bewegt hätten, in der
Absicht, einen »Beitrag zur Verteidigung des westlichen Kulturkreises gegen
die kommunistisch-sowjetische Expansion zu leisten«.
Auch bei dieser Gelegenheit versäumte er es nicht, seine Legende von der
»deutschen Konzeption« einer geheimdienstlichen Zusammenarbeit vorzu­
tragen und zu behaupten, dass sie die Zustimmung der Amerikaner gefunden
habe. Für diese Konzeption gebe es zwei Gründe: zum einen, um nach Kriegs­
schluss diese Arbeit »vor unserem eigenen Gewissen rechtfertigen zu können
und nicht in den Verdacht zu geraten, aus materiellen Gründen für fremde
Interessen zu arbeiten«; zum anderen biete allein diese Konzeption der ame­
rikanischen Seite die Gewähr, die »besten deutschen Kräfte« zu gewinnen, die
unter anderen Umständen nicht dazu bereit wären. Und im Übrigen:

321 »Gedanken zur künftigen Weiterentwicklung der Organisation« vom 30.11.1948, BND-
Archiv, 1111, Blatt 428-429.

555
Irgendwelche politischen Ziele liegen mir und dem die Organisation tragen­
den Kreise fern [...] Uns allen ist auch in unserer Eigenschaft als Deutsche
bewusst, dass es heutzutage um groessere Dinge als nur unser eigenes Land
geht, und dass wir durch unsere Arbeit und unsere Leistungen einen Bei­
trag zur Wiedergutmachung der Dinge liefern, die ohne unsere individuelle
Schuld auf unserem Volk als Vorwurf der Welt lasten. Wie ernst es uns in
diesem Bestreben ist, kommt in unserer Arbeit zum Ausdruck322

Es ist bezeichnend für das Selbstverständnis von Gehlen und einer vermutli­
chen Vielzahl seiner Offiziere, dass sie zwar bereit waren, sich – wenn es dem
Konsens mit den Amerikanern diente – für einen Moment mit dem Begriff
Schuld zu befassen. Doch im gleichen Moment suchten sie der vollen Härte
eines solches Bekenntnisses auszuweichen. Es wird nicht von »Verbrechen«
gesprochen, sondern von »Dingen«. Die »Schuld« war auch bloß ein »Vorwurf
der Welt« – eine Anspielung auf die Nürnberger Prozesse. Das »Volk«, also auch
sich selbst, nahm Gehlen als gleichsam unschuldig an. Dieses Sichherauswin­
den aus der damals in aller Welt diskutierten Frage der deutschen Schuld war
letztlich nichts anderes als der untaugliche Versuch einer Reinwaschung, um
drei Jahre nach Kriegsende die Nachbarvölker hinter einem starken deutschen
»Vorposten« gegen den Osten zu versammeln und Deutschland mit Unterstüt­
zung der USA zu einer Art Führungsnation zu erheben.
Deshalb skizzierte Gehlen bereits weiterführende Gedanken für den Fall,
dass »eines Tages« Deutschland wieder ein souveräner Staat sein werde.

Der Fall eines kommunistischen, nach Osten orientierten Deutschlands wird


hierbei nicht zur Diskussion gestellt, weil wir in unserer Gesamtheit in der
gleichen Form wie bisher gegen dieses kommunistische Deutschland Weiter­
arbeiten wuerden.323

Er beschrieb drei mögliche Auswirkungen des Szenarios für die Zukunft der
Organisation:
) Wenn es die USA wünschten, eine Auflösung innerhalb weniger Monate -
1.
das sei aber in den nächsten zehn Jahren nicht zu erwarten. Falls in dieser Zeit
ein Krieg ausbrechen sollte, würden sämtliche Mitglieder der Org aufseiten der
USA kämpfen und arbeiten.
2. ) Die Umwandlung in eine rein amerikanische Organisation unter Gewäh­
rung der US-Staatsbürgerschaft. Damit würde die Leistungsfähigkeit aber sin­

322 Ebd., Blatt 430.


323 Ebd., Blatt 431.

556
ken, weil wahrscheinlich eine Reihe von wertvollen Persönlichkeiten nicht
bereit sein würde, auf dieser Basis weiterzuarbeiten.
Schließlich die offenbar von Gehlen präferierte Lösung:

3.) Ueberfuehrung der Organisation in einen deutschen, von amerikanischer


Seite gefuehrten und kontrollierten Nachrichtendienst. Ziel hierbei muesste
sein, dieses so durchzufuehren, dass ein gemischter deutsch-amerikanischer
Nachrichtendienst entsteht, der unter der Cover eines deutschen Nachrich­
tendienstes zugleich fuer amerikanische und deutsche Zwecke arbeitet. Es
wird dabei vorausgesetzt, ebenso wie im Rahmen der obigen Ausfuehrung,
dass dieser Nachrichtendienst stets auf den Osten und seine Satelliten aus­
gerichtet und beschraenkt bleibt. Diese vorstehende Loesung wuerde es
auch gleichzeitig ermoeglichen, zwischen den Vereinigten Staaten und dem
neuen demokratischen Deutschland ein festes politisches Band zu schaffen.
Die Schluesselpersoenlichkeiten haben bereits jetzt 3 Jahre mit den Verei­
nigten Staaten zusammengearbeitet, ihre Mentalitaet und ihre Interessen
kennengelernt. Wohl alle waeren bereit, die Sache der Vereinigten Staaten
zu ihrer eigenen zu machen, da sie zwangslaeufig damit auch der deutschen
Sache dienen. Sie koennen mit Sicherheit auf den verschiedensten Gebieten
als Mittler zwischen der Politik beider Voelker und dem Verstaendnis der bei­
derseitigen Interessen dienen. Die Vereinigten Staaten wuerden sich ueber­
dies dadurch eine dominante Stellung im Bereich der Nachrichtendienste
Mitteleuropas schaffen und damit verhindern, dass die Dominanz ueberall
in Europa beim britischen Nachrichtendienst liegt.324

Es ist erkennbar, dass Gehlen um die amerikanischen Militärs mit dem »sanf­
ten Druck« scheinbar vernünftiger Überlegungen zu werben versuchte und
sich geradezu anbiederte. Dabei blieb freilich offen, ob er sich eine Art von Part­
nerschaft »auf Augenhöhe« vorstellte, oder sich tatsächlich einbildete, eigenen
Spielraum durch vorbehaltlose Integration in amerikanische Interessen gewin­
nen zu können. Dabei lief die Entwicklung aufseiten der Amerikaner bereits in
eine andere Richtung. Die US Army war daran interessiert, den Gehlen-Dienst
aus der Hand zu geben und es der neugegründeten CIA zu überlassen, selbst
zu prüfen, welche Teile der deutschen Hilfstruppe für welche Aufgaben für den
zivilen Auslandsnachrichtendienst der USA brauchbar schienen.
Gehlen musste sich um den Bestand seiner Organisation erhebliche Sor­
gen machen, denn er verfügte kaum über Möglichkeiten, den neuen Aufklä­
rungsforderungen der US Army nachzukommen. Als höchste Priorität sollten

324 Ebd., Blatt 432-433.

557
alle Aktivitäten der UdSSR und ihrer Satelliten aufgeklärt werden, die darauf
gerichtet waren, sich auf den Beginn von Feindseligkeiten innerhalb der nächs­
ten drei Monate vorzubereiten. Das beinhaltete auch Fortschritte des Ostens
bei der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen.325
Wahrscheinlich angeregt durch Gehlen und die neuen Entwicklungen auf­
seiten der CIA formulierte Baun »Gedanken für den Aufbau einer strategischen
Aufklärung gegen die UdSSR«, die auf ältere Vorschläge zurückgriffen und stär­
ker politisch-ideologische Argumente nutzten.326 Damit konnte er aber Critch­
field nicht beeindrucken, der seit Sommer 1948 als Chef der Munich Operation
Base (MOB) die von der US Army geschaffene Operation »Rusty« überprüfte. Er
hatte einige Mühe, die Organisation zu durchleuchten. Den Wert der von dort
vorgelegten Informationen einzuschätzen erwies sich ebenfalls als schwierig.
Das wäre alles eine akademische Frage, wenn es die Gehlen-Truppe tatsächlich
geschafft hätte, einen Agenten im Kreml zu platzieren. Und ironisch fuhr er bei
seiner ersten Einschätzung fort: »As a local cynic put it: American Intelligence
is a rich blind man using the Abwehr as a seeing-eye dog. The only trouble is –
the leash is much too long.«327
Auch wenn Baun glauben mochte, mit so praktischen Ideen zu punkten,
wie für den Kriegsfall ein Fluchtnetz für die US-Luftwaffe zu schaffen, um
abgestürzte Besatzungen zu retten, ähnlich wie sie es während des Zweiten
Weltkriegs im besetzten Frankreich unterhalten hatte. Seine globalen Ansätze
waren schon für die US Army viel zu weitreichend gewesen, und die CIA würde
sich wohl kaum von angeblichen deutschen Verbindungen beeindrucken las­
sen. Aber noch immer war Baun offiziell Gehlens Berater für die Ostaufklä­
rung. Also hatten seine Gedankenspiele einiges Gewicht.
Für die strategische Aufklärung brauche man Personen, erklärte Baun, die
imstande seien, die großen Zusammenhänge zu erhellen und antibolschewis­
tisch eingestellte Menschen zu gewinnen, die entsprechende Organisationen
führen können. Gestützt auf Ausführungen über die UdSSR, Raum und Völ­
kerschaften, wollte Baun insbesondere Ansatzpunkte an der Südgrenze der
UdSSR, im Kaukasus sowie von Tibet aus, sehen. Das ganze Unternehmen sei
am günstigsten vom Mittelmeer über den Nahen Osten zu führen – also von
ihm persönlich.

325 Colonel Robert A. Schow, Intelligence Division, Headquarters European Command, für
Commanding Officer 7821 Composite Group, 30.11.1948, BND-Archiv, 1111, Blatt 450.
326 Entwurf Bauns o.D., BND-Archiv, N 11/2; Reflections Concerning the Establishment
of Strategical Intelligence Against the Soviet Union, 13.12.1948, BND-Archiv, 1111,
Blatt 453-457.
327 Critchfield an Acting Chief of Station, Karlsruhe, 7.7.1948; in: Ruffner (Hg.), 1945-49,
Bd. II, S. 11-16, Zitat S. 16.

558
Außerdem gelte es eine indirekte strategische Aufklärung anzusetzen auf
Verbindungskanäle der UdSSR mit der übrigen Welt, wie Gewerkschaften,
kommunistische Parteien etc. Es müsse eine möglichst große Dezentralisie­
rung der Aufklärung erreicht werden. Bauns Plan sah vor: Aus dem Raum
München ein Import-Export-Unternehmen aufzubauen mit Filialen in der
Schweiz, dann in Brüssel, Paris und Rom, anschließend größere Industrie­
unternehmungen für die Bereiche Textil, Glas, medizinische Instrumente in
Nordafrika und im Nahen Orient zu gründen sowie Bankverbindungen nach
Tanger, Beirut und Teheran einzurichten.
Dann sollte ein reiner Aufklärungsapparat geschaffen werden. Zur Verfü­
gung stünden: eine armenische nationale Emigrantenorganisation mit Gene­
ral Drastamat Kanayan, einem alten Mitarbeiter mit Verbindungen zu den
nordkaukasischen Völkern und zu arabischen politischen Kreisen; außerdem
gebe es eine alte Verbindung mithilfe Hamburger Journalisten zu polnischen
Journalistenkreisen in Warschau und Stockholm, die schon früher erfolgreich
für den deutschen Nachrichtendienst gearbeitet hätten; der Privatsekretär des
Großmufti von Jerusalem, Faisal al-Husaini, könnte helfen, um über islamische
Kreise in die UdSSR einzudringen; ein altes Mitglied der Abwehr in Spanien,
das von dort aus während des Krieges Verbindungen zu den marokkanischen
Stämmen sowie dem Berberführer Abd el-Krim gehalten habe und bereit sei,
die Kontakte wieder aufzunehmen. Nach neuesten Meldungen suchten die
Kreise um Abd el-Krim angeblich die Unterstützung der UdSSR für ihre Unab­
hängigkeit.
Zudem gebe es einen Kontakt in Kreise der israelischen Regierung, die mit
der UdSSR in Verbindung stünden, sowie einen jüdischen Mitarbeiter, der seit
dem Ersten Weltkrieg für den deutschen Nachrichtendienst tätig gewesen sei
und sich bereit erklärt habe, seine internationalen jüdischen Verbindungen
wieder zur Verfügung zu stellen; eine Verbindung zu buddhistischen Kreisen
in Pakistan, die im Krieg von China aus gegen die UdSSR eingesetzt gewesen
seien; Kontakte in tscherkessische Kreise in Syrien mit Verbindung nach Mos­
kau und Jugoslawien; eine Verbindung zu dem jesuitischen Anti-Kominform­
Komitee in der Schweiz und dem Russischen Informationsbüro in Brüssel und
Paris, das seit zehn Jahren mit dem deutschen Nachrichtendienst zusammen­
gearbeitet habe.
Baun machte weitere Vorschläge und nannte konkrete Projektnummern,
den Zeitbedarf und die Kosten. Außerdem regte er den Aufbau von antisowje­
tischen Widerstandsbewegungen im Nahen Orient, im Kaukasus und auf dem
Balkan an. Er erwähnte Stützpunkte und Anlaufstellen in Skandinavien. Mit
Polen habe man noch keine Verbindung hersteilen können. Während des Krie­
ges seien für den Aufbau einer solchen Organisation im Raum zwischen Riga
und Lemberg 300.000 Reichsmark eingesetzt worden. Heute könnte man mit

559
dem gleichen Betrag in Dollar innerhalb von 18 Monaten Netze aufbauen und
dann brauche man sechs Monate für den Ausbau in die UdSSR hinein. Baun
versprach große Erfolge im Kampf gegen die UdSSR, wenn es gelinge, die von
ihm beschriebenen Verbindungen und Möglichkeiten voll auszuschöpfen und
eine enge Zusammenarbeit mit den anderen amerikanischen Diensten, die in
diesen Gebieten aktiv seien, zu gewährleisten.328
Offenbar unbeeindruckt von solchen unrealistischen Spinnereien seines
früheren Konkurrenten unternahm Gehlen zu diesem Zeitpunkt seine erste
selbstständige Auslandsreise im Dienste von »Rusty«. Auf diese Weise sam­
melte er persönliche Erfahrungen beim Aufbau konspirativer Verbindungen.
Er hat sich dabei vermutlich auf den Spuren seines Vorbilds Canaris gesehen
und deshalb intern die Kontaktaufnahme mit Angehörigen fremder Nachrich­
tendienste zur Chefsache gemacht.329
Sein Ziel war es, für eine mögliche Flucht seiner Truppe endlich zuverlässige
Wege zu bahnen. Begleitet wurde der »Doktor« von Waldman, dem erfahrenen
Agenten Anton Halter sowie dem Vertreter des Malteserordens Thun-Hohen­
stein und dessen Schützling Dr. Johannes Gehlen. Um seinen Stiefbruder auf
ein höheres Niveau des Agentenberufs zu heben, hatte der falsche Doktor
einen seiner Mitarbeiter gebeten, dem »echten« Doktor beizubringen, wie
man Briefe mit geheimer Tinte schreibt.330
Die Reisegruppe traf Mitte Dezember 1948 in der Schweiz ein, wo Gehlen
mit dem Vertreter der Schweizer Bundespolizei Max Ulrich sowie mit Oberst
Marcel-Andre Mercier als dem Vertreter des französischen Geheimdienstes
und mit Marquis de Villalobar als spanischem Vertreter zusammentraf.331
Es war der Beginn einer jahrelangen engen Zusammenarbeit, die Gehlen bis
Anfang der 1950er-Jahre öfter ins Ausland führte als andere Gelegenheiten.
Gehlen, der ungern das Flugzeug benutzte, konnte die Reisen in die Schweiz
einfach mit der Bahn erledigen. Mercier, ehemaliger Resistance-Kämpfer und
KZ-Häftling, fand zu dem deutschen General ein sachliches, fast freundschaft­
liches Verhältnis. Und Gehlen profitierte vom französischen Beispiel, weil der
SDECE (Service de Documentation Exterieure et de Contre-Espionnage) als

328 Reflections Concerning the Establishment of Strategical Intelligence Against the Soviet
Union, 13.12.1948, BND-Archiv, 1111, Blatt 457.
329 Anweisung Gehlens, 30.12.1948, Chronik, BND-Archiv, 4312. Siehe zur Einordnung
demnächst Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
330 Graber war von Gehlen eines Tages ins »Doktorhaus« bestellt worden, in dem Gehlen
mit seiner Familie wohnte. Dort lernte er Johannes kennen, der auf ihn einen ausge­
sprochen schlechten Eindruck machte; siehe Erinnerungen Grabers, S. 48, BND-Archiv,
N 4/20.
331 Eintrag 10.-15.12.1948, BND-Archiv, 4312.

560
Marcel-André Mercier, 1958

ein großer einheitlicher Geheimdienst organisiert worden war, wie es Gehlen


für seine Org anstrebte, und weil die Franzosen bei der Aufklärung gegenüber
dem Osten schwach aufgestellt und daher dankbar für Informationen waren,
die sie von Gehlen erhalten konnten.332
Diese Entschlossenheit Gehlens, die Evakuierungspläne voranzutreiben und
nicht auf verbindliche Zusagen der Amerikaner zu warten, machte auf Critch­
field Eindruck. Mit der Schweiz waren bereits Einzelheiten wie der geheime
Grenzübergang besprochen. In seinem ausführlichen Bericht für die CIA vom
17. Dezember 1948, einem historischen Schlüsseldokument, beschrieb Critch­
field nach gründlicher Durchleuchtung der Org deren Konzeption, Methodik
und Leistungsfähigkeit.333 Er bezeichnete sie als die wichtigste und größte
nachrichtendienstliche Unterstützung der Amerikaner in Europa. Besonders
stark betonte er die aktuelle Bedeutung der funktechnischen Überwachung
der sowjetischen Luftwaffe durch die Org in Mitteleuropa und die Möglichkei­
ten, Fluchtwege für US-Piloten aus der Tiefe der UdSSR zu entwickeln. Aber
sein Hauptargument bildete die politische Überlegung, die Organisation Geh­
len habe sich so weit entwickelt, dass sie bei ihrer möglichen Auflösung noch
immer die besten Aussichten habe, Konkurrenten um die Aufstellung eines

332 Georges-Henri Soutou: French Intelligence About the East, 1945 -1968; in: Secret Intelli­
gence in the European States System, 1918-1989, hg. von Jonathan Haslam und Karina
Urbach, Palo Alto 2014, S. 128-148.
333 Chief MOB to Chief, OSO »Report of Investigation – Rusty«, 17.12.1948; in: Ruffner (Hg.),
1945-49, Bd. II, S. 45-123.

561
deutschen Nachrichtendienstes zu verdrängen. Deshalb sei es klüger, die Orga­
nisation in der Hand zu behalten und ihre Weiterentwicklung zu steuern. Da
lohnte sich die schmeichelhafte Gesamtbewertung und die Übernahme der
von Gehlen am 30. November verfassten Überlegungen zur weiteren Entwick­
lung des Projekts.
Es scheint, als ob es Gehlen gelungen sei, den ehemaligen Panzeroffizier
Critchfield bei den ersten Begegnungen für sich einzunehmen. Der Amerika­
ner beschrieb »Dr. Schneider« in seinem Bericht als

the most impressive member of the RUSTY Staff, and in our opinion domina­
tes the Organization. His outstanding personnel problem approximately one
year ago was to remove Mr. BRAEUER [Baun] as head of the collection effort,
and to neutralize his direct influence and control of Information collecting
activities and personnel. This problem appears to have been solved, while
still salvaging Mr. BRAEUER’s Service and thirty years of intelligence expe­
rience in operations directed at the USSR, by assigning him to Strategie plan­
ning for the Middle East area. BRAEUER himself is now expected to leave
shortly for Teheran.334

Critchfields kluge und nachvollziehbare, politische Empfehlung überzeugte


allerdings nicht jeden in der CIA-Spitze. Donald Galloway, Assistent Director of
Special Operations, etwa verwies in seiner Kritik darauf, dass man doch kaum
etwas über das Innenleben und die Ausrichtung der Org wisse. Wahrscheinlich
habe auch die Army keinen besseren Einblick. Man würde im Falle einer Über­
nahme die CIA einer vollständigen Penetrierung ausliefern, und man habe
keine Ahnung, ob nicht die Russen bereits Falschinformationen in die Pipeline
von »Rusty« einleiteten.335 Das mögen übertriebene Sorgen gewesen sein, aber
einerseits würde es nach Einschätzung von Critchfield noch mindestens ein
Jahr brauchen, um die Übernahme perfekt zu machen, und andererseits blieb
der militärische Bedarf an taktischen Informationen konstant hoch, wie sie
hauptsächlich vom Gehlen-Dienst kamen.
Während der monatelangen Vorbereitungszeit einer Übernahme durch die
CIA bemühte sich Gehlen, die wachsenden finanziellen Probleme seiner Orga­
nisation zu beheben. Die Führungszentrale lebte mit den Familien unter in der
damaligen Notzeit vergleichsweise paradiesischen Verhältnissen in dem abge­
schlossenen Areal Pullachs. Man hatte sich eingerichtet, feierte Partys und
Kinderfeste. Großzügige Gehälter orientierten sich am früheren beruflichen

334 Ebd., S. 53.


335 Donald Galloway vom 21.12.1948; in: ebd., S. 125-127.

562
Kinderfest der Org in Pullach 1948
mit der Elefantenkuh »Stasi«

Status und ermöglichten einen herausgehobenen Lebensstil. Aber das Geld


wurde knapp, die Auszahlung unsicher. Notwendige kurzfristige Einsparungen
schürten die Unsicherheit. Die Army wollte nicht mehr, die CIA noch nicht die
finanziellen Lasten übernehmen.336
Dennoch blieb diese Zeit vielen in sehr guter Erinnerung. Die existenzielle
Bedrohung der Org schien sich aufzulösen, auch wenn die nahe Zukunft unklar
schien. Auf der politischen Bühne bewegte man sich Richtung eines Grundge­
setzes und einer Staatsbildung für die westlichen Besatzungszonen, die sow­
jetische Blockade West-Berlins war durch die enormen Anstrengungen der
alliierten Luftbrücke praktisch gescheitert, und in Brüssel schritten die Bemü­
hungen um die Bildung einer westeuropäischen Union und zur Gründung der
NATO rasch voran. Nach der Währungsreform 1948 deuteten sich Fortschritte
beim Wiederaufbau an, obwohl es mit der wirtschaftlichen Erholung zunächst
abwärtsging.
Gehlen gelang es, in diesem »Überlebenskampf« seiner Org Kurs zu halten.
Nachdem er sich Reisemöglichkeiten eröffnet hatte, nutzte er sie ausgiebig, um
den Mitarbeitern zu signalisieren, dass er sich ihrer größten Sorge annahm,
also der Evakuierung im Kriegsfall. Und gleichzeitig verbesserte er sein Image
als Fachmann für die Geheimdienstarbeit. So fuhr er gleich zu Jahresbeginn

336 Siehe dazu demnächst die UHK-Studie von Thomas Wolf zu BND, Regierung und Parla­
ment.

563
Besuch Reinhard Gehlens bei seinem
Bruder Johannes in Rom, 1949

mit seinen beiden US-Verbindungsoffizieren Philp und Waldman nach Rom,


Madrid und Paris.337 Die Delegation besuchte auch die jeweiligen US-Militär­
attachés und CIA-Vertreter. Dabei ging es zum einen um das Dauerthema der
Evakuierung der Org, zum anderen um Vereinbarungen über neue Kurierlinien
für Agenteneinsätze, die notwendig wurden, weil durch die Berlinkrise indi­
rekte Wege in die SBZ gefunden werden mussten.
In Paris drang Gehlen beim französischen Geheimdienst darauf, dass die
Ausspähung seiner Organisation sofort beendet werde. Mercier bat um eine
Ausarbeitung und kritische Würdigung der Deutschlandpolitik Robert Schu­
mans. Er wünschte ausdrücklich eine offenherzige Darstellung der Fehler, wel­
che die französische Politik in Bezug auf die deutsche Mentalität mache, um
Fehler im beiderseitigen Interesse revidieren zu können. Diese Ausarbeitung
wurde dann unter der Leitung von Heusinger durch Speidel angefertigt.338
In Rom vermittelte Johannes Gehlen eine Privataudienz beim Papst, der
die Erlaubnis erteilte, dass die Org laufend Kontakt mit seinem engsten Bera­
ter und Beichtvater, Pater Leiber, hielt.339 Gehlen entging mit seinen Reisen

337 Bericht von Philp, 14.2.1949, Chronik, Anlage, BND-Archiv, 4312.


338 BND-Archiv, 42505, Studie vom 3.3.1988, zit. nach: Reisenotiz Gehlens. Die Studie ist im
Archiv nicht auffindbar.
339 Meldung von Herre an Gehlen, 11.2.1949, sowie Report on Field Trip von Philp,
14.2.1949, BND-Archiv, 1111, Blatt 93-94, 576. In seinem offiziellen Bericht für EUCOM
erwähnte Philp den Besuch beim Papst nicht. Vielleicht war es Gehlen gelungen, Philp

564
Auszeichnung Gehlens mit
dem Malteserorden, 1949

auch dem laufenden Entnazifizierungsverfahren, das ihn zur Anwesenheit vor


einem bayerischen Gericht zwingen konnte. Die Amerikaner zeigten sich hilfs­
bereit. Man verständigte sich darauf, dass er ein offizielles Schreiben an den
zuständigen Denazification Advisor der US Army richtete, in dem er behaup­
tete, seit Kriegsende in den USA zu residieren und irgendwann zurückkehren
zu wollen. Gehlen sollte seine Fragebogen übersenden und seinen Rechtsan­
walt benennen mit der Bitte, ihm jegliche Unterstützung zu geben.340
Ein unerwarteter Schlag war die plötzliche Abkommandierung von Captain
Waldman, der seit drei Jahren seine unentbehrliche Stütze auf amerikanischer
Seite gewesen war. Im Zuge der Umwandlung zu einer Dienststelle der CLA zog
die Army schrittweise ihr Personal aus Pullach ab, um einer neuen Führungs­
stelle unter Critchfield Platz zu machen. Waldman verabschiedete sich gegen­
über der Org in schriftlicher Form.341 Sie sei die erste gemeinsame Institution
gewesen, »die hinter die Vergangenheit, die uns auf verschiedenen Seiten im

davon zu überzeugen, dass es aus nachrichtendienstlichen Gründen besser sei, diese


Verbindung nicht zu erwähnen.
340 Interner Schriftwechsel Mitte Januar 1949, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard Gehlen, vol 1_20F3.
341 Abschiedsbrief Waldmans, 1.2.1949, BND-Archiv, 1111, Blatt 12-15. Zu Beginn seiner
anschließenden akademischen Karriere verfasste Waldman 1951 eine Magisterarbeit
»An Analysis of Germany’s policies toward the Eastern Occupied Areas in World War II
(Zusammenfassung aus einer Abgabe Gehlens in BA-MA, MSg 1/1422).

565
Kriege fand, einen dicken Strich zu setzen und gegenseitiges Vertrauen wie­
der aufzubauen vermochte«. Er werde sich auch in Zukunft für die deutsch­
amerikanische Zusammenarbeit einsetzen, erklärte Waldman. Zumindest im
kleinen Kreis organisierte Gehlen für ihn und seine Frau eine Abschiedsfeier.342
Gehlen, der stets Klage geführt hatte, dass die zu seiner Überwachung zuge­
teilten US-Offiziere über keinerlei nachrichtendienstliche Erfahrungen verfüg­
ten, musste nun damit rechnen, dass er es künftig mit zivilen Profis zu tun
haben würde. So wandte er sich an Colonel Philp, den immer noch zuständi­
gen Commanding Officer von »Rusty«, um wenigstens die drängenden Finan­
zierungsprobleme zu lösen.343 Vorangehend hatte er einige Entwürfe zu grund­
sätzlichen Papieren anfertigen lassen, die die Absicht verfolgten, stets unter
Bezug auf die historischen Anfänge der Org Gemeinsamkeiten zu beschwören
und Ansprüche auf angebliche Gleichberechtigung und Mitsprache zu erneu­
ern – diese ständige Betonung der gemeinsamen ideologischen Grundlagen
mag bei den amerikanischen Militärs im Laufe der Zeit für Überdruss gesorgt
haben, womit sich spätere interne Einlassungen über den »ideologisierenden«
Gehlen erklären lassen.
Gegenüber Philp zeigte sich Gehlen also besorgt um die Kontinuität der
Arbeit. Von Beginn an habe er sich bemüht, das beste Personal für eine vor­
behaltlose Kooperation mit den USA zu gewinnen. Dann wiederholte er sein
Glaubensbekenntnis.

A show-down between East and West is unavoidable in the long run. Every
German is under the obligation of contributing his share, so that Germany is
in a position to fulfill the missions incumbent on her for the common defense
of Western Christian Civilization on the side of the Western Powers. For this
reason, everything should be done to strengthen the leading power of this
constellation, i. e. the USA, as far as this was compatible with our national
conscience and our personal honor. The epoch of the conventional national
states has been superseded by greater conceptions, such as the Union of Wes­
tern European States and the community of the Western oriented nations.
This development does not exclude the conservation of our national charac­
teristics within the framework of a West German federate state.

Philp sei mit diesen Gedankengängen vertraut. Gehlen wollte sie aber in Erin­
nerung rufen, um seine Haltung zur gemeinsamen Arbeit zu betonen. Er habe
das Privileg gehabt, in den USA und hier bedeutsame amerikanische Repräsen­

342 Eintrag 12.2.1949, Chronik, BND-Archiv, 4313.


343 Schreiben Gehlen an Philp, 24.1.1949, Chronik, BND-Archiv, 1111, Blatt 489-494.

566
tanten zu treffen, die seine Arbeit sehr gelobt hätten. Er habe sich trotz aller
Schwierigkeiten immer wieder bemüht, das Beste aus der Situation zu machen,
es gebe aber wohl amerikanische Kreise, von denen die außerordentlichen Pro­
bleme verkannt würden. Wenn Philp nicht Liebel als Commanding Officer die­
ser Einheit abgelöst hätte, wäre er selbst nicht bereit gewesen, weiterzumachen.
Der Nachrichtendienst sei eine Sache von langfristiger Planung, auch der
Finanzierung. Die Währungsreform bedeutete für die Org eine enorme Heraus­
forderung. Bei den vorangegangenen Besprechungen sei gesagt worden, dass
mit einem Anstieg der zugeteilten Summen von amerikanischer Seite gerech­
net werden könne. Die Aktivitäten seien daher nicht eingeschränkt worden.
Es müsse nun aber entschieden werden. Er sei mit einigen organisatorischen
Anweisungen nicht einverstanden. Wenn sich hier nicht etwas ändere, werde
er sich gezwungen sehen, die Auflösung der Org vorzuschlagen.
Diese für Gehlen eher ungewöhnliche Drohung zeigte, dass die finanziellen
Schwierigkeiten der Org eine Diskussion über Einsparungen aufzwangen, die
nach Lage der Dinge hauptsächlich im Bereich der Beschaffung erreicht wer­
den konnten. Dort waren nach der letzten Stärkemeldung 704 Mitarbeiter als
Führungspersonal beschäftigt sowie 2672 V-Leute und Agenten.344 Das würde
freilich Gehlens Hoffnungen zunichtemachen, die operative Aufklärung auszu­
bauen und damit der Org einen größeren Einfluss gerade gegenüber der CIA
zu verschaffen.
Neun Tage später übergab Gehlen Philp ein weiteres Memorandum mit
Beschwerden über den Abzug fähiger US-Offiziere und über die finanzielle
Situation.345 Dann griff er zu einem weiteren dramatischen Mittel und schlug
zunächst eine gewaltige Reduzierung der Mitarbeiterzahl vor, dann tags dar­
auf die Auflösung der Org, was für Gehlen vielleicht mehr als eine Drohkulisse
gewesen ist, nämlich die nüchterne Abwägung des denkbar schlimmsten Fal­
les. Die Auflösung müsse sorgfältig geplant und vorbereitet werden. In drei
Schritten würden dann zunächst Mitarbeiter der Außenposten entlassen wer­
den, dann eine Reihe von Mitarbeitern im Hauptquartier und bei den Gene­
ralvertretungen, schließlich die Zentrale selbst.346 Wenn die Anordnung zur
Auflösung vorliege, könne man einen detaillierten Plan erstellen.
Parallel dazu ließ Gehlen für einen neuen Interessenten, die Air Force, die
Vorschläge für den Aufbau eines Fluchtnetzes für US-Piloten aus der UdSSR
vorantreiben. Bauns Überlegungen hatten einen globalen Ansatz verfolgt,
aber der Luftwaffen-Referent kritisierte intern die angenommenen Anflug­

344 Stärkemeldung der Beschaffung zum 31.1.1949, Chronik, Anlagen, BND-Archiv, 4313.
345 Memorandum Gehlens, 2.2.1949, Chronik, BND-Archiv, 1111, Blatt 497-498.
346 Vorschlag Gehlens für Philp, 5.2.1949, ebd., Blatt 499 – 500.

567
richtungen.347 Die Angriffsschwerpunkte würden weiterhin im europäischen
Russland liegen, meinte er, mit Anflügen vom Nordwesten über Ostsee und
Weißes Meer sowie vom Süden über Schwarzes und Kaspisches Meer. Ein
solches Fluchtnetz existiere derzeit überhaupt nicht. Man müsse Hilfsmittel
beschaffen, damit sich die Piloten auf eigenes Gebiet durchschlagen könnten.
Eine Durchschleusung mithilfe der einheimischen Bevölkerung sei nicht zu
erwarten. Die Org könnte Grundlagen schaffen und zum Beispiel Aufklärung
über die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung leisten – was auch schon völlig
überzogene Erwartungen waren. Man müsse schrittweise vorgehen und die
Gefahr vermeiden, dass große Mittel nutzlos in unkontrollierbaren Kanälen
versickerten – bei der Beschaffung offensichtlich ein bekanntes Problem. Heu­
singer als Leiter der Auswertung stimmte dieser Einschätzung zu.
Herre, persönlicher Mitarbeiter Gehlens und mit einiger Kenntnis über die
sowjetische Nationalitätenfrage, schlug daraufhin vor, Baun noch einmal um
eine Stellungnahme zu bitten und dann im kleinen Kreis bei Gehlen über die
Tendenz der endgültigen Fassung zu entscheiden.348 Nach seiner Meinung
sollte man dann die USA inoffiziell fragen, wie sich Washington die politische
Zukunft der Nationalitäten in der UdSSR denke. Noch am selben Tage erhielt
man in Pullach die Nachricht, dass US-Major Le Roy Strong, EUCOM, mit
Repräsentanten der russischen Emigrantenorganisation AZODNR konferiert
habe. Die Gruppe solle ein Büro für spezielle Missionen einrichten, die Ame­
rikaner bei einem möglichen Krieg gegen die UdSSR militärisch beraten und
die Verwaltung jener Teile der UdSSR planen, die später von westlichen Trup­
pen besetzt werden könnten.349 Nach der Konferenz habe es, wie Gehlen fest­
hielt, Gerüchte in den Kreisen der AZODNR gegeben, wonach zwei russische
Emigrantendivisionen aufgestellt werden sollten, entweder unter deutschem
oder amerikanischem Kommando. Die Divisionen sollten bis zu den höchs­
ten Stellen rein russisch sein. Ein ehemaliger russischer Offizier sei bereits
beauftragt worden, eine Division aufzustellen. Gehlen zeigte sich besorgt über
die Nachricht, denn es sei gefährlich, wenn Geheimdienstler gewisse Regeln
nicht beachteten, meinte er. So sei zum Beispiel der Name Strong nach außen
gedrungen. Aus langer Erfahrung wisse er, dass es extrem schwierig sei, mit
russischen Emigranten zu verhandeln. Das könne man nur mit der Hilfe hart­
gesottener Experten tun, sonst bestehe die Gefahr, dass die Russen die ganze
Hand ergreifen, wenn man ihnen nur einen kleinen Finger geben wolle. Falls
man die Verhandlungen nicht sehr vorsichtig führe, würden die Emigranten

347 Stellungnahme von 45,1 (L), 9.2.1949, BND-Archiv, N 11/2.


348 Aktennotiz von Herre, 10.2.1949, ebd.
349 Memorandum Gehlens für Philp, 11.2.1949, BND-Archiv, 1111, Blatt 505-506.

568
sie immer so interpretieren, dass es für sie vorteilhaft, aber meistens falsch
sei. Mehrere Male bereits habe er nach der US-Politik gegenüber russischen
Emigranten gefragt und welchen Beitrag die Org leisten könnte, um sie für die
gemeinsame Arbeit zu gewinnen. Aber es gab und gebe keine Koordinierung
zwischen EUCOM und Pullach in dieser Frage – bis zu dieser Konferenz. Nun
könnten die Emigranten Deutsche und Amerikaner gegeneinander ausspielen.
Er würde es schätzen, von Philp den entsprechenden Bericht zu erhalten und
über die US-Politik informiert zu werden. Er könne gegebenenfalls Experten
der Org zur Verfügung stellen. Diese Intervention veranlasste Philp, von Strong
einen kompletten Bericht zu den Besprechungen mit AZODNR anzufordern.350
Wichtiger als solche politisch heiklen Spekulationen über den Kriegsfall
blieben Gehlens organisatorische Probleme. Philp sah sich gedrängt, das
Anliegen des »Doktors« zu unterstützen. Seinem Vorgesetzten, Major Gene­
ral William E. Hall, Director Intelligence EUCOM, übersandte er die Unterla­
gen und betonte, dass es Gehlen in seinen Absichten ernst sei. Wenn sich die
Bedingungen nicht änderten, werde er die Arbeit beenden, denn Gehlen habe
das Gefühl, bereits alle anderen Mittel ausgeschöpft zu haben.351 Er selbst,
Philp, habe bereits vor drei Wochen vor einer Verschärfung der Situation
gewarnt. Der Brief sei per Kurier an Colonel Robert A. Schow, Intelligence Divi­
sion Headquarters European Command, gegangen, der ihn gelesen und ohne
Kommentar zurückgeschickt habe. Gehlen habe sich inzwischen auch direkt
an das Pentagon gewandt und verzweifelt um sofortiges Eingreifen gebeten.352
Die erste und wichtigste Frage für alle verantwortlichen Oberkommandie­
renden, von General Bradley bis Clay, sei gewesen, so Philp:

How much warning am I going to get before the Russians move? I founded
this Organization with Dr. Schneider four years ago next June. By the process
of selection and elimination a group of experts on Russia und Satellite coun­
tries has been built up. There is no comparable group under the Army, State
Department or CIA. To willfully discard its Services at this critical time would
be defenseless.353

350 Memorandum Gehlens für Philp, 11.2.1949, BND-Archiv, 1111, Blatt 505 – 506. Zum Hin­
tergrund siehe Bernd Stöver: Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Libe­
ration Policy im Kalten Krieg 1947-1991, Köln 2002, S. 371-372. Demnach hat es keine
offizielle Planung für einen Befreiungskrieg gegeben, zumal die UdSSR ab 1949 über
Atomwaffen verfügte.
351 Schreiben von Philp an Hall, 14.2.1949, BND-Archiv, 1111, Blatt 508-510.
352 Abschrift eines Fernschreibens von »Dr. Schneider« an Colonel Charles Bromley, Intel­
ligence Division, Pentagon, Mitte Februar 1949, ebd., Blatt 577.
353 Schreiben von Philp an Hall, 14.2.1949, ebd., Blatt 508 – 510.

569
Der Kardinalfehler liege darin, dass die Kontrolle nicht gänzlich beim Depart­
ment of the Army in Washington liege. Die Kontrolle durch EUCOM schaffe
eine Fülle von Barrieren, weil auch viele Stabsoffiziere kein Verständnis für
die besonderen Bedingungen der Arbeit in Pullach hätten. Vor der Schaffung
der CIA habe die US Army keine Erfahrung in der Führung von Agentennet­
zen gehabt. Gehlen wolle tatsächlich nur zwei grundsätzliche Dinge erreichen:
stets für mindestens drei Monate im Voraus über die finanziellen Zuwendungen
Bescheid wissen und ausreichend qualifiziertes US-Personal zur Seite haben.
Gehlen forderte ein Haushaltsvolumen für 1950/51 von allerdings nicht
weniger als zwölf Millionen Dollar.354 Gleichzeitig suchte er jedoch bereits nach
Wegen, um die Abhängigkeit von den Amerikanern zu mildern und eine Über­
leitung in deutsche Dienste vorzubereiten. Besonders besorgt zeigte er sich um
die Anbindung von Außenstellen der Zentrale, um sie unter Aufrechterhaltung
der Tarnung von den Amerikanern zu lösen und an deutsche wirtschaftliche
und behördliche Einrichtungen zu binden.355 Zur Gewinnung zusätzlicher
finanzieller Ressourcen versuchte er Kontakte zum Bankier Erich Warburg
und zu Standard Oil aufzunehmen. Er zeigte sich daran interessiert, »eine
Unterstützung zum Aufbau gegenwärtig in Angriff genommener, etwas weiter
reichender, ausländischer Geschäftsverbindungen zu erhalten«. Gehlen hoffte
auf ein persönliches Gespräch mit einem zuverlässigen Vertreter von Standard
Oil, wohl um die Ölmagnaten mit Informationen über den Nahen Osten für
sich gewinnen zu können.356 Daraus ist anscheinend nichts geworden.
Dieses Interesse trug dazu bei, zum 1. April 1949 die Dienststelle 35 unter
General Horst von Mellenthin zur Bearbeitung von »Sonderverbindungen«
einzurichten,357 auch wenn sie sich zunächst vorrangig um Kontakte zur ehe­
maligen deutschen Generalität bemühte, denn am 4. April wurde offiziell die
NATO gegründet. »Sonderverbindungen« wurden später das Hauptinteressen­
feld Gehlens, dem er sich als Präsident des BND mit großer Energie widmete.
Critchfield fand in Pullach im Frühjahr 1949 einen informellen Arbeitskreis
Rearmament vor, in dem Heusinger, Speidel und Foertsch das Wort führten.
Hermann Foertsch war zwar im Nürnberger »Südost-Prozess« freigesprochen
worden, aber Critchfield sprach ihn auf seine NS-Publikationen in den 1930er-
Jahren an. Foertsch antwortete darauf mit dem verblüffenden Bekenntnis:
»Die anderen haben die rechte Hand nur gehoben. Ich habe damit auch noch

354 Schreiben Gehlens für 23, 10.3.1949, ebd., Blatt 584 – 605.
355 Grundgedanken Gehlens vom 28.2.1949, BND-Archiv, 4313. Er fuhr dazu im März nach
Wiesbaden und Schloss Kransberg, wo u.a. Außenstellen der Fernmeldeaufklärung
sowie der Wirtschafts- und Presseauswertung untergebracht waren.
356 Schreiben Gehlens, 27.3.1949, ebd.
357 Siehe dazu demnächst ausführlich Henke, Geheime Dienste.

570
geschrieben.«358 Gehlen soll sich im Grundsatz mit dem Trio einig gewusst,
aber darüber hinaus wenig Interesse an dem Fragenkreis Wiederbewaffnung
gezeigt haben. Ihn beschäftigte hauptsächlich die Sicherung seiner Org und
damit seine persönliche Zukunft.359
Seit der Empfehlung Critchfields für die Übernahme der Org durch die CIA
war bereits ein halbes Jahr vergangen, ohne dass Klarheit über die Bedingun­
gen und das Verfahren der Übernahme herrschte. Diese Unsicherheit zerrte
natürlich vor allem bei Gehlen gewaltig an den Nerven, der darum wusste,
dass der innere Zusammenhalt seiner Organisation davon abhing, wie es dem
»Doktor« gelingen würde, den Einbau in die CIA so zu gestalten, dass die Mög­
lichkeit einer späteren Überleitung in einen künftigen deutschen Staatsappa­
rat offen blieb. Bei seinen wiederholten Reisen in die Schweiz und bei seinen
Treffen mit Inspektor Ulrich von der Schweizer Bundespolizei sowie Vertre­
tern des spanischen und französischen Dienstes360 durfte er natürlich kei­
nen Zweifel an Einfluss und Beständigkeit seiner Organisation zulassen. Aber
intern hatte Herre alle Hände voll zu tun, um Gehlens schwindendes Vertrauen
zu den Amerikanern immer wieder aufzubauen.
Critchfield begann Anfang Mai 1949 damit, erstmals seine Forderungen und
Wünsche gegenüber der Org auf den Tisch zu legen. Er verlangte insbesondere
Informationen zu strategischen Quellen, etwa zu Kontakten mit den Emigran­
tenorganisationen, der möglichen Beteiligung an den britischen Schnellboot­
einsätzen in der Ostsee361 sowie nähere Angaben über alle Personen, mit denen
die Org im befreundeten und neutralen Ausland in Verbindung stand. Für
Gehlen musste dieses Interesse des künftigen Dienstherrn problematisch sein,
denn wenn er seine ohnehin raren Kontakte völlig offenlegen würde, konnte
erkennbar werden, dass die Org hier gar nicht viel zu bieten hatte.
So suchte Gehlen fern der Realität eine Argumentationslinie, um die Exklu­
sivität seiner persönlichen Auslandsverbindungen zu schützen, über die
natürlich die CIA als Geldgeber informiert sein wollte.362 Angeblich verfolgte

358 Zit. nach: Meyer, Heusinger, S. 355.


359 Ebd. Siehe auch Critchfield: Einleitung zum Herre-Tagebuch 1949-1950, Critchfield-
Nachlass, online unter: College of William and Mary, Digital Archive, Diary of Heinz
Danko Herre.
360 So z.B. am 11.-13.4.1949, BND-Archiv, 4313.
361 Bericht für Critchfield mit Einzelheiten zu den Einsätzen, an denen die Org nicht direkt
beteiligt war, 13.4.1949, BND-Archiv, 4313. Zum Hintergrund siehe Müller, Wellenkrieg,
S. 282-286. Der britische Geheimdienst ließ mit Schnellbooten der ehemaligen Kriegs­
marine und ihren deutschen Besatzungen Agenten vor der baltischen Küste absetzen,
die den antisowjetischen Widerstand unterstützten.
362 Memorandum für Critchfield betr. Vorschlag für die Handhabung von Querverbindungen
zu anderen westlichen Nachrichtendiensten, 3.5.1949, BND-Archiv, 1112, Blatt 19-26.

571
er das Ziel, Doppelagenten und Unsauberkeiten in der eigenen Organisation
auszuschalten. Der europäische Raum sei eng, sodass dauernd Kreuzungen
entstünden, die unlautere Elemente für sich ausnutzten. Mit Verbindungen zu
einzelnen führenden Persönlichkeiten schaffe er die Möglichkeit, die eigene
Organisation von Elementen, die auf beiden Schultern tragen, freizuhalten.
Außerdem entstünde die Möglichkeit wechselseitiger technischer Hilfe. So
könnten mit dänischen Hilfsmitteln Agenten über die Ostsee gebracht wer­
den, wofür die Dänen als Gegenleistung Meldungen dieser Agenten erhielten,
um sich vor einem sowjetischen Überfall zu schützen. Die Einzelverbindungen
zu den Leitungen der schweizerischen, spanischen und französischen Nach­
richtendienste hätten die Zusicherung erbracht, im Falle eines notwendigen
Ausweichens im Kriegsfälle Unterstützung zu leisten. Die Schweiz erhalte im
Gegenzug Informationen auf dem Gebiet der Spionageabwehr. Das Angebot
der Franzosen, in der französischen Besatzungszone mit Kräften der Org gegen
den Kommunismus zu arbeiten, werde bisher nicht genutzt.
Die Gesamtlinie einer deutschen Außenpolitik im Rahmen der westeuropä­
ischen Union unter US-Protektorat müsse sich auf eine deutsch-französische
Zusammenarbeit stützen, wiederholte Gehlen die offiziöse Bonner Linie. So
könne ein Ausgleich auf Teilgebieten möglich werden, wo noch widerstrebende
britische Interessen in andere Richtungen zielten. Eine gute Zusammenarbeit
mit Großbritannien habe zweite Priorität. Eine solche Politik werde von allen
deutschen Kräften angestrebt, mit Ausnahme von Teilen der SPD. Das Ziel
seines Nachrichtendienstes sei es gewesen, durch ein enges politisches Band
zwischen den USA und Deutschland diese westeuropäische Union zu stärken.
Es komme jetzt darauf an, rechtzeitig Großbritannien und Frankreich dafür zu
interessieren, die Org zu einem deutschen Nachrichtendienst zu entwickeln.
Seine persönliche Querverbindung zu Frankreich habe bereits die Zusiche­
rung der Unterstützung erbracht. Es sei notwendig, auch zu Großbritannien
eine solche Querverbindung zu schaffen, womit zugleich der englische Ein­
fluss auf die deutsche Sozialdemokratie ausgenutzt werden könne. Grundlage
für eine solche Linie sei auf US-Seite das politische Vertrauen in seine Person.
Weil gelegentlich Einwände diskutiert würden, übernehme er für sämtliche
führenden Persönlichkeiten der Org die Gewähr gleichen Denkens. Gehlen
schlug vor, ihn zu autorisieren, eine persönliche Verbindung zum englischen
Nachrichtendienst zu schaffen. Die Briten sollten nicht den Eindruck einer
englandfeindlichen Einstellung der Org gewinnen. Sie suchten jetzt schon vor­
sichtig Verbindungen. Außerdem wollte er autorisiert werden, eine Querver­
bindung zum italienischen Nachrichtendienst unter Ausnutzung eines bereits
vorhandenen persönlichen Kontakts zu schaffen, vorsichtige Kontakte auf
mittlerer Ebene zu belgischen und niederländischen Diensten anzubahnen,
um eine beschränkte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Spionageabwehr

572
zu knüpfen. Eine Verbindung nach Schweden zur Überquerung der Ostsee sei
wünschenswert. Der schwedische Generalstab habe bereits Fühlung gesucht,
ohne dass man von deutscher Seite aus reagiert habe. Gehlen dachte sich die
Anbahnung von Kontakten so, dass die Amerikaner die Leitung des betreffen­
den Nachrichtendienstes kurz orientieren und er dann auf seinen Wegen den
Kontakt suchen würde.
Im Augenblick aber legte die CIA großen Wert darauf, die bevorstehende
Übernahme der Sponsorship für die Organisation Gehlen absolut geheim
zu halten.363 Man hatte in Washington kein Interesse daran, noch in letzter
Minute Ärger zu bekommen. Für Gehlen stand ebenfalls alles auf dem Spiel. Er
musste unbedingt versuchen, aus dem wachsenden finanziellen Engpass her­
auszukommen, sonst drohte der Verlust von mühsam aufgebauten, aber unsi­
cheren strategischen Verbindungen, die entscheidendes Gewicht hatten, um
die Org sowohl für die CIA als auch für die künftige Bundesregierung attrak­
tiv zu machen. Die taktische militärische Aufklärung gegen die sowjetischen
Streitkräfte im Nahbereich, unverändert Hauptbeschäftigung der Org, interes­
sierte letztlich nur die US-Militärs, die Gehlen abschieben wollten. Solange es
keine neuen deutschen Streitkräfte gab, wären diese Fähigkeiten auch für die
westdeutsche Regierung nicht von vorrangigem Interesse.
Gehlen stand also vor der Aufgabe, die angelaufene Übernahme durch die
CIA möglichst vorteilhaft zu beeinflussen und – in der Annahme, dass der Ver­
bleib bei der CIA nur von kurzer Dauer sein würde – gleichzeitig eine Verbin­
dung zur künftigen Bonner Regierung aufzubauen. Anders gewendet: Gehlen
musste zum einen die Amerikaner für sich gewinnen und zum anderen die ehe­
maligen Generalskameraden, die auf einen raschen Wiederaufbau der Wehr­
macht setzten, davon überzeugen, dass er kein willfähriger Handlanger der
Besatzungsmacht sei, sondern seine besonderen Möglichkeiten nutzte, um die
Interessen der »nationalen Kreise« bei den Amerikanern ins Spiel zu bringen.
So entstand ein weiteres ausführliches Memorandum, das seine Argumente
und Forderungen mit einer gewissen Geschicklichkeit verknüpfte. Es erhielt
den bezeichnenden Titel »Die Erhaltung des amerikanischen politischen Ein­
flusses in Europa«.364 Gehlen setzte dort an, wo er die außenpolitischen Interes­
sen seiner Schutzmacht vermutete – wofür ihm aber vermutlich nicht viel mehr
als die Presseauswertung zur Verfügung stand. Das hielt ihn allerdings nicht
davon ab, im Stile Bismarcks über europäische Interessen zu schwadronieren.
Er beschrieb eine westeuropäische Union unter »US-Protektorat«, gestützt auf
eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit, als Ziel der amerikanischen

363 Memorandum Critchfields, 4.5.1949, BND-Archiv, 4313.


364 Memorandum Gehlens, 16.5.1949, BND-Archiv, 1112, Blatt 27-38.

573
Politik, um »auch bei einer etwaigen friedlichen Entwicklung in den nächsten
Jahren« einen verteidigungsfähigen Brückenkopf in Europa zu erhalten. Ent­
scheidend dafür sei die Erhaltung des US-Einflusses in Westdeutschland, der -
so argumentierte Gehlen – freilich schon jetzt in Gefahr gerate. Die Briten seien
dabei, ihren Einfluss innerhalb Deutschlands mithilfe der SPD auszunutzen. Ihr
Vorsitzender Kurt Schumacher sei der Mann Londons. Gleichzeitig werde Eng­
land versuchen, eine engere Kooperation mit Frankreich aufzubauen. Paris wie­
derum sei bestrebt, die Führung der westeuropäischen Union zu übernehmen
und sich in seinem Sicherheitsbedürfnis gegenüber der UdSSR sowie einem
potenziell starken Deutschland mit den Briten zu verständigen. Beide seien
daran interessiert, den Einfluss der USA auf Europa einzudämmen. Wenn sich
Deutschland aber damit abfinden müsse, von fremden Mächten beherrscht zu
werden, dann sei eine Hegemonie der USA am besten.
Briten und Franzosen würden schon jetzt im nachrichtendienstlichen
Bereich enger Zusammenarbeiten und wollten sich dazu auch deutscher Kräfte
bedienen, warnte Gehlen. Er sei besorgt, dass die USA auf diesem Felde ohne
einheitliche Führung und teilweise ohne Sachkenntnis seien. Sie verfügten
zwar über größere Finanzmittel, weshalb sich die »slawischen Emigrationen«
an die Amerikaner und nicht an die Briten hielten, die allerdings politisch viel
geschickter seien. Bisher hätten die USA ein »Monopol« durch die Bindung
aller nachrichtendienstlich geschulten deutschen Kräfte gehabt, behauptete
Gehlen kühn. Der jetzt begonnene Abbau seiner Org werde dazu fuhren, dass
diese Kräfte Engländern und Franzosen zuflössen. Die Briten verfugten bereits
über den größten Teil des wirtschaftlichen Informationsdienstes und hätten
über die SPD auch den Schlüssel zur Beherrschung der deutschen Innenpolitik
in der Hand. Käme dann später nach freien Wahlen die Ostzone dazu, werde
sich eine überwältigende sozialdemokratische Mehrheit ergeben, in die kom­
munistische Einflüsse eingebaut sein würden. Aber auch ohne Angliederung
der Ostzone bestehe die »klare Gefahr«, dass die SPD die beherrschende Posi­
tion in Westdeutschland erringe, weil sie die einzige Partei mit straffer Führung
sei und als einzige Partei es wagen könne, nationale deutsche Belange zu ver­
treten, vor allem wenn die CSU in Süddeutschland auseinanderfallen sollte.365
Das französische Interesse sei auf Süddeutschland gerichtet und unterstütze
Kirche und monarchistische Kreise. Die Engländer lancierten den Gedanken
einer norddeutschen Monarchie unter dem Herzog von Braunschweig. Wenn
es den USA nicht gelinge, die Rechtsentwicklung einzufangen, könnten Frank­
reich und Großbritannien den Gedanken einer Doppelmonarchie in Deutsch­
land verfolgen. Man sieht, dass der ehemalige FHO-General als selbsternannter

365 Ebd., Blatt 35.

574
politischer Stratege keine größere Prognosekraft entwickelte! Seine teilweise
hanebüchenen Spekulationen dienten offensichtlich nur einem Zweck: den
Amerikanern zu erklären, wie wichtig und nützlich seine Organisation sei.
Warum er annahm, seine Argumentation könnte die CIA überzeugen, ist schlei­
erhaft. Die Amerikaner wollten ihm eigentlich nur in die Karten schauen, um
herauszufinden, was ihre deutsche Hilfstruppe tatsächlich zu bieten hatte.
Gehlen leitete aus seiner politischen Analyse die klare Forderung ab, dass
die USA ihren Einfluss auf die deutsche Politik aufrechterhalten müssten, und
ließ durchblicken, welche Hilfe er dazu leisten könnte. Er empfahl, Ansatz­
punkte in allen politischen Parteien zu schaffen, und zwar durch eine sorg­
fältige Steuerung und durch Persönlichkeiten, welche bestens mit den deut­
schen Verhältnissen und der Mentalität vertraut sind. Außerdem komme es
darauf an, eine Schonung des »nationalen deutschen Gefühls« zu erreichen.
Bisher würden alle Kräfte, die stärker das deutsche Interesse betonen, vom
amerikanischen Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, als nationalistisch
abgestempelt. Zudem würden Persönlichkeiten wie der Ankläger in Nürnberg,
Prof. Kempner,

der sich ebenso wie in vielen amerikanischen Kreisen auch der Verachtung
der Masse des deutschen Volkes erfreut, gehalten und nach Erledigung der in
der ganzen Welt als strittig diskutierten Nürnberger Prozesse mit einer neuen
Aufgabe in Deutschland betraut. Nicht zu erwähnen hierbei, dass eines Tages
der Zeitpunkt kommen wird, wo Herrn Kempner die Verbindung zu den Sow­
jets klar nachzuweisen sein wird.366

Gehlen empfahl, durch geheime Verbindungen den maßgebenden amerika­


nischen Einfluss auf die deutsche politische Polizei sowie einen künftigen
deutschen Nachrichtendienst zu sichern. Er dachte daran, durch das FBI alle
gegenwärtigen US-Einflüsse auf die deutsche Presse zu überprüfen. Wenn die
Lizenzierung wegfalle, werde sich das Meinungsbild völlig ändern, denn die
jetzige deutsche Presse entspreche nicht der deutschen öffentlichen Meinung.
Als weitere Maßnahme legte er das »Einfangen der abseits stehenden
Kreise« nahe. Bei Kriegsende seien die Allgemeine SS und die Waffen-SS ein
enttäuschter Haufen gewesen, »der bereit war, seine Ideale aufzugeben, und
absolut nach verschiedenen Richtungen strebte«.367 Die US-Politik in der SS-
Frage habe nicht nur Kriminelle bestraft, sondern den gesamten Kreis einem
harten persönlichen Los unterworfen. Dadurch sei eine Schicksalsgemein­

366 Ebd., Blatt 36.


367 Ebd., Blatt 37.

575
schaft geschaffen worden, die Einfluss gewinnen könne, wenn sie »nicht geis­
tig eingefangen wird«. Durch die Einbindung der »anständigen Elemente muss
verhindert werden, dass die zahlreichen schlechten Elemente, die meist gleich­
zeitig die Radikalen darstellen, wieder Einfluss gewinnen«.368 Halte der Druck
auf diese Kreise an, könnte eine kommunistische Infiltration sich der jugendli­
chen Elemente bedienen. »Wenn sie dagegen individuell, soweit sie eine reine
Weste haben, dem Kampf gegen den Kommunismus nutzbar gemacht werden,
werden die genannten Gefahren weitgehend beseitigt.« Ähnliches gelte für die
ehemaligen Berufssoldaten. Die Franzosen hätten sie stets ritterlich behan­
delt. Clay habe dagegen die Zahlung von Offizierspensionen abgelehnt, die ein
wohlerworbenes Recht darstellten. Das habe sich auf den guten Willen zahl­
reicher Beteiligter sehr dämpfend ausgewirkt.
Gehlen scheute sich also nicht, am Vorabend der Verkündung des Grund­
gesetzes das Überleben seiner Org mit einem innenpolitischen Programm zu
verbinden, das die amerikanische Besatzungspolitik zur Förderung deutsch­
nationaler, reaktionärer Bestrebungen bewegen wollte. Das sollte eine mögli­
che sozialdemokratische Vorherrschaft verhindern und die laufende Entnazi­
fizierung zurückdrehen. Gehlens Plädoyer für die ehemaligen SS-Angehörigen
argumentierte wohlbedacht mit der angeblich anständigen Gesinnung vieler
von ihnen und ihrer Nützlichkeit für den Kampf gegen den Bolschewismus.
Gehlens Sicherheitsbegriff hatte sich inzwischen weit über den militäri­
schen Horizont hinaus erweitert. Dass er sich gedanklich dem Modell des SS-
Staates gefährlich näherte, zeigt zumindest seine Befangenheit gegenüber den
eigenen Erfahrungen in der NS-Zeit. Die »Umerziehung« durch die amerikani­
sche Besatzungsmacht hatte Gehlen nicht zu einem »lupenreinen« Demokra­
ten gemacht, und sein politisches Dilettieren ließ ihn Gespenster sehen, wie
eine mögliche und vermeintlich bedrohliche Machtübernahme der Sozialde­
mokraten, obwohl das Ostbüro der SPD zu den stärksten Widerstandskräften
gegen die kommunistische Herrschaft in der SBZ gehörte und nicht zuletzt
auch die meisten geheimen Nachrichten in den Westen übermittelte.
Zu seinem Glück ging dieser Tage sein Verfahren vor der Spruchkammer in
München glimpflich aus und befreite ihn formell von der Last der NS-Vergan­
genheit.369 Gehlen galt von nun an als »unbelastet«, weil er weder Mitglied der
NSDAP noch einer ihrer Gliederungen gewesen war, »sondern lediglich Berufs­
soldat«. Als Generalstabsoffizier im OKH komme er allerdings als »Haupt­
schuldiger« in Betracht. Doch es sei kein politischer Vorwurf erhoben worden.

368 Ebd., Blatt 38.


369 Entscheidung der Spruchkammer München vom 7.7.1949, Personalakte Gehlen, VS-
Registratur Bundeskanzleramt.

576
Reinhard Gehlen, 1949

Dabei verließ sich die Spruchkammer wie üblich auf eine Reihe von eidesstatt­
lichen Erklärungen, im Falle Gehlens unter anderen von Hans-Heinrich Her­
warth von Bittenfeld, einem ehemaligen Attaché an der deutschen Botschaft in
Moskau und während des Krieges bei OKW/Ausland/Abwehr II Gehlen durch
das Wlassow-Projekt vertraut. Bittenfeld galt damals als »jüdischer Mischling
2. Grades« und behauptete jetzt, dass Gehlen die von Hitler, der Partei sowie
der SS gegebenen Anordnungen über die Behandlung der Ostvölker »restlos«
abgelehnt habe, weil sie nicht mit seinem Gewissen vereinbar gewesen seien.
Er habe wegen dieser Haltung Schwierigkeiten gehabt und habe dem Kreis um
Oberst von Stauffenberg nahegestanden – nicht zu vergessen, er sei auch bei
seinen Untergebenen beliebt gewesen.
Gehlens ehemaliger Vorgesetzter und nun heimlicher Untergebener Adolf
Heusinger hatte zu Papier gegeben, dass Gehlen sich seit 1942 im OKH lediglich
mit Feindnachrichten zu befassen gehabt hätte und wegen seiner »nüchternen
und sachlichen Berichterstattung« über die Russen im Frühjahr 1945 entlas­
sen worden sei. »Er gehörte zum Kreis der Männer, die Hitler beseitigen woll­
ten, und es erschien Eingeweihten als Wunder, daß er nach dem 20.7.44 nicht
verhaftet wurde.« Weitere Erklärungen stammten von Gerhard Wessel und
Wilem von Gwinner. Letzterer war ebenfalls nichtarischer Abstammung, und
Gehlen soll ihn dienstlich und unter Risiko vor großen dienstlichen Nachteilen
bewahrt haben. Gwinner wies außerdem darauf hin, dass Gehlen alle kirchli­
chen Feiern den antichristlichen Maßnahmen des Regimes zum Trotz unter
seiner persönlichen Leitung hatte abhalten lassen. Schließlich hob Annelore
Krüger (DN »Kunze«), Gehlens Sekretärin und Geliebte seit 1944, besonders
hervor, dass er den Befehlen zum Trotz die in den Propagandanachrichten des
Gegners erwähnten Namen von übergelaufenen Wehrmachtsoldaten nicht

577
weitergeleitet habe, um scharfe Maßnahmen gegen deren Angehörige zu ver­
hindern. Nach diesem zweifellos sorgfältig durchdachten Aufmarsch von Für­
sprechern ergab die Beweisaufnahme, dass Reinhard Gehlen den Nazismus
weder wesentlich noch unwesentlich unterstützt habe.
Gehlen hatte sich mit seinem Memorandum zugunsten der ehemaligen SS-
Angehörigen gegenüber den Amerikanern politisch sehr weit »aus dem Fens­
ter gelehnt«. Geschadet hat es seinem Anliegen nicht. Bereits einen Tag nach
der Übergabe des Memorandums an Critchfield behauptet er in einer Bespre­
chung mit den Abteilungsleitern selbstbewusst, die Amerikaner würden einem
deutschen Nachrichtendienst grundsätzlich Rückendeckung geben, auch in
einer engeren Zusammenarbeit mit Briten und Franzosen, weil die Org damit
den US-Einfluss in Europa gewährleiste.370 Die vordergründige Zuversicht
ersparte es ihm allerdings nicht, sich mit den Konsequenzen des gegenwär­
tigen finanziellen Engpasses auseinanderzusetzen. Das betraf den von ihm
geforderten Ausbau der Tiefenaufklärung, der besonders teuer war. Seine Idee,
bei Geldmangel notfalls die gesamte Org für drei Monate aus taktischen Grün­
den stillzulegen, stieß auf Ablehnung bei seinen Abteilungsleitern. Man müsse
die Kurierwege aufrechterhalten und gegebenenfalls Abfindungen zahlen, da
sonst das Vertrauen der V-Leute verloren gehen würde. Womöglich würden die
sich sogar an die Presse wenden, und am Ende werde kein anständiger Mensch
mehr mit der Org arbeiten wollen, »nur die Gauner«, hieß es.
Gehlen sah ein, dass er bei einer Verringerung des Personalumfangs das
Monopol bei den Amerikanern verlieren könnte. Manche Mitarbeiter befürch­
teten, dass man sich am Ende mit den Familien andere Wohnungen suchen
müsste. Kurt Dohnal (DN »Mallner«) aus Bauns Truppe der ehemaligen Front­
aufklärung behauptete, dass der im Geheimen wirkende SD-Apparat schon
jetzt größer sei als der eigene. Es fehle ihm nur die richtige amerikanische
Unterstützung, dann wäre er der Org überlegen, meinte er. Bei einer Auflö­
sung der Org würden sich die Mitarbeiter anderen Nachrichtendiensten auf
gleicher Linie anschließen. Man solle es sich also gut überlegen, ob man die
Kabinettsfrage stelle. Gehlen stimmte dieser Einschätzung grundsätzlich zu,
aber die augenblickliche Lage trieb ihn doch immer wieder zur Verzweiflung.
Critchfield brachte aus Heidelberg die Nachricht mit, dass EUCOM nur bis
zum Herbst die Finanzierung tragen werde.371 Danach werde die CIA allenfalls
die Summe geben, die bisher vom Militär gezahlt worden sei, also weit weni­
ger, als Gehlen für notwendig hielt, um den Ausbau der strategischen Aufklä­
rung voranzutreiben. Zuvor brauche die CIA aber einen tieferen Einblick in die

370 Aktennotiz, 17.5.1949, BND-Archiv, 4313.


371 Notiz, 19.5.1949, ebd.

578
Arbeitsmöglichkeiten der Org, was Gehlen möglichst vermeiden wollte. Critch­
fields Rat, man möge schnell eine sichere Verbindung zur künftigen westdeut­
schen Regierung schaffen, kam Gehlens Absicht zweifellos entgegen, würde
aber nicht so schnell zu realisieren sein und jedenfalls den drohenden finan­
ziellen Kollaps nicht verhindern. Gehlen reiste in den Taunus, um US-Generale
über die Möglichkeiten der Org bei der Funkaufklärung zu informieren. Er
kehrte unbefriedigt zurück, denn die Militärs zeigten sich zwar beeindruckt,
hielten sich mit finanziellen Zusagen aber zurück. Herre, seinem persönlichen
Mitarbeiter, erklärte er resignierend: »Ich bin mal wieder soweit, den ganzen
Kram hinzuwerfen.«372
Doch er konnte die Hände nicht in den Schoß legen. Er ließ für die bevorste­
hende Übernahme durch die CIA ein Abkommen entwerfen.373 Darin schrieb er
zum einen seine uneingeschränkte Führungsposition auf deutscher Seite fest.
Gehlen kam es vor allem darauf an, dass er als Chef der deutschen Organisation
die Möglichkeit bekam, über Gehaltserhöhungen zu entscheiden bzw. einzel­
nen Personen, zu denen er außerhalb Kontakt hatte, Ausgaben zu erstatten, die
im Interesse der Org lagen. Aus deren bisherigen Status einer US-Hilfstruppe
wurde in Gehlens Schilderung der dreijährige gemeinsame Kampf zweier Bun­
desgenossen. Der künftige US-Vertreter bei der Org solle die Interessen Washing­
tons gegenüber der deutschen Führung vertreten, Richtlinien übermitteln, die
Erfüllung der Aufträge und den sachgemäßen Einsatz der finanziellen Mittel
überwachen. Im Gegenzug werde man ihn über alle grundlegenden Fragen und
Planungen unterrichten – solche Zugeständnisse waren für Gehlen einsichtig.
Nach seinen jüngsten Erfahrungen legte er aber Wert darauf, dass sein US-
Partner lediglich Wünsche äußern dürfe. Werde keine Einigung erzielt, dann
müsse die Entscheidung der vorgesetzten amerikanischen Stelle eingeholt
werden. Zum anderen wollte Gehlen abgesichert wissen, dass die Aufgabe
der Org neben der taktischen Aufklärung in der SBZ und in Österreich auch
die strategische Aufklärung in die westliche UdSSR hinein, nach Polen, die
Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Albanien und Jugoslawien
umfassen sollte. Als Reihenfolge der Aufklärungsgebiete schrieb er fest: Militär,
Wirtschaft, Politik, Gegenspionage.
Mit solchen Vorstellungen konnte sich Critchfield nur teilweise anfreunden.
Seinem Vorgesetzten übersandte er als Ergebnis seiner Gespräche mit Gehlen
dessen Entwurf, wobei er sich ausdrücklich für die sehr starke Betonung des

372 Tagebuch Herre, Einträge vom 20. und 23.5.1949, S. 2-3, online unter: College of Wil­
liam and Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
373 Entwurf zu einem Abkommen für die Zusammenarbeit der deutschen Organisation mit
dem US-Nachrichtendienst, 20.5.1949, sowie Vorschlag für ein grundlegendes Agree­
ment, 23.5.1949, sowie weitere interne Entwürfe, BND-Archiv, 1112, Blatt 39 – 41, 45 – 64.

579
Reinhard Gehlen, 1949

ideologischen Charakters der Zusammenarbeit entschuldigte.374 Das sei aber


nun einmal der wichtigste Faktor für das Projekt, auch für die Deutschen im
Hinblick auf ihre künftige Beziehung zu einer deutschen Regierung. Gehlen
bestehe darauf, dass die Anerkennung des Projekts durch die deutsche Regie­
rung Voraussetzung für die Fortführung des Unternehmens sei und dass beide
Seiten alle Anstrengungen unternehmen müssten, diese Anerkennung zu
erreichen. Auf dem Weg zur Rückgewinnung der Souveränität Deutschlands
werde man immer wieder die Bedingungen des Projekts überprüfen.
Critchfield, der offenbar keine förmliche Bestätigung aus Washington
erhielt, versprach zwar, sich in der praktischen Zusammenarbeit vor Ort im
Wesentlichen an Gehlens Entwurf halten zu wollen, und in Pullach vertraute
man darauf, damit ausreichend abgesichert zu sein. Aber es blieb dabei, dass
die Org bis 1956 ohne verbindliche schriftliche Vereinbarung als Teil der CIA
für die USA gearbeitet hat! In seinen Memoiren hat Gehlen diesen problema­
tischen Aspekt wohlweislich verschleiert – oder sich nicht mehr korrekt erin­
nert. Dort schrieb er: »Die Verhandlungen mit der CIA führten schließlich zu
einem für beide Seiten positiven Ergebnis. Die Vereinbarungen wurden am
13.5.1949 in englischer Fassung, am 23.5.1949 in deutscher Fassung als neues
>Gentlemen’s Agreement< schriftlich niedergelegt.«375
»Schriftlich niedergelegt« – das angebliche »neue« Gentlemen’s Agreement
erweist sich bei näherer Betrachtung ebenso als ein Phantom wie das alte mit

374 Bericht Critchfields für Chief Foreign Branch M, 13.6.1949; in: Ruffner (Hg.), 1945-49,
Bd.II, S. 231-235.
375 Gehlen, Der Dienst, S. 136.

580
Sibert. Das Basic Agreement war nicht mehr als eine Beruhigungspille Critch­
fields für Gehlen. Statt eines verbindlichen Vertrages konnte Critchfield ledig­
lich die Zusage präsentieren, dass die Org einen Haushalt von 125.000 Dollar
pro Monat erhalten würde. Zugleich entschuldigte er sich für die personellen
Kürzungen, beharrte aber auf seinen Anweisungen für die Umstellung bzw.
Einschränkung der operativen Arbeit.376
Obwohl sich Gehlen um das Einvernehmen mit Critchfield bemühte, beur­
teilte ihn der CIA-Mann zunehmend kritisch. Dabei blieb Gehlen kaum etwas
anderes übrig, als weiterhin auch auf das US-Militär zu setzen und für seine
Org zu werben.377 Er habe einen sehr effizienten Nachrichtendienst aufgebaut
und den USA damit auf diesem Feld eine Überlegenheit in Europa verschafft.
Jetzt drohe aber ein Zusammenbruch dieser Bemühungen. Zwei Drittel seiner
Leute könnten zu Briten und Franzosen überlaufen, um den Kampf gegen den
Kommunismus fortzusetzen. Die Org habe bisher indirekt eine gute Propa­
ganda für die USA in Deutschland machen können, da sie Beziehungen zu
nahezu allen sozialen Kreisen und Berufsgruppen habe. Ein scharfer finanziel­
ler Einschnitt würde als Zeichen eines schwächer werdenden US-Interesses an
Deutschland verstanden werden.

In the last 8 months I got the impression that the highest American autho­
rities have not a complete picture about the significance of our work for
the United States, not only concerning Intelligence matters but also for the
political future. By a common effort of the American and German side and
with a small material investment, but with lots of good will, a building was
constructed which can never be rebuilt again if it would be destroyed or
vitally damaged. You should consider that up to now, the monthly costs of
this organization were, according to my estimate, considerably smaller than
the expenses for a regiment of the US Army in the same period, perhaps half
as much. The costs for this regiment will perhaps be rewarded in a later war.
The costs for this organization were and are rewarded currently. For the com­
mon US and German future interest, I ask you, Sir, for your help and support
for the continuation of our work.378

376 Memorandum Critchfields für Gehlen, 15.6.1949; in: Ruffner (Hg.), 1945-49, Bd. II,
S. 238-242.
377 Memorandum Gehlens für Critchfield im Anschluss an das operational briefing der
Generale Cabell und Richards (US Air Force Wiesbaden), 22.5.1949, BND-Archiv, 1112,
Blatt 42-44; Notiz vom 25.5.1949, BND-Archiv, 4313, nach dem Briefing der Generale
Hall und Frederick A. Irving des G-2 Army Headquarters.
378 Memorandum Gehlens, 22.5.1949, BND-Archiv, 1112, Blatt 44.

581
Bei allem Einsatz änderte sich die Lage für Gehlen nicht. Critchfield teilte
Herre mit, dass er die erforderlichen finanziellen Kürzungen auch aus sachli­
chen Gründen als notwendig ansehe.379 Die militärisch-taktische Aufklärung
in der SBZ, die Gehlen stets als wichtigsten Trumpf seines Dienstes ausspielte,
könne durchaus auf einen Minimalstand reduziert werden. In Jugoslawien,
Bulgarien und Ungarn sei sie entbehrlich, wahrscheinlich auch im sowjetisch
besetzten Teil Österreichs, weil diese Länder durch andere Nachrichtendienste
völlig abgedeckt seien. Nur in Polen und Rumänien solle die taktische Aufklä­
rung in der Tiefe höchstmöglich erhalten bleiben. In der strategischen Aufklä­
rung, auf deren Aufbau Gehlen gesetzt hatte, seien allenfalls einzelne konkrete
und abgestimmte Aktionen auf Projektbasis finanzierbar, also kein generelles
grünes Licht für die Org für ein Vorgehen nach eigenem Ermessen. Spionage­
abwehr und Gegenspionage sollten so bald als möglich der deutschen Regie­
rung übergeben und von dort finanziert werden. Auf diese Weise, so meinte
Critchfield abschließend, könne eine »well rounded« Organisation einschließ­
lich Auswertung erhalten werden, die für eine schnelle Nachrichtenauswer­
tung und Führung unentbehrlich sei. Solche Vorstellungen blieben freilich weit
hinter Gehlens Ambitionen zurück und würden ihn zum Leiter einer bloßen
Hilfstruppe der CIA machen. Das zähe Ringen um die Zukunft der Org dauerte
noch Monate an.
Es verband sich mit einem anderen Dilemma. Die Beschäftigung von NS-
belastetem Personal stieß auf amerikanischer Seite unverändert auf Vorbehalte
und konnte sich im Falle öffentlicher Bloßstellung als Sicherheitsrisiko erwei­
sen. Die von der CIA geforderte Reduzierung der strategischen Aufklärung,
so befürchtete Gehlen, werde wohl hauptsächlich zulasten der ehemaligen
SD-Angehörigen gehen.380 In diesen Kreisen bestehe ohnehin die Auffassung,
»wir« – also die ehemaligen Generalstabsoffiziere – »seien ihre geschworenen
Feinde«. Es dürfe sich aber keine Kampffront bilden. Man müsse verhindern,
dass sich Cliquen bilden. Deshalb sei die Verständigung auf »die deutsche
Linie« der Org entscheidend. Gehlen scheute nicht nur den möglichen inter­
nen Konflikt, sondern er brauchte eine Fortsetzung dieses Zweckbündnisses
wie im Krieg, unabhängig von der politischen Einstellung jedes Einzelnen.
Allerdings verließ er sich auch darauf, dass die »Persönlichkeiten, mit denen
gearbeitet wird«, genau überprüft würden – was immer das bei seinen bekann­
ten Kriterien, »anständige Haltung« und keine »Verbrecher«, bedeutete.

379 Notiz vom 29.5.1949, BND-Archiv, 4313.


380 Notiz über das Gespräch Gehlens mit dem stellv. Leiter der Gegenspionage, 31.5.1949,
ebd.

582
Im Gespräch mit seinem Vertrauten Herre, der den Amerikanern näher­
stand, vertrat dieser allerdings die Meinung, dass man trotz der Einbuße an
Professionalität auf SS- und SD-Mitglieder besser verzichten sollte, anstatt die
politischen Gefahren für die Org in Kauf zu nehmen.381 Gehlen blieb bei seinem
Primat der Professionalität im Falle der Exnazis, solange seine amerikanischen
Aufseher es zuließen, und mit einer eigenwilligen Interpretation des fachlichen
Könnens. Aus seiner Sicht konnte er auf eine größere Zahl von politisch belas­
teten Funktionsträgern des NS-Sicherheitsapparats schlicht nicht verzichten,
und sie wären in seiner Org nützlicher, als wenn sie vagabundierend für kon­
kurrierende Dienste arbeiteten. Gehlen hatte als Chef keine Ahnung, wer alles
bei ihm arbeitete.
Für den von ihm beauftragten General Mellenthin war es ebenfalls mit
Schwierigkeiten verbunden, »Außenwerbung« unter ehemaligen Wehrmacht­
offizieren zu betreiben.382 Es ging um frühere höhere Offiziere, die nicht für
die aktuelle Arbeit der Org benötigt wurden, sondern »für spätere Zwecke«.383
Gehlen musste daran interessiert sein, ein überzeugendes Personaltableau
vorweisen zu können, wenn er mit einer künftigen Regierung in Kontakt tre­
ten würde. Es kam ihm insbesondere darauf an, angesichts einer anlaufenden
Diskussion um einen deutschen Wehrbeitrag den Komplex der militärischen
Aufklärung unbedingt in seinem Hause zu behalten. Käme es zu dem von ihm
befürchteten Wahlsieg der SPD, musste er mit dem Misstrauen einer künftigen
deutschen Regierung sowohl gegenüber ehemaligen Generalstabsoffizieren als
auch gegenüber einer deutschen Organisation, die im Auftrag der Amerikaner
arbeitete, rechnen. So blieb Gehlen nur eine Gratwanderung übrig, um einer­
seits mit seiner US-Bindung die anderen Besatzungsmächte nicht misstrau­
isch zu machen und sich andererseits die künftigen militärischen Berater der
Regierung zu verpflichten und sie so zu installieren, dass sie später wie selbst­
verständlich auf die Lageanalysen der Org zurückgreifen würden.
Auch dort, wo er seine Möglichkeiten eigentlich ausgereizt hatte, versuchte
er Anpassungen, die ihm schwerfielen, möglichst zu umgehen. Drei Wochen
vor der angekündigten Übernahme durch die CIA legte Gehlen Richtlinien
für einen Umbau seiner Organisation fest, mit denen zumindest die nächsten
Monate überbrückt werden könnten.384 Alles Weitere, so mochte es erscheinen,
würde dann eine Frage der Verständigung mit der künftigen Bundesregierung

381 Notiz über das Gespräch zwischen Gehlen und Herre, Tagebuch Herre, Eintrag vom
17.6.1949, S. 10, online unter: College of William and Mary, Digital Archive, Diary of
Heinz Danko Herre.
382 Notiz über die Gedanken Mellenthins, 14.6.1949, BND-Archiv, 4313.
383 Siehe hierzu Keßelring, Die Organisation Gehlen.
384 Richtlinien Gehlens vom 11.6.1949, BND-Archiv, 4313.

583
sein. Gehlen übernahm die Formel eines »well rounded« Nachrichtendiens­
tes von höchster Leistungsfähigkeit als Zielbeschreibung. Ein solcher Dienst
könne dann später auf der Basis einer engen Zusammenarbeit mit den USA für
deutsche Zwecke genutzt werden. Die sich verändernden Umstände würden
die Org zur Anpassung zwingen, und zwar zum einen durch die Übergabe von
Befugnissen an deutsche Behörden und dann eine Änderung der Tarnung, um
sorgfältig durchdacht die einzelnen Teile so in den deutschen Verwaltungs­
apparat und die Wirtschaft einzubauen, dass es äußerlich keinen sichtbaren
Zusammenhang mehr mit amerikanischen Stellen gäbe. Zum anderen hielt er
daran fest, die Tiefenaufklärung unbedingt weiter auszubauen. Das versprach
künftigen Ärger mit der CIA, solange Gehlen auf deren Geld angewiesen blieb.
Wie prekär seine Situation war, zeigte die Mitteilung Critchfields, dass er
für die weitere Arbeit der Org zunächst 40.000 Stangen Zigaretten pro Monat
im Gegenwert von 100.000 Dollar zur Verfügung stellen könne.385 Gehlen war
nicht in der Lage, die Zumutung zurückzuweisen, dass er nun auch offiziell zum
Schwarzhändler werden sollte, um zu überleben. Zynisch erlaubte er sich die
Frage nach einer Rückendeckung gegenüber der Polizei, wenn die Stangen auf
die Möhlstraße in München (wo sich der Schwarzmarkt befand) gebracht wür­
den. Critchfield lehnte eine Garantie natürlich ab, ließ aber erkennen, dass man
die Org schon nicht im Stich lassen werde. Was sollte Gehlen damit anfangen?
Eine große Belastung für die Übernahme durch die CIA bildete der seit
mehr als drei Jahren von Gehlen unerledigte »Fall Baun«. Den Führungsan­
spruch des Organisators der Beschaffung hatte er zwar unterdrücken können,
doch Gehlen hatte ihn lange nicht fallenlassen wollen, weil er befürchtete, dass
Baun schnell außerhalb der Org in anderen Diensten wieder zur Konkurrenz
werden könnte. Außerdem blieb ein großer Teil der Mitarbeiter der Aufklärung
ihrem alten Chef verpflichtet. Zwei Wochen vor der Übernahme durch die CIA
vermittelte Herre dem »Doktor«, dass es endlich Zeit für eine Entscheidung
sei. Die Amerikaner würden Baun als Hypothek betrachten.386 Außerdem habe
er eine ganze Clique um sich herum gebildet, zu der unter anderen Gustav Hil­
ger gehöre, der jetzt nach Washington geholt werde. Baun hocke dauernd mit
General Winter zusammen, den Gehlen zu seinem Chef des Führungsstabes
gemacht hatte. Da komme nichts Gutes für den »Doktor« heraus. Doch Gehlen
zuckte lediglich mit den Achseln. Herre blieb nach diesem Gespräch nur die
Hoffnung darauf, dass dieser »Schuß«, den er im Interesse Gehlens und der
Org abgegeben habe, den Chef doch irgendwie getroffen haben könnte. Doch
weit gefehlt. Erst als Otto Bräutigam die »übelsten Klatschgerüchte gegen Mit­

385 Notiz vom 13.6.1949, ebd.


386 Notiz über das Gespräch Gehlens mit Herre, 16.6.1949, ebd.

584
glieder der Führungsspitze«, gemeint war Herre, verbreitete und von Günst­
lingswirtschaft sprach, sah sich der dann doch wütende Chef veranlasst, eine
Untersuchungskommission einzurichten. Allerdings ließen die internen Int­
rigen, die von Baun und seinen Anhängern ausgingen, nicht nach. Dennoch
unternahm Gehlen zunächst keine entscheidenden Schritte, sondern sprach
lediglich mit einigen Zeugen für und gegen Herre. Die Übernahme durch die
CIA stand bevor, da schien es ihm wohl ratsam zu sein, die Vorgänge möglichst
unter der Decke zu halten. Außerdem tat er sich schwer, Baun, der über zahl­
reiche Anhänger in der Org verfügte, definitiv zu entlassen – wie auch? Doch
zunächst wäre wohl abzuwarten, wie die Geschichte mit den Amerikanern
geklärt werden könnte.
Am 1. Juli 1949 war es so weit. Die CIA übernahm offiziell die Organisation
Gehlen. Mit der Übergabe der militärischen 7821th Composite Group an den
Repräsentanten der CIA waren keine spektakulären Aktivitäten verbunden.
Gehlen und Herre trafen sich abends mit Critchfield und seinem Vorgesetzten,
von deren Wohlwollen das Überleben der Org nun gänzlich abhängig war.387
Und das hieß auch: Es gab keinen offiziellen Vertrag mit Washington, auf den
sich Gehlen hätte berufen können. Er musste sich an Critchfield als seinen
Aufpasser von der CIA halten und vor allem in Pullach weiterhin sparen. Geh­
len traf Admiral Conrad Patzig, der eine Studiengruppe ehemaliger Admirale
der Kriegsmarine leitete, die für die US Navy arbeitete und sich jetzt ebenfalls
in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten befand.388 Patzig bot Gehlen die
Zulieferung von Marineinformationen an, was dieser an sich gern angenom­
men hätte, aber vorerst nicht bezahlen konnte.
Bei Lichte besehen konnte Gehlen froh sein, dass sich die CIA nach eini­
gem Zögern bereit erklärt hatte, der US Army diesen undurchsichtigen Dienst
in Pullach abzunehmen. Es war für die CIA mehr eine politische Option als ein
vermeintlich unentbehrliches Instrument zur umfassenden Aufklärung gegen­
über der UdSSR. Im strategischen Bereich konnte man sich allenfalls eine Unter­
stützung der Org bei der Aufklärung von militärisch-operativen Vorbereitun­
gen der Roten Armee erhoffen. Aber gerade hier zeigte der Gehlen-Dienst eine
bemerkenswerte Schwäche.389 Für das Überleben der Org gab die Annahme der
Amerikaner den Ausschlag, dass ihre Hilfstruppe vermutlich die besten Chan­
cen haben würde, der künftige deutsche Nachrichtendienst zu werden und bei
den anlaufenden Vorbereitungen zur Remilitarisierung Westdeutschlands die
Regie übernehmen würde. Somit bliebe alles unter amerikanischer Kontrolle.

387 Notiz vom 1.7.1949, ebd.


388 Notiz vom 4.7.1949, ebd.
389 Siehe hierzu demnächst ausführlich die UHK-Studie von Ronny Heidenreich: Die Spio­
nage des BND in der DDR.

585
5. Erste Kontakte zur Bundesregierung (1949/50)
Vier Jahre im Schutz der US Army hatten Reinhard Gehlen die Möglichkeit ver­
schafft, ein Konglomerat von nachrichtendienstlichen Gruppen und Struktu­
ren Zusammenzufuhren – und zusammenzuhalten. Seine Geheimorganisation
entwickelte mithilfe amerikanischer Gelder zumindest auf dem Papier eine
imposante Stärke. Ein hauptamtlicher Führungsapparat in Bataillonsstärke
dirigierte ein undurchsichtiges Netzwerk von mehreren Tausend Agenten und
V-Männern. Ihr wichtigster Auftrag richtete sich auf die Ausspähung der Roten
Armee in Zentral- und Mittelosteuropa zum Schutz der westlichen Besat­
zungszonen in Deutschland. Als eines der Organe des G-2 im amerikanischen
Oberkommando lieferte die Beschaffung von Baun, dem erfahrenen ehema­
ligen Frontaufklärer an der Ostfront, einen wichtigen Teil des Lagebildes.
Gehlen hatte einige Mühe aufwenden müssen, um seinen Konkurrenten Baun
kaltzustellen und zugleich zu verhindern, dass seine wichtigste Trumpfkarte
gegenüber den Amerikanern in andere Hände geriet. Seine eigene langjährige
Kompetenz, die operative Lagebeurteilung an der Ostfront, die jetzt zu einem
Eisernen Vorhang geworden war, verlor allerdings in dem Maße an Bedeutung
und Aktualität, wie sich die Frontverbände der Roten Armee zu stationären
Besatzungstruppen verwandelten. Die Kriegsgefahr war vor diesem Hinter­
grund dennoch virulent, insofern blieb die auf Gehlen eingeschworene Gruppe
ehemaliger deutscher Generalstabsoffiziere ein wichtiges Element der Opera­
tion »Rusty«, zumal mit der Entwicklung des Kalten Krieges zwischen Ost und
West und der Diskussion um einen deutschen Wehrbeitrag eine größere Zahl
höherer Offiziere an die Organisation Gehlen gebunden werden konnte, die
eine Art von Reserve-Generalstab darstellten.
Hatte Gehlen anfangs noch vermutet, dass er auf Jahre oder sogar Jahrzehnte
hinaus Leiter einer geheimen deutschen Hilfstruppe der Amerikaner sein
würde und sich im Notfälle sogar gänzlich in eine US-Staatsbürgerschaft flüch­
ten müsste, veränderten sich die außenpolitischen Perspektiven unerwartet
rasch. Die Ausweitung des kommunistischen Machtbereichs und die Blockade
West-Berlins verschärften die Bedrohung des freien Teils Europas, dessen weit
unterlegene militärische Kräfte nicht ausreichten, um eine mögliche sowjeti­
sche Aggression abzuwehren. Selbst mit Unterstützung der USA drohte West­
europa bei einem Blitzkrieg aus dem Osten zu unterliegen. Der Wiederaufbau
nationaler staatlicher Strukturen im Westen des besetzten Deutschland ließ
nach der Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949 und später im Jahr der
Proklamation der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 7. Oktober
die Möglichkeit eines westdeutschen Wehrbeitrags heranreifen. In der SBZ war
mit dem Aufbau der Kasernierten Volkspolizei (KVP) ab dem 3. Juli 1949 bereits
mit der Aufstellung eines ostdeutschen Militärs begonnen worden.

586
Diese Entwicklungen begünstigten den Gedanken an einen westdeutschen
Nachrichtendienst, der militärische Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem
deutsch-sowjetischen Krieg bis 1945 für die Verteidigung Westeuropas und von
dessen deutschen Vorfeld zwischen Rhein und Elbe nutzbringend einzusetzen
vermochte. Deshalb komplizierte sich für Reinhard Gehlen im Sommer 1949
die Lage und forderte sein ganzes Geschick. Er brauchte die CIA und deren
finanzielle Zusagen, um den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten, die Ame­
rikaner brauchten aber nur einen Teil seiner Fähigkeiten. Gleichzeitig konnte
die absehbare Bildung einer Regierung in Bonn seinen Handlungsspielraum
erweitern, aber jede Regierung würde sich bei dem Entschluss, einen deut­
schen Nachrichtendienst zu schaffen, natürlich von der Erwartung leiten las­
sen, dass diese Organisation für deutsche Interessen arbeiten würde und ihre
Richtlinien sowie Aufträge aus Bonn erhielt. Wie weit und wie lange durfte
er also noch für die CIA arbeiten und wie konnte die Verbindung nach Bonn
geschaffen werden, ohne dort auf Misstrauen und Ablehnung zu stoßen?
Gleich nach der Übernahme durch die CIA fasste Gehlen seine Gedanken
über die notwendigen Kürzungen und deren Konsequenzen zusammen.390 Es
kam später nicht ganz so schlimm. Aber die Bereitschaft, an eine drastische
Kürzung auch in der Zentrale von derzeit 322 auf 100 Mitarbeiter zu denken,
zeigte den Ernst der Situation. Die Gruppen Politik und Presse könnte man
vielleicht ausgliedern, um sie als Verlagsunternehmen zu tarnen und sich
selbst tragen zu lassen. Einzelne Stellen und Organisationen könnten gegen­
einander abgekapselt werden, um Klagen und Eifersucht zu verhindern. Inter­
essant ist Gehlens Überlegung, den Umbau insgesamt so zu organisieren, dass
außerhalb der Zentrale niemand erfuhr, dass die Org immer noch mit den USA
zusammenarbeitete. Er legte auf jeden Fall erst einmal intern fest, dass jeder
Kontakt mit dem Stab Critchfield koordiniert werden müsse und in grundsätz­
lichen Fragen nur durch die Einschaltung Herres erfolgen dürfe.
Ihn selbst beschäftigten sofort mehrere unangenehme Probleme. Die CIA
fragte sich, ob denn Gehlens Behauptung stimmte, dass er den Amerikanern
eine Art Monopol verschafft habe. Waren die Briten bei der Anwerbung von
ehemaligen Angehörigen der deutschen Abwehr nicht vielleicht viel erfolgrei­
cher als Gehlen? Dieser reagierte gereizt und in einer für ihn typischen Wei­
se.391 Da die Org niemals gegen den britischen Nachrichtendienst Aufklärung
betrieben und jede Berührung aus Tarnungsgründen vermieden habe, sei ein
Gesamturteil nicht möglich, sicherte er sich vorsichtshalber ab und konterte
mit waghalsigen Behauptungen. Die meisten Abwehrleute würden bei seiner

390 Notiz Gehlens vom 6.7.1949, BND-Archiv, 4313.


391 Stellungnahme Gehlens für Critchfield, 20.7.1949, ebd.

587
Organisation arbeiten. Die wenigen anderen arbeiten einzeln oder in kleinen
Gruppen direkt unter den Briten, nicht in einer deutschen Organisation. Er
nannte Beispiele mit Namen und Kontakten (ganz so unbekannt waren sie ihm
also nicht), aber für fast alle hatte er nur negative Einschätzungen in fachli­
cher wie in charakterlicher Hinsicht, bis hin zu drastischen Formulierungen
wie »Psychopath« und verknöcherter Bürokrat. Die Haupterfolge der Briten in
Deutschland, so meinte Gehlen, lägen nicht bei diesen Abwehrleuten, sondern
würden sich aus der Verwendung des Ostbüros der SPD sowie anderer Nach­
richtengruppen ergeben. Sicher dachte er bereits daran, dieses Potenzial auf
irgendeine Weise auf seine Seite zu ziehen.
Dies lag auch deshalb nahe, weil eine Evaluierung von 530 Berichten seiner
Org, die zwischen dem 21. Mai und dem 6. Juni vorgelegt und durch die CIA
in Washington überprüft worden waren, sehr zwiespältig ausfiel.392 Demnach
befassten sich zwei Drittel (359) mit militärischen Angaben zu Flugplätzen,
Kasernen etc. Sie trugen zwar einen professionellen militärischen Anstrich,
seien aber oft nicht sorgfältig bearbeitet, blieben fragmentarisch und im tak­
tischen Rahmen. Von 67 Wirtschaftsmeldungen betrafen 48 die SBZ, meist die
Eisenbahn und einzelne Fabriken, oft freilich von beträchtlichem Wert, wie die
Auswerter in Washington meinten. Ähnliches galt für solche Angaben aus der
UdSSR (15). Sie seien sogar besser als das meiste aus anderen Quellen. Beson­
ders peinlich für Gehlen war die Bewertung seiner politischen Berichte. Die
Amerikaner betrachteten sie mit wenigen Ausnahmen als wertlos, oft speku­
lativ und tendenziös!
Da verschaffte nur eine weitere Reise in die Schweiz Trost.393 Hier konnte
Gehlen den geheimnisvollen Großmeister der Spionage spielen, der sich für
die Unterstützung bei den Schweizern vermutlich mit dem neuesten politi­
schen und militärischen Lagebild im Aufklärungsraum seiner Org bedankt hat.
Demnach hatte das sowjetische Heer mit rund drei Millionen Mann im Ver­
gleich zum Vorjahr Stärke und Ausbildung auf einen Höchststand gebracht -
was stets nach den jährlichen Sommermanövern feststellbar war. Insgesamt
ergebe das Lagebild den Eindruck, dass die sowjetische Führung »in naher
Zukunft keine Kriegsabsichten zu haben scheint«.394
Nach einem erzwungenen Intermezzo bei einer Außenstelle kehrte Wes­
sel, der kritische Kopf und ehemalige Freund Gehlens, wieder in die Zentrale
zurück. Er wurde also wieder gnädig vom »Doktor« in seine Umgebung auf­
genommen und übernahm administrative Aufgaben im Stab. Hier dürfte er

392 Notiz über den Bericht Critchfields an Gehlen, 20.7.1949, ebd.


393 Notiz über die Reise vom 1. bis 7.8.1949, ebd.
394 Lagebild nach dem Stand vom 3.8.1949, BND-Archiv, N 1/3, Blatt 246-260.

588
Gehlen in Zürich, 1949

sich gewundert haben, dass sein Chef sich immer noch nicht von der Regelung
von Kleinigkeiten freizumachen verstand. Aber vielleicht war es doch mehr als
eine Kleinigkeit, wenn Gehlen anordnete, die Mitarbeiter der Zentrale sollten
in Zukunft einheitlich an amerikanischen Feiertagen und nicht mehr an deut­
schen dienstfrei haben.395 Immerhin drückte sich darin aus, dass die Org zu
einer Teileinheit der CIA geworden war. Dass sich Gehlens Führungsstil und
sein Mangel an Autorität nicht grundsätzlich verbessert hatten, seit Wessel im
Frühjahr 1948 am Rand einer Meuterei gestanden hatte, zeigt ein Rundschrei­
ben Gehlens an der Führungskreis zur aktuellen Verbreitung von Gerüchten
und Kritik in den eigenen Reihen.396
Offenbar veranlasste ihn die Absicht, in der kritischen finanziellen Lage
und angesichts anstehender Personalkürzungen den Unmut der Mitarbeiter
schon im Keime zu ersticken. Gehlen rechtfertigte ausführlich sein Führungs­
verhalten. Entscheidungen könnten nur einem sehr beschränkten Personen­
kreis vorbehalten sein. So könne es sein, dass manchem Mitarbeiter Entschei­
dungen überraschend und manchmal unverständlich erschienen. Man könne
nicht alle Probleme vor der Allgemeinheit verbreiten und alle zum Verständ­
nis erforderlichen Einzelheiten erläutern. Die verantwortliche Führung müsse
deshalb mit dem Vertrauen der Mitarbeiter rechnen, die sich doch aus Idealis­

395 Notiz vom 16.8.1949, BND-Archiv, 4313.


396 Schreiben Gehlens vom 1.9.1949, ebd.
mus gemeldet hätten und deshalb den sachlich notwendigen Entscheidungen
das nötige Verständnis entgegenbrächten. Leider würde ein Teil der Mitarbei­
ter dieses Verständnis nicht aufbringen, wenn in der Zentrale die Gehälter mal
nicht pünktlich gezahlt worden sind oder Zulagen gestrichen wurden. Das
geschah zugunsten der Außenmitarbeiter, von deren Arbeit die Zentrale nun
einmal abhängig sei, deren Mitarbeiter abgesicherter lebten als die anderen.
Die vorausgesetzte idealistische Einstellung sei aber wohl nicht bei allen vor­
handen. So seien Gerüchte in Umlauf gesetzt worden, »die eines Kreises geistig
hochstehender Persönlichkeiten unwürdig sind«. »34a« (Generalleutnant a. D.
Winter, Chef des Stabes) sei verleumdet worden, er habe seinem Schwiegerva­
ter größere Summen zugeschoben. Das sei nur ein Beispiel von vielen. Gegen
»urteilslose Klatschsucht« sollten Mitarbeiter selbst vorgehen, er werde bei
künftigen Verstößen die Personen zum Ausscheiden veranlassen.
Auch habe sich in der oberen Führung die Gewohnheit verbreitet, Maß­
nahmen der Leitung zu kritisieren und zu diskutieren, nicht weil es bessere
Lösungen gäbe, sondern aus Neid und Eifersucht. In Umlauf werde gesetzt,
dass die Führung nicht in der Lage sei, die Verhandlungen mit der befreunde­
ten Seite zu führen und Geld richtig auszugeben. Dabei werde nicht bedacht,
dass eine solche Kritik nur berechtigt wäre, wenn der Betreffende die Gesamt­
zusammenhänge übersehen würde. Ein solcher Vorwurf treffe die Leitung
schwer, vor allem wenn die Kritik dem Unterpersonal zur Kenntnis komme.
Gehlen sah darin einen bedauerlichen Mangel an Vertrauen in seine Führung.
Er müsse sich die großen Entscheidungen nach Beratung im engsten Kreis vor­
behalten. Wer glaube, sich und seine Familie (!) nicht mehr seiner Führung
anvertrauen zu können, sollte sein Arbeitsverhältnis lösen. Wer bleibe, gebe
damit ein Zeichen des Einverständnisses mit der Führung, dann erwarte er
aber auch uneingeschränkte Mitarbeit. Für positive Vorschläge sei er immer
aufgeschlossen.
Was zeigt dieses merkwürdige Rundschreiben innerhalb der kleinen Füh­
rungsebene? Gehlen war nicht der Typ, der auf den Tisch hauen konnte,
weder im Kreis des Führungspersonals noch unter vier Augen. Seine aktuell
schwierige Lage zwang ihn dazu, direkte Konfrontationen zu vermeiden,
aber auch sein Temperament sorgte dafür, dass er Zuflucht zu einem solchen
schriftlichen Appell suchte. Erstaunlich offen und konziliant sprach er immer­
hin die Probleme an, er beschwor den Idealismus und bat um Vertrauen, ver­
wies aber auch auf die Verantwortung seines Spitzenpersonals gegenüber des­
sen Familien.
Wahrscheinlich lag ihm daran, eine innere Geschlossenheit zu erzwin­
gen, die Voraussetzung dafür war, um nach der ersten Bundestagswahl am
14. August 1949 mit der neuen Regierung in Kontakt treten zu können. Die
SPD hatte zwar 29,2 Prozent der Wählerstimmen gewonnen aber die bürgerli­

590
chen Parteien CDU, CSU, FDP und DP (Deutsche Partei) kamen zusammen auf
47,1 Prozent der Stimmen und eine Mehrheit der Parlamentssitze. Die Kom­
munisten brachten es immerhin auf 5,7 Prozent, was auf 1,4 Millionen Wähler­
stimmen beruhte. Für Gehlen bildete das eine günstige politische Ausgangsba­
sis und widerlegte zugleich seine früheren düsteren Prognosen. Wenige Tage
später nutzte er weitere Gespräche in der Schweiz, um bei den Franzosen
vorzufühlen, ob sie eine Übernahme der Org durch die neue Bundesregierung
unterstützen würden.397 Sehr befriedigt kehrte er zurück, gab ihm die französi­
sche Zustimmung doch die Möglichkeit, nicht nur als Protegé der Amerikaner
aufzutreten, sondern seine politische Reputation mit der aktuellen Diskussion
um den Aufbau einer westeuropäischen Union zu verbinden.
Gehlen tastete sich auf seine Art an den möglichen neuen Dienstherrn
heran. Er sprach mit Alois Hundhammer, der zusagte, eine Verbindung zu Kon­
rad Adenauer, dem designierten Kanzler der bürgerlichen Koalition, zu knüp­
fen.398 Hundhammer, Mitbegründer und Fraktionsvorsitzender der CSU im
bayerischen Landtag, Staatsminister für Unterricht und Kultus, ein Mann von
erzkonservativer Haltung, ausgeprägter Religiosität und moralischem Rigoris­
mus, ein katholischer Fundamentalist, bekennender Monarchist und Kämp­
fer für die bayerische Eigenstaatlichkeit, ein »Preußenfresser«, war eigentlich
nicht der Typ Politiker, der dem evangelischen Schlesier Gehlen sympathisch
sein konnte, zumal Hundhammer auch noch ein bekennender Antinazi gewe­
sen ist. Außerdem schürte er die Stimmung gegen die Amerikaner, weil diese
sein Engagement für die Bekenntnisschule hintertrieben. US-Militärgouver­
neur Lucius D. Clay soll gestöhnt haben: »Wenn der so weitermacht, tausche
ich Bayern mit den Russen.«399
Gehlen hielt es vielleicht für einen raffinierten Schachzug, sich dem Vorsit­
zenden der CDU von der rechtskonservativen Seite zu nähern, vielleicht fiel
seine Wahl auf Hundhammer auch nur deshalb, weil dieser den für Pullach
zuständigen Bezirksverband der CSU repräsentierte. Unabhängig von Hund­
hammers politischen Ideen gewann er jedenfalls einen exzellenten Eindruck
von dessen Persönlichkeit. Gehlen stand erst am Anfang seiner zivilen Lauf­
bahn und wollte seine amerikanischen Aufseher auch nicht völlig umgehen.
Diese meldeten sich aber sofort zu Wort, nachdem Adenauer am 15. Sep­
tember 1949 zum Bundeskanzler gewählt worden war. Critchfield übergab Geh­
len gleich zwei wichtige Memoranden mit Richtlinien. Normalerweise würden
solche Anweisungen aus Washington bei den täglichen Besprechungen vorge­

397 Notiz vom 19./20.8.1949, ebd.


398 Notiz Gehlens für Critchfield, 24.9.1949, ebd. Siehe hierzu demnächst ausführlich
Henke, Geheime Dienste.
399 Zit. nach: Ralf Zerhack: Solche Drecksgeschichten, Die Zeit Nr. 26/2002.

591
tragen. Doch zeige seine Erfahrung, so Critchfield gegenüber seinem Vorgesetz­
ten, dass sie auf Gehlen einen stärkeren Eindruck machten, wenn sie offiziell
und in schriftlicher Form, mit Washingtoner Briefkopf, übergeben würden.400
Es handelte sich zunächst um massive Vorwürfe, die Informationspflicht
gegenüber dem US-Verbindungskommando nicht ausreichend erfüllt zu
haben. Damit sei eine Steuerung und Evaluierung der operativen Aktivitäten
nicht gewährleistet.401 Gleichzeitig übergab Critchfield ein ähnlich peinliches
Memorandum über die Koordinierung und Kontrolle der Verhandlungen mit
den deutschen politischen und wirtschaftlichen Führungskreisen sowie den
Vertretern der westeuropäischen Nachrichtendienste.402 Seinem Vorgesetzten
erklärte Critchfield diesen Schritt damit, dass er in den vergangenen Wochen
mehrfach mit Gehlen und dessen Alter Ego Herre über das Problem gespro­
chen habe. Dennoch habe Gehlen eine Reihe von Zwischenfällen provoziert,
die Veranlassung gäben, ihm unmissverständlich klarzumachen, dass die Tage
freien und unkontrollierten Wirkens unter der Ägide der Army vorbei seien.403
Die CIA lege großen Wert darauf, so führte Critchfield deshalb gegenüber
Gehlen aus, jederzeit die Kontrolle zu haben. Man erlaube nur politische und
wirtschaftliche Aktivitäten, die einen direkten Bezug zur Nachrichtenarbeit
haben. Gäbe es Berührungen mit anderen amerikanischen Stellen, etwa den
Besatzungsbehörden, so sei stets die amerikanische Interessenlage zu berück­
sichtigen. Wenn es um Aktivitäten gehe, die Gehlen nicht mit seinen Status
als deutscher Staatsbürger vereinbaren könne, werde man die Kontrolle und
Steuerung passiv-wohlwollend halten. Schwierig seien Kontakte zu anderen
westeuropäischen Nachrichtendiensten. Da müsse sich Gehlen mit seinen
Leuten genauso sorgsam verhalten wie die CIA selbst. Man werde jedoch nicht
grundsätzlich widersprechen, wie die Zustimmung zu den Besuchen Gehlens
in Rom, Madrid und Paris gezeigt habe.
Critchfield erwartete jedenfalls auf allen Gebieten eine rechtzeitige und
umfassende Information sowie Berichte über die geführten Gespräche. Er ver­
langte neben den täglichen Gesprächen künftig auch ausführliche schriftliche
Berichte. Auch in den nächsten Tagen wurde Gehlen immer wieder mit Beleh­
rungen über die Stabsarbeit und das Berichtswesen belästigt, und das geschah
ihm als dem erfahreneren Generalstabsoffizier – er muss Critchfield in diesem

400 Critchfield für Chief Foreign Branch M, 21.9.1949; in: Ruffner (Hg.), 1945-49, Bd. II,
S. 281.
401 Memorandum Critchfields zu Basic Considerations in Reviewing the Concept and Mis­
sion of this Project, 20.9.1949, in: ebd., S. 282-286.
402 Memorandum vom 20.9.1949, BND-Archiv, 4313.
403 Critchfield für Chief Foreign Branch M, 22.9.1949; in: Ruffner (Hg.), 1945-49, Bd. II,
S. 287.

592
Augenblick gehasst haben und war trotzdem gezwungen, mit ihm zusammen­
zuarbeiten. Aus diesem Dilemma gab es kein Entkommen. Nach zehn Tagen
hatte Gehlen seine Antwort schriftlich formuliert. Es war ein Memorandum
»mit grundsätzlichen Betrachtungen« für Critchfield, in dem er seine ganze
aufgestaute Wut in einem ungewöhnlich langen Papier abarbeitete, weil er
zugleich Kreide fressen musste.404 Er konnte ja nicht einfach aus der Haut fah­
ren und damit sein ganzes Werk riskieren, die Amerikaner saßen nun einmal
am längeren Hebel. Aber er wollte sich auch nicht unterkriegen lassen und
arbeitete sich in den Argumenten systematisch, hartnäckig und in kleinen
Schritten vorwärts, um seine persönlichen Spielräume zu erweitern – so wie
er es immer in seiner Militärzeit getan hatte.
Er begann also mit einem Dank für das Verständnis und die Hilfe bei der
Lösung der wichtigsten Probleme und unterstrich seinen Wunsch, einen Bei­
trag für die politische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den USA
leisten zu wollen. Diese Überzeugung verpflichte ihn, klar Stellung zu bezie­
hen, wo er andere Ansichten habe. Durch den engen persönlichen Kontakt sei
die Gewähr gegeben, dass seine Ausführungen als konstruktiver Betrag aufge­
fasst würden. Dann beschwor er die Grundelemente der gemeinsamen Arbeit.
Die künftige deutsche Politik solle fest im westeuropäischen Rahmen veran­
kert sein und eng mit den USA Zusammenarbeiten. Das sei auch die außenpo­
litische Konzeption des Bundeskanzlers, der das Ziel verfolge, dem deutschen
Volk einen gleichberechtigten Platz in der Familie der westlichen Nationen zu
verschaffen. Das wollten doch auch die USA.
Was könne nun von der Org in diesem Rahmen geleistet werden?

Ich möchte hierbei betonen, dass eine aktive politische Einflussnahme weder
auf innenpolitischem noch auf aussenpolitischem Gebiet in Frage kommt,
weil sie der überparteilichen Arbeit eines gegen den Osten arbeitenden
deutschen Nachrichtendienstes widerspricht. Eine Rolle, die aber von der
Führung unserer Organisation geleistet und erwartet werden kann, ist die
Rolle des ehrlichen Maklers, auch auf aussenpolitischem Gebiet, im Sinne
der gemeinsamen Idee.405

Angesichts des Umstands, dass der Gehlen-Dienst bereits massiv auf dem
innenpolitischen Felde tätig war, waren die Ausführungen Gehlens irrefüh­
rend. Reichlich kühn war auch sein Angebot, als »ehrlicher Makler« zwischen

404 Memorandum Gehlens vom 2.10.1949, BND-Archiv, 4313; auch in: Ruffner (Hg.), 1945–
49, Bd.II, S. 292-305.
405 Memorandum Gehlens vom 2.10.1949, BND-Archiv, 4313, Blatt 2-3.

593
der Bundesregierung und den USA wirken zu wollen. Letztlich war das aber
wohl nur der Versuch, sich aus Abhängigkeiten etwas zu lösen und endlich
Antworten auf seinen Entwurf eines Basic Agreement zu erhalten. Er legte aus­
führlich seine Auffassung dar, dass man nicht als amerikanische Organisation
weiterarbeiten könnte. Das hätte für die USA keinen oder nur einen geringen
Wert. Seine Organisation arbeite mit deutschen Methoden, die von der anglo-
amerikanischen Mentalität abwichen. Höchstleistungen in einem deutschen
Apparat seien nur mit deutschen Methoden möglich. Die USA hätten es auf­
grund der Geografie nicht eilig mit politischen Entscheidungen, daher stehe
für den US-Nachrichtendienst Sicherheit und peinlichste Genauigkeit der
Einzelarbeit im Vordergrund, mehr als Beweglichkeit und Schnelligkeit, daher
auch die hochgradige Zentralisierung.
Nach deutscher Auffassung komme es auf schnelle Entschlüsse und wei­
tes Vorausdenken an, denn der Feind stehe vor der Tür. Mit Dezentralisie­
rung erreiche man größte Beweglichkeit und erziehe die Schlüsselpersonen
zur Initiative. Es gelte der Grundsatz: besser falsch zu handeln als gar nicht.
Zentralisation werde durch sorgfältigste Personalauswahl und Ausbildung der
Führer der verschiedensten Stufen ersetzt. Darauf hätten sich auch die Erfolge
der Wehrmacht gegründet.
Gehlen selbst sei nur deshalb in der Lage gewesen, bis zum Sommer letzten
Jahres einen hohen Leistungsstand zu entwickeln, weil er von US-Seite völlig
freie Hand gehabt habe – was nicht der Wahrheit entsprach, aber eine solche
freie Hand wäre ihm jetzt gelegen gekommen. Mit der Beschwörung seiner
militärischen Erfahrungen und des Wehrmachtmythos von der Auftragstaktik
verdeckte er lediglich die Schwächen seines Führungsstils und die davon aus­
gelösten internen Reibereien. Von »sorgfältigster Personalauswahl und Ausbil­
dung« konnte in der Realität nicht die Rede sein.
Und Gehlen warnte: Nur keine schematische Übertragung amerikanischer
Grundsätze! Der Apparat dürfe nicht verbeamtet und bürokratisiert werden.
Nachrichtendienst beruhe auf Persönlichkeiten und deren persönlichen Bezie­
hungen. Deshalb sei es gut, wenn nicht alle Organisationsleiter nach dem glei­
chen Verfahren arbeiten. Gewisse Sicherheitsrisiken müssten dabei zwangs­
läufig in Kauf genommen werden.
Das amerikanische System, kleinste Einzelheiten von oben zu regeln und
den Vertretern vor Ort keinen großen Spielraum zu geben, führe nicht zu
optimalen Lösungen. Die Ausführung von Befehlen müsse zwar kontrolliert
werden, aber »Vertrauen von oben nach unten und von unten nach oben«
sei ein tragendes Moment. »Der schlimmste Feind jeden Vertrauens ist aber
Gängeln, Hineinreden und übertriebene Kontrolle.« Er nehme daher das
Recht in Anspruch, »frei und der deutschen Mentalität entsprechend, gestal­
tend arbeiten zu können. Ein Herabdrücken unserer Organisation auf die

594
Ebene einer rein ausführenden, nachgeordneten Stelle« widerspräche seiner
Grundkonzeption, verhindere die Entwicklung der Leistungsfähigkeit und
würde jede spätere Übernahme als deutscher Nachrichtendienst unmöglich
machen.
Die Auswertung könne nicht in Washington erfolgen, die Rohberichte
müssten vor Ort ausgewertet werden, weil sich daraus auch notwendige Rich­
tungen für die Aufklärung ergäben. Die Auswertegruppe dürfe also keinesfalls
eliminiert werden. Außerdem brauchten die US-Streitkräfte in Europa laufend
fertige Berichte. Auch eine Aufteilung der Auswertung mit dem Bereich SBZ in
Pullach, Satellitenstaaten und UdSSR in Washington sei unzweckmäßig. Ein
künftiger deutscher Nachrichtendienst sei ohne Auswertung nicht denkbar.
Man habe bereits eine starke Reduktion der taktischen Aufklärung in der SBZ
vorgenommen, um sich finanziell zu arrangieren.406 Außerdem habe er trotz
schwerster Bedenken der US-Forderung folgend die Namen aller Schlüssel­
persönlichkeiten der Org zur Übersendung nach Washington freigegeben. Er
lehne aber die Preisgabe sämtlicher Mitarbeiter und V-Leute ab, schlimms­
tenfalls müsste auf die Durchführung der Projekte verzichtet werden. Natür­
lich sei es sinnvoll, die gemeinsame Arbeit zu koordinieren, aber nicht so,
dass bestimmte Aufklärungsländer (Jugoslawien, Ungarn, Bulgarien) für die
deutsche Seite gesperrt werden. Selbst wenn man annehme, dass diese von
anderen US-Agenturen bearbeitet werden, sei es von Vorteil, dass auch die Org
überlappend tätig ist.
Auch bei der Zusammenarbeit mit befreundeten Nachrichtendiensten sei
zwar eine Koordinierung notwendig. Die Org brauche aber ein notwendiges
Maß an Selbstständigkeit. Um diese Selbstständigkeit kämpfte Reinhard Geh­
len, weil nur sie ihn wieder zurück in deutsche Dienste bringen konnte.

Meine Ermittlungen über den Standpunkt Adenauers, zu dem zur Zeit noch
kein direkter Kontakt besteht, zur Frage einer in späterer Zukunft vorzuse­
henden Eingliederung unserer Organisation haben ergeben, dass diese Frage
nur dann diskutabel ist, wenn wir zumindest äusserlich von keiner fremden
Macht abhängig sind. Es bedarf auch keiner Betonung, dass unser Gewissen
als Deutsche uns vorschreibt, unsere Tätigkeit in der gegenwärtigen Form
zu beenden, wenn die berufenen Führer Westdeutschlands unabhängig, ob
eine spätere Eingliederung in den deutschen Apparat in Frage kommt oder
nicht, unsere gegenwärtige Arbeit nicht mindestens moralisch, d. h. inoffi­
ziell autorisieren.

406 Notiz zum Umbau der Org, 1.9.1949, BND-Archiv, 4313.

595
Führungs-Zentrale (34) 1.10.1949407

Leiter »Dr. Schneider« (Gehlen)


Pers. Mitarbeiter Herr »Herdahl« (Herre)
Schreibkraft Frl. »Kunze« (Krüger)

Leiter des Stabes Herr »Wollmann« (Winter)


Schreibkraft Frl. »Langer«

Führungs- Auswertungs- Organisations-


Gruppe 34/7 Gruppe 34/45 Gruppe 34/3
Herr »Schack« Herr »Dr. Horn« Herr »Diehl«
(Schenk) (Heusinger)

Personal-Gruppe 34/1 Gruppe für Verwaltungs­ Gruppe Nachrichten­


und Rechtsfragen 75 wesen 34 N
Herr »Löwe« Herr »Wegner« Herr »Hoebel«

Die CIA machte ihm allerdings schnell klar, was sie von seinen Bemühungen
in Richtung Bonn hielt. Critchfield übermittelte die Anfrage aus Washington,
ob Adenauer bekannt sei, dass man über eine Verbindung zu Dr. Rolf Pauls,408
seinem persönlichen Sekretär, verfüge, und was Adenauer mit seinem Sicher­
heitsreferat im Bundeskanzleramt vorhabe.409 Nicht, dass die CIA Gehlen dafür
brauchte, um diese Neuigkeit in Erfahrung zu bringen – man demonstrierte
mit dieser ironischen Anfrage, dass man längst einen Vertrauensmann bei
Adenauer hatte und Gehlens Kontaktversuch über Hundhammer überflüssig
gewesen sei.
Gehlen wehrte sich mit Belehrungen für Critchfield und trat in Sachen
Hundhammer zugleich den Rückzug an.410 Man müsse nach seinen Erfahrun­
gen (!) die politische Anbahnung sehr sorgfältig angehen. Bisher wisse Ade­
nauer nichts von der Org, auch nichts über die Verbindung der CIA zu Rolf
Friedemann Pauls. Der ehemalige Generalstabsoffizier und Ritterkreuzträger
arbeitete nach seinem Jurastudium in der Verbindungsstelle des Kanzleramts
zur Alliierten Hohen Kommission. Der Kontakt zum Kanzler solle ja gar nicht
über Hundhammer laufen. In seiner Org sei ein Mann, der aus Kriegszeiten

407 BND-Archiv, Nl/3, Blatt 262.


408 Major i. G., ehemaliger Ordonnanzoffizier von Speidel, Jurist und Diplomat.
409 Memorandum Critchfields, 21.9.1949, BND-Archiv, 4313.
410 Memorandum Gehlens, 24.9.1949, ebd. In seinen Memoiren fasste Gehlen den kom­
plizierten und fintenreichen Annäherungsprozess in wenigen Sätzen zusammen, ohne
Probleme und Widersprüche zu erwähnen; siehe Gehlen, Der Dienst, S. 141.

596
über persönliche Beziehungen zu Pauls verfüge, der könnte vorfühlen, was
mit dem Sicherheitsreferat geplant sei. Sein Gespräch mit Hundhammer sei
zufriedenstellend gewesen. Er habe ihn nur grob über die Org informiert, denn
Hundhammer könnte nach den nächsten Wahlen der Nachfolger des bayeri­
schen Ministerpräsidenten Hans Ehard werden.
Das »Fingerhakeln« mit Critchfield ging weiter. Wie von dem Amerikaner
angeordnet, kündigte Gehlen an, dass er beabsichtige, mit seinen Gesprächs­
partnern in der Schweiz, dem französischen Geheimdienstler Mercier und
Inspektor Ulrich von der Schweizer Bundespolizei, zu einem Gegenbesuch
in München zusammenzutreffen.411 In einem anschließenden schriftlichen
Bericht hob er besonders die hilfreiche Unterstützung durch seinen Bruder
Johannes hervor, seinen Residenten in Rom. Ein solches Lob konnte sein aus­
geprägter Familiensinn rechtfertigen. Reinhard Gehlen hatte auch andere per­
sönliche Gründe, seinen amerikanischen Dienstherren dankbar zu sein und
den Streit um Ausmaß und Formen der Zusammenarbeit nicht zu überziehen.
Critchfield konnte im Oktober 1949 mitteilen, dass die CIA die Übereignung
eines exklusiven Anwesens am Starnberger See endgültig und »in einer für
Gehlen sehr honorigen Weise« geregelt habe.412 Familie Gehlen konnte also das
umzäunte Lager in Pullach verlassen und fand in Berg ein neues Zuhause.
Als »Doktor Schneider« hatte Gehlen noch viele Schwierigkeiten zu bewäl­
tigen, um die Zusammenarbeit mit der CIA gedeihlich zu gestalten. Nicht
weniger kompliziert waren die notwendigen Dispositionen, um wieder in deut­
sche Dienste treten zu können. Da der Zeitpunkt des Heraustretens aus ameri­
kanischer Abhängigkeit näher zu rücken schien und ein möglicher deutscher
Wehrbeitrag nicht mehr nur im Kreise ehemaliger Berufssoldaten diskutiert
wurde, war Gehlens Standpunkt zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherpro­
zess bzw. zu den Nachfolgeprozessen, die sich gegen die frühere Wehrmacht­
führung gerichtet hatten, intern gefragt. Als Generalmajor a.D. musste er
natürlich vorhandene massive Zweifel an einer Fortsetzung der Zusammenar­
beit mit den Amerikanern eindämmen und glaubwürdig machen, dass er sich
mit seinen Möglichkeiten dafür einsetzte, in Nürnberg einen Schlussstrich zu
ziehen. Man wird ihn also bei seinen diesbezüglichen Äußerungen einerseits
als Sprachrohr seiner Gruppe ehemaliger Generalstabsoffiziere sehen können;
andererseits zeigen seine Argumente, dass er sich in Sorge um die Motivation
seiner Mitarbeiter persönlich sehr stark in der Sache engagierte, nicht ohne
sich auf andere zu berufen und sich abzusichern.

411 Notiz vom 27.9.1949, BND-Archiv, 4313.


412 Tagebuch Herre, Eintrag vom 12.10.1949, S. 46, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

597
Voran ging eine wichtige Aussprache zwischen Gehlen und Heusinger.
Im Vordergrund standen – neben »erheblichen Meinungsverschiedenhei­
ten« über die Fortführung der Arbeit in der Org – die Nürnberger Prozesse.413
Innerhalb der Org wurden regelmäßig Presseauszüge zu Nürnberg verteilt, was
Gehlen zu steuern versuchte. Seine ausführliche Stellungnahme rechtfertigte
einerseits die weitere Zusammenarbeit mit den USA und nahm andererseits
die Ressentiments der ehemaligen Wehrmachtelite auf.414 So betonte er zwar,
dass niemand dagegen sein könne, Verbrechen zu verfolgen, aber die Verteidi­
gung dürfe nicht eingeschränkt werden und die Anklage sollte sich nicht auf
nachträgliche Gesetze stützen. Man habe im Hauptkriegsverbrecherprozess
sogar sowjetische Richter eingesetzt, Vertreter einer Macht, »der weit grös­
sere Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzuweisen sind, als in den Pro­
zessen den Angeklagten vorgeworfen worden sind«. Die Verfahren seien nur
berechtigt, so meinte Gehlen, wenn auch die Verbrechen der anderen in glei­
cher Weise geahndet würden.

Ich muss offen eingestehen, dass ich auch mit mir selbst laengere Zeit erheb­
lich gerungen habe, ob ich die Fortsetzung der Arbeit mit meiner Ehre als
ehemaliger deutscher Offizier vereinbaren kann, denn schliesslich handelte
es sich um einen offiziellen amerikanischen Gerichtshof. Ich bin fuer meine
Person zu einer zustimmenden Antwort gekommen, weil ich aus der Kennt­
nis der amerikanischen Einstellung, die ich drueben und in meiner Arbeit
hier gewonnen habe, der Ueberzeugung bin, dass – wenn der Masse des ame­
rikanischen Volkes die Fakten bekannt sind – die Nuernberger Prozesse und
die Art ihrer Durchfuehrung auch in den Vereinigten Staaten allgemein abge­
lehnt wuerden. Zudem ist mir bekannt, dass die Haupttreiber der Nuernber­
ger Prozesse eine kleine Gruppe schon frueher anruechiger deutscher Emi­
granten sind, denen man teilweise eines Tages wahrscheinlich die direkte
Verbindung zu den Sowjets wird nachweisen koennen.415

Er habe seine Auffassung den Organisationsleitern bereits früher überzeugend


dargelegt, obwohl dann später bekannt wurde, dass der Prozess gegen Erich
von Manstein – seinen ehemaligen Chef – auf Drängen der Amerikaner durch
die Briten aufgenommen worden sei. Bedenken der Organisationsleiter habe
er mit dem Versprechen beseitigen können, alles zu tun, »um in Verbindung
mit gleichgesinnten Amerikanern den Kampf um eine Revision dieser Pro­

413 Notiz vom 29.9.1949, BND-Archiv, 4313.


414 Stellungnahme Gehlens zu den Nürnberger Prozessen, 30.9.1949, ebd.
415 Ebd., Blatt 2.

598
Reinhard Gehlen und Ehefrau Herta, 1949

zesse und um Gerechtigkeit zu führen«. Dabei müsse natürlich seine Person


aus dem Spiel bleiben! Gegenüber der Organisation sei seine Position umso
schwieriger geworden, weil immer wieder Berichte aus der Haftanstalt Lands­
berg über unwürdige Umstände kämen, sodass schon die evangelische Kirche
interveniert habe. Der Kampf gegen den Malmedy-Prozess finde seine beson­
dere Unterstützung, aber »nur soweit Unrecht geschehen ist«.416 Der Kampf
müsse gemeinsam von deutscher und amerikanischer Seite geführt werden,
aber unter US-Leitung. Darauf sollten alle Gedanken und Maßnahmen abge­
stellt werden.
Und Gehlen mahnte: Man sollte auf amerikanischer Seite berücksichtigen,
wie sich die politischen Prozesse auf lange Sicht auf das gemeinsame Verhält­
nis auswirken würden. Mit Ausnahme der Kommunisten lehnten alle Parteien

416 Im Internierungslager Dachau hatte im Juli 1946 ein US-Militärgericht 73 Angeklagte


der Waffen-SS wegen der Erschießung von US-Kriegsgefangenen bei Malmedy im
Dezember 1944 größtenteils zum Tode verurteilt. Die Todesurteile wurden nicht voll­
streckt, aber die öffentliche Auseinandersetzung war weitergegangen. Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des Verfahrens nutzten rechtsgerichtete Kreise auch in den USA dazu,
gegen die Strafverfolgung von vermeintlichen Kriegsverbrechern und die angeblich von
Kommunisten unterwanderte Politik der Regierung Truman zu polemisieren. Siehe ins­
gesamt Jens Westemeier: Himmlers Krieger. Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg
und Nachkriegszeit, Paderborn 2014.

599
die Prozesse ab, obwohl die Zeitungen einen anderen Eindruck erweckten.
Die Bevölkerung habe aber schon unter dem Nationalsozialismus gelernt, ihre
Meinung nicht allzu offen zu äußern. Es seien jedenfalls einseitige Prozesse
mit dem Ziel »einer Diffamierung der früheren geistigen Elite«, wie der »Dok­
tor« abschließend seinen Freimut verteidigte. Auch wenn sein Standpunkt
vielleicht nicht verstanden werde, ihm gehe es allein um die gemeinsame
deutsch-amerikanische Zukunft. Alles was seine Org gegen Nürnberg und
Malmedy unternehme, werde nicht aus amerikanischen Geldern bestritten.
Das bezog sich auf die Verteilung von Materialien, die angeblich nicht für die
Org bestimmt gewesen seien, sondern nur als Unterlagen für einen Kreis, der
sich mit der Frage der Nürnberger Prozesse befasse. Es blieb – nur mühsam
verschleiert – der bemerkenswerte Umstand, dass der publizistische Kampf
gegen den Malmedy-Prozess und zur Unterstützung der Angeklagten der ehe­
maligen SS-Panzerdivision »Leibstandarte« auch von Pullach aus unterstützt
und womöglich mit US-Steuergeldern bezahlt wurde.
Die amerikanische Seite war daran interessiert gewesen, die Kriegsverbre­
cherprozesse möglichst bald abzuschließen, und reagierte auf den massiven
Druck durch die gerade gegründete Bundesrepublik sowie von großen Teilen
der westdeutschen Gesellschaft. Die bereits Verurteilten wurden schrittweise
vorzeitig entlassen. Gehlen konnte sich also ganz auf die komplizierte Anbah­
nung eines Gesprächsfadens mit dem Bundeskanzler konzentrieren. In Hans
Ritter von Lex, dem Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, fand er
einen Vermittler, der allerdings ein Gespräch mit Adenauer erst arrangieren
wollte, wenn die Zustimmung von McCloy, dem Hohen Kommissar der USA in
Deutschland, vorläge.417
Critchfield griff sofort ein und machte klar, dass die CIA selbst bemüht sei,
eine normale Verbindung mit der deutschen Regierung zu knüpfen. Bei ihrer
Annäherung stoße sie auf dieselben Regierungsvertreter, die »konfus« würden,
wenn Gehlen im Alleingang vorpresche. Gegen die geforderte Koordination
des Vorgehens sprach an sich nichts, aber Herre, das Sprachrohr seines Herrn
und der Amerikaner, legte großen Wert darauf, dass man von amerikanischer
Seite gegenüber deutschen Regierungsvertretern nicht davon sprechen sollte,
die Org sei eine US-Einrichtung. Das würde das Misstrauen in Bonn gegenüber
Generalstabsoffizieren nur verstärken.418

417 Bericht von Gehlen für Critchfield über das Gespräch mit Lex am 12.10.1949, BND-
Archiv, 4313.
418 Notiz über das Gespräch zwischen Critchfield und Herre am 14.10.1949, Tagebuch
Herre, S.48-51, online unter: College of William and Mary, Digital Archive, Diary of
Heinz Danko Herre.

600
Reinhard Gehlen, Heinz Danko Herre und Eric Waldman in der Schweiz, 1951

Auf dieser Linie verfasste Gehlen seine Vortragsnotiz für den Bundeskanz­
ler betreffend »Deutscher Nachrichtendienst«.419 Es war gleichsam seine per­
sönliche Visitenkarte, mit der er sich als Leiter einer umfangreichen deutschen
Organisation vorstellte, »welche unter deutscher Führung auf dem Boden einer
rein deutschen Konzeption im Nachrichtendienst gegen die Oststaaten und
in der Abwehr des Kommunismus im Innern Westdeutschlands eng mit den
Amerikanern zusammenarbeitet«. Es herrsche das Einverständnis zwischen
ihm und den Amerikanern, dass die Org ihre Arbeitsergebnisse ganz oder in
Teilen der deutschen Regierung zur Verfügung stellen würde, »falls diese dies
wünscht«. Als Deutscher betrachte es Gehlen als Gewissensfrage gegenüber
der deutschen Regierung, dass sie seine Tätigkeit gutheißt, auch wenn nicht
der Wunsch bestehen sollte, die Arbeit der Org für sich auszunutzen.
Gehlen schlich sich also ganz geschickt an Adenauer heran, drängte sich
aber nicht auf und hielt sich alle Rückzugsmöglichkeiten offen. Statt dem Bun­
deskanzler reinen Wein über die Situation der Org einzuschenken, verlegte er
sich darauf, die Vorgeschichte kurz und geschichtsklitternd darzustellen, um
den Eindruck zu erwecken, dass sich seine Truppe bereits im Kriege im Rah­
men von FHO zur höchsten Perfektion entwickelt habe, unfehlbar geworden

419 Vortragsnotiz Gehlens, 17.10.1949, BND-Archiv, 1110, Blatt 28-31, auch in VS-Registra­
tur Bka, 1:15100(64) Bd. 1, Blatt 1-5.

601
und in ihrem Erfolg nur an Hitler gescheitert sei. Es habe sich, so behauptete
Gehlen fälschlich, zwischen 1942 und 1945 eine neue Form der Zusammen­
arbeit aller nachrichtendienstlichen Elemente entwickelt, und zwar unter
Zusammenfassung durch FHO. Ihm seien als Chef FHO zuletzt sämtliche
nachrichtendienstlichen Verbände der Ostfront unterstellt gewesen (was so
allgemein nicht stimmte), mit Ausnahme des Sabotagesektors, dessen Arbeit
er abgelehnt habe. Er selbst habe dem Chef des Generalstabs des Heeres unter­
standen, in nachrichtendienstlichen Belangen dem Admiral Canaris (womit er
sich dessen Rufs bediente).
In den letzten zwei Kriegsjahren habe es einen scharfen Kampf mit dem
SD gegeben, der von FHO »zusammengefaßte Apparat« (man bemerke die
geschickte Formulierung) sei aber in seiner wesentlichen Form erhalten
geblieben, ebenso seine Akten. Er könne in Anspruch nehmen,

dass seit Winter 1941 keine russische Handlung bzw. militärische Operation
überraschend kam, sondern in allen Einzelheiten meist Wochen, oft Monate
lang vorher bekannt war. Es ist tragisch, dass das vorgelegte Material trotz
aller wiederholten Vorstellungen des Chefs des Generalstabes stets als
unglaubwürdig abgelehnt wurde.

Er, Gehlen, sei noch im April 1945 als Defätist entfernt worden, nachdem seine
wiederholte, nachdrückliche Vertretung abweichender Meinungen Hitlers
Zorn erregt habe. Die gegen seine Person beabsichtigten Maßnahmen seien
infolge Kriegsschluss nicht mehr zur Ausführung gekommen. So stilisierte
sich Gehlen gleichsam zum Widerstandskämpfer, dabei hatte er keinesfalls
persönlich und »nachdrücklich« abweichende Meinungen gegenüber Hitler
vertreten, das lag gar nicht in seiner Natur. Bereits vor Kriegsende habe sich die
Frage ergeben, so seine weiteren Ausführungen, wie der Kampf um die »Erhal­
tung der christlichen Kultur« weitergeführt werden könnte – als ob es diese
Kultur noch unbeschädigt gegeben hätte; es war wohl eine plumpe Anbiede­
rung an das CDU-Programm. Er habe Material und Personal retten und dem
bisherigen Gegner eine Zusammenarbeit anbieten können, was »vom Stand­
punkt unseres deutschen Gewissens« nur durch eine »deutsche Konzeption«
vertretbar gewesen sei. Er führte das angebliche Gentlemen’s Agreement mit
dem zuständigen US-General an, weder unter noch für, sondern mit den Ame­
rikanern zu arbeiten. Die Org habe sich in Form eines abgeschlossenen, mit
allen Einrichtungen ausgestatteten Nachrichtendienstes entwickelt (um gleich
jeden möglichen Gedanken an eine Aufspaltung zu verhindern) und gegenüber
den amerikanischen Partnern die Forderung gestellt, dass die Ergebnisse einer
kommenden deutschen Regierung zur Verfügung stehen müssten und, wenn
diese es wünscht, die Org selbst für eine spätere Übernahme.

602
Da die Amerikaner der deutschen Führung völlig freie Hand ließen, konnte
ein Nachrichtendienst auf die Beine gestellt werden unter Berücksichtigung
aller Kriegserfahrungen, dessen Leistungsfähigkeit sowohl nach Qualität wie
nach Quantität über die Leistungsfähigkeit bei Kriegsende auf dem Ostsektor
hinausgeht. Es konnte ferner durch den völligen Neuaufbau von vornherein
eine Aussiebung der charakterlich und fachlich besten Fachkräfte stattfin­
den unter Weglassung aller mittelmäßigen Elemente [das war eine starke
Behauptung]. Die Organisation war im Laufe der Zeit befähigt, auf dem Ost­
sektor den wesentlichen Teil aller Ergebnisse beizusteuern, die der amerika­
nische Nachrichtendienst überhaupt in Europa gewinnt.

Diese keineswegs bescheidene Selbstdarstellung eines sich sonst so preußisch


gebenden Generalstabsoffiziers dürfte den nüchternen rheinischen Katho­
liken Adenauer kaum beeindruckt haben. Sicher konnte sich dessen Gehlen
nicht sein, denn eine Reaktion blieb aus. Critchfield machte ihm deutlich, dass
er ohne amerikanische Rückendeckung wohl keine Chance haben werde, in
Bonn zum Zuge zu kommen. Doch unter amerikanischer Flagge ins Kanz­
leramt zu segeln – daran konnte Gehlen eigentlich nicht gelegen sein, weil
sich damit sein Phantom einer angeblich deutschen Einrichtung verflüchti­
gen würde. Critchfield schlug vor, dass der CIA-Vertreter in Bonn mit McCloy
reden würde, dieser dann zu Adenauer mit der Empfehlung ginge, Gehlen zu
empfangen. Bei einer folgenden Aussprache mit dem Kanzler sollte Gehlen als
Leistungsbeweis völlig offene Unterlagen und Karten präsentieren. Adenauer
werde sich wahrscheinlich zunächst für das Gebiet der Spionageabwehr inte­
ressieren. Diese Art des Vorgehens über die verantwortliche Spitze sei besser
als das Penetrieren der Regierungsstellen, weil damit nur Misstrauen geweckt
würde.420 Gehlen beschloss, sich nicht auf diesen Weg zu verlassen.
Er musste sich aber zunächst darum kümmern, das eigene Haus besser zu
bestellen und lange geduldete Schwachstellen zu beseitigen. Er hatte General
a.D. Alfred Kretschmer (DN »Körnig«) beauftragt, eine Untersuchung gegen
Baun zu fuhren, um die zahlreichen internen Vorwürfe gegen den heimli­
chen Chef der Beschaffung zu klären. Da Baun die Unterschlagungen endlich
gestand, gab es für Gehlen keinen Grund mehr, ihn zu schonen.421 Dennoch

420 Notiz über das Gespräch zwischen Herre und Critchfield, 18.10.1949, Tagebuch Herre,
S. 52-53, online unter: College of William and Mary, Digital Archive, Diary of Heinz
Danko Herre.
421 Notiz vom 19.10.1949, BND-Archiv, 4313. Zu den Vorgängen um Baun siehe auch Erich
Schmidt-Eenboom: Korruption und deviantes Verhalten in der Organisation Gehlen
und dem frühen Bundesnachrichtendienst; in: Pahl/Pieken/Rogg (Hg.), Achtung Spione!
Essays, S. 337-351, hier S. 339.

603
zögerte Gehlen noch immer, den Amerikanern reinen Wein einzuschenken.
Schließlich hing sein eigenes Prestige an dem Nimbus eines global agierenden
Nachrichtendienstes, für den Bauns Apparat die tragende Säule bildete. Von
dessen alten Kontakten und Fäden in den sowjetischen Machtbereich hing die
Reichweite der Org entscheidend ab. Die taktische und technische Aufklärung
allein reichten nicht aus, um einen großen Nachrichtendienst aufzubauen.
Außerdem bedeutete es das Eingeständnis eines Führungsfehlers, weil er Baun
so lange gehalten hatte, auch gegen das Misstrauen auf amerikanischer Seite.
Herre verstand nicht das Schwanken seines Chefs in dieser wichtigen Perso­
nalfrage und drängte darauf, Baun unter äußersten Druck zu setzen und ihn
zu entlassen.422
Wahrscheinlich zögerte Gehlen auch deshalb, die Amerikaner einzuschal­
ten, weil diese bei einem Rauswurf von Baun und möglichen Folgen für die
Beschaffung erkennen könnten, wie begrenzt die Reichweite der Org tatsäch­
lich war. Der Forderung, seine Verbindungen und Quellen aufzudecken, gab er
nur in Einzelfällen nach, wohl auch um zu demonstrieren, wie nützlich seine
Vermittlung sein könnte, um die US-Interessen zu befördern. So unterrichtete
er Critchfield über die Anwesenheit deutscher Militärexperten in Syrien.423 Die
dortige Regierung habe sich im Juli 1948 entschlossen, eine Reihe von Spezia­
listen anzuwerben und sich dazu vor allem an Kreise der ehemaligen Waffen-
SS zu wenden. Das Memorandum schilderte die Maßnahmen, Reisewege und
internen Querelen in Syrien. Derzeit seien noch 20 Deutsche in der syrischen
Armee. Hervorgehoben wurde der ehemalige SD-Führer Walther Rauff, der
eine wichtige Rolle während des letzten Staatsstreichs gespielt habe.424 Er sei
für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit in Syrien geeignet. Die Anbahnung
müsste allerdings vorsichtig erfolgen und könnte durch eine Quelle der Org
vermittelt werden. Bisher habe man nach Kräften versucht, den Abfluss wich­
tiger deutscher Militärexperten nach Syrien zu bremsen. Wenn die USA jetzt
eine andere Richtung verfolgten, sei man in der Lage, geeignete Experten nam­
haft zu machen.
Dagegen sperrte sich Gehlen gegen die Forderung Critchfields nach Ein­
sichtnahme in seine Verbindungen zu befreundeten Diensten. Critchfield ließ
sich nichts vormachen und ging nach dem Motto »pull the teeth« vor, das
heißt, er bestand hartnäckig auf seiner Forderung. Er habe noch kein klares
Bild von diesen Beziehungen gewonnen, erklärte er Herre. Die Liste, die ihm
übergeben worden war, enthalte lediglich knappe Angaben, die nichts über

422 Notiz vom 21.10.1949, BND-Archiv, 4313.


423 Memorandum vom 2.11.1949, ebd.
424 Siehe dazu ausführlich Martin Cüppers: Walther Rauff – In deutschen Diensten. Vom
Naziverbrecher zum BND-Spion, Darmstadt 2013.

604
die Entwicklung im Einzelnen aussagten. Auch der Austausch von Nachrich­
ten bleibe unklar. Wer bekomme denn was? Denn natürlich wollten die Ame­
rikaner kontrollieren, was Gehlen mit dem Material machte, das ja teilweise
von ihnen selbst stammte, zumindest mit US-Geldern bezahlt worden war. So
habe Gehlen mit den Franzosen über die Funkaufklärung gesprochen. Die CIA
habe dem nur schweren Herzens zugestimmt und wolle nun die Funksprüche
sehen, die Gehlen an die Franzosen weitergebe. In jedem Fall müsse im Haupt­
quartier der Eindruck vermieden werden, dass Gehlen geheime Fäden spinne,
die er vor den Amerikanern verbergen wolle.425
Außerdem zweifelte Critchfield die politische Loyalität Gehlens an, die die­
ser selbst immer wieder versicherte. Der CIA-Mann erinnerte daran, dass er
im Dezember vergangenen Jahres seine ersten Eindrücke nach Washington
berichtet habe. Darin hatte er keinen Zweifel an der ehrlichen Anschauung
Gehlens gehabt, dass die Zeit der Nationalstaaten vorbei sei und Deutschland
nur noch als Mitglied der westeuropäischen Völkerfamilie sowie im Rahmen
der westlichen Hemisphäre denkbar sei. Critchfield meinte, er habe keinen
Zweifel, dass Gehlen die Org in diesem Sinne indoktriniere, aber er hielt es für
bemerkenswert, dass die Org gleichzeitig ein sehr starkes Gepräge des deut­
schen Generalstabs und der soldatischen Tradition trage. Das werde immer
wieder in den USA kritisch hinterfragt, auch bei der deutschen Regierung
sowie bei den Franzosen und auch bei den Briten, aber man verhalte sich
unaufrichtig (»with the tongue in cheek«).426
Gehlen ertrug diesen Problemdruck nach den Beobachtungen von Herre
nur sehr schwer. Herre bemerkte eine zunehmende Anspannung, die sich mit­
unter auch in Trotz äußerte, in den sich Gehlens ablehnende Haltung gegen­
über allen Wünschen von Critchfield steigerte. In seiner Sorge suchte Herre
das Gespräch mit Heusinger, von dem er annehmen konnte, dass dieser einen
gewissen Einfluss auf Gehlen hatte. Herre war vor allem deshalb besorgt, weil
sich Gehlen wieder einmal zu pessimistisch zeigte und viel von »Auflösung«
der Org sprach.427 Die Stimmungsschwankungen legten sich, als die Unter­
suchung gegen Baun zum Abschluss gelangte und Gehlen unter Handlungs­
zwang den CIA-Stab am 26. Oktober 1949 darüber unterrichtete, dass Baun
endgültig zu entlassen sei. Es dauerte dann noch weitere vier Monate, bis
Gehlen in Gegenwart Critchfields Baun mit den Ergebnissen der Untersuchung
konfrontierte und die Entlassung aussprach. Baun erhielt ein ungewöhnliches

425 Gespräch Herre – Critchfield am 20.10.1949, BND-Archiv, 4313.


426 Schreiben Herres an Gehlen über sein Gespräch mit Critchfield, 20.10.1949, ebd.
427 Notizen vom 22. u. 23.10.1949, ebd.

605
»Abschaltgeld« von monatlich 800 D-Mark und wurde bis zu seinem Tode ein
Jahr später in eine »materiell-geistige Quarantäne« gesetzt.428
Vielleicht war es Heusinger tatsächlich gelungen, seinen ehemaligen Unter­
gebenen wieder zu motivieren bzw. zum Nachgeben zu veranlassen. Bei einer
Aussprache mit Critchfield erklärte sich Gehlen damit einverstanden, dass
Gordon M. Stewart, CIA-Missionschef in Karlsruhe, vorerst die Interessen der
Org bei Bundeskanzler Adenauer vertreten solle.429 Ob er wirklich akzeptiert
hatte, dass Adenauer mit ihm als Generalstäbler nicht klarkommen und der
Kontakt zwischen ihnen beiden politisch brisant sein könnte? In seiner Frus­
tration war Gehlen sicherlich empfänglich für die Information von Herre über
»Machenschaften der Briten gegen uns«. Dabei handelte es sich um eine Mel­
dung des Leiters der Dienststelle für Spionageabwehr und Gegenspionage in
Karlsruhe, Alfred Benzinger (DN »Leidl«), der die meisten Gestapoleute in die
Org geschleust hatte. Er wollte herausgefunden haben, dass die Briten V-Leute
in der Bundesregierung installiert hätten. Gehlen griff die Meldung auf und
nahm sich vor, sie bei passender Gelegenheit der CIA zu stecken.430 Sie bestä­
tigte ihn jedenfalls in seinem Vorhaben, die Annäherung an Adenauer auf
seine Weise weiterhin zu betreiben.
Anfang November 1949 verfolgte er die Absicht, seine nächste Reise zu
Gesprächen in der Schweiz zu nutzen, um auch Adenauer zu treffen, der dort
regelmäßig seinen Urlaub verbrachte. Der kurzfristig informierte und über­
raschte Critchfield signalisierte seine Zustimmung, riet aber, nachdem sich
der Plan zerschlagen hatte, zu einem vorsichtigen Vorgehen, besser noch zu
einem Moratorium.431 Unabgesichert gegen einen möglichen Misserfolg direkt
an die oberste Führung heranzutreten, diesen Mut hatte Gehlen ohnehin nicht.
So sprach er beim nächsten Schritt zunächst mit zwei Vertretern der bayeri­
schen Landesregierung, sein Adlatus Herre traf am selben Tag Hans Herwarth
von Bittenfeld.432 Dieser verfugte über einen Draht zu dem Diplomaten Her­
bert Blankenhorn, dem Vertrauten Adenauers.433 Anvisiert wurde ein mög­

428 Formulierung von Graber in seinen Erinnerungen, S. 58, BND-Archiv, N 4/14. Siehe auch
Notiz vom 27.10.1949, BND-Archiv, 4313.
429 Notiz vom 28.10.1949, BND-Archiv, 4313. Stewarts Erinnerungen: From Corning to
Karlsruhe. Memoirs of a CIA Original, 1996, sind leider nicht zugänglich.
430 Notiz vom 30.10.1949, BND-Archiv, 4313.
431 Notizen vom 1. und 8.11.1949, ebd.
432 Notiz vom 9.11.1949, ebd. Bittenfeld war zu diesem Zeitpunkt in der Bayerischen Staats­
kanzlei zuständig für die Kontakte zur amerikanischen Militärregierung. Er traf sich nun
regelmäßig mit Gehlen, auch nach seiner Versetzung 1950 ins Bundespräsidialamt, ab
1955 als Botschafter in Rom; siehe dessen Erinnerung in BND-Archiv, Splitter Nachlässe.
433 1951-1955 Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, 1955-1958 Ständiger
Vertreter bei der NATO in Paris, anschließend Botschafter in Paris, Rom und London.

606
licher Termin zur Vorsprache Gehlens bei Adenauer eine Woche später, am
17. November l949. Herwarth von Bittenfeld bot an, ebenfalls den Vizekanzler
Franz Blücher434 und den Bundesminister Gustav Heinemann435 ins Bild zu
setzen.
Gehlen schickte wieder Herre vor, der in seinem Auftrag Critchfield um
eine Aufhebung des Moratoriums hinsichtlich der Kontaktanbahnung zu Ade­
nauer bat.436 Doch Critchfield riet ab. Es sei besser, wenn Gehlen noch nicht
mit Adenauer zusammentreffe. Das würde sehr stören: »The worst thing to
be done«.437 Doch hartnäckig, wie er in schwierigen Situationen auch sein
konnte, fuhr er wie geplant nach Bonn und traf zumindest mit Blankenhorn
und Blücher einzeln zusammen, um sich vorzustellen. Blankenhorn notierte
in seinem Tagebuch, er habe nachmittags eine Anzahl von Besuchern empfan­
gen, darunter Gehlen, den Leiter einer von den Amerikanern eingerichteten
Abwehrorganisation, von der er bei dieser Gelegenheit zum ersten Male gehört
habe. »Die Organisation umfaßt viele Tausende von Agenten und hat ihre Ver­
bindungsmänner bis tief nach Rußland hinein organisiert. Gehlen macht einen
sympathischen Eindruck.«438
Anschließend empfing Vizekanzler Blücher den »Doktor« zu einem zwang­
losen Gespräch. Gehlen pries erneut seine Org an, um eine zweite einfluss­
reiche Persönlichkeit dafür zu gewinnen, auf Adenauer einzuwirken, die Org
so lange wie möglich im amerikanischen Rahmen sich entwickeln zu lassen,
auch wenn eine Übernahme in deutsche Dienste beabsichtigt sei. Die Zusam­
menarbeit mit einzelnen Regierungsstellen könnte aber schon in absehbarer
Zeit eintreten. Blücher schloss sich den Gedankengängen an und meinte, dass
Adenauer ähnlich denken würde.439
Critchfield zeigte sich besorgt, dass Gehlen kurzerhand mit Adenauer spre­
chen könnte, ehe dieser durch Briefings von amerikanischer Seite vorbereitet
worden sei. Die CIA wollte sich außerdem natürlich mit Gehlen zuvor verstän­
digen, wie ein künftiger Bundesnachrichtendienst strukturiert sein werde.440
Vor allem aber befürchtete er die Gleichsetzung von Working Teams mit Regie­
rungsstellen, was dann dazu führen könnte, dass unter einem erweiterten

434 Vorsitzender der FDP und Bundesminister für Angelegenheiten des Marshallplans
1949-1953.
435 Bundesinnenminister bis 1950, Austritt aus der CDU 1952, Begründer der Gesamtdeut­
schen Volkspartei, 1957 Anschluss an die SPD, zuletzt Bundespräsident 1969-1974.
436 Notiz vom 10.11.1949, BND-Archiv, 4313.
437 Notiz vom 13.11.1949, ebd.
438 Eintrag vom 11.11.1949, zit. nach: ebd.
439 Notiz Gehlens vom 15.11.1949, BND-Archiv, 1110.
440 Notiz vom 15./16.11.1949, BND-Archiv, 4313.

607
Sicherheitsbegriff alle relevanten Sicherheitsorgane beim Kanzler unter Geh­
len zusammengefasst werden könnten. Damit würde eine »Macht« geschaf­
fen, »die es in keinem anderen westlichen Land gibt und nicht akzeptabel«
sei, besonders für die Franzosen. Ganz falsch, wie sich bald zeigte, war diese
Einschätzung der Ambitionen Gehlens nicht. Aber Critchfield räumte auch
ein, dass sich Gehlen in einer schwierigen Lage befinde, weil er eine Brücke
zur deutschen Regierung bauen müsse, ohne gleichzeitig die Brücke zu den
USA abzureißen. Hoffentlich mache »er das jetzt nicht unbewußt«. Nach der
Rückkehr Gehlens aus Bonn zeigte sich Critchfield einigermaßen beruhigt und
verständigte sich mit ihm über die einzuschlagende Marschrichtung bei der
Annäherung an die Bundesregierung.441
Während Gehlen vor allem darum bemüht blieb, seinen US-Dienst in die
künftige Sicherheitsstruktur der Bundesrepublik einzupassen, hielt er sich bei
der Frage der Remilitarisierung auffallend bedeckt. Bei einem Interview mit
Historikern des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA) im Jahre 1976
erinnerte er sich nicht mehr an Adenauers erste öffentliche Andeutung einer
Wiederbewaffnung im Dezember 1949. Er habe die Tendenz gehabt, sich aus
allem herauszuhalten.442 Das traf nur bedingt zu, weil der Zug in diese Rich­
tung schon längst ohne ihn abgefahren war und er Heusinger den Vortritt
gelassen hatte. Eine in seinem Selbstverständnis angemessene Wiederverwen­
dung hätte für Gehlen nur der Generalstabschef sein können. Dafür kam er
jedoch nicht an Heusinger vorbei. Er pflegte außerdem seit Jahren seinen Ruf
als Fachmilitär für die Ostaufklärung und hatte sich längst auf eine Karriere im
politischen Rahmen des Nachrichtendienstes eingestellt. Er sah sich nicht als
der künftige Scharnhorst oder Gneisenau, schon gar nicht als der neue Seeckt,
auch wenn er in seiner Org eine Art von Schattengeneralstab unterhielt.443
Als Leiter der Org überließ er die ersten gedanklichen und praktischen Maß­
nahmen für einen deutschen Wehrbeitrag den Mitarbeitern und »Sonderver­
bindungen«, die dafür prädestiniert waren. In erster Linie galt das natürlich für
Heusinger, seinen derzeitigen Leiter der Auswertung, und für Generalleutnant
a. D. Hans Speidel, der die besten Aussichten besaß, in Bonn als Militärfach­
mann akzeptiert zu werden.444 John von Freyend, letzter Heeresadjutant beim
Chef OKW, der jetzt für General Mellenthin, den Leiter der Dienststelle 35,
arbeitete, hatte den Auftrag, »gute« Spitzenleute der ehemaligen Wehrmacht
»in unserem Sinne« zu indoktrinieren und sie davon abzuhalten, »nur Sekt
zu verkaufen«. Sie sollten sich besser für eine Aufgabe bereithalten, »nämlich

441 Notizen vom 16. u. 18.11.1949, ebd.


442 Gehlen im MGFA-Interview, 26.10.1976, S. 3, BND-Archiv, N 13/v.2.
443 Siehe die UHK-Studie von Keßelring, Die Organisation Gehlen.
444 Zu Gehlens Kontakten mit Speidel im Jahre 1949 siehe Meyer, Heusinger, S. 382.

608
einen deutschen Beitrag zur Verteidigung des Westens gegen den Bolschewis­
mus zu leisten«.445 So informierte, während Gehlen noch in Bonn die Minis­
tergespräche führte, Heusinger Critchfield über seine letzte Unterredung mit
Speidel und dessen Verbindungen, unter anderem über den Briefwechsel mit
dem Bundespräsidenten und württembergischen Landsmann Theodor Heuss,
und das Empfehlungsschreiben von Colonel Truman-Smith, Adviser des War
Departments und früherer Militärattaché in Berlin, an den US-Hochkommis­
sar McCloy.446
Nach seiner Rückkehr aus Bonn einen Tag später leitete Gehlen intern eine
»große Aussprache« über die weitere Mitwirkung der Generale und General­
stabsoffiziere der Org bei der Remilitarisierung. Es war eine entscheidende Wei­
chenstellung, als deren Ergebnis sowohl konzeptionelle Überlegungen abge­
stimmt und zu Papier gebracht wurden, als auch – neben Heusinger – Speidel
stärker ins Spiel gebracht wurde.447 Im Kern zielte das auf die Forderung nach
eigenständigen deutschen Truppenverbänden als gleichberechtigter Teil einer
europäischen Wehrmacht, modern und mit schweren Waffen ausgerüstet. Auf
politischem Gebiet verlangte man unter anderem die offizielle Beendigung der
Diffamierung des deutschen Soldaten und die Vereinigung der in der Tradition
des Grundgedankens des 20. Juli Stehenden mit jenen, die damals glaubten,
diesem Grundgedanken nicht folgen zu können, »ohne aber dem Nationalso­
zialismus verschrieben gewesen zu sein«.448 Mit einer solchen Formel hat sich
Gehlen sicherlich anfreunden können.
Speidel war ein Konkurrent des Panzergenerals Gerhard Graf von Schwerin,
der ein halbes Jahr später das Rennen als erster offizieller »Berater des Bun­
deskanzlers in Sicherheitsfragen« machte und als Vertrauensmann der Briten
galt.449 Speidel, so Heusinger, sei zurückhaltend und rate dazu, in puncto Remi­
litarisierung erst tätig zu werden, wenn die Westmächte die Bundesregierung
dazu aufforderten. In diesem Sinne wirke Speidel auch auf die Generalität ein
und halte die Org dauernd auf dem Laufenden. »Tut nichts, ohne bei uns zu
fragen. Somit ist unser Einfluss immer sichergestellt.«

445 Notiz über das Gespräch zwischen Herre und Freyend, 11.11.1949, BND-Archiv, 4313.
446 Notiz über das Gespräch Herre, Heusinger, Critchfield, 17.11.1949, ebd.
447 Tagebuch Herre, Eintrag vom 19.11.1949, S.72, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre; zu den Ergebnissen siehe ausführlich
Keßelring, Die Organisation Gehlen, S. 158.
448 Denkschrift Kielmansegg vom 16.11.1949, zit. nach: Keßelring, Die Organisation Geh­
len, S. 160.
449 Zu seiner Person siehe Alaric Searle: Internecine Secret Service Wars Revisited: The
Intelligence Career of Count Gerhard von Schwerin, 1945-1956, Militärgeschichtliche
Zeitschrift 71 (2012), S. 25-55, und Peter M. Quadflieg: Gerhard Graf von Schwerin
(1899-1980). Wehrmachtgeneral, Kanzlerberater, Lobbyist, Paderborn 2016.

609
Gehlens Konkurrent Ex-Panzergeneral
Gerhard von Schwerin, Anfang der 1950er-Jahre

Critchfield zeigte sich befriedigt über Heusingers Bericht, war aber besorgt,
dass die Einflussnahme der Org auf die Generalität irgendwie öffentlich wer­
den könnte. Dieser Einfluss sei notwendig, so Heusinger, »um zu vermeiden,
daß aus den Kreisen der Generalität vorgeprellt wird«. Der Erfolg sei deutlich
spürbar. Critchfield leuchtete das ein, er betonte aber, dass die Verbindung
zu Speidel von besonderer Wichtigkeit sei, weil dieser »zu Großem berufen
schiene«. Er wolle sich in Zukunft der Beratung durch Speidel via Org bedienen,
um diesen Rat an McCloy weiterzugeben. Während Heusinger – bei aller gebo­
tenen Zurückhaltung – bereits an eine frühzeitige Personalplanung dachte,
bremste Critchfield in einem wichtigen praktischen Aspekt. Eine Abtrennung
der gemeinsamen Fernmeldeaufklärung zugunsten eines deutschen Militärs
werde nicht in Betracht kommen. Deren Ergebnisse werde er weiterhin außer
an Washington auch an General Maxwell D. Taylor (G-2 EUCOM) weitergeben.450
Gerade dieser Hinweis zeigt, wie kompliziert eine mögliche Übernahme der
Org in deutsche Dienste sein konnte, und Gehlen entweder alles gewinnen oder
alles verlieren könnte. Dass Generale und Generalstabsoffiziere, die von ihm
in der Org beschäftigt wurden, dem Ruf der Remilitarisierung folgen könnten,
hat ihn offenbar nicht geschreckt.451 Noch fanden sich jederzeit ehemals hoch­
rangige Kameraden, die es vorzogen, das gute Gehalt bei Gehlen in Anspruch
zu nehmen. So kam jetzt Generalmajor a. D. Erich Dethleffsen, zuletzt Chef der
Führungsgruppe des OKH, zu ihm in die Org, nachdem er sich jahrelang als
Publizist sein Brot verdient hatte. Dethleffsen wollte später eigentlich wieder

450 Notiz über das Gespräch Herre, Heusinger, Critchfield, 17.11.1949, BND-Archiv, 4313.
451 Gespräch Gehlen – Herre, 19.11.1949, ebd.

610
aktiver Soldat werden, lehnte es aus familiären Gründen dann aber ab, Speidel
nach Fontainebleau, wo sich seit 1949 das Hauptquartier der NATO befand, zu
folgen und kehrte im Frühjahr 1958 zu Gehlen zurück, der ihn zum Leiter der
Auswertung machte.452 Dethleffsen wollte bei einer späteren Befragung nicht
ausschließen, dass Gehlen seine Org als Führungskern für künftige Streitkräfte
gesehen hat, wofür die »fast schon unerklärliche »Großzügigkeit« Gehlens bei
der widerspruchslosen Abgabe von hoch- und höchstqualifizierten Offizieren
aus seiner Organisation beim Aufbau der Bundeswehr« spreche.
Im Herbst 1949 hatte Gehlen ganz andere Sorgen. Er fand keinen zuver­
lässigen Draht zur Bundesregierung in eigener Sache und hatte auch keine
Bestandsgarantie der CIA. Mit der Verhängung einer »Projektsperre«, unter der
nur Spitzenverbindungen genehmigt wurden, drosselten die Amerikaner den
Geldfluss. Critchfield empfahl, dass sich die Org auf reine Agentenoperationen
konzentrieren solle.453 Herre erkannte, dass die Amerikaner die Möglichkei­
ten der Org auf diesem Feld überschätzten. Gehlens Reaktion auf Gedanken,
die von Critchfield kamen, war inzwischen »recht allergisch« geworden. Es
fiel Herre schwer, Gehlen davon zu überzeugen, dass Critchfield doch auch
konstruktive Ideen äußere. Er fand Zustimmung bei Verwaltungschef Horst
Wendland (DN »Wendt«), während Winter, der andere Adlatus von Gehlen,
noch negativer als der Chef reagierte und eine spürbare Abneigung gegenüber
allem hatte, was von den Amerikanern kam.454
Bevor Gehlen erneut zu Geheimgesprächen in der Schweiz aufbrach, die­
ses Mal wieder in der Kombination »Doktor Schneider« und Doktor Johannes
Gehlen, verfasste er für Critchfield ein weiteres Memorandum über die Situa­
tion der Org.455 Man habe im Sommer wegen der finanziellen Engpässe die
Leistungsfähigkeit um die Hälfte reduzieren müssen. Die von ihm erwartete
Vertrauenskrise sei nun eingetroffen und betreffe hauptsächlich das Verhältnis
zur amerikanischen Seite, im geringeren Maße auch gegenüber der deutschen
Führung. Das von Critchfield vorgeschlagene Projektverfahren für die gesamte
Aufklärung außerhalb der SBZ habe sich nicht bewährt. Die Genehmigung

452 Befragung Dethleffsens durch OTL Dr. Foerster, MGFA, 14.10.1977, BA-MA, BW 7/2784.
Dethleffsen hatte im November 1949 eine Denkschrift verfasst: »Gedanken über die Hal­
tung der deutschen Generale für den Fall einer von den Westmächten verlangten deut­
schen Wiederaufrüstung«; Roland G. Foerster: Innenpolitische Aspekte der Sicherheit
Westdeutschlands 1947-1950; in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956,
hg. vom MGFA, Bd. 1: Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, München 1982, S. 403–
576, hier S.438.
453 Gespräch Gehlen – Critchfield, 22.11.1949, BND-Archiv, 4313.
454 Notiz vom 23.11.1949, ebd.
455 Notiz über die Schweizreise vom 27.-30.11.1949 und Memorandum vom 27.11.1949,
ebd.

611
über Washington dauere zu lange und werde dort von Männern bearbeitet, die
nicht richtig urteilen könnten. So habe man zum Beispiel bei der Ablehnung
der Ungarnprojekte die Weisung erteilt, Quellen abzuschalten, Kurierlinien
aber zu halten. Das funktioniere so nicht. Könnte die Entscheidung über Pro­
jekte in Europa nicht über eine Stelle in Europa laufen? Es sei ein betrübliches
Zeichen, dass sein bester Unterorganisationsleiter, mit dem er schon seit sie­
ben Jahren ohne jegliche Trübung zusammenarbeite und der »sehr ausgewo­
gen, abgeklärt und lebenserfahren« sei, ihm schreibe, dass er erkannt habe, es
sei besser, rechtzeitig und ganz auszusteigen.
Gehlen schlug vor, auf weitere Sicht festzulegen, was die amerikanische
Treuhandschaft von einem deutschen Nachrichtendienst erwarte, und sich
über die Arbeitsweise zu verständigen. Nach seiner eigenen Auffassung sollte
die Org im Rahmen der gestellten Aufgabe »völlig selbständig« mit einem
Amerikaner arbeiten, der Generalvollmacht habe, sonst drohe die Org abzu­
bröckeln. In seinen Memoiren schrieb er später von einer internen »dritten
Vertrauenskrise«456 und rechtfertigte rückblickend seinen Widerstand gegen
ein vermeintlich bürokratisches Verfahren, das freilich die CIA auch für eigene
Operationen anwendete. Es ging bei diesem Streit eben vor allem um seine
interne Führungsposition und die Absicherung von eigenen Operationen, die
nicht unbedingt im amerikanischen Interesse lagen.
Critchfield dachte im Gespräch mit Herre zunächst daran, Gehlen mit einem
Schreiben zu besänftigen, in dem er ihm bescheinigen wollte, dass die Beschaf­
fung der Org personell bestens besetzt sei und die Operationen auf allen Ebe­
nen hervorragend führe. Es sei aber wünschenswert, die Größe des Unterneh­
mens einzuschränken und auf alle Aktivitäten der Beschaffung zu verzichten,
die sich nicht mit »up to date intelligence« befassen.457 Unter vier Augen mit
seinem Chef hatte Herre wieder einmal Mühe, gegen dessen Resignation zu
argumentieren. Er verlegte sich darauf, dass die Org nur auf finanziellem Gebiet
eine Schwachstelle aufweise. Deshalb sollte man sich bemühen, der Verschlep­
pung einer Annäherung an die Bundesregierung entgegenzuwirken 458
Dabei durfte möglichst kein Fehler passieren. Gehlen hatte bereits in einer
internen Weisung geregelt, wie die Beziehungen zu den Behörden des Bundes
verbessert werden sollten. Er wandte sich gegen allzu eifrige Vorschläge aus
dem Kreis der Mitarbeiter für Sonderverbindungen. Nur die Führung habe ein
Gesamtbild und müsse darauf bedacht sein, dass nicht nach außen bekannt
werde, welche Verbindungen schon bestehen. Es könnten zu wichtigsten Per­

456 Gehlen, Der Dienst, S. 138.


457 Gespräch Critchfield – Herre, 30.11.1949, BND-Archiv, 4313.
458 Notiz vom 4.12.1949, ebd.

612
sönlichkeiten ruhig drei oder vier verschiedene Wege bestehen, die gegenei­
nander abgeschirmt sind. Es werde dann von Fall zu Fall entschieden, wel­
cher Weg benutzt wird. Verhandlungen mit oberen Regierungsstellen würden
ausschließlich durch die Leitung geführt. Um Pannen zu vermeiden, dürften
Besprechungen nur mit Zustimmung der Leitung geführt werden.459
Als ihm Critchfield mitteilte, dass es bei dem engen finanziellen Rahmen
bleiben werde, konnte Gehlen kaum an sich halten. Herre gelang es nur müh­
sam, ihn zu besänftigen. Dabei stellte sich später heraus, dass die Org nach
internen Berechnungen durchaus mit den 125.000 Dollar pro Monat auskom­
men konnte, nicht zuletzt dank eines günstigen Wechselkurses.460 Die Gefühls­
ausbrüche des sonst so beherrscht und kontrolliert auftretenden Gehlen sind
wohl nur als Ausdruck einer stark empfundenen Ratlosigkeit zu verstehen.
Sollte er sich nun wieder stärker den Amerikanern, also jetzt der CIA, unter­
werfen, um seine Org über die Runden zu bringen, oder den Versuch wagen,
sich der Bundesregierung anzubieten? So viel war klar, die Verbindung zu den
Amerikanern blieb so oder so für ihn lebenswichtig.
Ein großes Briefing für General Maxwell D. Taylor, den Kommandanten des
US-Sektors und der alliierten Truppen in Berlin, gab Gehlen in den vorweih­
nachtlichen Tagen des Jahres 1949 die Genugtuung großer Anerkennung von­
seiten des US-Militärs.461 Auch seine anschließende Reise in die Schweiz mit der
Besprechung der Notfallpläne zur Evakuierung des Spitzenpersonals der Org im
Kriegsfall und zur Zurücklassung von Agentengruppen (»Stay behind«) vermit­
telte ihm Bestätigung in einem kleineren Kreis ausländischer Geheimdienstler.
Nach seiner Rückkehr erlebte er jedoch neuen Ärger mit Critchfield, an den
die CIA inzwischen die Entscheidung über die Projektanträge der Org delegiert
hatte. Bei einigen Fragen hatte Washington Entgegenkommen gezeigt. So ver­
zichtete die CIA auf die Nennung von Klarnamen bei der Weitergabe von Infor­
mationen, mit Ausnahme der Personen, die in der Fernmeldeaufklärung tätig
waren. Hier verfolgten die Amerikaner offenkundig die Absicht, diesen wich­
tigen Teil der Org an sich zu ziehen.462 Außerdem verlangte man die Klarna­
men aller bei der Rückkehr von der Org vernommenen ehemaligen deutschen
Kriegsgefangenen, mit der plausiblen Begründung, dass deren Zahl zwangs­
läufig kleiner werde, und um Nachfragen zu ermöglichen, sei die Kenntnis von
Namen und Adressen notwendig. So verständlich die Forderung auch war, so
erlaubte sie doch der CIA den Zugriff auf möglicherweise interessante Quellen.

459 Weisung Gehlens vom 29.11.1949, ebd.


460 Gespräch Herre – Gehlen – Critchfield, 6.12.1949, ebd.
461 Notiz vom 8.12.1949, ebd.
462 Siehe hierzu ausführlich Armin Müller: Wellenkrieg. Agentenfunk und Funkaufklärung
des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968, Berlin 2017.

613
Wenige Tage später fand bei Gehlen eine Sitzung über die Vergabe der
Gelder aus dem internen Welfare-Fonds statt, die Anlass zu Differenzen mit
der CIA gegeben hatte. Dennoch stimmte Gehlen zu, dass aus diesem mit US-
Geldern gespeisten Sozialfonds 10.000 D-Mark der Verteidigung von Angeklag­
ten im Malmedy-Prozess zur Verfügung gestellt wurden,463 was eine ziemliche
Frechheit gegenüber seinem Dienstherrn darstellte, der diesen Prozess gegen
mutmaßliche Kriegsverbrecher der Waffen-SS führte. Critchfield revanchierte
sich mit einem ausführlichen Memorandum, das klärte, wer hier der Chef
war.464 Er habe sich vor sechs Monaten als Vermittler zwischen der Org und
seiner Heimatdienststelle verstanden. Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen,
ganz deutlich über die unterschiedlichen Standpunkte zu sprechen. Man bil­
lige nicht die Eile, mit der Gehlen die offizielle politische Anerkennung durch
die Bundesregierung anstrebe. Weitere Schritte in diese Richtung seien aus­
schließlich eine US-Angelegenheit.
Am 10. November hätten seine Vorgesetzten entschieden, so Critchfield,
dass keine weiteren Gespräche Gehlens mit dem Umfeld von Adenauer statt­
finden sollten. Man habe nichts dagegen, wenn die Kontakte auf der Arbeits­
ebene, zum Beispiel mit der Polizei, angemessen entwickelt werden. Aber man
wolle die vollständige Kontrolle behalten, auch über die eventuelle Weitergabe
von Informationen, die von der Org produziert worden sind, an Dritte.
Dann holte Critchfield aus, um Gehlen von seinem hohen Ross zu holen.
Dieses Projekt sei gestartet worden auf einem Verkäufermarkt des Intelli­
gence-Geschäfts. Produkte, die damals als wertvoll bezeichnet wurden, seien
heute wertlos. Die Zeit des »grand rush to buy everything and anything on
the market«, was über die UdSSR Auskunft geben könnte, sei vorbei. Die Org
müsse nun auf einem Käufermarkt konkurrieren. Hier könne sie nur mit Pro­
fessionalität und Anerkennung in den politischen und Intelligence-Kreisen der
antikommunistischen Welt erfolgreich sein. Critchfield stimmte Gehlens Ein­
schätzung zu, dass die bisherigen Prozeduren ungünstig für die Arbeit außer­
halb Deutschlands seien. Die Operationen müssten aber solide sein. Er habe
Verständnis dafür, dass Gehlen mit einigen der Organisationsleiter Schwierig­
keiten habe. Das werde sich wohl nicht ändern.
Die Aufdeckung der sowjetischen Streitkräfte in der SBZ sei der wertvollste
Beitrag für die westlichen Nationen. Die Auswertungsgruppe für Land- und
Luftstreitkräfte finde höchste Anerkennung und sei die wohl beste Analyse­
gruppe für die sowjetische order of battle. Er glaube, dass die Aufklärung in die
Satellitenstaaten hinein das beste Pfund sei, mit dem man wuchern müsse. Er

463 Notiz vom 19.12.1949, BND-Archiv, 4313.


464 Memorandum Critchfields, 21.12.1949, BDN-Archiv, 1112, Blatt 255-259.

614
habe aber gerade in den letzten Tagen zahlreiche Rückläufer aus Washington
gehabt, zum Beispiel Meldungen über die Tschechoslowakei, die nicht über­
zeugt hatten. Es bestehe der Eindruck, dass die Org inzwischen viele Aktivitäten
entfalte, die für den Auftraggeber uninteressant seien. Das werde man bei den
anstehenden Verhandlungen für das Budget für 1950 berücksichtigen müssen.
Andere westliche Geheimdienste seien jedenfalls angesichts der allgemei­
nen Stabilisierung in Europa dabei, ihr Personal zu reduzieren. Das könne
auch der Org zugemutet werden. Schwer verständlich sei besonders die For­
derung Gehlens nach völliger Unabhängigkeit der Außenorganisation. Das
zeige sich etwa an dem besonders komplizierten Verhältnis zur Außenstelle in
Österreich.465 Gehe es darum, die Tür zur österreichischen Regierung offenzu­
halten, oder werde sich die Außenstelle am Ende von der deutschen Org lösen?
Critchfield erteilte die klare Anweisung, sich auf die wichtigsten Operatio­
nen zu konzentrieren, insbesondere auf die Qualität und Sicherheit der Aktivi­
täten in der SBZ.466 Alle Bemühungen zur Erlangung einer Anerkennung durch
die Bundesregierung und Kontakte zu ausländischen Diensten seien zu been­
den. Die Org solle sich auf Informationsbeschaffung konzentrieren. Forschun­
gen und Studien seien zu minimieren. Alle Bereiche seien anzuhalten, weitere
Bestrebungen zum Ausbau ihrer Arbeit und zur Ausdehnung auf kosteninten­
sive Projekte zu unterlassen. Das war eine schwere Ohrfeige für Gehlen, der
sich anderes erhofft haben dürfte.
Er konnte diese Direktiven nicht völlig ignorieren und musste sich beugen.
So ließ er zum Beispiel die »Professoren-Gruppe« abschalten, seine Spezialis­
ten für die Russlandpolitik.467 Ihm blieb eine noch immer starke Truppe von
2700 Mann, davon 600 hauptberufliche Mitarbeiter, ein Stabspersonal von
250 Personen sowie 1850 Agenten, Kuriere etc. Die Aufschlüsselung seiner
wichtigsten Mitarbeiter in der Zentrale und den Außenstellen bestätigt die
nicht unproblematische, aber letztlich erfolgreiche Mischung von 35 Prozent
ehemaliger Offiziere und 28 Prozent früherer Mitarbeiter der Abwehr (hinzu
kamen 17 Prozent ehemalige Verwaltungsoffiziere und 20 Prozent andere).
Nach der damaligen internen Bewertung waren 74 Prozent davon keine Mit­
glieder der NSDAP gewesen (hauptsächlich die Offiziere), die restlichen 26 Pro­
zent galten als entnazifiziert.468
Auf sie alle glaubte sich Gehlen verlassen zu können. Sie waren ihm von
vermeintlich zuverlässigen Mitarbeitern empfohlen worden, teils hatte er

465 Siehe hierzu Michael Mueller und Peter F. Müller: Gegen Freund und Feind. Der BND.
Geheime Politik und schmutzige Geschäfte, Reinbek 2002.
466 Siehe hierzu demnächst ausführlich Heidenreich, Die Spionage des BND in der DDR.
467 Notiz vom 31.12.1949, BND-Archiv, 4313.
468 Graphiken zum Personal (1949), BND-Archiv, 1112, Blatt 263-270.

615
Rudolf Augstein (links) mit
Verleger John Jahr, 1952

sich selbst von ihnen gesprächsweise ein Urteil verschafft. Letztlich setzten
sich allzu oft Kameraderie und Spezlwirtschaft durch, was Gehlen mit der oft
beschworenen Auftragstaktik sowie mit der angeblichen Menschenkenntnis
und Führungsstärke seines Leitungspersonals kaschierte. Hier sah er die Ver­
antwortung für Auftragserfüllung, Schulung und »Indoktrination« der Mitar­
beiter, nicht bei sich selbst. Nur so glaubte er sich ganz auf den politischen
Raum konzentrieren zu können, in dem sich die Org behaupten und bewähren
musste.
Bei der Verfolgung seines Ziels, den Übertritt in deutsche Dienste vorzube­
reiten, fiel es ihm schwer, die Bremsmanöver Critchfields und die Warnungen
Heusingers vor einem allzu schnellen Vordringen zu akzeptieren. Er setzte dar­
auf, seinen »Aufmarsch« vor dem Kanzleramt zu verbreitern und abzusichern.
Deshalb erteilte er seinem Vertrauten Oberst i. G. Hans-Heinrich Worgitzky
den Auftrag, eine Verbindung zum Spiegel aufzubauen. Ziel sollte es sein, ein
gutes Verhältnis mit dem Chefredakteur Rudolf Augstein, ehemaliger Artille­
riebeobachter und Leutnant der Reserve, sowie dem Redaktionsstab des poli­
tisch einflussreichen Wochenmagazins aufzubauen.469 Direkt ins Zentrum der
neuen, wenn auch noch schwachen Machtzentrale zielte das Interesse an der
Ernennung von Hans Globke zum Ministerialdirigenten für innere Angelegen­
heiten beim Bundeskanzler. Es war der Beginn einer lebenslänglichen engen
Zusammenarbeit, ohne die Gehlen den späteren Bundesnachrichtendienst

469 Nach Angabe von Worgitzky erhielt er den Auftrag Anfang 1950, erwähnt in seinem
Schreiben an Gehlen, 8.4.1952, BND-Archiv, N 23/1. Siehe dazu demnächst ausführlich
Henke, Geheime Dienste.

616
Rudolf Augstein in Wehrmachts­
uniform, 1943

nicht hätte gründen und über alle Klippen hinweg bis zu seiner Pensionierung
prägen können.
In den ersten Tagen des Entscheidungsjahres 1950 vergewisserte sich
Herre bei Mellenthin, dass es zu Globke bereits eine Verbindung gab, aber
keine Unterlagen oder Ansatzpunkte vorlagen.470 Eine andere Annäherung
wollte Gehlen über die SPD erkunden und diskutierte darüber mit Critchfield
anhand einer langen Liste von persönlichen Verbindungen der Org.471 Bei aller
Sorge vor einer kommunistischen Unterwanderung der Sozialdemokratie
glaubte er doch, die stärkste Oppositionspartei in irgendeiner Weise einbin­
den zu müssen, zumal er davon ausging, auf diese Weise auch die Regierung
des britischen Labour-Premiers Clement Attlee gewinnen zu können. Critch­
field blieb besorgt, dass die Reisen Gehlens und seiner Emissäre nach Bonn
zu aufdringlich geworden sein könnten.472 Gehlen müsse damit rechnen, dass
sowohl linksliberale Amerikaner und jüdische Emigranten als auch die SPD
und die Briten bei Bekanntwerden der Pläne sich gegen die Org wenden wür­
den. Die Weitergabe von Erkenntnissen der Spionageabwehr sei unter den
gegebenen Umständen gefährlich, weil die SPD sagen werde, die Amerikaner
hätten eine neue Gestapo aufgezogen. Critchfield nahm aber an, dass Kurt
Schumacher als SPD-Vorsitzender und Oppositionsführer zumindest die
Auslandsaufklärung akzeptieren würde, allerdings nicht die Gegenspionage,
soweit sie über den Eigenschutz der Org hinausging. Der Amerikaner emp­

470 Notiz vom 4.1.1950 (im Original falsch datiert), BND-Archiv, 1110, Blatt 25.
471 Gespräch Gehlen – Critchfield, 6.1.1950, Namensliste von 9.1.1950, BND-Archiv, 4314.
472 Gespräch Gehlen – Critchfield, 10.1.1950, ebd.

617
fahl, dass die Org weiterhin politisch kurztreten und so unpolitisch wie mög­
lich agieren solle.
Auch bei der seit Monaten umstrittenen Finanzierung der Projekte verhielt
sich Critchfield keineswegs so engherzig, wie ihm Gehlen immer wieder unter­
stellte. Aber leicht ließ er sich das Geld für das neue Unternehmen »Bohemia«
nicht abtrotzen, das Gehlen bereits genehmigt hatte. Die für die Tschechoslo­
wakische Republik (CSR) zuständige Dienststelle machte sich Hoffnungen, den
Prager Generalstab ausspähen zu können, und beklagte, dass die CIA zu wenig
an militärischen Aufklärungszielen interessiert sei und die deutsche Arbeit
gegen die CSR zu unterminieren versuche. Dass die CIA derzeit die deutsche
Aufklärung gegen die UdSSR fördere, folge opportunistischen Gründen. Nach
einem gewonnenen dritten Weltkrieg, so wurde intern argumentiert, werde
die Siegermacht USA nicht daran interessiert sein, dass ein wiedererstarktes
Gesamtdeutschland mit einem demokratischen Russland als Kapellmeister
im europäischen Konzert wirken könnte. Man werde sich an Yorck,473 Seeckt,
Seydlitz-Kurzbach, Paulus und den Rapallo-Vertrag erinnern und die CSR wie
früher als einen »kleinen Entente-Staat« behandeln, das heißt als Rückversi­
cherung gegen einen etwaigen deutschen Expansionsdrang.474
Gegen solche nationalistischen Machtfantasien einiger Mitarbeiter war Geh­
len immun. Er musste sich ganz alltäglichen Problemen stellen, um die zentri­
fugalen Kräfte seiner Org zu bändigen. Von Heusinger und Speidel erhielt er den
Rat, nicht zu schnell »amerikanischen Boden« zu verlassen und keineswegs
übereilt mit der deutschen Regierung zu verhandeln. Auf der anderen Seite ver­
langte Critchfield ein »clean house« als Grundlage für die Fortführung der Bezie­
hungen. Dazu gehöre eine – offenbar noch immer nicht erfolgte – vollständige
Unterrichtung über den Fall Baun. Nach der Wahrnehmung von Herre hatte der
Amerikaner den Eindruck, dass Gehlen versuche, gewisse Dinge zu verschleiern.
Die bisher unter der Decke gehaltene Affäre Baun konnte Gehlen, nachdem
er sich endgültig gegen Baun entschieden hatte, eigentlich problemlos offen­
baren. Sein ausführliches Memorandum zur Unterrichtung Critchfields zeigt
Charakteristika, die etwas über seine eigene Urteilsfähigkeit und Selbstein­
schätzung verraten.475 Das Sündenregister Bauns und dessen eingestandene
Verfehlungen leitete Gehlen mit einem vernichtenden Psychogramm ein. So

473 Generalfeldmarschall Graf Ludwig Yorck von Wartenburg hatte am 30.12.1812 die Kon­
vention von Tauroggen unterschrieben. Damit schieden preußische Truppen aus der
Allianz mit Napoleon aus und leiteten damit den Wechsel Preußens in die Allianz mit
Russland ein.
474 Vertrauliches Memorandum von 31/1 (Schenk) an Leiter 31 (Beschaffung, Graber),
6.1.1950, ebd.
475 Memorandum Gehlens vom 31.1.1950, ebd.

618
führte er an, dass Baun aus kleinen Verhältnissen stamme und zeitlebens einen
Kampf um Anerkennung geführt habe, dem ein nach außen nicht sichtbarer
Minderwertigkeitskomplex zugrunde liege. Der Mann verspüre einen Hass auf
alle, die er als geistig überlegen und gesellschaftlich unerreichbar einschätze,
wenn sie sich nicht seinen Zwecken und Zielen unterordneten.
Vor allem verwies Gehlen auf Bauns russlanddeutsche Herkunft. Durch
seine Tätigkeit im russischen Bereich hätten sich Bauns Maßstäbe dafür, wel­
che Mittel moralisch erlaubt sind, stark verschoben.

Im Laufe der Jahre bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß er nicht nur
durch seine Tätigkeit sich weitgehend die östliche Mentalität angeeignet
hat, sondern daß er wahrscheinlich auch nach Herkunft – er ist in Odessa
geboren – Russe mit allen positiven und negativen Eigenschaften des Rus­
sentums ist. Jedenfalls ist es mir leichter geworden, seine Reaktionen vor­
auszuberechnen, seit ich ihn als Russen betrachte und eine entsprechende
Mentalität zugrunde lege.

Schon während des Krieges hätte es sich gezeigt, »dass ihm – wie häufig den
Russen – die Fähigkeit, zu organisieren und seine fast immer sehr guten, phan­
tasievollen Ideen in eine sehr klare und exakte Führung umzusetzen, fehlte«.
Im kleinen Rahmen verwendet, sei er der fähigste Agentenführer im russischen
Bereich.

In seiner Persönlichkeit, wie bei allen Russen, liegt auf der gefühlsmäßigen
Seite eine sehr starke Note, stärker wie beim Europäer, was durch die der rus­
sischen Seele eigene Zwiespältigkeit stark unterstützt wird. Seine russische
Mentalität und seine lange Arbeit im russischen Raum gegen den damali­
gen NKWD haben es ihm zur zweiten Natur werden lassen, nicht geradeaus,
sondern um die Ecke zu denken. Jedes gesagte Wort ist nicht ohne weiteres
bar zu nehmen, wie es gesagt wird, sondern verfolgt einen wohlberechneten
bestimmten Zweck. Damit Hand in Hand geht eine außerordentliche Treffsi­
cherheit in der psychologischen Beurteilung und Beeinflussung seines jewei­
ligen Kontrahenten, insbesondere, wenn es sich um Russen oder Angehörige
von Ostvölkern handelt. Je westlicher die Mentalität seines Gesprächspart­
ners ist, umso geringer wird seine Geschicklichkeit, mit ihr fertig zu werden.

Kurz zusammengefasst sei

BAUN eine Persönlichkeit mit typisch russischen Charakterzügen, ohne gro­


ßen Wurf des Denkens, aber mit hervorragendem Gedächtnis, guter Kombi­
nationsgabe, reicher Phantasie und großem psychologischen Einfühlungs­

619
vermögen ausgestattet. Ein im Grunde kleiner Mann mit gewissen genialen
Zügen, aber auch mit einem gewissen leicht pathologischen Einschlag. Cha­
rakterlich nach unseren deutschen Begriffen nicht einwandfrei, nicht gerade
und offen, skrupellos in der Wahl der Mittel, wenn auch stets auf den Schein
bedacht.

Die eingehende Schilderung der Persönlichkeit sei notwendig, so Gehlen,


um zu verstehen, warum das Problem »einer ausgereiften, logischen Lösung
zugeführt werden mußte, welche das Unrecht hundertprozentig auf seine
Seite schob«.476 In einer jetzt zweijährigen »Abkühlungsperiode« habe er sich
bemüht, »BAUN zwar auszuschalten, aber psychologisch so an der Strippe zu
halten« mit der Hoffnung auf eine spätere Wiederverwendung, dass mit einem
loyalen Verhalten zu rechnen sei.
Gehlen präsentierte sich also taktisch geschickt als ein Verantwortungs­
ethiker. Ob damit auch seine persönliche Entscheidungsschwäche schöngere­
det werden sollte, bleibt offen. Er bat jedenfalls Critchfield formell um Zustim­
mung zu der völligen Abschaltung Bauns – wieder eine ihm abgezwungene
Konzession, denn in seinem Selbstverständnis lagen Personalentscheidungen
bei ihm als Chef der Org. Baun starb wenige Monate später an Lungenkrebs.
An seinem Begräbnis nahm auch Gehlen teil, mit dem für Bauns Anhänger
erkennbaren Gefühl, froh über dessen Ableben zu sein. Dabei, so die Erin­
nerung von Graber, sei es doch Baun gewesen, der »mit seinem fanatischen
Einsatzwillen die ND-Beschaffung im zertrümmerten Deutschland« aus dem
Boden gestampft hat.477
Tatsächlich hätte Gehlen ohne den Beschaffungsapparat von Baun in der
neuen Situation Anfang 1950 ganz anders dagestanden. Es hätte nur die takti­
sche Lagefeststellung gegenüber der Roten Armee bestanden, die sein ehema­
liger Chef Heusinger für sich nutzte, um sich als vorübergehender Leiter der
Auswertung bei Gehlen mit eigenen operativen Studien als künftiger General­
stabschef einer neuen deutschen Armee ins Spiel zu bringen. Heusinger hatte
in den vergangenen Wochen Überlegungen zu Papier gebracht, wie im Falle
eines sowjetischen Vorgehens gegen den Rhein der Alpenraum als Flankenpo­
sition genutzt werden könnte, um einen wirksamen Gegenschlag nach Norden
zu führen.478 Er bewegte sich damit im Rahmen der amerikanischen Disposi­

476 Ebd., Blatt 4.


477 Erinnerungen Grabers, S. 147, BND-Archiv, N 4/15.
478 »Die Bedeutung des Alpengebietes im Fall eines kriegerischen Ost-West-Konfliktes«
(1949), zit. nach: Meyer, Heusinger, S. 371-372. Zur späteren NATO-Planung für diesen
Raum siehe Dieter Krüger: Brennender Enzian. Die Operationsplanung der NATO für
Österreich und Norditalien 1951 bis 1960, Freiburg 2010.

620
tionen, die sich auf eine Verteidigungslinie am Rhein stützten. Heusinger lag
daran, das nahezu schutzlose Gebiet Westdeutschlands nicht einfach preis­
zugeben und ein Verteidigungskonzept zu entwickeln, das es trotz zahlenmä­
ßiger Unterlegenheit dem Westen ermöglichen könnte, einen sowjetischen
Angriff abzuschlagen und damit ein Abschreckungspotenzial vorzuhalten, das
Moskau von einer kriegerischen Initiative abhalten würde.
Dazu entwickelte Heusinger in einer weiteren Studie über »Die Verteidi­
gung Westeuropas« strategisch weiterführende Überlegungen, die auf Erfah­
rungen des früheren Chefs der Operationsabteilung im OKH und seines dama­
ligen Gruppenleiters Gehlen basierten.479 Die Verteidigung Westeuropas dürfe
nicht in »rein defensiver Form« geführt werden. Es müssten vielmehr »von
vornherein alle Gedanken darauf ausgerichtet sein, den Sowjets, wo immer
es geht, von Anfang an offensiv gegenüber zu treten«, jetzt vornehmlich mit
Luft- und Seestreitkräften, um ein einfaches Überrennen Europas mit den
sofort bereitstehenden 22 sowjetischen Divisionen zu verhindern. Heusinger
wollte also einerseits die Amerikaner in die Pflicht nehmen und einen Rück­
zug hinter den Rhein verhindern, was Deutschland den Sowjets ausliefern
und zum Hauptschlachtfeld machen würde; andererseits lieferte er damit die
Begründung, einsatzfähige Landstreitkräfte in ausreichender Zahl für ope­
rative Aufgaben in Mitteleuropa zur Verfügung zu halten, was nach Lage der
Dinge ohne einen beträchtlichen deutschen Beitrag kaum denkbar erschien.
Von Heusinger stammte der für die deutsche Haltung zum strategischen Kon­
zept der NATO prägende Gedanke, das Risiko für die Sowjets immer mehr zu
vergrößern und so einen Krieg überhaupt zu verhindern.
Von Heusingers strategischen Planungen, die nicht zum originären Auf­
gabenfeld des Geldgebers CIA gehörten, profitierte Gehlen, derzeit formell
Vorgesetzter von Heusinger, kaum. Sein Anteil bei der Planung einer neuen
»Alpenfestung« bestand darin, mit den Schweizern die Fluchtwege für seine
Org festzulegen, um im Konfliktfall die Führung der militärischen Aufklärung
gegen die Rote Armee aus sicherer Distanz übernehmen zu können. Das war
gleichsam die Fortsetzung seiner früheren Tätigkeit bei FHO, nicht mehr.
Wobei, solange keine sichere Verbindung zur Bundesregierung bestand, unsi­
cher war, ob er diese Aufgabe am Ende in amerikanischer Uniform oder zumin­
dest als Hilfstruppe für das US-Oberkommando übernehmen müsste.
Seiner Neigung und beruflichen Erfahrung gemäß hätte sich Gehlen in
dieser Situation eigentlich persönlich stärker in die Remilitarisierungsbestre­
bungen einbringen müssen. Doch diesen Zug hatte er längst verpasst, weil ihn
Critchfield an kurzer Leine führte. Der Aufbau neuer deutscher Streitkräfte

479 »Die Verteidigung Westeuropas«, zit. nach: Meyer, Heusinger, S. 372 – 374.

621
Die Macher der Wiederbewaffnung: Adolf
Heusinger, Theodor Blank, Hans Speidel
(von links), 1956

lief bereits über Heusinger und den eloquenten, intellektuellen Speidel, denen
Gehlen nicht das Wasser reichen konnte. Auch sein ehemaliger Förderer Hai­
der, der schon länger selbst mit seiner Historical Division für die Amerikaner
arbeitete und als der allseits respektierte Grandseigneur des früheren deut­
schen Heeres galt, sah offenbar in seinen Protegé nicht mehr das operative
Talent, sondern den fleißigen, begabten Zuarbeiter auf einem bestimmten
Gebiet, jetzt also der Spionage: nützlich, wichtig, aber nicht unbedingt zu
Höherem berufen. Bei einem Treffen, das die Dienststelle 35 (Mellenthin) mit
Halder und anderen Generalen Ende Januar 1950 im Opel-Jagdhaus in König­
stein/Taunus arrangierte, um wichtige Fragen der Wiederbewaffnung zu
besprechen, spielte Gehlen keine herausragende Rolle.480
Am 5. Januar 1950 hatten Heusinger, Speidel und Foertsch einen »Bespre­
chungsplan« verabschiedet, der die Fragen und Forderungen, wie sie in der Org
diskutiert worden waren, festhielt. Man hatte sich außerdem darauf geeinigt,
alle Kreise auszuschalten, deren Gedanken in eine »uns unerwünschte Rich­
tung gehen«, sowie die Bindung an die Org zu gewährleisten.481 Das konnte nur

480 Zum Treffen siehe ebd., S. 386 – 391.


481 Siehe Agilolf Keßelring und Thorsten Loch: Der »Besprechungsplan« vom 5. Januar 1950.
Gründungsdokument der Bundeswehr? Eine Dokumentation zu den Anfängen west­
deutscher Sicherheitspolitik, Historisch-Politische Mitteilungen 22 (2015), S. 199-229,
hier S. 184.

622
Gehlen garantieren. Damit hatte sich ein Triumvirat gebildet, das sich als künf­
tige militärische Führungsspitze anbot. Speidel übergab das Papier einen Tag
später beim Dreikönigstreffen der FDP an Wohnungsbauminister Eberhard
Wildermuth. Der ehemalige Oberst d. R. war vom Kanzler beauftragt worden,
die Koordinierung der mit einer Wiederbewaffnung zusammenhängenden
Fragen zu übernehmen.482 Am 11. Januar 1950 lag das Angebot an Speidel vor,
Militärberater bei Adenauer zu werden. Nach Rücksprache mit Heusinger, der
auch Critchfield informierte, stimmte Speidel zu.483
Die Verabredung, unerwünschte Kreise auszuschalten, zielte auf den
ehemaligen General der Panzertruppe Hasso von Manteuffel, der schon im
November 1949 ein Memorandum zur Remilitarisierung über andere Perso­
nen an Adenauer geleitet und diesem in einem persönlichen Gespräch vor­
geschlagen hatte, einen Stab von 40 Offizieren zu bilden.484 Manteuffel war
eine »Sonderverbindung« der Dienststelle 35 und brachte die dort vertrete­
nen Auffassungen der Org zum Ausdruck. Er lehnte allerdings die Offiziere
des 20. Juli kategorisch ab. Anfang Januar war er aufgefordert worden, seine
Vorschläge erneut vorzulegen. Manteuffel repräsentierte eine andere Gene­
ralsgruppierung, zu der auch der ehemalige Waffen-SS-General Felix Steiner
gehörte. Noch lief der Versuch, einen Schulterschluss der Gruppen Spei­
del und Manteuffel zu erreichen. Doch da sich Manteuffel darauf beziehen
konnte, ebenfalls eine Berufung zum Militärberater des Kanzlers erhalten zu
haben, war Handeln geboten, wollte man verhindern, dass Speidel womöglich
dem ranghöheren Manteuffel unterstellt würde. Ein Artikel in der New York
Herald Tribune kam zu Hilfe und führte zu einem Eklat durch die Meldung
»Ex General advises Adenauer«.485 Sie bezog sich auf Manteuffel und brachte
ihn mit einer ominösen »Bruderschaft« von reaktionären Offizieren in Ver­
bindung, die durch die Presse geisterte. Die sogenannte Manteuffel-Affäre
bedeutete für die Bundesregierung kurzzeitig einige politische Schwierigkei­

482 Siehe dazu jetzt ausführlich Agilolf Keßelring und Thorsten Loch: Himmerod war nicht
der Anfang. Bundesminister Eberhard Wildermuth und die Anfänge westdeutscher
Sicherheitspolitik, Militärgeschichtliche Zeitschrift 74 (2015) 1/2, S. 60-96.
483 Notiz vom 11.1.1950, BND-Archiv, 4314. Das Angebot wurde von Peter Pfeiffer übermit­
telt, dem Leiter des Friedensbüros in Stuttgart. Dieser wechselte wenige Wochen später
ins Auswärtige Amt, zuständig für Forschung und Planung.
484 Der über Blankenhorn an Adenauer übergebene Brief Manteuffels datiert vom
19. November 1949 und ist nach Auffassung von Keßelring, Die Organisation Gehlen,
S. 165, das Ergebnis der »großen Aussprache« in der Org, an den Kanzler herangebracht
als die Sicht »des Militärs«. Manteuffel erwähnt das Gespräch in einer Aktennotiz vom
26. Februar 1950; siehe ebd., S. 199.
485 14.1.1950, BND-Archiv, 4314.

623
ten. »Doktor Schneider« ließ einen geplanten Besuch Heusingers bei Man­
teuffel sofort stoppen.486
Critchfield vertraute auf Heusinger, der die Panne damit erklärte, dass Man­
teuffel nicht rechtzeitig von seiner Direktive zur Zurückhaltung informiert
gewesen sei. Speidel solle das mit Manteuffel klären.487 Man war sich einig,
dass Manteuffel gebremst und Speidel nach oben gespielt werden müsse. Spei­
del ließ sich freilich auf Anregung des Verlegers von Christ und Welt sowie des
Schriftleiters des Spiegel zu einem Pressegespräch mit dem Geschäftsführer
der »Bruderschaft« verleiten, Major i. G. a. D. Helmut Beck-Broichsitter – dem
ehemaligen Ia der Panzergrenadier-Division »Großdeutschland«. Das sorgte
ebenfalls für Wirbel in der Presse und zwang Heusinger dazu, gegenüber
Critchfield dessen Bedenken, ob Speidel vielleicht nicht doch ein Mitglied der
»Bruderschaft« sei, zu zerstreuen.488
Die Generalsquerelen mögen Gehlen darin bestärkt haben, seine eigenen
Ambitionen niedriger zu hängen. Er kümmerte sich jedenfalls unverdrossen
um seine persönlichen Kanäle nach Bonn. Critchfield erfuhr davon, dass Hei­
nemann und sein Staatssekretär Ritter von Lex zu Adenauer gehen wollten,
um mit ihm über die Probleme der Organisation Gehlen zu reden.489 Der Ame­
rikaner erinnerte Gehlen daran, dass man warten sollte, bis McCloy mit dem
Kanzler gesprochen habe. Gehlen erklärte dagegen, er werde einen Vertrau­
ensmann zu Vizekanzler Blücher schicken, um zumindest ihn zu informieren,
worauf Critchfield »wie versteinert« wirkte. Er musste erkennen, dass Gehlen
in dieser Sache nur schwer zu bremsen war.
Der Besuch von Gordon Stewart, Critchfields Vorgesetztem in Karlsruhe,
bot wenige Tage später die Gelegenheit, nicht nur Hauptprobleme der weite­
ren Entwicklung der Org zu besprechen,490 sondern Gehlen auf die politischen
Implikationen hinzuweisen. Es ging um den Ärger, der durch Meldungen ent­
stünde, die US-Regierung suche die Annäherung an ehemalige Wehrmachtge­
nerale. Die Bemühungen Gehlens, an die deutsche Regierung heranzukommen,
sollten nur über McCloy laufen, der darüber zuvor mit den Briten sprechen
müsse. Auch die Einschaltung der SPD sei erforderlich, um die Schritte abzu­
sichern. Die Org dürfe nicht dazwischenschießen oder vorprellen. Critchfield
kommentierte anschließend den Besuch seines Chefs: Die Org solle lieber ihre

486 Tagebuch Herre, Eintrag 18.1.1950, S. 99-100, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
487 Ebd., Eintrag 16.1.1950, S. 99.
488 Ebd., Eintrag 3.3.1950, S. 131.
489 Notiz vom 18.1.1950, BND-Archiv, 4314.
490 Dazu Memorandum vom 21.1.1950, BND-Archiv, 1112, Blatt 271-277. Zum Gespräch
mit Stewart siehe Notiz vom 23./24.1.1950, BND-Archiv, 4314.

624
nachrichtendienstliche Professionalität verstärken. Damit sich die Amerika­
ner davon überzeugen könnten, sollte Gehlen die Operationsakten fotokopie­
ren lassen und nach Washington schicken.
Das war für den »Doktor« sicher wieder einmal starker Tobak. Kein Wun­
der also, dass sich Heusinger dieser Tage bitter darüber bei Herre beklagte, er
werde von Gehlen nicht mehr zum Vortrag empfangen.491 Dieser hatte offen­
sichtlich dringlichere Probleme, als sich auch noch persönlich in die Remilita­
risierung einzuschalten. Um sich den Rücken für seine eigenen Ambitionen in
Richtung Bonn freizuhalten, musste er sich darauf verlassen, dass nicht nur die
Auswertung, sondern auch die Beschaffung weitgehend selbstständig arbei­
tete. Deren Arbeitsrichtlinien für das laufende Jahr hielten daran fest, dass
die gesamte militärische Aufklärung, das »Rückgrat« der Org, erste Priorität
besaß. Die angestrebte Verstärkung der Aufklärung in den Satellitenstaaten
dürfe nicht zulasten der SBZ gehen. Man stellte sich darauf ein, dass es zu
einem möglichen Abzug sowjetischer Truppen aus dem SED-Staat kommen
könne und wollte sich darauf vorbereiten, deren Verlegung und Verbleib über­
wachen zu können. Danach müsste dann die Aufklärung bei der ostdeutschen
Volkspolizei verstärkt werden. Intern räumte man ein, dass die Meldungen zur
order of battle im vergangenen Jahr lediglich genügend bis gut gewesen seien.492
Verbesserungen waren also erforderlich – Critchfield mit seinen Beschwerden
hatte also keineswegs unrecht.
Das war eine Ebene, um die sich Gehlen schon gar nicht mehr vorrangig
kümmerte. Wichtiger für sein eigenes Fortkommen war es, dass er Critchfield
Material liefern konnte, das zur Abdeckung von Globke diente, den die Ameri­
kaner auch gegen den Vorwurf der Beteiligung an der Auslegung der Nürnber­
ger Rassegesetze schützen wollten.493 Damit freilich war Gehlen überfordert,
denn der Tatbestand an sich ließ sich nicht leugnen.
Er suchte fieberhaft nach Anknüpfungspunkten zu Adenauer, auch und
gerade im katholischen Milieu. So führte er Anfang Februar 1950 ein ausführ­
liches Gespräch mit dem CSU-Politiker Dr. Gerhard Kroll, der die Leitung des
neu gegründeten Instituts zur Erforschung des Nationalsozialismus (heute:
Institut für Zeitgeschichte München/Berlin) übernommen hatte.494 Kroll
galt als ultrakatholischer Hardliner und gut vernetzt. Er bestätigte Gehlen,
dass es in höheren Gesellschaftsschichten der USA eine gewisse Anfälligkeit
für den »Kulturbolschewismus« gäbe. Die amerikanische Mentalität sei mit

491 Notiz vom 4.2.1950, BND-Archiv, 4314.


492 Richtlinien vom 6.2.1950, BND-Archiv, N 1/4.
493 Notiz vom 7.2.1950, BND-Archiv, 1110, Blatt 33.
494 Aktennotiz über die Besprechung Kroll – Gehlen, 8.2.1950, BND-Archiv, 120002_0427-
437. Siehe dazu auch Sälter, Phantome, S. 55.

625
der europäischen nicht ohne Weiteres kompatibel. Um den Kampf gegen den
Bolschewismus zu verstärken, sollte, so meinte Kroll, Europa besser auf der
alten Reichsidee aufgebaut werden. Dazu bedürfe es einer deutsch-französi­
schen Verständigung und einer Remilitarisierung Deutschlands. Im Innern
sollte man die KPD ausschalten und den Staat umbauen. Ein Verbund der
Forschungs- und Informationseinrichtungen könnte den Prozess begleiten.
Gehlen hielt sich bei dieser allgemeinen politischen Tour d’Horizon zurück,
die zwar in sein Weltbild passte, aber es war nicht der Punkt, der ihn augen­
blicklich interessierte.
Unter Verschiedenes brachte er sein Thema ins Spiel, die Frage nach dem
Aufbau eines Verfassungsschutzes. Gehlen nahm offenbar an, dass die Schaf­
fung einer neuen Behörde seinen Spielraum erweitern könnte, um mit Bonn
ins Gespräch zu kommen. Die Aussichten der Remilitarisierung gestalteten
sich vorerst mit ungewissen Perspektiven. Noch hatte Adenauer kein eigenes
Militär. Er brauchte dieses Projekt, um mit den Westalliierten über die Rückge­
winnung der deutschen Souveränität verhandeln zu können. Der Verfassungs­
schutz hingegen folgte dem Bedürfnis nach Absicherung gegen eine kommu­
nistische Unterwanderung, und es lag auf der Hand, dass Gehlen die Chance
witterte, mit seinen Fachleuten hier Fuß fassen zu können. Kroll verwies auf die
Ressorteifersucht des Bundeskriminalamts, das sich des Verfassungsschutzes
bemächtigen wolle, und auch vom Innenministerium seien Schwierigkeiten zu
erwarten. Es sei beim Angebot von Mitarbeitern der Org eine sehr überlegte
eigene Personalpolitik erforderlich. Kroll sah außerdem das Problem, dass
die Zusammenarbeit mit fremden Mächten, also auch Gehlens Kooperation
mit den Amerikanern, formell als Hochverrat bewertet werden könnte. Man
müsste daher den entsprechenden Paragrafen prüfen.
Zurück in Pullach, ließ Gehlen ein ausführliches Memorandum für Critch­
field mit »Gedanken über künftige Beziehungen zu fremden Nachrichten­
diensten« erarbeiten.495 Neben der Eröffnung von Wegen nach Bonn war ihm
das Freihalten eigener Kontakte zu anderen Nachrichtendiensten wichtig. Bei­
des miteinander zu verbinden schien der Königsweg zu sein, um die Abhängig­
keit von den Amerikanern vorsichtig zu lockern und in Bonn nicht als bloßes
Anhängsel der CIA zu gelten. Jetzt galt es, seine persönliche Skepsis gegenüber
Großbritannien zu überwinden und den Versuch zu machen, Vorbehalte der
Briten gegen ihn persönlich und seine Org zu überwinden. Ausgangspunkt
bildeten wie stets seine politischen Perspektiven, die Entwicklung eines föde­
rativen Zusammenschlusses der europäischen Staaten, in den Deutschland
schrittweise als gleichberechtigter Partner einbezogen werden würde, um

495 Memorandum Gehlens vom 14.2.1950, BND-Archiv, 4314.

626
am Ende in eine größere Staatsschöpfung etwa in Gestalt eines europäischen
Bundesstaates zu münden. Für den deutschen Weg dorthin sei ein fest fun­
diertes Westdeutschland Voraussetzung. Nur auf diesem Weg könne die Org
zunächst in einem deutschen Nachrichtendienst und später dann in einem
europäischen Nachrichtendienst aufgehen. Dafür brauche man sorgfältig
gesteuerte, direkte Querverbindungen zu anderen europäischen Diensten. Im
kleinteiligen Europa überschneide sich nun einmal die Tätigkeit verschiedener
Nachrichtendienste, speziell auch bei der Gegenspionage, sodass gegenseitiger
Informationsaustausch sinnvoll sei.
Seine Beziehungen zur Schweiz, zu Frankreich und Spanien hätten im
Augenblick eine praktische Bedeutung für den Ernstfall. Sie wirkten sich aber
auch außenpolitisch als Segen aus. Speziell die deutsch-französische Verstän­
digung werde, wie von den USA gewünscht, durch die Kooperation der Nach­
richtendienste gefördert. Zeigt sich hier womöglich, dass Gehlen ein Europäer
mit visionärer Kraft geworden war? Eher ist davon auszugehen, dass er die zeit­
genössische außen- und sicherheitspolitische Diskussion aufgriff und immer
wieder für sich in Anspruch nahm, weil er darauf vertrauen konnte, damit auf
Regierungslinie zu liegen. Nicht zuletzt baute er damit möglichen Verdächti­
gungen vor, er könnte in der Kontinuität »großdeutschen« Denkens stehen.
Gehlen beklagte nun, dass er bisher leider keinen Kontakt zu Großbritan­
nien habe, da ihm das von den Amerikanern untersagt worden sei.

Bei allen Vorbehalten, die die meisten Deutschen auf Grund ihrer Erfahrun­
gen den Engländern gegenüber haben, darf nicht übersehen werden, daß wir
alle im selben Boot sitzen und die Herstellung eines guten, freundschaftlichen
Verhältnisses von Deutschland zu England, wenn auch ungleich schwieriger
als die deutsch-französische Frage, so doch beinahe ebenso wichtig ist. Aus
dem eben gesagten ergibt sich sehr anschaulich das von mir immer wieder
herausgestellte, gleichlaufende amerikanische und deutsche Interesse. Eine
Einigung der widerstrebenden europäischen Kräfte kann nur unter einem
gewissen politischen und wirtschaftlichen Druck der Vereinigten Staaten
erfolgen. Damit dieser Druck vorhanden ist, muß jede künftige deutsche
Regierung in den nächsten 20 Jahren an einer Prädominanz der Vereinigten
Staaten in Europa interessiert sein.496

Er glaube, selbst dazu beitragen zu können, das Verhältnis zu den Briten zu


verbessern, wenn man ihm die Erlaubnis gäbe, mit einem britischen Vertreter
zu sprechen, der so von ihm einen persönlichen Eindruck gewinnen könnte.

496 Ebd., Blatt 5.

627
Sein Ziel wäre es dabei, die Anerkennung zu erreichen, dass die USA die Org
in einen deutschen Nachrichtendienst überführen werden. Das könnte auch
zur Beseitigung der häufig von missgünstiger Seite verbreiteten Gerüchte
beitragen, es handele sich bei der Org um rein militärische, rechtsgerichtete
Kreise. Solche Kontakte sollten ganz allmählich anlaufen. »Es ist besser und
natürlicher, wenn der Ofen langsam angeheizt wird. Er hält dann auch die
Wärme.«497
Sein Vorschlag lief freilich ins Leere, denn für die Amerikaner blieb Geh­
len nun einmal der nützliche Handlanger, dessen erkennbarer Ehrgeiz, der
künftige europäische Spionagechef zu werden, aus ihrer Sicht nicht nur als
politisch illusionär erscheinen musste, sondern auch als ein Ausdruck von
Gehlens Überschätzung seiner Talente. Critchfield unterrichtete McCloy, der
versprach, in den nächsten Tagen zu Adenauer zu gehen und vorher die Briten
über diesen Schritt zu unterrichten.498 Als zwei Tage später die Frankfurter
Abendzeitung berichtete, dass Gehlen Kandidat für den Posten des Verfas­
sungsschutz-Präsidenten sei, vermutete Herre in Pullach sofort, dass es sich
um einen Querschuss der Briten handeln müsse 499
Er lag damit anscheinend richtig, denn Critchfield erfuhr bei seinem Vor­
gesetzten in Karlsruhe, dass ein großer Kampf mit den Briten wegen der Org
ausgebrochen sei. Gordon M. Stewart meinte, dass damit aber die geplante
Vorsprache bei Adenauer nicht verzögert werde. Beunruhigt blieb Critchfield
allerdings über Gehlens eigensinnige Kontakte mit Ritter von Lex, denn die­
ses Vorpreschen in Adenauers Umgebung konnte unliebsame Störungen her-
vorrufen.500 Gehlen scheint das Gerücht über seine mögliche Verwendung als
Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz zunächst nicht ernst genom­
men zu haben, denn er überlegte bereits, Herre als Verbindungsmann der Org
nach Bonn einzusetzen und in diesem Falle seinen alten Regimentskameraden
Wolfgang Langkau als Nachfolger Herres als Persönlichen Mitarbeiter zu ver­
wenden.501 Critchfield erinnerte sich später: »Wenn es unter den ehemaligen
Offizieren in Pullach einen gab, den ich als Freund Reinhard Gehlens beschrei­
ben würde, so wäre das Oberst Langkau.« Er sei mehr als andere Vertrauter
Gehlens in allen politischen Angelegenheiten geworden und »Doktor der Ope­
rationen«, das heißt Leiter von speziell für Gehlen angelegten nachrichten­
dienstlichen Aktivitäten.502

497 Ebd., Blatt 8.


498 Notiz vom 15.2.1950, ebd.
499 Notiz vom 17.2.1950, ebd.
500 Notiz vom 27.2.1950, ebd.
501 Notiz vom 2.3.1950, ebd.
502 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 121.

628
Was Gehlen in diesen Tagen Anfang März 1950 intensiv beschäftigte, war
die Absicht, seine Org in ein klares Verhältnis zur deutschen Regierung zu brin­
gen und das Bremsen durch die Amerikaner zu lockern. In einem weiteren
Memorandum gegenüber Critchfield über die künftige Entwicklung der Org
bemühte er sich, seine Absicht als sachlich notwendig zu erklären und die
politischen Implikationen herunterzuspielen.503 Es handele sich nicht um eine
Abkehr von ihren bisherigen Ideen, behauptete er. Die Präponderanz der USA
auf dem nachrichtendienstlichen Gebiet in Europa sei auch künftig erforder­
lich, um gemeinsam mit einem deutschen Dienst den Kampf gegen den Kom­
munismus in Europa zu führen. Man brauche aber aus finanziellen Gründen
eine engere Beziehung zu Bonn, sonst müsste man über die Auflösung der Org
sprechen und dann würde ein Wiederaufbau unter gänzlich anderen Bedin­
gungen stattfinden.
Mit dieser Drohung verband Gehlen den Hinweis, dass sich doch die künfti­
gen Interessen der USA auf Gebiete außerhalb der SBZ konzentrieren würden,
während die deutsche Regierung an der politischen und wirtschaftlichen Auf­
klärung in der SBZ sowie an der Spionageabwehr interessiert sein würde. Daher
liege es nahe, die Hauptquelle zur Finanzierung der Org bei der deutschen
Regierung zu suchen. Außerdem sei die sowjetische Penetrierung Westdeutsch­
lands so aktiv, dass Bonn etwas tun müsse. Der Verfassungsschutz sei in Aufstel­
lung und brauche genügend Material. Das müsse die Org liefern, um den verant­
wortlichen Ministern die Augen zu öffnen und sie zu wirksamen Maßnahmen
zu veranlassen. Geschähe das nicht bald, sehe er dem Ausgang des politischen
Kampfes in Deutschland und Westeuropa »sehr skeptisch« entgegen.
Voraussetzung für die Materiallieferung sei allerdings die Legalisierung der
Org, was keine Änderung der Zusammenarbeit mit den USA bedeuten müsste.
Die deutsche Regierung bekäme lediglich ein Bestimmungsrecht in bestimm­
ten Punkten, sodass sie an der Weiterentwicklung und Teilfinanzierung inte­
ressiert wäre. Er habe sich »aus mir selbst heraus gesetzter Verantwortung«
stets auch für die deutschen Interessen eingesetzt. »Mein eigener Standpunkt
würde sich nur dadurch erleichtern, daß mir die dann vorgesetzte Regierungs­
dienststelle einen Teil dieser Verantwortung abnehmen kann.«
Gehlens gestelzte Formulierungen resultierten wohl auch aus seinem
Lavieren zwischen deutschen und amerikanischen Rücksichten. Eine gewisse
Klärung ergab sich aus der Mitteilung, dass Lex ihm tatsächlich den Posten
des Verfassungsschutz-Präsidenten anbot.504 Nun dachte Gehlen daran, Herre

503 Memorandum Gehlens für Critchfield, 6.3.1950, BND-Archiv, 1112, Blatt 307-314.
504 Notiz vom 3.3.1950, BND-Archiv, 4314. Zu diesen Vorgängen in und um Bonn siehe dem­
nächst ausführlich Henke, Geheime Dienste.

629
zu seinem Nachfolger in Pullach zu machen. Doch dieser riet dazu, Gehlen
möge erst einmal eine Nacht darüber schlafen und dann offen mit Critchfield
reden. Herre hatte zusammen mit Heusinger die Sorge, dass ihnen in Pullach
bei einem Weggang von Gehlen die besten Leute angesichts der unsicheren
Perspektiven der Org weglaufen würden. Hiemenz, Schoeller und Kalckreuth
etwa könnten eine sichere Verwendung im Bundesdienst vorziehen.
Da es ernst werden könnte, suchte Gehlen das Gespräch mit seinen beiden
Vertrauten, Langkau und Herre, ob er das Angebot wirklich annehmen sollte,
natürlich nur unter der Voraussetzung, dass er Personal aus Pullach mitbrin­
gen konnte. Dann sprach er mit seiner »Sonderverbindung« Martin Riedmayr
vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz und ließ sich bestätigen,
dass Ritter von Lex das Amt tatsächlich offiziell im Einverständnis mit Innen­
minister Heinemann und mit Wissen von Adenauer anbiete. Dermaßen abge­
sichert, informierte er Critchfield über den Stand der Dinge, der sofort ein
Telegramm nach Washington schickte.505
Die Antwort kam erst eine Woche später. »Ominös« meinte Critchfield,
weder positiv noch negativ. Gehlen solle zunächst einmal eine vollständige
Aufstellung aller seiner bisherigen Kontakte mit Bonn vorlegen. Gesagt, getan,
aber dann deutete Critchfield bei einem weiteren Gespräch an, dass Gehlen
damit rechnen müsse, bei einem möglichen Scheitern des Projekts Verfas­
sungsschutz nicht wieder zur Org zurückkehren zu können.506 Gehlen nahm
die Ankündigung schockiert zur Kenntnis und schickte später Herre noch
einmal vor, um seine Enttäuschung an Critchfield weiterzugeben. Warum die­
ser immer nach seinen Initiativen frage und ob er kein Vertrauen zu Gehlen
habe. Warum eine Rückkehr nicht möglich sein solle? Der Amerikaner verwies
nur allgemein auf Sicherheitsgründe, sein Einwand war also nicht ganz ernst
gemeint. Gehlen hatte sich ins Bockshorn jagen lassen.507
Zwei Tage später traf aus Washington die Nachricht ein, dass Gehlen mit
deutschen Politikern in dieser Angelegenheit direkte Verhandlungen aufneh­
men könne.508 Die USA waren offenbar durchaus geneigt, sich von Gehlen als
Chef der Org zu trennen, was ihnen helfen könnte, die Truppe in Pullach bes­
ser den eigenen Vorstellungen anzupassen und ihren Einfluss zugleich über

505 Notiz vom 6.3.1950, BND-Archiv, 4314.


506 Notiz vom 14.3.1950, ebd.
507 Wie Constantin Goschler und Michael Wala: »Keine neue Gestapo«. Das Bundesamt für
Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek 2015, S. 39, zu der Einschätzung
kommen, Critchfield habe stets seine schützende Hand über Gehlen gehalten, gegen
die Kritik an dem General, ist nicht nachvollziehbar. Critchfield betrieb bald darauf
mehrere Versuche, Gehlen ablösen zu lassen.
508 Notiz vom 16.3.1950, BND-Archiv, 4314.

630
Gehlen auch beim Verfassungsschutz auszuüben. Das war die Ausgangslage
für eine Sitzung der drei Hochkommissare über den künftigen Leiter des Ver­
fassungsschutzes.
Gehlen wurde von Critchfield über die Lage unterrichtet und erhielt die
Zusage voller Unterstützung durch die amerikanische Seite. Die Situation war
für beide Seiten nicht leicht. Nach der Beobachtung von Herre verhielt sich
Gehlen sehr geschickt, zeigte wenig Leidenschaft für das Projekt und einige
Skepsis. Er erklärte seine Bereitschaft, sich am bevorstehenden Wochenende
schon einmal Gedanken über eine Gliederung des Verfassungsschutzes, die
Auswahl des Personals und die Beziehungen zur Org zu machen.509 Nach mili­
tärischem Schema beantwortete er in seiner Studie zunächst die Frage nach
dem Gegner. Fragen nach Demokratie, Rechtsstaat und den historischen
Erfahrungen der Weimarer Republik bzw. den Lehren aus dem Dritten Reich
berührten ihn nicht. Gefährlichster Gegner, so Gehlen, sei der Kommunismus,
da er über einen gut geschulten Apparat verfüge und bedenkenlos alle Mittel
einsetze.510 Ein künftiger polizeilicher Geheimdienst müsse sich allerdings, so
räumte er ein, selbstverständlich auch gegen den Rechtsradikalismus wenden.
Sein Organisationsplan entsprach seinen Erfahrungen bei Wehrmacht und
CIA sowie seinen bisher unerfüllten Wünschen. Der Leiter sollte demnach
unmittelbar dem Staatssekretär des Bundesinnenministeriums unterstehen
und seinen Dienstsitz in Bonn haben. Zu seiner persönlichen Verfügung würde
er eine kleine Zentralgruppe haben, deren eine Hälfte in Bonn den offenen
Teil des Amtes darstellen würde, die andere Hälfte wäre in Frankfurt zu statio­
nieren und würde die getarnten Teile umfassen (Informations- und Auswer­
testelle). Ein Stellvertreter sollte sich hauptsächlich um die Verbindungen zu
den Parteien und zum parlamentarischen Leben kümmern, sodass der Leiter
selbst im Hintergrund bleiben könne. Sein wichtigstes Arbeitsinstrument wäre
eine ihm direkt unterstellte Zentralkartei, außerdem ein technisches Referat
und Verbindungsorgane zu den Landesämtern für Verfassungsschutz. Es sei
eine alte Erfahrung, dass man besser klein anfange und dann die Organisation
aufwachsen lasse.
Er sei in der Lage, anfängliche Lücken aus anderen Quellen zu stopfen, und
werde nur bestes Personal auswählen, sowohl in charakterlicher Hinsicht als
auch bezüglich der fachlichen Eignung. Um ein Eindringen des Gegners zu
verhindern, kämen nur Personen infrage, deren politischer Hintergrund völ­
lig klar sei und die ihren Wohnsitz nach 1945 nicht in der SBZ gehabt haben.

509 Notiz vom 17.3.1950, ebd.


510 Studie Gehlens mit Gedanken zur Frage des Verfassungsschutzes, 18.3.1950, BND-
Archiv, 1110, Blatt 34-40.

631
»Da ich für die Sauberkeit des Amtes verantwortlich zeichnen muss, muss ich
das Recht in Anspruch nehmen, dass jede Einstellung, auch von Hilfspersonal,
meiner persönlichen Zustimmung bedarf.« Hier kamen die eher schlichten
und unreflektierten Merkmale seiner Menschenführung zum Ausdruck: Sau­
berkeit und Ordnung sowie das persönliche Vertrauen durch den Chef.
Gordon M. Stewart, der auch für Pullach zuständige CIA-Beauftragte in
Karlsruhe, schrieb in jenen Tagen eine ziemlich treffende Beschreibung der
Persönlichkeit Gehlens. Nach den jüngsten Erfahrungen mit ihm erstaunt es
nicht, dass er in »Doktor Schneider« eine besondere ideologische Prägung
erkennen wollte, die er aber einzuordnen verstand.511 Gehlen sei hauptsächlich
motiviert durch sein Streben nach persönlichem Erfolg und eigener Sicherheit.
Er habe einen Sinn für Pflichterfüllung, Patriotismus und empfinde Angst und
Hass gegenüber dem Kommunismus. Diese Charakteristik treffe für viele ehe­
malige deutsche Offiziere zu. In Gehlens Fall spiele das aber eine ganz beson­
dere Rolle. Er sei intensiv und selbstbewusst »ideologisch« in seinen Ausfüh­
rungen. Einen überraschend großen Anteil seiner Zeit widme er der Lektüre
und Diskussion über rassische, politische, moralische und religiöse Fragen. Er
halte sich für sehr gut informiert.
Unglücklicherweise führe sein Mangel an akademischer Ausbildung weg
von einem kritischen Urteil, mit dem Ergebnis, dass er manchmal empfäng­
lich sei für aufgewärmte und sorgfältig drapierte Variationen von Faschismus,
korporierter Demokratie und Ähnlichem, die gegenwärtig in Westeuropa so
populär seien. Seine Entscheidung vor Kriegsende, seine Organisation durch
die Zusammenarbeit mit den Westmächten zu retten und für die Amerikaner
arbeiten zu lassen, habe sicher eine Menge zu seiner harten ideologischen Hal­
tung beigetragen. Denn er habe seine Auffassung gegenüber den Amerikanern
und gegenüber seinen deutschen Mitarbeitern rechtfertigen müssen. Seine
politische Position, die er ausgearbeitet habe, sei ziemlich ungewöhnlich. Er
bekenne, für ein vereintes Europa einzustehen, gebaut rund um eine deutsch-
französische Achse, in Kooperation mit Großbritannien und den USA. Geh­
len sei für Sozialreformen, aber nicht für Sozialismus, sowie für eine Revision
der Besatzungspolitik und der Ungerechtigkeiten der Nachkriegszeit, wie die
Kriegsverbrecherprozesse und einige Aspekte der Entnazifizierung.
Er befürworte nicht die Remilitarisierung Westdeutschlands, es sei denn als
Teil einer westeuropäischen Verteidigungsgemeinschaft. Auf dem nachrich­
tendienstlichen Gebiet glaube er, dass ein so kleines Land wie Deutschland
einen vereinten Nachrichtendienst brauche. Die Frage sei jedoch, ob er, wenn

511 Schreiben Stewarts betr. Reinhard Gehlen an Mr. Benjamin Slute, Director of Intelli­
gence US Army, 20.3.1950; in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. I, S. 341-342.

632
er im Amt bliebe, den Interessen der deutschen Regierung dienen und sich
loyal gegenüber den Westmächten verhalten würde.

It is our firm opinion that he would serve Adenauer loyally. As an officer, he


is extremely well disciplined and has a strong respect for properly consti­
tuted authority. He is horrified by the romantic nationalism and indiscreet
behavior of some of his former colleagues. He is not one to become involved
in the cabals of officers and senior bureaucrats. He is cautious in political
matters to a fault.
We think he will take direction well. He is a man of independent mind, more
by force of circumstances than by choice. Adenauer and other senior German
officials will experience no difficulty in handling him.
He will not be an American or Alliied puppet in office. If he thinks that it is in
the German interest to resist the Allies, he will attempt to do so. We are con­
vinced, however, that he is sincerely interested in harmonious cooperation
between the Germans and the Western Allies, and that he is capable of rising
above petty dogmatism when the breed issues at stäke are properly presented
to him. We have always found him to be trustable.
We believe that he will try to avoid becoming involved in party politics. This
does not mean that he is indifferent to politics but, rather, that he is ambi­
tious only as an intelligence official.

Ein Blick auf seine Verdienste zeige, dass seine eindrucksvollste Fähigkeit die
sei, das Überleben seiner Organisation in ihrem Bestand zu sichern. Während
des Krieges sei sie intakt geblieben, trotz der Kämpfe um die Abwehr und das
Reichssicherheitshauptamt. Der Untergang der Abwehr berührte seinen Appa­
rat nicht, obwohl er ein Canaris-Mann gewesen sei. 1945 sei ihm die Konver­
sion zur nachrichtendienstlichen Kooperation mit den USA gelungen. Er habe
nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Besatzungszeit mit einem geeinten
Nachrichtendienst überleben wolle. Ein letztes Wort: Gehlen sei ein Operateur,
das heißt, die Mittel, die er einsetze, seien nicht immer geradeheraus. Wie alle
anderen in seiner Funktion achte er sehr auf die Sicherheit seiner Operationen
und werde, falls notwendig, lügen wie ein Gentleman.
Als Adenauer am 22. März 1950 den Hohen Kommissaren offiziell Gehlen
als Kandidaten für das Amt des Präsidenten des Bundesamts für Verfassungs­
schutz vorschlug,512 traf dieser bereits Anstalten, seinen Wechsel vorzuberei­

512 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, hg. im Auftrag des Aus­
wärtigen Amts von Hans-Peter Schwarz, Bd. 1: Adenauer und die Hohen Kommissare
1949-1951, bearb. von Frank-Lothar Kroll und Manfred Nebelin, München 1989, S. 152.

633
Konrad Adenauer, 1952

ten und eine geordnete Übergabe der Org zu ermöglichen. Im Gespräch mit
Herre entwickelte er die Idee, Heusinger zu seinem Nachfolger zu machen,
Herre sollte Chef des Stabes werden. Er sprach auch mit Heusinger über die
Gesamtsituation, die sein alter Chef mit »Sorgenfalten« kommentierte. Denn
es standen Etatkürzungen von 20 Prozent in Aussicht, weil die Amerikaner
künftig die Dollarzuweisung an den Wechselkurs binden wollten, was in den
Auswirkungen nun auch die Aufklärung in der SBZ und den Umfang des Füh­
rungsapparats betreffen würde.513 Der Org drohte wieder einmal eine »schwere
Krise«.
Umso mehr musste Gehlen darauf hoffen, durch eine rasche Verbindung
mit der Bundesregierung finanzielle Spielräume zu schaffen. Aber im Vorder­
grund stand für ihn im Augenblick die persönliche Perspektive, die sich bei
einer Ernennung zum ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungs­
schutz ergeben würde. Adenauer sprach mit den alliierten Hochkommissaren
über die Gefahr der Infiltration aus dem Osten und erwähnte dabei, dass Geh­
len mit seinem Büro Kontakt aufgenommen habe. Er werde ihn nächste Woche
sehen. Die amerikanische Seite war über das Vorpreschen Gehlens nicht amü­
siert.514 Dabei scheint dieser geschwankt zu haben, ob er gut beraten wäre,
den Schritt in den offenen politischen Raum zu wagen und sich ganz auf die
Innenpolitik zu konzentrieren, bei allem parteipolitischen Hader und antimili­
taristischen Ressentiments. Er schlug jedenfalls nach längeren Debatten Ritter

513 Notiz vom 20. u. 25.3.1950, BND-Archiv, 4314.


514 Das Gespräch Adenauers fand am 23. März statt, seine Reaktion nach dem Bericht
Critchfields vom 28.3.1950, ebd.

634
von Lex eine Reihe von möglichen anderen Kandidaten vor, die wie Herre alle
aus seiner Umgebung stammten.515
Intern wurde im Führungskreis kritisiert, dass Gehlen nicht mehr an die
Vorgesetzten von Critchfield herankomme, womit sich wegen der vielen Zwi­
scheninstanzen auch die Etatprobleme erklärten. Er dürfe in dieser Situation
nicht zum Verfassungsschutz wechseln und sollte besser einen Platzhalter
schicken. Früher oder später werde er doch abspringen, und wenn er einige der
qualifiziertesten Mitarbeiter mitnehme, werde man große Probleme bekom­
men.516 Als Washington die Etatbitte der Org endgültig ablehnte, zeigte sich
Gehlen sehr verbittert und nahm resignierend an, dass es die Amerikaner mit
der Org wohl doch nicht ehrlich meinten.517
Einen Tag später kam es noch schlimmer. Gehlen erhielt die Mitteilung, dass
die Amerikaner bei Adenauer gewesen waren und ihm gesagt hatten, dass eine
Nominierung Gehlens als Verfassungsschutz-Präsident nicht infrage komme,
weil die Briten dagegen Widerstand leisteten.518 Gehlen reagierte verständli­
cherweise voller Wut, denn er wurde offenbar, ohne vorher eingeweiht zu wer­
den, wie ein Spielball in der großen Politik behandelt. Beim Verfassungsschutz
würde er allenfalls auf der zweiten Position einen eigenen Mann unterbringen
können,519 in Sachen Auslandsnachrichtendienst bewegte sich nach wie vor
nichts. Hinzu kam die ungelöste Finanzfrage, die für die Org in ihrer damaligen
Aufstellung existenzbedrohend erschien und das Vertrauensverhältnis zu den
Amerikanern extrem belastete.
Anfang April 1950 wurden intern in mehreren Sitzungen die Folgen bespro­
chen. Heusinger beklagte, dass man technisch in der Lage sei, den Funkver­
kehr der baltischen Luftflotte und den Bodenverkehr bis in den Raum Mos­
kau aufzuklären, wenn es nicht an Personal mangeln würde, und jetzt kämen
sogar noch weitere Kürzungen hinzu. Gehlen wiegelte kühl ab. Man solle jene
eigenen Gebiete stärken, mit denen man den Übertritt auf die deutsche Seite
erleichtern würde, also Wirtschaft, Abwehr, Politik, Presse und Sonderverbin­
dungen. Die Amerikaner könnten ruhig spüren, dass die Leistungen der Org
auf anderen Gebieten, für die sie sich mehr interessierten, absänken, also Mili­
tär, Luftfahrt, Transportwesen. Vielleicht würden sie dann wieder mehr Geld
geben. Heusinger wandte dagegen ein, dass man riskieren würde, in diesem

515 Notiz vom 27.3.1950, ebd.


516 Gespräch Wessel – Schenk, 29.3.1950, ebd.
517 Notiz vom 31.3.1950, ebd.
518 Notiz vom 1.4.1950, ebd.
519 Globke hatte gegenüber Lex versichert, Gehlen könne auch Vizepräsident werden, doch
Critchfield zeigte sich überzeugt, dass Gehlen selbst als Nr. 2 den Briten nicht vermittel­
bar sei; siehe Goschler/Wala, »Keine neue Gestapo«, S. 41.

635
Falle von den Amerikanern ganz aufgegeben zu werden. Außerdem würde mit
Beginn einer Remilitarisierung auch die deutsche Regierung an der militäri­
schen Aufklärung sehr interessiert sein.
Im kleinen Kreis begeisterte sich Gehlen bereits an der verzweifelten Alter­
native, die Org vorübergehend aufzulösen und in anderer Form wieder aufzu­
bauen. Heusinger verwies jedoch darauf, dass eine solche Transformation nur
in Betracht kommen könne, wenn Gehlen »woanders« fest im Sattel sitze520 -
eine Option, die mit dem drohenden Scheitern der Kandidatur für das Amt
des Verfassungsschutz-Präsidenten bereits hinfällig geworden war. Dabei war
noch vor zwei Tagen Mercier, Gehlens französischer Verbindungsmann, mit
Ehefrau in Pullach eingetroffen, mit einem Fernschreiben seiner Pariser Vor­
gesetzten, die als sicher annahmen, dass Gehlen Chef des deutschen Verfas­
sungsschutzes werden würde und deshalb nach seinen Wünschen in dieser
Hinsicht fragten.521
Rückhalt fand Gehlen in Bonn bei dieser Kandidatur nicht überall. Ein ers­
tes persönliches Gespräch mit Wildermuth, dem Schatten-Verteidigungsmi­
nister, wurde im Mai auf unbestimmte Zeit verschoben.522 Inzwischen hatte
Staatssekretär Lex, Oberstleutnant a. D. Friedrich Wilhelm Heinz als Verfas­
sungsschutz-Präsidenten ins Spiel gebracht, eine schillernde Figur aus dem
Nachkriegsmilieu ehemaliger Abwehrleute, der seine Dienste mehreren Nach­
richtendiensten angeboten hatte. Nach Lex sollte Gehlen so lange wie möglich
Chef der Org bleiben, da er doch »ungemütlich« für die Amerikaner sei523 -
das heißt, die deutschen Interessen vertrat. Für Gehlen kam der unabhän­
gige Heinz nicht in Betracht. Er wollte versuchen, Herre namhaft zu machen.
Auch daraus wurde am Ende nichts, ebenso wie aus dem Vorschlag, seinen
Oberst i. G. Lothar Metz als Leiter der Auswertung zum Verfassungsschutz zu
schicken.524 Er gewann zwar Ritter von Lex für die Idee und zeigte sich gleich­
zeitig bereit, gegebenenfalls auch den Posten des Vizepräsidenten zu überneh­
men, ein dramatischer und bezeichnender Sachverhalt. Aber es blieb bei dem
Einspruch der Briten gegen eine Zusammenlegung von Verfassungsschutz und
militärischem Nachrichtendienst.525 Auch die Amerikaner erkannten schließ­

520 Etatbesprechung bei Gehlen am 4.4.1950, BND-Archiv, N 1/4.


521 Notiz vom 2.4.1950, BND-Archiv, 4314.
522 Vorbereitendes Gespräch Gehlens mit Speidel, Tagebuch Herre, Eintrag 20.4.1950,
S. 166, online unter: College of William and Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko
Herre; Brief Speidels an Wildermuth vom 24.4.1950 und Schreiben Gehlens an Wilder­
muth vom 13.5.1950, zit. nach: Keßelring, Die Organisation Gehlen, S. 209.
523 Notiz vom 8.4.1950, BND-Archiv, 4314.
524 Notiz vom 10.4.1950, ebd.
525 Schreiben von Lex an Globke, 11.4.1950, VS-Registratur Bka, (Bk 1) 15100(64) Bd. 1,
Blatt 6-7.

636
Friedrich Wilhelm Heinz, ein weiterer
Konkurrent Gehlens, 1960er-Jahre

lich die britischen Bedenken an. »Utility« (dt. Werkzeug, Deckname der CIA
für Gehlen) sei »bereits zu mächtig, um ihm zu erlauben, diese Position ein­
zunehmen«. Als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz würde er
gegenüber den alliierten Diensten alle Karten in seiner Hand halten.526
Während sich für Gehlen das Projekt Verfassungsschutz verflüchtigte, stieg
gleichzeitig seine Sorge um die Beständigkeit der Org. Die strategische Aufklä­
rung gegenüber der UdSSR erfuhr zunehmend Konkurrenz durch andere ameri­
kanische Stellen. Nach dem Eindruck von Wessel übernahmen die Amerikaner
Schritt für Schritt die deutsche Arbeit selbst. Man müsse deshalb selbst sehr viel
besser werden und in Russland nicht nur »gucken«, sondern Informanten in
entsprechenden Stellen gewinnen. Die meisten Projekte seien wenig tragfähig,
was bei einer schrumpfenden Organisation kein Wunder sei. Da war für Wessel
das Bestreben verständlich, irgendwie in den Verfassungsschutz hineinzuge­
hen, um die eigene »Hörigkeit« gegenüber den Amerikanern zu verringern.527
Gehlen stellte sich den Sorgen seiner Gruppenleiter und bestätigte die
Gefahr, zu einem bloßen »Objekt« der USA zu werden.528 Er ordnete an, alle
wesentlichen Dinge mit Herre abzusprechen, bevor sie an die CIA herange­

526 CIA-Bericht vom Mai 1950, zit. nach: Goschler/Wala, »Keine neue Gestapo«, S. 43.
527 Notiz über die Besprechung Wessel – Kühlein, 18.4.1950, BND-Archiv, 4314.
528 Notiz über die Gruppenleiter-Besprechung, 20.4.1950, ebd.

637
tragen werden. Und man müsse auch einmal »Nein« sagen. Im vertrauten
Gespräch mit Herre erging sich Gehlen in stärksten Ausdrücken gegen die
Amerikaner und zeigte sich absolut pessimistisch.
Critchfield äußerte zwei Tage später gegenüber Herre seine Besorgnis, dass
Gehlen wegen der mangelnden Unterstützung in Sachen Verfassungsschutz
etwas eingeschnappt sei und ihm nichts mehr über seine Kontakte zu Bonn
sage. Er solle sich das gut überlegen, denn Ritter von Lex rede ja doch. Gehlen
aber könnte seine Reputation verlieren.529 In seinen Vermittlungsbemühungen
hatte es Herre nicht einfach, Gehlen zu besänftigen, da dieser in dem Streit um
die ständigen Eingriffe der Amerikaner damit drohte, mit der Arbeit aufhören
zu wollen. Er glaubte, damit ein Druckmittel in der Hand zu haben, weil sich
zeigte, dass sowohl die Funkaufklärung als auch die Tiefenaufklärung gegen
die Sowjetunion und ihre Satelliten für die USA besonders wichtig waren.530
Herre war überzeugt, dass man es in der Hand habe, der künftige deutsche
Nachrichtendienst zu werden, wenn man nur nicht bei Kleinigkeiten Porzellan
zerschlage, etwa bei den leidigen Abrechnungsfragen, mit denen Critchfield
Gehlen zur Weißglut trieb.531 Gehlen müsse bei der Stange gehalten werden,
erklärte er gegenüber Wessel – am besten durch Heusinger und Schenk. Der
Chef werde von einigen in der Org zu stark gegen die Amerikaner aufgeputscht,
unter anderen von seiner Sekretärin Annelore Krüger. Der Leiter der Generals­
gruppe, Mellenthin, halte sich aus allem heraus, was nicht zu seinem Arbeits­
gebiet gehört. Inzwischen drohte auch Critchfield damit, dass er gehen werde,
wenn er spüre, dass Gehlen nicht mehr mitziehe.532
Heusinger musste einige Mühe aufwenden, um Gehlen in einem langen
Gespräch zu beruhigen und ihm zu verdeutlichen, dass er alles gefährde, nicht
nur die Org, sondern auch alles, was bisher unter dem schützenden Dach von
Pullach in Sachen Wiederbewaffnung gedacht, diskutiert und geschrieben
worden war.533 Das konnte Gehlen nicht riskieren. Auf Wunsch von Critchfield
ordnete er jetzt an, dass man intern nicht mehr vom Geldmangel sprechen
sollte, und auch Formulierungen wie »die amerikanische Seite wünscht« seien
nicht geeignet, die Spannungen abzubauen.534 Gehlen spürte vermutlich, dass
er mit seiner trotzigen Haltung auch seine eigene Führungsposition gefähr­
dete. Seine Nachgiebigkeit wurde allerdings immer wieder auf die Probe
gestellt. Critchfield verstärkte massiv seinen Stab, was auf deutscher Seite das

529 Notiz vom 22.4.1950, ebd.


530 Notiz über das Gespräch Gehlens mit Critchfield und Stewart, 24.4.1950, ebd.
531 Besprechung Gehlen – Critchfield, 25.4.1950, ebd.
532 Gespräch Herre – Wessel, 27.4.1950, ebd.
533 Meyer, Heusinger, S. 386.
534 Notiz über die Stabsbesprechung am 3.5.1950, BND-Archiv, 4314.

638
Misstrauen gegenüber der amerikanischen Regie nicht gerade verminderte.
Erhebliche Auseinandersetzungen waren die Folge. Selbst der bedächtige
Heusinger ordnete als Leiter der Auswertung an, in Berichten, die an die CIA
gingen, künftig keine Namen mehr zu nennen. Wenn die Meldung dadurch an
Wert für die Amerikaner verliere, sei das in Kauf zu nehmen.535
In der tief greifenden Krise der Org, die Gehlen mit seiner Kandidatur für das
Amt des Verfassungsschutz-Präsidenten ausgelöst hatte, kam die Nachricht
von der Londoner Außenministerkonferenz (11.-13. Mai 1950), die Bundes­
kanzler Adenauer offiziell ermächtigte, Erwägungen zur inneren Sicherheit
anzustellen. Gehlen diktierte sofort ein längeres Memorandum mit eigenen
Überlegungen, die für Critchfield, aber nicht zur Weitergabe an Washington
gedacht waren.536 Die weltpolitische Situation beurteilte Gehlen so, dass der
Abwehrkampf gegen den Kommunismus bereits zu 50 Prozent verloren sei. Mit
der Eroberung Chinas habe die UdSSR Asien in der Hand. In den nächsten zehn
Jahren werde sie ihren Einfluss auch nach Indien ausdehnen. Die sowjetische
Form des Kommunismus werde zwar in China keinen Boden finden, aber alle
Hoffnungen auf eine Art von Titoismus sei reines Wunschdenken. Im sowjeti­
schen Machtbereich werde sich ein solcher Fall nie wiederholen, und vielleicht
würde Tito am Ende doch wieder ein gehorsamer Vasall Moskaus werden. »Die
SU hat in Europa die Grenze ihres Machtbereichs nach Westen bis an die Elbe
vorgeschoben, damit das Rad der europäischen Geschichte um 1000 Jahre
zurückgedreht und den größeren Teil Europas unter ihre Kontrolle gebracht.«
Innerhalb der westlichen Nationen wirke sich die kommunistische Wühl­
arbeit zunehmend aus. Zweifellos spekuliere »der Russe« auf eine Verschlech­
terung der wirtschaftlichen Lage im Westen, was die Bedingungen für die
politische Arbeit verbessere, »und vielleicht ist diese Spekulation durchaus
nicht unrichtig«. Dieser einen Hälfte der Welt, deren »Wendigkeit durch den
herrschenden Einfluß der slavischen Mentalität eingeschränkt« sei, stehe ein
Konglomerat von Staaten gegenüber, dem es an einer gemeinsamen offensi­
ven Idee fehle. Diese Welt werde einzig durch den Willen und Druck der USA
zusammengehalten. Zu dieser Führungsrolle, die ihnen über Nacht zugefallen
sei, seien die USA aber a priori nicht befähigt.

Die Vereinigten Staaten als Gegenspieler der SU sind in diesem politischen


Spiel daher zunächst die Unterlegenen – darüber darf auch die gegenwärtige
Überlegenheit der Technik und des Potentials nicht hinwegtäuschen – und

535 Notiz vom 10.5.1950, ebd.


536 Gehlens Memorandum mit Überlegungen zur künftigen Entwicklung, 13.5.1950, BND-
Archiv, 1112, Blatt 315-330.

639
es wird Pflicht aller übrigen Gruppierungen des westlichen Kreises sein, die
Vereinigten Staaten darin zu unterstützen, der SU gegenüber nach und nach
die politisch überlegene Rolle zu gewinnen.

US-Diplomaten bestätigten, dass die USA nicht in der Lage seien, Außenpolitik
auf weite Sicht zu planen und zu verfolgen. Vielleicht sei bereits die Grundlage
für den Verlust des »nächsten großen Ringens« dadurch gelegt, dass die USA
eine dogmatische Politik betrieben, die vielleicht jenseits des Atlantiks richtig
sein möge, aber nicht auf die europäischen Verhältnisse passe.
Zur politischen Lage in Europa: Keiner der europäischen Staaten habe
begriffen, dass es fünf Minuten vor zwölf sei, um noch rechtzeitig eine ein­
heitliche, gemeinsame Verteidigungsfähigkeit gegenüber dem geistigen, poli­
tischen und später auch militärischen Angriff aus dem Osten sicherzustellen.
Die Sowjetunion verfüge in der SBZ über 6000 Panzer, 1500 Flugzeuge und
32 Divisionen. Es sei »grotesk, dass die Schweizer Armee nach Größe, Aus­
bildung und Kampfwillen zur Zeit die schlagkräftigste Armee Westeuropas
darstellt«. Bestrebungen zur Bildung einer westeuropäischen Union auf dem
Fundament einer deutsch-französischen Zusammenarbeit stehe Großbritan­
nien entgegen, das im Sinne der alten Balance-of-Power-Politik diese Koopera­
tion zu verhindern suche. Alle Staaten führten ihre Politik gegenüber Deutsch­
land inkonsequent durch. »Anstatt dass man sich klar entschließt, entweder
Deutschland für den Westen abzuschreiben oder es als positiven Faktor einzu­
bauen, tut man das eine nicht, ohne das andere zu lassen.«
Zur Lage in Westdeutschland: Der Westen habe sich entschlossen, West­
deutschland als Faktor im Abwehrkampf gegen den Kommunismus zu aktivie­
ren. Dazu werde ein Wiederaufbau der Wirtschaft betrieben, gleichzeitig gebe
es aber Demontagen, Behinderungen des Exports sowie Eingriffe in die Wirt­
schaft. Innenpolitisch sei der Kommunismus im Vormarsch, ohne dass es eine
Gegenwirkung gebe. Die Frage des Verfassungsschutzes werde seit letztem
Sommer diskutiert, bisher sei nichts Entscheidendes geschehen. Die Besat­
zungsmacht kümmere sich nur um angebliche nationalistische Bestrebungen.
Zur psychologischen Lage: Die europäische Welt und die USA seien völlig
verschieden, was aber kein Werturteil bedeute.

Ein kleines Beispiel: Der Amerikaner liebt bunte Farben. Der Europäer
lehnt bunte Farben zugunsten diskreter Farbzusammenstellungen ab. Es
wäre ebenso falsch, wenn der Europäer diese Neigung des Amerikaners als
geschmacklos bezeichnen würde, wie wenn der Amerikaner die Neigung zu
diskreten Farben des Europäers als rückständig ansehen würde. Ebenso wie
ein Bayer in Washington nicht in Lederhosen und Gebirgshut herumlaufen
sollte, so sollte es der Amerikaner vermeiden, seine eigenen Auffassungen

640
und Dogmen als Maßstab an europäische, insbesondere deutsche Verhält­
nisse anzulegen. Deshalb ist anzuerkennen, daß schon sehr frühzeitig die
amerikanische Linie dahin ging, die Deutschen mit sich allein fertig werden
zu lassen.
Trotzdem wird immer noch nicht berücksichtigt, dass viele Einrichtungen
und Auffassungen der amerikanischen Demokratie auf Deutschland – zumin­
dest gegenwärtig – nicht passen. Viele von amerikanischen verantwortlichen
Persönlichkeiten im besten Willen gestartete Einrichtungen werden von den
Deutschen hingenommen, weil sie hingenommen werden müssen, ohne daß
sie überzeugen. Im Gegenteil, eine Auffassung ist einhellig unter den Deut­
schen: Eines haben wir alle gelernt – daß die amerikanische Demokratie, ihre
Auffassungen und Einrichtungen auf Deutschland nicht passen.

Das waren alles unbewiesene Behauptungen und antiamerikanische Ressenti­


ments, die sich Gehlen hiermit zu eigen machte. Das galt auch für die weiteren
Behauptungen: Ein Besatzungsregime könne keine Bevölkerung demokratisie­
ren. Besser sei ein schneller Schritt zur Souveränität. Jeder Deutsche empfinde
folgende Maßnahmen als »feindlichen Akt«: einseitige Kriegsverbrecherpro­
zesse, teilweise unter Verletzung internationaler Regeln; die Diffamierung
des deutschen Soldaten sei besonders beleidigend, wenn die US-Presse zum
Beispiel grundsätzlich von einem »former nazi colonel« spreche; unerhörter
Schaden entstehe durch das Veto der Hohen Kommission gegen das neue
deutsche Einkommenssteuergesetz.537 Die Deutschen fragten sich: Haben wir
nun Demokratie oder nicht? Er wisse positiv, dass in allen deutschen Parteien
starke Strömungen dafür seien, die Regierungsgewalt in die Hände der Hohen
Kommissare zurückzugeben (als Anlage fügte er zwei Zeitungsartikel bei, die
das als durchschnittliche deutsche Auffassung belegen sollten).
Insgesamt sei die Bereitschaft der Deutschen zur weiteren Zusammenar­
beit mit den Alliierten gefährdet. Es wäre ein Leichtes, »unerhörte Leistungen
aus dem deutschen Volk herauszuholen, auch im Rahmen unserer gemeinsa­
men christlich-westlichen Konzeption eines Kampfes gegen den Kommunis­
mus, wenn es richtig gemacht wird.« Das gehe aber nicht mit US-Methoden,
denen nun einmal die deutsche Mentalität nicht entspreche. Die Org sei ein
Spiegelbild der Bevölkerung. Nahestehende Kreise fragten sich zunehmend,
ob eine allzu enge Zusammenarbeit nicht gegen »unsere nationale Ehre ver­
stößt«. Es werde immerhin respektiert, dass er, Gehlen, mit seiner eigenen Per­

537 Die alliierten Besatzungsmächte hatten 1945/46 eine sehr starke Erhöhung der Steu­
ertarife angeordnet, bis zu einem Spitzensteuersatz von 95 Prozent. Im Zuge der Wäh­
rungsreform bemühte sich die Bundesregierung um eine Absenkung, was die Zustim­
mung der Alliierten erforderte.

641
sönlichkeit die Gewähr dafür biete, dass die Arbeit auf einer vertretbaren Linie
liege. Wenn sich das allgemeine politische Bild nicht durch Maßnahmen der
Besatzungsmacht ändere, könnten solche Stimmen bösartig werden. Damit
könnte die Org für eine deutsche Regierung später nicht mehr akzeptabel sein.
Von innen heraus betrachtet sehe es ähnlich aus. Die besten Köpfe hätten
sich den Kampf gegen den Kommunismus als »Herzenssache« auf ihre Fahne
geschrieben, auf der Basis gleicher Partnerschaft, die keine Kollaboration sein
dürfe. Die Überführung der Org in die Verantwortung der CIA habe jetzt zur
Forderung geführt, dass man sich an die amerikanische Arbeitsweise anpassen
solle. Er habe sich bemüht, diesen Forderungen entgegenzukommen, es gebe
aber intern viel Kritik, die er sich zwar nicht gänzlich zu eigen machen wolle,
aber man müsse doch stärker auf die Gleichberechtigung achten. Er sei zum
Beispiel nicht über die Frage des Verfassungsschutzes von der US-Seite auf
dem Laufenden gehalten worden, andererseits verlange man von ihm, die US-
Seite stets vollständig zu informieren. So würde man mit Agenten umgehen,
nicht mit Persönlichkeiten, die seit vier Jahren in loyalster Weise mit den USA
zusammengearbeitet hätten und einen großen Verantwortungsbereich führen.
Gehlen listete abschließend zahlreiche praktische Fragen und Vorschläge auf,
vor allem die Forderung, möglichst rasch an die deutsche Regierung heranzu­
treten, damit die Org von dort jede Unterstützung erhalte.
Dieses Elaborat, das Gehlen am Ende dann doch nicht an Critchfield über­
gab, zeigt seine Reaktion auf die doppelte Krise, ausgelöst durch seine eigen­
sinnigen und hastigen Annäherungsversuche gegenüber der deutschen Regie­
rung sowie die Gegenbemühungen der CIA, ihn durch strengere Dienstaufsicht
auf seine eigentlichen Aufgaben bei der Führung der Org festzulegen. Sein
offensichtlich aus Zeitungslektüre gewonnenes Lagebild war oberflächlich,
simplifizierend und von schlichter Intellektualität – eine Analyse, die reale Ent­
wicklungen und Kräfte meist verfehlte. Skurril wirkt sein »Farben«-Beispiel,
das dazu diente, sich von den USA zu distanzieren, ohne sie abzuwerten. Es ist
spürbar, dass es ihm hauptsächlich darum ging, sich aus der Abhängigkeit von
den Amerikanern zu lösen und im großen machtpolitischen Spiel eine größere
Rolle zu übernehmen.
Soweit es seine Person betraf, blieben seine Aussichten für einen schnellen
Absprung auf die deutsche Seite düster. Bereits am 24. April 1950 war Ger­
hard Graf von Schwerin zum Sicherheitsberater des Kanzlers ernannt worden.
Schwerin hatte sich als seinen »Sachberater und Organisator für den Nach­
richtendienst« Achim Oster ausgesucht, Major i. G. a. D. und Sohn des im Kon­
zentrationslager Flossenbürg ermordeten Chefs des Stabes im Amt Ausland/
Abwehr, Generalmajor Hans Oster. Vor diesem Hintergrund konnte der Ausge­
wählte als untadelig und politisch unvorbelastet gelten, eine Einschätzung, die
sich zu Unrecht auf Friedrich Wilhelm Heinz übertrug, der ein enger Vertrau­

642
ter von Canaris gewesen war. Achim Oster zog Heinz heran, um die Führung
eines Nachrichtendienstes zu übernehmen, der sich hauptsächlich auf alte
Netzwerke der SS stützte.538 Adenauer genehmigte diese Entscheidung und
Globke bewilligte auf Antrag von Schwerin eine Finanzierung zum »Aufbau
eines eigenen Nachrichtendienstes«.539
Adenauer empfing am 24. Mai 1950 Schwerin, um ihm seine Vorstellungen
zur Sicherheitspolitik zu erläutern.540 Die innere Sicherheit lag dem Kanzler
besonders am Herzen, und er beklagte, dass der Aufbau des Verfassungsschut­
zes nicht zügig genug vorankomme. Zudem drohten im Falle eines Ost-West-
Krieges katastrophale Folgen für die deutsche Bevölkerung, weshalb er an
die Aufstellung einer »mobilen Bundesgendarmerie« dachte. Dass damit ein
militärischer Akzent verbunden war, zeigte Adenauers Abschlussbemerkung,
dass er gelegentlich ehemalige deutsche Generale empfangen wolle, »um nach
außen zu dokumentieren, daß eine Diffamierung eines Teils der ehemaligen
deutschen Wehrmacht, der nicht nazihörig gewesen sei und nur seine natio­
nale Pflicht erfüllt habe, nicht gebilligt werden könne«.541 Es war eine Anspie­
lung auf die Heusinger-Gruppe, die mit Gehlen verbunden war, aber in Distanz
zu Schwerin stand.
Adenauer wollte Schwerin als Berater, und so fasste dieser das Gespräch
als grünes Licht auf, um unter dem Decknamen »Zentrale für Heimatdienst«
einen Arbeitsstab einzurichten, die Aufstellung einer Bundesgendarmerie
vorzubereiten, die zum Nukleus einer künftigen Armee werden könnte, und
der kommunistischen Infiltration zu begegnen, indem er ein Sachgebiet »Mili­
tary Intelligence« einrichtete. Hier kam Heinz ins Spiel, der bereits seit 1947
über einen privatwirtschaftlich organisierten Nachrichtendienst verfügte und
diverse westliche Dienste mit Aufklärungsergebnissen über die Rote Armee
und die Kasernierte Volkspolizei in der DDR belieferte. Anfänglich von den
Franzosen geführt, hatten inzwischen die Amerikaner Heinz und sein Netz­
werk übernommen.542 Adenauer erhielt auf diese Weise einen bereits gut auf­
gestellten Nachrichtendienst zu seiner Verfügung, der über bis zu 200 Mitar­
beiter verfügte.543

538 Susanne Meinl: David gegen Goliath. Der Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst und die
Organisation Gehlen; in: Pahl/Pieken/Rogg (Hg.), Achtung Spione! Essays, S. 95–113,
hier S. 102.
539 Siehe Foerster, Innenpolitische Aspekte, S. 460, und Keßelring, Die Organisation Geh­
len, S. 401.
540 Siehe Meyer, Heusinger, S. 396 – 397.
541 Aktennotiz Schwerins, 25.5.1950, BA-MA, BW 9/3105.
542 Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 55.
543 Siehe hierzu demnächst ausführlich Henke, Geheime Dienste.

643
Richard Helms als späterer CIA-Chef, 1966

Heinz brachte zwar seinen Schwerpunkt auf der Aufklärung gegenüber


der DDR mit, wollte aber sachlich und räumlich unbegrenzt arbeiten. Seine
künftige Organisation sah er als verantwortliches »Koordinierungsamt für alle
Nachrichtendienste« an, das den Bundeskanzler direkt und unabhängig von
ausländischen Diensten unterrichtete. Hier kam auf Gehlen also eine äußerst
gefährliche Konkurrenz zu, und das in einem Augenblick, in dem er bereit war,
sich von den Amerikanern zu trennen und die Org notfalls aufzulösen, in der
Hoffnung, sie mithilfe der Bundesregierung neu und mit erweiterter Zustän­
digkeit wieder aufzubauen. Jetzt war ihm Schwerin zuvorgekommen, der
auch die Kreise der Rearmament-Gruppe um Heusinger und Speidel erheb­
lich bedrohte, die in ihrem geplanten Beratergremium für die Wiederbewaff­
nung Gehlen als künftigen Verantwortlichen für Abwehrfragen vorgesehen
hatten.544
Die CIA reagierte gleichfalls besorgt. Critchfield teilte nach einem Gespräch
mit seinem Vorgesetzten überraschend mit, dass die Org so schnell wie mög­
lich einen »deutschen Charakter« erhalten solle.545 Der Fall Schwerin werde
immer interessanter. Die CIA wollte alles dazu erfahren und von Speidel eine
detaillierte Stellungnahme haben. Ob Schwerin vielleicht nur ein Bauer im bri­
tischen Schachspiel sei, um eine Reaktion hervorzulocken? Es wurde beschlos­

544 Siehe Keßelring, Die Organisation Gehlen, S. 212.


545 Gespräch Herre – Critchfield, 22.5.1950, BND-Archiv, 4314.

644
sen, dass die Org vorläufig keinen Kontakt mit Schwerin knüpfte. Gehlen
erfuhr freilich über die Sonderverbindung Johann Adolf Graf von Kielmansegg
im Kanzleramt so manches über Schwerin und Heinz, aber offenbar nicht, dass
Heinz in Verbindung mit den Amerikanern stand, die anscheinend mit beiden
Bällen – Heinz und Gehlen – spielten und Adenauer in dem Glauben ließen, er
erhalte über den Heinz-Dienst unabhängige militärische Nachrichten über die
DDR an den Amerikanern vorbei.
Gehlen war also gut beraten, ein eigenes Programm auf den Weg zu bringen,
um die Unterstützung der deutschen Regierung zu erhalten. Es zielte zunächst
nicht direkt auf die eigentliche nachrichtendienstliche Tätigkeit, sondern auf
technische Hilfe, die bisher von den Besatzungsmächten geleistet worden sei.
Am besten sei es, so führte er aus, wenn der Bundeskanzler durch die drei Alli­
ierten entsprechend orientiert würde. Nach einem Erlass müsste die vertrauli­
che Anweisung Adenauers an die Ministerien gehen, beamtete Persönlichkei­
ten unter Nachprüfung ihrer Zuverlässigkeit durch die Org zu benennen, die
verantwortlich wären für die Unterstützung der Tarnung, Unterbringung, der
Legalisierung der Mitarbeiter, der Fürsorge für Arbeitsunfähige und Hinter­
bliebene etc.546 Und Gehlen verfolgte weiter das Ziel, beim Verfassungsschutz
einen eigenen Kandidaten als zweiten Mann an der Spitze zu installieren. Frei­
lich kam er auch hier nicht recht voran.
Washington entsandte Richard Helms, der die verantwortliche Sektion
im Hauptquartier leitete.547 Helms wies Gehlen an, sich auf den eigentlichen
Nachrichtendienst zu konzentrieren. Die Dinge mit der Bundesregierung wür­
den schon in Gang kommen. Erste Priorität habe die politische Aufklärung für
die CIA. Dazu gab er jetzt Ungarn für die Org frei. Die CSR werde als legitimes
deutsches Interesse anerkannt. Die Arbeit in Rumänien müsse aber besser
werden.548 Bei einem abschließenden Dinner gab sich Helms, den Herre als
»jung und spritzig« einschätzte und der fast fließend Deutsch sprach, ausge­
sprochen leutselig. Mit den Worten: »Ihre Zukunft ist gesichert«, verabschie­
dete er sich herzlich vom »Doktor«.549
Diesen erneuten Dämpfer für seine politischen Ambitionen nahm Gehlen
offenbar nicht sonderlich ernst und fuhr wieder einmal in die Schweiz, um

546 Memorandum Gehlens betr. Technische Unterstützung, 24.5.1950, BND-Archiv, 1112,


Blatt 331-338. Critchfield brachte nach zusätzlichen Klarstellungen Gehlens das Papier
auf den Dienstweg; siehe den weiteren Schriftwechsel ebd.
547 Richard Helms: A Look over My Shoulder. A Life in the Central Intelligence Agency, New
York 2003, S. 88.
548 Notiz über den Besuch von Helms am 27.5.1950, BND-Archiv, 4314.
549 Tagebuch Herre, Eintrag vom 27.5.1950, S. 199, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

645
seine dortigen Gespräche fortzusetzen.550 Im inneren Führungskreis zeigten
sich Herre und Heusinger besorgt über die innere Abwehr Gehlens gegen die
Amerikaner. Er wolle weg von ihnen und vernachlässige die Führung der Org,
weil er in Gedanken bei einer anderen Tätigkeit sei. Heusinger meinte, eine
Stagnation des Dienstes erkennen zu können.551
Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz informierte sich Gehlen bei Heu­
singer über den Fall Schwerin. Er hielt dessen Idee einer Bundespolizei von
50.000 Mann für einen »Ballon« der Briten. Alles, was von der jetzigen Labour-
Regierung komme, sei mit großer Wahrscheinlichkeit antideutsch und anti­
europäisch. Außenminister Ernest Bevin lade eine »schwere geschichtliche
Schuld« auf sich. Gehlen wollte nun mit der Vertiefung der Kontakte zur Bun­
desregierung lieber warten, bis die CIA, wie versprochen, den Weg gebahnt
habe.552
Zunächst sollte der amerikanische Hochkommissar den Kanzler anspre­
chen, um ihm zu erklären, dass in den letzten vier Jahren ein rein deutsch
zusammengesetzter Nachrichtendienst unter deutscher Führung entstanden
sei, der später zu einem geeigneten Zeitpunkt der deutschen Regierung zur
Verfügung stehen werde. Mit Erreichen voller Souveränität könne sie dann auf
der Org fußend einen eigenen deutschen Nachrichtendienst im Rahmen der
politischen Entwicklung Westeuropas aufbauen. Die USA würden dann weiter
ideelle Unterstützung leisten.553
Im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten sollte die Regierung schon
jetzt, beginnend in der US-Zone, gewisse technische Hilfestellungen für die
Org übernehmen. Nach der Information des Kanzlers sollten die Amerikaner
im gleichen Sinne Globke ansprechen, mit dem anschließend Gehlen selbst
zusammentreffen wollte, um die Einbeziehung weiterer Persönlichkeiten
auf ministerieller Ebene zu besprechen. Schließlich würde er dann mit den
zuständigen Ministern reden und dafür sorgen, dass eine Zusammenschal­
tung des betreffenden Sachbearbeiters der Org mit dem festgelegten Vertreter
des jeweiligen Ministeriums erfolgt. Entspannt fuhr Gehlen nach Rom (9. bis
21. Juni 1950).
In seiner Abwesenheit traf sich Heusinger mit dem letzten Kommandeur
der Kriegsakademie, General der Infanterie Kurt Brennecke, um sich über
Schwerin und die Remilitarisierung auszutauschen.554 Schwerin, so Brenne­

550 Notiz über die Reise vom 31.5. bis 2.6.1950, BND-Archiv, 4314.
551 Gespräch Herre – Heusinger, 2.6.1950, ebd.
552 Gespräch Heusinger – Gehlen, 7.6.1950, ebd.
553 Gehlen an Critchfield betr. Logistical Support by the German Government, 8.6.1950,
BND-Archiv, 1112, Blatt 349-351.
554 Notiz 12.6.1950, BND-Archiv, 4314.

646
Gerhard Wessel, 1950

cke, sei unsicher und unzuverlässig, er breche sich hoffentlich das Genick über
die Bundespolizei. Auch dessen Vertrauter Major i. G. Achim Oster, der Heinz
nominiert hatte, sei intrigant und gefährlich. In Bonn herrsche wie immer
ein heilloses Durcheinander. Da traf die Nachricht ein, dass Globke Gehlen
sprechen wolle, doch in Pullach entschied man, den Chef nicht vorzeitig aus
Rom zurückzurufen, denn der Kontakt war von Lossow (»Onkel Karlchen«)
geknüpft worden. Gehlen hatte seinen Verbindungsmann in Bonn nicht dar­
über informiert, dass die Org vorerst in Bonn stillhalten sollte. So musste der
Termin erst einmal abgesagt werden.
Für den kritischen Kopf Wessel war das ein weiteres Beispiel dafür, dass
Gehlen in politischen Dingen nicht richtig führte und koordinierte. Seine
»Führung« sei auf diesem Felde »noch gefährlicher als sonst schon«. Hier
müsse alles aufeinander abgestimmt sein.555 Wessel hatte den Eindruck, dass
die Amerikaner Gehlen aus den Bonner Querelen heraushalten wollten. Die
Engländer hätten für Schwerin innerhalb von 14 Tagen einen Termin bei
Adenauer erreicht, was die CIA für Gehlen in vier Monaten nicht geschafft
habe.556 Doch es lag nicht allein am Zögern der USA. In Washington war man
auch irritiert über die Initiativen Gehlens und ließ ihn wissen, er möge sich
endlich entscheiden und die Führung der Org stärker in die Hand nehmen.
Gehlen, nach seiner Rückkehr unterrichtet, erklärte, dass in den nächsten
ein, zwei Jahren die Frage der Verbindung zur deutschen Regierung selbst­
verständlich im Vordergrund stehe, auch wenn die Leistung der Org darü­

555 Gespräch Heusinger – Wessel, 15.6.1950, ebd.


556 Notiz vom 15.6.1950, ebd.

647
ber absinke.557 Wessel und Heusinger waren sich einig, dass die CIA zu Recht
einen Mangel an Meldungen zum Beispiel aus den Manöverräumen des
Ostens beklagte und eine Verlagerung der Aufklärung in die Tiefe forderte.558
Dahinter standen Meldungen über sowjetische Truppenverschiebungen in
Richtung Rumänien, die den Amerikanern vorlagen, und die gegen Jugosla­
wien zielen konnten.559 Zwei Tage später wurde erkennbar, dass diese Mängel
der Org die Sicherheit Westeuropas ernsthaft gefährden könnten.

557 Tagebuch Herre, Eintrag 21.6.1950, S. 216, online unter: College of William and Mary,
Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
558 Besprechung Heusinger – Wessel, 23.6.1950, BND-Archiv, N 1/4.
559 Tagebuch Herre, Eintrag vom 27.6.1950, S.221, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

648
Veröffentlichungen der Unabhängigen
Historikerkommission zur
Erforschung der Geschichte des
Bundesnachrichtendienstes
1945–1968

Herausgegeben von Jost Dülffer,


Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang
Krieger und Rolf-Dieter Müller

BAND 7.2
Rolf-Dieter Müller

Reinhard Gehlen
Geheimdienstchef im Hintergrund
der Bonner Republik
Die Biografie. Teil 2: 1950-1979

Ch. Links Verlag, Berlin


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, November 2017


© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Reinhard Gehlen
in der Schweiz, 1951; BND-Archiv, N 46/2
Lektorat: Dr. Stephan Lahrem, Dr. Daniel Bussenius
Satz: Buch und Gestaltung, Andrea Päch
Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-86153-966-7
Inhalt

BAND 1

Vorbemerkung 7

Einleitung 9

I. Der General 19

1. Familiengeheimnisse (1902-1919) 21
2. Der junge Artillerieoffizier (1920-1932) 39
3. Ausbildung zum »Führungsgehilfen« (1933-1935) 73
4. Kriegsvorbereitungen im Generalstab des Heeres (1935-1939) 90
5. Erste Erfahrungen im Krieg (1939/40) 117
6. Planung und operative Führung des Unternehmens
»Barbarossa« (1940/41) 180
7. Neuer Abteilungsleiter von Fremde Heere Ost (1942) 233
8. Reorganisation der Abteilung nach Stalingrad (1943) 270
9. Exkurs zur Geschichte des militärischen Nachrichtendienstes
in Deutschland 301
10. Rückzugsgefechte (1943/44) 311
11. Vorbereitungen auf das Ende (1944/45) 359

Zwischenbilanz: Erfahrungshorizont am Ende


seiner militärischen Karriere 411

II. In US-Diensten 419

1. Von der »Alpenfestung« zur US Army (1945/46) 421


2. Vom »Basket« nach Pullach (1946/47) 470
3. Erste Führungskrisen in Pullach (1948) 513
4. Übernahme durch die CIA (1948/49) 545
5. Erste Kontakte zur Bundesregierung (1949/50) 586
BAND 2

III. Auf dem Weg zum Bundesnachrichtendienst 655

1. Der Koreakrieg sichert die Kontinuität der Organisation


Gehlen (1950) 657
2. Gehlens Mehrfrontenkrieg (1951) 693
3. Gehlens Kampf um Bonn (1952) 721
4. Stalin-Note und Ausbau der politischen Aufklärung (1952/53) 760
5. Nach dem Volksaufstand in der DDR (1953/54) 814
6. Irritationen und Endspurt (1954/55) 854

IV. Der Präsident 899

1. Der »Doktor« wird Präsident (1956) 901


2. Ausbau des BND und der Partnerschaft mit der CIA (1957-1959) 933
3. Berlinkrise und Kampf gegen den Weltkommunismus (1959-1961) 981
4. Gehlen vor dem Absturz: Felfe und die Spiegel-Affäre (1961/62) 1018
5. Adenauers Bruch mit Gehlen (1962-1965) 1035
6. Die Versuchung des Gaullismus (1965/66) 1089
7. Wann geht Gehlen? (1966-1968) 1112
8. Ein glanzloser Abgang (1968) 1163
9. Nachwirkungen: Entfremdung vom BND und Kampf gegen
die neue Ostpolitik (1968-1971) 1200
10. Misslungene publizistische Paukenschläge (1971-1974) 1227
11. Guillaume-Affäre und Mercker-Bericht: das Ende Gehlens
(1974-1979) 1261

Persönlichkeit, Führungsstil und Weltanschauung -


Bemerkungen zur historischen Bedeutung von
Reinhard Gehlen 1301

Anhang 1330
Quellen und Literatur 1330
Abkürzungen 1349
Bildnachweis 1354
Personenregister 1356
Der Autor 1373
III. Auf dem Weg zum
Bundesnachrichtendienst
1. Der Koreakrieg sichert die Kontinuität der Organisation
Gehlen (1950)

Am 25. Juni 1950 fielen Einheiten des kommunistischen Nordkorea in den


Süden der Halbinsel ein. Die südkoreanische Armee sah sich trotz Luftunter­
stützung durch den amerikanischen Verbündeten in der ersten Phase dieses
Krieges zum Rückzug gezwungen. Mit einer Resolution des UN-Sicherheits­
rats wurde das Eingreifen durch UNO-Truppen autorisiert, die hauptsächlich
von den Vereinigten Staaten gestellt wurden. Die eskalierenden Kämpfe sorg­
ten weltweit für Sorgen vor einem dritten Weltkrieg. Nach der vollständigen
Machtübernahme der Kommunisten in China im Vorjahr musste diese Aggres­
sion als ein weiterer Schritt zu einer weltweiten Auseinandersetzung zwischen
Ost und West gedeutet werden. Der Koreaschock saß besonders in Bonn tief,
weil die Bundesregierung angesichts der Schutzlosigkeit Westdeutschlands
besorgt war, Stalin könnte auf ähnliche Weise den Selbstbehauptungswillen
der Bundesrepublik auf die Probe stellen.1
In Pullach hatte man den Krieg im Fernen Osten nicht prognostiziert und
war ebenso überrascht wie die Amerikaner. Critchfield räumte ein, dass der
US-Geheimdienst in Korea gänzlich versagt habe. Das sollte sich in Mittel­
europa nicht wiederholen. Die Org trage eine große Verantwortung für die
Gesamtlage. Er schmeichelte Gehlen mit der Bemerkung, die Org liefere die
Masse der militärischen Nachrichten und Washington erwarte deshalb viel
von seinem »German G-2«. Gleichzeitig drängte er ihn jetzt dazu, seinen
Antrittsbesuch bei Globke zu machen. Nachdem sich monatelang praktisch
kaum etwas bewegt hatte, wurde nun der Weg zu Adenauer freigegeben.2
Die Beurteilung der militärischen Lage lag in der Zuständigkeit von Heu­
singer. Hier mischte sich Gehlen selbstverständlich nicht ein. Er war viel zu
sehr damit beschäftigt, die politischen Konsequenzen für sich zu nutzen.
Heusinger beschrieb die hoffnungslose Unterlegenheit des Westens bei den
Bodentruppen auf dem europäischen Schauplatz. Heute sei die Schweizer
Armee die stärkste in Westeuropa. Es blieben vermutlich noch zwei Jahre, um
die Verteidigungsanstrengungen so zu erhöhen, dass eine wirksame Abschre­
ckung erreicht würde. Mit einem sowjetischen Präventivschlag rechnete Heu­
singer allerdings nicht, solange Stalin davon ausgehe, dass die Zeit für ihn

1 Bernd Stöver: Geschichte des Koreakrieges. Schlachtfeld der Supermächte und ungelöster
Konflikt, München 2013; Bernd Bonwetsch und Matthias Uhl (Hg.): Korea - ein vergesse­
ner Krieg? Der militärische Konflikt auf der koreanischen Halbinsel 1950-1953 im inter­
nationalen Kontext, München 2012.
2 Tagebuch Herre, Eintrag vom 27.6.1950, S. 221-222, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

657
arbeite.3 Critchfield respektierte, dass sich Heusinger als die zentrale Figur
der Rearmament-Gruppe in der Org darauf vorbereitete, dass die USA einen
deutschen Wehrbeitrag fordern würden und sein Rat dann erforderlich sein
könnte. Aber er belehrte Heusinger über die strikte Einhaltung des Dienst­
weges, nachdem dieser seine aktuelle Lagebeurteilung direkt dem G-2 der
US Army in Washington zugeleitet hatte. Bei aller wechselseitigen Sympathie
missfiel Heusinger eine solche Ermahnung und er unterrichtete auch künf­
tig Critchfield über die weitere Entwicklung nur dann, wenn es ihm unum­
gänglich erschien. Gehlen, sein derzeitiger Arbeitgeber, hielt es ähnlich, aber
als Verantwortlicher für den Nachrichtendienst konnte er sich der Kontrolle
durch die CIA nicht in gleichem Maße entziehen.
Durch die Befassung mit den militärischen und strategischen Fragen hielt
Heusinger Gehlen gleichsam den Rücken für dessen politische Operationen
frei. Der Ausbruch des Koreakrieges gab ihm dafür neue Anstöße. In seinem
Weltbild sah er sich bestätigt. Sein etwas skurriles Memorandum vom 13. Mai,
von dessen Weitergabe Herre seinerzeit abgeraten hatte, weil es ihm zu »feind­
selig« gegenüber den Amerikanern erschien,4 ließ Gehlen neu fassen, folgte
jedoch im Wesentlichen dem alten Text.5 Mit diesem Konzept im Hinterkopf
suchte er nun Globke zu einem ersten Gespräch auf. Es war ein wichtiger Wen­
depunkt in seinem Streben auf die deutsche Seite, der Beginn einer lebens­
langen persönlichen Verbindung und ein günstiger Zeitpunkt, um der Gefahr
eines möglicherweise konkurrierenden Nachrichtendienstes des Kanzlers zu
begegnen. Schwerin befand sich in diesen kritischen Tagen für längere Zeit im
Krankenhaus.
Gehlen betonte den deutschen Charakter und die weitgehende Unabhän­
gigkeit seiner Organisation. Eine solche Kaschierung der Wirklichkeit war not­
wendig, um dem entstehenden Friedrich-Wilhelm-Heinz(FWH)-Dienst Paroli
bieten zu können. Er leite den deutschen Nachrichtendienst, der nur so lange
unter US-Treuhandschaft stehe, bis die Bundesregierung die Arbeit freige­
be.6 Globke äußerte sich offenbar nicht zu der Konkurrenzsituation, sicherte
Gehlen aber die gewünschte technische Unterstützung zu, beschränkt auf die
US-Zone. Im Gegensatz zu Gehlens Vorschlägen über eine Verbindung zur

3 Meyer, Heusinger, S. 375 – 377. Siehe auch »Gedanken zur militärischen Lage in Korea«
(1950) von Oberst a.D. Buntrock, dem Leiter der Strategischen Aufklärung, BND-Archiv,
N 6/v.2.
4 Tagebuch Herre, Eintrag 15.5.1950, S. 189, online unter: College of William and Mary, Digi­
tal Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
5 Memorandum Gehlens vom 27.6.1950, BND-Archiv, 1112, Blatt 352-367.
6 Aktennotiz Gehlens über die Besprechung mit Globke, 29.6.1950, BND-Archiv, 1110,
Blatt 42-44.

658
Die Pullacher Zentrale der Organisation Gehlen, von der Bahnseite aus gesehen,
1950er-Jahre

Bundesregierung hielt Globke aber einen persönlichen Vortrag Gehlens beim


Kanzler vorläufig nicht für notwendig. Die Verbindung zur Bundesregierung
solle zunächst auf den Kontakt zwischen Globke und Gehlen beschränkt blei­
ben. Die Regierung erwarte insbesondere, dass die Org mit fachlich kompeten­
ten Bereichen den Verfassungsschutz in der Aufbauzeit bei der Aufklärungs­
arbeit gegen den Kommunismus unterstütze.
Während Gehlen bei Globke politische Schritte zur Annäherung seiner
Org an die deutsche Regierung besprach, fand bei Critchfield in Pullach eine
große Lagebesprechung über die aktuelle militärische Bedrohung statt. Der
Russlandexperte Hilger meinte, Stalin werde nicht nach Westen angreifen,
es sei denn, er würde aufgrund der Entwicklung dazu gezwungen. Die Sow­
jets verfügten für einen Krieg gegen den Westen nicht über die notwendige
Moral. Heusinger dagegen betonte, dass die Rote Armee aus ihrer derzeitigen
Aufstellung innerhalb von drei, vier Tagen antreten könnte. Man einigte sich
darauf, dass im Augenblick kein Angriff zu erwarten sei, weil die notwendi­
gen Flankenbewegungen wesentlich mehr Zeit beanspruchen würden.7 Wessel

7 Tagebuch Herre, Eintrag vom 29.6.1950, S. 223-224, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

659
schätzte den Überfall in Korea als sowjetischen Versuchsballon ein. Schon ein
unbeabsichtigter Zwischenfall in Europa könnte zu weitreichenden Verwick­
lungen führen. Deshalb sei es die Aufgabe der Org, Hinweise auf sowjetische
Absichten im Aufklärungsbereich zu sammeln und frühzeitig Kriegsvorbe­
reitungen zu erkennen, wofür er einen systematischen Katalog von Beobach­
tungsmerkmalen zusammenstellte.8
Trotz drohender Kriegsgefahr und erneuter Überprüfung der Evakuierungs­
pläne der Org für den Kriegsfall führte Gehlen in aller Ruhe seine Gespräche
in Bonn, nach Globke mit Lex und Heinemann, den Verantwortlichen für den
Aufbau des Verfassungsschutzes.9 In Pullach beklagte derweil Critchfield die
mangelhaften Leistungen der Org, die angesichts der Situation in Korea nicht
ausreichend seien. Der Amerikaner räumte zugleich ein, dass die dortige Ent­
wicklung natürlich der Org sehr nützen werde. Dabei dachte er nicht in ers­
ter Linie an Gehlen, sondern an Heusinger, dessen militärische Beurteilungen
sofort nach Washington geleitet wurden, um die US-Regierung von der Nütz­
lichkeit der Org zu überzeugen.10 Von seinen Vorgesetzten in Karlsruhe wurde
Critchfield aufgefordert, die militärisch-operative Kompetenz von Pullach
abzugreifen und die militärische Aufklärung durch die Org zu intensivieren.
Entweder würde die Rote Armee aufmarschieren, um bis an die Atlantikküste
vorzustoßen. Dafür wären aber größere Vorbereitungen notwendig, die sich
feststellen ließen. Oder sie trete aus Manöverversammlungen überraschend an
und ginge bis zum Rhein, um dort neu aufzumarschieren. Für diese Szenarien
waren die auf Erfahrung beruhenden Zeitberechnungen von Heusinger richtig
und wichtig. Was könnte denn die Org zur Intensivierung der militärischen
Aufklärung leisten, fragte Karlsruhe und bot jede Form von Unterstützung an.
Von Geldmangel war ab sofort keine Rede mehr.11
Gehlen, der darauf vertraute, dass seine Blütenträume in Bonn bald zu
Resultaten führen könnten, räumte gegenüber Critchfield ein, dass die Lage
auf dem Haupttätigkeitsfeld der Org unbefriedigend sei. Die Ursache dafür
wollte er in dem amerikanischen Projektverfahren sehen, das er in den ver­
gangenen Monaten bekämpft hatte. Allerdings habe die Mehrzahl des jünge­
ren Nachwuchses aus dem letzten Krieg auch keine großen Erfahrungen in

8 Ausarbeitung Wessels »Gedanken zur Lage«, 29.6.1950, S. 71-75, BND-Archiv, N l/4.


Auch Oberst Buntrock legte eine Studie über »Gedanken zu der durch den Korea-Kon­
flikt eingeleiteten Entwicklung« vor, 30.6.1950, BND-Archiv, N 6/2.
9 Siehe seine Sammlung von Unterlagen, zu denen u. a. seine Gedanken zur Frage des Ver­
fassungsschutzes vom 18.3.1950 gehörten, BND-Archiv, 1110, Blatt 34-40; Notiz vom
1.7.1950, BND-Archiv, 4314.
10 Notiz vom 1.7.1950, BND-Archiv, 4314
11 Notiz vom 2.7.1950, ebd.

660
der strategischen Aufklärung. Er habe bereits 1947 gegenüber General Sibert
erklärt, dass man frühzeitig beginnen müsse, Ansätze in Polen, Westrussland
und den Satellitenstaaten zu schaffen. Der zuständige Bereich 31 habe in
jüngster Zeit allerdings gezögert, neues Personal heranzuziehen, bevor nicht
die finanzielle Lage geklärt sei.12
Gehlen sah sich konfrontiert mit dem Lösungsvorschlag von Critchfield,
die Aufgabe einem »joint American-German staff« außerhalb der Org zu über­
tragen. Das sei zwar eine gute Lösung, wich Gehlen aus, aber erst möglich,
wenn die Org als unabhängiger Nachrichtendienst einer souveränen deut­
schen Regierung im Rahmen von Abmachungen zwischen den USA und der
Bundesrepublik mit den Amerikanern Zusammenarbeiten könnte – mit ande­
ren Worten: erst in ferner Zukunft. Sollte eine andere Lösung für die US-Seite
nicht akzeptabel sein, so müsste sie auf die strategische Aufklärung durch die
Org verzichten. Es bestehe ohnehin die Besorgnis von Organisationsleitern,
einzelne US Case Officers wollten ihnen die strategische Aufklärung aus der
Hand nehmen. Gehlens Vorschlag lief auf eine Umgliederung hinaus, um das
bisher von Winter geführte Referat für strategische Aufklärung zu einer selbst­
ständigen Dienststelle auszubauen, dort die Beschaffungskapazitäten zu kon­
zentrieren und unter der Gesamtleitung von Schenk auch die Gegenspionage
anzubinden. Das führte aber letztlich nicht weiter. Hilfreich für die Org war
lediglich die Zusage der CIA, zusätzlich monatlich 100.000 D-Mark für die mili­
tärische Aufklärung in der SBZ zur Verfügung zu stellen.13
Für Adenauer war eine ganz andere Frage wichtig. Er wollte, dass die Ame­
rikaner – anders als derzeit in Korea – Westdeutschland bei einem Angriff von
Roter Armee und/oder der sowjetzonalen Kasernierten Volkspolizei (KVP)
nicht einfach preisgäben, um es dann später vielleicht zurückzuerobern. Selbst
angesichts einer gewaltigen Übermacht sowjetischer Panzerverbände sollten
möglichst rasch mobilisierte deutsche Einheiten den Invasoren entgegentre­
ten.14 Der Kanzler vertraute auf Schwerin, der mit seinem Konzept leichter
Polizeiverbände und der in Vorbereitung befindlichen Wiederaufstellung meh­
rerer ehemaliger Elitedivisionen der Wehrmacht einen scheinbar praktikablen
Weg anbot. Heusinger und Speidel setzten dagegen auf die Amerikaner und
den systematischen Aufbau einer kampfkräftigen neuen deutschen Armee von
zwölf Divisionen.

12 Memorandum Gehlens, 23.7.1950, BND-Archiv, 1112, Blatt 368-373.


13 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 14.7.1950, BND-Archiv, N 1/4.
14 Siehe Meyer, Heusinger, S. 403, und Norbert Wiggershaus: Bedrohungsvorstellungen
Bundeskanzler Adenauers nach Ausbruch des Korea-Krieges, Militärgeschichtliche Mit­
teilungen 1 (1979), S. 79-122.

661
Doch die aktuelle Bedrohungslage machte es erforderlich, für den Notfall
alle Möglichkeiten zum Widerstand durchzuspielen. So fand am 10. Juli 1950
ein Treffen des stellvertretenden amerikanischen Hohen Kommissars, General
Major George P. Hays, mit Blankenhorn und Schwerin seitens des Kanzleramts
statt, um Maßnahmen zu diskutieren, die im Falle eines plötzlichen Angriffs
russischer Truppen erforderlich sein könnten.15 Gehlen, der hinzugezogen
worden war, legte besonders Wert darauf, dass deutsche Verbände nicht als
»Kanonenfutter« eingesetzt würden. Sonst hatte er hauptsächlich das Über­
leben und die Zukunft seiner Org im Sinne. Für den Ernstfall war in Pullach
vorgesorgt, blieb es friedlich, war die nahe Zukunft angesichts der Konkurrenz
im deutschen Regierungsapparat offen.
Gehlen verspürte gegen Schwerin zunächst noch eine gewisse »Beißhem­
mung«, verfolgte aber jeden mit Gram, der Heinz vorgeschlagen hatte, um bei
Schwerin einen eigenen militärischen Nachrichtendienst aufzubauen.16 Wür­
den Heusinger und Speidel am Ende das Rennen machen, wäre auch die Org
gesichert, vorausgesetzt Gehlen gelang das Kunststück, seine Beziehung zu
den Amerikanern zu erhalten und gleichzeitig in Bonn seinen »deutschen«
Nachrichtendienst zu etablieren. Wessel unterstützte diese Linie durch eine
militärische Lagebeurteilung, die dem Nachrichtendienst größte Bedeutung
zuwies, um Überraschungen zu verhindern. Das dort investierte Geld erspare
höhere Ausgaben im Krieg.17 Hier profilierte sich ein künftiger G-2 deutscher
Streitkräfte – oder ein möglicher Nachfolger Gehlens.
Zuversichtlich schrieb Gehlen am 15. Juli 1950 einen Brief an Globke, dem er
versicherte, dass die Amerikaner ihr prinzipielles Einverständnis zu den Ver­
handlungen erteilt hätten und dass auch mit Heinemann ein Einvernehmen
über die Unterstützung des Verfassungsschutzes erreicht worden sei.18 Dem
Besuch Globkes in Pullach konnte Gehlen beruhigt entgegensehen. Doch er
wirkte hochgradig nervös. Es ging wieder einmal für ihn um alles. Da herrschte
große Aufregung in seinem Dienstzimmer, als überraschend bekannt wurde,
dass die deutsche Regierung »eingeschnappt« sei, weil Heusinger ein abfälliges
Urteil bei den Amerikanern über Schwerin abgegeben habe. Dazu führte Geh­
len »Vernehmungen« durch, um weiteren Ärger abzuwenden.19

15 Keßelring, Die Organisation Gehlen, S. 16.


16 Foerster, Innenpolitische Aspekte, S. 469.
17 Ausarbeitung Wessels vom 18.7.1950: Gedanken zur Weltlage, BND-Archiv, N 1/4,
Blatt 76-83.
18 Schreiben Gehlens an Globke, 15.7.1950, BND-Archiv, 1110, Blatt 47-48.
19 Tagebuch Herre, Eintrag vom 19.7.1950, S. 242, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

662
Herre musste es wieder einmal richten. In einem langen Gespräch mit
Critchfield über die Verschlechterung der Beziehungen räumte dieser ein, dass
es der »Doktor« schwer habe. Aber wolle er tatsächlich zwei Pferde gleichzei­
tig reiten, fragte er. Wolle Gehlen nun Politiker oder Intelligence-Mann sein?
Er solle es nur sagen. »Gehlen kommt mit leuchtenden Augen herein, wenn es
sich um Bonn handelt, und meistens handelt es sich darum [...] Gehlen kommt
aber nie mit Enthusiasmus herein, wenn es sich – was leider selten ist – um die
Lösung eines ND-Problems handelt.« Vielleicht sei er der Frontmann für einen
deutschen Nachrichtendienst, oder wolle er nur mit der Org den Nukleus für
eine deutsche Armee retten? Große Verdienste habe er sich auf alle Fälle in
dieser Richtung bereits erworben. »Aber warum wehrt sich der Doktor gegen
amerikanische Führungsmaßnahmen? Meist hat sich doch herausgestellt, daß
diese zum Besten der Org. waren.«20
Zu ungewöhnlich früher Morgenstunde fand am nächsten Tag eine große
Sitzung bei Gehlen statt, um den angekündigten Besuch von Globke vorzu­
bereiten.21 Gehlen verwies auf die Vorstöße zur Remilitarisierung aus allen
Richtungen. Globke wolle an diesem Tag erst Heusinger, dann ihn selbst spre­
chen. Warum? Vielleicht wegen der durchgesickerten abfälligen Bemerkun­
gen Heusingers über Schwerin? In der allgemeinen Verunsicherung bemerkte
Heusinger, dass er Globke für eine undurchsichtige Person halte. Nachdem der
Besuch reibungslos abgelaufen war, informierte Gehlen Critchfield. Globke
habe sich für die Möglichkeit interessiert, rasch verfügbare militärische Kräfte
zu organisieren. Er dachte an die deutschen Angehörigen der französischen
Fremdenlegion in Nordafrika, rund 20.000 Mann. Gehlen reagierte mit dem
Hinweis, dass deren Einsatz nur im Rahmen der UNO denkbar sei. In Sorge vor
einem möglichen kommunistischen Aufstand fragte Globke weiter nach der
Bundespolizei, nach Post- und Bahnschutz. Das alles könne man entsprechend
vorbereiten, meinte Gehlen. Gefragt nach Persönlichkeiten für den Aufbau
regulärer deutscher Streitkräfte, benannte er Foertsch, Heusinger und Speidel.
Schwerin ließ er ausdrücklich unerwähnt.
Dieser legte am selben Tag ein Aide-Memoire im Bundeskanzleramt vor.22
Darin fasste er alle Maßnahmen zur Vorbereitung auf den Invasionsfall zusam­
men: den Rückgriff auf alte Kriegskameradschaften als personelle Stämme für

20 Ebd., Eintrag vom 20.7.1950, S. 250.


21 Notiz vom 21.7.1950, BND-Archiv, 4314, und Tagebuch Herre, Eintrag vom 21.7.1950,
S. 244-246, online unter: College of William and Mary, Digital Archive, Diary of Heinz
Danko Herre.
22 Denkschrift Schwerins vom 21.7.1950, BA-MA, BW 9/3110 (Kopie in BND-Archiv, 4314,
S. 26-27).

663
Das Palais Schaumburg in Bonn, von 1949 bis 1976 Sitz des Bundeskanzleramts, 1950

»Crack«-Divisionen;23 die Schaffung eines landesweiten Netzes von Vertrau­


ensleuten, die von den alliierten Dienststellen nicht behindert werden dürf­
ten; die Beendigung der Diffamierung ehemaliger Berufssoldaten und, auf
besonderen Wunsch des Kanzlers, die Zusammenziehung der sofort verfüg­
baren Kräfte des Zollgrenzschutzes in Stärke von 5.000 Mann im Raum Hamm-
Soest-Unna. Sie sollten als militärische Verstärkung der Briten dienen mit dem
Auftrag, »die Zugänge zum Ruhrgebiet bis zum letzten Mann kämpfend zu ver­
teidigen«. Dem Bundeskanzler liege außerdem an einer sofortigen Feststellung
und Bekämpfung der »Fünften Kolonne« Moskaus. Im Zusammenwirken mit
den alliierten Sicherheitsoffizieren, der Polizei etc. gelte es, diese Zellen aus­
findig und »unschädlich« zu machen. In diesem Zusammenhang gab Schwerin
den Hinweis, dass die Organisation Gehlen nicht immer zuverlässig sei – eine
Retourkutsche für die abfälligen Bemerkungen Heusingers.
Gehlen wird froh gewesen sein, in diesem »Krieg der Generale« im Hin­
tergrund bleiben zu können. Wieder fuhr er für einige Tage in die Schweiz,
doch hinsichtlich der Evakuierungspläne, die er dort auch mit Franzosen und
Spaniern besprach, sorgte er intern für Beruhigung. Zu Hause wartete auf ihn
der Ärger mit der katastrophalen Buchhaltung einiger Generalvertretungen.

23 Zu dem Konzept siehe die Studie von Agilolf Keßelring: Die Organisation Gehlen und
die Verteidigung Westdeutschlands. Alte Elitedivisionen und neue Militärstrukturen
1949–1953, Marburg 2014.

664
Die entsprechenden Prüfberichte wollte er ungern zur Kenntnis nehmen,24
weil es ihn zwingen würde, gegen die eigenen Leute vorzugehen und damit
den Beschwerden der Amerikaner über unsaubere Machenschaften Raum zu
geben. Es handelte sich wohl teilweise um Schwarzmarktgeschäfte, die zur
Erhöhung der Operationellen Mittel getätigt wurden.
Seinen Frust ließ er in heftigen Anwürfen gegen die Amerikaner ab. Herre
notierte enttäuscht: »unduldsam, eigensinnig, dauernd zur negativen Beurtei­
lung der Haltung der Amerikaner neigend, gegenüber meinen bestgemeinten
Bestrebungen oftmals völlig ablehnend« – so erlebe er Gehlen recht oft.25 Wal­
ter Schenk, den Gehlen nach langem Zögern als neuen Leiter der Tiefenauf­
klärung akzeptiert hatte, bestätigte Herres Eindruck, dass sich der »Doktor«
allzu ablehnend gegenüber den Amerikanern verhalte. »Natürlich sei keine
Verschwörung gegen den Doktor möglich«, aber er müsse auf eine einheitliche
Meinung des Leitungspersonals stoßen, weil er aus verschiedenen Richtungen
immer wieder aufgeputscht werde.26
Critchfield drang darauf, dass im Augenblick zwei Ziele im Vordergrund zu
stehen hatten: die Verstärkung der Tiefenaufklärung und die Legalisierung der
Org durch die Bundesregierung. Um die Verbindung zu den Briten solle sich
Gehlen nicht weiter kümmern. Dessen Vorschlag, hierfür seinen Bruder Johan­
nes einzusetzen, lehnte Critchfield brüsk ab.27 Dann forderte die CIA Berichte
über die Stimmung der deutschen Bevölkerung und ihrer Repräsentanten an,
über kommunistische Pläne zur Sabotage der alliierten Positionen, außerdem
hinsichtlich der Konfusion über die deutsche Wiederaufrüstung, deutsche
Pläne zur Ausweitung der Polizeikräfte, zur Verteidigung Westdeutschlands
und zur militärischen Zusammenarbeit mit den Alliierten.28 Kurz: Pullach
sollte alle Karten offenlegen.
Gehlen könne doch nicht alles machen, meinte Critchfield. Natürlich näh­
men die politischen Dinge dessen Zeit sehr in Anspruch. In der Frage der Bun­
desregierung könnte Gehlen sogar noch aktiver werden, wer aber schaue dann
den Generalvertretungen mit ihren undurchsichtigen Aktionen auf die Finger?
Im Frühjahr sei Gehlen so sehr mit der Frage des Verfassungsschutzes beschäf­
tigt gewesen, dass er sogar Kandidat für die Spitzenposition wurde. Nun sei
es die Remilitarisierung. Wolle Gehlen die Sache etwa selbst in die Hand neh­
men? Herre meinte, Gehlen habe keine Ambitionen, wolle aber durch eine

24 Tagebuch Herre, Eintrag vom 31.7.1950, S. 256, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
25 Ebd., Eintrag vom 1.8.1950, S. 257.
26 Ebd., Eintrag vom 14.8.1950, S. 263.
27 Ebd., Eintrag vom 2.8.1950, S. 259.
28 Anweisung Critchfields an Gehlen, 15.8.1950, BND-Archiv, 4314.
Reise zu Schwerin diesen auf die richtige Linie bringen. Critchfield fragte: Soll
es Heusinger machen? Die USA wollten die Remilitarisierung jetzt mit aller
Kraft voranbringen und der Org falle dabei eine entscheidende Rolle zu. Geh­
len solle dem Nachrichtendienst aber nicht verloren gehen. Wenn Gehlen der
Auffassung sei, Heusinger solle die Remilitarisierung machen, dann würden
die Amerikaner Heusinger mit allen Kräften lancieren und fördern. Schwerin
war jedenfalls nicht ihr Kandidat.
Gehlen traf sofort mit Schwerin in Bonn zusammen. Die beiden Exgenerale
bemühten sich »von beiden Seiten betont herzlich, offen und kameradschaft­
lich« um eine sachliche Aussprache. Gehlen machte deutlich, dass er bereit sei,
der deutschen Regierung »einen gut eingearbeiteten und gut funktionierenden
Nachrichtenapparat zur Verfügung zu stellen. Man müsse jedoch wissen, woran
man sei.«29 Ihn hatte irritiert, dass Schwerin nicht an der von Minister Wilder­
muth angesetzten Besprechung des »Experten-Ausschusses« zur Wiederbe­
waffnung teilgenommen hatte. Schwerin ließ durchblicken, dass er die Absicht
hatte, die Sache mit Rückendeckung des Kanzlers selbst in die Hand zu neh­
men, und sich die personelle Zusammensetzung des Ausschusses vorbehielt.
Außerdem kündigte er an, dass er Speidel und Heusinger bitten werde, »zu sei­
ner eigenen Orientierung gewisse Gutachten in München« auszuarbeiten.
Der Panzergeneral machte offenbar einen derartig überlegenen Eindruck
auf Gehlen, dass dieser seine Bereitschaft erklärte, die beiden besten Leute
seines Unternehmens Wiederbewaffnung abzugeben. Er machte sogar den
Vorschlag, ihn selbst »als Ic oder sonstwie hinzuziehen«. Schwerin allerdings
hielt sich bedeckt und zog sich darauf zurück, dass sich der ganze Komplex
zunächst auf rein politischer Ebene bewege, »die eine Zulassung der Militärs
zu den Beratungen noch nicht gestatte«. Außerdem habe man es in Bonn mit
drei verschiedenen Parteien zu tun, die recht unterschiedliche Auffassungen
hätten.
Schwerin hatte insofern leichtes Spiel, weil die Briten Gehlen ablehnten, da
sie seinem Dienst »Durchlässigkeit« vorwarfen. Gehlen räumte ein, dass dieser
Vorwurf »in gewisser Hinsicht berechtigt sei, wie er sehr wohl wisse. Er glaube
jedoch, dass sein Apparat nicht mehr und nicht weniger durchlässig sei, als
alle anderen Nachrichtendienste auch.« In Wirklichkeit gehe es den Briten, so
meinte er, um etwas anderes. Sie würden es nicht gern sehen, dass die Deut­
schen unter amerikanischer Regie einen Nachrichtendienst betrieben, auf den
sie keinen Einfluss hätten. Daher ihr Misstrauen, »das in dieser Hinsicht auch
eine gewisse Berechtigung habe«. Er werde sich aber selbst darum bemühen,

29 Aktennotiz betr. Aussprache General Gehlen/Graf Schwerin am 15.8.1950, nachmittags,


VS-Registratur Bka, 15100/65, Bd. 1.

666
die britischen Widerstände zu überwinden. Dazu habe er von den Amerika­
nern inzwischen freie Hand bekommen. Und Gehlen ging noch weiter, indem
er »die Notwendigkeit gewisser personeller und organisatorischer Reformen«
einräumte. Er beabsichtige, diese Reformen anzupacken, sobald die Org in
deutsche Hände komme. »Solange die Amerikaner die Oberaufsicht hätten,
könne und wolle er diese Reorganisation nicht vorschlagen.«
Gehlens Unterwürfigkeit ging also sehr weit, was die gegenseitige persön­
liche Abneigung nicht verringerte. Das Ergebnis der Besprechung war alles
andere als »kameradschaftlich«. Die Festlegung, dass die beiderseitige Zusam­
menarbeit »auf möglichst freundschaftlicher Basis erfolgen« sollte, war blan­
ker Hohn, denn Gehlen sollte die Auswertung seines Nachrichtenapparats zur
Verfügung stellen, die Dienststelle Schwerin sollte aber weiterhin »abgeschlos­
sen gegenüber der Org.« bleiben. Außerdem musste Gehlen anerkennen, dass
Heusinger bei seiner Tätigkeit im Expertenausschuss für die Wiederbewaff­
nung einer Schweigepflicht gegenüber der Org unterliegen würde. Beide Seiten
stellten fest, dass unter diesen Umständen »ein enges Vertrauensverhältnis«
noch nicht möglich sei. Ein »inoffiziell freundschaftliches Verhältnis könne und
solle aber trotzdem aufgenommen und aufrechterhalten werden«. Nach der
Abreise von Gehlen kündigte Schwerin gegenüber Globke und Blankenhorn
entsprechend an, in Fragen der Heimatverteidigung und der äußeren Sicher­
heit gegenüber der Org »die Schotten dicht zu machen«.30
In Pullach berichtete Gehlen vom einem angeblich großen Durcheinander
in Bonn,31 bei dem wohl – was sich dem Einblick Gehlens zwangsläufig ent­
zog – der Kanzler die Fäden in der Hand behielt, da sein Spielraum gegenüber
den alliierten Hohen Kommissaren eng begrenzt war. Die New Yorker Außen­
ministerkonferenz musste recht mühsam eine westeuropäisch-atlantische
Lösung für die Verteidigung Europas aushandeln, für die US-Präsident Truman
insgeheim auch eine deutsche Beteiligung genehmigte. So nahm Adenauer ein
Memorandum von Speidel wohlwollend zur Kenntnis und unterstützte den
Gedanken, ein militärisches Gremium zusammentreten zu lassen, um Schritte
für einen deutschen Verteidigungsbeitrag zu entwerfen.32 Doch in welche Rich­
tung sollte es gehen?
Critchfield kündigte an, die Gruppe Heusinger mit aller Kraft zu unterstüt­
zen, gegen Schwerin aber nur dann aktiv zu werden, wenn dieser seine Gren­
zen überschreite.33 In Pullach herrschte immerhin Zuversicht, dass es jetzt von

30 Meyer, Heusinger, S. 409.


31 Eintrag zum 16.8.1950, BND-Archiv, 4314.
32 Zum Hintergrund siehe Meyer, Heusinger, S. 403 – 408.
33 Tagebuch Herre, Eintrag vom 17.8.1950, S. 265, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

667
Regierungsseite her ernsthaft mit der Remilitarisierung losgehe. Heusinger
zögerte jedoch wieder, als der Eindruck entstand, dass Adenauer es Schwerin
überlassen wollte, die Gruppen an einen Tisch zu bringen. In Pullach hielt man
dagegen, dass Schwerin doch »klein und häßlich« sei, und drängte Critchfield,
McCloy zum Handeln zu bewegen. Durch die Einsetzung von Schwerin auch
auf dem Nachrichtensektor sei für die Org eine schwierige Lage entstanden.
Schwerin sei ein tapferer Soldat und exzellenter Führer von Kampfgruppen
gewesen. Für die jetzige Aufgabe sei er aber nicht geeignet. Eine US-Interven­
tion bei Adenauer sei dringend notwendig, meinte Gehlen.34 Er verwies darauf,
dass Schwerin ein Vertrauensmann des britischen Generalstabs sei und von
vielen deutschen Exmilitärs abgelehnt werde. Guderian halte ihn sogar für
einen »Hochstapler«. Critchfield empfahl Gehlen in dieser Situation, sich um
eine baldige Aussprache mit Adenauer über den Nachrichtendienst zu bemü­
hen.35 Die Lage sei zwar verfahren, aber er wäre bereit, so meinte Gehlen, die­
sen Schritt zu gehen, wollte freilich nicht riskieren, vom Kanzler ein »Nein«
oder eine unbestimmte Antwort zu bekommen. Deshalb sollte McCloy mit­
wirken. Dieser müsse Adenauer fragen, woher er das Feindlagebild bekommen
habe. Der Kanzler dürfe doch keinen Nachrichtendienst machen, dafür stehe
ihm die Org zur Verfügung.36 Dass Adenauer inzwischen sehr gute Analysen
vom CDU-Bundestagsabgeordneten Theodor Blank bekam, war Gehlen offen­
bar noch nicht klar.
Pleasants unterrichtete Herre über die Lage in Bonn. Adenauer müsse mit
dem »Holzhammer« bearbeitet werden, meinte er. Gehlen solle sich in dieser
Beziehung anstrengen. In der Zwischenzeit improvisiere Oberstleutnant a. D.
Heinz mit seinem Dienst in erstaunlichem Maße. Am Ende könnte es plötzlich
heißen: »Brauchen wir Gehlen überhaupt?«37 Die »Holzhammer«-Methode
war nicht Gehlens Art. Er bevorzugte es, dass McCloy den »Holzhammer« in
Bonn einsetzte, und dachte daran, sich stärker aus der US-Treuhandschaft zu
lösen, den US-Teil in Pullach zu belassen und die deutschen Teile nach außer­
halb zu verlegen,38 um durch die räumliche Trennung die Vorbehalte in Bonn
zu unterlaufen und die Übernahme in deutsche Dienste einzuleiten.
Dann fuhr er nicht, wie beabsichtigt, zu Vizekanzler Blücher und Minister
Wildermuth, sondern zu entspannten Gesprächen in die Schweiz. An seiner
Stelle sollte Mellenthin die weiteren Gespräche in Bonn führen. Gehlen ver­

34 Note an den CIA-Verbindungsstab, 27.8.1950, BND-Archiv, 4314; Fernschreiben von Geh­


len an Herre, 24.8.1950, BND-Archiv, 100621.
35 Eintrag zum 31.8.1950, BND-Archiv, 4314.
36 Eintrag zum 7.9.1950, ebd.
37 Eintrag zum 9.9.1950, ebd.
38 Eintrag zum 11.9.1950, ebd.

668
General der Artillerie a. D. Horst von Mellenthin,
Anfang der 1950er-Jahre

fasste für ihn eine Beurteilungsliste früherer Generale und Generalstabsoffi­


ziere, die er für eine Wiederverwendung für geeignet hielt, und fügte Lebens­
läufe von Heusinger, Speidel und Foertsch als Empfehlung bei. Von Critchfield
vor seiner Abreise angesprochen, begründete Gehlen das »Abblasen konzen­
trischer Angriffe« auf Bonn mit dem Argument, er wolle nicht in Opposition
zum Kanzler kommen.39
Da traf am nächsten Tag in Pullach die Nachricht ein, dass Adenauer
Schwerin offiziell zu seinem militärischen Berater ernannt habe. Es herrschte
riesige Aufregung. Gehlen rief wütend aus der Schweiz an.40 Herre sorgte sich
gegenüber der CIA um seinen Chef, der wieder einmal am Abgrund zu ste­
hen schien. Ob Gehlen denn wohl mit Schwerin zusammenarbeiten würde,
fragte Henry Pleasants, CIA-Vertreter beim Hochkommissariat für Deutsch­
land. Gehlens Antwort an Herre: »Machen Sie es schwer für die Amerikaner.«
Er wich also aus und schickte seinen Herre vor.41 Dieser suchte auf Bitten von
Pleasants belastendes Material gegen Schwerin, fand allerdings nur wenig.42
Heusinger kam aus Bonn zurück, wo er sich »fürstlich« behandelt gefühlt
habe. Er forderte die Amerikaner auf, dafür zu sorgen, dass er selbst in das Gre­
mium komme, das mit den alliierten Soldaten verhandeln würde. Gehlen solle

39 Eintrag zum 12.9.1950, ebd. Meyer, Heusinger, S. 415, erwähnt für diesen Tag die Einla­
dung Gehlens und Heusingers zu einem Abendessen bei McCloy, was terminlich nicht
stimmen kann.
40 Eintrag zum 13.9.1950, BND-Archiv, 4314.
41 Tagebuch Herre, Eintrag vom 13.9.1950, S. 290, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
42 Ebd., Eintrag vom 15.9.1950, S. 285.
mit McCloy sprechen und versuchen, so viel verlorenen Grund wie möglich
für die Org bei Adenauer zurückzuerobern.43 Heusinger hatte mit Lex, Globke,
Schwerin, Oster und Blankenhorn gesprochen und den Eindruck gewonnen,
dass Schwerin fest im Sattel sitze. Im Hinblick auf den Nachrichtendienst habe
Gehlen persönlich stark an Boden verloren. Nicht nur die Briten, sondern auch
die Franzosen schössen gegen die Org. Kanzleramtsmitarbeiter Blankenhorn
habe gemeint, in der jetzigen Form sei die Org für die Bundesregierung untrag­
bar, denn es würden sich unter dem Personal SS-Angehörige befinden. Die Org
solle sich erst einmal reinigen und reorganisieren. Geld werde man nicht geben.
Blankenhorn rate dazu,

solang wie irgendmöglich bei Amerikanern zu bleiben. Die Bundesregierung


sei mit unserer Arbeit aber nach wie vor einverstanden. Schwerin, Oster und
der ehemalige Oberst Heinz ziehen selbst ND auf. Frage (von Blankenhorn):
Kann oder solle man nicht mit 2 Nachrichtendiensten arbeiten? Heusinger
lehnt ab, gäbe nur gegenseitiges Abschießen und Stören.44

Oster leitete den Informations- und Nachrichtendienst der »Zentrale für Hei­
matdienst« (die Tarnbezeichnung für die Gruppe Schwerin). Heinz amtierte
offiziell als Leiter des »Archivs für Gegenwartsforschung«.
Heusinger berichtete weiter:

Frage Remilitarisierung läuft gut, und in unserem Sinne. Frage ND läuft


schlecht und nicht in unserem Sinn. Dies ist die Folge von:
a) Gehlen Politik, mit kleinen Leuchten zu arbeiten und nicht selbst an die
Spitze zu gehen (von Lossows Pleite auf der ganzen Linie, ebenso Mellen­
thin!).
b) Versagen der US (Critchfield usw.), die unsere Interessen nicht genügend
vertreten haben.
c) Intrigen der Engländer und Franzosen und Schwerins.
d) Wir sind zu weit von Bonn entfernt und daher oft nicht >up to date< in den
Fragen politischen Ränkespiels in der Bundesregierung.
Absichten:
Remilitarisierung laufen lassen.
ND: Gehlen muß zu Adenauer (wird sehr schwer sein, da Typen à la Globke nur
schieben, aber nicht kämpfen, und Adenauer Ressentiments gegenüber Geh­
len hat). Adenauer muß jedenfalls klares Bild über ND-Belange bekommen.

43 Gespräch Heusinger – Herre – Pleasants, 17.9.1950, BND-Archiv, 4314.


44 Notiz vom 18.9.1950, ebd.

670
Es ist gleichgültig, ob jemand in der SS war oder nicht (Unsinn der Kollektiv­
schuld!); ND à la Heinz (oder Baun) ist falsch.45

Nach diesem Vortrag Heusingers zeigte sich Gehlen sehr aufgebracht, beugte
sich aber dem Urteil seines ehemaligen Vorgesetzten. Heusinger hoffte, dass
Gehlen entsprechend handelte. Aber würde er das machen? Gehlen stand mit
dem Rücken an der Wand. So blieb die Initiative bei Heusinger.
Er hatte über Generalleutnant a. D. Helmuth von Grolman eine Einladung
des SPD-Vorsitzenden Dr. Kurt Schumacher erhalten, zusammen mit Gehlen
zu einem Gespräch nach Bonn zu kommen. Heusinger riet Gehlen, zunächst
Adenauer über die Einladung zu informieren und vor dem Besuch beim Oppo­
sitionsführer einen Empfang durch den Bundeskanzler zu erbitten. Wenn die­
ser zustimme, sei das die Chance für Gehlen, lehne Adenauer ab, könne er Geh­
len zumindest keine Illoyalität vorwerfen. Es war ein Glück für die Org, dass
Heusinger diese Idee hatte, denn Gehlen wollte natürlich direkt zu Schuma­
cher fahren und hatte noch zwei Tage zuvor Pleasants gebeten, dass McCloy
für ihn den Türöffner bei Adenauer spielen möge.46 Die Anfrage lief dann über
Globke, der seine guten Dienste einbringen konnte.47
Gehlen traf am 20. September 1950 um 11.30 Uhr zu einem ersten Gespräch
mit dem Bundeskanzler zusammen. In Anwesenheit von Globke hatte er Gele­
genheit zu einer kurzen Information über seine Org. Adenauer zeigte sich in
den knapp 30 Minuten aufgeschlossen und äußerte seinen Wunsch, dass die
Org ihre Arbeit in bisheriger Form fortsetzte und im laufenden Kontakt mit
Globke blieb.48 Es war streng genommen ein mageres Ergebnis. Bei einem zwei­
ten Kurzgespräch erlebten Heusinger und Gehlen den Kanzler noch »wesent­
lich zugeknöpfter«.49
In seinen Memoiren vermittelte Gehlen von dieser ersten Begegnung mit
Adenauer ein etwas anderes Bild. Er habe sich eingehend vorbereitet und
sich gefragt, so schrieb er, ob Adenauer wirklich »der Fuchs und schreckliche
Vereinfacher sei, wie er so oft betitelt wurde«.50 Aber er selbst sei ja nicht mit
leeren Händen gekommen, und sein »Ruf als sogenannte >legendäre Persön­
lichkeit<, als die ich mich freilich nicht fühlte, mochte vielleicht sein Interesse

45 Ebd.
46 Ebd., Eintrag vom 18.9.1950, S. 295.
47 Eintrag 19.9.1950, BND-Archiv, 4314; Tagebuch Herre, Eintrag vom 19.9.1950, S. 290,
online unter: College of William and Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
48 Eintrag vom 20.9.1950, BND-Archiv, 4314.
49 Tagebuch Herre, Eintrag vom 24.9.1950, S.295, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
50 Gehlen, Der Dienst, S. 142.

671
Kurt Schumacher, Vorsitzender der SPD, 1948

wecken. Der Bundeskanzler empfing mich mit einer Herzlichkeit und Aufge­
schlossenheit, die sofort alle Bedenken zerstreute.«
Beim anschließenden Besuch des Oppositionsführers ging es dagegen inten­
siver zur Sache. Gehlen traf abends zusammen mit Heusinger bei Schumacher
ein, der von Erich Ollenhauer, dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, und
Dr. Heinrich Albertz, niedersächsischer Minister für Flüchtlinge und Vertrie­
bene, begleitet wurde. Das Gespräch dauerte viereinhalb Stunden und wurde
nach Mitternacht noch für weitere zwei Stunden bei Albertz fortgesetzt, des­
sen Staatssekretär Grolman das Treffen arrangiert hatte. Pastor Albertz war
im Krieg nach seiner Gefängnishaft als Mitglied der Bekennenden Kirche Grol­
mans Schreiber im Oberkommando einer Armee, dann einer Heeresgruppe
geworden und so einer weiteren polizeilichen Verfolgung entzogen gewesen.
Jetzt hatte Grolman seinem früheren Abteilungschef Heusinger diesen Gefal­
len tun können.51
Heusinger war von Schumacher, dem dynamischen Parteiführer mit sei­
nem tiefempfundenen Patriotismus, sehr beeindruckt, denn er fand bei ihm
eine völlig gleichlautende Auffassung zur Remilitarisierung, obwohl Schuma­
cher wusste, dass seine Partei derzeit gegen einen Wehrbeitrag eingestellt war.
Er sei, so meinte Heusinger, der »größte Politiker, den ich nach dem Krieg ken­
nengelernt habe«.52 Von Gehlen ist ein unmittelbarer Eindruck zu Schumacher

51 Siehe Meyer, Heusinger, S.412. Wessel notierte in seinem Tagebuch, Schumacher habe
Gehlen also indirekt die Chance zu dem Treffen mit Adenauer verschafft; Eintrag vom
19.9.1950, BND-Archiv, N 1/4.
52 Tagebuch Herre, Eintrag vom 23.9.1950, S. 294, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

672
nicht überliefert. Er überließ Heusinger bei dieser Gelegenheit den Vortritt.
Schumacher hielt nichts von der Polizeilösung (»Adenauer kann keinen Sol­
daten vom Polizisten unterscheiden«)53 und ging teilweise noch weiter als die
Generale. Er verlangte einen alliierten Schutz von zehn bis zwölf Divisionen als
Voraussetzung für den Beginn der Remilitarisierung. Das war eine klare Ansage
gegenüber Heusinger, der schon vier bis sechs Divisionen der Alliierten für aus­
reichend hielt, um mit der Aufstellung deutscher Truppen zu beginnen. Nach
Schumachers Einlassung müsste eine glaubwürdige westliche Verteidigung
aber in der Lage sein, den Aggressor »jenseits von Weichsel und Njemen54«
vernichtend zu schlagen.55 Wie Gehlen angesichts dieser vollkommen unre­
alistischen Vorstellungen in seinen Memoiren später dazu kam, Schumacher
eine »überzeugende, klare Intelligenz« zu bescheinigen, blieb sein Geheimnis.
Heusinger, Schumacher und Gehlen verständigten sich über ein Ende der
Diffamierung des Soldaten (das Soldatenepos müsse »hinübergerettet« wer­
den) und darüber, welche Rolle die Opposition hierbei spielen müsste, sowie
über eine anzustrebende völlige Gleichberechtigung gegenüber den Besat­
zungsmächten. Es dürfe nicht heißen, »die Alliierten gestehen Deutschland
zu [...]«, sondern »Deutschland ist bereit [...]«. In seinen Memoiren behaup­
tete Gehlen später, dass Schumacher das Prinzip der Überparteilichkeit eines
Auslandsnachrichtendienstes bejaht habe.

Man könne und dürfe ein solch empfindliches Instrument nicht bei jedem
Regierungswechsel neu besetzen. Dies würde eine unerträgliche Unruhe und
Unsicherheit in die Mitarbeiterschaft hineintragen, die dieses Instrument
lähmen und letztlich nur die Opportunisten nach oben spülen würde.56

Dieser angebliche Standpunkt Schumachers entsprang vermutlich der Fanta­


sie des verärgerten Pensionärs, der seine Erinnerungen dazu nutzte, die Auf­
räumaktion der sozialliberalen Koalition in »seinem« BND zu diskreditieren.
Kaum waren Gehlen und Heusinger zurück in Pullach, erreichte sie die
Nachricht, dass Oster den Vorschlag gemacht habe, Gehlen könne doch als
Ic in das entsprechende Gremium der NATO nach Fontainebleau gehen. Die
Org wäre dann als »Morgengabe« der deutschen Regierung für den alliierten
Generalstab zu verstehen. Eine solche Konstruktion lag wohl im Interesse
Schwerins, der damit sowohl Gehlen als auch die Gruppe Heusinger aus dem
Weg geräumt hätte. Herre plädierte dafür, nicht gleich abzulehnen, sondern

53 Ebd., Eintrag vom 23.9.1950, S. 294.


54 Russischer Name der Memel.
55 Meyer, Heusinger, S. 412.
56 Gehlen, Der Dienst, S. 143.

673
zu versuchen, das Beste aus einer solchen Lösung zu machen.57 Eine erneute
Aussprache mit Adenauer sei unbedingt geboten, was auch Heusinger für
angeraten hielt.58
Gehlen sah hinter Schwerin nur die negative Haltung der Briten gegenüber
der Org, meinte aber resignierend, Schwerins Position sei wohl sicher, solange
Adenauer Kanzler sei – hier lag Gehlen wieder schief. Doch es veranlasste ihn,
ein weiteres Treffen mit Schwerin ins Auge zu fassen. Es sollte als »zufälliges«
Zusammentreffen beim alten General Ernst-August Köstring inszeniert wer­
den, was Heusinger für einen Fehler hielt und sehr verärgerte.59 Gehlen ließ
diese Idee später fallen. Heusinger hatte inzwischen seine Studie »Verteidi­
gung Westeuropas« für US-Hochkommissar McCloy fertiggestellt und war
zuversichtlich, mit seiner Kompetenz Schwerin aus dem Felde zu schlagen.60
Gemeinsam mit Gehlen wurde er von McCloy zu einem Gespräch am
3. Oktober eingeladen, eine Gelegenheit für Heusinger, die englische Fassung
seiner Studie zu übergeben und die Amerikaner von seinen Fähigkeiten zu
überzeugen. Gehlen bewegte sich in diesen hektischen Tagen auf einer anderen
Spielwiese. Er traf sich am 28. September zunächst mit Innenminister Heine­
mann, von dessen »Charakter« er bei dieser Gelegenheit einen »besseren Ein­
druck« gewann, wie er in Pullach berichtete.61 Heinemann habe offensichtlich
politische Klarheit gesucht, da er davon überzeugt sei, dass die »Überrollung
Westdeutschlands durch die Sowjets unvermeidlich« sei. Gehlen bemühte
sich, diesen »bedenklichen« Pessimismus zu zerstreuen. Heinemann setzte
freilich nicht auf deutsche Panzerdivisionen, sondern auf die evangelische Kir­
che, die im Falle einer Besetzung die »Moral der Bevölkerung« retten sollte.62
Einen gewissen positiven Eindruck glaubte Gehlen bei Heinemann hinterlas­
sen zu haben, so wie er selbst auch wohlwollend konzedierte, dass der Minis­
ter »kein kalter Logiker« sei, wie er angenommen hatte, »sondern ein Mann,
der sich ausserordentlich gründlich mit seinem Gewissen auseinandersetzt«.63

57 Tagebuch Herre, Eintrag vom 24.9.1950, S. 295, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
58 Ebd., Eintrag vom 25.9.1950, S. 296. Siehe auch Chronik, Eintrag 25.9.1950, BND-Archiv,
4314.
59 Tagebuch Herre, Einträge zum 26. u. 27.9.1950, S. 297-298, online unter: College of Wil­
liam and Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
60 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 20.9.1950, BND-Archiv, N 1/4.
61 Notizen Gehlens für Critchfield über die Bonnreise am 28.9.1950, BND-Archiv, 4314,
Blatt 241-243.
62 Siehe Dieter Dowe und Dieter Wunder (Hg.): Verhandlungen über eine Wiedervereini­
gung statt Aufrüstung! Gustav Heinemann und die Eingliederung der Bundesrepublik in
das westliche Militärbündnis, Bonn 2000.
63 Notiz Gehlens vom 28.9.1950, BND-Archiv, 4314, Blatt 242.

674
Ihm selbst ist dieser Charakterzug wohl fremd gewesen. Denn Gehlen schätzte
sich eher als kalten Logiker ein. Bei dieser Gelegenheit hatte er eigentlich über
die Abgrenzung zwischen Verfassungsschutz und Org sprechen wollen. Doch
das Thema ließ er fallen und konnte es ohnehin auch in den nächsten zehn
Jahren nicht abschließend klären.
Bei seinem folgenden Treffen mit Globke gewann Gehlen den Eindruck,
dass dieser Adenauer nicht vollständig über die Org unterrichte. So würden
im Vertriebenenministerium militärische Meldungen aus der SBZ anfallen,
die häufig alarmierenden Charakter trugen und unausgewertet zum Kanzler
liefen. Gehlen wollte sich darum kümmern, dass solche Informationsquellen
künftig »einer vernünftigen Auswertung« durch die Org zugeführt würden.
Globkes Bitte, die mögliche Gliederung eines »Sicherheitsministeriums«
mit personellen Vorschlägen zu entwerfen, delegierte er nach seiner Rückkehr
an den Verwaltungschef Wendland. Ein ursprünglich geplantes Gespräch mit
Schwerin in Bonn hatte er abgesagt, weil ihm nicht klar war, ob Schwerin den
Kanzler über den Fontainebleau-Vorschlag orientiert hatte. Hätte sich dann
herausgestellt, so seine Überlegung, dass Schwerin auf eigene Faust einen Ver­
suchsballon steigen gelassen hatte, hätte er ihn »attackieren« müssen. Die­
ser Eventualität aber wollte er aus dem Weg gehen.64 Critchfield empfahl eine
freundliche Kooperation mit Schwerin und warnte davor, Material gegen den
Kontrahenten zu sammeln. Gehlen könne zwar nach Fontainebleau gehen,
dann aber ohne die Org. Das kam für den »Doktor« natürlich nicht in Betracht.
Deshalb überlegte er, General Gerhard Matzky zu schicken und diesen dann
enger an die Org zu binden.
Gleichzeitig entwickelte Gehlen eine neue Idee: Er wollte, dass ihn Ade­
nauer offiziell zu seinem Berater ernannte, damit er in der Lage sei, Schwerin
entgegenzutreten und einen unabhängigen nachrichtendienstlichen Kanal zu
Adenauer zu öffnen.65 Gehlen sah den Vorteil vor allem darin, dass er dann
die technische Unterstützung der Org durch die Ministerien besser organisie­
ren könnte, und wollte darüber bei seinem geplanten nächsten Gespräch mit
McCloy reden.
Critchfield hielt jedoch überhaupt nichts davon, wie er Herre erklärte.66
Man werde Gehlen immer mit der Org identifizieren, auch wenn er solo
beim Kanzler anhängig wäre. Der Amerikaner meinte, Gehlen schätze seine
Gesprächspartner falsch ein. Es seien häufig eigennützige Personen, die ihm
nur bedingt hülfen. Gehlen sollte einen klaren Weg finden, dann würde er ihn

64 Ebd., Blatt 243.


65 Chronik, Eintrag 30.9.1950, ebd.
66 Tagebuch Herre, Eintrag vom 1.10.1950, S. 303, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

675
immer unterstützen. Critchfield stand auf dem Standpunkt, dass McCloy bei
Adenauer einen »negative approach« machen sollte, das heißt, er solle dem
Kanzler sagen, dass Verfassungsschutz, Polizei und Remilitarisierung nicht
mit dem Nachrichtendienst vermischt werden sollten. Das sah Gehlen natür­
lich anders, denn solange er nicht seine eigene Perspektive hatte, musste er
versuchen, auf mehreren Gebieten aktiv zu werden.
Ob er realisiert hat, dass eine mögliche Zusammenballung der Sicherheits­
bereiche politisch unter den gegebenen Bedingungen vollkommen unrealis­
tisch war, ist fraglich. Nach Meinung der Amerikaner sollte Gehlen die Org
stärker in Richtung Intelligence entwickeln und in diesen Fragen eine unab­
hängige Verbindung zum Kanzler aufbauen, ohne sich auf Schwerin einzulas­
sen. Um dessen Nachrichtendienst unter Heinz zu unterlaufen, sollte die Org
dessen Quellen in der SBZ feststellen und diese dann veranlassen, nur noch für
die Org zu arbeiten.67
Beim gemeinsamen Abendessen mit Gehlen bei McCloy am 3. Oktober 1950
übergab Heusinger die angeforderte Studie, ohne zu erwähnen, dass er auf
dem Weg nach Himmerod war. Dort sollte auf Anregung Adenauers die lange
geplante Expertenrunde zur Remilitarisierung stattfinden. Heusinger war wie­
der einmal nicht gut auf Gehlen zu sprechen, diesen ehemaligen Untergebenen,
jetzt offiziell sein Arbeitgeber, über dessen »Wurschtelei« er entsetzt war.68
Ein anderer Mitarbeiter brachte das Problem auf die einfache Formel: »zwingt
doch den Doktor zur Arbeit in der Org., dann kann er nicht fummeln.«69 Geh­
len ließ sich von seinem Bonner Vertreter Lossow (interner Spitzname »Onkel
Karlchen«) begleiten, dem er trotz interner Querelen bedingungslos vertraute.
Seine Vorzimmerdame, Fräulein »Kunze«, die bei den Dienstreisen ihres Chefs
und Geliebten meist dabei war, wartete vermutlich im Hotel.
Lossow berichtete später, dass es Gehlen bei McCloy nicht gelungen sei,
die Probleme der Org anzubringen. Sein Vortrag habe »etwas kümmerlich«
gewirkt.70 McCloy dürfe daher nicht zu Adenauer, um die Org zu stützen. Geh­
len erkundigte sich nach seiner Rückkehr bei Critchfield über die Wirkung sei­
nes Besuchs auf die Amerikaner. Diplomatisch antwortete er zunächst, das
Gespräch sei bei McCloy gut angekommen. Es sei nur schade, dass man sich in
Englisch unterhalten habe – was weder Heusinger noch Gehlen gut beherrsch­
ten. Deshalb habe sich die deutsche Seite nicht so verständlich machen kön­

67 Critchfield gegenüber Herre, 29.9.1950, BND-Archiv, 4314, Blatt 244-245.


68 Tagebuch Herre, Eintrag vom 2.10.1950, S. 304, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre. Heusinger bat Herre, Gehlen bei des­
sen verworrenen Personalentscheidungen zu bremsen.
69 Ebd., Eintrag vom 4.10.1950, S. 306.
70 Ebd., S. 307.

676
nen, wie es notwendig gewesen wäre. Die Sache der Remilitarisierung sei von
Heusinger gut vorangebracht worden, die Angelegenheiten der Org aber nicht!
McCloy sei wegen der Doppelgleisigkeit Gehlens »etwas indigniert« gewesen
und habe es deshalb vermieden, selbst auf die nachrichtendienstlichen Dinge
einzugehen. Dann nahm Critchfield Gehlen hart ran. Er warf ihm vor, dass
seine Wege zu langsam seien. McCloy habe die entscheidende Chance für die
Org in der Hand gehabt, und Critchfield fügte laut hinzu: »You have to make
up Your mind whether You like to do business with us.« Nach dieser peinlichen
Situation sagte Gehlen auf dem Weg zu seinem Büro dem überraschten Herre:
»Ich bin ganz froh, dass das alles so gekommen ist.«71 Seine Fähigkeit, unange­
nehme Momente einfach abzuschütteln, war gut trainiert.
Heusinger berichtete von der Begegnung bei McCloy, die vier Stunden
gedauert hatte, dass Gehlen fast völlig ausgeschaltet gewesen sei.

»Gehlen setzt sich zwischen alle Stühle, weil er auf 20 Klavieren und kei­
nem einzigen Flügel spielt.« Das Ansehen von Gehlen bei den Amerikanern
schwer angeschlagen, was leider auch Schwerin bekannt ist (wie sich über­
haupt wieder gezeigt hat, daß wir über alle Bonner Angelegenheiten immer
zu spät unterrichtet sind).72

Die Tagung von 15 ehemaligen Offizieren im Kloster Himmerod vom 4. bis


9. Oktober 1950 wurde später als Geburtsstunde der Bundeswehr interpre­
tiert. Schwerin hatte in dieser Runde von Speidel hören müssen, dass seine
Zeit abgelaufen sei, und war vorzeitig abgereist. Nach intensiven Diskussionen
hatte man sich darauf verständigt, was geschehen müsste, wenn die westli­
chen Besatzungsmächte eine rasche Aufstellung deutscher Verbände fordern
würden. Es war ein erster Entwurf für substanzielle deutsche Streitkräfte im
Umfang von zwölf Divisionen, eine Armee neuen Typus in der Demokratie, als
Teil eines Bündnisses auf der Basis der Gleichberechtigung, mit dem Auftrag,
den Frieden durch glaubwürdige Abschreckung zu sichern.73 Gehlen gehörte
nicht zu den Teilnehmern in Himmerod, und die auf seiner Lohnliste stehen­
den Generale widersprachen nicht der Mehrheit, als beschlossen wurde, dass
Oberstleutnant Heinz die G-2-Aufgaben übernehmen und zeitweilig von den

71 Ebd., Eintrag vom 5.10.1950, S. 309.


72 Notiz zum 12.10.1950, BND-Archiv, 4314.
73 Siehe ausführlich Meyer, Heusinger, S. 413-426; zur Dokumentation Hans-Jürgen Rau­
tenberg und Norbert Wiggershaus: Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950.
Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutsch­
land zur westeuropäischen Verteidigung, Militärgeschichtliche Zeitschrift 21 (1977) 1,
S. 135-206.

677
USA finanziert werden sollte.74 Als Begleitmusik dazu meldete die Presse, dass
in diesen Tagen eine Besprechung über den Aufbau eines Staatssicherheits­
dienstes stattfinden solle, mit der Gruppe Schwerin und der Gruppe Gehlen.
Bei Gehlen seien aber nicht nur Generalstabsoffiziere versammelt, sondern
auch ehemalige SS-Angehörige des RSHA.75
Der »Doktor« musste also aufpassen, dass sein Nachrichtendienst nicht
unter die Räder geriet, die in die neue Zeit rollten. Adenauer achtete sehr sorg­
fältig darauf, dass sein Kurs in der Frage der Remilitarisierung nicht die wenig
wehrfreudige Bevölkerung überforderte. Er musste zugleich darauf bedacht
sein, die eng begrenzten politischen Spielräume, die ihm von den Alliierten
eingeräumt wurden, so zu nutzen, dass über die Wehrfrage die deutsche Sou­
veränität zurückerlangt werden konnte.
Er hatte also den in US-Diensten stehenden General Gehlen angehört,
aber auf Distanz gehalten und auf den Kontakt zu Globke verwiesen. Gehlens
Absichtserklärung, künftig durch regelmäßige mündliche Vorträge den Bun­
deskanzler über den Dienst und seine Arbeitsergebnisse zu unterrichten,76
blieb vorerst ein frommer Wunsch. Dass am selben Tag, als die in Himmerod
versammelten Generale die Heimreise antraten, in Bonn Bundesinnenminister
Gustav Heinemann aus Protest gegen die Geheimverhandlungen des Kanzlers
über die Wiederbewaffnung seinen Rücktritt erklärte, erschwerte das ganze
Projekt zusätzlich. In seinen Memoiren erwähnte Gehlen weder den Rück­
tritt Heinemanns noch seine eigenen, bis dahin positiven Kontakte zu ihm. Er
umging damit einen möglichen Kommentar, der ihm bei der Abfassung seiner
Erinnerungen 1971 offenbar schwerfiel, denn Heinemann war inzwischen Bun­
despräsident.
Im hektischen Oktober 1950 reiste der CIA-Chef für Westdeutschland, Ste­
wart, aus Karlsruhe an, um Gehlen darauf festzulegen, dass die Org nicht als
Teil des G-2-Stabes der NATO nach Fontainebleau gehen dürfe. Er werde sich
in Washington dafür einsetzen, dass die Org unbedingt der deutsche Nachrich­
tendienst werden müsse. Die USA würden auch die Briten und Franzosen für
dieses Projekt zu gewinnen versuchen, und – als kleines Zugeständnis: Man
könnte darüber diskutieren, dass die Org auch die Arbeit mit den Emigranten­
organisationen wieder übernehmen dürfe, die ihr von der CIA abgenommen
worden war.77 Es blieb Gehlen nicht viel Muße, diese kurzzeitige Entspan­

74 Nach der Erinnerung von Eberhard Graf von Nostitz, Befragung durch MGFA, 12.4.1976,
BA-MA, BW 7/2784.
75 Meldung des Platow-Dienstes, 5.10.1950, VS-Registratur Bka, Bk 1:15100(64) Bd. 1.
76 Gehlen, Der Dienst, S. 145.
77 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen–Herre–Critchfield–Stewart, 11.10.1950, BND-
Archiv, 4314, Blatt 246.

678
nung seines Verhältnisses zu den Amerikanern zu genießen oder – wie viele
intern erhofften – sich wieder einmal stärker um die nachrichtendienstlichen
Belange zu kümmern.
Unter den Mitarbeitern begann ein mentaler Ablösungsprozess, weil sich
jene, die mit einer baldigen Rückkehr in den regulären Militärdienst rechne­
ten, Gedanken über den Absprung aus der Org machten, an ihrer Spitze Heu­
singer, der zunehmend auf Distanz zu Gehlen ging. Dennoch blieb er, solange
er sein Gehalt von Pullach bezog, um die Funktionsfähigkeit der Org besorgt
und fühlte sich verantwortlich dafür, seinen ehemaligen Untergebenen Gehlen
gelegentlich zur Ordnung zu rufen. Gehlens Vertrauter Herre bat ihn um ein
Gespräch, um sich über die »Spielerei« seines Chefs mit der deutschen Regie­
rung und innerhalb des Stabes zu beklagen. Er habe in politischer Hinsicht
das Vertrauen zum »Doktor« verloren. Heusinger versprach, Gehlen auf »die
Gefährlichkeit dieser Dinge« anzusprechen.78
Ob die Ermahnungen Heusingers wirkten, ist unsicher, aber als Gehlen
einige Tage später in Bonn durch Gespräche mit Adenauer, Schwerin und
Heinz die Lage sondierte, ohne die Amerikaner vorab zu informieren, ergaben
sich zwar keine neuen Erkenntnisse, aber, erstaunlich genug, ein gutes Ein­
vernehmen.79 Das spricht dafür, dass Gehlen sich weitgehend aufs Zuhören
beschränkte, angesichts der undurchsichtigen Lage keine unkluge Entschei­
dung. Vielleicht waren seine Gedanken auch ganz woanders, denn er nahm
die Idee mit nach Hause, in Bonn ein Haus anzumieten, um sich die lästigen
Hotelübernachtungen zu ersparen.80
Nach seiner Rückkehr lud er seine Spitzenmilitärs (Heusinger, Kühlein,
Wendland, Wessel, Scheibe, Buntrock) zu einem Abendessen ein. Ehrengast
war General Heinz Guderian, den er seit seiner Zeit im Kriegsministerium,
dann aus dem Frankreichfeldzug und vor allem aus den letzten Kriegsmona­
ten, als Guderian mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Generalstabschefs
beauftragt gewesen war, persönlich kannte. Wessel, der kritische Kopf, notierte
bei dieser Gelegenheit als Eindruck, Guderian sei unverändert, eitel, eingebil­
det, zeige Starallüren, ohne Fingerspitzengefühl für das Verhalten in der jet­

78 Tagebuch Herre, Eintrag vom 13.10.1950, S. 317, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
79 Gehlen hielt sich am 17./18.10.1950 in Bonn auf, siehe Gespräch mit Herre am 19.10.1950,
ebd., S.322.
80 Herre war wegen dieser Pläne besorgt um das Ansehen Gehlens gegenüber den Ameri­
kanern: »Eigenes Haus in Starnberg mit amerikanischem Geld, Gehalt von DM 3000,-,
Montenstraße, Jagdhaus, Haus Bonn.« (Neben dem Privathaus von Gehlen und der künf­
tigen Dependence in Bonn verfugte die Org noch über ein Anwesen in der Münchener
Montenstraße und ein Jagdhaus für dienstliche Zwecke.)

679
zigen Lage, sei ein politischer Dumm- und Wirrkopf, der mit dem Gedanken
spiele, sich der FDP zur Verfügung zu stellen. Es sei beschämend, dass dieser
Mann Generalstabschef gewesen sei. Guderian könne ein Panzerkorps führen,
mehr nicht!
Die anderen Teilnehmer, also auch Gehlen und Heusinger, widersprachen
nicht, als das Gespräch auf den 20. Juli kam, bei dem Guderian anschließend
eine unrühmliche Rolle bei der Aburteilung der »Verräter« gespielt hatte. Heu­
singer beeilte sich zu versichern, dass in künftige Truppenführerstellungen
keine Beteiligten oder auch nur Mitwisser des 20. Juli gelangen dürften, um
die neue Wehrmacht nicht von vornherein vor schwere Konflikte hinsichtlich
der Eidfrage zu stellen!81 Abgesehen von seinem persönlichen Zögern, sich
für die Anerkennung des militärischen Widerstands einzusetzen: mit dessen
wenigen Überlebenden allein ließ sich kein Führerkorps einer neuen Armee
aufstellen.
Weil er offenbar glaubte, Rückenwind durch die Amerikaner und den Kanz­
ler zu spüren, machte sich Gehlen an eine Ausarbeitung mit »Gedanken zur
Frage eines deutschen Nachrichtendienstes«.82 Sie war für Adenauer gedacht,
also etwas schlicht und zugespitzt formuliert, mit der Zielrichtung, dem Kanz­
ler die Idee eines neben der Org bestehenden FWH-Dienstes auszureden. Ein
künftiger deutscher Nachrichtendienst müsse in alle Sphären hineinreichen,
so Gehlens Argument. Das würde eine enge Verzahnung verschiedener Sach­
gebiete bedeuten, was organisatorisch eine straffe Zusammenfassung notwen­
dig mache. Das Nebeneinander verschiedener Dienste wäre viel aufwendiger.
Die einheitliche Zusammenfassung aller nachrichtendienstlichen Tätigkeiten
unter einer unmittelbar dem Bundeskanzler unterstellten Spitze böte die ein­
zige Gewähr, dass dringende Nachrichten schnellstens zur Kenntnis der Ent­
scheidungsträger gelangen könnten.
Ein erfolgreicher Nachrichtendienst sei durch die innige Verflechtung
von Nachrichtengewinnung, -auswertung und -Sichtung gekennzeichnet. Es
handele sich nicht um eine Tätigkeit im Stile von Sherlock Holmes, sondern
sie beruhe auf wissenschaftlichen Methoden und modernsten technischen
Errungenschaften. Hitlers häufige Fehlbeurteilungen seien meist auf falsche
Schlüsse aus Einzelmeldungen zurückgegangen. Ein moderner Nachrichten­
dienst brauche außerdem die Sympathie und Unterstützung aller Volkskreise
und Parteien – wie in der Schweiz. Es wäre denkbar, einen Beirat aus Vertre­
tern aller großen Parteien zu schaffen, der den Leiter des Nachrichtendienstes
berät. Dennoch brauche es das alleinige Weisungsrecht des Bundeskanzlers.

81 Notiz vom 19.10.1950, BND-Archiv, 4314.


82 Ausarbeitung Gehlens vom 21.10.1950, BND-Archiv, 1110, S. 54-68.

680
Der Dienst wäre zu gliedern in eine Abteilung Auswertung mit den Berei­
chen Politik, Wirtschaft, Militär, Transportwesen, Kultur und Wissenschaft,
Presse sowie in einen Bereich Nachrichtengewinnung mit einer Zentralabtei­
lung, der taktischen Aufklärung, der strategischen Aufklärung, Gegenspionage,
Horchdienst und Sonderaufgaben für den Katastrophenfall. Als Gegner seien
die UdSSR mit ihren Satellitenstaaten zu betrachten, generell der Kommunis­
mus und alle von außen geförderten staatsfeindlichen Bestrebungen.
Um einen solchen umfassenden Nachrichtendienst aufzubauen, stünden
die Org zur Verfügung sowie andere Dienste, die bislang schon gegen den Kom­
munismus gearbeitet haben. Es sollte eine völlig neue Struktur entstehen, die
nach jeder Seite getarnt werden müsse. Die Erfahrung zeige, dass ein Nach­
richtendienst alle zwei Jahre sein organisatorisches Gesicht um den nachrich­
tengewinnenden Teil verändern müsse, wenn er Wert auf absolute Tarnung
lege. Der Finanzbedarf belaufe sich auf 40 Millionen D-Mark jährlich.
Gehlen besprach mit mehreren Vertrauten dieses Konzept.83 Heusin­
ger meinte, dass man Adenauers Devise »divide et impera« entgegenhalten
müsste, die Bundesrepublik sei nun einmal in der glücklichen Lage, etwas
Neues schaffen und dabei von den Erfahrungen des Auslands profitieren zu
können. Es bestehe auch nicht die Gefahr, dass zu viel Macht in der Hand eines
Mannes liegen könnte, da dieser klar dem Bundeskanzler unterstellt sei. Man
sollte auch betonen, wie sehr die Stellung des Kanzlers gegenüber den anderen
Bundesministern gestärkt würde, wenn er dieses Instrument in seiner Hand
hätte. Gehlen verteidigte sein Konzept: »Mir ist nicht ganz klar, welche politi­
sche Spitze Sie für den Nachrichtendienst wünschen. Diese Spitze wäre doch
der Bundeskanzler selbst. Jede andere Lösung würde die Stellung des Bundes­
kanzlers schwächen.«
Diesen unausgegorenen Gedanken Gehlens verwarf Heusinger ebenso wie
die wohl als Konzession gemeinte Idee, dass der Nachrichtendienst in enger
Verbindung mit den Ministerien zu arbeiten habe. Das könnte den Gedanken
seiner Aufteilung fördern. Besser wäre es zu formulieren, dass die Ergebnisse
des Nachrichtendienstes über den Bundeskanzler den einzelnen Ministerien
zugeleitet werden, die ihrerseits entsprechende Wünsche äußern. Ferner fiel
Heusinger auf, dass die Gruppe für den III-Dienst (Spionageabwehr) fehlte – die
hatte Gehlen bereits gedanklich an den Verfassungsschutz abgetreten. Für den
Bundeskanzler solle man außerdem besser nicht die Begriffe »taktisch« und
»strategisch« verwenden, sondern besser von Nah- und Fernaufklärung spre­
chen, weil es sonst für den Zivilisten zu sehr nach Militär rieche. Das Sachgebiet
Auswertung sollte man lieber nicht so gliedern, dass ein Anreiz gegeben würde,

83 Stellungnahme Heusingers, ebd., Blatt 69-70.

681
den militärischen Bereich, für den Heusinger verantwortlich war, als fertigen
Ic-Apparat einfach herauszunehmen. Das müsse aus Sicht der Org unter allen
Umständen vermieden werden, meinte Heusinger im eigenen Interesse.
Herre, dem Gehlen ebenfalls den Entwurf zeigte, sah die praktischen Pro­
bleme noch deutlicher. Er wollte die Bedeutung der Funkaufklärung hervor­
gehoben wissen und regte an, schon jetzt über die personellen Konsequenzen
nachzudenken und eine Budgetreserve zu schaffen.84 Außerdem drängte er
darauf, einen Chef der Beschaffung zu installieren, der auch gegenüber den
relativ unabhängigen Außenstellen eine klar koordinierende Funktion haben
müsste. Damit bekäme Critchfield endlich einen Partner, mit dem er verant­
wortlich operative Fragen besprechen könnte.
Am 24. Oktober 1950 hielt Gehlen in Pullach eine »Große Stabsbespre­
chung« ab. Für das Führungspersonal gab er einen Überblick über die Lage
der Org gegenüber der deutschen Regierung und dürfte sich zuversichtlich
geäußert haben. Heusinger informierte über den Stand der Remilitarisierung
und deren Auswirkungen auf die Org. Winter erlaubte sich den Einwurf, dass
die Org inzwischen auch etwas leisten müsse!85 Dass die Dinge keineswegs so
günstig liefen, wie man in Pullach annahm, zeigte sich am selben Tag durch
Äußerungen, die Adenauer gegenüber General Thomas T. Handy, dem Ober­
befehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, machte. Der Kanzler kündigte an,
dass er bei einer amerikanischen Bitte um die Aufstellung deutscher Streit­
kräfte für eine Europaarmee einen Gewerkschaftsführer mit der politischen
Verantwortung betrauen werde. Dazu wünsche er sich einen höheren ameri­
kanischen Offizier als Berater, denn die ehemaligen Wehrmachtsoffiziere seien
mit den neuesten methodischen, technischen und organisatorischen Entwick­
lungen seit dem Kriege nicht vertraut. Außerdem wolle er nicht, dass »der alte
Wehrmachthaufen den Ton angibt«.86 Die Aussichten für die Erfüllung von
Gehlens Erwartung, die er mit Heusinger teilte, über ein vertrauensvolles Ver­
hältnis zum Kanzler und einen kurzen westdeutschen Weg zur Souveränität
neu zu schaffende Führungspositionen einnehmen zu können, waren keines­
wegs sicher.
Das zeigte auch ein anderes Ereignis vom Tage mit seinen weitreichenden
Folgen. In Paris präsentierte der französische Ministerpräsident René Pleven
seinen Plan für den Aufbau einer Europaarmee unter deutscher Beteiligung –

84 Tagebuch Herre, Eintrag vom 22.10.1950, S. 325, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
85 Notiz vom 24.10.1950, BND-Archiv, 4314.
86 Zit. nach: Norbert Wiggershaus: Die Entscheidung für einen westdeutschen Verteidi­
gungsbeitrag 1950; in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 1, S. 325-402, hier
S.368.

682
die deutschen Verbände sollten allerdings nur bis zur Größenordnung von
Bataillonen organisiert sein. Hier wurden erhebliche Vorbehalte Frankreichs
gegen den Wiederaufbau einer deutschen Armee erkennbar, die eine hohe
Hürde bildeten und die Bundesrepublik von einem Beitritt zur NATO abhalten
sollten. Adenauer stimmte zwar prinzipiell zu, als nach 18 Monaten schwieriger
Verhandlungen schließlich ein Abkommen über die Europäische Verteidigungs­
gemeinschaft unterzeichnet werden konnte, doch scheiterte das Projekt am
Ende 1954 durch die Ablehnung in der französischen Nationalversammlung.87
Wenn Gehlen geglaubt haben sollte, dass er bereits in Bonn genügend
Rückhalt gewonnen hatte, um seine Abhängigkeit von den USA weiter zu
lockern, dann irrte er. Critchfield beharrte darauf, dass die Org ihre von der
CIA gestellten und bezahlten Aufträge erfüllte, und zwar nach den Direktiven
aus Washington sowie primär für amerikanische Interessen. Gehlen stellte
sich jetzt dazu neutral bis feindlich, wie Herre notierte.88 Das betraf vor allem
die Forderung, die Tiefenaufklärung gegen die UdSSR und die Satelliten als
joint Operation zu organisieren, was Gehlen strikt ablehnte. Außerdem for­
derte Critchfield erneut, über Gehlens Auslandsreisen besser informiert zu
werden – zwei Zumutungen aus der Sicht des »Doktors«, die geeignet waren,
seine Bemühungen um eine unabhängige nachrichtendienstliche Tätigkeit im
deutschen Interesse zu bremsen.
Doch dieser nervenzerreibende Monat Oktober 1950 hielt noch mehr Über­
raschungen bereit. Schwerin, der die Himmeroder Denkschrift zurückgehalten
hatte, versuchte die Presse in einem diskreten Hintergrundgespräch mit seinen
eigenen Vorstellungen zur Remilitarisierung vertraut zu machen. Dabei berief
er sich auf eine Vollmacht des Kanzlers und kündigte leichtfertig eine ent­
sprechende Gesetzgebung an. Dieses unbedachte Vorpreschen brachte beim
Kanzler das Fass zum Überlaufen, der sich in seinen Vorurteilen gegenüber
der früheren Wehrmachtgeneralität bestätigt fühlen musste. Plötzlich bekam
das letzte Gespräch Gehlens mit Adenauer eine Bedeutung, denn der Kanzler
hatte eher beiläufig mitgeteilt, dass Schwerin Globke unterstellt werde und
kein unmittelbares Vortragsrecht mehr habe. Heusinger hatte gleich vermutet,
dass man offenbar von diesem »Hans Dampf in allen Gassen« genug habe.89
So nahm man es in Pullach sicherlich mit Genugtuung auf, als öffentlich
wurde, dass Adenauer am 26. Oktober den christlichen Gewerkschafter Theo­

87 Siehe dazu umfassend Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, hg. vom


MGFA, Bd. 2: Die EVG-Phase, München 1990.
88 Tagebuch Herre, Eintrag vom 25.10.1950, S. 329-331, online unter: College of William
and Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
89 Unterrichtung Wessels durch Heusinger über das Gespräch Gehlens mit Adenauer am
17./18.10.1950, Tagebuch Wessel, Eintrag 25.10.1950, BND-Archiv, N 1/4.

683
dor Blank zum »Beauftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung
der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen« ernannt hatte. Zwei Tage
später erhielt Schwerin mit einem dürren Pressekommunique wegen Über­
schreitens seiner Befugnisse den Abschied. »So endete der Krieg der Generale
mit einem energischen Eingriff der zivilen Gewalt.«90
Für Gehlen bedeutete dieser Einschnitt eine Bestätigung seines vorsichti­
gen Einstiegs in die große Politik, den er nach dem alten militärischen Motto
»Deckung geht vor Wirkung« zu vollziehen versuchte. Hier operierte er zöger­
lich und halbherzig, wenn es um vorgesetzte Stellen ging, aber hemmungslos
intrigant und verleumderisch, wenn es sich – wie im Falle Schwerins – um
Konkurrenten handelte.91 Jahrzehnte später behauptete er, er habe sich aus
allem herausgehalten, was außerhalb seines Aufgabengebiets lag, sofern er
nicht vom Bundeskanzler darauf angesprochen wurde.92 Er habe den Eindruck
vermeiden wollen, der Regierung auf militärischem Gebiet etwas unterschie­
ben zu wollen, anders als Canaris, der mit einem solchen Vorgehen gescheitert
sei.93 Gehlen meinte im Rückblick, er habe, weil er einen modernen Nachrich­
tendienst aufbauen wollte, der mehr war als die alte Abwehr, eine außen-
und innenpolitisch neutrale Persönlichkeit sein müssen. Deshalb habe er, als
Globke ihn einmal auf Schwerin ansprach, lediglich erwidert, er kenne Schwe­
rin vom Krieg her, er sei ein tüchtiger Mann.
Mit dieser Selbstdarstellung verdeckte Gehlen aber auch gegenüber den
Historikern lediglich, dass seine Art der Kriegführung gegen einen erkannten
Feind – nach gelernter Weise der Artillerie – möglichst der indirekte Schuss
aus der Distanz gewesen ist. Mit unbewegter Sachlichkeit überspielte er in sei­
nen Memoiren, dass die Absetzung von Schwerin zwar für Heusinger und Spei­
del den Weg für ihre Militärlösung freimachte, dass aber mit der Ernennung
von Blank für Gehlen persönlich ein jahrelanger Kleinkrieg eröffnet wurde.
Bei Gehlen hieß es dazu lapidar, dass in der neuen Dienststelle Blank Oberst­
leutnant a. D. Heinz »zunächst die Ic- und nachrichtendienstlichen Aufgaben«
übernehmen sollte.94 Tatsächlich drohte die Möglichkeit, dass der militärische
Nachrichtendienst für die Org verloren gehen könnte.
Mit solchen schweren Sorgen trat Gehlen Ende Oktober seine nächste Reise
in die Schweiz an, besorgt vor allem deshalb, weil der französische Pleven-
Plan aus seiner Sicht nicht akzeptabel war. Würden die Franzosen bereit sein,

90 Meyer, Heusinger, S. 421.


91 Siehe hierzu demnächst ausführlich Henke, Geheime Dienste.
92 Gehlen im MGFA-Interview am 26.10.1976, BND-Archiv, N13/v. 2, S. 2.
93 Siehe dazu den Abschnitt 1.9: Exkurs zur Geschichte des militärischen Nachrichtendiens­
tes in Deutschland, im ersten Teilband, S. 301-311.
94 Gehlen, Der Dienst, S. 144.

684
Der französische Geheimdienstchef
Henri Ribiere, ca. 1950

ausgerechnet den Deutschen den G-2-Apparat einer künftigen Europaarmee


zu überlassen? Es ist schwer vorstellbar, dass Gehlen nicht von der möglichen
Aussicht angezogen wurde, der künftige europäische Spionagechef zu werden.
Er traf in Lindau mit Marcel Mercier, dem Vertreter des französischen Diens­
tes in der Schweiz, zusammen und bereitete ein Treffen mit Henri Ribière vor,
dem Generaldirektor des SDECE.95 Es war Ende des Jahres die erste Begegnung
mit dem Chef eines alliierten Nachrichtendienstes. Mit dem Direktor der CIA,
Walter Bedell Smith, traf sich Gehlen erst neun Monate später. Das Treffen
mit Ribière Anfang Dezember 1950 begann distanziert mit der Erörterung der
allgemeinen Weltlage. Gehlen, nach seiner gewohnten Art in solchen Gesprä­
chen, blieb zurückhaltend, gab erst auf Anfrage seine Ansichten kund und
betonte meist die Gemeinsamkeiten. Für ihn war der Eindruck entscheidend,
dass der französische Chef »gesamteuropäisch und klar antikommunistisch«
dachte und kein Freund der Engländer war.96
Die europäische Perspektive blieb freilich für Gehlen noch unbestimmter
als die deutsche. Auch in dieser Hinsicht blieben weitere Rückschläge nicht
aus. Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz kehrte auch Heusinger von einer
Dienstreise heim. Er hatte in Bonn ein langes und sehr persönliches Gespräch
mit Schumacher gehabt. Der Oppositionsführer weinte Schwerin keine Träne
nach, wohl aber waren die Konsequenzen der Beauftragung des CDU-Abge­
ordneten Blank und die Unzumutbarkeiten des Pleven-Plans zu diskutieren.

95 Notiz zum 27.10.1950, BND-Archiv, 4314.


96 Besprechungsnotizen, 3.12.1950, BND-Archiv, 3141; in einer späteren Fassung findet sich
eine deutlich andere Version, die den Eindruck von vollständiger Harmonie vermittelt,
siehe dazu demnächst die UHK-Studie von Wolfgang Krieger (Hg.): Globale Aufklärung.

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Über die Org wurde bei dieser Gelegenheit nicht gesprochen, aber Heusinger
brachte die Information mit, dass Schumacher gegen einen zentralen Nach­
richtendienst unter dem Kanzler sei.97 Aus Sicht der Opposition war das mehr
als verständlich. Da half auch nicht das Angebot, die SPD-Führung mit Nach­
richten »bestens« zu beliefern, »damit sie uns nicht in einem entscheidenden
Augenblick in den Rücken fallt«, wie Herre meinte.98 Dem stimmte Heusinger
im Prinzip zu, aber er selbst hatte gegenüber Gehlen das Argument gebraucht,
eine zentrale Unterstellung des Nachrichtendienstes unter den Kanzler würde
dessen Position erheblich stärken.
Gehlen machte sich darüber keine großen Gedanken. Sein Augenmerk rich­
tete sich auf Globke. Er unterrichtete ihn am 2. November 1950 unter anderem
über die angebliche kommunistische Infiltration der westdeutschen Polizei,
was seit drei Jahren zu seinem Repertoire gehörte, obwohl es eigentlich nicht
in seine Zuständigkeit fiel. Er wollte damit unter Beweis stellen, dass der im
Aufbau befindliche Verfassungsschutz noch längst nicht in der Lage sei, sei­
nen Aufgaben ohne Hilfe der Org nachzukommen. Anschließend traf man sich
zusammen mit Blank, Heusinger und Speidel beim Kanzler. Adenauer berich­
tete über das »Experiment Schwerin« und stellte Blank als Mann seines Ver­
trauens vor. Dann wollte er die Meinung der drei Generale zum Pleven-Plan
hören. Sie lehnten ihn einhellig ab. Blank schloss sich an.99 Adenauer stellte
Fragen, die eigentlich durch die Himmeroder Denkschrift längst beantwortet
worden waren. Doch das Papier war gerade erst aus Schwerins Hinterlassen­
schaft in Globkes Hände geraten.
Gehlen war gut beraten, sich hier in der Militärfrage wieder zurückzuhal­
ten, denn Heusinger und Speidel wagten sich ziemlich weit vor. Sie hielten den
US-General Dwight D. Eisenhower als möglichen Oberbefehlshaber einer euro­
päisch-atlantischen Streitmacht, wie er in der Presse bereits gehandelt wurde,
aus deutscher Sicht für untragbar – ein Reflex auf seine negativen Äußerungen
über die Wehrmacht. Adenauer dürfte sich in seinem Misstrauen im Stillen
bestätigt gefühlt haben, denn es war eine vermessene Haltung der alten Gene­
rale, anzunehmen, der US-Präsident würde sich in einer zentralen Personal­
entscheidung von einem deutschen Veto beeinflussen lassen. Dass Heusinger
und Speidel generell auf rasches Handeln in der Frage der Remilitarisierung
drängten, förderte ebenfalls nicht die Annäherung zwischen dem Kanzler und

97 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 30.10.1950, BND-Archiv, N 1/4.


98 Tagebuch Herre, Eintrag vom 1.11.1950, S. 341, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
99 Hans Speidel: Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Berlin 41977, S. 281; Meyer, Heusinger,
S. 422-423. In der Chronik des BND wird dieses Zusammentreffen beim Kanzler auf den
4.11.1950 datiert, BND-Archiv, 4314.

686
seinen künftigen Militärberatern.100 Der ursprünglich vorgesehene Vortrag
Gehlens über die Feindlage in der Ostzone fiel wegen Zeitmangels Adenauers
aus.101
Nach seiner Rückkehr aus Bonn berichtete Gehlen seinem Chef des Sta­
bes über die Diskussion zum deutschen Wehrbeitrag. Winter hatte gerade
das Buch des Schriftstellers Jürgen Thorwald, alias Heinz Bongartz, über die
Wlassow-Armee gelesen,102 das die Amerikaner in Auftrag gegeben hatten und
das in großen Teilen von Herre stammte, der sich als ehemaliger Stabschef
von Wlassow dazu berufen fühlte.103 Winter wollte eine gewisse Parallele zur
gegenwärtigen Situation der Org erkennen. Wlassow habe lange und verzwei­
felt um Gleichberechtigung gekämpft, als das erreicht worden war und man
mit der Aufstellung von Truppen begann, sei es zu spät gewesen.
Gehlen widersprach scharf:

Ich gehöre auch zu den Leuten, die völlig kompromisslos für Deutschland die
volle Souveränität sehen wollen, ehe der erste deutsche Soldat ein Gewehr in
die Hand bekommt [...] Mit politischen Versprechungen ist uns nicht gedient.
Ich stehe kompromisslos zu dem, was Schumacher immer sagt, ich stimme
nicht überein mit dem, was Adenauer auf dem Gebiet der Remilitarisierung
gemacht hat. Ich mache Adenauer daraus sogar einen schweren Vorwurf.
Wenn weitere Zugeständnisse gemacht werden, lege ich hier mein Amt nieder.
Winter: Bis die Erfüllung Ihrer kompromisslosen Forderung erfüllt ist –
hierzu ist auch ein Friedensvertrag mit Westdeutschland notwendig – kön­
nen zwei, ja drei Jahre vergehen. So lange Zeit lässt uns Stalin doch wohl
nicht mehr. Mit anderen Worten: Das Risiko muss ihm früher vorgesetzt
werden. Hierauf 30 [Gehlen]: Und wenn es drei Jahre dauert oder noch länger
dauert, als guter Deutscher kann man nicht von den Forderungen, die ich
ausgesprochen habe, abgehen. Wenn es dann zu spät ist, ist es eben zu spät.
Im übrigen bin ich mir da mit Horn [Heusinger] einig.104

Es ist schwer zu erkennen, worauf Gehlen diesen ungewöhnlichen emotionalen


Ausbruch sachlich gründete. Von eigenen Forderungen gegenüber Adenauer
kann jedenfalls nicht die Rede sein, allenfalls von gewissen Andeutungen wie

100 Meyer, Heusinger, S. 422.


101 Liste der mit dem Kanzler besprochenen Themen für Critchfield, 28.11.1950, BND-
Archiv, 4314, Blatt 258.
102 Jürgen Thorwald: Wen sie verderben wollen, Stuttgart 1972.
103 Siehe Aufzeichnung von August Winter (30a), 8.11.1950, BND-Archiv, 4314, Blatt 253-
254. Zu Herre siehe diverse Hinweise in seinem Tagebuch aus dieser Zeit.
104 Aufzeichnung vom 8.11.1950, BND-Archiv, 4314, Blatt 253-254.

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etwa bei der Ablehnung Eisenhowers und des Pleven-Plans. Doch der Kanz­
ler neigte eben nicht dazu, sich in die Karten sehen zu lassen, und mögliche
Rücktrittsdrohungen von Gehlen hätten ihn mit Sicherheit völlig kaltgelassen.
Gehlen hatte nun einmal kaum Möglichkeiten, den Annäherungsprozess an
die Bundesregierung zu beschleunigen und seine weitreichenden Ambitionen,
alleiniger nachrichtendienstlicher Berater des Kanzlers zu werden, durchzu­
setzen. Critchfield saß ihm vielmehr im Nacken, sich um die lahmende Org zu
kümmern. Er wünschte sich eine Verstärkung des deutschen Stabes, um einen
festen body zu haben, der gegen die Verlockung, zum aufzubauenden neuen
Militär zu wechseln, gefeit sein würde, und die Verstärkung der strategischen
Aufklärung.105 Das war der Alltag, der Gehlen immer wieder einholte. In der
heiklen Frage einer Weitergabe von Erkenntnissen an deutsche Regierungs­
stellen bot Gehlen folgende Lösung an: Eine solche Abgabe sei vorerst nicht
geplant. Er werde stattdessen regelmäßige mündliche Vorträge beim Bundes­
kanzler halten. Nachrichten zur Spionageabwehr an den Verfassungsschutz
behalte er sich persönlich vor, denn der Aufbau der entsprechenden Behörde
sei in den einzelnen Bundesländern ganz unterschiedlich. Wenn er Material
weitergeben sollte, werde Critchfield einen Abdruck erhalten. Die deutsche
Regierung müsse einer solchen Regelung aber erst noch zustimmen.106
Die weiteren politischen Sondierungen ergaben kein klares Bild. Heusinger
und Speidel trafen erneut mit Schumacher zusammen, der bei dieser Gelegen­
heit über die katholische Infiltration in Bonn klagte.107 Zusammen mit Heusin­
ger traf Gehlen am nächsten Tag Dr. Gerhard Kroll von der CSU, Redakteur des
einflussreichen Rheinischen Merkur. Kroll beklagte, die CDU sei zu »weich« in
allen militärischen Fragen und neige zu Kompromissen.108 Dann wurde Heusin­
ger zu Adenauer gerufen, der eine Einladung von André François-Poncet, dem
französischen Hohen Kommissar, erhalten hatte. Zusammen mit Globke und
Blank diskutierte man über das Problem Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee.109
Blank berichtete bei dieser Gelegenheit, dass er die gesamte Schwerin-
Gruppe entlassen habe, mit Ausnahme von Oster und Heinz, die Gehlen ins­
geheim als seine Kontrahenten betrachtete und mit »untergründigen Metho­
den« bekämpfte,110 sowie Oberst i. G. Johann Adolf Graf von Kielmansegg.
Dieser galt als jüngerer Vertreter der ehemaligen Wehrmachtelite und hatte
1949 mit einem Buch über den Fritsch-Prozess 1938 eine gnadenlose Abrech­

105 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 15.11.1950, BND-Archiv, N 1/4.


106 Schreiben Gehlens an Critchfield, 16.11.1950, BND-Archiv, 1112, Blatt 374.
107 Eintrag 17.11.1950, BND-Archiv, 4314.
108 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 18.11.1950, BND-Archiv, N 1/4.
109 Ebd., Eintrag vom 24.11.1950.
110 Meyer, Heusinger, S. 423.

688
Die ehemaligen Generalstäbler der Wehrmacht planen die Wiederbewaffnung: Johann
Adolf Graf von Kielmansegg, Hans Speidel und Adolf Heusinger (von links), ca. 1952

nung mit der NS-Führung abgeliefert. Kielmansegg gehörte zu den Autoren


der Himmeroder Denkschrift und übernahm im Amt Blank den Posten des
Referenten für Militärpolitik. Gehlen betrachtete ihn mit Misstrauen und hielt
sich auf Distanz.
Intern ließen die weitgehend berechtigten Klagen über seinen mangelhaf­
ten Führungsstil nicht nach. Wessel wandte sich erneut an Heusinger. Gehlen
zeige sich zunehmend desinteressiert an den eigentlichen Org-Dingen und
reite einseitig seine Steckenpferde, insbesondere den »Eiertanz in Bonn«,
wobei er ein schlechter Tänzer sei, sowie seine Auslandsreisen – Gehlen befand
sich im Aufbruch zu einer Reise in die Schweiz, um den französischen Geheim­
dienstchef General Henri Ribière zusammen mit »Colonel Verneuil« (KN Roger
Lafont) und Mercier zu treffen. »Arbeitet er überhaupt noch für die Org. oder
nur noch für sich selbst?«111 Am selben Tage kam es zu einer sehr scharfen
Aussprache zwischen Gehlen und Heusinger über personelle Fragen in der
Auswertung. Wessel meinte, dass sich der Eindruck einer unklaren Führung
durch Gehlen bestätige. Trotz finanzieller Misere könnte die Führung besser
sein, das schlechte Verhältnis von Gehlen zu Critchfield sei sehr belastend.
Gehlens Konzeption, die Generalvertretungen völlig selbstständig agieren zu

111 Notiz zum 27.11.1950, BND-Archiv, 4314.

689
lassen, sei gefährlich, weil so finanzielle Misswirtschaft und Korruption nicht
ausgemerzt werden könnten und damit die Erfolgsaussichten von Forderun­
gen an die Amerikaner geschwächt würden.112 Nachdem auch Critchfield den
Eindruck bekräftigt hatte, dass Gehlen sich offenbar zu wenig für den Nach­
richtendienst interessiere und sich in administrativen Dingen verzettele, ver­
sprach Heusinger, mit Gehlen noch einmal zu sprechen.113
Sollte Heusinger sein Versprechen erfüllt haben, beeinflusste das den
Schwerpunkt von Gehlens Arbeit überhaupt nicht. Mitte Dezember 1950
fuhr er zu mehrtägigen Besprechungen nach Bonn.114 Den Auftakt machte
die Unterredung mit Globke, der Blank und dessen Mitarbeiter dazugebeten
hatte. Es handelte sich um den Versuch, eine gedeihliche Zusammenarbeit der
Gruppe Heinz/Oster in der Dienststelle Blank mit der Org zu arrangieren. Die
Regierung habe die Absicht, später beide Organisationen zusammenzulegen.
Der Kanzler brauche aber bis dahin eine eigenständige nachrichtendienstliche
Stelle, um den Vorwurf der Opposition zu vermeiden, er lasse sich ausschließ­
lich von Persönlichkeiten beraten, die vom Ausland finanziert werden. Tat­
sächlich werde aber auch Heinz von einer US-Stelle geführt und finanziert. Er
sollte dem Kanzler ein unabhängiges militärisches Lagebild verschaffen. Blank
interessierte sich persönlich auch für eine politische Aufklärung.
Gehlen konnte in dieser Situation nicht einfach blockieren und sagte zu,
dass er das bei Heinz eingehende Material sichten und beurteilen lassen
werde. Auch eine gewisse technische Unterstützung sei denkbar. Die Abgabe
von militärischen Informationen sei allerdings nicht möglich wegen der Bin­
dungen der Org an die US-Partner. Blank erkannte an, dass die Vorlage von
Meldungen durch Heinz für den Kanzler ohne Mitwirkung der Org die Gefahr
einer falschen Orientierung berge. So habe Heinz behauptet, über ganz sichere
Unterlagen zu verfügen, wonach in letzter Zeit eine außerordentlich starke
Zuführung von Düsenflugzeugen in die SBZ erfolgt sei, was auf militärische
Vorbereitungen schließen lasse – und sich vom Lagebild der Org unterschied.
Gehlen war befremdet, dass ihm seine amerikanischen Partner keinen reinen
Wein über ihre Verbindungen zu Heinz eingeschenkt hatten, wo man doch von
ihm bedingungslose Offenheit forderte. Er nahm sich vor, Herre zu beauftra­
gen, Critchfield den Vorschlag zu machen, die Führung des Heinz-Apparates
einfach mit zu übernehmen, damit es künftig keine Reibungen geben könne.
Am nächsten Tag wollte Gehlen einen von Adenauer gewünschten Vortrag
über die Gesamtwirtschaftslage der UdSSR halten – eine willkommene Gele­

112 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 27.11.1950, BND-Archiv, N 1/4.


113 Tagebuch Wessel, 8.12.1950, ebd.
114 Reisenotiz Gehlens, 14.12.1950, BND-Archiv, 1110, Blatt 79-84.

690
genheit zu demonstrieren, dass die Org mehr als »Militär« könne. Doch gleich
nach Gehlens einleitenden Bemerkungen brach Adenauer den Vortrag ab, weil
er angeblich anderweitig in Anspruch genommen wurde. Das konnte zutref­
fen, vielleicht hatte sich der Kanzler aber lediglich gelangweilt. Denn er nahm
sich die Zeit, Gehlen noch nach seiner Meinung bezüglich der »1. Legion« zu
fragen.
Gemeint war anscheinend die Geheimplanung für die Wiederaufstellung
von zwei Elitedivisionen der Wehrmacht für den Notfall. Gehlen schätzte die
Zielsetzung positiv ein, die Führung sei einwandfrei, die Besatzungsmacht
solle im gegenwärtigen Stadium ideelle Unterstützung leisten. Den Begriff
Elite müsste man allerdings erläutern, sonst entstünden falsche Vorstellungen.
Insgesamt empfahl er, die Sache zu unterstützen, sie im Übrigen aber laufen
zu lassen und zu sehen, wie sie sich entwickelte – eine für Gehlen typische
Haltung. Mit Befriedigung nahm er zur Kenntnis, dass Adenauer offenbar doch
nur dann einen Beitrag zur europäischen Verteidigung leisten wolle, wenn die
völlige Gleichberechtigung Deutschlands erreicht sei. Gehlen hoffte, dass man
sich nicht durch eine Einigung der Besatzungsmächte völlig festfuhr, ohne
deutsche Beteiligung und unter für Deutschland nicht annehmbaren Bedin­
gungen.
Abschließend traf er mit dem Juristen Dr. Otto John zusammen, der zum
ersten Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) ernannt wor­
den war. Staatssekretär Ritter von Lex hatte das Gespräch mit dem ehemaligen
Widerständler und Emigranten vermittelt, der jene Position einnahm, für die
sich auch Gehlen interessiert hatte, und der in Zukunft sein Gegenpart für die
innere Sicherheit sein würde. Offenbar verlief diese erste Begegnung relativ
entspannt, obwohl Gehlen äußerst misstrauisch gewesen sein dürfte. So lenkte
er das Gespräch auf Schwerin und ließ sich von John bestätigen, was dieser
alles an falschen Behauptungen über die Org verbreitet hatte. Für Gehlen
stand ohnehin fest, dass Schwerin gegen ihn gehetzt hatte und für die Briten
arbeitete. Auf fachlicher Ebene versprach er, dem BfV weiterhin mit Material
behilflich zu sein.
In seinen Memoiren hielt Gehlen an dieser Stelle inne und schrieb: »Um
den Leser nicht zu ermüden, kann ich nicht die vielen Verhandlungen und
Besuche zwischen Bonn und Pullach aufführen, die alle dem Zweck dienten,
die Organisation« immer näher an die Bundesregierung heranzuführen.«115
Er beließ es bei wenigen Hinweisen, die nichts verrieten über Probleme und
Rückschläge. Das galt natürlich auch hinsichtlich seiner andauernden inter­
nen Schwierigkeiten. So beschwerte sich Critchfield bei Herre über die Hal­

115 Gehlen, Der Dienst, S. 145.

691
tung des »Doktors«.116 Aus ihr spreche ein überbetontes nationalistisches
Misstrauen. Gehlen wolle offenbar seinen Dienst so schnell wie möglich im
deutschen Sinne organisieren und zwischenzeitlich den Amerikanern so wenig
wie möglich an Informationen überlassen. Critchfield konnte nicht verstehen,
dass ein derartig kluger Mann wie Gehlen so denken konnte, im Hinblick auf
die Weltlage und auf die Tatsache, dass die USA ihm das Geld gaben. Nach der
Rückkehr Gehlens sprach Heusinger erneut mit ihm über die Beschwerden der
Amerikaner und die Schwierigkeiten, in die Critchfield wegen seines Einsatzes
für die Pullacher Anliegen bei seinen eigenen Leuten gerate. Dieser befürchte:
»I will loose a battle wegen Gehlen.«117
Im Herbst 1950 war unter dem Eindruck des Koreakrieges die Kontaktauf­
nahme zur Bundesregierung aus Gehlens Sicht endlich gelungen. Seine Mili­
tärgruppe um Heusinger und Speidel hatte sich schließlich mit amerikanischer
Unterstützung gegen den Konkurrenten Schwerin durchgesetzt und, nachdem
die Alliierten Zustimmung zu einem deutschen Wehrbeitrag signalisiert hat­
ten, schien der Weg zur Remilitarisierung geöffnet zu sein. Auch dieser Weg
sollte freilich länger und kurvenreicher sein, als die Protagonisten erwarteten.
Gehlens Aufmerksamkeit lag fast ausschließlich bei seinen eigenen politischen
Interessen, die ihn ganz an die Spitze der Macht als nachrichtendienstlicher
Berater des Bundeskanzlers bringen sollten. Doch sein Kontakt zu Adenauer
blieb in der Schwebe, gefährdet vor allem durch den konkurrierenden Heinz-
Apparat, der dem Kanzler eine unabhängige Beratung zu versprechen schien
und nicht gleichzeitig – wie die Gehlen-Truppe – dessen Abneigung gegen »the
old Wehrmacht crowd« förderte. Gehlens größtes Dilemma bildete freilich
seine Abhängigkeit von der CIA, deren Geld und Unterstützung er dringend
brauchte, um einen vergleichsweise riesigen Apparat unterhalten und aus­
bauen zu können. Doch auf der politischen Ebene konnte er daraus keinen
greifbaren Gewinn ziehen, denn die Amerikaner führten ihn an der kurzen
Leine und duldeten seine Aktivitäten in Bonn nur sehr zögerlich. Er irritierte
mit seinem Taktieren und der Verletzung seiner Dienstpflichten gegenüber
den Amerikanern die Aufpasser von der CIA erheblich.
Die hohen Kosten, die CIA-Abhängigkeit sowie die Belastung mit einer
großen Gruppe von Wehrmachtgeneralen und SS-Offizieren ließen auch Ade­
nauer zögern, Gehlens Erwartung einer schnellen Übernahme in deutsche
Dienste entgegenzukommen. Der alte »Fuchs« war sich außerdem darüber im
Klaren, dass Forderungen, wie sie Heusinger und Speidel bei ihrer inoffiziel­
len Ernennung zu Militärberatern offen ansprachen und wie sie auch Gehlen

116 Notiz vom 12.12.1950, BND-Archiv, 4314.


117 Ebd., Notiz vom 17.12.1950.

692
unterstützte, ebenfalls nicht einfach zu erfüllen sein würden: »Gleichberechti­
gung etwaiger deutscher Soldaten«, »Beendigung der Diffamierung deutschen
Soldatentums« und »Lösung der Kriegsverbrecherfrage«.118 So steckte Gehlen
wieder einmal in der Sackgasse.

2. Gehlens Mehrfrontenkrieg (1951)

»Dr. Schneider« fühlte sich am Ende des aufreibenden Jahres 1950 offenbar
ermutigt, einen Befreiungsschlag gegen seine amerikanischen Auftraggeber
zu führen, um sich zumindest an dieser Front besser zu behaupten und dann
stärker in Bonn auftreten zu können. Im Herre-Tagebuch fehlt der Dezember
1950 und auch die Chronik sowie die später publizierten Erinnerungen von
Critchfield enthalten keinen Hinweis auf diese Konfrontation. Sie veranlasste -
bei allem diplomatischen Taktieren und trotz der üblichen freundlichen Worte
gegenüber Gehlen – ernsthafte Überlegungen der Amerikaner, Gehlen von
seinem Posten abzusetzen. Das hätte vermutlich zum Ende der Org in ihrer
gewachsenen Gestalt und später zur Entstehung eines anderen Bundesnach­
richtendienstes geführt.
In seinem Bericht an Helms beschreibt Critchfield, wie Gehlen am
28. Dezember 1950, gut vorbereitet mit mehreren Papieren, in einem dreistün­
digen Ausbruch gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der
Org wetterte.119 Der »Doktor« holte weit aus und kritisierte die US-Deutsch­
landpolitik in Teheran,120 Jalta,121 Potsdam sowie in den letzten fünf Jahren.
Er beschrieb seine schwierigen psychologischen Probleme, die Mitarbeiter zu
motivieren, und präsentierte einen Reorganisationsplan für die Org, der den
amerikanischen Einfluss minimieren und die US-Stabsmitglieder isolieren
würde. Gehlen bestritt, dass er Aufklärungsaufgaben zugunsten des politi­
schen Engagements vernachlässige, und verteidigte seine unethische Annä­
herung an ehemalige SS-Leute. Mehrmals erwähnte er die Möglichkeit eines
Rücktritts und attackierte die amerikanischen Maßnahmen sowie die Politik
Washingtons.

118 Heusinger und Speidel im Gespräch mit Adenauer am 21.12.1950, zit. nach Meyer, Heu­
singer, S. 425.
119 Bericht der CIA Pullach an Special Operations in Washington vom 30.12.1950, NA
Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen, vol l_20F3, S. 3-4.
120 Vom 28.11. bis zum 1.12.1943 waren Roosevelt, Churchill und Stalin in Teheran zu einer
Konferenz zusammengetroffen.
121 Vom 4.2. bis zum 11.2.1945 hatten Roosevelt, Churchill und Stalin eine Konferenz in
Jalta abgehalten.

693
Critchfield unterbrach ihn dabei nicht, machte keine Kommentare und
mit Rücksicht auf Heusingers Anwesenheit lediglich kurze Bemerkungen für
die Akten. Am nächsten Tag wurde er in Gehlens Zimmer gebeten. Gehlen
wies in noch schärferer Form und ausführlicher Weise jede Einmischung in
die Integrität der Org zurück, betonte, dass er ganz allein für den Erfolg oder
Misserfolg der Org stehe, und berief sich auf das angebliche Agreement mit
Sibert. Critchfield sandte einen Sofortbericht nach Washington, unternahm
in den nächsten zehn Tagen keine weitere Aktion und untersagte seinem Stab
jegliche Verhandlungen, um die Situation nicht anzuheizen. Es sei nicht leicht
zu erkennen, so meinte er, ob sich die impulsive Reaktion Gehlens gegen seine
harte Position wegen der Vernachlässigung laufender Aufgaben richtete oder
von »utility« (dt. Werkzeug, Deckname der CIA für Gehlen) als kalkulierter
Schlag für seine Unabhängigkeit geführt wurde. Er habe womöglich ausnut­
zen wollen, dass die Org derzeit wegen der Weltkrise für die USA lebenswichtig
sei, und eine Verhandlungsposition für die Wiederbewaffnung schaffen sowie
seinen Rücken gegenüber den Untergebenen stärken wollen, unter denen es
vielfach rumorte. Critchfield beschloss, nach zehn Tagen der »Abkühlung«
Gehlen aufzufordern, sein Anliegen schriftlich vorzulegen.
Inzwischen nahm Gehlen mit einem langen Brief an seinen französischen
Geheimdienstpartner Ribière Gelegenheit, abseits der amerikanischen Ver­
bindungen gemeinsame Standpunkte zu entwickeln. Mit der Pose des Besser­
wissers griff er die schwierige Situation der Amerikaner im Fernen Osten auf,
forderte einen Verzicht auf Ostasien und den Rückzug gegenüber »Rotchina«,
um die Verteidigung Westeuropas zu stärken und – erst danach – die deutsche
militärische Eingliederung in Angriff zu nehmen. Und dann artikulierte er mit
ungewöhnlicher Unbefangenheit seine Antwort auf die totale Niederlage der
Wehrmacht, die gerade erst fünf Jahre zurücklag.

Die Sowjetunion hat den deutschen Soldaten im Kampf kennengelernt und


weiß aus der praktischen Erfahrung, daß der deutsche Soldat bei guter Aus­
bildung und Führung dem Slawen gegenüber im Verhältnis 1:10 in der Vertei­
digung pari bieten kann. Ich bin überzeugt, daß auch der französische und
englische Soldat, die Deutschland in zwei Kriegen kennengelernt hat, den
gleichen Kampfwert aufweisen werden. Der Russe kennt diesen Kampfwert
jedoch bisher nicht aus der Erfahrung und unterschätzt ihn daher.122

Freilich scheute sich Gehlen, sich in der entscheidenden Frage der sowjeti­
schen Kriegsbereitschaft festzulegen. Er sah offenbar die Chance, die französi­

122 Gehlen an Ribière, 3.1.1951, BND-Archiv, 3134.

694
sche Option zu aktivieren, Frankreich auf seine europäische Mission festzule­
gen und im Rahmen einer künftigen europäischen Verteidigungsgemeinschaft
eine gleichberechtigte deutsche Rolle anzustreben. In Washington analysierte
man die Situation ganz nüchtern.

Although the tone of Gehlen’s dissertation was unnecessarily tactless and


embittered, the general strategy of an ultimatum from him was not entirely
unexpected. It fits in the attempts of leading Germans just now to bargain for
position, and it is not untypical of Gehlen’s past approaches to his American
superiors. Gehlen has risen since 1945 from the position of a relatively obs­
cure member of the German General Staff to the position of a prime political
strategist enjoying the support of conservative political factions, of certain
German industrialists, and of influential remaining portions of the German
military. At the same time he enjoys semi-diplomatic relations with the major
intelligence services in Western Europe, and he has the advantage of his pro­
longed association with US intelligence on which to base an accurate esti­
mate of our major strategies and our strength.123

Gehlen stütze sich auf mündliche Absprachen mit der US Army. In der schrift­
lichen Form vom Oktober 1948, entsprechend der Anweisung von Eucom, sei
Gehlen ein weiter Spielraum geblieben. Praktisch laufe es darauf hinaus, dass
der US-Teil lediglich die Org mit Ressourcen sowie Logistik zu versorgen hatte
und die Kontrolle weitgehend verlor. Gehlen habe wiederholt die US-Führung
kritisiert und mehrfach mit seinem Rücktritt gedroht. Er sei hauptsächlich
wegen der zu geringen finanziellen Mittel und der Unerfahrenheit des zuge­
teilten US-Personals enttäuscht gewesen. Gehlen habe sich 1947 über die
mangelnde US-Aufsicht bei der Durchführung von Operationen beklagt, als
er Schwierigkeiten hatte, seine eigene Führung im operativen Bereich zu festi­
gen. Damals habe er dem antisowjetischen Fanatismus seines Stellvertreters
(Baun) als Handlungsmotiv für die Operationen misstraut. Zu jener Zeit habe
er ein engeres Zusammenwirken zwischen deutschen und amerikanischen
Interessen versprochen und einen stärkeren Einsatz von US-Personal bei der
Anleitung und Führung operativer Einsätze gefordert. Bei den Diskussionen
mit dem CIA-Prüfungsoffizier im November 1948 habe sich Gehlen über den
bisherigen Leistungsdruck der US Army beklagt, der zu einem ungeplanten
und unkontrollierten Wachstum der Org geführt habe.

123 Memorandum vom 4.1.1951, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen,


vol l_20F3, S. 5-9.

695
Nachdem aber die CIA die Org übernommen hatte, sei schnell deutlich
geworden, dass Gehlen den bisherigen Umfang beibehalten wollte, auch die
schwache Kontrolle der Operationen und die minimale Berichterstattung.
Seine Vorschläge für strategische Operationen seien nach späterer Prüfung zu
90 Prozent wertlos gewesen. Daraufhin habe Gehlen die mangelnde Flexibilität
und Überbürokratisierung in Washington beklagt. In diesem Stadium seien die
Rücktrittsdrohungen wegen der Probleme mit der Finanzierung gekommen,
weil Gehlen meinte, auf dem bewilligten Niveau ließen sich die Operationen
nicht durchführen. Als die CIA zum 1. Juli 1949 die Org übernommen hatte,
sei überlegt worden, ob man statt der EUCOM-Regeln eine eigene Charta nie­
derlegen sollte. Der Seniorvertreter habe im Sommer 1949 mit Gehlen dessen
Entwurf diskutiert. Er habe hauptsächlich ideologische und patriotische The­
sen enthalten und sei noch weniger konkret als die EUCOM-Direktive gewesen.
In Washington sei man der Meinung gewesen, die schriftliche Festlegung der
Beziehungen würde mehr legalistische und moralische Bindungen mit sich
bringen, als man der Org zubilligen wollte. In der Konsequenz habe man sich
auf die praktischen operativen und sonstigen Fragen beschränkt und sich von
philosophischen Diskussionen ferngehalten.
Diese insistierende Haltung zu den Operationen der Org und der Druck auf
organisatorische und administrative Änderungen ebenso wie auf Gehlens Akti­
vitäten außerhalb der Org hätten dann zunehmend den Konflikt verschärft,
räumte man in Washington ein. Gehlens politisches Ziel sei die Anerkennung
durch die Bonner Regierung gewesen, die Konsolidierung der Position der Org
im Streben, ein deutscher Nachrichtendienst zu werden und den Einfluss der
Org und ihrer Freunde bei der Remilitarisierung zu sichern. Gehlen habe dazu
freischwebende Methoden und Wege gewählt, die nicht die Komplexität der
amerikanischen Deutschland- und Europainteressen berücksichtigten.
Die extrem geringen Fähigkeiten der Org bei der strategischen Aufklärung,
bei weitreichenden und hochrangigen Zielen, seien im hohen Maße auf die
Nichtbeachtung fundamentaler nachrichtendienstlicher Probleme durch
Gehlen zurückzuführen. Das habe man bald nach der Übernahme deutlich
festgestellt. Mitte des Jahres seien die Mitglieder des US-Stabes der Meinung
gewesen, dass die Org eine zwar passable Einrichtung für die taktische und
militärische Aufklärung sei, aber zweitklassig bei traditionellen nachrichten­
dienstlichen Aktivitäten schwieriger Natur. Dieser Eindruck habe auch bei
manchen deutschen Mitarbeitern bestanden. Das habe er – Critchfield – im
Juli 1950 Gehlen vorgehalten. Wenn die Org nur auf taktischer Ebene tätig sei,
brauche sie auch weniger finanzielle Mittel und radikale Veränderungen.
Obwohl Gehlens jetziger Ausbruch der erste starke Widerstand von ihm sei,
sei seit Langem erkennbar gewesen, dass es angesichts seiner häufigen Aus­
flüchte und intransigenten Haltung gegenüber der US-Führung wünschens­

696
wert sein könnte, ihn zu ersetzen. Über die gelegentlichen Schwierigkeiten im
Umgang mit Gehlen hinaus handele es sich jetzt um die Frage nach Charakter
und Struktur des künftigen deutschen Nachrichtendienstes. Obwohl Gehlen
ein starker und effektiver Führer auf den Feldern gewesen sei, die ihn interes­
siert haben, mangele es ihm doch an emphatischem Interesse für kontrollierte
strategische Operationen, und die Korruption in der Org sei auch dadurch
bedingt, dass er sie ignoriere. Wenn Gehlen außerdem den Wunsch habe,
sowohl Chef des Inlands- wie des Auslandsgeheimdienstes zu werden, so liege
das nicht im amerikanischen Interesse.
Im Dezember 1950 habe man über eine Ersetzung Gehlens beraten und
beschlossen, keine Gelegenheit auszulassen, um ihn die Treppe hinauf in die
Dienste der Bonner Regierung zu befördern. Man habe nicht den geringsten
Zweifel gehabt, dass Gehlen das Angebot einer militärischen Position sehr
begrüßen würde. Bei einem solchen Weggang könnte er keinen unerwünsch­
ten Einfluss mehr auf die Org ausüben. Deshalb sei auch schon über die Nach­
folge diskutiert worden. Am besten wäre die zeitweilige Ersetzung durch einen
Heeresgeneral ohne politische Ambitionen. Es gebe im Stab der Org einen sol­
chen General, der beeindruckt habe durch seinen direkten und ehrenhaften
Umgang mit den administrativen Nachforschungen von amerikanischer Seite
(möglicherweise war Mellenthin gemeint).
Heusinger sei eine andere Möglichkeit. Er sei mit seinem eindrucksvol­
len Charakter und nach seiner intellektuellen Statur für die Leitung der Org
geeignet, sei aber persönlich nicht an einer Karriere im Nachrichtendienst
interessiert. Er würde alliierten Interessen besser in seiner neuen Stellung als
militärischer Berater der deutschen Regierung dienen. Wenn Gehlens schrift­
liche Stellungnahme vorliege und ausgewertet sei, sollte man einen hochran­
gigen CIA-Vertreter nach Deutschland schicken, um Gehlen ausführlich über
das amerikanische Konzept und die Rolle der Org zu informieren. Eine solche
Konferenz sollte zu einem »Showdown« mit Gehlen führen und zu der Ent­
scheidung, ob er nun bleibe oder gehe.
Gehlen ahnte offenbar nicht, dass es hinter den Kulissen um seinen Kopf
ging bzw. dass die Amerikaner daran interessiert sein könnten, ihn aus der Org
»nach oben«, das heißt auf einen militärischen Posten in Bonn, abzuschieben.
Vielleicht hätte ihn ein entsprechendes Angebot Adenauers tatsächlich bewe­
gen können, als Teil der Gruppe um Heusinger und Speidel die Zügel in Pullach
aus der Hand zu geben. Heusinger machte es vor, wie man trotz der schwie­
rigen politischen Konstellation durch geschicktes Verhalten in der Öffentlich­
keit selbst bei der kritischen Presse reüssieren konnte.
Rudolf Augstein, Chefredakteur des Spiegel, hatte sich gleich nach der
Ernennung Heusingers mit Oberst i. G. Worgitzky in Verbindung gesetzt und
am 22. Dezember 1950 ein fünfstündiges Gespräch mit ihm geführt. Augstein sei

697
»äußerst im Bilde und erheblich sympathischer, als man nach der Lektüre des
Spiegel denkt«. Worgitzky zog daraus die Schlussfolgerung, »daß wir im Kurse
gestiegen sind«.124 Der Spiegel berichtete Mitte Januar 1951 wohlwollend über
das Gespann Heusinger und Speidel.125 Heusinger sei von Eisenhower empfan­
gen worden, der gerade zum Oberbefehlshaber der NATO in Europa ernannt
worden war, und durfte ihm wie General Walter Bedell Smith, dem neuen Direk­
tor der CIA, seine strategische Lageanalyse vortragen – und habe überzeugt.
Gehlen blieb bei seinem Weg, der ihn in den Bereich der politischen Spitze
führen sollte, nicht in das Hauptquartier einer künftigen deutschen Armee.
Er ordnete Anfang 1951 die Spitzengliederung in Pullach neu, um auf den
absehbaren Weggang Heusingers vorbereitet zu sein und sich selbst aus dem
Alltagsgeschäft stärker herauszuheben. Heusinger wurde vorübergehend sein
Vertreter, Wendland Persönlicher Mitarbeiter für die Gesamtführung, dazu
Winter als Persönlicher Mitarbeiter für den Nachrichtendienst und Herre als
Verbindungsmann zum CIA-Stab und Aufsicht über die Außenorganisation.126
Wessel schätzte seine Chancen als gering ein, Nachfolger Heusingers als Chef
der Auswertung zu werden, da ihm Gehlen offenbar nicht traute. »Hoffentlich
wird nun aber irgendeine Lösung auch durchgesetzt.«127
Bei einer »Führungsbesprechung« wenige Tage später gab Gehlen einen
weitschweifenden Überblick über die Entwicklung seit 1940 – »à la Hitler«,
wie Wessel ironisch notierte. Am Ende zeigte der »Doktor« sich zuversichtlich.
Die Regierung, behauptete er, habe ihm die Übernahme zugesagt.128 Er hatte
eine Aufzeichnung mit »Gedanken über Zukunft und Möglichkeiten der Orga­
nisation« entworfen, die von den Zugeständnissen ausging, die er in den letz­
ten zwei Jahren gegenüber der CIA gemacht habe, und sie in Verbindung mit
einer deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit im Kriegsfall brachte.129 Er
nutzte also die Projektion eines auf kurze Sicht denkbaren Krieges in Europa,
um sowohl Bonn als auch Washington von der Bedeutung der Org und seiner
Pläne zu überzeugen.
Es sollte für den Kriegsfall ein vorbereitender Stab installiert werden, der
von einem Politiker zu leiten wäre, um angesichts der gespannten Lage zu
überlegen, wie im Ernstfall »der politische Kampf um Deutschland im Rah­
men eines Krieges vom Westen her zu führen ist« – also nach einem mögli­
chen Verlust des Bundesgebiets. Dazu müsste man Vorsorge zur Bildung einer

124 Zit. nach Meyer, Heusinger, S. 430.


125 Verteidigung. Lesen Sie Hölderlin, Der Spiegel 3/1951 vom 17.1.
126 Notiz zum 4.1.1951, BND-Archiv, 4315.
127 Tagebuch Wessel, 5.1.1951, BND-Archiv, N 1/4.
128 Ebd., Eintrag vom 8.1.1951.
129 Aufzeichnung Gehlens vom 8.1.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 86-91.

698
deutschen Exilregierung treffen sowie über die Erhaltung der deutschen Kräfte
nachdenken, die man für den Widerstand brauchen werde. Dabei dachte er
sicher nicht mehr an die »Alpenfestung« von 1945, sondern daran, den Befrei­
ungskampf gegen die Rote Armee aus westeuropäisch-atlantischen Positio­
nen zu führen. Die Exilregierung würde einen Nachrichtendienst brauchen,
um Vorbereitungen für den politischen Widerstand und die Zersetzungsarbeit
im besetzten Gebiet treffen zu können. Das könnte nur mit deutschen Kräften
gemacht werden und hierfür sei die Org bestens geeignet.
Das Vorbild der damaligen Ereignisse in Südkorea lag auf der Hand, als
durch das Eingreifen Chinas die UN-Truppen sich seit dem 1. Januar 1951 einer
massiven feindlichen Offensive ausgesetzt sahen und erneut weit zurückge­
worfen wurden. Bereits zwei Tage später musste Seoul, die Hauptstadt Südko­
reas, geräumt werden. Der amerikanische Oberbefehlshaber General Douglas
MacArthur verlangte daraufhin den Einsatz von 34 Atombomben gegen chine­
sische Städte, was Präsident Truman aber verweigerte.130
Gehlen führte weiter aus: Auch für die US-Seite sei eine Widerstandsaktion
(die den Einsatz von Atombomben ausgeschlossen hätte) nur von Wert, wenn
es eine rein deutsche Organisation unter deutscher Führung sei. Das müsse
man den Amerikanern verständlich machen und entsprechende Garantien
verlangen.

Wir können uns nicht beklagen, dass es auf Seite unserer Partner am guten
Willen gefehlt hat. Im Gegenteil muss alles in allem die Feststellung getroffen
werden, dass sich stets der Wille zur fairen Zusammenarbeit mit uns gezeigt
hat. Die Schwierigkeiten haben auf dem Gebiet gelegen, dass es für unsere
Partner außerordentlich schwer ist, sich in unsere Psychologie und Menta­
lität hineinzudenken – wie natürlich auch umgekehrt – und dass das natür­
liche Bestreben vorhanden ist, ihre Anschauungen auch in unseren Bereich
einzupflanzen. Das hat dazu geführt, dass im Laufe der letzten 2 Jahre unsere
Partner den Versuch gemacht haben, diejenigen Zugeständnisse, zu deren
Hergabe wir im Anfang nicht bereit waren, auf kaltem Wege uns nach und
nach zu entringen. Es sollte unser Streben sein, hier nicht kleinlich zu sein
und auch das, was an Auffassungen wir von unseren Partnern übernehmen
können, bereitwilligst zu übernehmen. Es muss auf der anderen Seite jedoch
festgestellt werden, dass wir insofern in eine einseitige Position gedrängt
worden sind, als wir Zugeständnis über Zugeständnis gemacht haben, ohne
dass einmal eine Grenze gezogen worden ist.131

130 Zum Hintergrund siehe u. a. Stöver, Geschichte des Koreakriegs.


131 Aufzeichnung Gehlens vom 8.1.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 88-89.

699
) Klarnamen der gesamten Zentrale wurden der US-Seite zur Verfügung
1.
gestellt.
2. ) Die strategische Aufklärung wurde nach dem US-Projektverfahren
durchgeführt und alle möglichen Einzelheiten zur Zentrale nach Washington
überliefert.
3. ) Bei der taktischen Aufklärung war verabredet, dass man Einzelheiten
und Klarnamen nicht herausgeben würde. Das Prinzip wurde durchbrochen,
weil die US-Vertreter bei den Generalvertretungen vor Ort allen Einblick hat­
ten und bei dem neuen detaillierten Verfahren für das »Jupiter«-Programm
(einen umfassenden Spionageauftrag gegen die sowjetischen Truppen in der
SBZ) vom Grundsatz abgegangen wurde. Critchfield habe kürzlich angekün­
digt, er müsse bei der taktischen Aufklärung einen vollen Durchblick erhal­
ten.132
4. ) Das US-Abrechnungsverfahren sei zu 50 Prozent akzeptiert worden,
indem man Einzelabrechnungen mit allen Belegen nach Washington gegeben
habe – aber nur für den Overhead, während die Generalvertretungen für den
taktischen Sektor nur generelle Abrechnungen vorgelegt hätten. Dieses Prin­
zip sei durch »Jupiter« durchbrochen worden. Critchfields Forderung, für die
Generalvertretungen die gleichen Regeln wie für die Zentrale anzuwenden,
bedeute, dass man die deutsche Org praktisch wie eine amerikanische Agency
behandle.
) Ähnlich sei es im Bereich Funk. Anfangs gab es die an sich berechtigte
5.
Forderung, alle Unterlagen auszuliefern, um eventuell das deutsche Agenten­
netz auf die US-Funkstation zu übernehmen, jetzt sei man mit der Forderung
konfrontiert, alle Personaldaten und Unterlagen über Vergrabungsaktionen
der Agenten zu übergeben. Hinzu komme der anhaltende amerikanische
Druck, finanzielle Einschnitte vorzunehmen.

Ich will gar nicht annehmen, dass hier eine bewusste systematische Linie
vorliegt, da der gute persönliche Konnex eine solche wohl ausschließt. Es
ist aber festzustellen, dass wir durch die Erfüllung aller bisherigen Forde­
rungen de facto ziemlich weitgehend eine amerikanische Agency geworden
sind, welche mit deutschem Personal arbeitet. Es zeigt diese Entwicklung, die
hoffentlich mit der Überführung in eine deutsche staatliche Einrichtung ihr
Ende findet, dass wir uns für den Kriegsfall gewisse Garantien geben lassen
müssen.133

132 Der volle Einblick in die Netzwerke war von den Amerikanern gewollt; siehe History of
the Gehlen-Organization, September 1953; in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. 1, S. 159-160.
133 Aufzeichnung Gehlens vom 8.1.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 91.

700
In diesem ausführlichen Schriftsatz kam Gehlen mit einer nüchternen und
sachlichen Problemanalyse den Amerikanern ein Stück entgegen. Zumindest
in der äußeren Form verhielt er sich nun konziliant und vermied erneute pole­
mische Ausfälle und Angriffe. Dienstintern bemühte er sich um mehr Präsenz.
Bei einer großen nachrichtendienstlichen Besprechung teilte er mit, dass die
Amerikaner die Unterrichtung der Bundesregierung durch die Org erlaubt hät­
ten. Er stellte Konrad Stephanus dafür frei, geeignetes Material mit politischen
»Highlights« zu sammeln, Observationsberichte, Einzelmeldungen, Pressehin­
weise sowie den militärischen Wochenbericht.134 Doch die Kritik unter führen­
den Mitarbeitern hielt an, insbesondere an einer Personalpolitik, die teilweise
als verantwortungslos bezeichnet wurde. Beklagt wurden zahllose Neueinstel­
lungen für unnötige neue Posten.135
Immerhin stand ein lange erhoffter Erfolg ins Haus, der die Motivation Geh­
lens und der meisten seiner Mitarbeiter für kurze Zeit in die Höhe schnellen
ließ. Heusinger und Speidel hatten sich seit Langem darum bemüht, Erklä­
rungen von höchsten alliierten Stellen zu erhalten, die geeignet wären, das
»Selbstgefühl des deutschen Soldaten« wieder zu erhöhen.136 Sie wollten
damit nicht zuletzt auch vielen abseits stehenden Kameraden entgegenkom­
men, die den Wiederaufbau einer neuen Wehrmacht als verfrüht ansahen bzw.
die Gespräche mit den Besatzungsmächten grundsätzlich ablehnten. Es war
Critchfield und McCloy zu verdanken, Eisenhower auf seiner ersten Europa­
reise als SACEUR (Supreme Allied Commander Europe) dazu zu bewegen, die
Bundesrepublik zu besuchen und die Moral der Deutschen zu stärken. Nach
Entwürfen von Heusinger und Speidel brachte McCloys Berater Gert Whitman
eine Erklärung zu Papier, die Eisenhower übernahm und anlässlich eines Emp­
fangs bei McCloy verkündete. Heusinger hatte im Vorfeld erklärt, dass er nur
teilnehmen werde, wenn Eisenhower die Diffamierung der Deutschen und der
deutschen Soldaten zurücknehme.137
Beim abendlichen Empfang am 22. Januar 1951 im Hause McCloys in Bad
Homburg, in Anwesenheit von Adenauer, Blank, Heusinger und Speidel, lie­
ferte Eisenhower die verlangte »Ehrenerklärung«. Er habe 1945 Wehrmacht
und Offizierskorps als identisch mit Hitler und den Exponenten seiner Gewalt­
herrschaft angesehen. Inzwischen habe er aber eingesehen, dass diese Beur­
teilung nicht den Tatsachen entspreche, er entschuldigte sich und bestätigte:
»Der deutsche Soldat hat für seine Heimat tapfer und anständig gekämpft.«
Die Remilitarisierer der Org zeigten sich »hochbefriedigt«, stimmten aber auf

134 Notiz zum 15.1.1951, BND-Archiv, 4315.


135 Tagebuch Wessel, 16.1.1951, über eine interne Stabsbesprechung, BND-Archiv, N 1/4.
136 Meyer, Heusinger, S. 436.
137 Gespräch Heusinger-Wessel, 18.1.1951, BND-Archiv, 4315.

701
Bitten der Hohen Kommission zu, dass die vollständige Eisenhower-Erklärung
nicht veröffentlicht und nur in mündlicher Form weitergegeben werden durf­
te.138 Die Entschuldigungsformel fehlte später in deutschen und amerikani­
schen Presseerklärungen. Auch wenn damit die Kritik in Kreisen ehemaliger
Berufssoldaten nicht verstummte, konnten sich Gehlen und seine Mitarbeiter,
die mit ihrer Tätigkeit schon seit fast sechs Jahren in amerikanischen Diensten
standen, in ihrem Selbstbewusstsein bestätigt sehen. Wessel notierte: »Insge­
samt: Ein Wendepunkt in Deutschlands Geschichte!«139 Die von McCloy parallel
dazu angekündigte Begnadigung von Offizieren, die durch US-Militärgerichte
wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden waren, fand in der Org allerdings
keinen großen Beifall, weil eine Reihe von Urteilen davon ausgenommen war.140
Während Gehlen intern einräumte, dass Heusinger und Speidel schon nahe
beim Kanzler und der SPD stünden, musste er sich selbst, nunmehr mehrere
Etagen tiefer, mit der Heinz-Gruppe befassen, die seinen eigenen politischen
Aufstieg blockierte. In einem Memorandum für Critchfield berichtete er, dass
bei seiner letzten Besprechung mit Blank und Globke die vom Bundeskanz­
ler gewünschte Zusammenarbeit mit Heinz festgelegt worden sei.141 Offen sei
die Abgabe militärischer Nachrichten. Dazu wäre er nur unter bestimmten
Voraussetzungen bereit. Inzwischen nehme durch den Einfluss von Heinz das
Büro Blank eine härtere Haltung ein. Gehlen wollte nun erreichen, dass seine
Verbindung zu Adenauer weiter über Globke lief und nur in Fragen des mili­
tärischen Nachrichtendienstes eine Zusammenarbeit mit Heinz stattfinden
würde. Er beabsichtigte, Blank regelmäßig durch einen Verbindungsmann
über die militärische Lage unterrichten zu lassen – aber nicht über die Gruppe
Heinz-Oster.142 Als ihn Critchfield freimütig darüber aufklärte, dass Dr. John,
der neue Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, ein britischer
Agent sei und Oberstleutnant Heinz gewissermaßen ein US-Agent, was Geh­
len berücksichtigen müsse, entschied dieser im Stillen: Nach Kenntnis dieser
Tatsache komme eine Verwendung von Heinz in einem künftigen deutschen
Nachrichtendienst nicht in Frage.143

138 Meyer, Heusinger, S. 437.


139 Notiz zum 23.1.1951 zu dem Bericht Heusingers nach der Rückkehr aus Bad Homburg,
Tagebuch Wessel, BND-Archiv, N 1/4.
140 Gespräch Wessel-Heusinger am 1.2.1951, BND-Archiv, N 1/4. Zum Hintergrund siehe
Meyer, Heusinger, S. 439-446.
141 Zur Rivalität zwischen Heinz und Gehlen siehe demnächst ausführlich Henke, Der BND
in der Innenpolitik der 1950er-Jahre, Kap. II.
142 ND-Besprechung bei Gehlen, 22.1.1951, BND-Archiv, 4315, und Memorandum Geh­
lens für Critchfield über die Kooperation mit der Heinz-Gruppe, BND-Archiv, 1112,
Blatt 376-378.
143 Aktenvermerk Gehlens über eine Gespräch mit Critchfield, 23.1.1951, BND-Archiv, 1172.

702
Neben der starken Konkurrenz im Amt Blank, die vom Kanzler gewollt
wurde, machten Gehlen auch andere amerikanische Unternehmungen im
Geheimdienstbereich zu schaffen. Nach seinem Verständnis gehörten sie in die
eigene Zuständigkeit. Aber es ging in diesem Falle um mehr. Wenn die Ameri­
kaner Vorbereitungen für den Kriegsfall trafen, um in Ost- und Westdeutsch­
land bewaffneten Widerstand zu organisieren, dann lag es naturgemäß im
deutschen Interesse, solche Aktivitäten in die eigene Hand zu nehmen bzw.
zumindest Kontrolle und Mitsprache ausüben zu können. In einem Memo­
randum für Critchfield monierte Gehlen, dass die US-Agencies nach seiner
Meinung von falschen Voraussetzungen ausgingen und ungeeignete deutsche
Persönlichkeiten benutzten.144
Gemeint war damit der ehemalige SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny,
den Hitler zu Unrecht als Befreier Mussolinis gefeiert hatte.145 Gehlen lehnte
Skorzeny rundweg ab. Dieser könne vielleicht Einzelunternehmungen leiten,
aber nicht in größerem Rahmen organisieren. Buntrock, der in der Zentrale als
ehemaliger Chef der Frontaufklärung Skorzeny am besten kannte, bezeichnete
diesen schlicht als Lügner und Betrüger. Er sei eine Gefahr für die Org.146

Die Ansicht aller wirklichen Fachleute auf diesem Gebiet ist einheitlich die,
dass es unverantwortlich ist, in der ersten Phase eines Krieges Partisanenbe­
wegungen im deutschen Bereich aufziehen zu wollen, die vom Russen, der
hierauf eingestellt ist, im Keim erstickt werden und darum ohne jeden Wert
sind. Das, was notwendig ist, ist, mit ganz hochwertigen Leuten Kerne für
den Aufbau einer späteren Widerstandsbewegung während des Krieges zu
schaffen, die erst in Aktion treten darf, wenn das Kriegsglück sich zum Wes­
ten gewandt hat.147

Die US-Seite solle sich nicht von früheren deutschen Truppenführern beein­
flussen lassen, die den Partisanenkrieg angeblich als außerordentlich störend
empfunden hätten. Im Osten, wo zeitweilig zwei Millionen Partisanen hinter
der deutschen Front kämpften, hätten diese keinen entscheidenden militä­
rischen Einfluss gehabt.148 Die Auswirkungen des Partisanenkrieges, so Geh­

144 Memorandum Gehlens für Critchfield, 22.1.1951, BND-Archiv, 1112, Blatt 379-380.
145 Charles Whiting: Skorzeny. »The Most Dangerous Man in Europe«, Boston 1998.
146 Notiz Buntrocks vom 5.10.1951, BND-Archiv, N 6/12.
147 Memorandum Gehlens für Critchfield, 22.1.1951, BND-Archiv, 1112, Blatt 379.
148 Das bestätigen auch jüngste Forschungen, siehe Sebastian Stopper: »Die Straße ist
deutsch.« Der sowjetische Partisanenkrieg und seine militärische Effizienz. Eine Fall­
studie zur Logistik der Wehrmacht im Brjansker Gebiet April bis Juli 1943, Vierteljahrs­
hefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 385-411.

703
len weiter, seien von seiner Abteilung FHO im Zweiten Weltkrieg bearbeitet
worden. Daher könne er sich ein Urteil Zutrauen. Der Aufbau einer deutschen
Partisanenbewegung könne außerdem nur von deutscher Seite aus erfolgreich
durchgeführt werden. Fremde Mächte würden nicht die Mitarbeit der wirk­
lich hochwertigen Kräfte in Deutschland erreichen. Alles sei eine politische
Frage: die Steuerung durch eine autorisierte deutsche Seite und die technische
Durchführung mit den Mitteln des Nachrichtendienstes durch eine deutsche
Organisation. Gehlen bat darum, diese Aufgabe der Org als dem künftigen
deutschen Nachrichtendienst zu übertragen. Das würde von ihm in einer völlig
abgetarnten Teilorganisation durchgeführt werden. Er beabsichtige, die Frage
während des nächsten Besuchs beim Bundeskanzler anzustoßen.
Doch zunächst ließ er in der Sache vorsorglich bei Globke vorfühlen, der
nun zur Versorgung des Bundeskanzlers einmal wöchentlich Meldungen der
Org per Kurier erhalten sollte (Briefkopf: »Geheimer Meldedienst«).149 Globke
zeigte sich von der Mitteilung, dass Skorzeny im Auftrag der Amerikaner
Sabotageaktionen vorbereite, freilich nicht überrascht. Im Gegensatz zu Geh­
len, der mitteilen ließ, dass er solche Aktionen grundsätzlich scharf ablehne,
zeigte Globke Verständnis. Wenn die alliierten Truppen die beabsichtigte Höhe
von 250.000 Mann erreicht hätten und es zu einer sowjetischen Aktion käme,
schien es Globke zweckmäßig zu sein, die alliierten Truppen durch Sabotage­
maßnahmen zu unterstützen.150
An der anderen Front gegenüber Critchfield spitzte sich die Situation zu.
Der Amerikaner hatte Gehlen aufgefordert, seine Gedanken zur künftigen
Entwicklung der Org schriftlich vorzulegen. In dem Anfang Februar 1951 ent­
standenen Papier bekräftigte Gehlen natürlich zunächst die gemeinsamen
Anschauungen und Ziele, um dann auf den Kern des gegenwärtigen Konflikts
zu kommen.151 Er stellte heraus, dass – nicht von Critchfield, aber von anderer
amerikanischer Seite – bereits seit längerer Zeit die Gruppe Heinz unterstützt
worden sei. In der CIA gab es, was Gehlen offenbar bisher übersehen hatte,
durchaus unterschiedliche Strömungen.

Wenn ich nicht das gefährliche Risiko einer spontan in kurzer Zeit eingefä­
delten gleichzeitigen Intervention bei Adenauer und Schumacher auf mich
genommen hätte, so wäre es wahrscheinlich dem in diesen Dingen stark von
englischer Seite hinter den Kulissen unterstützten Grafen Schwerin geglückt,
den Weg für die Überführung der Organisation in deutsche Hand durch

149 Aktennotiz Gehlens für Globke, 8.2.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 92-93.
150 Aktennotiz über die Unterrichtung Globkes, 26.2.1951, ebd., Blatt 94-95.
151 Memorandum Gehlens für Critchfield, 8.2.1951, BND-Archiv, 4315.

704
Schaffung entsprechender innenpolitischer Hindernisse auf deutscher Seite
so zu verbauen, dass auch ein direktes amerikanisches Eingreifen voraus­
sichtlich nichts mehr hätte ändern können.152

Durch die US-Unterstützung für Heinz bestehe nun eine »kleine und unbe­
deutende« nachrichtendienstliche Gruppe, aber immerhin legal agierend,
und Heinz erhebe offen den Anspruch, bei einer Übernahme der Org durch die
deutsche Regierung stellvertretender Leiter des ganzen vereinigten Apparats
zu werden. Außerdem bezeichne er sich neuerdings angeblich als den neuen
deutschen Canaris! Gehlen überreichte Critchfield das gesammelte Dossier
der Org über Friedrich Wilhelm Heinz und forderte von der US-Seite offene
Informationen. Heinz müsse jede amerikanische Unterstützung entzogen wer­
den. Die CIA möge auch selbst in Sachen Heinz Nachforschungen anstellen.
Dieser komme jedenfalls für eine Verwendung im künftigen deutschen Nach­
richtendienst in keiner Weise in Betracht.
Nach diesem Ultimatum Gehlens meldete Critchfield an Washington, seine
gesamte Gruppe sei jetzt davon überzeugt, dass man Gehlen hinauswerfen
sollte.153 Selbst wenn man die Konsequenzen bedenke, sei nun der richtige
Zeitpunkt gekommen. Gehlen war auf dem besten Weg, dieser Absicht entge­
genzukommen. Nach einer folgenden großen Führungsbesprechung notierte
Wessel äußerst kritisch, dass der Schwerpunkt von Gehlens Interesse eindeutig
bei der innenpolitischen Arbeit und auf dem Felde der Spionageabwehr liege.
Er gewann den Eindruck, dass der »Doktor« die Auswertung unter Heusinger,
das eigentliche Paradepferd der Org gegenüber den Amerikanern, allmählich
zerlegen wolle. Was habe Gehlen bloß für eigene Pläne – für die eigene Person?
Sachlich seien seine Maßnahmen der letzten Monate nicht vertretbar. »Hier
scheint persönlicher Ehrgeiz in unerfreulicher Weise mitzuspielen.«154
Auf Heusinger konnte Wessel im Augenblick nicht groß zählen, obwohl
dieser seine Einschätzung teilte, dass die Stabsarbeit sehr im Argen liege. Der
Leiter der Auswertung hatte noch immer nicht über die großen internen Pro­
bleme mit Gehlen gesprochen, weil er nach eigenem Bekunden durch das Pro­
blem der Remilitarisierung stark in Anspruch genommen sei. Allerdings habe
er bei der Besprechung am Vortag den Eindruck gewonnen, dass auch Gehlen
allmählich »müde« geworden sei.155 Für diesen Eindruck sprach, dass Gehlen
Langkau nach Bonn schickte, um den ersten Bericht des »Geheimen Melde­

152 Memorandum Gehlens für Critchfield, 8.2.1951, BND-Archiv, 4315.


153 Notiz von Critchfield für Special Operations Washington betr. Utility, 16.2.1951, NA
Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen, vol l_20F3, S. 12.
154 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 19.2.1951, BND-Archiv, N 1/4.
155 Ebd., Eintrag vom 20.2.1951.

705
dienstes« zu übergeben und um Globke bei dieser Gelegenheit nach speziel­
len Wünschen zu fragen.156 Es zeigte sich, dass Adenauers Intimus stärkstes
Interesse an innenpolitischen Informationen hatte, speziell über Gruppenbil­
dungen wie die »Bruderschaft« der Exoffiziere, die »Ohne-mich-Bewegung«
der Aufrüstungsgegner sowie Versuche kommunistischer Infiltration. Das
zuständige BfV brauchte Globke nicht zu fragen, denn dort benötigte man
noch einige Jahre, um arbeitsfähig zu werden. Deshalb nahm er gern die Infor­
mationen der Org entgegen. Der Kanzler, so ließ Globke ausrichten, erwarte
Gehlen in zwei Wochen mit einem Vortrag über die innen- und außenpoliti­
sche Sicherheitslage einschließlich der militärischen Zusammenhänge.
Gehlen war gut beraten, die Wünsche des Kanzleramts, auch wenn sie
eigentlich außerhalb seiner eigenen Zuständigkeiten und Möglichkeiten lagen,
möglichst umfassend zu erfüllen. Wie anders hätte er sich sonst der Konkur­
renz im Amt Blank erwehren und die angestrebte Übernahme seiner Org errei­
chen können? Aber jeder weitere Schritt in diese Richtung gefährdete nicht
nur die Funktionsfähigkeit der Org und veränderte ihre Ausrichtung, sondern
entfernte sie auch von den Interessen der CIA. Hatte Gehlen aber wirklich die
Statur, um den Konflikt durchzustehen, den eine Entwicklung vom »utility«
der Amerikaner zu einer Größe in der Bonner Politik bedeutete?
Sein ehemaliger Chef Heusinger machte es vor, wie man auch still und effi­
zient in Bonn reüssieren konnte. Bei der Remilitarisierung spielte er in einer
ganz anderen Liga und ging dieser Tage bei Adenauer und Schumacher ein und
aus.157 Bei den im Auftrag der Bundesregierung geführten Gesprächen auf dem
Bonner Petersberg mit den Vertretern der drei westlichen Besatzungsmächte
über einen deutschen Wehrbeitrag zeigten Heusinger und Speidel, dass sie, wie
wenige ehemalige Generale, mit politischem Weitblick, Sinn für das Erreich­
bare und der notwendigen diplomatischen Begabung ausgestattet waren,
auch wenn sie sich über den Zeitfaktor Illusionen machten und das Gewicht
der vielfältigen Hemmnisse zunächst verkannten.158 Dabei waren beide »nur«
mit der militärischen Problematik befasst, während ihr Kamerad Gehlen auf
mehreren Feldern Präsenz zu zeigen versuchte. Bei seinen Gesprächen in Bonn
gewann Heusinger den Eindruck, dass die Org im Bereich der Spionageabwehr
auf Dauer nicht konkurrenzfähig sei, da das BfV viele Meldungen schneller und
billiger durch den Regierungs- und Polizeiapparat bekommen könne. Deshalb
meinte er, dass sich die Org besser auf die Auswertung konzentrieren sollte,
denn hier sei sie nicht zu schlagen.

156 Aktennotiz über die Besprechung bei Globke, 26.2.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 94.
157 Heusinger beim Kanzler und dem Oppositionsführer am 29.2. und 15./16.3.1951, Tage­
buch Wessel, BND-Archiv, N 1/4.
158 So die Bewertung bei Meyer, Heusinger, S. 446.

706
Es gelang ihm, nach langem Zögern Gehlen von der Notwendigkeit zu
überzeugen, einen Kurswechsel zu vollziehen und die Innenpolitik nur noch
so weit bearbeiten zu lassen, dass er sich selbst ein Bild machen und in gewis­
sem Rahmen mitsprechen konnte.159 Wessel notierte dazu die Einschätzung
von Albert Radke, dem Vertrauensmann der Org beim BfV, dass 80 Prozent der
Spionageabwehrmeldungen aus Pullach wertlos seien. Hoffentlich, so Wessel,
sei Gehlen tatsächlich einsichtig und setze einen entsprechenden internen
Kurswechsel durch.160 Gehlen müsse aus seinem Traum aufwachen, dass die
Bereiche 35 (Sonderverbindungen) und 40 (Gegenspionage) in jetziger Form
von Bedeutung wären und dass Lossow der geeignete Mann für die politische
Wegbereitung sei. Welche Rolle spiele er überhaupt und sei er »echt«? Wessel
hatte seine Zweifel – zu Recht, denn den Kurswechsel bei der innenpolitischen
Aufklärung vollzog Gehlen am Ende doch nicht.
Wahrscheinlich gab sich der »Doktor« nur deshalb einsichtig, weil er die
wachsende Kritik innerhalb der Führungsspitze abwehren wollte. Gleichwohl
entging er damit nicht den Erwartungen des Kanzlers, der Gehlen – wie die
CIA – zu seinem Werkzeug machen wollte. Gehlen reiste zu dem Termin bei
Adenauer mit der Maßgabe von Critchfield, dass er sich in Bonn selbst arran­
gieren müsse und freie Hand habe, gegebenenfalls mit einem kleinen Stab dort­
hin zu wechseln. Die Gesamtführung der Org könne er dann vorerst behalten.161
Beim Kanzler stellte er sich vor als der Verantwortliche für den Feindnach­
richtendienst gegen den Osten. Die Entgegnung des alten Herrn: »Und wat
machen Sie gegen den Westen?«, führte bei dem verblüfften Gehlen zu einer
»anfänglichen Ehrpusseligkeit«.162 Adenauer sprach zwar auch die militärische
Lage an (für die er sich auf Heinz und Heusinger stützte); und er bat General
Gehlen um ein zusammenfassendes Urteil zu der Frage, ob mit einem baldigen
militärischen Vorgehen der UdSSR zu rechnen sei und welche Gründe dagegen
sprächen.163 Gehlen verwies auf die angespannte sowjetische Versorgungslage
bei Öl, der wichtigsten Schwachstelle des Gegners, und nahm sich vor, nach
seiner Rückkehr eine größere Ausarbeitung zu diesem Thema für den Kanzler
anfertigen zu lassen. Ganz allgemein fragte ihn Adenauer auch nach seiner
Meinung über die strategischen Möglichkeiten zur Verteidigung Europas.
Aber besonders interessiert zeigte er sich an der Einschätzung der inne­
ren Sicherheit, hinsichtlich der Kommunisten und der sich bildenden Rechts­
opposition sowie der Einflüsse aus der Ostzone. Die Unterwanderung der

159 Gespräch Heusinger – Wessel, 19.3.1951, BND-Archiv, N 1/4.


160 Eintrag 27.3.1951, ebd.
161 Aufzeichnung Mellenthins, 12.3.1951, BND-Archiv, 4315.
162 Erinnerung Worgitzkys, S. 59, BND-Archiv, N 23/1.
163 Aktennotiz über den Vortrag beim Bundeskanzler, 13.3.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 104.

707
Gewerkschaften und der Polizei insbesondere im Ruhrgebiet bildete ebenso
ein Thema wie die Persönlichkeit von Ernst Reuter, dem Regierenden Bürger­
meister von West-Berlin, der innerhalb der SPD zwar ein Fürsprecher militä­
rischer Abschreckung war, aber – bei deutlicher antikommunistischer Grund­
einstellung – sich auch offen zeigte für Ost-Berliner Initiativen zur Abhaltung
gesamtdeutscher Wahlen. Das machte ihn für Adenauer verdächtig.164
Gehlen nutzte die Gelegenheit, um Globke zur Weiterleitung an den Kanz­
ler eine Ausarbeitung über »Grundfragen einer zweckmäßigen ND-Spitzenor­
ganisation« zu übergeben.165 Auf diese indirekte Weise wollte er das Thema
der erhofften Übernahme der Org an höchster Stelle in Erinnerung bringen
und zeigte sich in Einzelheiten kompromissbereit. So forderte er, dass die
Leitung des Nachrichtendienstes unmittelbar der Staatsführung zugeordnet
werden müsse, und hielt es für denkbar, deshalb an die Spitze eine politische
Persönlichkeit zu stellen. In dem Fall müsse aber der zweite Mann unbedingt
ein Nachrichtendienst-Fachmann sein – also wohl er selbst. Durch Organisa­
tionsform und Stellenbesetzung, so Gehlen weiter, müsse eine überparteiliche
Arbeit des Nachrichtendienstes ermöglicht werden.
Hier konnte er sich gegebenenfalls ein Komitee mit Parteivertretern vor­
stellen, das der Leitung in einer Beraterfunktion zugeordnet würde. Dann ließ
Gehlen die Katze aus dem Sack und kam auf sein altes Konzept zurück, durch
die »Eingliederung des innenpolitischen Nachrichtendienstes« einen einheit­
lichen Sicherheitsapparat zu schaffen. Jede nachrichtendienstliche Betätigung
anderer Organe müsse dann verboten werden.
Gehlen forderte also unverblümt ein Monopol seines künftigen Geheim­
dienstes – ganz im Gegensatz übrigens zu dem Modell der westlichen Sieger­
mächte, die sich jeweils auf mehrere, getrennt nach militärischen, innen- und
außenpolitischen, Aufgaben stützten. Übertragen auf den Fall der USA, lief sein
Ansinnen letztlich darauf hinaus, FBI und CIA unter einem Dach zu vereinen!
Die Figur des mächtigen FBI-Chefs J. Edgar Hoover dürfte auf Gehlen in dieser
Zeit mehr Eindruck gemacht haben als das Vorbild des gescheiterten Admirals
Canaris.
Gehlen teilte Globke mit, dass sich die US-Seite bald einverstanden zeigen
werde, die Org in deutsche Jurisdiktion zu überführen, unter vorläufiger Wei­
terfinanzierung für längere Zeit.166 Globke begrüßte die Perspektive, weil so die
enge Zusammenarbeit mit den USA erhalten bleibe, hätte doch bisher befürch­
tet werden müssen, dass bei einer zu schnellen Überführung das Interesse der

164 Zur Biografie siehe u.a. Hannes Schwenger: Ernst Reuter. Ein Zivilist im Kalten Krieg,
München 1987.
165 Ausarbeitung Gehlens vom 13.3.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 98-103.
166 Aktennotiz Gehlens über die Besprechung bei Globke, 13.3.1951, ebd., Blatt 105-106.

708
Amerikaner an der Org leiden könnte. Gehlen gewann den Eindruck, dass es
zwei unterschiedliche Auffassungen gab: Die eine – Globke – tendiere dazu,
die Org in der gegenwärtigen Form als deutschen Nachrichtendienst zu über­
nehmen und die Spitze direkt an das Kanzleramt anzugliedern; die andere -
das Büro Blank – habe das Ziel, einen künftigen deutschen Nachrichtendienst
zunächst an sich, später an ein Wehrministerium anzugliedern und aus dem
Heinz-Dienst heraus zu entwickeln. Dahinter steckten die Gruppe um den
bayerischen Politiker Josef Müller, den Staatssekretär im Bundeskanzleramt,
Otto Lenz, sowie Heinz und Oster mit dem Argument, die Org sei zu teuer,
personell überbesetzt und von den USA abhängig. Es lasse sich mit geringerem
Aufwand das gleiche Arbeitsergebnis erreichen.167 Tatsächlich war die Org im
Frühjahr 1951 extrem kopflastig. Sie beschäftigte fast genauso viele Führungs­
kräfte wie V-Leute und Agenten168 – ein Ergebnis der Personalpolitik Gehlens,
für den die Nachrichtenbeschaffung nicht die erste Priorität hatte.
Er, Gehlen, habe dann bei Globke Einblick nehmen können in eine Lagebe­
urteilung der Gruppe Heinz, die von Blank unterzeichnet war. Sie sei »außeror­
dentlich seriös und ausgezeichnet« gewesen, räumte er ein. Die Gruppe Heinz
müsse Informationen aus verschiedenen Quellen erhalten. Vermutlich werde
Heinz von den Briten unterstützt. Er habe den Eindruck, schrieb Gehlen in
seinem Bericht für Critchfield, dass seine Org in immer größere Schwierigkei­
ten geraten werde, wenn nicht bald in irgendeiner Form vollendete Tatsachen
geschaffen würden, um die Aktivitäten der Gruppe Heinz gegen die Org zu
neutralisieren. Er sah die Gefahr, dass die SPD, um zu verhindern, dass der
Bundeskanzler einen geschlossenen Nachrichtendienst in die Hand bekommt,
eine Lösung bevorzugen könnte, den künftigen deutschen Nachrichtendienst
aus der Gruppe Heinz heraus zu entwickeln. Gehlen wies darauf hin, dass er
gegen Heinz und seine Gruppe erhebliche Sicherheitsbedenken habe, vorläufig
aber über keine Beweise verfüge, lediglich den Hinweis, dass Heinz ehemaliger
Kommandeur des der Abwehr unterstehenden Regiments Brandenburg und
trotzdem ein Jahr lang unter russischer Aufsicht Bürgermeister in Saarow-
Pieskow gewesen sei, wo doch die Russen ansonsten jeden Regimentsangehö­
rigen verhafteten. Er würde Heinz jedenfalls nicht in seinem eigenen Apparat
an einer Schlüsselstelle verwenden.
Die Amerikaner hielten sich freilich in der Sache bedeckt. Friedrich Wilhelm
Heinz war schließlich auch ihr Mann. Und der Stern Gehlens schien immer
stärker zu verblassen. Critchfield stimmte der Empfehlung seiner Vorgesetzten

167 Bericht Gehlens für Critchfield von den wichtigsten Eindrücken seines Besuchs in
Bonn, 14.3.1951, BND-Archiv, 1112, Blatt 384-386.
168 Stärkemeldung an den US-Verbindungsstab nach dem Stand vom 1.5.1951, BND-Archiv,
4315.

709
in Washington zu, statt auf einen Frontalangriff gegen Gehlen besser auf ein
diskretes Verfahren zu seiner Absetzung zu vertrauen.169 Es gelte, Gehlen mit
einem kleinen Stab von der Org zu trennen und ihn zu ermutigen, sich aus
eigener Kraft um die deutsche Anbindung zu kümmern. Man sollte abwarten,
ob er damit Erfolg habe. Das könne eine lange Übergangszeit bedeuten, aber
auch eine Ausdehnung der maximalen US-Kontrolle über die Operationen von
Pullach. Sollte Gehlen dagegen mit seinen Ambitionen in Bonn scheitern, wäre
noch immer Gelegenheit, über seine Entlassung nachzudenken.
Und der »Doktor« machte sich ans Werk, frustriert und müde, aber unver­
drossen, weil er das Interesse des Kanzlers an einer innenpolitischen Aufklä­
rung gespürt hatte, die ihm weder das BfV noch das Amt Blank zu liefern ver­
mochte. Gehlen entwarf einen »Vorschlag für die Einsetzung eines Beraters des
Bundeskanzlers für alle [!] nachrichtendienstlichen Fragen«.170 Unter Berufung
auf seine bisherigen Verhandlungen mit Critchfield schlug er die Übernahme
der Org-Spitze als offizielles Beratungsorgan der Bundesregierung mit kleinem
Stab (drei bis vier Köpfe) vor. Die Org selbst bliebe unter US-Treuhänderschaft
und Finanzierung.

Staff of German Chief, Stand: 15. Januar 1951171

German Chief: »Dr. Schneider« (Gehlen)


Personal Co-worker: Mr. »Langendorf« (Langkau)
Typist: Miss »Kuntze« (Krüger)
Personal Co-worker for Personal Co-worker for
General and Fundamental Affairs: Intelligence Service
Mr. »Wendt« (Wendland) Mr. »Wollmann« (Winter)
Typist: Miss »Laer« Deputy: Mr. »Herdahl« (Herre)
Translator: Miss »Buschner« Typist: Miss »Langer«
Administration Industrial
Personal Organisation Communica­
and Finance Research
Group Group tions Group
Group Institute
Mr. »Loewe« Mr. »Diehl« Mr. »Hoebel«
Dr. »Stahl« Mr. »Gerlach«

German Camp
Administration
Mr. »Karner«

169 Pullach an Special Operations, 18.3.1951, NA Washington RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen, vol l_20F3, S. 13-14.
170 Entwurf vom 21.3.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 107-109.
171 Chronik, BND-Archiv, 4315.

710
Auch wenn er das Vertrauen des Bundeskanzlers habe, sei es ihm doch ein
persönliches Bedürfnis, auf diese Weise die Org und sich selbst in eine Position
zu bringen, die nicht mehr missgedeutet werden könne. Gegen die Entschei­
dung, jetzt einen offiziellen »Berater« des Kanzlers einzusetzen, ließen sich
kaum Einwände vorbringen. Briten und Amerikaner könnten nicht wider­
sprechen, weil damit einer organisatorischen »Endlösung« nicht vorgegriffen
werde. Die Einrichtung eines Bundesnachrichtendienstes sei vor Wiederer­
langung der vollen Souveränität ohnehin nicht möglich. In der Zwischenzeit
werde die Org zwar nach außen hin von dem Berater getrennt, de facto aber
von ihm nach den Weisungen des Bundeskanzlers geführt, unter Berücksichti­
gung der »zusätzlichen Wünsche« der Amerikaner. Gehlen wurde freilich von
Critchfield angewiesen, zunächst nichts weiter bei Globke zu unternehmen
und abzuwarten, bis Stewart Anfang April aus Washington zurück sein werde
und man mit ihm über Gehlens Vorschlag gesprochen habe.172 Er verstehe
aber, wie dringlich es ihm erscheine.
In Washington verfasste derweil Richard Helms ein Memorandum über die
Führung der Org (DN »Zipper«).173 Es diente der Vorbereitung eines Treffens
mit Allen Welsh Dulles, Director of Special Operations, Lieutenant General
Lucian K. Truscott, Sonderberater des amerikanischen Hohen Kommissars in
Deutschland, und Gordon Stewart, bevor die beiden Letzteren nach Deutsch­
land abreisen würden. Helms referierte den Stand des Streits mit Gehlen sowie
die Überlegungen zu dessen Absetzung. Inzwischen habe der »Doktor« eine
Art von Equilibrium aufrechterhalten, nachdem er die vorgeschlagene Reform
entgegen seiner ursprünglichen Position dann schließlich akzeptiert habe.
Aber er richte seine Hauptenergien nicht auf die Intelligence und sei bisher
doch nicht in der Lage gewesen, seine Beziehungen zur Bonner Regierung mit
einem staatsmännischen Blick zu regeln.
Es sei zu befürchten, dass sich seine Beziehungen zu den Amerikanern
weiter verschlechtern würden, meinte Helms. Gehlens letzter Plan für eine
arbeitsfähige Beziehung zur deutschen Regierung klinge wie der Versuch, sich
besser zu verkaufen, indem durch ihn der volle Zugang zur Org ermöglicht
werden könne. Das sei eine berechnende Aktion, um die Anerkennung und
Unterstützung der Regierung zu erhalten, zu einem Preis, den die USA gegen­
wärtig nicht bereit sei zu zahlen.
Im Ergebnis werfe das erneut die Frage auf, ob man es riskieren könne, Geh­
len als Chef der Org zu ersetzen.

172 Notiz Critchfields für Gehlen, 26.3.1951, BND-Archiv, 1112, Blatt 387.
173 Memorandum von Helms vom 27.3.1951; in: Ruffner (Hg.), 1949 – 56, Bd. 1, S. 383-385.

711
Gehlen’s motivations, his inflexibility, and his preoccupation with military
and political questions to the detriment of his intelligence responsibilities,
have materially hampered our mutual Cooperation. Many of Gehlen’s undesir-
able qualities would be reflected in any successor we might select for him,
since some of the qualities are a part of the responsibilities of the position, of
background, and possibly of nationality. Nevertheless, it should be possible
to choose a successor measurably more cooperative, less concerned with the
future of the German general staff, and with motivations inspiring better faith
in relations with us.174

Die internen Auswirkungen einer Ablösung Gehlens würden sich letztlich


nicht voraussagen lassen. Er sei weithin verantwortlich für den Aufbau der
Org. Viele Offiziere verdankten ihm Überleben und Beschäftigung. Dankbar­
keit und Loyalität würden ihm also entgegengebracht. Sein Stab wisse natür­
lich, dass der Chef nicht allein für die Schaffung der Org verantwortlich gewe­
sen sei. Sehr wahrscheinlich wäre sie auch ohne ihn entstanden. Baun habe
Ende 1945 seine Org an den G-2 USFET verkauft. Seine starke Persönlichkeit,
nicht so sehr Gehlen, habe damals die Verbindung zu den meisten Angehöri­
gen der Org geschaffen. Nachdem man Bauns Unehrlichkeit entdeckt hatte, so
Helms, habe man einige Monate gezögert, ihn zu ersetzen. Es habe sich aber
gezeigt, dass die Bindung des Personals an die Jobs größer gewesen sei als an
die Führungspersönlichkeiten. Das ließe sich auf den Fall Gehlen übertragen.
Was dann folgen würde, bleibe der deutschen Seite überlassen. Adenauer
und Schumacher hätten ein Interesse an der Zukunft der Org. Man würde beide
sanft beeinflussen müssen. Adenauer werde nicht widersprechen, wenn man
Gehlen ersetzen und einen Chef ernennen würde, den Adenauer nicht zurück­
weisen könnte, und wenn man gleichzeitig die Org der deutschen Regierung
zugänglich machen würde. Adenauer sei zu sehr Politiker, um sich für Gehlen
einzusetzen, wenn er dadurch nichts gewinnen könne. Schumacher habe Res­
pekt vor der US-Intelligence und halte die Org für eine Sache der Amerikaner.
Die deutsche Offiziersfraktion sei zu sehr zersplittert, um einen maßgeblichen
Einfluss zu entwickeln. Die Empfehlung von Helms lautete:

I propose that a tentative decision be made as to the desirability of Gehlen’s


retention or removal, taking into consideration the relative possibilities of
damage to our relations with the Zipper staff und with influential factions
outside Zipper. Preferably Mr. Gordon Stewart should take this decision back
to him for the orientation of our key field personnel and as the CIA position

174 Ebd., S. 383-384.

712
in the discussion in early April between Mr. McCloy, Chancellor Adenauer,
and our representatives. A final decision would then be made in the light of
Adenauer’s reaction. It should be considered whether we, in our discussion
with Adenauer, should restrict ourselves to a completely neutral sounding
out of the Chancellor or should convey to him the impression that we would
prefer to remove Gehlen.175

Da Dulles Gehlen noch nicht persönlich kannte, analysierte Helms in einer


Anlage Gehlens persönliche Motive. Dieser habe von Anfang an für die Zusam­
menarbeit die ideologische Motivation vorgegeben, die Bedrohung aus dem
Osten abzuwehren. Es sei aber mehr Opportunismus dabei als Gehlen zuge­
ben würde. Es habe mit seinem Angebot an Walter Schellenberg im März 1945
begonnen, einen Nachkriegswiderstand um Himmler herum zu organisieren.
Sein gegenwärtiger Opportunismus sei psychologisch gesehen ganz selbst­
süchtig. Als Chef von »Zipper« genieße er einen Lebensstandard, Freiheit und
Prestige, die einzigartig im Nachkriegsdeutschland seien.
Eng verbunden mit diesen streng privaten Überlegungen müssten die bei­
den Lebensziele Gehlens betrachtet werden: die Wiederherstellung des Gene­
ralstabs und die Einrichtung »Zippers« als deutschen Geheimdienst. Sein
persönliches Prestigestreben sei der Grund für seine Intransigenz und sein Her­
umlaufen. Sein Beharren auf der Beibehaltung der Generalstabsprinzipien zum
Schutz von »Zipper« habe eine Verwaltungsreform und eine effiziente Reorga­
nisation bedroht. Seine Furcht vor einer Amerikanisierung habe die Akzeptanz
von Geheimdienstprinzipien behindert, welche ältere Untergebene begrüßen
würden. Gehlens Bemühungen, seine wichtigen Ambitionen zu realisieren,
hätten eine mehr als passive Form. Sie hätten zu einer extravaganten Nicht­
beachtung der komplizierten US-Interessen in den meisten sensiblen Feldern
geführt, vor allem hinsichtlich der Beziehungen zu anderen westlichen Nach­
richtendiensten, zur Bonner Regierung und bei strategischen Operationen.
Meistens rechtfertige er diese Aktivitäten, indem er zu wenig und zu spät
davon berichte. Aber er sei auch ein Meister darin, jede Ermutigung in eine
Richtung als Blankovollmacht und in eine andere zu interpretieren. Die Zustim­
mung zum Beispiel, mit der deutschen Regierung seinen eigenen Frieden zu
machen, habe ihm als Entschuldigung dafür gedient, selbstständige Kontakte
zu US-Vertretern zu knüpfen, innenpolitische Spionage zu betreiben, scham­
los mit deutschen Offiziellen über die Weitergabe von »Zipper«-Ergebnissen
zu verhandeln und die beruflichen Ambitionen einer Generalstabsclique zu
fördern. Neben den Halbwahrheiten und Ausflüchten, mit denen Gehlen seine

175 Ebd., S. 385.

713
Sache vorangetrieben habe, sei eine Anzahl von bösen Unwahrheiten zu ver­
zeichnen. Nur in sehr wenigen Fällen könnten die Lügen belegt werden, aber
das wachsende Gewicht entsprechender Hinweise mache nun die Vermutung
willentlicher Täuschung unvermeidbar.
Gehlens Mangel an emotionaler Balance und seine privaten Motivationen
hätten zu seiner widersprüchlichen Haltung geführt. Er insistiere auf der einen
Seite auf der deutschen Integrität von »Zipper« und widerspreche der Ameri­
kanisierung, bestehe aber andererseits darauf, dass es die Pflicht der Amerika­
ner sei, »Zipper« der deutschen Regierung zu verkaufen. Sein Rückzug auf die
Ehre eines deutschen Offiziers stehe im Widerspruch zu seiner spitzbübischen
Täuschungslist. Seine häufige Weigerung, die Realität anzuerkennen, müsse im
Lichte des objektiven Fakts gesehen werden, dass er seine Abhängigkeit von
den Amerikanern und die Fortsetzung seiner Karriere im Staatsdienst durchaus
schätze. Seine Emotionalität und widersprüchlichen Haltungen hätten Fort­
schritte in »Zipper« zu einem langsamen und schmerzlichen Prozess gemacht.
Wenn er einem Vorschlag zunächst heftig widerspreche und schließlich eine
Synthese entstehe, stelle das nur einen unbefriedigenden Schritt vorwärts dar.
Eine letzte Betrachtung verdiene Gehlens Vorstellung von einem deutschen
Nachrichtendienst. Nach allen seinen Äußerungen denke er an einen Dienst,
der innen- und außenpolitische Aktivitäten mit exekutiver Macht und einem
starken militärischen Einfluss verbindet. Für diesen Dienst wünsche er sich
Vorgaben, Budgets und Möglichkeiten, die denen einer Großmacht auf dem
Weg in den Krieg entsprächen.
Helms erwähnte noch Gehlens jüngsten Vorschlag an den Bundeskanzler
zur Ernennung eines Geheimdienstberaters. Das sei der untaugliche Versuch,
die sofortige Anerkennung durch die Regierung zu erhalten, indem er einen
kompletten Geheimdienst anbot, auf Kosten der USA. Man würde es zwar
begrüßen, wenn einige Elemente von der Bonner Regierung übernommen
würden. Die offizielle Anerkennung Gehlens als Personalisierung von »Zip­
per« würde sein Prestige aber derartig erhöhen, dass es keine Möglichkeit
mehr gäbe, ihn zu ersetzen, wenn das wünschenswert erscheine. Als Regie­
rungsvertreter hätte er grünes Licht, um mit anderen westlichen Nachrich­
tendiensten in Kontakt zu treten und »Zipper« der amerikanischen Kontrolle
zu entziehen. Außerdem sehe Gehlens Plan die Verbindung von innen- und
außenpolitischer Aufklärung vor. Die USA hätten aber wiederholt und mit ehr­
licher Absicht den Alliierten wie den Deutschen versichert, dass es eine solche
Lösung nicht geben werde.
Gehlens Hauptsorge seien freilich die bereits bestehenden zwei Geheim­
dienste innerhalb des Bonner Regierungsapparats, auf die er keinen Zugriff
habe. Während die Verbindung zum BfV nützlich, ja exzellent sei, bereiteten
die Aktivitäten von Friedrich Wilhelm Heinz ihm weit mehr Sorgen. Dieser

714
habe ein bemerkenswertes Talent gezeigt, eindrucksvolle und ziemlich akku­
rate militärische Lageberichte zu erstellen. Als brillanter Nachrichtendienstler
werde er von Gehlen als tödlicher Rivale betrachtet und er habe sich bereits
erfolgreich im militärischen Sektor (Amt Blank) etabliert. Dieses Patt könnte
nur aufgebrochen werden, wenn es gelänge, einen »Zipperiten« im Regie­
rungsapparat oberhalb von Heinz zu installieren. Da niemand in Pullach ernst­
haft mit einer raschen und kompletten Übernahme der Org rechne, müsste
also eine Übergangslösung gefunden werden, die Gegenwirkungen blockiere
und Fortschritte ermögliche. Gehlens vorliegender Vorschlag sei nicht die
einzig denkbare Lösung. Eine Alternative könnte darin bestehen, einen bes­
ser ausgewiesenen Nachrichtendienst-Fachmann zu Adenauer zu schicken
bzw. Vorbereitungen zu treffen, um die G-2-Sektion einer künftigen deutschen
Armee aufzubauen, was mit geringen Anstrengungen möglich sein würde -
aber hinter dem Traum von »Zipper« zurückbliebe, eines Tages der deutsche
Nachrichtendienst zu sein.
Mit Richard Helms hatten sich alle für Gehlen zuständigen CIA-Offiziellen
eigentlich darauf festgelegt, ihren bisherigen Schützling auszutauschen und
als Chef der Org abzusetzen. Natürlich muss diese vernichtende Reaktion auch
vor dem Hintergrund des für die Amerikaner ungewohnt störrischen Verhal­
tens Gehlens gesehen werden, mit dem sich dieser einen größeren Spielraum
gegenüber Bonn zu verschaffen suchte. Aus der klugen und weithin zutreffen­
den Einschätzung Gehlens resultierte freilich auch die Einsicht, dass eine Ent­
fernung des Generals eine komplizierte Operation sein würde.
Während die CIA-Vertreter noch nach einer passenden Lösung für den
Problemfall Gehlen suchten, begab sich der »Doktor« wieder einmal in die
Höhle des Löwen. Er besuchte Globke in Bonn und schlug vor, selbst im Amt
Blank vorzusprechen, um etwaigen Empfindlichkeiten entgegenzuwirken.
Gehlen hatte den Eindruck, dass in der Hauptstadt »unter der Decke« eine
sehr geschäftige Tätigkeit verschiedener Gruppen stattfand, ohne dass sich ein
klares Bild ergebe. Die meisten seiner geplanten Termine konnten nicht statt­
finden. Das interessanteste Ergebnis war die Mitteilung von Globke, er habe
von einem Journalisten erfahren, dass Oster homosexuell sei und Heinz in
der Frühzeit der NS-Bewegung oberster SA-Führer in Westdeutschland gewe­
sen sei. Gehlen dürfte mit Genugtuung registriert haben, dass die gestreuten
Gerüchte gegen die Heinz-Gruppe ihre Wirkung erzielten, und bat Globke, die
Informationen gegenüber Blank nicht so vorzutragen, dass der Eindruck ent­
stehen könnte, er – Gehlen – sei die Quelle.176

176 Notiz Gehlens über den Besuch bei Globke, 28.3.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 111-112,
und Notiz über die Reise nach Bonn, 27.– 29.3.1951, ebd., Blatt 113.

715
Die Präsidentenvilla in Pullach von der Gartenseite aus mit Teich und Skulpturen,
Foto aus den 1980er-Jahren

Er ahnte freilich nicht, was sich gegen ihn selbst aufseiten der CIA zusam­
menbraute und wie höchst gefährdet seine Position nicht nur in Bonn, son­
dern auch in Pullach inzwischen war. Am 29. März 1951 fand die von Dulles
in Washington angesetzte Besprechung über »Zipper« statt. Der Deckname
für Pullach, auf Deutsch »Reißverschluss«, war längst kein Sinnbild mehr für
den Zustand der Kooperation. Im Dienstzimmer von Dulles trafen sich dieje­
nigen, die persönlich mit Gehlen vertraut waren, Stewart und Helms, sowie
Truscott und Major General Willard G. Wyman, Assistant Director of Special
Operations.177
Im Hinblick auf Gehlens Führung gab es Übereinstimmung, dass Stewart
bei seiner Rückkehr nach Deutschland mit McCloy besprechen sollte, wie die­
ser am besten bei Adenauer dessen Einschätzung Gehlens abfragen könnte,
ohne die Übernahme der Org ins Gespräch zu bringen. Ob man Gehlen dann
als Berater Adenauers vorschlagen sollte, wäre dann erst nach weiteren inter­
nen Beratungen zu beantworten. Die Runde hatte gemeinsam das Gefühl, dass
es für eine Übernahme der Org durch die Bundesregierung noch zu früh sei

177 Memorandum Helms über die Konferenz vom 29.3.1951; in: Ruffner (Hg.), 1949-56,
Bd. 1, S. 400–401.

716
und man abwarten müsse, in welchem Ausmaß sich die Bonner Regierung an
der Verteidigung Europas beteiligen wolle. Stewart kündigte an, er werde mit
Gehlen reden und ihm klarmachen, dass eine enge Verbindung mit Bonn nicht
dringlich und jede formale Annäherung zu vermeiden sei.
Gehlen glaubte sich absolut sicher und unentbehrlich, sowohl für die Regie­
rung als auch die Amerikaner. Er warnte Globke schriftlich, die Mission deut­
scher Militärexperten in Syrien für nachrichtendienstliche Zwecke zu benut­
zen, wie Heinz es wohl plante. Die Org habe von Anfang an vor einer offiziellen
Unterstützung gewarnt. Nach Auseinandersetzungen mit früheren SS- und SD-
Leuten sei inzwischen ein vernünftiger Kurs eingeschlagen worden. Daher ver­
suche man, eine schützende Hand über die Mission zu halten. Sie sei eine gute
deutsche Investition, und diese private Gruppe sollte auf längere Sicht eine
gewisse ideelle Unterstützung durch die Regierung erfahren. Die Mitglieder
der Mission sollten aber unter keinen Umständen Spionageaufträge überneh­
men.178 Auf der anderen Seite kam es seinen Intentionen entgegen, wenn die
CIA dieser Tage ihr Interesse an einer Identifizierung aller Mitglieder kommu­
nistischer Widerstandsgruppen im Zweiten Weltkrieg betonte, in Frankreich,
Italien, Belgien, Norwegen, Dänemark und den Niederlanden. Das wertete sein
Interesse an Nachforschungen zum Komplex »Rote Kapelle« auf, das längst zu
einer fixen Idee geworden war.179
Seine Gegner aufseiten der CIA hatten einen schweren Stand, sich gegen­
über den Bedenken in Washington durchzusetzen und den von Critchfield
vorgeschlagenen »Showdown« zu inszenieren. Dieser meinte gegenüber Herre
offenherzig: »Der Dr. sei halt ausgesprochen schwer zu verdauen.«180 Stewart
berichtete, dass Gehlen kürzlich in Bonn gewesen sei, in der einen Tasche einen
Brief der CIA mit der Aufforderung, Zugeständnisse gegenüber Globke zu ver­
meiden, in der anderen ein Telegramm von Heusinger mit der Empfehlung, er
möge seinen Frieden mit Heinz machen.181 Das werfe ein bezeichnendes Licht
auf Gehlen als Politiker. Ein sorgfältiges Studium der Akten seit Sommer 1949
zeige gewisse Verhaltensmuster, die gleich geblieben seien und mit denen man
auch bei künftigen politischen Krisen rechnen müsse.
Da sei vor allem eine Tendenz, sich Personen zu Feinden zu machen, mit
denen er eigentlich einen Deal machen wolle. Jedes Mal sei es so gewesen, dass

178 Schreiben Gehlens an Globke, 30.3.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 114-115. Das Schrei­
ben enthält als Anlage eine Liste mit 19 Namen, siehe S. 18.
179 Notiz zum 29.3.1951, BND-Archiv, 4315. Siehe dazu Sälter, Phantome, S. 209-226.
180 Tagebuch Herre, Eintrag vom 24.3.1951, S. 28, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.
181 Memorandum für Chief Foreign Station M vom 30. April 1951, NA Washington RG 319,
Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 17.

717
er, sein Scheitern vor Augen, sich zu entscheiden versuchte, ob er die andere
Partei einbinden, übernehmen oder zerstören wollte. Er habe von jedem etwas
probiert, manchmal gleichzeitig, und das unvermeidliche Ergebnis sei katast­
rophal gewesen. Es gebe nicht den geringsten Zweifel, dass er, wenn er jeman­
den zu umwerben oder zu überzeugen versuche, sich bemühe, diesen gleich­
zeitig hinterrücks zu umgehen. Das Hintergehen sei nicht nur eine schlechte
Methode, sondern geschehe auch höchst indiskret. Obendrein sei sein Entge­
genkommen auch nicht konstant und zuverlässig. Stewart schrieb sich damit
den Frust von der Seele, den er und Critchfield nun über Monate im Umgang
mit Gehlen empfunden hatten.
Wie zur Bestätigung ihrer Klagen legte Gehlen Gedanken vor, wie McCloy
aus seiner Sicht das Gespräch mit Adenauer fuhren sollte.182 Demnach sollten
die USA den Vorschlag unterbreiten, einen Berater des Kanzlers einzusetzen
und die Org schrittweise zu überführen. Aus amerikanischer Sicht sei General
Gehlen die einzige deutsche Persönlichkeit, die dafür infrage komme. McCloy
sollte an die hohe Verantwortung appellieren, die der Bundeskanzler gegen­
über dem deutschen Volk und gegenüber der westlichen Welt trage – eine
ziemliche Anmaßung Gehlens. Gleichzeitig suchte er einen persönlichen Kon­
takt mit dem Leiter eines nordeuropäischen Partners, als Ausgangspunkt für
eine spätere persönliche Zusammenarbeit. Im Augenblick ging es praktisch
um die Schaffung einer Funkverbindung zur raschen Übermittlung von Nach­
richten.183
Dann reiste er nach Bonn und hielt Blank einen eingehenden Vortrag über
die militärische Lage und das russische Kräftepotenzial.184 Gehlen hatte lange
gezögert, sich direkt an Blank zu wenden, und den Weg über dessen Rivalen
Globke vorgezogen, den Heusinger allerdings für einen »Endbahnhof« hielt.
Mit Blank, so meinte Heusinger im Gespräch mit Herre, müsste man sich doch
einigen können. Beide drängten also Gehlen dazu, Blank direkt anzugehen und
sich nicht auf die Anbahnungsversuche seines Abgesandten Lossow zu ver­
lassen. Heusinger prophezeite: »Der Doktor wird sich mit solchen Multsche­
reien noch das Genick brechen.« Als Heusinger die Aussprache beendet hatte,
notierte Herre: »Warum redet er nicht mit dem Doktor mal so wie mit mir?«185
Nun hatten es Heusinger und Herre also geschafft. Gehlen stand vor Blank
und hielt Vortrag. Nachdem Blank offenbar geduldig und beeindruckt zuge­
hört hatte, bot Gehlen an, ihm persönlich jede nur mögliche Unterstützung

182 Notiz (vermutlich von Gehlen) vom April 1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 119.
183 Notiz zum 4.4.1951, BND-Archiv, ebd., Blatt 122.
184 Auszug aus der Reisenotiz Gehlens, 5.4.1951, ebd.
185 Tagebuch Herre, Eintrag vom 27.3.1951, S. 34, online unter: College of William and
Mary, Digital Archive, Diary of Heinz Danko Herre.

718
zu geben, verband das aber mit Bedenken gegen Heinz, über den er in Pullach
ein spezielles Dossier vorbereitet hatte.186 Blank erklärte, ihm sei das Geheim­
dienstgeschäft völlig fremd und er habe sich bislang auf seine Nachrichten­
dienstgruppe verlassen, sei aber bereit, eine von der Org zu benennende
Persönlichkeit bei sich getarnt einzubauen, die dann sämtliches Material
handhaben könne.
Nach der Aufzeichnung von Gehlen habe sich die Unterhaltung in »betontest
freundschaftlicher Weise« vollzogen und einen sehr guten Kontakt geschaffen.
Es sei richtig gewesen, so lange mit der Kontaktaufnahme zu warten, bis der
Glaube Blanks an seine eigenen Nachrichtendienstmitarbeiter von anderer
offizieller Seite – gemeint ist vermutlich Globke – bereits einer Erschütterung
ausgesetzt worden sei. Einen großen Erfolg brachte er nicht mit nach Pullach,
aber ein erster Einbruch gegen seinen Gegner war durchaus gelungen.
Gehlen hatte in Bonn erfahren, dass sich Heinz intensiv bemühte, seine
eigene Gruppe auszubauen und überall zu verbreiten, die Org sei zu teuer und
überbesetzt – was genau genommen zutraf. Dem konnte Gehlen nicht wider­
sprechen, und so blieb er bemüht, die gegnerische Position auf andere Weise
zu unterminieren. Sie wackle bereits, meinte er. In gut zwei Wochen, wenn
Globke von seiner Krankheit genesen sei, wäre die Zeit reif, den Vorstoß wegen
der Ernennung eines Beraters beim Kanzler zu machen. Er drängte Herre, die
Amerikaner »anzuheizen«, damit sie etwas für die Org in Bonn tun, sonst
»führe uns der D-Zug davon«.187
Argwöhnisch reagierte Gehlen auch auf das Gerücht, dass die Briten und
Amerikaner Schwerin zum Inspekteur ihrer bestehenden deutschen Hilfsein­
heiten (Labour Service Units) machen wollten. Davon müsse man die Ameri­
kaner unbedingt abbringen, weil mit tödlicher Sicherheit Verzögerungen bei
der Wiederaufrüstung zu befürchten wären, denn Schwerin wäre mit einem
solchen Auftrag völlig überfordert.188 Auch wenn er sich um die Details der
Remilitarisierung in der Regel nicht sonderlich kümmerte, wachte Gehlen mit
Argusaugen darüber, dass hier seine Gegner nicht Boden gewinnen konnten.
Schwerin spielte trotz seiner Absetzung als Berater Adenauers weiterhin eine
gewisse Rolle bei den Planungen für den Notfall einer überraschenden russi­
schen Invasion. Seine ehemalige 116. Panzer-Division gehörte zu jenen »Crack-
Divisionen«, die im Ernstfall reaktiviert werden sollten, eine »Lieblingsidee des
Grafen«.189 Außerdem amtierte er nun im Innenministerium als Generalins­
pekteur für die Bereitschaftspolizeien der Länder. Mit dem Aufbau des Bun­

186 Ebd., Eintrag vom 3.4.1951, S. 7.


187 Ebd., Eintrag vom 7.4.1951 (o. S.).
188 Reisenotizen Gehlens vom 5.4.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 125.
189 Einzelheiten dazu bei Keßelring, Die Organisation Gehlen.

719
desgrenzschutzes lief bereits die Aufstellung einer militärisch einsetzbaren
Gendarmerie. Schwerin musste aus Gehlens Sicht unbedingt in die Schranken
gewiesen werden. Hier lag eine Aufgabe vor ihm, die so bald wie möglich zu
lösen war.
Das galt auch für das schwierige Verhältnis zum BfV, dessen Unabhän­
gigkeit für Gehlen offenbar schwer erträglich war. Er hatte es im Augenblick
Herre überlassen, sich um die komplizierte Abstimmung der Zuständigkeiten
zu kümmern. Aber mit einer personellen Unterwanderung des BfV kam er der
angestrebten Zusammenführung von Inlands- und Auslandsnachrichtendienst
nicht viel näher. Radke, sein wichtigster Zuträger beim BfV, meinte, man müsse
die Org schnellstens in eine offizielle Verbindung zur Bundesregierung bringen,
sonst würden bald alle Türen verschlossen sein. Präsident Dr. John zeige zwar
äußerlich eine kooperative Haltung, stehe aber der Org ablehnend gegenüber.190
Gehlen setzte zunächst auf das Angebot von Blank, einen Mann der Org
für den militärischen Nachrichtendienst in dessen Amt einzubauen. Das wäre
ein wichtiges Sprungbrett, um nicht den Anschluss an den Ic- bzw. G-2-Dienst
einer künftigen deutschen Armee zu verpassen. Doch dieser hätte sich in der
direkten Konkurrenz mit Heinz und Oster unter dem Bonner Dach zu behaup­
ten. Das wäre keine leichte Aufgabe. Gehlen sprach mit Wessel, seinem besten
Experten in der Auswertung – und einem seiner schärfsten internen Kritiker.191
Er solle den Posten übernehmen und in Personalunion Stabschef der Auswer­
tung in der Org bleiben, und, wenn Heusinger ausschied, dessen Nachfolger als
Leiter von 45 (Auswertung) werden.
Wessel wandte dagegen ein, er sei für das Bonner Pflaster nicht geeignet.
Gehlen erwiderte: »Sie haben die Sache bei Himmler s. Zt. gut gemacht, wenn
Sie wollen können Sie« (gemeint war der Einsatz Anfang 1945 bei der Heeres­
gruppe Weichsel192). Wenn es in Bonn nicht funktionieren würde, könne er
jederzeit zurückkehren. Selbst zu Blank zu gehen, kam für Gehlen nicht in
Betracht. Es wäre die Perspektive einer Rückkehr an die Spitze einer reakti­
vierten Abteilung FHO gewesen. Das hatte ihn vor zehn Jahren gereizt. Jetzt
wollte er natürlich höher hinaus, nicht wieder als Referent oder Abteilungs­
leiter in den Generalstab oder ins Ministerium mit dem damit verbundenen
alltäglichen Betrieb, sondern er suchte die exklusive Spitzenposition direkt als
Berater des Kanzlers, also des künftigen Oberbefehlshabers.
Wessel setzte allerdings nicht blindlings auf Gehlens Lagebeurteilung und
seine Zusicherungen. Er sprach mit Heusinger, der aus Bonn berichtete, dass

190 Reisenotiz Gehlens vom 5.4.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 124.


191 Tagebuch Wessel, 9.4.1951, BND-Archiv, N 1/4.
192 Siehe S. 395 – 397 im ersten Teilband.

720
Gehlens Besprechung mit Blank zwar »nicht ungünstig« gewesen sei (was nicht
der euphorischen Selbsteinschätzung Gehlens entsprach).193 Die Zeit sei aber
noch keineswegs reif, um als Ic nach Bonn zu gehen, dazu sitze Heinz noch zu
fest im Sattel. Das könne ohnehin nur eine mögliche Anfangslösung sein.
Von seinem letzten Gespräch mit dem Oppositionsführer Schumacher
berichtete Heusinger, dass Gehlen doch stark parteipolitisch abgerutscht sei.
Schumacher sage ihm »Ambitionen« nach, was auf Einflüsterungen durch
Heinz zurückzuführen sein könnte. Dass der SPD-Vorsitzende nicht dafür zu
gewinnen war, Gehlen als persönlichen Berater Adenauers zu installieren und
ihm womöglich den gesamten Sicherheitsapparat zu überlassen, lag auf der
Hand. Schumacher, so Heusinger, sei immerhin von der menschlichen Seite
her zu fassen gewesen mit der Frage, wie denn die 4000 Mitarbeiter der Org
unterzubringen wären, ob ein schrittweiser Einbau in deutsche Dienste funk­
tionieren könnte. Gehlen sollte am besten in zwei Wochen noch einmal bei
Schumacher selbst nachfassen, lautete Heusingers Empfehlung.
Der »Doktor« befand sich erst einmal wieder auf Reisen ins Ausland. In
Spanien führte er auf den Spuren seines Vorbilds Canaris Gespräche unter
anderen mit General Carlos Martínez Campos und dem Chef des General­
stabs, General Juan Vignon. Konkret ging es um die Einrichtung einer Funkleit­
stelle für den Ernstfall.194 Anschließend traf Gehlen erneut in der Schweiz mit
Inspektor Max Ulrich und Oberst Marcel Mercier zusammen, um die Evakuie­
rungspläne voranzutreiben. Bei solchen geheimen Auslandskontakten konnte
er ungestört die Rolle einer bedeutsamen und einflussreichen Persönlichkeit
spielen. Hier galt er uneingeschränkt als Chef eines der größten Nachrichten­
dienste in Europa, der zugleich das Vertrauen der Amerikaner besaß. Die Rea­
lität in Pullach und Bonn sah anders aus.

3. Gehlens Kampf um Bonn (1952)

Im Frühjahr 1951 hatte sich die Vertrauenskrise zwischen Gehlen und seinen
amerikanischen Auftraggebern derartig zugespitzt, dass ein »Hinauswurf«
möglich schien und die CIA ernsthaft prüfte, die Org zu zerlegen. In Pullach
ging unter den Mitarbeitern das Rätselraten weiter, welchen Weg der »Doktor«
einschlagen würde, um die angestrebte Übernahme in deutsche Dienste zu
erreichen. Critchfield glaubte rückblickend nicht, »dass Gehlen die Frage, ob er
eine vertrauensvolle und aufrichtige Beziehung zur CIA aufnehmen sollte oder

193 Tagebuch Wessel, 12.4.1951, BND-Archiv, N 1/4.


194 Notiz 12.-16.4.1951, BND-Archiv, 4315.

721
nicht, jemals richtig zu Ende gedacht hatte. Ich bin überzeugt, dass Gehlen von
Natur aus zurückhaltend, ja sogar verschlossen war, mehr jedenfalls als die
meisten aus dem engsten Kreis seiner Mitarbeiter.«195
Der halbwegs informierten deutschen Führungszentrale ging es nicht
besser als dem US-Verbindungsstab. Es gab wenig Vertrauen in das undurch­
sichtige Taktieren Gehlens. Trotz einiger Kontakte zum Kanzleramt und zum
Bundeskanzler hatte er mit seinem Ansinnen in Bonn keine größeren Fort­
schritte erzielt. Dabei stand die wachsende Konkurrenz durch die inzwischen
etablierten Geheimdienste von Friedrich Wilhelm Heinz (Militär) und Otto
John (Verfassungsschutz) seiner Absicht im Wege, alle nachrichtendienstli­
chen Stellen der Bundesrepublik unter einem Dach zusammenzuführen und
sich auf diese Weise einen größtmöglichen Einfluss sowie eine unangreifbare
Spitzenposition in der Bonner Politik zu verschaffen.
Bei der schwierigen Gratwanderung zwischen ambitiösen persönlichen Zie­
len und eigenen Fähigkeiten blieb die Org sein wichtigster Joker. Ihre Arbeitsfä­
higkeit auszubauen und zu optimieren lag insoweit durchaus in seiner Absicht.
Aber allzu große Energie brachte er dafür nicht auf, sondern verließ sich auf
sein handverlesenes Spitzenpersonal. Dabei behielt er hauptsächlich im Blick,
was ihm in Bonn, insbesondere beim Bundeskanzler, Ansehen verschaffte. Die
Funktionsfähigkeit der Org im Sinne der CIA lag dagegen nur bedingt in seinem
Interesse. Auf die »Wünsche« der Amerikaner reagierte er oft nachlässig, hin­
haltend, nutzte deren Geld und Unterstützung aber skrupellos, um sich in die
deutsche Politik einzuschalten. Während Gehlen im Bereich der Gegenspio­
nage CIA-Mittel vor allem zur Aufklärung der »Westarbeit« des Gegners, also
auf westdeutschem Territorium einsetzen wollte, wünschten die Amerikaner
im Rahmen des »Jupiter«-Programms eine Intensivierung der Gegenspionage
östlich des Eisernen Vorhangs.196
Die Bundesrepublik konnte sich jetzt außenpolitisch Schritt für Schritt
Handlungsspielräume öffnen und befand sich sichtbar auf dem Weg zur Wie­
dererlangung der Souveränität. Im April 1951 beschleunigte sich durch die
Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie die Auf­
nahme der Bundesrepublik in den Europarat die Entwicklung zur europäischen
Einigung. Das waren nur einige Zeichen, die in Pullach zu Recht so gedeutet
wurden, dass man gut beraten war, den »D-Zug« in Richtung Bonn nicht zu ver­
passen, und von dem Zug der CIA auf dem sprichwörtlichen Parallelgleis aber
nicht so ungeschickt abspringen durfte, dass man zwischen die Räder geriet.

195 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 98.


196 Siehe Ronny Heidenreich, Daniela Münkel und Elke Stadelmann-Wenz: Geheimdienst­
krieg in Deutschland. Die Konfrontation von DDR-Staatssicherheit und Organisation
Gehlen 1953, Berlin 2016, S. 26-27.

722
Lieutenant General Lucien K. Truscott,
ab 1951 Senior CIA Representative
Germany, 1944

Kurz vor seiner Abreise nach Deutschland erhielt General Truscott noch
einmal ein Memorandum von Pleasants und Critchfield mit dem aktuellen
Stand der Beziehungen von »Zipper« zur deutschen Regierung sowie einer
vernichtenden Einschätzung von Gehlen als Chef und Politiker.197 Gehlen
habe eine Tendenz, herumzulaufen, selbst wenn alles in Ordnung scheine,
hieß es dort, sowie eine Neigung zur Selbsttäuschung. Das werde am deut­
lichsten in seinen Berichten erkennbar. Ihre Überprüfung zeige, dass sie
wenig glaubwürdig seien. Das sei nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass
Gehlen ein notorischer Lügner wäre, obwohl er zum Lügen sicher nicht
unfähig sei oder besonders abgeneigt zu leugnen, wenn es seinen Zwecken
diene. Es scheine, dass Gehlen, obwohl er in hohem Maße stur sei, dazu neige,
Dinge auszublenden oder schlicht zu vergessen, die ihm unbequem sind. Das
erlaube ihm, komplexe Sachverhalte so zu sehen, dass sie mit seinen Annah­
men und Hoffnungen übereinstimmten. Wenn Gehlen wirklich vorsätzlich
lügen würde, wäre das gefährlich für ihn, denn er wisse, dass es Mittel gebe,
ihn zu überprüfen.
Er habe eine Tendenz, paranoid zu reagieren, wenn es um seine dominante
Position auf dem Intelligence-Gebiet in Deutschland gehe. Das verbinde sich
mit einer Neigung zu einsamen Entscheidungen. Er sei nicht an einem Modus
Vivendi mit Konkurrenten interessiert. Das Einzige, was ihn befriedige, sei

197 Memorandum von Pleasants, 13.4.1951; in: Ruffner (Hg.) 1949-56, Bd. 2, S. 402-405,
vom Assistant Director Special Operations am 19.4.1951 entsprechend aufbereitet, NA
Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol l_20F3. S. 18-21.

723
die Vernichtung von Rivalen oder deren Übernahme zu seinen Bedingungen.
Rate man zu Verhandlungen und Zugeständnissen, mache er Lippenbekennt­
nisse. Er arbeite dann Pläne aus und unternehme anstrengende Reisen, aber
sein Herz sei nicht dabei und seine Hoffnungen auf Erfolg seien künstlich.
Er sei wirklich nur auf Zerstörung aus, dieser Impuls sei ursprünglich und
intensiv. Gehlen sei davon überzeugt, ihn in die Tat umsetzen zu können. Das
sei nicht vergleichbar mit seinem erfolgreichen Umgang mit ausländischen
Nachrichtendiensten. Diese seien für ihn keine Konkurrenten. Hier sei er in
der Lage, erfolgreich zu verhandeln und persönlich einen guten Eindruck zu
machen.
Die positiven Seiten von Gehlens Charakter seien nicht so eindrucksvoll. Sie
erklärten aber, warum es ihm gelungen sei, so viele Jahre zu überleben, erst in
der Wehrmacht, dann auf der US-Seite. Dabei sei er umgeben von Männern mit
der Statur eines Guderian, Matzky, Speidel, Heusinger etc., die im Rang über
ihm stünden. Pleasants glaubte nicht, dass Gehlen beliebt sei. Viele seiner Offi­
zierskameraden würden seine Schwächen kennen und hätten eine Abneigung
gegen sein Politisieren, wenn auch nicht gegen seine Politik. Sie würden aller­
dings seine Verdienste bei der Schaffung der Org anerkennen, seine Voraus­
sicht, Initiative und die diplomatische Kunst, die das möglich machte. Nicht
zu vergessen den Mut, der erforderlich war, um als deutscher General gleich
nach Beendigung der Feindseligkeiten einen solchen Deal mit dem Feind abzu­
schließen, während zur gleichen Zeit, speziell in Frankreich, jede Menge guter
Leute wegen Kollaboration erschossen worden seien.
Ein anderer wichtiger Faktor sei das Ansehen Gehlens als ausgewiesener
Kenner der Sowjetarmee. Sein Prestige sei auf Fakten und Legenden gegrün­
det. Für das Ansehen eines Chefs des deutschen Geheimdienstes, dessen Posi­
tion Gehlen anstrebe, sei die Legende nützlich, wichtiger als die Fakten, was
aber auch davon abhänge, ob die Amerikaner ihm helfen oder ihn stoppen
wollten. Niemand in Deutschland entspreche tatsächlich dieser Legende, aber
entscheidend sei der Glaube, dass man einen Mann wie Gehlen für die Zukunft
brauche. Man müsse das ernsthaft in die Erwägungen einbeziehen. Gehlens
administrative und operative Fähigkeiten seien zugegeben nicht unbeträcht­
lich, obgleich sicher negativ beeinflusst durch seine Charakterzüge, wie den
Hang zum exklusiven Management, die Konzentration auf die Dinge, die für
seine Karriere wichtiger seien als die operativen Details, und eine erschre­
ckende Bevorzugung von Speichelleckern in seiner persönlichen Umgebung.
Doch das gebe nicht den Ausschlag für seine Zukunft.
Sein Ziel sei es, den Job als Geheimdienstchef zu bekommen, was ein poli­
tisches Problem sei. Und seine Aussichten? Man könnte leicht zeigen, dass
Gehlen ein schlechter Politiker sei, was schlechte Aussichten für eine Position
erwarten lasse, die eine politische sei. Aber politisches Talent sei nun einmal

724
nicht die einzige Vorbedingung für politischen Erfolg, am wenigsten für einen
Mann, für den nur die Macht zähle, nicht die Politik als Kunst und Wissen­
schaft. Gehlen interessiere sich nicht für Regeln, ihm gehe es nur um Ergeb­
nisse. Ehrgeiz, Entschlossenheit, Härte, Widerstandskraft und Rücksichts­
losigkeit mochten ihm durch raue Zeiten helfen und ihn befähigen, manche
Niederlage zu überstehen. Aber sein Triumph könnte absolut sein, und er
würde mit niemandem das Privileg teilen, über das Schicksal seiner zahlrei­
chen Feinde zu bestimmen.
Im Hinblick auf das Verhältnis zur Bonner Regierung müsse man verste­
hen, dass Gehlen dieses für seine eigene Angelegenheit halte, obgleich er seine
moralische Pflicht anerkenne, die Amerikaner im Wesentlichen auf dem Lau­
fenden zu halten, zumal sie über den Hohen Kommissar auch die Bundesregie­
rung selbst kontrollierten. Man könne aber nicht zulassen, dass die CIA durch
Gehlens Eigenmächtigkeiten die Aufsicht über den Prozess verliere. Gegenwär­
tig sei es allerdings wieder offen, ob man noch die Macht zum Eingreifen habe.
Man könne Gehlen nicht wie einen einfachen Angestellten feuern. Obwohl er
von der CIA bezahlt werde, so Pleasants, sei er formell kein US-Angestellter.
Man könnte nur seine finanziellen Mittel beschneiden und so die Org zur Auf­
lösung zwingen. Doch gegenwärtig sei die Org so groß und wichtig für die Ver­
teidigung des Westens sowie eine derartig wertvolle Investition, dass den USA
ihr Schicksal nicht gleichgültig sein könne. Man sollte wohl besser Gehlens
Interpretation von »Treuhänderschaft« akzeptieren, wenn die Entscheidung
darauf hinausliefe, »Zipper« als künftigen deutschen Geheimdienst anzuer­
kennen. Dann könne man es den Deutschen überlassen, ob, wie, wann, ob sie
teilweise oder ganz die Org übernehmen wollen. Das bedeute eine vorüberge­
hende Sponsorenschaft von amerikanischer Seite, weil anderenfalls die besten
Leute die Org fluchtartig verlassen würden und für mindestens zwei Jahre eine
Lücke im deutschen Beitrag für die westliche Intelligence entstünde, die von
alliierter Seite nicht zu schließen wäre. Auswertung und Beschaffung seien die
wertvollsten Elemente von »Zipper«. Auf ihre Kontinuität könne keinesfalls
verzichtet werden.
Der Meinungswandel von Pleasants und Critchfield ist nicht leicht zu ver­
stehen, hatten sie doch bisher für eine harte Linie gegenüber Gehlen plädiert.
Ihre Meinung über ihn hatte sich nicht geändert, aber sie sahen offenbar ein,
dass es »utility« doch inzwischen gelungen war, einen Fuß in die Bonner Tür
zu setzen, sodass sein Hinauswurf womöglich mehr Probleme aufwerfen als
lösen würde. Vielleicht spielte auch die Zuspitzung der politischen Lage in den
USA eine Rolle, die es der CIA-Führung angeraten haben könnte, mit der für
Zentraleuropa wichtigen Org keine Experimente zu veranstalten. Das Todes­
urteil und die Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg wegen Spionage für die
UdSSR signalisierten den verschärften antikommunistischen Kurs, die Abbe­

725
rufung MacArthurs als Oberkommandierender in Korea die Zuspitzung der
militärischen Lage in Asien.198
Truscott als Sonderberater McCloys fand in Deutschland eine veränderte
Situation vor, weil die Petersberger Gespräche über einen deutschen Wehrbei­
trag wegen des französischen Widerstands in eine Sackgasse geraten waren.
Das wäre ohnehin kein guter Zeitpunkt gewesen, um Gehlen in seine Schran­
ken zu weisen oder gar hinauszuwerfen. So berieten Pleasants und Critchfield
am 27. April 1951 mit Gehlen und Heusinger über einen möglichen Fahrplan
zur Übernahme der Org durch die Bundesregierung. Man verständigte sich
darauf, Bonn die Alternative zu präsentieren, die Org anzuerkennen oder
deren Assimilierung durch die amerikanischen Geheimdienste hinzuneh­
men.199
So zelebrierte Gehlen den Besuch des im Kanzleramt inzwischen aufgestie­
genen Ministerialdirektors Dr. Globke bei der Org in Pullach mit besonderer
Aufmerksamkeit. Vor dem Klubhaus der amerikanischen Anlage ließ er erst­
mals die deutsche Flagge aufziehen und lud die Ehepaare Heusinger, Globke
sowie Pater Rösch zu einem Abendessen in sein neues Heim am Starnber­
ger See ein. Die Vorträge in der Abteilung Auswertung waren alle auf hohem
Niveau, wie Wessel stolz notierte. Hinsichtlich der Übernahme durch den Bund
meinte Globke, das werde schwierig, weil die SPD Adenauer ein solches Instru­
ment nicht gönne. Vielleicht lasse sich über die Gründung eines Verteidigungs­
ministeriums etwas erreichen – was Gehlen sicher nicht gern hörte, weil sich
sein Ehrgeiz nicht auf den militärischen Nachrichtendienst beschränkte und
er auf keinen Fall mit Heinz unter ein Dach ziehen wollte.
Critchfield vertrat gegenüber Globke sehr geschickt und warmherzig die
Belange der Org. Wessel schlussfolgerte: Gehlen müsse mit Schumacher ins
Gespräch kommen und den Kontakt mit Blank intensivieren. Er müsse selbst
eine klare Linie verfolgen und dürfe sich nicht von Zufällen lenken lassen.

Globke erscheint nicht unsympathisch, aber undurchsichtig. Motto: Wenig


reden oder durch Mienenspiel eigene Ansicht erkennen lassen; sich immer
alle Wege offen halten, strenger Katholik (tut das, was Pater Rösch sagt).
Macht seine Karriere auf der katholischen Schiene.200

198 Siehe Sina Arnold und Olaf Kistenmacher: Der Fall Ethel und Julius Rosenberg. Anti­
kommunismus, Antisemitismus und Sexismus in den USA zu Beginn des Kalten Krie­
ges, Münster 2016, sowie Ann Graham Gaines: Douglas MacArthur. Brilliant General,
Controversial Leader (Historical American Biographies), New York 2001.
199 Bericht im Memorandum von Wyman betr. Policy on ZIPPER, 28.4.1951; in: Ruffner
(Hg.), 1949 – 56, Bd. 2, S. 406.
200 Notiz zum 7.5.1951, BND-Archiv, 4315.

726
Die Amerikaner zeigten sich sichtbar bemüht, die Spannungen zu Gehlen
abzubauen und ihm den Weg nach Bonn zu ebnen. Pleasants teilte mit, dass
die Briten der Org gegenüber wohl günstiger eingestellt seien, als man bisher
gedacht habe, was offensichtlich auf gut ausgewählte Sonderverbindungen
der Org zurückzuführen sei. Die CIA werde versuchen, jetzt die strategisch
wichtige Brücke zu bauen, um bisherige Widerstände gegen eine Übernahme
der Org in Bonn zu verringern. Wichtig war außerdem die Information: Die
Engländer würden nichts unternehmen, um Heinz zu unterstützen. Im letz­
ten Moment könnte man sich vielleicht an dem »General« (Gehlen) stoßen.
Es wäre deshalb gut, für einen solchen Fall einen oder mehrere möglichst
unpolitische Zivilisten an der Hand zu haben, die man dann für die Leitung
empfehlen könnte.201 Pleasants nahm damit den Vorschlag Gehlens einer mög­
licherweise zivilen Spitze auf, doch hatte dieser nicht entfernt daran gedacht,
das könnte eine Alternative zu seiner Person sein.
Auch Heusinger drängte jetzt in Bonn auf eine rasche Entscheidung zur
Übernahme Gehlens, der am besten dem Bundeskanzler zugeordnet werden
sollte.202 Globke war zwar vom Besuch in Pullach beeindruckt, wollte jedoch
keine weitere Verantwortung übernehmen, sondern in Kürze seinen Chef,
Staatssekretär Lenz, zu Besuch schicken. Dieser sagte eine Prüfung zu und
hatte bereits mit dem Leiter des Nachrichtendienstes Heinz gesprochen, der
auf ihn einen ebenso aufgeblasenen wie unsympathischen Eindruck gemacht
hatte.203 Heusinger bedrückten die Probleme und er wirkte außerordentlich
nervös, denn bei den Gesprächen auf dem Petersberg hatte sich ein ernsthafter
Zusammenstoß wegen der deutschen Beteiligung an »operational planning
and intelligence« ereignet. Die Alliierten wollten Deutschland nicht im obers­
ten Führungsgremium teilnehmen lassen.204 Das entsprach immerhin der
Linie des Brüsseler Paktes von 1948 zwischen Großbritannien, Frankreich und
den Beneluxstaaten, der in einer Klausel die Bildung eines deutschen General­
stabs ausgeschlossen hatte und vorschrieb, dass ein deutscher militärischer
Nachrichtendienst in der größten Breite nur auf Korpsebene betrieben werden
dürfe.205 Überlegungen Gehlens, Wessel als Ic nach Fontainebleau zu schicken,
waren vorerst hinfällig.
Dafür erlebte der »Doktor« eine persönliche Sternstunde im Bundeskabi­
nett. Er durfte einen aufwendig vorbereiteten Vortrag über »Die militärische

201 Notiz zum 9.5.1951, ebd.


202 Tagebuch Otto Lenz, Eintrag vom 19.5.1951, Otto Lenz: Im Zentrum der Macht. Das Tage­
buch von Staatssekretär Lenz, 1951-1953, bearb. von Klaus Gotto, Düsseldorf 1988, S. 83.
203 Ebd., Eintrag vom 18.5.1951, S. 82.
204 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 21.5.1951, BND-Archiv, N 1/4.
205 Besprechung Mellenthins mit Pleasants, 4.6.1951, BND-Archiv, 4315.

727
und wirtschaftliche Lage des Ostblocks; Beurteilung der Gefahr eines Ost-West-
Konfliktes« halten.206 Dieser gipfelte in der Feststellung, dass Maßnahmen zu
einer unmittelbaren Kriegsvorbereitung bisher noch nicht beobachtet wor­
den seien und die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung noch nicht den Stand
erreicht habe, um einen lang andauernden Krieg mit Aussicht auf Erfolg durch­
stehen zu können. Eine solche nüchterne Lagebeurteilung gab keinen Grund zu
Sorge oder zu Widerspruch. Das Gremium nickte offenbar den Auftritt ab, was
Gehlen Veranlassung gab, sofort einen schriftlichen Vorschlag einzureichen,
im Kanzleramt die Dienststelle »Berater für Nachrichtendienst« zu schaffen,
der vorbereitende Maßnahmen zum Aufbau eines Bundesnachrichtendienstes
ausarbeiten sollte.207 Bescheiden wirkte sein beigelegter Gliederungsvorschlag
nicht, beantragte er doch immerhin 25 Mitarbeiter, die eine arbeitsfähige,
getarnte Stabsstelle mit Fernschreib- und Funkstelle bilden sollten.
Lenz trug am 26. Mai 1951 diesen Vorschlag Adenauer vor und erreichte
die Zustimmung des Kanzlers. Dessen merkwürdige Einschränkung, »wenn
für ihn keine Mehrarbeit abfalle«,208 verrät etwas von seinem mangelnden
Interesse. Das mag im Zusammenhang mit mehrfachen Warnungen Schwe­
rins gestanden haben, dass Gehlens Ambitionen auf eine Zusammenfassung
aller Nachrichtendienste den Ideen von Walter Schellenberg entsprächen. Eine
solche Konzentration in einer Hand bedeute politische Macht und damit die
Gefahr, ob ihr alle Teile des noch unausgewogenen Staatsgefüges widerstehen
könnten. »Daneben erscheinen politisch so indifferente Leute wie General
Gehlen und seine Freunde ohne allen Zweifel als die letzten, denen man in
einer jungen Demokratie Macht in die Hand geben darf.«209
Adenauers allgemeine Zustimmung blieb für Gehlen ohne greifbare Kon­
sequenzen. Schwerin war auf seinem Beraterposten durch Blank ersetzt wor­
den und dieser erledigte seinen militärpolitischen Auftrag zur Zufriedenheit
des Kanzlers. Ihm einen nachrichtendienstlichen Berater zur Seite zu stellen
konnte auch und gerade in der Person Gehlen politische Komplikationen
hervorrufen. Der General in US-Diensten lieferte eilfertig auch so wichtige
Informationen. Zur militärischen Lage gab es die Einschätzungen von Fried­
rich Wilhelm Heinz im Amt Blank Dieser Tage empfing ihn Lenz zu einem
Lagevortrag. Nach der Einschätzung von Heinz verstärkten die Russen laufend

206 Vortrag Gehlens im Bundeskabinett, 22.5.1951, Texte und einzelne Entwürfe, BND-
Archiv, 1110, Blatt 130-185.
207 Vorschlag vom 24.5.1951, ebd., Blatt 190 -195
208 Tagebuch Lenz, Eintrag vom 26.5.1951, Lenz, Im Zentrum der Macht, S. 87.
209 Aktenvermerk Jürgen Brandt, 26.5.1951, zit. nach Karlheinz Höfner: Die Aufrüstung
Westdeutschlands. Willensbildung, Entscheidungsprozesse und Spielräume westdeut­
scher Politik 1945 bis 1950, München 1990, S. 174.

728
ihre Schlagkraft, ohne dass eine offensive Absicht erkennbar sei. Allerdings
bezweifelte er, dass die Westmächte derzeit in der Lage wären, den Russen
entgegenzutreten. Der kritische Zeitpunkt werde bereits in der nächsten Zeit
kommen.210
General Truscott traf am 1. Juni 1951 zu dem seit Längerem geplanten
Besuch in Pullach ein. Statt Gehlen in einem Showdown zu entmachten, wie es
Critchfield noch vor sechs Monaten angeregt hatte, erging sich der Amerikaner
in ausgesuchten Freundlichkeiten. Beim Mittagessen lobte er die Org sogar als
»the best Intelligence Organization of the world«.211 Mit Befriedigung dürfte er
registriert haben, dass – wie es die CIA wünschte – die strategische Aufklärung
ausgebaut und den künftigen Schwerpunkt bilden werde. Außerdem sollte die
Nahaufklärung in der SBZ wieder verbessert werden.
Ihm folgte einige Tage später Staatssekretär Lenz, der sich nur kurz mit
Gehlen und Critchfield unterhielt. Bei dieser Gelegenheit betonte Gehlen, dass
der Finanzbedarf für die Einrichtung einer Beraterstelle nicht hoch sein werde
und er den Einbau unter Zuziehung der Opposition in die Wege leiten wolle.
Lenz nahm an, dass man Gehlen die Dienststelle demnächst übergeben würde,
und ging rasch in die Auswertung, wo er sich über deren Einschätzung der
Lage informierte. Ähnlich wie Heinz gab man sich hier überzeugt davon, dass
die Russen in der Ostzone ihre Gefechtsbereitschaft allmählich erhöhten und
in absehbarer Zeit kriegerische Verwicklungen nicht ausgeschlossen werden
könnten. Allerdings sei der gesamte Osten industriell nicht in der Lage, einen
länger dauernden Krieg mit den angelsächsischen Mächten zu führen.212
Insgesamt scheint Gehlen fest darauf vertraut zu haben, dass er kurz davor
stand, sein Ziel zu erreichen. Für ihn persönlich wichtig war eine offizielle
Position in Bonn. Ob sich die Org in einem Zuge oder schrittweise nationali­
sieren lasse, war eine zweitrangige Erwägung. Er suchte eine Verbindung zum
»Deutschen Industrie-Institut« in Köln herzustellen, um gegenseitig Nachrich­
ten auszutauschen,213 den Osthandel zu kontrollieren und durch den Ausbau
der Verbindungen mit der deutschen Wirtschaft seine Abhängigkeit von der
Politik zu mindern. Gehlen deutete die Haltung des Kanzlers so, dass dieser
bereit sei, die gesamte Org zu übernehmen, und Globke beauftragt habe, einen
passenden amerikanischen Gesprächspartner dafür zu suchen.214 Pleasants

210 Tagebuch Lenz, Notiz vom 29.5.1951, Lenz, Im Zentrum der Macht, S. 88.
211 Tagebuch Wessel, Eintrag vom 1.6.1951, BND-Archiv, N 1/4. Besuchsprogramm in BND-
Archiv, 1112.
212 Tagebuch Lenz, Notiz vom 5.6.1951, Lenz, Im Zentrum der Macht, S. 91-92.
213 Gespräch Wessel-Gehlen, 5.6.1951, Tagebuch Wessel, BND-Archiv, N 1/4.
214 Notiz von Mellenthin über ein Gespräch mit Pleasants über die Zukunft der Org,
5.6.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 201-202.

729
versprach, im gegenseitigen Vertrauen diese Linie zu unterstützen, auch wenn
sie nicht ganz den amerikanischen Wünschen entspreche.
Critchfield wollte nicht zurückstehen und regte in Washington an, Geh­
len zu einer Reise in die USA einzuladen.215 Man hatte schon vor längerer Zeit
angeboten, ausgewählte Mitarbeiter über den Atlantik zu holen und sie mit
den amerikanischen Verhältnissen besser vertraut zu machen. Gehlen selbst
habe warten wollen, bis er die Probleme der Org mit der Bundesregierung
unter Kontrolle habe. Jetzt bot er einen kurzfristigen Termin Ende Juni 1951
an, weil nunmehr die Chance für die Org, der zentrale deutsche Geheimdienst
zu werden, besonders groß sei. Critchfield konnte diesen Eindruck allerdings
nicht aus den Gesprächen mit Lenz und Globke bestätigen, die er zusammen
mit Gehlen geführt hatte. Es sei deshalb für die amerikanische Seite im Augen­
blick politisch ungünstig, Gehlen jetzt durch einen USA-Besuch sichtbar zu
fördern, wo es doch erhebliche Vorbehalte gegen seine Person gebe. Es scheine
ziemlich sicher zu sein, dass Gehlen für die nächste Zeit eine wichtige Figur
bleiben werde, er sei aber auch schwer zu kontrollieren.
Deshalb wollte Critchfield seinen Vorgesetzten zunächst präsentieren,
was Gehlen bei einem Besuch in den USA offenbar erwarte, um dann über
die Grenzen dessen zu entscheiden, was möglich sei und die Gehlen zu ver­
mitteln wären. Wenn es Gehlen wichtig sei, dem CIA-Chef die Hand zu schüt­
teln, könnte man das nicht umgehen, ein Treffen ließe sich aber ruhig darauf
beschränken. Gehlen habe bei seinem Besuch in Spanien General Vignon, den
Generalstabschef, in seiner Unterkunft empfangen können, weil er selbst krank
gewesen sei. Er habe außerdem die Nachrichtendienstchefs von Frankreich,
der Schweiz, von Dänemark und einen hohen Beamten in Norwegen getroffen.
So sei es eine Prestigefrage für ihn, auch den CIA-Chef zu treffen. Selbstver­
ständlich wolle er in New York auch einige alte Bekannte wie John Boker und
Eric Waldman Wiedersehen. Er würde natürlich ebenso gern Repräsentanten
der Army und des Pentagons begegnen. Für Gehlen liege der Erfolg der Reise
darin, wie viele wichtige Leute er sehen und welche beruflichen Gespräche er
führen könne.
Jeder, der Gehlen treffe, solle unbesorgt darüber sein, wie man ins Gespräch
kommen könne. Eine einfache und sehr allgemeine Frage zu einem Dutzend
Themen des Nachrichtendienstes oder der Weltpolitik werde er sogleich nut­
zen, um seine Sicht der Dinge zu schildern und damit die ganze restliche Zeit
ausfüllen. Critchfield kommentierte: Ich habe diese Art von Aufführung viele
Male erlebt, und gleichzeitig möchte ich betonen, dass alles bisher Gesagte

215 Memorandum Critchfields, 7.6.1951, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard.


Gehlen_vol l_20F3. S. 22-24.

730
nicht für die geplanten Reisen anderer Org-Führer zutrifft. Sie werden in ers­
ter Linie daran interessiert sein, die USA kennenzulernen, nicht die CIA. Als
Cover für Gehlen könne die Erforschung internationalen Patentrechts genutzt
werden. Sein Arbeitscover in Deutschland sei ein Patentbüro bei den Baye­
rischen Leichtmetallwerken seines Freundes Kaiser (vermutlich war Hans
Raiser gemeint). Er sei an dem Thema interessiert genug, dass dieses Cover
jederzeit überprüfbar sei.
Es erwies sich, dass Gehlen wieder einmal etwas voreilig gewesen war und
den Termin um drei Monate hinauszögern musste.216 Die Probleme in Bonn
waren keineswegs geklärt. Heusinger zeigte sich vielmehr besorgt, dass Gehlen
den Anschluss an die SPD verpassen könnte, ein Anliegen, das auch für Ade­
nauer wichtig genug war. Speidel eruierte daraufhin die Haltung Schumachers,
der durchaus bereit war, mit Gehlen über die Org zu sprechen. Er berichtete,
Gehlen als Person sei aus Sicht Schumachers in Ordnung, die Org werde aber
von früheren SS- und SD-Angehörigen unterwandert, gezielt in niedrigen Stel­
lungen, um sich zu tarnen, was Gehlen offenbar nicht bemerke. Außerdem
beschäftige die Org zu viele junge Offiziere, die nur den Nationalsozialismus
kennen würden. Damit ziehe die Gefahr eines Staatsstreichs herauf.217 Intern
räumte Wessel im Gespräch mit Heusinger ein, dass die Gefahr durch frü­
here SS- und SD-Leute zweifellos vorhanden sei. Aber die SPD übertreibe. Am
besten wäre es, wenn Heusinger Gehlen auf die Sorge hinweise, damit dieser
selbst mit entsprechenden Zahlen und Unterlagen die Opposition aufklärt. Im
Gespräch mit Speidel habe Schumacher allerdings auch die Besorgnis geäu­
ßert, dass es nicht gut sei, wenn durch die enge Verbindung mit Globke die
katholische Richtung in der Org überhandnehme. Hier konnte Gehlen kaum
etwas ausrichten, da an der Verbindung zu Globke sein ganzer Lebensfaden
Richtung Bonn hing.
Gehlen blieb außerdem davon überzeugt, dass die Briten den Aufbau eines
einheitlichen deutschen Nachrichtendienstes verhindern, die Org möglichst
zerschlagen bzw. politisch inakzeptabel machen wollten, bevor die Gesamt­
frage akut werde.218 Ganz falsch lag er damit nicht, aber auch er übertrieb. Tat­
sächlich legte dieser Tage das Foreign Office dem Premierminister ein Memo­
randum vor, um die Beziehungen zur Org zu klären.219 Man habe seit 1949 ein
Bild von der Organisation und dem Personal. Meistens seien es Generalstabs­
offiziere. Die meisten Agenten seien unter Ukrainern und anderen osteuropäi­
schen Flüchtlingen rekrutiert worden. Die Sicherheitskontrollen seien anfangs

216 Memorandum von Wyman, 23.6.1951, ebd., S. 25.


217 Notizen zum 12., 15. u. 25.6.1951, BND-Archiv, 4315.
218 Aktennotiz Gehlens, 22.6.1951, BND-Archiv, 1172.
219 Memorandum des Foreign Office, 28. u. 29.6.1951, Public Record Office, PREM 8-1523.

731
unangemessen gewesen, und es müsse angenommen werden, dass die Org von
den Russen penetriert sei. Die CIA habe kürzlich gegen den Widerstand des
Führungspersonals darauf gedrängt, unerwünschte Personen hinauszuwerfen.
Adenauer toleriere die Operationen und sei froh über die Dienste von Gehlen.
Das Foreign Office empfahl, die Defizite weniger wichtig zu nehmen als die
Chance, einen Kontakt herzustellen. Premierminister Clement Attlee kom­
mentierte das: »I don’t like this very much. I think our contacts with Rusty220
should be one-way, i. e. we should not give them Information but seek informa­
tion from them.«221
Derweil agierte Gehlen hinter den Kulissen der Bonner Bühne. Er kümmerte
sich im Auftrag von Globke um die Syrienmission, besorgte Unterlagen über
die Soldatenbünde und -vereinigungen, für die Globke eine Dachorganisation
anregen wollte.222 Dabei ging es nicht nur um eine bessere Kontrolle, sondern
auch um Möglichkeiten zur Mobilisierung militärischer Kräfte im Notfälle.
Globke verwies auf den Schnez-Kreis,223 den er zu fördern beabsichtigte – ein
Auftrag, dem sich Gehlen daraufhin widmete. Dafür revanchierte er sich mit
Klagen über Dr. John, der angeblich veranlasst habe, die Org auszuspähen – ein
Reflex auf die Unterwanderung des BfV durch Angehörige der Org.
Und Gehlen unterließ es nicht, auch gleich seine Konkurrenten John und
Heinz durch Gerüchte und üble Nachrede ins Gespräch zu bringen.224 Er
erzielte damit einigen Erfolg, denn Globke hielt plötzlich eine Verschiebung
der Ernennung von John für denkbar und versprach, mit aller Schärfe vorzu­
gehen. Die Ausspähung der Org sei unmoralisch, außerdem seien die Bezie­
hungen von John zum britischen Nachrichtendienst für die Bundesregierung
untragbar. Bei der Untersuchung werde der Name Gehlens und der Org keine
Rolle spielen, versicherte Globke.225 Allerdings kritisierte er eine vorgelegte
Ausarbeitung des ehemaligen Generalrichters Manfred Roeder über die »Rote
Kapelle«, die Gehlen mitgebracht hatte. Da werde der Eindruck erweckt, als

220 Attlee benutzte noch den alten Decknamen der Org, als diese dem US-Militär unterstan­
den hatte, und nicht den neuen Decknamen unter der Führung der CIA, »Zipper«.
221 Memorandum des Foreign Office vom 2.7.1951, Public Record Office, PREM 8-1523.
222 Einzelnotizen Gehlens zur Besprechung mit Globke, 29.6.1951, BND-Archiv, 1110,
Blatt 203-204.
223 Der Kreis um Oberst a. D. Albert Schnez umfasste rund 2000 ehemalige Offiziere von
Wehrmacht und Waffen-SS, die sich seit 1949 insgeheim darauf vorbereiteten, im Falle
einer überraschenden sowjetischen Aggression ein Armeekorps von etwa 40.000 Mann
aus kriegsgedienten Soldaten aufzustellen. Schnez hielt damals Verbindung zur Org
und brachte es später in der Bundeswehr 1968 bis zum Inspekteur des Heeres. Zum
Schnez-Kreis siehe Keßelring, Die Organisation Gehlen.
224 Tagebuch Lenz, Eintrag vom 29.6.1951, Lenz, Im Zentrum der Macht, S. 106 - 107.
225 Aktennotiz über die Besprechung bei Globke, 5.7.1951, BND-Archiv, 1110, Blatt 205.

732
ob Roeders Tätigkeit vor 1945 juristisch und menschlich einwandfrei gewe­
sen sei. Dabei sei dieser als einer der übelsten Ankläger in Widerstandskreisen
bekannt. Der Fall Roeder bewegte in diesen Tagen die Presse. Deshalb regte
Globke an, Gehlen möge die Amtsführung von Roeder eingehender beleuchten
lassen, woran er sechs Wochen später noch einmal nachdrücklich erinnerte.226
Der »Doktor« ließ sich von diesem berechtigten Einwand Globkes nicht von
seiner Schimäre eines Fortbestands der »Roten Kapelle« abbringen und ver­
legte sich darauf, weiter Material sammeln zu lassen, das beweisen sollte, dass
es einen gut organisierten Ring von sowjetischen Einflussagenten im Westen
gäbe. Dringlicher als die Sorge um dieses von ihm persönlich sehr ernst genom­
mene Projekt war die Fortsetzung seiner Offensive in Bonn. Es kam jetzt darauf
an, den bei Blank erzielten Einbruch auszubauen und den Konkurrenten Heinz
zu Fall zu bringen. Gehlen machte im Gespräch mit Wessel, den er für diese
heikle Mission ausgewählt hatte, keinen Hehl daraus, dass es sich nicht um
eine klassische Position als Ic (Feindlagebearbeiter) bei Blank handeln würde.
Er solle vielmehr Heinz einfangen oder abschießen, da dieser mit Sicherheit
für die Briten, vielleicht sogar mit dem Osten arbeite.227 Seine offizielle Aufgabe
wäre die Unterrichtung Blanks, eine Pionieraufgabe, die Wessel insgeheim zum
ersten Vertreter der Org in der Regierung machen würde.
Gehlen bekräftigte sein Angebot, dass der Rückzug Wessels von seiner Bon­
ner Position auf die Stelle als Leiter der Auswertung in Pullach möglich bleiben
würde. Er würde jede Unterstützung erhalten, um seine Hauptaufgabe, Heinz
zu überfahren, erfüllen zu können. Außerdem bekäme er dann seine Besol­
dung von Blank und wäre – anders als derzeit bei der Org – im Bundesdienst
abgesichert. Wie sehr Gehlen daran lag, Wessel für diese Aufgabe zu gewinnen,
zeigte sein Angebot, ihn bei der bevorstehenden USA-Reise als Begleiter mit­
zunehmen, was gegenüber Blank als Urlaub getarnt werden könnte.228 Seine
Absicht im Großen sei es, angeblich ganz im Sinne von Adenauer, eine zen­
trale Führung des Nachrichtendienstes und seiner Auswertung zu schaffen,
mit jeweils vorgeschobenen Verbindungsoffizieren zum Auswärtigen Amt,
zum Wirtschaftsministerium und zur künftigen Wehrmacht. Gehlen sagte zu

226 Aktennotiz Gehlens über die Besprechung mit Globke, 30.8.1951, ebd., Blatt 212. Siehe
zum Vorgang Sälter, Phantome, S. 197.
227 Gespräch Wessels mit Gehlen, 3.7.1951, Tagebuch Wessel, BND-Archiv, N 1/4.
228 In Pullach rechnete man damit, dass die Gespräche mit Globke über eine offizielle
Ernennung Gehlens zum Kanzlerberater noch einige Wochen dauern könnten. Deshalb
schlug Critchfield als Besuchstermin in den USA den 22. September vor. Gehlen wolle
einige alte Bekannte wie Boker und Waldman treffen sowie einmal quer durch die USA
reisen, bis San Francisco und zurück: Memo vom 19.7.1951, NA Washington RG 319,
Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 27.

733
Wessel: »Läuft der Ic-Laden, können Sie jederzeit die Gesamtauswertung über­
nehmen.«
Für den Marsch auf Bonn war Gehlens militärische Stoßrichtung bislang die
erfolgversprechendste. Heusinger und Speidel schienen ihren Weg an die Spitze
der Remilitarisierung in enger Kooperation mit dem Amt Blank zu machen.
Doch alle drei mussten erleben, dass ihnen McCloy am 4. Juli 1951 offen erklärte,
dass es keine Petersberger bzw. Himmeroder Lösung wegen des französischen
Widerstands geben werde. Man solle sich besser auf den Pleven-Plan einstel­
len, den die deutsche Seite eigentlich zu verhindern trachtete.229 Diese Wen­
dung verzögerte Gehlens Pläne mit Wessel, denn Adenauer entsandte zunächst
Blank nach Paris, um Verhandlungen zu sondieren. Nach Heusingers Einschät­
zung drohte die Gefahr, dass die Verteidigungsbemühungen in Frankreich und
Großbritannien erlahmen könnten. Dann werde die Neutralisierung Deutsch­
lands wieder akut, und dann wäre Westdeutschland verloren. Deshalb müsse
jetzt die Trumpfkarte Blank ausgespielt werden, um auf nationaler Ebene
Voraussetzungen für die Aufstellung einer deutschen Armee zu schaffen. Kiel­
mansegg als militärpolitischer Referent bei Blank war gehalten, in den nächs­
ten vier Monaten weiter mit Oster auszukommen. Wessel würde dann starten,
wenn die Lage geklärt sei.230 Grundsätzlich akzeptierte Blank, dass Heusinger
dann den »gesamten Ic-Laden« mit seinen Leuten (also Wessel) besetzte.231
Zu diesem Einverständnis hatte Gehlen seinen Teil beigetragen. Er stellte
seine Scheu gegenüber dem SPD-Führer zurück und erklärte sich bereit, in
Anwesenheit von Heusinger und Speidel Schumacher (zusammen mit Ollen­
hauer und Carlo Schmid) über die Org zu unterrichten. Gehlens Vortrag sei
wirklich gelungen, es herrschte eine gute Atmosphäre, berichtete Heusinger.
An der Notwendigkeit eines Auslandsdienstes hatte die SPD-Führung keinen
Zweifel, zur Frage einer Zentralisierung der Geheimdienste, wie sie Gehlen
anstrebte, konnte sie sich noch nicht festlegen. So blieb die Einladung an
Ollenhauer zu einem Besuch in Pullach und die Zusage Gehlens, wie bereits
vom Kanzler genehmigt, Schumacher ebenfalls mit geheimen Informationen
zu versorgen.232

229 Siehe Keßelring, Die Organisation Gehlen, S. 30-31. Die vorbereitenden deutschen
Planungen liefen auf die Aufstellung einer eigenständigen Armee von zwölf Divisionen
hinaus, die oberhalb der Korpsebene in die gemeinsame Streitmacht der NATO inte­
griert sein sollte. Der supranational ausgerichtete Plan des französischen Ministerprä­
sidenten René Pleven sah dagegen vor, deutsche Truppen vollständig in eine künftige
europäische Armee zu integrieren. Das sollte eine Garantie gegen die Wiedererrichtung
einer nationalen deutschen Armee sein.
230 Gespräch Heusinger – Wessel, 10.7.1951, Tagebuch Wessel, BND-Archiv, N 1/4.
231 Gespräch Heusinger – Wessel, 31.7.1951, ebd.
232 Ebd., 12.7.1951, BND-Archiv, 4315.

734
Wenn auch der Oppositionsführer die Bestrebungen, die Bundesrepublik
verteidigungsfähig zu machen, im Prinzip unterstützte und zu der Gruppe
um Heusinger Vertrauen gefasst hatte, so erhielt er doch von Gehlen nicht
alle Informationen, besonders wenn Details geeignet waren, seine Sorge vor
einem Wiederaufleben von Militarismus und Faschismus zu stärken. Gehlen
behandelte den Auftrag von Globke, sich um die Schnez-Organisation zu küm­
mern, mit größter Geheimhaltung.233 Deren zeitweilige Unterstützung durch
die Org verschaffte der Bundesregierung für den Notfall eine militärische Per­
sonalreserve. Als die Geheimorganisation des Unternehmens »Versicherung«
überflüssig wurde, ließ Gehlen sie finanziell austrocknen und zog sich zurück.
Vorsorge für den militärischen Ernstfall verband sich auf diese Weise mit der
Kontrolle von Veteranenverbänden. Sie wurden in der Frage der Wiederbewaff­
nung an den Bonner Regierungskurs gebunden, ihr Abdriften in militaristische
Geheimbündelei nach dem Vorbild der Weimarer Zeit wirksam verhindert.234
Es war eines der wichtigsten Verdienste Gehlens, von ihm aus sicher dadurch
motiviert, dass es ihm um die Unterstützung durch die Regierung Adenauer
ging, aber wohl auch im Gleichklang mit seinen Generalskameraden, die im
Hintergrund die Remilitarisierung betrieben und die ein Interesse daran hat­
ten, nicht durch antidemokratische Soldatenverbände und deren lautstarke
Parolen im In- und Ausland in Misskredit gebracht zu werden.
Dass es mit der Organisation Gehlen keineswegs zum Besten stand, blieb
verständlicherweise nach außen hin verborgen. Die Aufklärung war wegen
des Ausbruchs des Koreakrieges erheblich verstärkt worden, musste jetzt aber
qualitativ verbessert werden, wie es in den internen Richtlinien für 1951/52
hieß.235 Erste Priorität lag unverändert auf der Überwachung des militärischen
Lagebildes. Das sei der Ast, auf dem die Org sitze, hieß es. Doch die wichtigsten
Mittel dazu, die Fernmeldeaufklärung und die Beobachtung des gegnerischen
Militärpotenzials durch eigene Agenten, müssten unbedingt durch Spitzen­
quellen ergänzt werden, die ein Eindringen in Schlüsselstellen ermöglichen
und so tiefer gehende Erkenntnisse bringen würden. Die Aufforderung der
Führung, alle Stellen sollten sich bemühen, solche Sowjetagenten zu rekrutie­
ren, blieb erfolglos.
Dass man das Problem nicht mit Geld lösen konnte, war den Verantwortli­
chen in Pullach klar. Sie erkannten die Notwendigkeit, gegen einen ideologisch
geschulten Gegner das eigene Personal politisch-ideologisch aufzurüsten.

233 Einzelheiten dazu in der Studie von Keßelring, Die Organisation Gehlen, S. 30, 32.
234 Siehe ebd., Kap. V
235 Richtlinien für die Aufklärungsarbeit in der SBZD, 30.7.1951, BND-Archiv, N l/4.

735
Die Schwierigkeit, einen festgefügten >Standpunkt< zum Ausdruck zu bringen,
setzt viele ND-Führer, besonders in den Außenbereichen der Organisation,
häufig in eine problematische Lage gegenüber den Auswirkungen der Propa­
ganda des Gegners. Es kann nicht Aufgabe der Organisation sein und würde
dem Wesen der geistigen Freiheit des Westens, deren Erhaltung unsere Arbeit
gilt, widersprechen, sollte eine einheitliche, geistige und politische Auffassung
innerhalb der Organisation auch nur angestrebt werden. Die Organisation hat
in ihren Reihen Persönlichkeiten, die, aus den verschiedenen Lagern kom­
mend, alle den Kampf gegen den gemeinsamen Feind aufgenommen haben.

In Zukunft sei es erforderlich, dem eigenen Führungspersonal eine geistige


Rüstung zu vermitteln, damit sie auch gegenüber den Mitarbeitern aus der
SBZ, die ständig der gegnerischen Propaganda ausgesetzt seien, überzeugend
wirkten. Daher werde man die Leiter der auswärtigen Generalvertretungen zu
einer Aussprache bitten, die unter Leitung einer berufenen Persönlichkeit ste­
hen solle. Außerdem werde man den Generalvertretungen geeignete Literatur
zur Verfügung stellen, um ihre Mitarbeiter mit den wichtigsten Problemen ver­
traut zu machen. Der Gegner führe den geistigen Kampf mit »höchster Leben­
digkeit«. Man dürfe deshalb die Wachsamkeit nicht verlieren.236
Gehlen erkannte also die Bedeutung der »geistigen Rüstung« an, delegierte
jedoch lieber die Aufgabe, für die es ihm selbst an Kompetenz und Interesse
fehlte. Natürlich muss ihm klar gewesen sein, dass die von ihm während des
Krieges gesammelten Informationsschriften eines rassenideologisch gepräg­
ten Antibolschewismus aus der Werkstatt der SS für den neuen Zweck untaug­
lich waren. So entwickelte er ein gewisses Interesse daran, aktuelle Schriften
verfassen zu lassen, zumal seine Abteilung Gegenspionage darauf verwies,
dass die meisten Meldungen ungenutzt in der Kartei und in den Akten schlum­
merten, weil für das Abfassen größerer Darstellungen die Kapazitäten fehlten.
So könne man untergeordneten Führungsstellen keine fundierten Direktiven
geben. Gefordert wurde die Anfertigung von Handbüchern zur Emigration, zu
KPD und SED, zum sowjetischen Nachrichtendienst, den Satellitenstaaten,
dem illegalen Ost-West-Handel, aber auch über die Rechtsopposition in West­
deutschland sowie die »heimatlose Linke« (sozialistische Gruppen, die sich
weder der SPD noch der KPD zugehörig fühlten) und zu Widerstandsbewegun­
gen hinter dem Eisernen Vorhang.237
In Vorbereitung seines USA-Besuches erhielt Gehlen von amerikanischer
Seite den Hinweis, es sei von vitalem Interesse, dass die Org ihre Hände

236 Ebd.
237 Richtlinien für die Auswertearbeit IIIa, Juni 1951, BND-Archiv, N 1/4.

736
Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) und Hans Globke, Staatssekretär im Bundes­
kanzleramt, im Januar 1963 in Bonn

von innenpolitischen Angelegenheiten lasse und ihre Position bewahre, ein


Auslandsnachrichtendienst zu sein. Die Amerikaner erwähnten Gerüchte,
wonach die Org der Nukleus eines künftigen deutschen Generalstabs sei sowie
ein Inlandsgeheimdienst, der heimatliche Ziele durchdringe. Sie warnten ihn
davor, dass solche Gerüchte zu politischer Publizität führen könnten. Geh­
len ging auf diese an sich zutreffenden Meldungen nicht weiter ein, sondern
führte aus, es gäbe einige Intrigen gegen ihn und er müsse sich gegen feindli­
che Penetrationsversuche zur Wehr setzen. Einer dieser Versuche gehe auf das
Bundesamt für Verfassungsschutz zurück. Man sollte Johns Eifer dämpfen und
ihm die Bedeutung der Org für militärische Ziele klarmachen. Gehlen dachte
allerdings nicht daran, sein Material mit dem BfV auszutauschen.238
Stewart bemühte sich außerdem im Gespräch mit Globke darum, die Posi­
tion der Bundesregierung hinsichtlich einer möglichen Übernahme der Org
zu klären. Er nahm die Bereitschaft zur Kenntnis, die Org als Stamm eines

238 Memorandum von Frankfurt für Special Operations Washington, 4.8.1951, NA Washing­
ton RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 31.

737
künftigen Bundesnachrichtendienstes zu übernehmen, wenn es die innen-
und außenpolitische Lage zulassen würde. Für die Finanzierung müsse noch
eine Lösung gefunden werden, um eine unliebsame Debatte im Bundestag zu
verhindern. Die Bundesregierung behalte sich auf jeden Fall eine Überprüfung
des Personals vor. Auf Stewarts vertrauliche Frage, ob denn die Persönlichkeit
Gehlens für den Kanzler akzeptabel sei, reagierte Globke emphatisch. Ihm
selbst und Adenauer sei klar, dass Gehlen kein Canaris sei. Aber der Kanz­
ler sei durchaus beeindruckt von Gehlens ruhiger und objektiver Analyse von
Geheimdienstfragen. Vor einem Monat sei der hessische Ministerpräsident
Georg August Zinn mit einem »heißen« Bericht in Adenauers Büro aufge­
taucht, worauf der anwesende Gehlen diesen Bericht Punkt für Punkt zerlegte,
unterscheidend zwischen dem, was längst bekannt war oder unbekannt, aber
dubios sowie übereilt. Gehlens Professionalität habe in diesem Fall einen tiefen
Eindruck beim Kanzler hinterlassen.239
Zwischen beiden gab es volle Übereinstimmung in der Beurteilung der
»Feindlage« und der daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Adenauer ver­
fügte auch ohne die Einflüsterungen von Gehlen über ein stabiles Feindbild,
was es Gehlen leichter machte, mit dem Vortrag von Fakten und dem Nach­
weis persönlicher Kompetenz den Kanzler in seiner Einschätzung zu bestär­
ken. Und der »Alte« verstand es, Medien und Öffentlichkeit in diesem Sinne zu
lenken. Bei einem Teeempfang für Chefredakteure im Sommer 1951 erklärte
er, Russland betreibe eine expansive Politik. Ziel sei es, Deutschland in irgend­
einer Form in den eigenen Machtbereich zu bringen, »und zwar unverwüstet
und intakt«. Wenn es das materielle Kriegspotenzial der Bundesrepublik und
die Menschenressourcen zu seiner Verfügung habe, werde es den kommunis­
tischen Einfluss in Italien und Frankreich so weit stärken, dass ganz Europa
unter russischen Einfluss falle. Dann würde Russland auch gegenüber den USA
ein Gegner sein, der außerordentlich ernst genommen werden müsste. Sowjet­
russland wolle dieses Ziel auf dem Weg der Neutralisierung und Demilitarisie­
rung Deutschlands erreichen.240
Gehlen hatte also Grund zu der Annahme, dass sich sein Kampf um Bonn
politisch günstig entwickelte. Sein Konkurrent Heinz, so vermutete er, erhalte
offensichtlich Material durch ein Loch in der Org. Nur so konnte er sich dessen

239 Auszug aus dem Bericht Stewarts vom 9.8.1951, ebd., S. 32. Über das Gespräch mit Ste­
wart informierte Globke Gehlen am 30.8.1951, Aktennotiz Gehlens, BND-Archiv, 1110,
Blatt 211-213.
240 Tee-Empfang am 13.7.1951, Konrad Adenauer: Teegespräche 1950-1954, bearb. von
Hanns Jürgen Küsters, Bd. 1, Berlin 1984, S. 102, Gehlen taucht nicht auf in den Gesprä­
chen mit Journalisten; ähnlich auch bei einem Empfang britischer Journalisten am
4.6.1952 (S. 333-337).

738
überraschend hochwertige Analysen erklären. Tatsächlich schöpften beide Sei­
ten lediglich dieselben Quellen ab. Das Problem Heinz-Dienst schien mit dem
geplanten Einsatz von Wessel und durch die Absprachen mit Globke sowie
Blank lösbar zu sein. Schwieriger war aus Gehlens Sicht der Kampf gegen John,
der eine politisch bessere Position einnahm. Um seine Ambitionen, sich im
Falle einer Übernahme in den Bundesdienst auch den Inlandsgeheimdienst
einzuverleiben, stand es nicht zum Besten.
So erklärt sich der Nachdruck, mit dem er bei einer internen Gruppenlei­
terbesprechung John zum »Feind der Org« erklärte. Dieser sei ein englischer
Agent, der bereits während des Krieges übergelaufen sei. Er sei vermutlich ein
»Landesverräter« und versuche nun, »Riedinger« (KN Albert Radke), den Ver­
trauensmann Gehlens beim BfV, abzuschieben. Am Ende könnten die Briten
einen Bundestagsabgeordneten »kaufen«, um die Org unmöglich zu machen.
Er, Gehlen, müsse derzeit noch mehr »Politiker« sein als »ND-Mann«. Damit
erklärte er, dass er sich um die Führungsprobleme wohl nicht ausreichend
kümmern konnte.241
Der »Doktor« befand sich in einer ähnlichen Situation wie sein früherer
Chef Heusinger, der sich allerdings darauf einstellen konnte, die Position des
Leiters Auswertung bei Gehlen aufzugeben und sich ganz auf die Militärpoli­
tik zu konzentrieren. Gehlen hingegen musste sich neben seinen politischen
Schachzügen auch darum kümmern, seinen Geheimdienst zusammen und am
Laufen zu halten. Zusammen mit Speidel wurde Heusinger von Eisenhower zu
einem fünfstündigen Gespräch in Berchtesgaden empfangen, um nach einem
Ausweg aus den festgefahrenen Bemühungen zur Remilitarisierung zu suchen.
Davon hing nicht zuletzt auch die Zukunft der Org ab. Heusinger zeigte sich
ein wenig enttäuscht von den für Europa zuständigen US-Militärs. Eisenhower
sei ein politischer General, der eine deutsch-französische Einigung auf europä­
ischer Basis anstrebe. Um den deutschen Bestrebungen entgegenzukommen,
schlug der NATO-Oberbefehlshaber Europa vor, Heusinger und Speidel sollten
sich zu seinem Stab zugehörig fühlen. Damit stehe ihnen ein unmittelbarer
Weg zu ihm offen, womit immerhin eine gewisse deutsche Führungsteilhabe
ermöglicht werden könnte. Außerdem unterstützte Eisenhower – im Gegen­
satz zum Pleven-Plan – die Himmeroder Vorstellung von eigenständigen deut­
schen Divisionen. Aber Heusinger blieb unzufrieden und meinte, es werde zu
viel geredet und zu wenig gehandelt.242 Im Ergebnis wurde Speidel nach Paris
geschickt, wo er sich auf dem schwierigen diplomatischen Parkett gewandt
um die Weiterführung der Verhandlungen bemühte, während Heusinger nach

241 Auszug aus der Gruppenleiter-Besprechung, 14.8.1951, BND-Archiv, 4315.


242 Mitteilung Heusingers an Wessel, 20.8.1951, BND-Archiv, N 1/4.

739
Bonn ging und die Leitung der Militärischen Abteilung im Amt Blank über­
nahm.
Gehlen nahm bei seiner nächsten Besprechung mit Globke mit Genugtuung
den Auftrag entgegen, die Planung für eine Gliederung des künftigen Bundes­
nachrichtendienstes vorzulegen. Das gab ihm, ungeachtet der künftigen Ein­
bindung auf europäischer Ebene, die Möglichkeit, seine eigenen Vorstellungen
für einen umfassend aufgestellten deutschen Nachrichtendienst an höchster
Stelle anzubringen. Er informierte Globke darüber, dass er am nächsten Tag
dem Wunsch Schumachers entsprechend dem Oppositionsführer eine allge­
meine Lagebeurteilung abgeben wolle. Das erledigte dann für ihn Wessel, der
sich bei dieser Gelegenheit für seine künftige Verwendung in Bonn bekannt
machen konnte. Wessel beurteilte Schumacher noch recht skeptisch, wäh­
rend Gehlen sich sehr um den SPD-Führer bemühte, dessen Ansichten in allem
zustimmte, was Schumacher offensichtlich gern sah, wie Wessel notierte.243
Überraschend forderte Globke umfassendes Material zur gesamten osteu­
ropäischen Emigration. Die Bundesregierung habe »größtes Interesse, dass die
Organisation Überblick und Fühler in alle Gruppen hinein hat«, insbesondere
bei Russen, Balten und Tschechen, unter Berücksichtigung ihrer Beziehun­
gen zu den Westmächten.244 Tatsächlich hatten sich die meisten Emigran­
tenorganisationen, auch wenn sie während des Krieges mit der Wehrmacht
zusammengearbeitet hatten, inzwischen an die Westmächte angelehnt. Ins­
besondere die Amerikaner versprachen sich davon im Zuge ihrer Strategie des
Containment bzw. des Rollback (Eindämmung bzw. Zurückdrängen der sowje­
tischen Expansion) eine wertvolle Unterstützung. John Foster Dulles, einfluss­
reicher außenpolitischer Experte der Republikanischen Partei in den USA, ab
1953 US-Außenminister, propagierte auch öffentlich eine offensive Politik der
Befreiung gegenüber dem Sowjetimperium.245 Diese Strategie zielte nicht nur
auf die Satellitenstaaten, sondern auch auf die Destabilisierung des Vielvöl­
kerstaates UdSSR.
In der Org beurteilte man die Möglichkeit, die Emigration zumindest für
Spionagezwecke zu gebrauchen, zunehmend skeptisch und versprach sich
einen größeren Nutzen durch Flüchtlinge und Deserteure.246 Hinsichtlich einer

243 Besprechung Gehlen/Wessel mit Schumacher/Ollenhauer, 31.8.1951, ebd.


244 Aktennotiz Gehlens über die Besprechung mit Globke, 30.8.1951, BND-Archiv, 1110,
Blatt 212.
245 Siehe dazu Stöver, Befreiung, S. 65.
246 Beurteilung der weiteren Aufklärung gegen die Satellitenstaaten vom 6.8.1951, Chro­
nik, Anlagen, BND-Archiv, 4315. Zu diesem Komplex siehe demnächst ausführlich die
UHK-Studie von Andreas Hilger über die Ostaufklärung; in: Krieger (Hg.), Globale Auf­
klärung.

740
möglichen subversiven Propaganda unterstützte Gehlen aber die Amerikaner.
In einem ausführlichen Memorandum für Critchfield legte er dazu den Stand­
punkt der Org fest.247 Darin wurde zunächst konstatiert, dass die bisherige
Annahme, durch den engen Kontakt der Sowjetsoldaten nach 1945 mit dem
europäischen Lebensstandard könne es zu einer größeren Zahl von Desertio­
nen kommen, mit der Möglichkeit, subversive antibolschewistische Trends zu
nutzen, sich als unzutreffend erwiesen habe. Die Zentripetalkräfte des Sowjet­
patriotismus seien stärker als die westliche Anziehungskraft. Desertionen von
Sowjetbürgern lagen nur in geringer Zahl vor. Das könnte auch an einer man­
gelnden Entschlossenheit auf westlicher Seite liegen, diese Chancen zu nutzen.
Jedenfalls sollte der Westen stärker als bisher durch aktive Maßnahmen den
pseudorussischen Sowjetpatriotismus zerstören, weil so in einem möglichen
künftigen Konflikt Zeit und Blut gespart werden könnten.
Man müsse durch bessere Argumente die innere Kraft des Sowjetpatrio­
tismus zerbrechen, obwohl die Sowjets auf dem Feld der psychologischen
Kriegführung einen großen Vorsprung hätten. Man solle sich an die Masse des
russischen Volkes wenden, und zwar vor einem Krieg, ob er gleich, bald oder in
fünf oder zehn Jahren ausbrechen würde. Man müsse den Menschen deutlich
machen, dass

a. The Western democracies actually represent the better social structures.


b. That neither the USA nor any other Western country including the Fede­
ral Republic cherish eastern plans comparable only in the slightest extent to
those of Hitler.
c. That the people of the Soviet Union (disregarding completely the satel­
lite nations) will not be blamed for atrocities previously committed by the
Bolshevist regime but will equally share in the liberties of the West upon the
collapse of the usurpers’ reign.
d. That fundamental peace and welfare of mankind can only be stabilized and
guaranteed if the world-revolution and aggressive Bolshevist system which
always creates disturbances is abolished.248

Die sowjetischen Besatzungszonen in Deutschland und Österreich böten die


einzigartige Chance, eine größere Zahl von Sowjetbürgern direkt anzuspre­
chen, um sie zum Überlaufen zu bringen oder dazu, die politische Propaganda
ins Heimatland zu tragen. Der Westen sollte seine Bemühungen in dieser Hin­

247 Memorandum Gehlens für Critchfield betr. subversive Propaganda gegen die Sowjets,
31.8.1951, BND-Archiv, 1112, Blatt 396-399.
248 Ebd., Blatt 397.

741
sicht verstärken und koordinieren. Die bisherigen liberalen und internationa­
len Rücksichten sollte man fallenlassen. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass
Moskau mit einer Kriegserklärung antworten würde, wenn die baltischen Exil­
regierungen aktiver würden, wenn sich eine russische, ukrainische oder andere
Exilregierung bilden würde. Beschwerden Moskaus seien nicht zu fürchten, sie
würden die Menschen im Lande aufhorchen lassen.
Auf lange Sicht könne der Sowjetpatriotismus ohne die Bildung von Natio­
nalkomitees nicht erschüttert werden. Emigrantengruppen hätten aber keine
besondere Attraktivität. Das schwierigste Problem sei die Abstimmung der
Interessen zwischen dem russischen Volk und den nichtrussischen Völkern.
Dabei müsse zwar das Prinzip der Selbstbestimmung als vital angesehen wer­
den, aber ein gewisser politisch-finanzieller Druck wäre wohl notwendig. Ohne
diesen Druck würden die verschiedenen Interessen und Nationalitäten wäh­
rend eines Weltkriegs wieder in einen Bürgerkrieg verfallen. Die Deutschen
seien am meisten betroffen und verfügten über eine reiche Erfahrung, im posi­
tiven und negativen Sinne. Sie sollten eine wichtige Rolle in einem Programm
massiver Propaganda spielen. Es gebe einige Ansätze, wie etwa den russischen
Volksbund der Schaffenden (NTS). Entscheidend sei aber das politische Ziel.
Praktische Maßnahmen in nächster Zeit könnten sein: Radiobotschaften und
Flüsterpropaganda. In der Zukunft könnten die Nationalen Komitees der sow­
jetischen Satellitenstaaten und der Völker der Sowjetunion dann für die Bil­
dung von nationalen Kontingenten in einer europäischen Armee oder in den
atlantischen Streitkräften sorgen. Das könne aber erst geschehen, wenn die
Ost-West-Beziehungen auf den Nullpunkt gesunken seien. Vorbereitende Maß­
nahmen könnten aber bereits vorher in einem deutschen Kontingent getroffen
werden. So könnte man den sowjetischen Deserteuren schon jetzt einen siche­
ren Aufenthalt und eventuell eine geschlossene Ansiedlung nach dem Vorbild
der Kosakenstanizen anbieten. Bisher habe es keine Massenpropaganda zur
Überwindung des Bolschewismus gegeben. In dieser Unstimmigkeit des Wes­
tens fühle sich Moskau wohl.
Es gibt keinen zwingenden Hinweis darauf, dass Gehlen persönlich dieses
Memorandum für Critchfield verfasst hat, auszuschließen ist es nicht, zumal
solche Vorstellungen einer politischen Kriegführung gegen die UdSSR auf der
Linie jener internen Diskussionen lagen, an denen Gehlen sieben Jahre zuvor
seinen Anteil hatte. Von NS-typischen Grundmustern blieb dieses Programm
von 1951 aber frei und bewegte sich in den Bahnen der amerikanischen Diskus­
sion, die dann 1952 den US-Präsidentschaftswahlkampf bestimmte. Es rekur­
rierte gleichwohl auch auf die deutschen Erfahrungen während des Zweiten
Weltkriegs. Globkes Auftrag, sich um die Emigrantengruppen zu kümmern,
veranlasste Gehlen jedenfalls, intern einen »Arbeitskreis für die politischen
Fragen ostwärtiger Emigrationsgruppen« zu bilden und die Führung Herre

742
anzuvertrauen, der 1943/44 als Stabschef von Wlassow einschlägige Erfahrun­
gen gesammelt hatte.249 Herre hat vermutlich die Vorlage für Gehlen verfasst.
Es waren perspektivische Maßnahmen, mit denen Gehlen auf Anstöße der
Amerikaner und der Bundesregierung reagierte. Die damalige militärische
Lagebeurteilung gab keinen Hinweis auf eine mögliche akute Bedrohung durch
die UdSSR. Heusinger begegneten zugleich auf amerikanischer Seite auch Vor­
stellungen, man könne im Ernstfall die UdSSR allein mit einem Luftkrieg nie­
derringen, was er selbst für unmöglich hielt. Auch aus Sorgen über mögliche
Ambitionen des Westens, einen Präventivkrieg zu führen, der Deutschland
zum Schlachtfeld machen würde, zog Heusinger die Rechtfertigung für einen
deutschen Wehrbeitrag. »Wenn wir zu diesem Zeitpunkt nicht ein Wort mit­
zureden haben, fallt diese Entscheidung über unsere Köpfe hinweg, und wir
schlittern in einen neuen Weltkrieg hinein.«250
Die näher liegende Sorge Gehlens blieb seine ungeklärte Auseinanderset­
zung mit dem BfV. In Bonn trafen sich nun die Kontrahenten im Kanzleramt,
um sich mit Gehlens Vorwürfen auseinanderzusetzen, das BfV betreibe Auf­
klärungsarbeit gegen die Org.251 »Dr. Schneider« hatte sich mit einer Fülle von
detaillierten Beispielen gewappnet, die er nicht als einzelne Verfehlungen von
Mitarbeitern des BfV gelten lassen wollte, sondern zu dem Vorwurf bündelte,
das BfV – und damit dessen Präsident John – habe den SPD-Chef Schumacher
mit einem Dossier versorgt, nach dem die Org eine politische Machtposition
anstrebe und versuche, alle Ministerien und wichtigen Regierungsstellen zu
infiltrieren – was übrigens die Intentionen Gehlens zutreffend beschrieb, von
ihm aber empört zurückgewiesen wurde. Doch darüber wurde nicht diskutiert,
sondern Gehlen prangerte den Umstand der Ausforschung an. Staatssekretär
Ritter von Lex folgte ihm. Das sei ein unmögliches Vorgehen. John wich zurück
und sagte zu, ermitteln zu lassen, wer den Auftrag in seinem Hause erteilt habe.
Gehlen wollte es damit nicht bewenden lassen. Am nächsten Morgen suchte
er Globke auf und erklärte, dass er von der Loyalität Johns nicht überzeugt sei.
Seinen Verweis auf dessen Verhalten im Prozess gegen Manstein, in dem sich
John als Zeuge der Anklage zur Verfügung gestellt hatte, ließ Globke allerdings
nicht gelten und meinte, dass doch jetzt eine gute Zusammenarbeit möglich
sei. Anschließend versuchte Gehlen sein Glück bei Lex, der ihn jedoch eben­
falls abwimmelte. So blieb noch die vom Kanzleramt erzwungene Aussprache
der beiden Kontrahenten. John hatte Gehlen in seine Kölner Wohnung eingela­

249 Vertrauliche Anweisung Gehlens vom 5.9.1951, BND-Archiv, 4315.


250 Zit. nach Meyer, Heusinger, S. 456. Hier auch zu seinem ersten Vortrag operativ-strate­
gischer Vorstellungen vor dem EVG-Ausschuss des Bundestages am 24.10.1952.
251 Aktenvermerk Gehlens über die Besprechung im Kanzleramt, 11.9.1951, BND-Archiv,
1110, Blatt 218-226.

743
James Critchfield mit Reinhard Gehlen
auf Reisen, 1951

den, was Gehlen zunächst ablehnte. Stattdessen drängte er auf ein Gespräch in
dessen Büro, doch John setzte sich durch. Das folgende dreistündige Gespräch
verlief scheinbar befriedigend, aber Gehlen hielt sich zurück und blieb bei sei­
nem Groll. Es ging für ihn um mehr als seine Animositäten gegen den ehemali­
gen Widerstandskämpfer und möglichen Landesverräter. Auf dem Spiel stand
sein Modell eines zentralen Geheimdienstes, für das nicht nur Heinz, sondern
auch John weichen müsste.
Am Vorabend von Gehlens USA-Reise fand der Besuch von Ollenhauer in
Pullach statt. Nach dem Eindruck von Wessel entstand dabei eine sehr warme,
aufgeschlossene Atmosphäre. Die Rückendeckung durch die Opposition und
parallel dazu durch die Gewerkschaftsführung, mit der Heusinger in Bonn
gesprochen hatte,252 stärkte Gehlens Position für die anstehenden Gespräche
in Washington. Im Vergleich zu seiner Lage vor sechs Monaten hatte sich seine
Situation erheblich verbessert. Im Kampf um Bonn gab es Geländegewinne,
wenn auch keinen Durchbruch; dafür hatte sich das Verhältnis zur CIA erheb­
lich entspannt. Für die Amerikaner war sein Hinauswurf keine Option mehr.
So startete er am 22. September 1951 mit Herre sowie acht weiteren führenden
Mitarbeitern mit einem »Strato«-Clipper der Pan Am zu einem dreiwöchigen
Besuch in die USA: Abflug abends vom Rhein-Main-Flughafen mit Zwischen­

252 Wessel, Tagebuch, Eintrag vom 17.9.1951, BND-Archiv, 4315.

744
Heinz Danko Herre, John Boker mit Ehefrau,James Critchfield mit Frau und Reinhard
Gehlen (von links) in New York, 1951

landungen in Amsterdam, Prestwick, Shannon, Gander und Boston. Nach dem


anstrengenden Flug wurde er in New York von Critchfield empfangen, der ihn
bei einem Spaziergang im Central Park auf das Programm der nächsten Tage
einstimmte.253 Nachmittags erfolgte der Weiterflug nach Washington, wo Geh­
len den Abend mit den Ehepaaren Critchfield und Waldman verbrachte.
Am zweiten Besuchstag stand das Pentagon auf dem Programm. Wie von
Gehlen im Vorfeld gewünscht, erhielt er eine hochrangige Begrüßung durch
General Alexander Russell Bolling, den Leiter des Army Department und Head
of Army Intelligence, der die Leistungen der Org in höchsten Tönen lobte. Sie
habe über Jahre entscheidend zur Gewinnung des sowjetischen Lagebilds bei­
getragen. Sachbearbeiter der Abteilung trugen ihre Erkenntnisse vor und lie­
ßen erkennen, dass die deutschen Berichte sehr hoch eingeschätzt und sach­
gemäß verarbeitet wurden. Nach einer Lunch-Pause erhielt Gehlen in einem
Nebenraum eine spezielle Einweisung in die aktuelle Lage in Korea.254

253 Siehe Bericht über die Reise von Dr. Schneider 22.9.-13.10.1951, BND-Archiv, 1112,
Blatt 400-419.
254 Ebd., Blatt 405-407. Weitere Eindrücke finden sich im Tagebuch Herre. Von amerika­
nischer Seite wurde vor einigen Jahren ein Protokoll des Gesprächs Gehlens mit Allen
Welsh Dulles am 8.10.1951 veröffentlicht: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. 2, S. 411-412.

745
Am dritten Tag erwies die CIA-Führung Gehlen die Ehre. Die Begrüßung
durch Richard Helms, der von Washington aus die Operationen mit »utility«
leitete, fiel verhalten aus. Seine wahre Meinung über Gehlen behielt Helms
für sich. Es folgte ein Vortrag von Frank G. Wisner, Deputy Director for Plans
and Operations, der mit dem diplomatischen Kompliment, Gehlens Org sei
die beste der von der CIA geführten ausländischen Organisationen, dem deut­
schen General sicher Freude bereitete. Dann ließ er lediglich eine sanfte Beleh­
rung über die amerikanische Intelligence-Kultur folgen, von der sich Gehlen
stets abzusetzen versucht hatte. Ein Auslandsnachrichtendienst, so hieß es,
dürfe sich nicht in die innenpolitischen Kämpfe seines Landes verwickeln und
müsse überparteilich sein.
Schließlich folgte Sherman Kent, Verfasser des damals viel beachteten
Buches Strategic Intelligence (1949), der die Nachrichtendienste des Westens
pathetisch als eine Bruderschaft bezeichnete, was Gehlen sicherlich ebenfalls
gefiel. Das galt freilich kaum für Kents Erklärung des amerikanischen Natio­
nal Intelligence Estimate, der gemeinsamen Lagebeurteilung der verschiede­
nen US-Dienste. Ein Nachrichtendienstmann sollte nur wenig über die eigene
Lage und Absichten wissen. Das Board bestehe aus verschiedenen zivilen
und militärischen Vertretern, die getrennte Bearbeitungsgänge durchführten.
Bei abweichenden Auffassungen könne jeder auf einer entsprechenden Fuß­
note bestehen. Die Abstimmung der Beiträge erfolge dann durch ein erneu­
tes Zusammentreten des Gremiums. Die Vorlage der abgestimmten Fassung
erhalte der Direktor der CIA, der den National Intelligence Estimate an den
Nationalen Sicherheitsrat weiterleite.
Für dieses System begeisterte sich Gehlen schon deshalb nicht, weil es ihn in
die dienende Rolle eines Abteilungsleiters verwiesen hätte. Mit seinem Modell
eines Nachrichtendienstberaters beim Bundeskanzler steuerte er eine gänzlich
andere Lösung an. Zustimmung bei ihm fand allerdings ein Vortrag über die
Entwicklung des weltweiten Kommunismus, der zu dem Ergebnis kam, dass
jeder westliche Nachrichtendienst über ein Referat für die Aufklärung gegen
den Kommunismus, auch in seinen getarnten Formen, verfügen sollte. Die
Deutschen seien doch besondere Kenner und die Org deshalb prädestiniert für
die Führung des ideologischen Kampfes. Diese Anregung griff Gehlen gern auf.
Bei einem Dinner hatte er Gelegenheit zu einem Meinungsaustausch mit
dem stellvertretenden Direktor der CIA, Allen Dulles, über die weltpolitische
Lage und die Zukunft der Org.255 Dieser bestätigte Gehlens Vorstellungen von
der Souveränität eines künftigen deutschen Nachrichtendienstes und über die
enge Zusammenarbeit im europäischen Rahmen. Er verwies aber auch auf die

255 Ebd., Blatt 412 – 416. Anwesend waren außerdem Helms, Critchfield und Herre.

746
Notwendigkeit, möglichst bald zum britischen Dienst ein gutes Verhältnis zu
schaffen, was für Gehlen mit seinem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber den
Briten ein schwerer Brocken gewesen sein dürfte. Dulles versprach allgemein
eine Unterstützung bei der Lösung der technischen und finanziellen Probleme
der Org. Sein besonderes Interesse galt dem Buchprojekt über die Wlassow-
Bewegung, das Herre zusammen mit Jürgen Thorwald übernommen hatte.
Dulles begrüßte das Vorhaben sehr und meinte, dass es politisch-propagan­
distisch von großer Bedeutung sein werde. Es müsse auch eine englische und
russische Ausgabe geben. Gehlen konnte sich also in seinem Einsatz für eine
subversive antisowjetische Propaganda bestätigt sehen: »Eindruck von der
Persönlichkeit Allen Dulles-. Sehr kluger, auf dem Gebiet des Nachrichtendiens­
tes überaus erfahrener (seit 1. Weltkrieg) Mann, welcher der deutschen Sache
und den deutschen Notwendigkeiten sehr wohlwollend gegenübersteht.«256
Nach Teilnahme an einer Sitzung des US-Senats, vielen Ausflügen und einer
Rundreise bis zur Westküste traf Gehlen am 8. Oktober 1951 in Washington
mit General Bedell Smith, dem CIA-Chef, zusammen. Dieser fragte nach der
künftigen Stellung eines deutschen Nachrichtendienstes.

Ich betonte in meiner Antwort, dass ich nur mit aller Zurückhaltung mei­
ner eigenen Ansicht Ausdruck geben könne, ohne entsprechende Richtlinien
des Herrn Bundeskanzlers zu haben. Ich glaube aber, dass meine Ansicht
mit der des Herrn Bundeskanzlers sich decke. Nach meiner Ansicht müsse
ein künftiger deutscher Nachrichtendienst nach den Weisungen des Herrn
Bundeskanzlers arbeiten und in seiner Ausrichtung überparteilich geführt
werden. Der Herr Bundeskanzler habe diesem Gesichtspunkt auch dadurch
Ausdruck gegeben, dass er mich ermächtigt hätte, in Angelegenheiten des
Nachrichtendienstes eine entsprechende Verbindung zum Leiter der Oppo­
sition, Dr. Schumacher, zu pflegen. Der Nachrichtendienst müsse mit dem
Verfassungsschutz eng zusammenarbeiten. Diese Erklärung wurde befriedigt
zur Kenntnis genommen und auch als der amerikanischen Auffassung ent­
sprechend bezeichnet.257

Es war ein typisches Beispiel, wie sich Gehlen im Umgang mit Höhergestell­
ten zu präsentieren pflegte: zurückhaltend, wartend, bis er um eine Stellung­
nahme gebeten wurde, und dann strikt die offizielle Linie vertretend, dabei auf
Absicherung durch Verweis auf andere Höhergestellte bedacht.

256 Aktennotiz Gehlens betr. Besprechungen mit Dulles und Bedell Smith, 17.10.1951, BND-
Archiv, 1112, Blatt 417.
257 Ebd., Blatt 419 (Hervorhebung im Original).

747
Im CIA-Hauptquartier zeigte man sich sehr interessiert an dem Thorwald-
Buch sowie den deutschen Erfahrungen mit den Ostfreiwilligen im Zweiten
Weltkrieg. Welche politische Zielsetzung sollte man ihnen bei einem kriege­
rischen Konflikt des Westens mit den Sowjets geben, wurde gefragt. Herre
betonte, sie müsste spätestens am ersten Tag eines Krieges bekannt gegeben
werden und vornehmlich zwei Punkte enthalten:

1. ) Das Sowjetregime ist mit vereinten Kräften niederzuringen.


2.) Die Völker Russlands bestimmen dann ihr politisches Schicksal selbst
(Self-determination).

Die genaue Formulierung des zweiten Punktes hänge natürlich von der Lage
der Nationalitäten in der Sowjetunion zur Zeit des Konfliktausbruchs ab. Die
ständige Beobachtung der Entwicklung des Nationalitätenproblems in der
UdSSR sei daher besonders wichtig.258
Was Stalin einer solchen Deklaration wohl entgegensetzen würde? Herre:
Der Diktator würde erneut den Vaterländischen Krieg proklamieren und den
Nationalitäten Autonomie versprechen. Die Bürger würden sich zwischen dem
Westen und Moskau danach entscheiden, welche Seite am schnellsten Taten
folgen ließe.
Das entspreche weitgehend den Auffassungen der Spezialisten in den USA,
hieß es. Gerade deutsche Persönlichkeiten seien berufen, gegebenenfalls auf
diesem Gebiet wieder tätig zu werden, wenn sie denn in genügender Zahl
zur Verfügung stünden, was Herre zusagte. Hinsichtlich der Emigranten ver­
ständigte man sich auf die gemeinsame Auffassung, dass unter ihnen noch
genügend »deutsches moralisches Kapital« vorhanden sei, das für propagan­
distische und nachrichtendienstliche Zwecke genutzt werden könnte. Die sub­
versive Arbeit mit den Emigrantenorganisationen blieb jedoch hauptsächlich in
amerikanischen Händen, die sich in München um den Rundfunksender Radio
Free Europe ein entsprechendes Umfeld schufen, zu dem auch vom nahen Pul­
lach aus Fäden geknüpft wurden. Bezüglich der Beschaffung von Nachrichten
blieben Gehlens Experten skeptisch und verwiesen darauf, dass man besser
hinter dem Eisernen Vorhang einheimische Schlüsselkräfte gewinnen sollte.259
Dass man bei solchen Aktivitäten selbst in der nahe gelegenen sowjetischen
Besatzungszone in Österreich schnell an obskure Nachrichtenhändler geraten
konnte, zeigte sich am Fall »Rösselsprung«. Die zuständige Generalvertretung

258 Bericht über die Besprechung mit den Herren des CIA am 8.10.1951, BND-Archiv, 1112,
Blatt 414.
259 Internes Memorandum »Establishment of Intelligence Bases in the Satellite Countries«,
5.11.1951, BND-Archiv, 1112, Blatt 424-433.

748
machte der Zentrale das Angebot, sowjetisches Originalmaterial aus Öster­
reich zu liefern. Das Probematerial war ausgezeichnet. Die Amerikaner zeig­
ten sich zunächst interessiert, bis die CIA die Personen, die für viel Geld als
Lieferanten auftraten, überprüfte. Sie waren alle ehemalige Angehörige des SD
bzw. des RSHA. Auch der Name Heinz Felfe tauchte als Sachbearbeiter auf. Die
Originale waren aber nichts anderes als gesammelte Feldpostbriefe der Russen
und achtlos ausgekippte Papierkorbmaterialien von den Müllhalden Wiens,
die von Straßenkehrern hereingeholt und von Leuten mit Gasmasken in einer
Wohnung gesichtet worden waren. Die Generalvertretung musste von Gehlen
aufgelöst werden.260
Über solche Fehlschläge war Gehlen freilich erhaben. Er fuhr nach Salzburg
und vereinbarte mit seinem österreichischen Partner enge persönliche Bezie­
hungen. Er gab einen langen Bericht zur Weltlage und bot Informationen über
die künftige westdeutsche Militärorganisation von Heusinger an. Gleichzeitig
betonte er seine engen Beziehungen zu Bundeskanzler Adenauer. Wenn ein
österreichischer Nachrichtendienst offiziell gegründet sei, werde es möglich
sein, die Verbindung auszubauen.261
Nach Rückkehr von seiner USA-Reise berichtete Gehlen seinen Gruppen­
leitern mit Genugtuung, dass die CIA-Führung die »deutsche Konzeption«
anerkannt und ihm freie Hand »in allen innenpolitischen Dingen« gegeben
habe – was so allgemein schlicht falsch war. Zugleich erteilte er intern allen
erzwungenen Einschränkungen eine Absage. Man solle auf breiter Basis wei­
terhin Nachrichten sammeln, um bei einer besseren finanziellen Ausstattung
in der Zukunft eine gewisse Breite zu haben.262 Critchfield, der noch für einige
Wochen in Washington weilte, zeigte sich optimistisch, dass sich die Finanz­
frage bald regeln lassen würde, allerdings bestünden bei den Gesprächen zwi­
schen der Bonner Regierung und den Alliierten noch Unstimmigkeiten über
die vertragliche Gestaltung. Die USA-Reise der Gruppe um Gehlen sei eine
angenehme und bedeutsame Erfahrung gewesen, die geeignet sei, die persönli­
che Freundschaft und das berufliche Verständnis zu stärken – auch der Ameri­
kaner war ein guter Schauspieler.263 Zweifellos hatte der Besuch Gehlens in den

260 Eintrag zum Oktober 1951, Erinnerungen Graber, BND-Archiv, N 4/15.


261 CIA-Meldung aus Wien vom 18.11.1951, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol l_20F3, S. 41. Namen sind auf dem Film unkenntlich gemacht. Die Meldun­
gen, dass frühere SD-Leute für Gehlen arbeiteten, interpretierte die CIA als Ausdruck
der Vorurteile gegen Gehlen in der österreichischen Polizei; siehe Bericht Chief Station
Vienna an Washington, 28.1.1951, ebd., S. 44.
262 Gruppenleiter-Besprechung bei Gehlen, 30.10.1951, BND-Archiv, 4315.
263 Schreiben Critchfields an Gehlen, 30.10.1951, NA Washington RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol l_20F3, S. 39-40.

749
USA für eine Entspannung in den Beziehungen zur CIA-Führung gesorgt. Beide
Seiten reagierten damit auf die Einsicht, dass man aufeinander angewiesen
war: Die Amerikaner akzeptierten Gehlen als ihre Zukunftsinvestition, weil
sie die Risiken einer Ablösung scheuten, und »Dr. Schneider« durfte ob des
Aufwands, den die CIA seinetwegen betrieb, annehmen, dass er als künftiger
Chef des deutschen Nachrichtendienstes hofiert wurde und die Amerikaner
ihm den Weg nach Bonn freigaben.
Die politische Großwetterlage kam der Org wieder einmal entgegen, denn
mit der Ablösung des Labour-Premierministers Attlee durch den alten Kriegs­
helden Churchill am 26. Oktober 1951 wurden die antibritischen Vorbehalte
Gehlens merklich gedämpft. So fiel es ihm vermutlich leichter, der Aufforde­
rung der CIA-Führung zu folgen, sein Verhältnis zu den Briten zu verbessern.
Für Major General Sidney Kirkman vom britischen War Office inszenierte er
Anfang November ein »Großes Briefing« in Pullach, das in Anwesenheit von
Major General Truscott (G-2 EUCOM) bei guter Atmosphäre zu einem gro­
ßen Erfolg wurde. Nun sollten auch noch die Franzosen kommen, wie Gehlen
meinte.264
Nur in Bonn selbst gestaltete sich die Lage für die Org immer schwieriger,
wie Heusinger berichtete. Alle würden gegen alle schießen, CDU und SPD
gegen Kielmansegg, die CDU gegen Blank, den die SPD stütze, während Blank
an Kielmansegg festhalte. Gehlen müsse endlich bei Adenauer klären, ob die
Org deutsch werde oder amerikanisch bleibe bzw. aufgelöst werde. Es waren
inzwischen die Verhandlungen mit den Westalliierten über die Auflösung des
Besatzungsstatuts aufgenommen werden. Mit dem Abschluss wurde für das
Frühjahr 1952 gerechnet. Dann müsse der Status der Org geklärt sein, meinte
Heusinger. Gehlen sollte sich Gedanken machen. Die Org sei nicht der Nabel
der Welt. Wenn er selbst aus Paris zurück sei, könnten sie eventuell gemeinsam
zu Adenauer gehen. Von Schumacher habe er erfahren, dass dieser auch nicht
wisse, wie es weitergehen könnte.265
Gehlen hielt sich an Globke, im Vertrauen darauf, dass dieser seinen Ein­
fluss auf den Kanzler für die Sache der Org wirken lassen und zugleich hel­
fen würde, die Konkurrenz von Heinz im Amt Blank in Schach zu halten. Er
hatte inzwischen die alten Vorschläge für den Aufbau eines Bundesnachrich­
tendienstes aktualisieren lassen.266 Seine damit verbundenen politischen Vor­
stellungen blieben umfassend und fordernd. Er beanspruchte die Sammlung,
Sichtung und Auswertung »allen geistigen Materials«, welches »die deutsche

264 Eintrag vom 6.11.1951, BND-Archiv, 4315.


265 Gespräch Heusinger-Wessel, 16.11.1951, BND-Archiv, N 1/4.
266 Vorschlag für Gliederung und Aufbau eines Deutschen Nachrichtendienstes, 1.11.1951,
BND-Archiv, 1110, Blatt 238-257.

750
Regierung und ihre Ministerien als Grundlage ihres Handelns benötigen«.
Angeblich sei eine Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte die Notwendigkeit,
»eine einheitliche Steuerung des gesamten Nachrichtendienstes sicherzustel­
len«. Nur so könnten Wirtschaftlichkeit, Wendigkeit und Absicherung optimal
erreicht werden, behauptete Gehlen entgegen seinen eigenen Erfahrungen.
Um sein Idealbild eines künftigen Nachrichtendienstes zu begründen, ver­
wies er zudem darauf, dass angeblich »in allen Staaten der Welt« die Tendenz
zu beobachten sei, den Nachrichtendienst einheitlich zusammenzufassen
und die Spitze dem Regierungschef zu unterstellen. Für die deutschen Ver­
hältnisse sei die beste Lösung, den inneren Sektor (Verfassungsschutz) vom
äußeren (Auslandsnachrichtendienst) zu trennen, »unter der unabdingbaren
Voraussetzung« einer engsten Zusammenarbeit dort, »wo sich ihre Interessen
berühren«. Insoweit akzeptierte Gehlen jetzt teilweise die mit der Gründung
des BfV geschaffene Lage, beharrte freilich für sich auf einer Führungsposition
im Sinne einer Gesamtführung.
Im Gegensatz zum BfV wollte er direkt dem Kanzler unterstellt werden und
nur von ihm seine Weisungen erhalten. Um sich als gleichsam erster Berater
des Kanzlers in politischen Fragen durchzusetzen, durfte er keine konkurrie­
renden Institutionen zulassen. Deshalb lief sein Vorschlag darauf hinaus, dass
in den einzelnen Ministerien Nachrichtendienstbeauftragte zu installieren
seien, die Wünsche des jeweiligen Ressorts an den künftigen BND leiten wür­
den, wo dann auch die Auswertung verfügbarer Informationen zentralisiert
erfolgen würde. Gehlen versprach, dass man dort den Blickwinkel der Res­
sorts mit berücksichtigen würde. Um sich als künftiger Kanzlerberater auf die
politische Spitze konzentrieren zu können, dachte er sich die Gliederung des
BND so: die Leitung in Bonn mit einer zentralen Sammelstelle für offene Nach­
richten (ungetarnt), ausgelagert nach Pullach Zentralabteilung, Auswertung,
Beschaffung, Fernmeldewesen, Schulen (als Behörden getarnt); außerdem die
externen Führungsstellen der geheimen Nachrichtenbeschaffung (getarnt
durch die Wirtschaft). Den Personalbedarf legte Gehlen auf 970 hauptamtli­
che Mitarbeiter fest (480 in der Zentrale, 490 in den Außenführungsstellen),
den gesamten Finanzierungsbedarf eines BND auf rund 20 Millionen D-Mark.
Dieses Programm für die weiteren Verhandlungen in Bonn beruhte poli­
tisch im Wesentlichen auf drei unrealistischen Annahmen. Da war erstens die
unhinterfragte Gewissheit, dass sich ein Bundeskanzler gänzlich auf einen
allmächtigen Geheimdienstchef verlassen würde. Dann sprach es nicht für
Gehlens politischen Instinkt, wenn er annahm, auch die einzelnen Minister
könnten bereit sein, sich hinsichtlich nachrichtendienstlicher Informationen
völlig vom BND abhängig zu machen. Und drittens fehlte es Gehlen offenbar an
Verständnis für eine parlamentarische Opposition, die – bei aller Staatstreue
der SPD-Führung – keinem Kanzler eine derartige Machtposition zubilligen

751
konnte, um sich dann mit gelegentlichen Informationen des BND abspeisen zu
lassen. Das organisatorische Konstrukt für den Dienst zeigt, dass Gehlen wie
ein Generalstabschef die Arbeit organisieren wollte, um allein seinem künfti­
gen »Oberbefehlshaber« Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Es hieß, seine
Rastenburger Erfahrungswelt auf die politische Struktur der jungen Bundes­
republik zu übertragen. Bonn war freilich nicht das Führerhauptquartier!
Gehlen hatte also noch einen mühsamen Lernprozess vor sich, wenn­
gleich er bereits Ende 1951 zuversichtlich sein durfte, sein Anliegen vielleicht
schon in Kürze umsetzen zu können. Die Verhandlungen mit den Alliierten
um den Deutschlandvertrag eröffneten für ihn die Aussicht, zum Zeitpunkt
des Abschlusses bereits die Übergabe der Org zu vollziehen. Hierüber wagte
er, ausführlich mit Globke zu sprechen und Vorschläge zur Weiterführung der
internen Verhandlungen zu machen.267
Doch Heusinger, der Mitte Dezember 1951 endgültig nach Bonn ins Amt
Blank wechselte und seinen Platz als Leiter der Auswertung für Wessel räumte,
hielt wenig davon, dass Gehlen alles auf seinen Draht zu Globke setzte. Er solle
vielmehr so rasch wie möglich an Blank herantreten. Erst dann könne er, Heu­
singer, auch etwas für die Org tun, insbesondere hinsichtlich der geplanten Ic-
Stelle für Wessel bei Blank und mit Blick auf die Übernahme von weiterem Org-
Personal.268 Wessel fragte sich allerdings im Stillen, ob Heusinger sich wirklich
bei Blank ausreichend für die Org einsetzen würde oder nicht viel zu vorsichtig
dazu sei, denn Heinz stellte immer noch eine starke Konkurrenz dar. Wenn das
Amt Blank zum künftigen Verteidigungsministerium mutieren würde, könnte
der Heinz-Dienst weiterhin den militärischen Nachrichtendienst abdecken,
ohne weiter reichende Ambitionen wie Gehlen zu verfolgen. Einem künftigen
Verteidigungsminister konnte es vielleicht sinnvoller erscheinen, über einen
eigenen Nachrichtendienst zu verfügen, statt sich das Lagebild über das Kanz­
lervorzimmer liefern zu lassen.
Herbert Blankenhorn hatte als neuer Leiter der Politischen Abteilung des
Auswärtigen Amts bei den Verhandlungen in Fontainebleau den französischen
Vorschlag positiv aufgenommen, an der Spitze einer künftigen Europaarmee
einen G-2-Stab sowie einen militärischen Nachrichtendienst zu schaffen, der
getrennt von den nationalen Nachrichtendiensten sein sollte, wie Gehlen einen
für die Bundesrepublik anstrebte. Gehlen stand also vor der Aufgabe, nicht nur
in Bonn endgültig klare Verhältnisse für sein Anliegen zu schaffen, sondern

267 Siehe Gegenwärtige Lage der Organisation und Folgerungen daraus, 22.11.1951,
VS-Registratur Bka, Bk 1:15100(64) Bd. 1, sowie Besprechung Gehlens bei Globke,
27.11.1951, BND-Archiv, 4315.
268 Gespräch Heusinger – Wessel, 7.12.1951, BND-Archiv, N 1/4.

752
auch Paris im Auge zu behalten, um nicht den Anschluss an die internationa­
len Entwicklungen der Militär- und Bündnispolitik zu verpassen.
Das Jahr 1952, so nahm er an, würde endlich den Durchbruch für ihn per­
sönlich und seine Org bringen. Die Zuversicht ließ ihn in milder Stimmung
ungewöhnlich anerkennende Worte für seinen Stellvertreter finden. In einem
Glückwunschschreiben an den bescheidenen und loyalen General Mellenthin
dankte er dem Chef der Dienststelle Sonderverbindungen für seine »ausgegli­
chene, uneigennützige und tatkräftige Art, mit der Sie Ihre Aufgaben erfüllen«,
die ihm »auch die Anerkennung unserer manchmal etwas schwierig zu hand­
habenden Mitarbeiter« bringe.

Sie wissen, dass es mir nicht liegt, um diese Dinge viel Worte zu machen, es
war mir aber doch ein Bedürfnis, Ihnen das einmal zu sagen, damit Sie nicht
das Gefühl haben, dass ich Umfang und Art Ihres Beitrages zu unserer Arbeit
nicht voll übersehe.269

In der Weihnachtsansprache Wessels vor der Abteilung Auswertung, deren


kommissarische Leitung er gerade übernommen hatte, zeigte sich etwas mehr
Realismus, wenn er davon sprach, dass man sich in einer Zeit der Schwankun­
gen und Krisen befinde. Aber im nächsten Jahr werde man das Ziel erreichen,
die Org in einen festen europäischen oder deutschen Rahmen zu überführen.
Gleichzeitig setzte er auf einen ungewöhnlichen Appell. Was gebe die Org
ihren Mitarbeitern nicht alles auch in ideeller Hinsicht, einem Kreis gleichge­
sinnter Menschen in wichtiger Arbeit für unser Land! Wer nur nach der Höhe
der Entlohnung frage, gehöre nicht hierher.270 Bemerkenswert ist ebenfalls ein
handschriftliches Glückwunschschreiben Gehlens an Critchfield, dem er für
den »Geist, der unsere Zusammenarbeit im vergangenen Jahre getragen hat«,
dankte.271 Es war vermutlich seine ehrliche Auffassung, nicht ahnend, dass
Critchfield zwar im Umgang miteinander zurückgesteckt hatte, in den Berich­
ten nach Washington aber bei seiner negativen Einschätzung Gehlens blieb.
Mit Jahresbeginn setzte Gehlen seine Offensive in Bonn im Kanzleramt
fort, mit der erkennbaren Absicht, den Kanzler über Globke von der militäri­
schen Kompetenz der Org zu überzeugen. Das muss ihm sowohl im Hinblick
auf Paris als auch auf das Amt Blank nützlich erschienen sein. Gehlen legte
wunschgemäß eine Vortragsnotiz für Adenauer über die sowjetische Luftwaffe

269 Schreiben Gehlens an Mellenthin vom 21.12.1951, zit. im Vorwort zum Findbuch BND-
Archiv, N 8. Ein Nachlass besteht allerdings nicht.
270 Weihnachtsansprache Wessels, BND-Archiv, N 1/4, S. 201-202.
271 Schreiben Gehlens an Critchfield (Dezember 1951), NA Washington RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 43.

753
in der SBZ vor.272 In Arbeit befand sich die neueste Lagebeurteilung über die
Bedrohung durch den Ostblock, die nüchtern konstatierte, auch zahlreiche
Originalhinweise aus Innerrussland rechtfertigten die Einschätzung, dass die
sowjetische Führung in naher Zukunft keine Angriffshandlungen in Europa
plane.273
Globke versprach, zur Klärung der personellen und administrativen Fra­
gen einer Übernahme der Org zwei besonders »nette und verständnisvolle«
Mitarbeiter zu einem ersten Besuch nach Pullach zu schicken.274 Auf Geh­
lens Vorstöße gegen Heinz reagierte Globke weiterhin hinhaltend. Zu seinem
besonderen Leidwesen traf Gehlen bei der Rückfahrt im Zug ausgerechnet mit
dem verhassten Oster zusammen, der sich auf dem Weg zu Josef »Ochsen­
sepp« Müller in München befand. So sah sich Gehlen wieder einmal in seinen
innenpolitischen Feindbildern bestätigt, denn er war sich ganz sicher, dass
der gegenwärtige bayerische Justizminister zur berüchtigten »Roten Kapelle«
gehörte und der Heinz-Dienst maßgeblich vom »Ochsensepp« geistig beein­
flusst würde. Man sprach über Canaris. »Im übrigen wurde von beiden Seiten
drumrum geredet.«275
Auch nach seiner Rückkehr aus Bonn drängte Gehlen bei Globke weiter
darauf, der Kanzler möge Blank über die Absichten mit der Org unterrichten,
damit der künftige Verteidigungsminister nicht unter dem Einfluss von Heinz
in die falsche Richtung laufe. Danach könne sich dann auch Heusinger von
seiner Position bei Blank aus einschalten.276 Heusinger erfuhr wenige Tage spä­
ter, dass Globke lediglich den Ministerialrat Ernst Wirmer von der Dienststelle
Blank über die Absicht unterrichtet habe, die Organisation Gehlen auch für
den militärischen Nachrichtendienst zu verwenden.277
Heusinger teilte allerdings die teilweise kritische Einschätzung Critchfields
über die Fähigkeiten der Org. Die taktische Aufklärung (wie sie auch im Amt
Blank gebraucht wurde) sei unverändert gut, der Bereich psychologische Krieg­
führung nebulös, die strategische Aufklärung nicht berühmt. Zudem sei die
Funkaufklärung in einer schwierigen Lage wegen der unklaren Politik Gehlens.
Heusinger versäumte bei seinem Besuch in Pullach nicht, mit dem Leiter der

272 Notiz Gehlens über die Reise nach Bonn, 4.1.1952, BND-Archiv, 1110, Blatt 259.
273 Lage und Lagebeurteilung für den Ostblock Anfang 1952, 31.1.1952, BND-Archiv, 7357,
Blatt 4-49.
274 Der Besuch der Ministerialräte Dr. Karl Gumbel und Dr. Wilhelm Grau vom Kanzleramt
in Pullach verlief in Abwesenheit von Gehlen zur beiderseitigen vollen Zufriedenheit;
Eintrag 17./18.1.1952, BND-Archiv, 4316.
275 Reisenotiz Gehlens, 4.1.1952, BND-Archiv, 1110, Blatt 259-264.
276 Eintrag 23.1.1952, BND-Archiv, N 1/5.
277 Unterrichtung Heusingers durch Kielmansegg, 28.1.1952, BND-Archiv, 4316.

754
Personalabteilung bereits eine Liste von Fachleuten aufzustellen, die zu ihm
ins Amt Blank wechseln könnten. Sein Nachfolger auf der Position als Leiter
der Auswertung, Wessel, zeigte sich besorgt, dass jetzt schon der Ausverkauf
der Org beginnen könnte, denn eine Verwendung bei Blank biete Legalität, ein
höheres Gehalt, eine Wohnung und größere Sicherheit für die Zukunft.278
Zu den Schwachstellen der Org gehörten unverändert finanzielle Unregel­
mäßigkeiten, die nach dem Eindruck von Critchfield sogar noch Zunahmen.
Der Besuch der freundlichen Ministerialräte, die Globke geschickt hatte,
änderte nichts an diesem Befund. Critchfield zog es vor, mit Gehlens Stellver­
treter Mellenthin über diese Fälle zu sprechen, nicht mit dem »Doktor« persön­
lich, denn er befürchtete, dass dieser dann ein halbes Jahr lang nicht mehr mit
ihm sprechen würde.279 Critchfield zeigte sich ebenso enttäuscht darüber, dass
ihn Gehlen immer noch unzureichend über seine Auslandskontakte unterrich­
tete. Angehörige fremder Nachrichtendienste seien über die Org besser infor­
miert als er. Das bezog sich nicht allein auf die jüngsten Schweizbesuche Geh­
lens.280 Über seine wichtigen Gespräche mit dem französischen Geheimdienst
unterrichtete Gehlen die CIA lediglich mit dem lapidaren Hinweis, dass diese
Kontakte im Interesse der deutsch-französischen Verständigung lägen und der
Org die politische Unterstützung durch den SDECE sicherten,281 mit anderen
Worten: Details gingen die Amerikaner nichts an.
Von Mellenthin alarmiert, vermittelte Herre ein klärendes Gespräch zwi­
schen Gehlen und Critchfield. Gehlen wies dabei den Vorwurf der ungenü­
genden Information seiner amerikanischen Auftraggeber zurück, musste sich
dann aber der Gegenfrage stellen, was er denn mit den Informationen mache,
die er aus Nicht-NATO-Ländern wie der Schweiz und Spanien erhalte. Geh­
len entgegnete: Critchfield werde sie bekommen, soweit sie sich im Sinne des
gemeinsamen amerikanisch-deutschen Interesses positiv auswirken könnten
(!), mit anderen Worten: Gehlen behielt sich die Entscheidung über eine even­
tuelle Weitergabe vor.
Critchfield fragte bei dieser Gelegenheit auch nach den Kontakten in den
Mittleren Osten. Gehlen sagte in diesem Falle ebenfalls die Weitergabe von
Erkenntnissen zu, auch die Beurteilung der Quellen, aber nicht der operati­
ven Details. Er beharrte also auf einer Autonomie der Org und ließ sich nicht
von dem Argument umstimmen, dass die USA mit Rücksicht auf den jüdischen
Einfluss im eigenen Lande Aktivitäten in der arabischen Welt entfalteten, für

278 Einträge 14. u. 23.1.1952, BND-Archiv, N 1/5.


279 Eintrag über das Gespräch Critchfield-Mellenthin am 7.2.1952, BND-Archiv, 4316.
280 Gehlen führte vom 9. bis 15.1.1952 Gespräche mit Colonel Mercier in der Schweiz, am
6.2.1952 mit Inspektor Ulrich von der Bundespolizei; ebd.
281 Notiz zum 14.2.1952, ebd.

755
die eine engere Zusammenarbeit nützlich sein könnte. Angesprochen auf den
bevorstehenden Besuch von Dr. John und die Frage, was denn dabei herauskom­
men solle (Critchfield dachte sicher an Gehlens Ambitionen, sich das BfV auf
die eine oder andere Weise anzugliedern), erklärte Gehlen kaltschnäuzig: »viel
zeigen, aber wenig erkennen lassen, beeindrucken, aber konfus machen«.282
Critchfield bekundete das Interesse der CIA, mit der Org eine gemeinsame
Nahostabteilung aufzubauen. So hofften die Amerikaner, die Kontakte der Org
zu ehemaligen deutschen SS- und SD-Kreisen besser kontrollieren zu können,
über die in der Öffentlichkeit spekuliert werde. Critchfield erwähnte außer­
dem Informationen von anderen Nachrichtendiensten über die Region, zum
Beispiel der Spanier und Italiener. Davon wollte er gern Kopien haben. Er ver­
wies darauf, dass Anfang Januar 1950 der Aufbau einer Romgruppe von der
Org damit begründet worden war, dass diese Mitarbeiter (also insbesondere
Gehlens Stiefbruder Johannes) mit der Gegenspionage gegen SS-Zirkel in Rom
unter Bischof Alois Hudal (der unter anderen Adolf Eichmann zur Flucht ver­
holten hatte) im Hinblick auf ihre Verbindungen in Deutschland beauftragt
worden seien, außerdem mit der Beobachtung der Vatikaninteressen in der
deutschen Innenpolitik. Sein Büro habe bis heute keinen einzigen Bericht
erhalten, beklagte sich Critchfield.283
Gehlen erkannte die Notwendigkeit, sein auf Bonn ausgerichtetes politi­
sches Konzept nicht nur durch eine möglichst unabhängige strategische Auf­
klärung im Interesse der Bundesregierung abzusichern, sondern auch durch
den Ausbau der politischen Aufklärung, die er als unterbelichtet einschätzte
und bisher als Abstellgleis behandelt hatte. Seit 1946 hatte es nur eine Sich­
tung für Politik gegeben, die Ulrich Bauer leitete. 1949 hatte Gehlen das Referat
Innerpolitische Berichterstattung dem Leiter Gegenaufklärung und Gegenspi­
onage, Henning Wilcke (DN »Wilden«), zusätzlich übertragen. Seit Februar
1951, mit Gehlens verstärkten Bemühungen in Bonn, hatte das Aufgabenge­
biet Innenpolitik Dr. Klaus Ritter (DN »Röhl«), ein ehemaliger Mitarbeiter bei
FHO, übernommen. Dieser galt als schwierig im Umgang, aber fachlich sehr
kompetent.
In seinem General stabsdenken suchte Gehlen für diesen heiklen Aufgaben­
bereich eine jüngere, unverbrauchte Persönlichkeit, die sich für diese Chance
dankbar erweisen und zur strikten Loyalität verpflichtet fühlen würde. Auf
Vorbildung und fachliche Eignung im Politikbereich legte Gehlen nicht die
höchste Priorität, obwohl es doch um eine strategisch wichtige Position ging.

282 Gespräch Gehlen – Critchfield in Anwesenheit von Mellenthin und Herre, 11.2.1952,
ebd. Der Besuch Johns fand eine Woche später statt, siehe Eintrag 18.2.1952, BND-
Archiv, N 1/5.
283 Memorandum Critchfields vom 15.2.1952, BND-Archiv, 4316.

756
Im Grunde genommen suchte er einen fleißigen Zuarbeiter, denn für den poli­
tischen Raum sah er sich selbst verantwortlich. Ein ehemaliger Generalstabs­
offizier musste es natürlich schon sein. Sein Blick richtete sich nicht auf Bonn,
sondern auf seine nähere lokale Umgebung. Der ausgewählte Kandidat war ein
Lokalreporter des Brückenauer Anzeigers, der in der bayerischen Presseland­
schaft durch einige positive Artikel zur Wiederbewaffnung aufgefallen war. Die
Artikel waren einem ehemaligen Hörsaal-Kameraden von der Kriegsakademie
zur Kenntnis gelangt, der jetzt für die Org in Berlin arbeitete. Major i. G. Rudolf
Bercht hatte daraufhin die Zentrale auf diesen potenziellen Mitarbeiter auf­
merksam gemacht.284
Bei einem konspirativen Treffen mit diesem am 15. Februar 1952 fasste Geh­
len schnell Vertrauen und beschrieb unter vier Augen bemerkenswert offenher­
zig Entstehung und Aufgabe der Org. Der Kandidat hörte aufmerksam zu und
ahnte, dass die Org für die Weiterentwicklung des deutsch-amerikanischen
Verhältnisses ebenso bedeutsam sein würde wie für den Aufbau deutscher
Streitkräfte. Nach kurzer Befragung entwickelte er seine eigenen Vorstellun­
gen zur außenpolitischen Lage. Das mündete in einen regen Gedankenaus­
tausch mit Gehlen, der ihm eine sofortige Mitarbeit in der Zentrale anbot. Der
»Doktor« zeigte sich über die persönlichen Details gut unterrichtet und hielt
ihn für eine Tätigkeit in der politischen Aufklärung geeignet. Dieser Teil der
Org sei noch unterentwickelt, eine zwangsläufige Folge der US-Forderungen,
den absoluten Schwerpunkt auf die militärische Aufklärung zu legen. Gehlen
erläuterte, dass der amerikanische Auftrag- und Geldgeber an einer Intensivie­
rung der politischen Nachrichtenbeschaffung nicht interessiert sei, fügte aber
augenzwinkernd hinzu, es müsse dann eben »einiges in deutschem Interesse
ohne Einblicke der >Freunde< erledigt werden«. Seine erstaunliche Offenheit
überzeugte den Kandidaten, der sechs Wochen später in Pullach begann und
dort nach einem Jahr Ritter ablöste. Der Kandidat war Kurt Weiß (DN »Win­
terstein«), der in der politischen Beschaffung rasch Karriere machte und hier
zum Förderer von Felfe wurde, zuständig auch für die geheimen Presseverbin­
dungen. Er galt später als Anführer der einflussreichen CSU-Seilschaft im BND.
1992 kam sogar der Verdacht auf, er könnte Sowjetagent gewesen sein.
Weiß war im Frühjahr 1952, als die Verhandlungen um den Deutschlandver­
trag einem Abschluss zustrebten, eine personelle Zukunftshoffnung für Geh­
len. Im Bonner Raum kam der »Doktor« in dieser wichtigen Phase weiterhin
nicht recht voran. Heusinger bemerkte an seiner neuen Arbeitsstelle im Amt
Blank, dass sein neuer Chef noch immer nicht offiziell über die Absichten des

284 Aufzeichnung vom Juni 1984 von Kurt Weiß über sein Einstellungsverfahren, BND-
Archiv, N 10/1.

757
Pierre Boursicot, 1950–1957 Chef des SDECE,
ca. 1954

Kanzlers mit der Org informiert war. Blank zeigte sich – zu Recht – misstrau­
isch: »Ich werde mir als Verteidigungsminister den militärischen Nachrichten­
apparat nicht aus der Hand nehmen lassen«, zitierte ihn Heusinger bei einem
Gespräch mit Wessel.285 Er drängte darauf, dass sich Gehlen via Globke an
Blank wendete, um zu erreichen, dass die militärische Funktion des Ic (Feind­
lage) in Personalunion mit dem nachrichtendienstlichen Auswerter besetzt
werde. Zugleich verwies er auf eine Denkschrift von Heinz gegen Gehlens Kon­
zept und mit Ausfällen gegen die Org.
Heusinger sah nach einem Gespräch mit Gehlen dessen Schwierigkeiten,
einen persönlichen Draht zu Blank zu finden, und bot seine Vermittlung an,
verbunden mit der Empfehlung, auch den Faden zur Opposition nicht abrei­
ßen zu lassen und möglichst Kontakt zum europäischen NATO-Militärhaupt­
quartier SHAPE zu knüpfen – aber nicht ohne Wissen Critchfields, die Ermah­
nung schien berechtigt. Als Heusinger anschließend mit Critchfield sprach,
räumte er ein, dass Gehlen wohl zu viel in unbekannten Dingen »mauschele«,
zum Beispiel in Waffengeschäften. Das bezog sich offenbar auf die Kontakte zu
deutschen Rüstungsexperten im Nahen Osten. Critchfield klagte, dass ihm in
Washington schon allzu große Deutschfreundlichkeit vorgeworfen werde. Er
könne sich nur dagegen wehren, wenn er durch Gehlen umfassend informiert
werde.286
Critchfield hatte gerade ein neues Dossier über Gehlen angefertigt. Darin
beschrieb er seinen Kontrahenten als kalt, gewaltsam, berechnend, völlig

285 Eintrag 18.2.1952, BND-Archiv, N 1/5.


286 Gespräche Heusinger – Wessel bzw. Critchfield, Eintrag vom 20.2.1952, ebd.

758
absorbiert von seinen beruflichen Ambitionen, untalentiert und desinteres­
siert in kulturellen Belangen, förmlich und völlig ohne Wärme der Persön­
lichkeit. Er nehme niemals einen Drink (was mit Gehlens angeschlagener
Gesundheit zusammenhing). Dr. John hingegen repräsentiere alles, was Geh­
len nicht sei. Er besitze alle Talente und den persönlichen Charme, an dem
es Gehlen mangele. Dagegen fehlten John der Antrieb und die vollständige
persönliche Hingabe, über die Gehlen verfüge. Dafür sei John von beiden der
Mann mit der größeren Moralität. Dort wo Gehlen einfach, entschlossen und
unkompliziert sei, sei John wahrscheinlich ein hoch komplizierter Mann,
unentschlossen und kein Gegner für Gehlen im Kampf um die deutsche
Intelligence-Politik.287
Es gab freilich auch gemeinsame Interessen der beiden Geheimdienste,
wenn etwa die Briten bei den Verhandlungen für den Generalvertrag die Befra­
gung aller Flüchtlinge den früheren Besatzungsmächten vorbehalten lassen
wollten. Hier sahen sowohl die Org als auch das BfV wichtige Informations­
quellen für sich gefährdet. Selbstverständlich lieferte Gehlen entsprechende
Änderungsvorschläge bei Globke ab.288 Der Vorfall bestätigte Gehlens altes
Misstrauen gegenüber den Briten. Bei seinem monatlichen Besuch in der
Schweiz warnte ihn Inspektor Ulrich sogar vor dem britischen Geheimdienst,
der nach seiner Einschätzung nicht zuverlässig sei. Die Franzosen hätten sehr
schlechte Erfahrungen gemacht und seien stark verschnupft. »Auf das, was
ein Engländer sagt, der dem Nachrichtendienst angehört, kann man sich nicht
verlassen.«289 Die Reise diente hauptsächlich der Vorbereitung von Gehlens
geplantem Gespräch mit dem neuen Generaldirektor des SDECE, Pierre Bour­
sicot. Die französische Seite legte großen Wert darauf, die Fühlungnahme ohne
Beteiligung der Amerikaner durchzuführen. Boursicot akzeptierte bei seinem
Besuch in Pullach schließlich die Begegnung mit Critchfield, bestand aber fast
eigensinnig darauf, die deutsch-französische Zusammenarbeit ohne Einmi­
schung Dritter weiterzuführen.290 In seinem späteren Bericht für Critchfield
hob Gehlen hervor, dass Boursicot angeblich sehr beeindruckt gewesen sei von
der Org und ihrem »hochwertigen Menschenmaterial« und ihn – Gehlen – als
»gleichberechtigten selbständigen Kollegen« betrachte.291
Von den Franzosen erwartete Gehlen eine wertvolle Hilfestellung bei der
Überführung der Org in deutsche Dienste, was die andere Seite allerdings zu

287 Notiz Critchfields zum Dossier Gehlen, 20.2.1952, NA Washington RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 46.
288 Schreiben Gehlens an Globke, 2.3.1952, BND-Archiv, 1110, S. 282-283.
289 Eintrag vom 5.3.1952, BND-Archiv, 4316.
290 Aufzeichnung des Gesprächs für Gehlen, 22.7.1952, BND-Archiv, 3141.
291 Aufzeichnung von Gehlen für Critchfield, 27.7.1952, ebd.

759
langen Wunschlisten für nachrichtendienstliches Material veranlasste. Harald
Mors, den Gehlen mit der praktischen Durchführung der Zusammenarbeit
beauftragte, beklagte sich bald, die Org werde so zu einer »billigen Quelle«.
Gehlen reagierte darauf mit der Anweisung, die Übergabe von Org-Material
nur schrittweise durchzuführen und auf Gegenseitigkeit zu achten.292
In seinen »Vertraulichen Richtlinien für die Auswerte- und Aufklärungsar­
beit 1952« verzeichnete er intern eine stetige Aufwärtsentwicklung. Der Mel­
dungsanfall für alle Bereiche der SBZ sei gut, für Österreich ausreichend, für die
Satellitenstaaten und die UdSSR aber ungenügend und auf Zufallsergebnisse
beschränkt. In der SBZ hatte man seit dem Koreakrieg die Zahl der V-Leute
verdoppelt. Die in Pullach eingehenden Berichte über die DDR machten sogar
knapp 80 Prozent des gesamten Meldeaufkommens aus.293 Die sorgfältige
Führung der zahlreichen Karteien und karteiähnlichen Unterlagen bleibe die
Grundlage für die Leistungsfähigkeit der Org. Wichtigstes Ziel sei unverändert
das rechtzeitige Erkennen etwaiger östlicher Kriegsabsichten.294
In Bonn schien es endlich voranzugehen. Globke sprach mit Blank über die
Zukunft der Org. Der Konkurrent Heinz schien nach dem Eindruck von Heu­
singer damit weitgehend ausgeschaltet zu sein. Nun müsse Gehlen bei Blank
nachstoßen, denn dieser sei vor allem an der militärischen Auswertung, nicht
an der Beschaffung interessiert.295 Globkes Vorschlag gegenüber den Alliierten,
bei den vierseitigen Verhandlungen über das Truppenabkommen Gehlen auf
deutscher Seite die Verhandlungsführung bezüglich der nachrichtendienstli­
chen Fragen zu überlassen, war allerdings mit starken Einwänden gegen eine
Anwesenheit von Gehlen abgewiesen worden.296

4. Stalin-Note und Ausbau der politischen Aufklärung


(1952/53)

Um die bevorstehende Auflösung des Besatzungsstatuts in Westdeutschland


zu unterlaufen, bot Stalin am 10. März 1952 den Westmächten überraschend
Verhandlungen über die Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutsch­
lands an. Ob der sowjetische Diktator den Vorschlag ernst meinte oder nicht,

292 Siehe demnächst Wolfgang Krieger über die deutsch-französischen Geheimdienstbezie­


hungen; in: Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
293 Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg in Deutschland, S. 30.
294 Richtlinien vom 1.3.1952, BND-Archiv, N 1/5.
295 Eintrag 8.3.1952, ebd.
296 Tageseintrag 11.3.1952, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol l_20F3, S.47.

760
ist heute eine akademische Streitfrage.297 Es scheint jedoch damals auf westli­
cher Seite, selbst innerhalb der Bundesregierung, aber auch bei den Amerika­
nern, eine Bereitschaft vorhanden gewesen zu sein, Stalins Vorschläge auszu­
loten. Adenauer gehörte zu denen, die Stalins Vorschläge strikt ablehnten. Der
Bundeskanzler ließ sich auf seinem Kurs der Westintegration nicht beirren. Er
befürchtete anderenfalls, dass Westdeutschland in den Sog der UdSSR geraten
könnte. Das Militär eines neutralisierten Gesamtdeutschlands sei schon aus
finanziellen Gründen nicht tragbar.
Eigentlich hätte das Angebot des sowjetischen Diktators in Pullach zumin­
dest aus militärpolitischen Gründen Unterstützung finden können, denn die
Org hatte eine Remilitarisierung bereits vor drei Jahren kräftig angeschoben.
Wenn auch eine Vereinigung der unterschiedlichen militärischen Ansätze
beider deutscher Staaten denkbar gewesen wäre – sie hätte aber wohl kaum
zu einem gesamtdeutschen Geheimdienst mit Gehlen an der Spitze führen
können. Für den »Doktor« und seine Truppe mit ihrem antikommunistischen
Feindbild war die Idee jedoch von vornherein abzulehnen. Außerdem konnte
Gehlen die Chance nutzen, sich mit seiner Kompetenz ganz auf die Seite des
Kanzlers zu stellen und sich so nützlich zu erweisen.
Er wandte sich sogar direkt an seinen obersten Dienstherrn. Wie bei seinem
Besuch in Washington angekündigt, sandte Gehlen Bedell Smith eine umfas­
sende persönliche Einschätzung der internationalen Situation.298 Er signa­
lisierte damit seinen, angesichts der damaligen Lage der Org etwas kühnen
Anspruch, gleichsam auf Augenhöhe mit dem mächtigen CIA-Chef Meinungen
zur Weltpolitik auszutauschen. Beide Seiten hätten im vergangenen Jahr ihre
Positionen in Europa und Asien ausgebaut. Die UdSSR versuche jetzt, den Wes­
ten daran zu hindern, ein Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen. Das Interesse
in Europa an einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag versuche die UdSSR
zu hintertreiben, auch mit dem Angebot der Wiedervereinigung. Parallel dazu
fanden in den Satellitenstaaten Geheim- und Schauprozesse statt, die der Fes­
tigung des sowjetischen Machtbereichs im Zeichen des Stalinismus dienten.299
Gehlens Gesamteinschätzung lautete: Die UdSSR habe Gewinne und Ver­
luste gemacht, den Ostblock geformt, aber Jugoslawien verloren. Dafür würde
Moskau zunehmende Aktivitäten im Nahen Osten entwickeln. Die sowjetische
Politik sei langfristig ausgerichtet. Sie habe ihre Ziele wohl begrenzt in dem

297 Überblick bei Bernd Bonwetsch: Die Stalin-Note 1952 – kein Ende der Debatte jahrbuch
für Historische Kommunismusforschung (2008), S. 106-113, sowie bei Jürgen Zarusky
(Hg.): Die Stalinnote vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002.
298 Schreiben Gehlens an Bedell Smith vom 16.3.1952, BND-Archiv, 1112, Blatt 449-463.
299 Siehe insgesamt Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuro­
pas 1944-1956, München 2013.

761
Wissen, dass man zwar kurzfristig etwas erreichen könnte, aber keinen Endsieg,
da das westliche Potenzial überlegen sei. Deshalb sei es auch wenig wahrschein­
lich, dass die UdSSR einen Aggressionskrieg beginnen würde. Dagegen spreche
nicht zuletzt die Mentalität der Sowjetführer, die glaubten, dass die Zeit für sie
arbeite. Sie würden weiterhin versuchen, die westliche Bevölkerung gegen ihre
angeblich kriegstreibenden Regierungen aufzuhetzen, den Hass in Asien gegen
den Westen zu schüren und den Streit im westlichen Lager anzufachen.
Es gebe eine kleine Chance für eine Art von politischem Waffenstillstand
im Kalten Krieg, und zwar durch Verhandlungen auf höchster Ebene, voraus­
gesetzt, der Westen halte daran fest, ein politisches und militärisches Gleich­
gewicht zu erreichen. Moskau werde nur dann die Offensive ergreifen, wenn
es einen westlichen Angriff befürchte oder eine entscheidende Schwäche des
Westens ausnutzen könnte. Für lange Zeit werde die Weltsituation einem Pul­
verfass gleichen. Bei einem Diktator könne man nichts ausschließen, auch
wenn sich Stalin als kaltblütiger Politiker erwiesen habe.

The struggle for world hegemony is still in a balance. Having failed to attack
Europe, which, from 1945 to this day, lay practically defenseless to its grasp,
the East will in all probability not start an aggressive war in the near future,
i. e. 1952 and, probably, 1953 also, because both the political development and
the preparations in the field of armament production are not yet advanced
far enough for the Eastern bloc to start this war, and because the Soviet lea­
ders believe they can attain their final goal by Cold War tactics better than
by a shooting war. Only when the Soviet leaders believe they must forestall a
Western attack or exploit a decisive weakness of the West, which is scarcely
to be reckoned with, will they take the offensive. Barring this possibility, the
East will probably continue to develop and speed up all its potentialities in its
own sphere and simultaneously employ all available means of international
policy and Cold War to achieve World Communism.300

Heusinger lieferte über das Amt Blank die fachlich-militärische Begründung


für eine Ablehnung der Stalin-Note.301 Der Vorschlag der Neutralisierung und
des Aufbaus eines deutschen Heeres sei zwar bestechend, aber entscheidend
wäre weiterhin die Gefahr aus dem Osten, dessen absolute militärische Überle­
genheit erhalten bliebe. Die Rote Armee verfüge über eine operativ günstigere
Ausgangslage gegenüber den Westmächten. Der Kampf um Deutschland würde

300 Ebd., Blatt 462-463.


301 Studie Heusingers über »Die militärische Lage eines nach dem sowjetischen Vorschlag
neutralisierten Gesamtdeutschlands«, 31.3.1952, BND-Archiv, 4316.

762
ein Wettlauf um Zeit werden. Die Bundesrepublik könnte sich der Gefahr nur
dann stellen, wenn man selbst über mindestens 30 Divisionen verfugte, was
erst nach vielen Jahren möglich sein werde. Es gäbe also eine äußerst gefähr­
liche Durststrecke. Aus diesen Gründen sei das eine für Deutschland und den
Westen militärisch nicht zu verantwortende Lösung.
Militärisch vertretbar wäre nur eine Lösung: der Rückzug der Sowjets
nach Weißrussland, während Polen und die Tschechoslowakei sich wieder
als freie, unabhängige Staaten formierten. Da dies politisch nicht zu erwar­
ten sei, bleibe für Deutschland auch militärisch nur eine starke Anlehnung an
die Westmächte. In einer Sondersitzung des Bundeskabinetts am 12. Mai 1952
durfte Heusinger eine grundsätzlich beruhigende Lagebeurteilung vortragen,
die einerseits die sowjetischen Verlockungen zurückwies und andererseits den
Zugewinn an Sicherheit nachwies, den ein deutscher Beitrag zu einer künfti­
gen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bedeuten würde.302
Gehlen bezeichnete Heusingers Studie, die Blank mit einem persönlichen
Anschreiben dem Kanzler übergeben ließ, gegenüber Globke als in wesentli­
chen Punkten unrichtig.303 Seine Begründung ist nicht bekannt. Der Vorgang
zeigt auf jeden Fall, wie sehr Heusinger und Gehlen bereits eigene Wege gin­
gen. Man wird davon ausgehen können, dass Gehlen – anders als Heusinger -
in seiner ideologischen Voreingenommenheit den Gedanken eines neutrali­
sierten Deutschlands mit eigener ausreichender Landesverteidigung nicht als
»bestechend« ansah, auch nicht als Zukunftsvision. Daneben wird ihm das
Gedankenspiel eines Abzugs der westlichen Truppen in ihre Heimatgebiete
und eines eventuellen Wettlaufs mit der Roten Armee zur Wiederbesetzung
Deutschlands nicht gefallen haben, denn es bedeutete, zunächst einen Abzug
der US-Streitkräfte aus Europa in Kauf zu nehmen. Schließlich dürfte ihn der
Verweis Heusingers auf die Möglichkeit des Ausbaus einer »starken anglo-
amerikanischen Offensivposition« auf dem Balkan sowie im Vorderen Orient,
die »entscheidende Auswirkungen auf die militärische Lage Deutschlands«
haben könnte, nicht überzeugt haben. Seine eigenen strategischen Erfahrun­
gen im Zweiten Weltkrieg sprachen gegen eine solche Annahme. Bei einem
seiner regelmäßigen Besuche in Bonn besuchte er dieser Tage zusammen mit
Wessel den SPD-Vorsitzenden Schumacher und zeichnete in seinem militä­
rischen Lagevortrag – im Gegensatz zu den düsteren Prognosen Heusingers
hinsichtlich der Stalin-Note – ein unverändert beruhigendes Bild der gegen­
wärtigen Lage.304 Vielleicht stand dahinter auch schlicht der Neid Gehlens

302 Siehe dazu Meyer, Heusinger, S. 570-572.


303 Erwähnt in Eintrag zum 22.4.1952, Lenz, Im Zentrum der Macht, S. 296; Anschreiben
Blanks an Kanzler Adenauer vom 3.4.1952, BND-Archiv, 4316.
304 Eintrag vom 24.4.1952, BND-Archiv, N 1/5.

763
gegenüber seinem früheren Vorgesetzten, denn Heusingers Thema hätte auch
er selbst als Berater des Kanzlers bearbeiten können. Aber auf diese Berufung
wartete Gehlen noch immer vergeblich.
Gehlen hat es auch später nicht als Zufall eingeschätzt, dass gleichsam als
propagandistische Begleitmusik der Stalin-Noten plötzlich eine publizistische
Hetzkampagne gegen ihn und die Org losbrach.305 Der Osten, so Gehlens Inter­
pretation, bediente sich dazu des bekannten britischen Publizisten Sefton Del­
mer.306 In einem Artikel des Daily Express vom 17. März 1952, der in der west­
lichen Presse rasch aufgenommen wurde, prangerte Delmer an, dass »Hitlers
General« Gehlen jetzt für Dollars spioniere. Der Dienst sei eine Gefahr für die
Zukunft Europas. Unter Gehlens Führung habe er die Regierungsstellen der
Bundesrepublik penetriert, seine Position ständig ausgebaut, um Einfluss auf
die Politik zu gewinnen. Er habe bewusst und planmäßig ehemalige Nazis und
SS-Leute der Strafverfolgung entzogen. Was Gehlen noch in seinen Memoiren
als gehässige Diffamierung bezeichnete, traf nach heutiger Erkenntnis sach­
lich weitgehend zu. Mit zeitlichem Abstand bescheinigte er Delmer immerhin,
offenbar unbewusst dem Osten Stichworte geliefert zu haben.307
Als Gehlen drei Tage nach Erscheinen des spektakulär aufgezogenen Arti­
kels in Paris den französischen Geheimdienstchef Boursicot traf, dürfte man
sich über die Bewertung des Störfeuers aus Großbritannien einig gewesen sein.
Die Zusammenarbeit Gehlens mit dem französischen Dienst hatte längst zu
einer engen Verbindung geführt. Sie war einer seiner wichtigsten Aktivpos­
ten für sein politisches Renommee in Bonn und von französischer Seite hatte
er immer wieder Unterstützung gefunden. Jetzt durfte er darauf hoffen, dass
Boursicot persönlich zu einem Besuch in Pullach bereit sein würde.308 Gehlen
sah sich in seiner Annahme bestätigt, dass, unabhängig von ihrer offiziellen
Linie, die Briten das Ziel verfolgten, einen einheitlichen deutschen Auslands­
nachrichtendienst neben dem Verfassungsschutz zu verhindern.309 Sie würden
darauf setzen, eines Tages aus dem Verfassungsschutz heraus einen Auslands­
dienst zu entwickeln.310

305 Siehe dazu Gehlen, Der Dienst, S. 147-149.


306 Zur Biografie siehe Karen Bayer: How dead is Hitler? Der britische Starreporter Sefton
Delmer und die Deutschen, Mainz 2008.
307 Gehlen, Der Dienst, S. 148-149.
308 Der Besuch fand nach intensiver Vorbereitung vom 7. bis 9.5.1952 statt. Siehe dem­
nächst allgemein die Studie Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
309 Aktennotiz Gehlens über das Verhalten des britischen Nachrichtendienstes gegenüber
der Org, 31.3.1952, BND-Archiv, 4316.
310 Notiz von Gehlen über eine Besprechung mit Globke, 5.4.1952, BND-Archiv, 1110,
S. 310-311.

764
Die von Delmer ausgelöste publizistische Kampagne streifte auch das
Thema Naher Osten. Interpress Hamburg titelte am 26. März 1952: »Deutsche
Spione im internationalen Netz?« Während die CIA die deutschen Aktivitäten
im arabischen Raum zu schätzen wusste, beobachteten die Briten bei der Ver­
teidigung ihres Einflusses und ihrer Ölinteressen im Nahen Osten argwöhnisch
das Vordringen deutscher und amerikanischer Agenten, die vorzugsweise den
arabischen Nationalismus förderten.311
Die Amerikaner drängten in Pullach darauf, endlich die Aktivitäten zu
koordinieren. Es müsse entschieden werden, ob in Damaskus ein lebender
Briefkasten (»live letter drop« – ein Kontaktmann) aufrechterhalten werden
solle.312 Was beabsichtige die Org eigentlich hinsichtlich dieser Mission? Ant­
wort: Man habe kein Interesse mehr an einem »Briefkasten« in Damaskus. Die
Mission habe ihre Stellung gegenüber der syrischen Regierung absolut gefes­
tigt. Aus Bonn gebe es keine Einwände. Eine offizielle Anerkennung sei aber
zurzeit nicht möglich. Daraufhin forderten die Amerikaner konkrete Berichte
über die arabische Welt, über Syrien und Ägypten sowie über den Einsatz der
ehemaligen SS-Leute.313 Aus Gehlens Sicht war das ein erneuter Zugriff der
CIA auf eigenständige Operationen der Org, dem er sich nicht ohne Weiteres
entziehen konnte.
Sein zu erwartender Ärger dürfte besänftigt worden sein durch ein Schrei­
ben von Lieutenant General Truscott, dem Berater des amerikanischen Hohen
Kommissars für Deutschland. Zu Gehlens 50. Geburtstag kamen sehr viel Lob
und Bestätigung von amerikanischer Seite.314 Hätte er gewusst, wie man seine
Persönlichkeit und seine derzeitige Arbeit aufseiten der CIA tatsächlich ein­
schätzte, wäre ihm der diplomatische Charakter des Schreibens sicher aufge­
fallen. Truscott bescheinigte Gehlen ein sehr erfolgreiches Jahr und beträcht­
liche Fortschritte bei der Verfolgung des Ziels, die Org als künftigen deutschen
Nachrichtendienst zu etablieren. Dazu habe die anhaltend hohe Qualität der
Organisation beigetragen, die in einem sehr großen Maße auch Gehlens per­
sönliches Verdienst sei. Seine Motivation, seine Voraussicht, Energie und sein
Fachwissen, zusammen mit seinen exzellenten Mitarbeitern, hätten unter
schwierigen Bedingungen eine Struktur geschaffen, die heute einen großen
Beitrag zur Verteidigung Deutschlands und des westlichen Lebensstils leiste.
Vor dem Hintergrund der im April und Mai 1952 andauernden Diskussion
um die Stalin-Noten und die scheinbare Alternative Westintegration oder

311 Siehe demnächst ausführlich die UHK-Studie zum Nahen Osten von Tilman Lüdke in:
Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
312 Gesprächsnotiz vom 25.3.1952, BND-Archiv, 4316.
313 Notiz 26.3.1952, ebd.
314 Brief von Truscott für Gehlen, 27.3.1952, BND-Archiv, 1112, Blatt 465.

765
Wiedervereinigung sah sich Gehlen veranlasst, die Beobachtung der kom­
munistischen Unterwanderung Westdeutschlands zu intensivieren. Er setzte
hierzu seine hoffnungsvolle personelle Neuerwerbung Kurt Weiß ein. Bisher
hatte es keine direkten Aufträge an die Org gegeben, die Westarbeit der SED
zu beobachten. So gab es lediglich Gelegenheitserkenntnisse und die Aus­
wertung offenen Materials durch zwei Referenten. Die Org durfte operativ in
diesem Bereich nicht tätig werden, etwa durch Penetrierung des Gegners. In
Abstimmung mit Globke ordnete Gehlen an, die durch gezielte Beobachtung
gewonnenen Erkenntnisse ans Kanzleramt zu übergeben, gelegentlich auch
Schumacher und Ollenhauer zu unterrichten. Die FDP suchte von sich aus
Kontakte zur Org, um auf die LDPD, die Scheinliberale Blockpartei der DDR,
Einfluss zu nehmen. Kurt Weiß verband die gezielte innerdeutsche Aufklärung
mit einer systematischen Erfassung aller bemerkenswerten Vorgänge in der
Bundesrepublik, die für Gehlen wichtig sein konnten. Der »Doktor« erwartete
zusammenfassende Analysen, kein vollständiges Lagebild zur Innenpolitik.
Die Sonderverbindungen in die westdeutsche Presselandschaft erhielten
nun ein steigendes Gewicht. Das Interesse richtete sich vorrangig darauf, kom­
munistische Versuche, den Aufbau der Bundeswehr zu stören, rechtzeitig zu
erfassen und zum Beispiel durch geschickte Verschleierungsmaßnahmen den
nachrichtendienstlichen Hintergrund hoher Offiziere zu verbergen. Gefährdet
war natürlich auch Gehlen selbst. Der Coup der Delmer-Enthüllungen zeitigte
in der westlichen Presse zumindest gegen ihn persönlich keine gravierenden
Folgen, denn hier wurde Gehlen zumeist als integer und einwandfrei einge­
stuft. Aber die Männer in seiner Umgebung galten als zweifelhaft und zum Teil
wurden ihnen politische Ambitionen nachgesagt.315 Das betraf etwa Gesprä­
che mit SS-General Steiner, den Gehlen in diesen Tagen im Auftrag Globkes
traf, um den Versuch zu unternehmen, Widerstände in Kreisen der Veteranen
gegen eine Europaarmee zu beschwichtigen. Adenauer legte großen Wert dar­
auf, dass die Org die politischen und nachrichtendienstlichen Bestrebungen
ehemaliger SS-Kreise sorgfältig beobachtete.316
Da musste es alarmierend wirken, wenn über den Korrespondenten der
DDR-Presseagentur ADN Hans-Werner Burmeister die Meldung kam, der Chef
des ostdeutschen Informationsdienstes plane eine Broschüre über Gehlen, die
ein »politischer Schlag 1. Ranges« sein werde.317 Die mitgeteilten biografischen
Angaben waren freilich ziemlich schwammig und zeigen, dass zu diesem Zeit­

315 Auswertung der westlichen Presse, 3.6.1952, BND-Archiv, N 13/4.


316 Notiz von Gehlen über die Besprechung mit Globke, 24.4.1952, BND-Archiv, 1110,
Blatt 314.
317 Memo 2486, Beabsichtigte Propagandamaßnahmen der DDR, 28.4.1952, BND-Archiv,
122376, Blatt 54-56.

766
punkt die DDR-Staatssicherheit noch kein klares Bild von Gehlen besaß. Das
würde erklären, weshalb vorerst dann doch nicht eine solche Broschüre ver­
öffentlicht wurde. In diesen Tagen nahm Gehlen seinen 50. Geburtstag zum
Anlass, mit seiner Frau ein Gemeinschaftstestament zu verfassen, um seine
persönlichen Angelegenheiten zu regeln.318 20 Jahre später besorgte sich die
Stasi die Unterlagen, wahrscheinlich um Hinweise aufzuspüren, die sich für
eine Kampagne gegen den BND-Chef eigneten, womöglich in Sachen Haus­
und Grunderwerb, von deren Skandalisierung noch die Rede sein wird.
Als ein großer Erfolg für die Pressepolitik Gehlens erwies sich die Kon­
taktanbahnung zum einflussreichen Hamburger Nachrichtenmagazin Der
Spiegel. Gehlen hatte seinen alten Kriegskameraden Worgitzky bereits Anfang
1950 mit dieser Aufgabe betraut.319 Das sei mühsam gewesen, habe sich aber
bewährt, berichtete dieser. Das Blatt habe noch nicht über die Org berichtet,
in zwei Fällen Material, das ihm zugespielt worden war, an Pullach abgegeben,
über militärische Berater der Bundesregierung nur Positives berichtet »und
auch da mehrfach unseren Wünschen entsprochen. Ich habe im Auftrag von
Dr. Schneider erst vor kurzem zum Ausdruck gebracht, dass wir Herrn A. seine
Anständigkeit nicht vergessen würden.« Die Außenpolitik sei eine Domäne
von Rudolf Augstein, der eine Vorliebe für schwere US-Autos habe. An Geld sei
er nicht interessiert.
Ein Urteil über den Spiegel sei schwierig, er teile Hiebe nach allen Seiten
aus. Augstein sei sicherlich kein Kommunist. Er stehe bisher in seiner Hal­
tung gegenüber der Org außer jedem Zweifel. Deshalb bat Worgitzky darum,
von Attacken gegen den Spiegel abzusehen. Augstein würde bestimmt davon
erfahren, und es gebe viele Leute, die Angst vor ihm hätten und ihm gefällig
sein wollten. Es wäre ungerecht und unzweckmäßig, die von Augstein der Org
gegenüber bewiesene Loyalität mit Angriffen zu vergelten. Dann würden er,
Worgitzky, und Dr. Schneider völlig das Gesicht verlieren. Die Verbindung sei
unter folgenden Gesichtspunkten zu sehen: Hauptzweck sei der Schutz der
eigenen Arbeit, Nebenprodukt die Überwachung der Tendenz und schließlich
die Gewinnung von Ansatzpunkten. Gehlen billigte diese Auffassung und bat,
etwaige Schritte mit ihm abzusprechen. Über diese und andere Sonderverbin­
dungen informierte er Globke am 24. April 1952.320

318 BStU, MAS, ZAIG, Nr. 11438, S. 184.


319 Internes Schreiben Worgitzkys betr. Spiegel, nachrichtlich an Gehlen, 8.4.1952, BND-
Archiv, N 23/1. In seinen Memoiren behauptet Gehlen hingegen, erst die diffamierenden
Behauptungen Sefton Delmers hätten ihn dazu veranlasst, erste Kontakte zu einzelnen
Journalisten aufzunehmen; Gehlen, Der Dienst, S. 148.
320 Notiz Gehlens über die Besprechung mit Globke, 24.4.1952, BND-Archiv, 1110,
Blatt 313-316.

767
Walter Bedell Smith,
1946 -1949 US-Botschafter in Moskau,
1950-1953 Direktor der CIA, ca. 1945

Die Durchsetzung der Org-Interessen in Bonn stockte freilich. Heusinger


hielt die Gefahr für groß, dass Heinz sich auf der militärischen Seite durch­
setzen könnte. Gehlen müsse mit Blank reden und nicht erst das Gespräch
Globkes mit Blank abwarten, denn die beiden seien momentan verkracht.321
Die Lage der Org in Bonn sei nicht »rosig«. Gehlen schwimme unruhig hin
und her. Er setze leider alles auf die Karte Globke.322 Doch Gehlen sah sich
nicht nur in der Verantwortung für die Beschaffung und Bewertung militä­
rischer Nachrichten über den Gegner. Es zog ihn mit Macht auf die politi­
sche Ebene. Wollte er die Org als einen umfassend tätigen Nachrichtendienst
etablieren, brauchte er einen kurzen Draht zum Kanzler bzw. zu den ande­
ren Ressorts, um sich mit den Möglichkeiten seines Dienstes als nützlich zu
erweisen. Anfang Mai 1952, kurz vor dem Abschluss der Verträge mit den
Westalliierten, wurde ein Flugzeug der Air France von sowjetischen Jägern
zur Landung gezwungen, weil es den Luftkorridor nach Berlin verlassen
hatte. In einem Schreiben an Globke bestätigte Gehlen, dass die Org den
gesamten Sprechfunkverkehr überprüft und den Eindruck gewonnen habe,
dass die Vorwürfe Moskaus stimmten.323 Vermutlich hätten die Russen den
Vorfall aber nur inszeniert, um eine bestimmte Person festnehmen zu kön­
nen. »Sie wissen, wie ich über die Frage der Bildung von Widerstandsgruppen
in der Ostzone denke, wenn diese Frage nicht mit äusserster Vorsicht und
Behutsamkeit angefasst wird.« Die vorliegende Aussage, es könnte ein großer

321 Gespräche Heusinger – Wessel, 1./2.4.1952, BND-Archiv, N 1/5.


322 Gespräch Heusinger – Wessel, 28.4.1952, ebd.
323 Schreiben Gehlens an Globke, 7.5.1952, BND-Archiv, 1110, Blatt 317-318.

768
Personenkreis auffliegen, scheine darauf hinzuweisen, dass die bisherigen
Bemühungen nicht vorsichtig genug gewesen seien. Es handele sich offenbar
um einen Personenkreis, der von amerikanischer Seite geführt werde. Man
sollte deshalb mit den USA sprechen, um den drüben arbeitenden politischen
Personenkreis besser abzusichern und den ganzen Vorgang möglichst herun­
terzuspielen.
Anfang Mai 1952 erhielt Gehlen das Antwortschreiben des CIA-Chefs auf
seine persönliche Einschätzung der Weltlage. Bedell Smith verband seinen
Dank mit feiner Ironie und hinterfragte Gehlens weiträumige Prognosen.324 Er
habe das Papier mit Interesse gelesen und dankbar registriert, dass er fähig
sei, diesem Typus von Lageeinschätzungen zu folgen, erklärte Bedell Smith.
Er sei auch beeindruckt, wie sehr das Denken Gehlens und seiner Männer
dem eigenen gleiche. Gehlen habe in seiner präzisen und gut geschriebenen
allgemeinen Einschätzung nicht den Raum gehabt, um Dinge zu erörtern, die
er sicherlich bedacht habe. Zum Beispiel komme Gehlen zu der Schlussfolge­
rung, dass die UdSSR 1953 wahrscheinlich keinen Krieg beginnen werde, weil
die politische Entwicklung und die wirtschaftliche Produktion im Sowjetblock
nicht ausreichend vorangekommen seien und die Sowjetführer glaubten, sie
könnten ihre Ziele auch mit anderen Mitteln erreichen.
Aber: Angenommen die sowjetische militärische Entwicklung wäre speziell
bei der Luftabwehr und bei den Massenvernichtungswaffen doch weiter vor­
angekommen als man annehme, könnte dies zu einer härteren Gangart bei
der Taktik des Kalten Krieges führen, sogar bis zu dem Punkt, dass der Westen
gezwungen wäre, gewaltsame Gegenmaßnahmen zu treffen? Wenn der Wes­
ten Signale zu gewaltsamen Widerstand gebe, würde die UdSSR einen Show­
down in Kauf nehmen oder sich wie so oft in der Vergangenheit zurückziehen,
um ihre Ziele mit anderen Mitteln zu verfolgen? Was wäre die sowjetische
Reaktion, wenn die westliche Fähigkeit, sowjetische Siege im Kalten Krieg zu
verhindern, sich als besser erweisen würde als Moskau annimmt? Würde die
UdSSR sofort rücksichtslosere Aktionen unternehmen oder sich zurückziehen
und auf bessere Tage warten?
Gehlen habe die Situation mit einem Pulverfass verglichen. Wie Japan in
den 1930er-Jahren habe die UdSSR in der Vergangenheit vermieden, in einen
großen Krieg verwickelt zu werden, selbst bei großem Funkenschlag. Welche
Gründe gebe es zu glauben, dass die UdSSR vor einem großen Krieg zurück­
schrecken würde, bis zu einem Zeitpunkt, wo sie annehmen könnte, ihn zu
gewinnen? Wenn Gehlen Gelegenheit habe, seine Einschätzungen zu über­
prüfen, würde er sich freuen, seine Schlussfolgerungen zu diesen sehr schwie­

324 Schreiben von Bedell Smith an Gehlen, 9.5.1952, BND-Archiv, 1112, Blatt 468-469.

769
rigen Fragen zu erhalten. Gehlen benötigte sechs Wochen Zeit, um für den
CIA-Chef die versäumten Hausaufgaben nachzuliefern. Dann antwortete er
so:325

Selbst wenn man unterstellt, dass die Einsatzbereitschaft des militärischen


Potentials der Sowjetunion, insbesondere der Umfang ihrer Luftrüstung und
ihres Arsenals an modernen Vernichtungswaffen im augenblicklichen Zeit­
punkt von uns unterbewertet wird, so scheint uns gleichwohl z. Zt. kein hin­
reichender Grund zu der Annahme zu bestehen, dass die Sowjetunion den
Kalten Krieg in Methode und Ausmaß demnächst in einer Weise verschärfen
wird, die den Friedenswillen des Westens utopisch machen würde.
Die Beobachtung des derzeitigen sowjetischen Verhaltens macht vielmehr
wahrscheinlich, dass man sich in Moskau von der bisherigen Verfahrens­
weise durchaus – und wohl nicht ganz zu Unrecht – noch weiterhin Erfolg
verspricht. Die notwendige und mit aller Energie betriebene Konsolidierung
der eigenen Machtsphäre, die Massenbeeinflussung und Unterwanderung
der z. Zt. im Spannungsfeld des Ost-Westgegensatzes liegenden Länder, die
fortlaufenden Versuche, im Wege internationaler Konferenzen (Weltwirt­
schaftskonferenz, Weltkirchenkonferenz, Tagungen des Weltfriedensrates
usw.) stärker als bisher westliche Gruppen wirtschaftlich und politisch zu
engagieren, sind – um nur einiges zu nennen – insgesamt Anstrengungen,
die trotz aller Schärfe des propagandistischen Tenors und trotz zeitweiliger
Zunahme der bekannten sowjetischen Nadelstichpolitik (siehe Berlin) nicht
darauf schließen lassen, dass der Kreml den umfassenden militärischen Kon­
flikt mit Eventualdolus in Rechnung stellt.326

Die sowjetische Taktik nutze den Spielraum bis dicht an die Grenzen des letz­
ten Risikos, ohne sich jedoch auf das letzte Risiko einzulassen. Von entschei­
dender Bedeutung für die Intensität des vom Osten geführten Kalten Krieges
werde die reale militärische Stärke des Westens sein (was für die deutsche Wie­
derbewaffnung sprach). Nach den bisherigen Erfahrungen glaube er, dass der
sowjetischen Expansion nur durch eine Politik der Stärke begegnet werden
könne. Damit würde man die Kriegsgefahr für die nächste Zukunft bannen
können. Er neige zu der Annahme, dass die UdSSR bei Misserfolgen (wie jetzt
bei dem erfolgreichen Abschluss der Westbindung der Bundesrepublik) aus­
weichend und durch Abwarten einer besseren Gelegenheit, also beweglich,

325 2. Entwurf eines Antwortschreibens von Gehlen vom 20.6.1952, BND-Archiv, 1112,
S. 514-520. Siehe auch Ausarbeitung vom Mai 1952 betreffend Wie werden die Sowjets
auf die Unterzeichnung des Generalvertrages reagieren?, BND-Archiv, 1110, S. 343-345.
326 2. Entwurf, BND-Archiv, 1112, Blatt 515-516.

770
reagieren werde. Die Gefahr eines Präventivkrieges gegen die Wiederbewaff­
nung sei nicht gegeben, obwohl Moskau seine Agitation verstärken werde. Das
Bild vom Pulverfass sei nicht auf die UdSSR gemünzt, sondern gemeint sei ganz
allgemein die Weltlage. Es stelle sich die Frage nach dem Vertrauen im Westen
in die eigenen politischen Gegenkräfte, die sich aber auf den realen Rückhalt
eines ausreichenden militärischen Potenzials stützen müssten. Das gehe aber
über rein militärpolitische Erwägungen hinaus. In der Anlage legte Gehlen
eine Beurteilung von Reaktionsmöglichkeiten des Ostens auf die Unterzeich­
nung des Deutschland- und des EVG-Vertrages bei.
Ob den CIA-Chef die Einschätzungen seines »utility« am Ende überzeugt
haben, ist nicht bekannt. Aber Gehlen, der einmal mehr nicht den Scharfma­
cher spielte, sondern im wohlverstandenen deutschen Interesse zur außenpo­
litischen Zurückhaltung riet, abgesichert durch eine ausreichende militärische
Abschreckung, setzte sich damit von jenen Stimmen ab, die in Washington,
auch in der CIA, für eine härtere Gangart gegenüber Moskau plädierten. Dort
begann die Befreiungsrhetorik, weitgehend unkontrolliert, eine hohe Eigendy­
namik zu entwickeln. Sie verband sich im Zusammenhang mit den Verhand­
lungen um die EVG mit dem Vorschlag des künftigen US-Außenministers John
Foster Dulles (Bruder von Allen Dulles, dem CIA Director of Special Opera­
tions) einer Strategie der massive retaliation zu dem Eindruck, dass Befrei­
ungspolitik den Gebrauch militärischer Mittel bis hin zum Einsatz von Atom­
bomben umfassen könnte. Einher ging aus deutscher Sicht die Befürchtung,
dass für die künftige Eisenhower-Dulles-Administration die Deutschlandfrage
gegenüber der Befreiung Polens und der Tschechoslowakei in den Hintergrund
treten könnte.327
Hatte der Abschluss der Sicherheitsverträge im Mai Gehlen auch zu der
Annahme ermutigt, dass nun an eine Übernahme der Org durch die Bundes­
regierung zum 1. April des nächsten Jahres zu denken sei, so mussten dafür
doch noch erhebliche Probleme gelöst werden. Der Albtraum einer möglichen
positiven Antwort der Westmächte auf die Stalin-Noten und einer Wiederver­
einigung, die für die Org das Aus bedeuten würde, war immerhin vorüber.
Zu den Fragen der Überleitung und der zwischenzeitlichen Finanzierung
liefen bereits Gespräche mit der amerikanischen Seite. Critchfield bremste die
Erwartungen in Pullach mit der Weitergabe der Einschätzung seines Vorge­
setzten Stewart über die Leistungsfähigkeit der Org. Die militärische Bericht­
erstattung sei zwar zu 100 Prozent positiv zu bewerten, die wirtschaftliche sei
aber wesentlich geringer, die technische und wissenschaftliche liege praktisch
bei null. Im Vergleich dazu liefere das CIC der US Army bei der politischen

327 Stöver, Befreiung, S. 81, 88-91.

771
Aufklärung 90 Prozent der gesamten Berichterstattung, weil es über zwölf bis
15 Penetrationsquellen in Ost-Berlin verfüge.328
Ob Gehlens Maßnahmen zur personellen Verstärkung der eigenen politi­
schen Aufklärung, die sich vorerst im Wesentlichen auf offene Quellen stützen
musste, ausreichen würden, blieb mehr als fraglich. Es schien ihn auch nicht
sonderlich zu bekümmern. Sein Augenmerk blieb auf Bonn fixiert. Am Vor­
abend der Vertragsunterzeichnungen hatte er bereits für den Kanzler eine Vor­
tragsnotiz über die Notwendigkeit eines Bundesnachrichtendienstes und die
Überleitung der Org vorgelegt, die Adenauer für eine Besprechung im Kabinett
dienen sollte.329 Darin akzeptierte Gehlen die Aufgabenteilung mit dem BfV,
beanspruchte allerdings die alleinige Zuständigkeit des BND für das äußere
Lagebild mit den Bereichen Politik, Wirtschaft, Militär und Gegenspionage.
Eine Tätigkeit im Innern sollte nur zum Schutz der eigenen nachrichtendienst­
lichen Verbindungen und zur Gewinnung von Absprungbasen stattfinden.
Hier wäre dann auch eine enge Zusammenarbeit mit dem BfV erforderlich.
Gehlen betonte in diesem Papier für den Kanzler ausdrücklich, dass der BND
etwas grundsätzlich Neues darstellen werde, und zwar durch die einheitliche
Leitung aller deutschen Aktivitäten außerhalb der Bundesgrenzen, wie in den
angelsächsischen Ländern »auf einer völlig überparteilichen Basis« und als
»Angelegenheit der Besten des Volkes«. Die einheitliche Steuerung werde eine
wirtschaftlich effiziente Arbeit ermöglichen, wie sie derzeit in den Diensten
aller anderen bedeutsamen Staaten organisiert werde.
Der künftige BND solle, so Gehlen weiter, eine »Angelegenheit des gemein­
samen Interesses aller Ressorts« sein und müsse deshalb dem Regierungschef
direkt unterstellt werden, eine Lösung, wie sie – angeblich – auch in Frank­
reich und den USA gefunden worden sei. Die einzelnen Ministerien wären in
diesem System lediglich Bedarfsträger. Sie sollten Sonderbeauftragte einset-
zen, um dafür Sorge zu tragen, dass in den Ministerien die Arbeit des BND
»nach jeder Richtung« hin unterstützt werde. Für sich selbst beanspruchte
Gehlen eine Position, die ein Vorgreifen der Minister durch Stellungnahmen
zu nachrichtendienstlichen Ergebnissen gegenüber dem Kanzler ausschloss.
Der Leiter des BND stellte also allein die »Gesamt-Lagebeurteilung« für den
Regierungschef auf und könnte dafür auf die Ansicht des entsprechenden
Fachministers zurückgreifen.
Alle deutschen Gruppen, die bereits auf dem nachrichtendienstlichen Gebiet
tätig seien, sollten nach Beurteilung durch Gehlen in geeigneter Form in den

328 Besprechung Mellenthin und Herre bei Critchfield, 14.5.1952, BND-Archiv, N 2/1,
Blatt 323.
329 Vortragsnotiz Gehlens, 21.5.1952, VS-Registratur Bka, Bk 1:15100 (64) Bd. 1, Blatt 52-55.

772
BND übernommen werden. Für die Aufbauarbeit rechnete er mit etwa fünf Jah­
ren. Grundlage sei die Übernahme der Org, so wie er sie in den vergangenen Jah­
ren geschaffen habe, »auf dem Boden der ideellen Konzeption der Verteidigung
der westlich-christlichen Kultur gegen den Kommunismus«. Diese allgemeine,
politische Formel, die den Begriff Demokratie vermied, verband Gehlen mit sei­
nem üblichen Verweis auf das angebliche Gentlemen’s Agreement. Nicht über­
raschend war seine Übertreibung, er führe eine »rein deutsch zusammenge­
setzte, ausschliesslich deutsch geführte nachrichtendienstliche Organisation«,
deren »rein deutsche Konzeption« von den USA durch die Anerkennung der
Tatsache akzeptiert werde, dass er sich »ausschliesslich den zuständigen deut­
schen Autoritäten gegenüber verantwortlich« fühle. Die Amerikaner, so stellte
es Gehlen dar, seien gleichsam nur die Geldgeber gewesen, und er kündigte an,
falls der Bund seine Org nicht übernehmen würde, werde er sie auflösen.
Critchfields Anregung, die Mitwirkung der Ministerien bei einem »National
Intelligence Estimate« zu formalisieren, lehnte Gehlen ab, weil er den soforti­
gen Widerstand der Minister befürchtete und es vorzog, allein dem Kanzler die
Sicherheitslage vortragen zu können.330 Mit Globke besprach er weitergehende
Details wie etwa die Offiziersstellen (400) im Stellenplan des künftigen BND.331
Gehlen wollte keine Zeit verlieren. Er gab sogar seine Zurückhaltung gegen­
über Blank auf und lud diesen zu einem Besuch in Pullach ein, auf sein eigenes
Terrain. Was solle denn der Zweck des Besuchs sein, fragte Critchfield. Geh­
lens Stellvertreter Mellenthin antwortete: Blank solle von der Org beeindruckt
werden, und es müsse ihm bewiesen werden, dass sie harmlos sei. Critchfield
daraufhin trocken: Ersteres werde leicht, Letzteres aber schwierig werden.332
Bei einer Gruppenleiterbesprechung kam die schwierige Lage der Org zur
Sprache, die sich in den nächsten Monaten zwischen amerikanischer und
deutscher Legalität ergeben würde.333 Das betraf unter anderem die Beschaf­
fung und Tarnung von Gebäuden sowie die Gründung von Tarnfirmen. Dazu
bedurfte es möglichst rasch der schriftlichen Rückendeckung des Bundes
gegenüber den einzelnen Bundesländern. Für die Mitarbeiter war die parallel
laufende Überleitung des Personals, zusammen mit den Abgaben an das Amt
Blank und dem scheinbar bevorstehenden militärischen Aufbau, ebenfalls ein
dringliches Problem. Man hoffte natürlich darauf, dass die Mitarbeiter der Org
künftig denen im Amt Blank gleichgestellt sein würden, andere befürchteten
einen personellen Aderlass, der die Org beeinträchtigen würde. Dass es später
nicht so kam, lag nach der Einschätzung von Seydlitz-Kurzbach daran, dass

330 Besprechung Gehlen, Mellenthin, Herre mit Critchfield, 28.5.1952, BND-Archiv, 4316.
331 Aktennotiz Gehlens über die Besprechung mit Globke, 23.5.1952, ebd.
332 Besprechung Mellenthin und Herre bei Critchfield, 14.5.1952, ebd.
333 Gruppenleiter-Besprechung, 26.5.1952, ebd.

773
die Org Anfang der 1950er-Jahre mit guten Offizieren überbesetzt war. So sei
es gelungen, entstehende Lücken wieder zu füllen, zum Beispiel durch den
schrittweisen Rückzug von Offizieren aus der Außenorganisation. Gehlen habe
schon sehr zeitig und vorausschauend hinter dem Rücken der Amerikaner mit
der Umorientierung begonnen.334
Während sich Heusinger und Blank direkt an Adenauer wenden konnten,
um die Offiziersstellen in ihrem Bereich zu etatisieren, musste Gehlen mit
einem solchen Schritt warten, bis die Ratifizierung des EVG-Vertrages erfolgte,
denn dort war vorgesehen, dass Offiziere für nationale Aufgaben abgestellt
werden konnten. Damit wäre dann eine Basis für nationale Ic- und Nachrich­
tendienste gegeben.335 Critchfield hatte seinerseits eine Vereinbarung über die
künftige deutsch-amerikanische Zusammenarbeit auf dem Nachrichtensektor
entworfen. Demnach würden die Deutschen die Gunst der geografischen Lage
sowie das Risiko für die Aktivitäten deutscher Agenten einbringen, ebenso die
Unterstützung für die in Deutschland arbeitenden Teile der amerikanischen
Dienste. Die USA wiederum würden ihre vorherrschende politische Rolle
gegenüber allen anderen westlichen Nachrichtendiensten nutzen, finanzielle
und materielle Unterstützung leisten sowie ihre globalen Möglichkeiten ein­
setzen, etwa durch Nutzung der Dateien der CIA.336
Parallel zu der Unterzeichnung des Deutschland- und EVG-Vertrags ergriff
Critchfield in Pullach die Initiative, denn er rechnete mit einer Verschärfung
der sowjetischen Haltung als Konsequenz aus den Verträgen.337 Die deutsche
Teilung sei hoffentlich nur von kurzer Dauer. Die US-Treuhandschaft für die
Org gehe zu Ende. Doch die Lage werde für Pullach noch eine gewisse Zeit
unklar bleiben, denn solange die Verträge nicht ratifiziert seien, werde die
deutsche Regierung keinen Schritt auf die Org zugehen. Critchfield zeigte sich
besonders besorgt über das Personalproblem. Man müsse untragbare Verluste
durch die Remilitarisierung vermeiden und junge Leute von den Universitäten
gewinnen. Angesichts der vorerst weiterlaufenden Finanzierung durch die CIA
komme man nicht daran vorbei, die internen Ausgaben zu reduzieren und Auf­
gaben durch den Verfassungsschutz und die Polizei wahrnehmen zu lassen. Es
würden im Führungsbereich zu viele verdeckte Ziele verfolgt.
Und Critchfield übermittelte die Kritik seiner Vorgesetzten an der Leis­
tungsfähigkeit der Org. Auf dem Gebiet der order of battle leiste die Org bei
Weitem das Beste, was der westlichen Welt zur Verfügung stehe, wenn auch

334 Erinnerungen Seydlitz-Kurzbachs von 1987, BND-Archiv, N 71/2.


335 Gespräch Heusinger – Wessel, 27.5.1952, BND-Archiv, N 1/5.
336 Besprechung Gehlen, Mellenthin und Herre mit Critchfield, 28.5.1952, BND-Archiv,
4316.
337 Aktennotizen über die Konferenz am 29.5.1952, BND-Archiv, 1112, Blatt 472-508.

774
mehr durch Observation als durch Penetration. Im wirtschaftlichen Bereich
gebe es leider keine hochrangige Penetration des Gegners. Die zuständigen
Herren von 45,7 seien mehr »researcher« als »intelligence men«. Die Informa­
tionen zu Wissenschaft und Technik würden zu 35 Prozent durch US-Agenten,
zu 10 Prozent durch die US Air Force und zu 35 Prozent durch MID (Military
Intelligence Division der US Army) Berlin geliefert. Im politischen Bereich
beschaffe das CIC mit Abstand das beste Material, die Org dagegen bisher
weniger als ein Prozent der brauchbaren Informationen. Sie erstelle zu viele
Einschätzungen und zu wenige Berichte. Critchfield urteilte abschließend:
Die Org sei immer noch hauptsächlich eine G-2-Organisation, kein All-round-
Nachrichtendienst, wie ihn Gehlen dem Bundeskanzler übergeben wolle. Der
»Doktor« sollte daher seine Ambitionen besser korrigieren.
Gehlen stellte sich nicht offen gegen diese harsche Beurteilung, sondern
ließ die einzelnen kritisierten Bereiche schriftlich Stellung beziehen, ausge­
nommen seinen Führungsbereich. Er wollte sich weder in die Karten sehen
lassen noch aus finanziellen Gründen Aktivitäten und Verbindungen redu­
zieren. Schon gar nicht ließ er sich von seinen Vorstellungen eines umfassen­
den Nachrichtendienstes abbringen. Die Fachbereiche zu einem schnelleren
Durchlauf eingehender Meldungen zu veranlassen und die Kommentierung zu
intensivieren waren naheliegende Maßnahmen, um eine erneute Kürzung der
US-Finanzierung zu verhindern.338
Zu seinen verdeckten Aktivitäten gehörte zum Beispiel die vor Jahren von
der Org im Ausland gegründete »Studiengesellschaft zur Förderung wissen­
schaftlicher Arbeiten«. Sie sollte den alliierten Zugriff auf deutsche technische
Entwicklungen auf dem Chiffriergebiet verhindern. Auf ihren Namen waren
einige Patente eingetragen, worüber Gehlen jetzt Globke vorsichtshalber infor­
mierte.339 Ein anderer Fall war der Kontakt zu Dr. Theodor Oberländer, ehemals
prominenter NS-Ostforscher und während des Krieges Angehöriger der Abwehr.
Gehlen hatte ihn in der Nachkriegszeit gefördert. Oberländer, damals Staatsse­
kretär für Flüchtlingsfragen im bayerischen Staatsministerium des Innern und
Landesvorsitzender des Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten
(BHE), gewährte der Org die Unterstützung seines Osteuropa-Instituts, setzte
sich für die Bekämpfung der kommunistischen Infiltration in Oberbayern ein
und versprach die Unterstützung des BHE für den EVG-Vertrag.340 Diese Ver­
bindung zahlte sich auch künftig aus, als Oberländer im folgenden Jahr in den
Bundestag gewählt wurde und Vertriebenenminister Adenauers wurde.

338 Eintrag vom 30.5.1952, BND-Archiv, N 1/5, S. 207.


339 Vortragsnotiz Gehlens, 23.7.1952, BND-Archiv, 4316.
340 Vortrag Herre zum Programm des Besuchs von Gehlen bei Oberländer, 24.7.1952, ebd.

775
Wie berechtigt die Kritik Critchfields an der Aufklärungsleistung war, zeigt
der Einsatz von Adolf Wicht, der zum 1. Juni 1952 von der Deutschen Presse-
Agentur (dpa) zu der wirtschaftlichen Tarnorganisation Worgitzkys in Bre­
men überwechselte. Dort sollte er das neue Referat Fernaufklärung aufbauen.
Wicht setzte auf seine in den letzten Jahren geknüpften dpa-Verbindungen
und erweiterte seine Kontakte zur Wirtschaft, um Informationen zur Tiefen­
aufklärung zu beschaffen. Seine wichtigste Quelle war freilich das Hamburger
Weltwirtschaftsarchiv.341 Als Globke dieser Tage einzelne Dienststellen der Org
in München besichtigte, blieben ihm solche Realitäten natürlich verborgen.
Gehlen sorgte zumindest für ein besseres Erscheinungsbild seiner Pullacher
Zentrale. Er ordnete an, dass die Anlage bis zum April 1953, dem erwarteten
Übernahmetermin, von allen dort noch wohnenden Familien zu räumen sei.342
Gehlen selbst reiste wieder nach Bern, um seinen Schweizer Kontakt zu pfle­
gen und kurz darauf mit der Spitze des französischen Nachrichtendienstes die
EVG-Problematik zu erörtern.343
Inzwischen hatte Adenauer im Juni 1952 den CIA-Vertretern seine persön­
liche Zusicherung gegeben, die Org durch die Bundesregierung übernehmen
zu wollen. Globke sei beauftragt, den Transfer anzuleiten. Er habe außerdem
Blank als künftigen Verteidigungsminister über diese Absicht unterrichtet,
ebenso Finanzminister Fritz Schäffer.344 Es ist damals offensichtlich nicht –
wie Gehlen erwartet hatte – zu einer Kabinettsvorlage Adenauers zur Frage
der Org gekommen, denn die Ratifizierung der Sicherheitsverträge schritt
selbst in Bonn nicht so schnell wie angenommen voran, was aber die Vor­
aussetzung für den Beginn eines offiziellen Übernahmeverfahrens für die Org
gewesen wäre.
Critchfield ließ sich von seiner negativen Einschätzung Gehlens nicht
abbringen. Er wurde darin, wie Washington notierte, von einem ehemaligen
Vertrauten Gehlens bestätigt, der als V-11126 über seinen Chef aussagte: sehr
intelligent, verschlagen, beharrlich und sehr ehrgeizig. Größte Schwäche: ein
Mangel an Mut in Personalsachen, vermeide es, unangenehme Themen mit
den betroffenen Personen zu erörtern, sondern erreiche sein Ziel indirekt oder
durch die Delegierung einer frontalen Attacke an einen anderen. Werde nicht
durch ethische Standards daran gehindert, sein Ziel zu erreichen. Keine ausge­
prägte Kenntnis der Intelligence-Arbeit. Hauptehrgeiz: politischer Natur, wün­

341 Ausarbeitung Wichts von 1984, BND-Archiv, N 22/1.


342 Gruppenleiter-Besprechung, 23.6.1952, BND-Archiv, 4316.
343 Eintrag 10.7.1952, BND-Archiv, N 1/5.
344 Berichtet im Briefing for Ambassador Conant »The Gehlen Organization«, 28.1.1953;
in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. 2, S. 419-420.

776
sche, seinen Namen in die deutsche Geschichte einzugraben.345 In der biografi­
schen Datei des US-Hochkommissars wurde über Gehlen vermerkt: Man habe
ihm nach Kriegsende erlaubt, einen kleinen Kreis ehemaliger Abwehroffiziere
zu versammeln, von denen man annahm, dass sie über gutes Material über die
Nationalsozialisten verfügten. Gehlen habe dann in kurzer Zeit seinen Appa­
rat ausgebaut und exzellente Berichte über die politischen und militärischen
Aktivitäten der Sowjets in der Ostzone geliefert. Beim Ausbau habe Gehlen
auf eine große Zahl ehemaliger Nazis, SD- und SS-Leute zurückgegriffen und
ihnen volle Rückendeckung gegeben. Man sage, dass seine Spionageorganisa­
tion heute über Agenten in der ganzen Welt verfüge. Seine Organisation sei in
Zukunft eine Gefahr, denn er habe seine Leute in allen wichtigen Institutionen
Westdeutschlands. Dieses Netzwerk diene im Untergrund dazu, ehemalige
Nazis abzudecken. Gehlen selbst, so werde berichtet, strebe keinen politischen
Einfluss an, sondern wolle der Geheimdienstchef einer Europaarmee werden.
Die Exnazis und höheren Offiziere in seiner Org seien politisch ehrgeiziger und
von ihnen drohe die eigentliche Gefahr.346
Ohne Zweifel, Gehlen hatte an der vermeintlichen Schwelle zur Übernahme
in deutsche Dienste Widersacher und misstrauische Gegner. Besonders absurd
war die noch von dem damals gerade verstorbenen ehemaligen Geheimdienst­
chef Himmlers, Walter Schellenberg, verbreitete Behauptung, Gehlen habe
»mit dem Osten« gearbeitet, was aber immerhin Critchfield dazu veranlasste,
gemeinsam mit Herre und Wessel Argumente zu sammeln, um diese kühne
These Schellenbergs zu widerlegen.347
Glaubwürdiger war ein anderer politischer Gegner. Expanzergeneral
Schwerin hatte vor zwei Jahren seinen Beraterposten beim Bundeskanzler
verloren, wobei Gehlen eine gewisse Rolle gespielt hatte. Schwerin betätigte
sich aber als Mahner im Hintergrund. Ihn traf am 19. Mai 1952 Hans Speier, ein
US-Soziologe deutscher Herkunft.348 Als Deutschlandexperte der Regierung in
Washington und Direktor der Sozialwissenschaftlichen Abteilung der RAND
Corporation, einer wichtigen »Denkfabrik«, beschäftigte er sich damals mit
dem Problem des Militarismus und der Soziologie des Krieges. Schwerin, der
als Mann der Briten galt, beklagte sich über die Doppelgleisigkeit der Ameri­
kaner. Sie bemühten sich einerseits, die Demokratie in Westdeutschland auf­
zubauen, und unterstützten andererseits die alten militärischen Gruppen und

345 Auszug aus einem Debriefing vom 7.7.1952, NA Washington RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol l_20F3, S. 51.
346 Chief Bonn, Bemerkungen zu seiner Fallakte, 27.8.1952, ebd., S. 52, 54.
347 Eintrag 16.7.1952, BND-Archiv, N 1/5.
348 Hans Speier: From the Ashes of Disgrace. A Journal from Germany 1945–1955, Amherst
1981, S. 151-153.

777
Cliquen. Schwerin, der selbst dem alten Soldatenadel angehörte, verwies auf
das Beispiel der Organisation Gehlen, in der 1500 ehemalige Offiziere, davon
800 frühere Stabsoffiziere, beschäftigt würden, wie er angab. Darunter seien
viele Opportunisten und jüngere Offiziere, die nichts anderes als die NS-Zeit
kennen würden, verbunden durch eine starke Solidarität untereinander und
den brennenden Ehrgeiz, in einer künftigen Wehrmacht höhere Positionen
einzunehmen.
Neugierig geworden, bemühte sich Speier auch um ein Gespräch mit dem
geheimnisvollen General. Den Kontakt vermittelte Otto Klepper, ehemaliger
parteiloser preußischer Finanzminister (1931), später im US-Exil und nach
1945 Mitbegründer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Klepper hatte Bezie­
hungen zu Erich Dethleffsen, dem vertrauten Kriegskameraden Gehlens. Man
traf sich am 17. Juni 1952 unter konspirativen Umständen bei einer Bahnstation
nahe Oberursel. Dort wartete ein Fahrzeug, um zu einem Jagdhaus zu fahren,
das von der Org weiterhin genutzt wurde. Am Lenkrad saß eine junge Dame
(Annelore Krüger), die während der Fahrt unablässig in pommerschen Dialekt
von ihrem neuen Ford und seinem »Motörchen« sprach.349
An der Hütte angelangt, hupte sie zweimal, dann trat »Herr Schneider«
heraus. Speier bemerkte an dem netten, ungewöhnlich fein gekleideten
Gesprächspartner einen Hauch von Eau de Cologne und glasklare Augen.
Nach seiner äußeren Erscheinung hätte er der Chef einer Verkaufsabteilung
für Männerbekleidung sein können. Speier hatte den Eindruck, dass der Herr
seine Freundlichkeit nutzte, um seinen Beruf zu verbergen. Weit her konnte
es mit dessen Spionagefähigkeiten nicht sein, denn es stellte sich heraus, dass
Gehlen ihn aufgrund eines Missverständnisses nicht mit der RAND, sondern
der Rank Organisation in Verbindung brachte, dem Firmenimperium des
größten britischen Filmproduzenten Sir Arthur Rank. Womöglich hatte er der
Begegnung zugestimmt, weil er annahm, die Briten könnten sich – wie aktuell
bei seinem Vorbild Canaris – vielleicht für ein Filmprojekt interessieren, das
auch ihn zu einer Heldengestalt machen könnte.
Speier brauchte nur ein, zwei Minuten, um das Missverständnis zu klären
und Gehlen dazu zu bringen, in einer gemütlichen Runde bei Kaffee, Sand­
wiches und Erdbeerkuchen über die Feindaufklärung gegenüber der UdSSR
zu plaudern. Offen sprach er von seinen Kriegserfahrungen und wie er von
Halder ermutigt worden sei, nicht nur Fakten zu sammeln, wie es die Ameri­
kaner bevorzugten, sondern auch Einschätzungen abzugeben, was der Gegner
beabsichtigen könnte. Das sei selbst in seiner Organisation umstritten, weil
die Mitarbeiter Sorge hätten, sich schriftlich festzulegen und dabei Fehler zu

349 Ebd., S. 203.

778
machen.350 Natürlich mache jeder Fehler, aber während des Krieges habe man
stets richtiggelegen, vielleicht auch durch Zufall und Glück.
Stärker zurückhaltend äußerte sich Gehlen, der Speier nun als einen offi­
ziösen US-Vertreter einschätzte, auf die Frage nach Verhaltensmustern sowje­
tischer Politik. Er ließ sich lediglich auf ganz allgemeine Einschätzungen ein.
Im Gegensatz zu anderen Mächten seien die Sowjets darauf bedacht, ihre Risi­
ken so gering wie möglich zu halten. Um ihre Ziele zu erreichen, würden sie
in kleinen Schritten vorgehen und am Ende jeder Etappe die jeweilige Situa­
tion sorgfältig analysieren. Sie hätten stärker als andere Mächte eine globale
Perspektive, sodass eine Entscheidung in Zentraleuropa auch von den Zielen
beeinflusst sein könnte, die sie im Fernen Osten verfolgen. Als man sich im
letzten Teil des Gesprächs in allgemeinen Betrachtungen erging, sei Gehlen –
so notierte Speier in seinem Tagebuch – locker und freimütig gewesen. Die
sowjetische Mentalität sei slawisch geprägt, gegründet auf historische Traditi­
onen, modifiziert durch den Bolschewismus.
Bezüglich der Situation in Ostdeutschland meinte Gehlen, dass die Rote
Armee die Sowjetzone nur räumen würde, wenn sie dazu im Kriegsfalle
gezwungen wäre. Die Kasernierte Volkspolizei der DDR werde im Frühjahr 1953
24 voll ausgerüstete Divisionen umfassen (das war, wenn es Gehlen tatsächlich
so gesagt hat, eine maßlose Übertreibung). Ihr stünden nur zehn britische und
amerikanische Divisionen gegenüber. Erste westdeutsche Verbände würden
1954 verfügbar sein. Deshalb befürchtete er eine Gefahr für West-Berlin, dass
bereits 1953 überrannt werden könnte. Die Aufrüstung des Westens verlaufe
zu langsam. Die UdSSR könne strategisch im Raum des Schwarzen Meeres
geschlagen werden, und er betonte die politische Bedeutung des Mittleren
Ostens. Wenn es den Sowjets gelänge, Zugang zum Iran zu gewinnen, würde
die Türkei als stärkste westliche Position erschüttert werden.
Im Hinblick auf Mitteleuropa halte sich Moskau mit aggressiven Ambitio­
nen zurück, weil das Politbüro die Ausweitung zu einem langen Erschöpfungs­
krieg fürchte. Das Ausscheiden Jugoslawiens aus dem sowjetischen Einfluss­
bereich sei bereits ein schwerer Schlag. Ein schwaches Europa freilich könne
zum Krieg verleiten. Zwar würde man im Politbüro alle denkbaren Risiken
abwägen; man könnte aber vielleicht darauf setzen, einen dritten Weltkrieg in
zwei Phasen zu teilen: den Krieg in Europa und im Mittleren Osten sowie einen
Teil, einen vierten Weltkrieg, gegen die verbleibenden Mächte der westlichen
Welt zu einem späteren Zeitpunkt. Zu Speiers Überraschung brachte Gehlen
sofort die Rede auf den Einsatz von Atombomben, was er in Gesprächen mit
Generalen selten erlebte. Man dürfe ihre Bedeutung zwar nicht unterschätzen,

350 Ebd., S. 204.

779
aber letztlich könnten sie keinen Krieg entscheiden. Es würde immer notwen­
dig sein, mit Soldaten die wichtigsten Räume zu besetzen.351 Die Sowjets seien
dabei, ihre Abwehr gegen strategische Angriffe zu verstärken, aber vielleicht
gäbe es auf westlicher Seite neue Flugzeuge, die sie überwinden könnten.
1955 werde die US-Aufrüstung ihren Höhepunkt erreichen. Er, Gehlen, habe
die militärische Situation bis dahin als keineswegs sicher angesehen, aber
statt eines umfassenden Angriffs rechnete er in absehbarer Zukunft mit einer
zunehmenden politischen Kriegführung vonseiten der Sowjetunion, bei der es
im Westen an eigener Initiative mangele.
Er habe vor einigen Jahren einen Plan für das State Department entwickelt,
den »Gehlen Plan«. Darin habe er eine groß angelegte Kampagne vorgeschla­
gen, um die Menschen in den osteuropäischen Satellitenstaaten der UdSSR,
den neutralen Ländern und den europäischen Bündnisstaaten der USA davon
zu überzeugen, dass die westliche Politik allein der Sicherung und Erhaltung
des Friedens diene. Er habe außerdem einen Vorschlag, den er von einem
»Russen« erhalten habe, an die Amerikaner weitergereicht. Demnach sollten
100 Jagdflugzeuge durch den Luftkorridor nach Berlin geschickt werden, um
die amerikanische Standfestigkeit zu demonstrieren. Man könnte ihre Entsen­
dung als Manöver ankündigen oder als Begleitschutz für reguläre Kurier- und
Transportflugzeuge. Man habe seine Vorschläge abgelehnt, und er räumte
ein, dass es natürlich eine Sache wäre, solche Ideen vorzuschlagen, und eine
andere, die Entscheidungen mit allen ihren Folgen zu treffen.
Politische Kriegführung schien Gehlen ganz besonders zu interessieren,
notierte Speier.352 Er wolle nun Experten zusammenbringen, um folgendes
Problem zu lösen: Es brauche viel Zeit und Aufwand, um einen Agenten in eine
Spitzenposition beim Gegner zu bringen. Bis dahin werde der Mann freilich
über Jahre dem Einfluss der sowjetischen Propaganda und Ideologie ausge­
setzt. Die Frage sei, wie man ihn dagegen immunisieren könnte?
Beim Thema der deutschen Wiederbewaffnung zeigte sich Gehlen zuver­
sichtlich, dass man genügend qualifiziertes Personal finden werde. Dafür
müssten allerdings zuerst die angeblichen Kriegsverbrecher entlassen wer­
den. Solange ein Mann wie Manstein im Zuchthaus sitzen müsse, werde er
selbst keine Uniform anziehen. Manstein sei unschuldig (er wurde ein Jahr

351 Mit dieser Bemerkung Gehlens äußerte sich das westdeutsche Interesse an einer Stär­
kung der konventionellen Kräfte und dem Aufbau einer eigenen Armee, um nicht allein
auf die nukleare Abschreckung zu setzen. Siehe hierzu allgemein Bruno Thoß: NATO-
Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr
unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952-1960,
München 2006.
352 Ebd., S. 208.

780
später entlassen). Gehlen meinte, dass man die Verurteilten doch wegen guter
Führung entlassen könnte, um eine Aufhebung der Urteile zu umgehen – eine
Idee, die Speier überraschte, weil damit die Ehre der Generale nicht wieder­
hergestellt sein würde. Denn entweder seien sie tatsächlich unschuldig, dann
müssten auch die Urteile aufgehoben werden, oder sie hätten sich schuldig
gemacht, dann hätten die Urteile Bestand. Gehlen zeigte sich unberührt von
der moralischen Seite des Problems. Es sei wohl für ihn charakteristisch gewe­
sen, dachte Speier, dass er an eine politisch praktikable Lösung dachte und
dabei das Prestige der Westmächte berücksichtigte.
In dem Gespräch habe Gehlen keinerlei Kritik am früheren deutschen
Generalstab zugelassen, auf den er ungewöhnlich stolz sei. Er kritisierte weder
die deutsche Strategie noch das Offizierskorps. Zum Schluss kam man auf den
20. Juli zu sprechen. Hier unterschied Gehlen zwischen einem ehrhaften Hoch­
verrat und einem gemeinen Landesverrat, wobei er vor allem an den Fall des
hingerichteten Hans Oster dachte (dessen Sohn Achim nun im Amt Blank Geh­
lens Gegenspieler war). Gehlen bot beim Abschied an, das Gespräch als ver­
traulich zu betrachten und nicht der »agency« zu melden. Einige Tage später
jedoch wurde Speier von einem amerikanischen Offiziellen befragt, warum er
den schwer fassbaren General getroffen habe, was doch bisher außerhalb der
offiziellen Kanäle niemandem gelungen sei.
Speier war also durch sein vorangegangenes Gespräch mit dem Gehlen-
Feind Schwerin auf die Nazis in der Org hingewiesen worden. Die Briten frei­
lich wollten die Gefährlichkeit der Org nicht so sehr in der Tätigkeit ehema­
liger Nazis sehen, sondern in den Ambitionen Gehlens, einen allmächtigen
Geheimdienst zu schaffen. Der vom britischen Hochkommissar eingesetzte
Beauftragte für den künftigen deutschen Geheimdienst meinte, dass die Orga­
nisation Gehlen gegenwärtig eine quasiministeriale Sammelagentur für militä­
rische Fragen und zugleich ein Geheimdienst sei. Besser wäre eine Dreiteilung
unter dem fachlichen Leiter des Geheimdienstes, dem Leiter des Bundesver­
fassungsschutzes und einem Äquivalent im Verteidigungsministerium. Diese
würden einem jeweils anderen Minister unterstehen, und wenn die Minister
mit der Regierung wechselten, blieben die Leiter und sicherten die Kontinuität
und Effizienz. Die Koordinierung könnte in einem Komitee erfolgen, eventuell
unter dem Vorsitz des jeweiligen Vizekanzlers.353
Die britischen Vorstellungen, die der späteren Entwicklung sehr nahe
kamen, störten Gehlen im Sommer 1952 nicht weiter. Seine Sorge richtete sich
auf Paris. Bei den dortigen Verhandlungen um den Geheimdienst einer künfti­

353 Memorandum des Deputy Commander for High Commissioner on Future German
Intelligence Service, 7.7.1952, The National Archives, Kew, Ref. DEFE 41/119.

781
gen Europaarmee hatte er für Wessel eine Führungsposition im Interesse der
Org einbringen wollen. Anlässlich eines Besuchs bei Speidel in Fontainebleau
bei Paris erfuhr Wessel jedoch, dass es keine klare politische Abstimmung zwi­
schen der deutschen und der französischen Regierung gab. Die Position des
Ic im Stab der Europaarmee werde erst im nächsten Frühjahr zur Sprache
kommen.354 Gehlen war also gut beraten, seine Kontakte zum französischen
Geheimdienst spielen zu lassen, um selbst einen Kompromiss anzusteuern.
Angedacht wurde, die Abteilung Sicherheit einem Franzosen zu überlassen und
für die Bearbeitung der Feindlage einen Deutschen (Wessel) einzusetzen.355
Wie gut sich Wessel auf die komplizierte politische Lage einzustellen ver­
stand und sich dabei auch von seinem Förderer Gehlen entfernte, zeigt seine
Ausarbeitung »Gedanken zur Frage des Nachrichtendienstes«. Sie sollte als Ent­
scheidungshilfe nach außen (Paris) und innen (Kanzler) dienen.356 Hier führte
Wessel aus, dass die nachrichtendienstliche Beschaffung auch künftig eine
nationale Aufgabe bleiben werde. Dies könne einheitlich gesteuert werden (wie
Gehlen es anstrebte), es seien aber auch mehrere Organisationen denkbar. Aus
machtpolitischen Gründen sei die Zusammenfassung in einer Hand allerdings
nicht erwünscht. Außerdem sei zu bedenken, dass die Bundesrepublik vorerst
über keine eigenen Truppen verfüge und deshalb auch offiziell keinen eigenen
militärischen Nachrichtendienst beanspruchen könne. Auch der Bereich der
Kommandounternehmungen, für den zum Beispiel die Briten eigene Truppen
unterhielten und den Gehlen für Friedenszeiten ausschloss, müsse zumindest
für den Kriegsfall auch auf deutscher Seite vorbereitet werden.
Die Auswertung stelle ein besonderes Problem dar. Das nationale Vertei­
digungsministerium müsse die Aufträge erteilen und brauche eine speziali­
sierte Auswertung, was von den Anhängern der Idee eines Einheits-Nach­
richtendienstes gern übersehen werde. Es brauche aber natürlich auch eine
Gesamtauswertung. Für die EVG werde es zwar einen Ic-Dienst geben, aber
eine brauchbare Lösung sei notwendig, um die Unterrichtung der Staats­
führung durch den Verteidigungsminister zu gewährleisten. Ein Über- und
Einheitsnachrichtendienst sei abzulehnen, ebenso das Nebeneinander ver­
schiedener Nachrichtendienste. Schließlich brauche der Verteidigungsminis­
ter eine eigene kleine Beschaffungsorganisation zur Gegenkontrolle und für
Sonderaufträge. In keinem Land der Welt, selbst in der UdSSR nicht, sei ein
Einheitsnachrichtendienst geschaffen worden. Wessel plädierte deshalb für
die Personalunion eines Ic im Verteidigungsministerium mit dem Chef der

354 Reise Wessels nach Paris 23. – 27.7.1952, BND-Archiv, N 1/5.


355 Gespräch zwischen Gehlen, Wessel und Speidel bei dessen Besuch in Pullach, 12.8.1952,
BND-Archiv, 4316.
356 Ausarbeitung Wessels, 2.8.1952, BND-Archiv, N 1/5, S. 175–182.

782
Vorauswertung innerhalb der zivilen nachrichtendienstlichen Organisation.
Die Endauswertung müsse dann im Verteidigungsministerium erfolgen.
Wessel ließ damit erkennen, dass ihm nicht an einer Verwendung bei der
NATO in Paris lag, sondern in einem künftigen Bonner Verteidigungsministe­
rium, möglichst unter Beibehaltung seiner Position als Chef der Auswertung in
Pullach. Es war der erkennbare Versuch, sich zumindest teilweise von Gehlen
zu lösen und vielleicht der künftige »Canaris« im militärischen Bereich zu wer­
den. Wenn Gehlen auch gegenwärtig die Militäraufklärung vernachlässigte,
um sich auf die Durchsetzung seiner politischen Bestrebungen zu konzentrie­
ren, so würde er doch für den künftigen Bundesnachrichtendienst nicht auf die
militärische Komponente verzichten wollen und können. Deshalb überwand
er seine Zurückhaltung und lud Blank zu einem Besuch in Pullach ein, wo man
ihn – nebst Mittagessen im Führungskreis der Org – durch Lagevorträge der
Abteilung Auswertung zu beeindrucken versuchte.357
Zwei Wochen später war über Heusinger zu erfahren, dass der CSU-Gene­
ralsekretär Franz Josef Strauß beabsichtige, Blank zu stürzen, vom Kanzler
aber gleichsam hinausgeworfen worden sei.358 Strauß, dem man nachsagte, er
strebe ein Ministeramt an, bemühte sich daraufhin mehrfach um einen Ter­
min bei Gehlen. Dieser genehmigte zunächst eine »Fühlungnahme« in drei
Etappen. Bei einer Vorbesprechung übermittelten die Mitarbeiter von Strauß,
dass dieser die Organisation des »Dr. Schneider« zwar sehr hoch einschätze,
aber zwei negative Punkte bemängele. Zum einen die Persönlichkeit von Geh­
len selbst, die nach Mitteilung, die Strauß erhalten habe, »charakterlich etwas
beschattet« sei. Zum anderen betreibe die Org eine Bespitzelung deutscher
Politiker, die sich »sogar auf Schlafzimmergeheimnisse und ähnliches erstre­
cke«. Dabei werde auch eine Post- und Telefonüberwachung durchgeführt.
Strauß wiederholte in einem weiteren Vorgespräch diese Einschätzung und
kündigte an, dass er den Bundeskanzler an seinem Urlaubsort in der Schweiz
aufsuchen und die Entlassung von Blank, Kielmansegg und Oster durchsetzen
wolle. Danach wolle er Gehlen kennenlernen und ließ durchblicken, dass er
in der Lage sei, die Legalisierung der Org durchzusetzen und die notwendige
Finanzierung sicherzustellen.359
Auf einen solchen potenziellen Verbündeten wollte Gehlen lieber verzich­
ten. Nach Warnungen aus Bonn hielt er sich hinter Globke verborgen. Nach

357 Eintrag vom 11.8.1952, BND-Archiv, 4316.


358 Eintrag vom 28.8.1952, ebd.
359 Aktennotiz von 35 (Wolf von Kahlden) betr. Besprechung CSU-Abgeordneter Strauß mit
Dr. Gallwitz, 8.8.1952, BND-Archiv, 104054, S. 169-172. Zum Hintergrund siehe Horst
Möller: Franz Josef Strauß, München 2015, S. 136-142. Seine Haltung zu Gehlen wird
hier nicht erwähnt.

783
Gehlens Eindruck gehörte Strauß außerdem zu dem Kreis um Josef Müller, den
er als sowjetisches Werkzeug einschätzte – was natürlich purer Unsinn war.360
Strauß zeigte sich angeblich sehr enttäuscht über das Nichtzustandekommen
eines Gesprächstermins. Er brauche keine Erlaubnis dafür, denn er sei nur dem
Parlament verantwortlich. Eine baldige Fühlungnahme sei im Übrigen auch im
Interesse des Kanzlers. Es gebe gewisse Kreise, die ihn, Strauß, dazu drängten,
gegen Gehlen vorzugehen, was aber nicht im nationalen Interesse läge.361 Es
war der Beginn einer spannungsreichen Beziehung, die Gehlen ein Jahrzehnt
später während der Spiegel-Affäre fast das Amt kostete.
Anfang September 1952 meldete sich Speidel aus Paris mit einem Plan der
französischen Delegation, eine gemeinsame Abteilung Sicherheit im Militär­
ausschuss der EVG zu schaffen, was auf eine absolute Konzentration des mili­
tärischen Nachrichtendienstes hinauslief.362 Gehlen war bereit, die Entschei­
dung Blank zu überlassen, wen dieser nach Paris schicken würde, und dachte
dabei an Oberst Stephanus, derzeit sein Referent für die militärpolitische Lage­
bearbeitung. Wessel sondierte persönlich in Bonn und fand dort bei Bogislaw
von Bonin im Amt Blank Übereinstimmung darüber, die Remilitarisierung und
Europäisierung mit Maß zu betreiben. Heusinger sah die Frage der Ic-Position
noch nicht als spruchreif an. Wessel sollte vielleicht erst einmal auf Zeit nach
Paris gehen.363 Offiziell trat dieser zum 6. Oktober 1952 zum Amt Blank über.
Es war der Beginn einer erfolgreichen militärischen Karriere, die ihn 16 Jahre
später zur Nachfolge Gehlens führte und zum zweiten Präsidenten des BND
machte.
Ebenso schleppend wie die Durchsetzung seiner Interessen in Bonn verlie­
fen auch die klärenden Gespräche Gehlens mit Critchfield. Er hoffte, bald nicht
mehr auf die CIA angewiesen zu sein, brauchte aber ein tragfähiges Verhältnis
für die Übergangszeit, deren Ende nicht absolut sicher absehbar war. Da muss
für ihn die erneute verdeckte Kritik an seiner militärpolitischen Berichterstat­
tung und Lagebeurteilung ärgerlich gewesen sein. CIA-Chef Bedell Smith ließ
über Critchfield mitteilen, dass der letzte Bericht über die sowjetischen Streit­
kräfte in Deutschland von beträchtlichem Wert sei.364 Er werde vielfach durch

360 Gespräch Gehlens mit Critchfield, 4.11.1952, Memo vom 6.11.1952, NA Washington RG
319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S.61.
361 Interne Notiz für Globke (vermutlich von Gehlen, der sich hier auf einen Mittelsmann
beruft), 13.10.1952, VS-Registratur Bka, Bk 1:15100(64) Bd. 1, Blatt 56–57.
362 Einträge 4. u. 10.9.1952, BND-Archiv, N 1/5.
363 Einträge 13. u. 25.9.1952, ebd.
364 Memo Critchfields vom 16.9.1952 betr. Evaluierung des Berichts an General Bedell
Smith »Description and Estimate of the Situation in the Eastern Bloc in 1952«, BND-
Archiv, 1112, Blatt 542–543.

784
andere Meldungen bestätigt (was auch daran erinnerte, dass die Amerikaner
nicht gänzlich auf Pullach angewiesen waren). Die Information über die sowje­
tische order of battle in Rumänien sei aber irgendwie unstimmig. Die Differenz
zu den US-Erkenntnissen über die Dislozierung variiere gewaltig. Es folgte eine
lange Liste von Feldern, wo detaillierte Informationen gewünscht wurden.
Der zuständige Sachbearbeiter Stephanus, einer der zuverlässigsten Mitar­
beiter Gehlens seit 1945, beklagte intern, dass er zwar die militärischen Fak­
ten eruieren und bewerten könne, die Einschätzung der politischen Lage aber
von Kräften und Strömungen abhängig sei, die meistens nicht als Fakten zu
erkennen seien. Militärische und politische Lagebeurteilung müssten eigent­
lich unter Anleitung der Führung zusammengeführt werden. Das sei eine
unabdingbare Voraussetzung für jede zuverlässige Prognose. Bisher werde
nur über Teilgebiete diskutiert. Für das »unablässige und trotzdem gänzlich
ergebnislose Ringen, das um diese Arbeiten geführt wurde, bis es als nutzlos
eingestellt« wurde, zeichneten sich keine Ansätze ab, die Anlass zu irgendeiner
Hoffnung gäben.365
Gehlen hatte die kniffligen methodischen Fragen des CIA-Chefs zur Lage­
beurteilung und Prognose der sowjetischen Militärpolitik weitgehend umgan­
gen. Auch jetzt führte er in seiner zweiten Stellungnahme für Bedell Smith
zunächst nur aus, dass mit einer baldigen Ratifizierung der Westverträge zu
rechnen sei.366 Dann werde auch die Zeit kommen, die Org unter deutsche
Hoheit zu bringen. Er versichere seine Dankbarkeit für die erhaltene Unter­
stützung in den vergangenen Jahren. Auch auf längere Sicht würden die USA
und Deutschland eng zusammenarbeiten müssen, um dem sowjetischen Welt­
herrschaftsanspruch zu begegnen.
Da er wisse, dass in der CIA ebenfalls über die künftige Kooperation nach­
gedacht werde, sei es vielleicht nützlich, eine schriftliche Stellungnahme zu
haben, die den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen bilden könnte. In
Übereinstimmung mit der deutschen Regierung könne er versichern, dass die
USA auch in Zukunft alle Informationen der Org über den Ostblock erhalten
würden. Die Zukunft der freien Welt hänge von der Realisierung eines starken
europäischen und westlichen Verteidigungssystems ab. Die sowjetischen Füh­
rer würden diesen Prozess aufmerksam beobachten, wie alle Reden auf dem
19. Parteikongress gezeigt hätten. Moskau werde versuchen, einen Keil zwi­
schen Deutschland und die USA sowie zwischen Paris und London zu treiben.

365 Stephanus, Lagebeurteilung politisch-militärisch, Europa und die Welt, 10.10.1952,


BND-Archiv, N 21/1.
366 Schreiben Gehlens an General Bedell Smith, 10.10.1952, BND-Archiv, 1112, Blatt 544–
545.

785
Soweit wusste Gehlen nicht mehr zu sagen als die führenden Kommenta­
toren in der westlichen Presse. Also musste er seine Ausführungen gegenüber
dem CIA-Chef etwas mit geheimnisvollen Andeutungen würzen.

I believe that we are now entering a dangerous period in the field of inter­
national relations. The activities of my organization have uncovered some
indications which could suggest that the Russians, in order not to miss the
propitious moment, might consider military action in Europe. One should
not be unduly alarmed by such a suggestion, but we must be cautiously reali­
stic. My basic opinion, however, that no war is in sight for the next few years,
remains the same for many reasons.367

Die nächsten Wochen würden die Situation spürbar klären. Vielleicht könnte
er in etwa einem Monat eine deutlichere Meinung über die Zukunft abgeben
und auch die von Bedell Smith aufgeworfenen Fragen besser beantworten.
Damit hatte Gehlen etwas Zeit gewonnen.
Dafür hatte ihn Globke aufgefordert, dringend nach Bonn zu kommen. Die
SPD plante eine Interpellation im Bundestag zu den anderen deutschen Orga­
nisationen, die von den Amerikanern für Spionagezwecke eingesetzt wurden,
insbesondere dem Bund Deutscher Jugend (BDJ). Eine Sonderabteilung hatte
im Odenwald Waffenübungen abgehalten, um künftige Partisanenkämp­
fer auszubilden.368 Ein Vorgespräch mit Ollenhauer wäre natürlich gut, aber
schwierig, weil nicht der Eindruck entstehen sollte, dass Gehlen nach der BDJ-
Angelegenheit »um gut Wetter bittet«.369 Gehlen hielt die ganze Aufregung für
eine »Mache der Briten«.
Die Org war auf den BDJ für den Fall eines Krieges nicht angewiesen. Mit
ihren seit Jahren laufenden Vorbereitungen für den Ernstfall hatte die Org
inzwischen ein neues Stadium erreicht. Die Gruppe 34 mit einer Außenor­
ganisation von 24 hauptamtlichen Mitarbeitern hatte die Grundlagen für ein
Räumungsnetz (»STORCH«) geschaffen. Der Gedanke dabei war, »auf ideeller
Basis« im ganzen Bundesgebiet »Gespanne« von zwei Menschen zu bilden, die
im Ernstfall als Erkunder dienen sollten. Ohne einander zu kennen, sollten sie
über einen »toten Briefkasten« kommunizieren. Dazu würden einzelne Stütz­
punkte von vier bis sechs Menschen kommen, die über Funkgeräte, Verschlüs­
selungsmittel, hochwertige Nahrungsmittel, Arzneien usw. verfügten, um vom

367 Ebd., Blatt 545.


368 Aktennotiz für Besprechung mit »Theodor« (DN) am 3.10.1952, BND-Archiv, 4316.
369 Aktennotiz über das Gespräch Gehlen-Critchfield am 16.10.1952, BND-Archiv, 1173.

786
Feind verfolgte V-Leute aufzunehmen und weiterzuleiten oder durch Luftver­
sorgung zugeführte Geräte und V-Leute weiterzuschleusen.370
Neben der Vorsorge für eine Nachrichtenübermittlung aus vom Feind
besetzten westdeutschen Gebiet kümmerte sich Gehlen darum, endlich die
lange geplante Auslagerung von Basismaterial anzugehen. Anders als zu
Beginn des Jahres 1945 dachte er jetzt nicht an heimliche Vergrabungen von
Akten und Mikrofilmen. Die Eröffnung der Deutschen Botschaft in Madrid
gebe die Möglichkeit, eine langfristige Auslagerung vorzunehmen, die mit
einer notwendigen Aufsicht, Sicherheit und jederzeitigem Zugriff ausgestattet
sei. Damit könne man verhindern, dass bei einem überraschenden Ernstfall die
Unterlagen nicht vollständig mitgeführt werden könnten oder unterwegs ganz
bzw. teilweise vernichtet werden müssten.371
In seinem »Mehrfrontenkrieg« zur Sicherung und Legalisierung der Org
entwickelten sich auch im Herbst 1952 die Ereignisse aus Gehlens Sicht wieder
einmal turbulent. Wessel, der sich darauf vorbereitete, die Leitung der Abtei­
lung Auswertung an Herre zu übergeben und als Ic bzw. G-2 (NATO-Bezeich­
nung) nach Bonn zu wechseln, sprach am Jahresende davon, es liege Dunkel­
heit über der Zukunft der Org.372 Der schleppende Ratifizierungsprozess für
die Deutschlandverträge dämpfte tatsächlich Gehlens Zuversicht, bereits im
nächsten Frühjahr die Legalisierung der Org erreichen zu können. Die Situa­
tion zwang ihn einerseits zur fortwährenden Auseinandersetzung mit der
amerikanischen Seite um eine schrittweise Lösung der bisherigen Bindungen,
ohne die Geduld in Washington über Gebühr zu strapazieren; andererseits
musste er sich mit den wiederkehrenden Pressekampagnen und Gerüchten
im politischen Raum auseinandersetzen, die ihn und seine Org ins Zwielicht
stellten und damit die angestrebte Übernahme in den Dienst für den Kanzler
hintertrieben.
Deshalb war es ihm wohl ein Bedürfnis, in einem offiziellen Aide-Memoire
für Critchfield seinen Standpunkt über das Verhältnis der Org zur US-Seite
noch einmal festzuhalten und zu seinen Gunsten auszubauen.373 Gebetsmüh­
lenartig wiederholte er in einem historischen Rückblick die Stationen der
Zusammenarbeit aus seiner Sicht. Nach dem derzeitigen Stand gebe es eine
Übereinstimmung, im Anschluss an die Ratifizierung der Deutschlandverträge

370 Notiz über die Vorbereitung eines Räumungsnetzes, 20.10.1952, BND-Archiv, 1110,
Blatt 357-359. Siehe ausführlich Keßelring, Die Organisation Gehlen.
371 Anweisung Gehlens an Leiter 35 (Wessel), 23.10.1952, BND-Archiv, Film 120299_458.
Allerdings musste die Aktion dann doch bis zur Legalisierung der Org warten; Akten­
notiz für die Besprechung mit Gumbel, 31.5.1954, BND-Archiv, 1110, Blatt 482.
372 Weihnachtsansprache Wessels in seiner Abteilung, 23.12.1952, BND-Archiv, N 1/5.
373 Aide-Memoire Gehlens für Critchfield, 20.10.1952, BND-Archiv, 1112, Blatt 546-551.

787
die Org als Ganzes unter die Jurisdiktion der Bundesregierung zu stellen. Des­
halb fühle er sich schon jetzt hinsichtlich der Führung der Org gegenüber dem
deutschen Bundeskanzler allein und voll verantwortlich!
Das mochte Gehlen intern gegenüber seinen deutschen Mitarbeitern zur
Geltung bringen, schmälerte allerdings kaum seine andauernde Verpflich­
tung zur Loyalität gegenüber den amerikanischen Auftraggebern. Und diese
verfolgten stets ihre eigenen Interessen, auch wenn man darüber in der mit
US-Steuergeldern bezahlten Org manchmal irritiert reagierte. Das betraf zum
Beispiel die Funkaufklärung, auf die Pullach so stolz war. Präsident Truman
verfügte am 24. Oktober 1952 in einem Geheimdekret die Gründung der Natio­
nal Security Agency (NSA), eines eigenständigen Geheimdienstes für Funkauf­
klärung. Bislang hatte die Org keine Erlaubnis, Funkaufklärung gegenüber den
Satellitenstaaten zu betreiben. Bereits im vergangenen Jahr hatten die Ameri­
kaner versucht, eine parallele Funkaufklärung aus deutschen Fachleuten auf­
zubauen, dann aber zugesagt, nicht mehr als die Funkstelle in Lauf an der Peg­
nitz zu betreiben. Als Gehlen die Nachricht erhielt, dass die Amerikaner ihre
Geräteausstattung in Lauf erweiterten und Verbindung mit dem Amt Blank
aufnahmen, wandte sich Gehlen in dieser Sache an Globke.374 Sofern der Herr
Bundeskanzler seine Auffassung unterstütze, dass Funkaufklärung ein Teil des
künftigen BND sein müsse, werde er gegenüber den USA die Forderung stellen,
die Horchstelle Lauf schon jetzt zu übergeben.
Gehlen erkannte die Gefahr, dass über eine Angliederung an das Amt Blank
die künftige EVG dieses Aufklärungsmittel aus dem deutschen Einfluss heraus­
ziehen könnte. Er setzte deshalb drei Monate später nach und wies Globke dar­
auf hin, dass anscheinend beabsichtigt sei, im Rahmen der EVG eine Funkauf­
klärungsorganisation unter starker deutscher Beteiligung zu schaffen.375 Diese
Entwicklung liege nicht im deutschen Interesse. Er bat um entsprechende
Anweisung an die Dienststelle Blank. Es galt, den Vorschlag zu verzögern. Die
Funkaufklärung könne auch nicht mit ihrem militärischen Anteil an die EVG
abgegeben werden, sondern müsse in der Hand des geheimen Meldedienstes,
das heißt der Org, bleiben. Er wusste, dass die Funkaufklärung seine zuverläs­
sigste Trumpfkarte gewesen ist. Allein mit den Humint-(Human-Intelligence-)
Instrumenten wäre er durch andere Konkurrenten leicht zu übertrumpfen, die
technischen Aufklärungsmittel verschafften ihm ein Alleinstellungsmerkmal
und scheinbar objektive Informationen.

374 Vortragsnotiz Gehlens für Globke betr. Funkaufklärung, 28.11.1952, BND-Archiv, 1110,
Blatt 362-367. Siehe hierzu Müller, Wellenkrieg.
375 Vortragsnotiz Gehlens für Globke betr. Funkaufklärung, 11.2.1953, BND-Archiv, 1110,
Blatt 394-396.

788
Der CIA-Chef versuchte die zukünftige Zusammenarbeit abzustecken. Bei
einem Besuch von General Mellenthin, Gehlens Stellvertreter, in Washington
schlug dieser vor, »Stay Behind« künftig nur mit Zustimmung der Bonner
Regierung zu organisieren. Die Org würde dafür die Hauptlast tragen – ein
Ausdruck der zurückgewonnenen deutschen Souveränität. Bedell Smith inte­
ressierte sich für näherliegende Aspekte. Er bestand auf genaueren Einblicken
in die Nahost-Operationen der Org, schon um Überschneidungen und dop­
pelte Kosten zu vermeiden. Er gab sogar sein Ehrenwort, dass die Amerika­
ner bei Kenntnis einer einheimischen Quelle nicht versuchen würden, diesen
deutschen Agenten zu kaufen.376
Gehlen legte Wert darauf, solche Arrangements künftig auf höchster
Ebene zu besprechen. In einem Schreiben an Bedell Smith bedankte er sich
für einen Brief von Allen Dulles, den Critchfield überliefert hatte.377 Er habe
bei dieser Gelegenheit mit ihm und General Truscott die wichtigsten Prob­
leme einer künftigen Zusammenarbeit diskutiert. Gehlen gab sich optimis­
tisch, dass ein deutscher Nachrichtendienst bereits in allernächster Zukunft
geschaffen werde. Das werde zu einer andauernden guten Zusammenarbeit
fuhren. Nun müssten zufriedenstellende Abmachungen getroffen werden, um
die Beziehungen ohne Unterbrechung fortzusetzen und auszuweiten. Er habe
bereits mit Critchfield gemeinsame Interessen identifiziert, die außerhalb des
Rahmens der gegenwärtigen Produktion von Nachrichten über den Ostblock
liegen. Seine eigenen Auffassungen zum Intelligence War Planning und den
Beziehungen zu anderen befreundeten Ländern habe er Critchfield mitgeteilt,
hoffe aber, dass Bedell Smith in den nächsten Monaten bei einem Besuch in
Deutschland Gelegenheit habe werde, gemeinsam über eine Reihe von The­
men zu sprechen.
Im Hintergrund zeigten sich Herre und Mellenthin zur gleichen Zeit einig,
dass die Lage geprägt sei von der Enttäuschung Critchfields, dass sich Pull­
ach von den US-Partnern zurückziehe, obwohl er doch wirklich großzügig
sei; auf der anderen Seite aber schimpfe Gehlen wüst über die Amerikaner,
etwa gegenüber »Klausner« (Kurt Kohler) – »Sagen Sie Mr. Evans, er wäre so
doof, daß Sie nicht mehr mit ihm verhandeln« – oder »Hobel« (Leo Hepp) und
Herre – »Springen Sie dem kleinen Pinscher, dem Marshall [also Critchfield],
mit dem Arsch ins Gesicht«.378 Es waren offensichtlich Übersprungsakte Geh­

376 Memorandum for the record vom 12.11.1952; in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. 2, S. 413-
418.
377 Memorandum von Richard Helms, Deputy Director Operations, Plan, 20.11.1952, NA
Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen, vol.l_20F3, S. 65.
378 Vortragsnotiz von Herre über ein Gespräch mit Mellenthin, 21.11.1952, BND-Archiv,
4316.

789
lens, der so wichtige politische Verhandlungen in Bonn zu fuhren hatte, dass
ihm die amerikanischen Aufpasser in Pullach lästig erscheinen mochten, Aus­
druck vielleicht auch einer gewissen Hilflosigkeit, da ihn seine Untergebenen
drängten, sich auch in alltäglichen Dingen um eine Klärung mit der Gegenseite
zu bemühen.
Er zog es vor, in höflichen Formen höheren Orts gutes Wetter zu machen.
Neben Bedell Smith bedachte er auch dessen Berater Allen Dulles mit einem
persönlichen Schreiben zum Jahresende. Man werde die übliche Weihnachts­
feier haben. Alles laufe routiniert. Man habe nur ein Problem, das Budget, und
hoffe, dass es noch im Dezember erledigt werde. »Vergessen Sie nicht, uns zu
besuchen, wenn Sie eines Tages wieder in Deutschland sein werden.«379 Nach
einem ergebnislosen Gespräch mit Critchfield entwarf Gehlen ein persönliches
Schreiben an seinen amerikanischen Konterpart in Pullach.380 Im Allgemeinen
laufe die Zusammenarbeit mit den US-Vertretern und den »opposite numbers«
auf deutscher Seite ganz gut. Er habe in den vergangenen Jahren manchen
Dingen zugestimmt, nur um den guten Willen zu zeigen, obwohl sie nicht der
deutschen Auffassung entsprochen hätten. Es bestehe aber kein Zweifel, dass
bei einer Übernahme durch die deutsche Regierung vieles anders gemacht
werden werde. Die Arbeitsmethoden der Nachrichtendienste seien eben völlig
unterschiedlich. Das amerikanische Projektverfahren habe ihm in den letzten
Jahren praktisch die Hände gebunden, sodass er sich ganz darauf konzentriert
habe, die Frage der Überführung der Org voranzubringen. Gehlen schlug vor zu
überlegen, ob nicht die US-Seite angesichts der Tatsache, dass die Überführung
in einigen Monaten anstehe, schon jetzt der Org großzügig freiere Hand geben
könnte, insbesondere durch Abschaffung des Opposite-number-Systems381
sowie eine erhebliche Verkleinerung des US-Stabes. Er verzichtete dann aller­
dings in der vorweihnachtlichen Stimmung darauf, den Brief an Critchfield zu
übergeben und diesen zu einem Teilrückzug aus Pullach zu drängen, der nur
in Washington entschieden werden konnte.
Von dort kamen am Jahreswechsel lediglich freundlich-diplomatische
Worte. General Bedell Smith bedankte sich für Gehlens Zusicherung einer
künftigen Zusammenarbeit.382 Solange der Kalte Krieg andauere, müssten
beide Organisationen eng kooperieren. Gehlen sei nun einmal näher an der
Frontlinie. Deshalb wünsche er sich eine weitere Stärkung der Org, die eine

379 Schreiben Gehlens an Allen W. Dulles, 2.12.1952, NA Washington RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 64.
380 Schreiben Gehlens an Critchfield, 12.12.1952, BND-Archiv, 1112, Blatt 554-556.
381 Den deutschen Sachbearbeitern in Pullach war jeweils ein zuständiger CIA-Mann zuge­
ordnet, sodass die Amerikaner eine sehr enge Kontrolle in der Org ausüben konnten.
382 Brief von Bedell Smith an Gehlen, 30.12.1952, ebd., Blatt 557.

790
Speerspitze in gewisse Richtungen sein werde. Er habe mit besonderem Inte­
resse Gehlens Einschätzungen der sowjetischen Fähigkeiten und Absichten
gelesen. Sie klängen sehr vertraut. Er möge auch künftig seine Meinung dazu
äußern. Das sei von hohem Wert.
Es fanden sich immer wieder Gelegenheiten, die Gehlen dazu zwangen, die
Amerikaner um Unterstützung anzugehen, auch wenn er damit seine Abhän­
gigkeit von den USA zugeben musste. Dazu gehörten die Vorbereitungen für
den E-Fall (Emergency-Fall), angesichts seiner eigenen Annahme erhöhter
Kriegsgefahr in den nächsten zwei Jahren unumgänglich, bei seinem Trauma
von 1945 aber wohl auch ein sehr persönliches Anliegen. Anfang 1952 erhielt
er, wie er Critchfield mitteilte, den Auftrag aus Bonn, für die Bundesregierung
entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Deshalb wünschte er eine Bespre­
chung mit Stewart, dem CIA-Chef für Deutschland, um über Politik und Stel­
lung der Org im Kriegsfall zu verhandeln. Dabei sei zu berücksichtigen, dass
die Org eine deutsche Einrichtung sei, die in diesem Fall aber noch enger mit
den USA zusammenarbeiten müsse. Eine Unterstellung unter die NATO müsse
unbedingt verhindert werden.383
Critchfield hielt eine Ratifizierung des EVG-Vertrags wegen der französi­
schen Haltung für zweifelhaft. Umso wichtiger erschien es ihm, herauszufin­
den, wie sich die Deutschen im Kriegsfall auch ohne eigene Armee zur Wehr
setzen würden. Wie stand der Bundeskanzler und damit auch Gehlen zur Vor­
bereitung einer Widerstandsbewegung, fragte er. Gehlen lehnte den Gedanken
rundweg ab. In einem späteren Stadium des Krieges kämen unter Umständen
Sabotageaktionen in Betracht. Es war seine feste Überzeugung, dass ein Auf­
stand gegen die sowjetische Besatzungsmacht aussichtslos wäre und lediglich
dazu führen würde, dass die aktivsten antisowjetischen Elemente eliminiert
würden – das historische Beispiel des Warschauer Aufstands von 1944, den die
deutschen Truppen niedergeschlagen hatten, war deutlich genug.
Um sicherzugehen, dass nicht die CIA oder andere US-Institutionen einen
selbstmörderischen Aufstand auslösten, drang Gehlen bei dieser Gelegenheit
auf eine schriftliche Abmachung über die Zusammenarbeit im Kriegsfall. Er
wollte Verantwortlichkeiten und Vorgesetztenverhältnis schriftlich festgelegt
wissen, um seinen Einfluss auf die Tätigkeit der Amerikaner auf deutschem
Boden zu sichern. Critchfield wich aus und interessierte sich lediglich für die
Evakuierung der kriegswichtigen Unterlagen in die USA – kein Wort also über
das Personal. Gemeint war zum Beispiel, den Funkplan der Org nach Washing­
ton zu bringen, was Gehlen grundsätzlich ablehnte, weil er damit sein wich­
tigstes Führungsinstrument aus der Hand geben würde und gegebenenfalls

383 Besprechungsnotizen Gehlens, 10. und 20.2.1953, BND-Archiv, 4317.

791
aus US-Sicht entbehrlich werden könnte. Gehlen drängte auch deshalb auf den
raschen Abschluss eines Kriegsabkommens mit der CIA, um die im Kriegsfall
angestrebte Wiedereingliederung seiner Organisation in die CIA zu günsti­
gen Bedingungen erreichen zu können. »In diesem Zusammenhang sei auch
die Persönlichkeit, die dann mit 30 [Gehlen] zusammenarbeitet, von größter
Wichtigkeit. Eine Lagerung der Kriegsunterlagen in den USA müsse abgelehnt
werden.«384
In jedem Falle war Gehlen brennend daran interessiert, bei einer möglichen
Kriegsgefahr nicht im unsicheren europäischen Rahmen dem Feind ausgesetzt
zu sein und womöglich mit einer westdeutschen Regierung unterzugehen.
Allein den USA traute er zu, ihn mit seinem Stab rechtzeitig über den Atlantik
in Sicherheit zu bringen. Deshalb betonte er, dass in diesem Falle die Org wie­
der mehr in den US-Nachrichtendienst hineinwachsen würde. Das gewünschte
Gespräch mit Stewart fand wenige Tage später statt. Gehlen ging von folgender
Lagebeurteilung aus:

Erhöhte Kriegsgefahr ab 1954/55. Verlauf des Krieges, beginnend mit Ver­


lust der europäischen Gebiete, die zurückerobert werden müssen. Dauer
voraussichtlich 10 Jahre. Auf Grund dieser Beurteilung und der politischen
Situation ist eine enge Verbindung und Zusammenarbeit zwischen Amerika
und Deutschland notwendig. Ausschlaggebend hierfür sind in erster Linie
Vernunftgründe, die auch eine bessere Grundlage für eine lange und enge
Zusammenarbeit geben als Gefühle.385

Die Zusammenarbeit mit der CIA müsse auch im Kriegsfall fortgeführt wer­
den. Gehlen versuchte Stewart davon zu überzeugen, dass der Abschluss eines
Kriegsabkommens unter derzeitigen Umständen günstiger sein könnte als
später nach einer Übernahme durch die Bundesregierung. Dann müssten Ver­
handlungen zwischen den Regierungen auf politischer Ebene geführt werden.
Hatte er es eilig, weil er angesichts zunehmender Flüchtlingsströme aus der
DDR mit einem baldigen Konflikt rechnete – oder wollte er um jeden Preis
sicherstellen, dass er mit seiner Org von den USA gerettet werden würde?
Er merkte an, dass er in den letzten Jahren wiederholt Kompromisse mit
Critchfield geschlossen habe, die er eigentlich nicht verantworten konnte.
Wenn diese bei anderen Nachrichtendiensten bekannt würden, müsste das
seine Reputation als Nachrichtendienst-Fachmann schmälern. Jede Zusam­
menarbeit beruhe natürlich auf Kompromissen. Aber es müsse von beiden Sei­

384 Notiz über die Besprechung Gehlens mit Critchfield, 16.2.1953, ebd.
385 Besprechung Gehlens mit Critchfield und Stewart, 17.2.1953, ebd.

792
ten eine gewisse Großzügigkeit verlangt werden. Wie weit er in diesem Falle zu
gehen bereit war und welches Entgegenkommen er im Kriegsfall von der CIA
erwartete, wurde bei einem weiteren Gespräch erkennbar.386
Gehlen erörterte den Gedanken einer weitestgehenden Eingliederung der
Org in die CIA, eventuell einer Übernahme der US-Staatsbürgerschaft und
erwartete eine großzügige Betreuung der Familien sowie die Schulung der Mit­
arbeiter durch die CIA. Man war sich einig, dass es auf amerikanischer Seite
Friktionen geben könnte, etwa aus politischen Gründen, wenn sich das State
Department einmischen würde (wo man argwöhnisch auf die Beschäftigung
von NS-belastetem Personal zu reagieren pflegte), oder durch Einsprüche des
militärischen Oberkommandos, das im Krieg naturgemäß gewisse Prioritäten
habe.
Die wiederholten öffentlichen Angriffe gegen die Org im In- und Aus­
land sowie die politischen Intrigen hinter den Kulissen gefährdeten Gehlens
Zukunft nicht nur im Kriegsfall, sondern behinderten auch eine reibungslose
Übernahme durch die Bundesregierung und konnten sie womöglich sogar
noch zu Fall bringen. Selbst im fernen Südafrika machte sich das Hauptquar­
tier der Polizei Gedanken darüber, ob die Sympathien des ehemaligen NS-
Generals tatsächlich bei den westlichen Staaten oder anderswo lägen. Die
Antwort aus London ist nicht überliefert.387 Die politischen Turbulenzen um
seine Org beschäftigten Gehlen so sehr, dass er bei einem seiner Besuche in
Bern Critchfield am frühen Morgen anrief, um sich mit ihm noch am selben
Nachmittag zu einem Gespräch in seinem Apartment zu treffen.388 Was Geh­
len so sehr bewegte, waren die gegen ihn arbeitenden Kräfte. Da gebe es jene,
die seine Org allein im Bereich militärischer Aufklärung sehen wollten. Das
korrespondiere mit der Absicht der Sowjets, die Org so stark wie möglich zu
schwächen. Hinzu kämen gewisse Elemente, deren Widerstand mit der Angst
vor einem wiederbewaffneten Deutschland zu erklären sei.
Critchfield hörte sich Gehlens Lamento über die meist bekannten Probleme
und Personen an. Einige Neuigkeiten konnte er doch notieren. Dazu gehörte
die Erwähnung von Franz Josef Strauß, Generalsekretär der CSU, Anwärter auf
ein Ministeramt, der nach Gehlens Meinung zu dem »Kreis um Josef Müller«
gehörte, einem Werkzeug sowjetischer Einflussnahme. Zu Otto John meinte
Gehlen ironisch, die Beziehungen zu ihm seien ausgeprägt herzlich. Man ver­

386 Gespräch Gehlen-Heusinger-Critchfield, 20.2.1953, ebd.


387 Anfrage vom 27.10.1952, National Archives, Kew, KV 2-2862 Reinhard Gehlen 1945 -
1955. Sie gehört zu den erstaunlich wenigen Dokumenten, die in diesem Dossier über
Gehlen von britischer Seite überliefert sind.
388 Memorandum Critchfields vom 6.11.1952, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol l_20F3, S. 60-62.

793
sichere sich von Zeit zu Zeit gegenseitiger Wertschätzung. Dann erwähnte er
beiläufig einen unbestätigten Bericht aus »glaubwürdiger Quelle«, wonach
John zum britischen Special Service des Foreign Office gehöre. Er sei außer­
dem als Co-Autor des diffamierenden Artikels von Sefton Delmer identifiziert
worden. Gehlen erwähnte auch George Blum, den Berliner Korrespondenten
des Journal de Genève, der eine lange Geheimdienst-Karriere bis zum Ersten
Weltkrieg zurück hinter sich habe und wohl auch für die Russen arbeite. Von
ihm könnten die jüngsten Angriffe gegen die Org stammen, die Eingang in die
französische Presse gefunden haben.
Anfang November 1952 erhielt Gehlen einen Anruf von Globke, der ihm
mitteilte, er habe Informationen von den Amerikanern erhalten, dass erneut
Aktionen gegen die Org im Gange seien. Gehlen hatte bereits gehört, dass der
SPD-Vorsitzende Ollenhauer aufgrund von US-Informationen erbost sei, dass
die Org gegen die sozialdemokratische Opposition arbeite.389 Es rächte sich
sein Zögern, mit dem Nachfolger Schumachers engeren Kontakt aufzuneh­
men. Da er der Partei und einzelnen ihrer Führer nicht ganz traute, weil sie
Zweifel am Kurs der Wiederbewaffnung äußerten, konnte er nicht leugnen,
dass die Org die Opposition im Visier hatte, zumal das Kanzleramt an solchen
Informationen größtes Interesse zeigte. Intern gab es wie geschildert Bestre­
bungen, die innenpolitische Aufklärung auszubauen und zum Beispiel über
den Kurs des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) nicht nur Zeitungswis­
sen zusammenzutragen.390
Dem häufigen Drängen von amerikanischer Seite, sein Verhältnis zu den
Briten zu bereinigen, gab Gehlen etwas nach, indem er vorschlug, ein briti­
sches Verbindungsbüro einzurichten, und zwar in Bonn, nicht in Pullach, wie
London meinte. In seiner Zentrale wollte er nur die Amerikaner dulden.391
Anfang 1953 musste sich Gehlen wieder einmal gegenüber Globke zu umlau­
fenden Gerüchten über die Org äußern. Die wiederholt vorgebrachte Behaup­
tung »des Vorherrschens rechtsstehender Elemente in der Dienststelle Gehlen
und ihren Außenstellen ist nachgewiesenermaßen nicht zutreffend«, erklärte
Gehlen schriftlich. Alle Mitarbeiter stünden auf der Linie der demokratischen
Parteien. Selbstverständlich habe man auf der Ebene von V-Männern und
Agenten Leute aus der radikalen Rechten oder Linken im Einsatz, weil nur sie
in diesen Kreisen Aufklärung betreiben könnten.392 Diese dienstliche Erklärung
Gehlens gegenüber seinem Vorgesetzten war nach heutiger Kenntnis schlicht

389 Notiz Gehlens vom 7.11.1952, BND-Archiv, 1110, Blatt 360.


390 Siehe Lagevortrag Politik, 22.10.1952, BND-Archiv, N 1/5.
391 Memorandum von Gehlen für Critchfield, 14.11.1952, BND-Archiv, 1112, Blatt 546 – 551.
392 Vortragsnotiz von Gehlen für Globke, 6.1.1953, VS-Registratur Bka, BK 1:15100(64),
Bd.l.

794
Erich Ollenhauer, stellvertretender
Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag,
Nachfolger Kurt Schumachers als Partei­
vorsitzender und Oppositionsführer, ca. 1952

falsch. In seiner Rabulistik ignorierte er den Vorwurf der NS-Belastung, um mit


dem Begriff »rechtsstehende Elemente« zugleich zu verschleiern, dass wohl
nahezu alle seine Mitarbeiter politisch »rechts« standen. Sozialdemokraten
waren, wenn überhaupt vorhanden, in Pullach äußerst dünn gesät.
Gehlen zeigte unter dem politischen Dauerfeuer Wirkung und suchte in
dieser Situation Zuspruch ausgerechnet bei Critchfield. Bei allen Meinungsver­
schiedenheiten respektierte er den Amerikaner doch als jemanden, der mit sei­
nen Problemen am besten vertraut war und über seinen Draht nach Washing­
ton notfalls auch Unterstützung organisieren konnte. Am 12. Januar 1953 kam
Gehlen zu einem Dinner in Critchfields Apartment. Danach ging Gehlens Ehe­
frau ins Kino, und die beiden Männer sprachen den ganzen Abend zusammen.
Er habe Gehlen bei keiner anderen Gelegenheit so herzlich und kommunika­
tiv erlebt, berichtete Critchfield danach seinen Vorgesetzten.393 Manches sei
unverständlich und lückenhaft gewesen. Er habe Gehlens Gesprächsfluss nicht
unterbrechen wollen durch insistierende Fragen, etwa zu Quellen über angeb­
liche französisch-sowjetische Kontakte.
Gehlen vertrat die Theorie, dass es Elemente gebe, die seit dem Krieg für
beide Seiten arbeiteten, die Briten wie die Sowjets, und die in der Lage seien,
Gerüchte gegen die Org zu verbreiten. Dagegen zeigte er sich nicht sonder­
lich besorgt, dass es Kräfte gebe, die seine Org in die EVG überführen woll­
ten. Dahinter würden wohl die Franzosen stecken, die hier für die Briten den
Frontmann machten. Um wen es sich dabei handele, wisse er aber nicht. Diese

393 Memorandum Critchfields, 15.1.1953, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard


Gehlen_vol l_20F3, S. 67-69.

795
Idee werde in Deutschland ohnehin nicht ernst genommen. Ernstlich besorgt
sei er allerdings über die Verzögerung der Ratifizierung der Verträge, was sei­
ner Org schade, weil deshalb die Übernahme durch die Bundesregierung nicht
vorankomme.
Um möglichen Angriffen vonseiten der Opposition zu begegnen, habe er
präventiv mit John und Ollenhauer konferiert. Der Letztere versprach, seine
Genossen von der Existenz und Natur der Org zu unterrichten und zu beto­
nen, dass nicht ihr Bekanntwerden das Problem sei, sondern dass man sie zu
wenig kenne. John werde, koordiniert durch Globke, ähnlich die Chefs der Lan­
desämter für Verfassungsschutz informieren. Seine Beziehungen zu John seien
weiterhin gut, behauptete er, und er zögere nicht, ihn zu treffen – nicht weil
dieser ein guter Mann für den Posten sei, sondern weil seine Weigerung ihm
von den Briten angerechnet werden würde und ein Nachfolger vielleicht noch
schlechter sein würde.
Critchfield hängte seinem Bericht eine Liste von künftigen Repräsentanten
der Org in Frankreich, Spanien, den USA und Italien an. Sein Kommentar zu
Gehlens Repräsentanten in Rom (dessen Bruder Johannes): »God help us!«
Wenn es um das Fortkommen seiner Familienangehörigen ging, kannte
Gehlen keine Hemmungen. Zwei Jahre zuvor hatte er seinen (Halb-)Bruder
ermutigt, sich beim Auswärtigen Amt zu bewerben. Jetzt nutzte er seinen
engen Kontakt zu Globke und sandte ihm die Bewerbungsunterlagen von
Johannes. Er hoffte auf eine Tarnverwendung im auswärtigen Dienst, im
kulturell-wissenschaftlichen oder handelspolitischen Bereich, besser nicht in
untergeordneter Position, wie er schrieb, im Hinblick auf die Gesprächspartner
seines Bruders in Rom.394 Für persönliche Gefälligkeiten setzte er die Möglich­
keiten der Org gern ein, etwa als es um die Übernahme der Gruppe »Nordlicht«
ging. Die ehemaligen Admirale Gerhard Wagner, Friedrich Ruge und Hellmuth
Heye mit Sekretärin Frau Freiwald, die bisher für die Briten gearbeitet hat­
ten, nahm er auf den Etat der Org und unterstellte sich die Gruppe unmit­
telbar.395 Sie gehörte damit zu seinen sogenannten Sonderverbindungen, über
die Critchfield nicht im Einzelnen unterrichtet wurde. Weniger glücklich war
sein Einsatz für das frühere Dienstmädchen der Familie, Margot Mai, da diese
nach ihrer Umsetzung offenbar hoffte, mit ihrem Wissen »das beste Geschäft
ihres Lebens« machen zu können.396 Als ihm sein Hausmeister und Leibwäch­
ter wegen eines Kriegsleidens nicht mehr dienen konnte, bemühte sich Geh­

394 Entwurf eines Schreibens von Gehlen an Globke, 23.2.1953, BND-Archiv, 1110, Blatt 404.
395 Eintrag vom 10.2.1953, Chronik, Anlagen, BND-Archiv, 4317.
396 43 (Sicherheitsbeauftragter der Zentrale DN »Karner«) an Leiter 40 (Gegenspio­
nage Kurt Kohler) betr. Margot Mai, früher bei 30 (Gehlen), 17.11.1952, BND-Archiv,
122290_0336 jpg.

796
len darum, seinen früheren schlesischen Offiziersburschen, den Unteroffizier
Norbert Schmidt, ausfindig zu machen. Ob Schmidt, der jetzt als Vorarbeiter
in einer Spinnerei sein Auskommen und Familie hatte, ein Angebot Gehlens
ablehnte, ist nicht bekannt.397
Um den kritischen Druck im Inland zu mindern, erklärte sich Gehlen im
Februar 1953 mit Zustimmung Johns bereit, den Leitern der Landesämter für
Verfassungsschutz in der britischen Zone mehr über seine Org zu verraten.398
Es wurde der übliche Rückblick auf die historische Entwicklung, beginnend
mit seinem Entschluss bereits während des Krieges, FHO über die Niederlage
hinaus zu erhalten und sich an die USA als der führenden Macht bei der »Ver­
teidigung der westlichen Kultur gegen den Kommunismus« zu wenden. Es
sei der erste deutsche Beitrag gewesen, geleistet von solchen Deutschen, »die
auf Grund ihrer Spezialkenntnisse und Erfahrungen besonders dazu berufen
sind«. Mit dem Gentlemen’s Agreement habe man dann eine Organisations­
form gefunden, »die es möglich macht, die verfügbaren, besten deutschen
Kräfte zum Werk zu rufen, ohne bei ihnen das Gefühl entstehen zu lassen,
Hiwis einer fremden Macht zu sein«. Die starke Betonung der angeblichen
fachlichen Kompetenz und das patriotische Pathos sollten jene Stimmen zum
Schweigen bringen, die – völlig zu Recht – die Abhängigkeit von den USA und
die einseitig militärische Ausrichtung der Org kritisierten.
Aus Gehlens Sicht waren Wiederbewaffnung und Nachrichtendienst nicht
voneinander zu trennen. Während Heusinger – noch immer in der Erwartung
einer baldigen Umsetzung des EVG-Vertrages – im »Ausschuß zur Mitberatung
des EVG-Vertrages« des Bundestags zum ersten Male seine operativen Vorstel­
lungen vortragen durfte,399 gab Gehlen den Auftrag zu einer Lagebeurteilung
für einen bestimmten »Kundenkreis«, das heißt für ausgewählte Personen mit
Einfluss in Bonn. Die von Stephanus angefertigte Studie ging davon aus, dass
der Kreml die Sowjetherrschaft in der UdSSR sowie den Satellitenstaaten gefes­
tigt habe und eine ruhige, planmäßige Weiterentwicklung garantieren könne.
Stalin versuche, das Anwachsen des europäischen Verteidigungspotenzials zu
verhindern. Noch würde die Zeit für ihn arbeiten. Eine neue Periode sowjeti­
scher außenpolitischer Aktivitäten sei in Sicht.400
Die Vorlage der Abteilung Auswertung nutzte Gehlen im November 1952
für einen Lagevortrag bei Adenauer.401 Darin hielt er also die politische Lage

397 43 an Dr. Klausner, 4.10.1952, BND-Archiv, 122290_0253jpg.


398 Beitrag für die Rede Gehlens, 26.2.1953, BND-Archiv, 1110, Blatt 401-403.
399 Am 24.10.1952, siehe Meyer, Heusinger, S. 455 – 456.
400 Lagebeurteilung Europa und die übrige Welt, 19.11.1952, BND-Archiv, N 21/1.
401 Vortragsnotiz über die »Entwicklung des sowjetischen Potentials und Schlußfolgerun­
gen für die Lagebeurteilung«, 28.11.1952, BND-Archiv, 1110, Blatt 368-380.

797
in der SBZ für gefestigt – und das sieben Monate vor dem Volksaufstand! Eine
ernsthafte Bedrohung des herrschenden Systems sei ohne Anstoß und Hilfe
von außen nicht mehr möglich. Die Erhöhung des militärischen Potenzials
im Ostblock dürfe nicht unterschätzt werden, sei aber wohl eher ein planmä­
ßiger Aufbau im Rahmen der technischen Weiterentwicklung, weniger eine
akute Kriegsvorbereitung. Eine neue Lage sei aber um die Jahreswende 1954/55
zu erwarten, wenn die politische Konsolidierung innerhalb des Ostblocks
abgeschlossen sein dürfte, die wirtschaftliche Lage auch einen mehrjährigen
Weltkrieg erlauben würde und die militärischen Vorbereitungen der europäi­
schen Satellitenstaaten so weit zum Abschluss gekommen sein dürften, dass
der »Einsatz dieser Kräfte auch außerhalb des eigenen Landes erfolgverspre­
chend« sein könnte.402
Gehlen wollte also offenbar Druck machen, um die Ratifizierung des EVG-
Vertrages voranzutreiben und die Grundlagen für neue deutsche Streitkräfte
zu schaffen. Daran hingen schließlich auch die Übernahme der Org und
damit die Entscheidung für einen Bundesnachrichtendienst, wie ihn Gehlen
anstrebte. Eine wichtige Voraussetzung war inzwischen geschaffen worden,
da Adenauer – nach der »Ehrenerklärung« Eisenhowers für die ehemaligen
Soldaten der Wehrmacht – jetzt auch im Bundestag am 3. Dezember 1952 eine
ähnliche Erklärung abgab. Sie war drei Wochen zuvor unter Mitwirkung der
Org im Parteivorstand der CDU beraten worden.403
Als sicherheitspolitischer Berater im Vorzimmer Adenauers hätte Gehlen
sein neues Berufsziel endlich erreicht und würde alle lästigen Konkurrenten
aus dem Felde schlagen können. Mit dieser politischen Fixierung trübte sich
freilich sein klarer Blick für die Realitäten.
Anfang 1953 spitzte sich die Lage um Berlin wieder einmal zu. Im Westen
rechnete man mit der Möglichkeit, dass Berlin als Zwischenstation für den
wachsenden Strom an Flüchtlingen ähnlich wie bei der Blockade fünf Jahre
zuvor abgeschnitten werden könnte. Aufgrund von Informationen Gehlens
rechnete Adenauer damit, dass die DDR bereits 110.000 Mann unter Waffen
hatte und bis zum Herbst neun bis zwölf Divisionen aufstellen könnte – was
völlig überzogen war. Auch die Meldung, Berlin werde am 28. Januar gänzlich
abgeriegelt, erwies sich als Ente.404
Critchfield informierte Gehlen darüber, dass die US-Einrichtungen besorgt
waren, die Sowjets könnten West-Berlin als Spionagezentrum gegen die SBZ
und die Satellitenstaaten isolieren.405 Deshalb forderte er Antworten der Org

402 Ebd., Blatt 377.


403 Siehe Keßelring, Die Organisation Gehlen, S. 301-302.
404 Eintrag zum 26.1.1953, Lenz, Im Zentrum der Macht, S. 539.
405 Memorandum Critchfields für Gehlen, 5.2.1953, BND-Archiv, 1173, Blatt 7-8.

798
auf konkrete Fragen an: Wollen und können die Sowjets West-Berlin vom Osten
tatsächlich trennen? Wie würden sie das machen und welche Folgen hätte zum
Beispiel die Einrichtung einer »toten Zone« rings um Berlin? Welche Maßnah­
men könnten jetzt schon getroffen werden, um bei einer erneuten Blockade
der Zugangswege nach Berlin etwa durch die Bereitstellung von Agentenfunk­
geräten die Verbindungen jenseits des Eisernen Vorhangs aufrechtzuerhalten?
Dass der US-Verbindungsstab in Pullach in den nächsten Wochen immer wie­
der auf diese Fragen zurückkam, deutete darauf hin, dass sich die Org schwer­
tat, eine umfassende Krisenkonzeption zu entwickeln.
Gehlen zeigte sich sehr rührig, die scheinbar letzten Hindernisse vor der
erwarteten Übernahme seiner Org zu beseitigen. Er rühmte sich intern, bei
einem Treffen mit dem nordrhein-westfalischen Innenminister Dr. Franz Mey­
ers einen sehr guten Eindruck von ihm gewonnen zu haben, und kündigte an,
in den nächsten Tagen auch mit anderen Innenministern der Bundesländer
Gespräche zu führen.406 Im Ergebnis ordnete Gehlen an, wegen der Reibun­
gen und Komplikationen in jüngster Zeit sollten Verbindungen zu Polizei und
Behörden, die für die Org arbeiteten, möglichst eingeschränkt und nur so weit
fortgeführt werden, wie es für die nachrichtendienstliche Arbeit »von lebens­
wichtiger Bedeutung« sei.407 Das war auch Teil seines Bemühens, das Verhält­
nis zu den Briten und zu den Sozialdemokraten zu entspannen, auch wenn in
beiden Fällen stille Vorbehalte bei ihm blieben.
Die innenpolitische Absicherung der Org hatte für Gehlen eine ähnlich
hohe Bedeutung wie die Verständigung mit den Amerikanern über die Progno­
sen zur Außen- und Sicherheitspolitik. Mit Stewart und Critchfield besprach er
am 17. Februar 1953 die aktuelle Lage. Die angeforderte Studie zur möglichen
Entwicklung in Berlin lag jetzt vor und beschrieb eine Abriegelung West-Ber­
lins durch eine Verdoppelung des Sperrgürtels durch Kräfte der Volkspolizei
und des Ministeriums für Staatssicherheit, unter Errichtung von Sperranlagen
und mit einer möglichen Lockerung des Schusswaffengebrauchs.408 Der Fall
trat später im Jahre 1961 so ähnlich ein. Mit dem Einsatz sowjetischer Hee­
resstreifen sei lediglich im verstärkten Streifendienst und bei demonstrativen
Übungsbewegungen zu rechnen, nicht aber zur direkten Grenzüberwachung.
Aus einer solchen Konstellation konnte sich leicht eine Eskalation entwi­
ckeln. Aber man war sich einig, dass – so sah es auch CIA-Chef Bedell Smith –
mit einer erhöhten Kriegsgefahr erst ab 1954/55 zu rechnen sei.409 Würden
die Russen mit ihrem Rüstungsvorsprung in der DDR die Gelegenheit zum

406 Eintrag 16.2.1953, BND-Archiv, 4317.


407 Anweisung Gehlens, 11.5.1953, ebd.
408 Studie betr. Lage Berlin, 17.2.1953, BND-Archiv, Film 296.
409 Notiz über die Besprechung Gehlen – Critchfield – Stewart, 17.2.1953, BND-Archiv, 4317.

799
Angriff nutzen, wenn der Westen und Westeuropa konkret mit ihrer Aufrüs­
tung begännen? Man sprach offen über einen möglichen Verlauf des Krieges,
beginnend mit dem wahrscheinlichen Verlust der kontinentaleuropäischen
Gebiete, die dann im Verlaufe von zehn Jahren zurückerobert werden wür­
den. Was bei Hitler noch vier Jahre gedauert hatte, würde gegen einen Eura­
sien beherrschenden Stalin wohl sehr viel mehr Zeit beanspruchen. Über die
Dimensionen eines Atomkrieges machten sich der deutsche General und die
amerikanischen Geheimdienstler offenbar Illusionen, die nicht zuletzt mit
ihren erst wenige Jahre zurückliegenden Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg
zu tun hatten.
Es ist aus diesem Gespräch klar zu erkennen, dass Gehlen nicht als Scharf­
macher und Kriegstreiber auftrat. Er vertraute auf den Erfolg einer Politik der
Stärke und fürchtete für die Übergangsphase eine anhaltende Schwäche des
Westens. Sein früherer Vertrauter Wessel, jetzt im Amt Blank, schickte ihm
einige Stichworte zur politischen Lagebeurteilung. Darauf antwortete Gehlen
rasch nur zum Punkt der US-Politik.410 Es bestehe entgegen anderslautenden
Gerüchten keine besonders risikofreudige Politik der Amerikaner, im Gegen­
teil. Aber die US-Führung sei sich im Klaren, dass mit bloßem Containment,
was Gehlen für Appeasement hielt, bei der russischen Mentalität nicht weiter­
zukommen sei. Daher wolle sie die Aufrüstung der westlichen Welt so schnell
wie möglich vorantreiben, weil friedliche Lösungen mit dem Osten nur mög­
lich seien, wenn der Westen zunächst stark werde.
Es sei gleichzeitig der Versuch, meinte Gehlen, noch einmal mit den Russen
ins Gespräch zu kommen, um eine Beilegung des Koreakonflikts zu ermög­
lichen oder die klare Erkenntnis zu gewinnen, »dass der Russe den Krieg
will«. Die Reise von John Foster Dulles, des neuen US-Außenministers, sei der
Versuch, die europäischen Verbündeten unter einen Hut zu bringen. Signale
gegenüber den Russen sollten ausdrücken, dass man in der europäischen und
deutschen Politik nicht an Scharfmacherei denke. Sollte sich erweisen, dass
mit den Europäern nicht viel anzufangen sei, bestehe die Gefahr des Desin­
teresses und einer möglichen Verständigung der USA mit Sowjetrussland auf
Kostens Europas.
Die Politik Amerikas sei »als eine Art gemäßigter, stark durch ideologische
Faktoren bestimmter, zwangsläufiger Imperialismus zu betrachten«. Die hin­
ter den Kulissen treibenden Kräfte seien allerdings nicht so einfach auf eine
Formel zu bringen. »An einem besteht meines Erachtens kein Zweifel – dass
der einzig aufrichtige Bundesgenosse Deutschlands infolge einer gleichen
Lagerung der Interessen die Vereinigten Staaten sind.« Es folgten Mutmaßun­

410 Schreiben Gehlens an Wessel, 18.2.1953, BND-Archiv, N l/v.6.

800
gen über die Entwicklung in Fernost sowie den Krach zwischen dem chinesi­
schen KP- und Regierungschef Mao und Georgi Malenkow, dem Stellvertre­
ter Stalins. Wenn Mao eigene Wege gehen sollte, könnte dies einige Chancen
für den Westen eröffnen – auch hier sollten noch einige Jahre vergehen, bis
die Entwicklung diese Einschätzung bestätigte. »Betrachten Sie diese meine
Ausführungen nicht durch amerikophile Gedankengänge beeinflußt, sondern
als eine Lage-Skizzierung auf der Basis des – wenn auch noch lückenhaften -
vorliegenden Nachrichtenmaterials im Zusammenhang mit einer sorgfältigen
Auswertung.«
Den Gegner in der bevorstehenden gefährlichen Übergangsphase bis
1954/55 zu schwächen und so von möglichen kriegerischen Abenteuern abzu­
halten, schien ein naheliegender Gedanke zu sein. An Gehlen war der Plan
herangetragen worden, Verbindungen in die Grundstoffindustrie der DDR zu
hoch qualifizierten Wissenschaftlern und Technikern in Schlüsselpositionen
zu nutzen.411 Es bestand die Absicht, wie Gehlen Globke vortrug, diese west­
lich gesinnten Personen zum Verlassen der DDR zu bewegen und damit der
östlichen Grundstoffindustrie einen schweren Schlag zu versetzen. Das würde
sich auch auf die anlaufende Rüstungsproduktion der DDR auswirken. Man
müsste diesen Personen lediglich eine gleichwertige berufliche Unterbringung
im Westen anbieten – ähnlich wie es die Besatzungsmächte in der Vergan­
genheit mit deutschen Wissenschaftlern und Technikern machten, die aus der
UdSSR zurückkehrten. Einige Tage nach dem Tod Stalins billigte Globke die
Operation »Eisenherz«, die bis Ende 1954 allerdings im Sande verlief, weil der
Gewährsmann mit seinen angeblichen Kontakten übertrieben hatte. Kein ein­
ziger Wissenschaftler kam auf diese Weise in die Bundesrepublik.412
Der Tod des sowjetischen Diktators Stalin am 5. März 1953 war ein welt­
historisches Ereignis, dessen Bedeutung Reinhard Gehlen allerdings gering
einschätzte. Es hielt ihn nicht davon ab, eine seiner zahlreichen Reisen in
die Schweiz zu Routinegesprächen mit Inspektor Ulrich in Bern zu machen.
Unterdessen nahmen in aller Welt die Spekulationen über die Auswirkungen
der Ereignisse in Moskau überhand. Für Gehlen bot nach seiner Rückkehr aus
der Schweiz vielmehr die Ernennung von Allen Welsh Dulles zum Nachfolger
von Bedell Smith als CIA-Chef Anlass, seine Gedanken zu Papier zu bringen.413
Dabei verband er die Erörterung der aufgelaufenen Meinungsunterschiede
zwischen Pullach und Washington mit einer Darlegung seiner politisch-stra­
tegischen Sicht sowie seinem Urteil über die Folgen von Stalins Tod.

411 Aufzeichnung vom 4.3.1953, BND-Archiv, 1110, Blatt 406-407.


412 Besprechung Gehlen-Globke, 17.3.1953, BND-Archiv, 4317.
413 Entwurf eines Schreibens von Gehlen an Allen W. Dulles, 14.3.1953, BND-Archiv, 1173,
Blatt 15-17.

801
Gehlen gratulierte zunächst Dulles zu dessen Ernennung und schmeichelte
ihm, dass dieser ja ausgezeichnet Deutsch spreche und er sich daher der deut­
schen Sprache bedienen könne, weil sein eigenes unzulängliches Englisch es
schwierig mache, immer den richtigen Ausdruck zu finden – ein merkwürdiges
Argument für den Chef eines Geheimdienstes, der seit acht Jahren im Auftrag
der Amerikaner arbeitete und natürlich über entsprechende Kapazitäten zur
Übersetzung verfügte. Zu verstehen ist diese Eingangspassage nur, wenn man
daraus das Bedürfnis von Gehlen ableitet, eine ganz persönliche Gesprächs­
ebene mit seinem neuen Chef zu finden. Es war jedenfalls eine jener feinsinni­
gen Annäherungen, die Gehlen gegenüber Höherrangigen so schätzte.
Dann folgte eine zweite Schmeichelei mit dem Hinweis, dass Dulles schon
während des Krieges besonderes Verständnis für die deutschen Verhältnisse
entwickelt und die siebenjährige Zusammenarbeit danach unterstützt habe.
Wenn er, Gehlen, jetzt einen unabhängigen Geheimdienst führe (man spürt
die Absicht), dann habe er das auch Dulles zu verdanken. Er werde sich erlau­
ben, ihm künftig von Zeit zu Zeit seine Gedanken über die politische Lage und
interessante fachliche Fragen zu übermitteln – so spricht einer, der sich um ein
Verhältnis auf Augenhöhe bemüht, gleichsam als Kollege!
Das Problem der strategischen Aufklärung schnitt er als Erstes an. Sie
werde sich künftig von deutscher Seite nicht nur in den geografischen Bereich
des Ostblocks erstrecken. Die Deutschen könnten einiges beisteuern, um die
sowjetischen Aktivitäten auch in westlichen Ländern aufzudecken. Dann kam
er auf den Punkt. Er rechtfertigte die Weigerung gegenüber der CIA, die Iden­
tität seiner Quellen im Nahen Osten preiszugeben. Politisch-strategische Auf­
klärung dieser Art funktioniere nur durch höchstrangige Quellen, die sich auf
ideeller Basis zur Verfügung stellten und auf die Zusicherung vertrauten, dass
ihre Identität absolut geheim gehalten werde. Auch bei anderen Nachrichten­
diensten sei es üblich, dass solche Quellen selbst in der Zentrale nicht bekannt
seien. Seine amerikanischen Gesprächspartner aber würden andere Vorstel­
lungen vertreten. Er habe ursprünglich entschieden, mit der Entscheidung
so lange zu warten, bis die Führung ganz in deutscher Hand läge. Wenn die
CIA aber jetzt an der Forderung einer Preisgabe deutscher Quellen festhalte,
schlage er vor, das ganze Projekt Naher Osten vorläufig fallenzulassen.
Dann kam Gehlen auf den Tod Stalins zu sprechen. Seine Gedanken dazu
habe er bereits auf dem Dienstweg übermittelt. Eine Auflockerung des Sowjet­
regimes sei »unter keinen Umständen in den kommenden Jahren zu erwar­
ten, auch nicht der Ansatz zu einer Evolution«, wie zum Beispiel der Vatikan
glaube. Selbst ein möglicher interner Machtkampf werde das Staatsgefüge
nicht erschüttern. In einer Demokratie, in der das Volk beteiligt sei, könne das
vielleicht anders sein, in einer Diktatur nicht. Der Westen mache sich schlicht
Illusionen. Bei Meldungen über angebliche Machtkämpfe müsse berücksichtigt

802
Allen W. Dulles als neuer CIA-Chef, 1953

werden, dass russische Quellen und Emigranten entweder übertrieben oder


den Dingen eine gewünschte Richtung gäben. Man höre so viel über angeblich
bedeutsame Widerstandsgruppen im Innern der Satellitenstaaten, die verhin­
dern könnten, dass der Russe, selbst wenn er wollte, einen Krieg fuhren könne.
Das sei Wunschdenken. Natürlich gebe es solche Gruppen, die durch die Pro­
paganda des Westens ermutigt würden. Die Sowjets ließen solchen Gruppen
mehr Aktionsfreiheit, weil sie so die Möglichkeiten böten, in die Reihen der
Aktivisten einzudringen und sie »nach und nach herauszukämmen«. Damit
würden die wenigen aktiven Elemente ausgeschaltet sein, wenn der Westen in
einigen Jahren hoffentlich stark sein werde.
Gegenwärtig würde jede Zersetzungspropaganda, die zur Bildung von
Widerstandsgruppen auffordert, dem Gegner in die Hände arbeiten. Die Pro­
paganda in den Satellitenstaaten müsse lauten: »Schliesst euch nicht zusam­
men, damit der Gegner euch nicht erfasst. Bewahrt ein heisses Herz, versteckt
euch, bis ihr aufgerufen werdet, aktiv zu werden.« Das würde auch Unsicher­
heit beim Gegner erzeugen, der den Eindruck gewinnen müsste, dass feindli­
che Elemente bis tief in die eigenen Reihen hinein vorhanden sein könnten.
Durch die eigene Gegenspionage sollte man wichtige Leute der Gegenseite
verdächtig machen, indem man sie zum Beispiel auffällig in der Propaganda
schont. Politische Kriegführung müsse sorgsam mit der Außenpolitik koor­
diniert werden und dürfe nicht offensiv werden, »solange die Aussenpolitik
selbst noch gezwungen ist, im wesentlichen defensiv zu bleiben«.
Er betrachte mit einiger Sorge die allzu aktive Linie der psychologischen
Kriegführung aller westlichen Länder. Besonders besorgt sei er wegen des Sen­
ders Radio Free Europe. Durch die neuerdings etablierte enge Zusammenarbeit
mit deutschen Behörden werde seine Sorge vielleicht gegenstandslos werden.

803
Als Anlage wollte Gehlen eine Skizze der sowjetischen Außenpolitik beilegen,
die er Ende Februar Adenauer vorgetragen hatte. Durch den Tod Stalins habe
sich nichts geändert. Abschließend stellte er die Frage, ob er Dulles, trotz des
vielen Papiers, das dieser zu lesen habe, auch künftig derartige Ausarbeitungen
zusenden dürfe. Warum Gehlen diese persönlichen Betrachtungen am Ende
doch nicht absandte, ist nicht erkennbar. Vielleicht verließ ihn der Mut bei
nochmaliger Lektüre des Entwurfs oder seine Umgebung riet davon ab, dem
neuen CIA-Chef, der als Hardliner galt, derartig »weich« entgegenzutreten.
Das gilt auch für ein Schreiben an Critchfield, das Gehlen drei Tage später
entwarf.414 Seine ungewöhnliche Weigerung, die deutschen Quellen im Nahen
Osten preiszugeben, stand hier gleichfalls im Hintergrund. Er sehe die Not­
wendigkeit, ihn in einer sehr persönlichen, nichtoffiziellen Weise über seine
Gedanken zu unterrichten. Critchfield habe den Eindruck geäußert, dass man
offenbar nicht das gleiche Interesse an einer langfristigen Zusammenarbeit
habe. Es sei auch nicht wahr, dass er eine engere Verbindung mit den Briten
vermeiden wolle. Aber er habe die Absicht, einen kompletten und unabhängi­
gen deutschen Nachrichtendienst aufzubauen. Dafür habe er die Zustimmung
seiner Regierung.
Das werde aber nicht die enge Freundschaft und Kooperation in der Zukunft
berühren. Auch unter besten Freunden sei es abseits gemeinsamer Operatio­
nen nicht üblich, sich gegenseitig in allen Einzelheiten über Strukturen und
Personal zu informieren. Bei der bisherigen Zusammenarbeit im Hinblick auf
die SBZ sei das anders gewesen. Hier habe er Zugeständnisse gemacht. Jetzt sei
es seine Aufgabe, nach dem bevorstehenden Transfer in den Bundesdienst die
Org Schritt für Schritt so umzubauen, dass sie selbst für die Amerikaner nicht
durchsichtig sei. Der Wert der Org als künftiger deutscher Nachrichtendienst
würde für die CIA gering sein, wenn man sie für einen US-Satelliten hielte. Der
bisherige große Verbindungsstab habe den Eindruck erweckt, dass die Org ein
»purely American shop« sei. Das müsse sich ändern! Man werde ein vertrau­
ensvoller Partner sein, aber kein Satellit. Deshalb müsse man sich schon jetzt
über die weiteren Schritte verständigen, um den Verbindungsstab schrittweise
zu reduzieren und den Spielraum der Org zu erweitern. Dazu schlug Gehlen
vier Phasen vor.
Er machte Critchfield abschließend einige Komplimente. Dieser habe einen
schwierigen Job als Vermittler. Dafür verdiene er persönlich größte Achtung
und Bewunderung. Seine eigene berufliche Verantwortung verpflichte ihn
aber, im Auftrag der Bundesregierung für eine zukunftsweisende Regelung zu
sorgen. Es sei sein Dilemma, die augenblicklichen Probleme lösen zu müssen

414 Entwurf eines Schreibens von Gehlen an Critchfield, 17.3.1953, ebd., Blatt 18-20.

804
und gleichzeitig die künftigen Aufgaben vor Augen zu haben. Vielleicht hätte
er in der Vertretung der eigenen Interessen einen härteren Weg beschreiten
sollen. Er sei vielleicht ein bisschen zu sanft in der Handhabung der gemein­
samen Probleme. Aber er wisse, dass jede Kooperation zwischen zwei Partnern
einen Kompromiss auf mittlerer Linie verlange. Deshalb habe er keinen harten
Standpunkt eingenommen, um Critchfields schwierige Aufgabe zu erleichtern.
Er plädiere mit diesem Brief für einen fairen Kompromiss.
Der Briefentwurf blieb in den Akten und Gehlen bemühte sich, sein Anlie­
gen in Gesprächen mit Critchfield zu erreichen. Dieser hatte einige erfreuli­
che Neuigkeiten.415 Die Gespräche mit den Briten über die Einrichtung eines
Verbindungsbüros waren erfolgreich verlaufen. Samuel Reber werde in einigen
Tagen zu einem Briefing nach Pullach kommen. Außerdem sei den Amerika­
nern bekannt geworden, dass Dr. Klemmer vom Landesamt für Verfassungs­
schutz Bremen von Gehlens Auftritt kürzlich in der »Präsidentenrunde«416
einen positiven Eindruck gewonnen habe. Gehlen sei »kein preußischer Gene­
ral« – wie mag er dieses »Kompliment« empfunden haben? Seinerseits berich­
tete er von einer Einladung Ende März durch den französischen Geheim­
dienstchef. In Paris sei außerdem ein Gespräch mit dem deutschen Botschafter
sowie mit Wessel vorgesehen. Gehlen bat, über den Besuch nicht den örtlichen
CIA-Vertreter zu unterrichten. Er wollte offenbar nicht wie ein CIA-Mann auf
Dienstreise behandelt werden. Critchfield äußerte zwar Bedenken, versprach
aber darüber mit General Truscott zu reden.
Bei dem Cheftreffen in Paris herrschte eine »freundschaftliche Atmo­
sphäre«, da die deutsch-französische Zusammenarbeit bereits prächtig
gedieh. Boursicot und Mercier hatten ihre wichtigsten Fachleute mitgebracht,
die sich betont aufgeschlossen zeigten. Bei den Gesprächen stand das Thema
der Auswirkungen von Stalins Tod an erster Stelle. Als besonderen Vertrauens­
beweis gaben die Franzosen tiefe Einblicke in ihre Aktenführung und erwarte­
ten eine engere Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Funkhorchdienstes, um
sich selbst von der Dominanz der Amerikaner zu befreien. Auch die Einladung
zu einem Abendessen in die Privatwohnung von Boursicot konnte Gehlen als
Ausdruck besonderer Verbundenheit verstehen.417
Das persönliche Zusammentreffen mit einem Vertreter des britischen
Geheimdienstes verlief nach Gehlens Eindruck im Ganzen positiv.418 Doch sein

415 Gespräch Gehlen – Critchfield, 18.3.1953, ebd., Blatt 24-26.


416 Gemeint war vermutlich eine Runde von Abteilungsleitern beim Präsidenten des Lan­
desamtes für Verfassungsschutz in Bremen.
417 Aktennotiz über die Reise am 31.3./1.4.1953, BND-Archiv, 3141; siehe dazu demnächst
Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
418 Gespräch Gehlen – Critchfield, 25.3.1953, BDN-Archiv, 1173, Blatt 27-29.

805
Misstrauen blieb. Die Briten hätten gegenüber der Org eine andere Einstellung
als Amerikaner und Franzosen. Die Zusammenarbeit werde nur ganz langsam
vorangehen, »denn die Engländer spielen Schach, so daß auch wir gezwungen
sind, Reservationen zu haben«, berichtete Gehlen. Critchfield wollte wissen,
ob dies tatsächlich das erste Zusammentreffen zwischen deutschen und briti­
schen Nachrichtendienstlern seit 1923 sei. Dazu konnte Gehlen nichts sagen,
aber er berichtete, dass es während des Zweiten Weltkriegs einen Kontakt mit
dem Secret Intelligence Service über die exilrussische Organisation »Regenau«
gegeben habe. Davon habe außer ihm nur Baun etwas gewusst. Im Juli 1941 war
von der Wehrmacht eine erste freiwillige russische Formation unter Leitung
von Boris Smyslowski, einem ehemaligen zarischen Gardeoffizier, gebildet
worden, der das Pseudonym »Hauptmann von Regenau« benutzte. Die Ein­
heit wurde zur Aufklärung im Hinterland der Roten Armee sowie gegen die
Partisanen eingesetzt und umfasste als »Sonderstab R« bzw. als »Sonderdivi­
sion R« mehrere Tausend Mann. Bei Kriegsende nannte sie sich »1. Russische
Nationalarmee«. Zur gleichen Zeit, als Gehlen seine Hütte auf der Elendalm
bezog, marschierte die Truppe nach Liechtenstein, wo sie Asyl erhielt. Viele
Offiziere wanderten nach Argentinien aus, die Mannschaften kehrten zumeist
in die UdSSR zurück.419
Die zunehmende Flüchtlingswelle aus der DDR sorgte in West-Berlin für
wachsende Schwierigkeiten. In Pullach hatte Gehlen inzwischen dafür gesorgt,
dass man sich Gedanken über eine Sicherstellung der nachrichtendienstli­
chen Verbindungen im Falle einer Abschnürung des westlichen Teils der Stadt
machte.420 Mit dem »Juno«-Programm sollten Agentenfunk-Residenturen auf­
gebaut und möglichst schon vor einem Ernstfall voll eingesetzt werden kön­
nen. Außerdem musste für die »Meldefestigkeit« der Quellen gesorgt werden,
also deren Absicherung und Arbeitsfähigkeit, ebenso für den Bau von Schleu­
sen durch die Sektorengrenze und die Einrichtung von Führungsstellen in der
SBZ, um die neuralgische Zusammenballung in West-Berlin aufzulockern. Es
galt, die wirtschaftliche Verzahnung der beiden Teile Berlins zu untersuchen,
um festzustellen, welche Personengruppen mögliche Sperrzonen noch über­
schreiten würden dürfen etc. Gehlen setzte einen »Führungsexponenten Ber­
lin« als seinen Vertreter vor Ort ein und ordnete die Einrichtung eines »Mel­
dekopfes Berlin« an, mit Fotolabor und Radiostation.421

419 Siehe insgesamt Henning Freiherr von Vogelsang: Kriegsende in Liechtenstein. Das
Schicksal der Ersten Russischen Nationalarmee in der Deutschen Wehrmacht, Freiburg
im Breisgau 1985.
420 Gespräch Gehlen – Critchfield, 1.4.1953, BND-Archiv, 1173, Blatt 30-31.
421 Memorandum Gehlens für Critchfield, 14.4.1953, ebd., Blatt 34-37.

806
Im Zuge dieser generalstabsmäßig geplanten Maßnahmen dachte er
schließlich auch an die Anweisung, künftig keine Agenten mehr anzuwerben,
die bereits in Verbindung zu anderen US-Agenturen standen. Ob ihm damit
ein unabhängiges Lagebild möglich sein würde, blieb offen. Es war der Org
immerhin gelungen, ihren Bestand an V-Leuten im Osten seit 1950 mehr als zu
verdoppeln. Aber viele von ihnen waren unzureichend oder gar nicht ausgebil­
det.422 Als besonders schwach schätzte der US-Verbindungsstab in Pullach die
Org im Hinblick auf die Gegenspionage ein. Sie sei nicht in der Lage, nennens­
werte Erkenntnisse über östliche Nachrichtendienste zu beschaffen. Es gebe
gegenwärtig keine Operationen zur Überwachung bekannter Zielobjekte, noch
seien solche in absehbarer Zeit geplant, ebenso liefen keine nennenswerten
Penetrationsoperationen.423 Zwar verfügten die Amerikaner hierfür über einen
eigenen Apparat, aber das Beispiel zeigt, dass Gehlens Org im Sommer 1953
noch weit davon entfernt war, ein »vollständiger« Nachrichtendienst zu sein.
Nicht viel besser sah es im Bereich der strategischen Aufklärung aus, für die
sich Gehlen bei Globke um eine Finanzierung bemühte, um seinen Spielraum
gegenüber den Amerikaner zu vergrößern.424
Nach außen hin blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als das alte Gene­
ralstabsmotto »Mehr sein als scheinen« umzudrehen. Die Fähigkeiten und
Erkenntnisse der Org größer erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich waren,
erforderte von Gehlen ein gewisses Geschick, mit Andeutungen und einge­
streuten Bemerkungen seine Gesprächspartner zu beeindrucken. Critchfield
und dessen Führungsgehilfen in Pullach ließen sich damit natürlich nicht täu­
schen, und auch in Bonn erwartete man handfeste Ergebnisse, die sich an der
Konkurrenz durch die Heinz-Gruppe messen lassen mussten. Die zahlreichen
Kritiker der Org, die ja zumeist nicht auf der »Kundenliste« Gehlens standen,
ließen sich so nicht mundtot machen. Anders sah es bei seinen Auslandsreisen
aus, auf denen er den geheimnisvollen deutschen Spionagechef spielen konnte,
der über beste Verbindungen zu den Amerikanern verfügte.
So unternahm Gehlen im Vorfeld der erwarteten Krise um Berlin wieder ein­
mal zahlreiche Reisen. In der Schweiz traf er Inspektor Ulrich, in Paris ärgerte
ihn ein Artikel des Figaro gegen die Org, der teilweise wörtlich übereinstimmte
mit der noch immer nachwirkenden Attacke von Sefton Delmer, und fuhr
Ende April 1953 für drei Tage nach Italien. Hier traf er Pater Leiber wieder, den
Beichtvater des Papstes, der ihm versicherte, dass seine Vermutung, die katho­
lische Kirche setze auf einen innersowjetischen Wandel als Folge von Stalins

422 Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 28-31.


423 Ebd., S. 45.
424 Gespräch Gehlen-Globke, 24.4.1953, BND-Archiv, 4317.

807
Tod, falsch sei.425 Hier war Gehlen offensichtlich einer Meldung seines Bruders
Johannes aufgesessen, die dieser sich vermutlich aus bloßer Zeitungslektüre
oder einzelnen Meinungsäußerungen von kirchlichen Vertretern zusammen­
gebastelt hatte. Bei einem Mittagessen mit dem Botschafter Spaniens hörte
er »ganz vernünftige Ansichten«, schätzte die Exzellenz aber dennoch so ein,
dass er kein »besonders großrahmiger Vertreter« sei, also keine große Leuchte,
wie er in seinem Generalstabsjargon auch hätte formulieren können. Gesprä­
che mit dem Schweizer Oberst Daniels machten ihn mit den Bestrebungen
des Rüstungskonzerns Hispano-Suiza vertraut, in Frankfurt eine Filiale ein­
zurichten, um bei einer westdeutschen Wiederbewaffnung ins Geschäft zu
kommen – die Gelegenheit schien günstig, weil die alten Rüstungsfirmen in
Westdeutschland wenig Neigung zeigten, nach ihren früheren Erfahrungen in
das heikle Geschäft erneut einzusteigen.426
Zurück im »Tollhaus«, Bonn dürfte Gehlen mit Befriedigung zur Kennt­
nis genommen haben, dass Globke sich einverstanden zeigte, wenn die Org
künftig ihren Mitarbeitern die gleichen Bedingungen wie im Amt Blank bieten
würde.427 Für ihn persönlich war sicher die Mitteilung, der Kanzler habe einen
Kabinettsbeschluss herbeigeführt, dass Gehlen die Führung eines Bundes­
nachrichtendienstes übernehmen solle,428 ein Triumph, der aber weder sofort
öffentlich wurde noch hinter den Kulissen seine Stellung gegenüber den Kri­
tikern und Konkurrenten verbesserte. Es war ein Zukunftsversprechen, nicht
mehr und nicht weniger. Dass es Adenauer erst zwei Jahre später einzulösen
vermochte, war für Gehlen nicht vorhersehbar.
Es lag auch im Interesse der CIA, schon jetzt an ein bilaterales deutsch­
amerikanisches Abkommen zu denken, das nach der Ratifizierung des
Deutschlandvertrages die Überleitung der Org (»Zipper«) regeln würde. Ein
entsprechender Entwurf lag Anfang Mai 1953 in Washington vor.429 Es sollte
die Gelegenheit genutzt werden, künftige Vorrechte der CIA und deren maß­
geblichen Einfluss auf den künftigen deutschen Nachrichtendienst auszuhan­

425 Eintrag 27.4.1953, ebd.


426 Besprechung Gehlen-Daniels, 2.5.1953, ebd. Zur Rolle der Rüstungsindustrie siehe Die­
ter H. Kollmer: Rüstungsbeschaffung in der Aufbauphase der Bundeswehr. Der Schüt­
zenpanzer HS 30 als Fallbeispiel, 1953-1961, Stuttgart 2002.
427 Gespräch Gehlen – Globke, 24.5.1953, BND-Archiv, 4317.
428 Ein solcher Kabinettsbeschluss findet sich nicht in der Edition Die Kabinettsprotokolle
der Bundesregierung, Bd. 6: 1953, hg. für das Bundesarchiv von Hans Booms, Boppard
a. Rh. 1989. Vermutlich wurde der Beschluss am 31. März 1953 getroffen, für den das Pro­
tokoll eine geheime Beratung erwähnt, für die keine Unterlagen mehr ermittelt werden
konnten; S. 254.
429 Memorandum EE (CIA-Abt. Eastern Europe): US/German Federal Government Agree­
ment on Zipper; in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. 2, S. 431-452.

808
dein. Zu diesem Zweck listete man die einzelnen Tätigkeitsfelder nach dem
gegenwärtigen Stand und den Zielen der Org, der Art der Unterstützung durch
die CIA und ihren Nutzen, dann dem künftigen deutschen Potenzial und den
amerikanischen Interessen auf.
Daraus ergab sich die Feststellung, dass die Haupttätigkeit der Org auf der
militärischen Aufklärung gegenüber der DDR lag und der CIA jährlich etwa
6000 Meldungen brachte, außerdem wertvolle Monatsberichte über die Feind­
lage und spezielle Studien. Für eine absehbare Zukunft habe die CIA ein Inte­
resse, die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands weiterhin beobachten zu
lassen. General Gehlen habe zugesagt, dass er auch nach einer Übernahme
der Org durch die Bundesregierung die gesamte Produktion über den Sowjet­
block der CIA zugänglich machen werde. Hinsichtlich der UdSSR seien die
Möglichkeiten der Org dagegen sehr beschränkt. Gegenwärtig führe sie keine
aktiven Operationen in die UdSSR hinein und habe sich auch aus dem Balti­
kum zurückgezogen.
Auch für die Zukunft beanspruchte die CIA die Sowjetunion als ihr vor­
rangiges Zielgebiet. Das Zugeständnis von Gehlen, nach einer Legalisierung
der Org würden die Amerikaner weiterhin seine Erkenntnisse über den Ost­
block erhalten, wertete man als bloße formelle Konzession für die Akten. Man
ging allerdings davon aus, dass Pullach bei einer vollständigen Autonomie alle
seine Möglichkeiten nutzen würde und in einigen Bereichen für die westliche
Aufklärung gegenüber der UdSSR Nutzen bringen könnte. Für die notwendigen
Absprachen müsste ein entsprechendes Verbindungsbüro geschaffen werden.
Dagegen habe die Org selbstständige Operationen im Nahen Osten entwi­
ckelt und die CIA nur gelegentlich unterrichtet. Gehlen wisse, dass die USA
sehr daran interessiert sind, die Aktivitäten enger zu koordinieren, aber Zuge­
ständnisse habe er bislang nicht gemacht. Es liege allerdings im Interesse des
gemeinsamen Kampfes gegen die sowjetischen Ambitionen, auf diesem Felde
künftig enger zu kooperieren.
Im Bereich der psychologischen Kriegführung habe die Org Anfang 1952
einen eigenen Planungsstab eingerichtet. Mit Zustimmung der Bundesre­
gierung und des SPD-Vorsitzenden Schumacher habe man als Hauptgebiet
Ostdeutschland bestimmt. Längerfristig sei daran gedacht, die Aktivitäten
auf die Satellitenstaaten auszudehnen. Auch hinsichtlich der UdSSR verfüge
die Org über Kontakte zu entsprechenden Emigrantenorganisationen, die
dafür genutzt werden könnten. Bis zur Legalisierung würden aber keine ent­
sprechenden Operationen unternommen, auch nicht gegen Ostdeutschland.
Am 7. Januar 1953 habe Globke die Anweisung erteilt, dass die Durchführung
öffentlicher und halböffentlicher Operationen vom Kanzleramt koordiniert
würde. Gegenwärtig würden sich die Aktivitäten der Org in diesem Bereich auf
die Anfertigung akademischer Studien beschränken. Die CIA hatte natürlich

809
ein Interesse daran, künftige Operationen zu beeinflussen. Es gebe Anzeichen
dafür, dass die Org vor allem geheime Aktivitäten in Westdeutschland entfal­
ten wolle, um die deutsche Bevölkerung zu beeinflussen, was von deutschen
Regierungspolitikern bestritten werde.
Die Bestandsaufnahme der CIA blieb vorerst in der Schublade. Für den wei­
terlaufenden Betrieb musste eine Reihe von wichtigen Fragen geklärt werden,
die aber das Verhältnis zwischen der Org und ihrem US-Partner belasteten.
Dazu gehörten nicht zuletzt die aktuellen Budgetverhandlungen, denn ohne
die Dollars aus Washington wäre die Org zu dieser Zeit nicht arbeitsfähig gewe­
sen. Bei allem Wohlwollen, dem Gehlen im Bonner Kanzleramt begegnete, Gel­
der aus dem Bundeshaushalt konnte er vorerst nicht erwarten – anders als
sein Konkurrent Heinz. Den Etatvoranschlag von Pullach hatte Critchfield in
Washington zu vertreten. Er nahm eine lange Liste von grundsätzlichen Fra­
gen mit, die er mit Horst Wendland (DN Wendt) durchsprach, seit 1949 »Füh­
rungsbeauftragter für zentrale Aufgaben der Gesamtführung«.430 Wendland
wurde 1967 als Nachfolger Gehlens gehandelt.
Das bisher ungeklärte Verhältnis der Org zu den Amerikanern im Falle
eines Krieges lag Gehlen besonders am Herzen. Critchfield akzeptierte die
Notwendigkeit von Sonderverbindungen Gehlens, auch den Umstand, dass
einzelne nicht der amerikanischen Seite bekanntgegeben wurden, obwohl sie
letztlich von den USA bezahlt wurden. Critchfield wollte auch die Punkte psy­
chologische Kriegführung und Fernmeldeaufklärung sowie die Kriegsplanung
in der Zentrale ansprechen. Er nahm sich vor, dass die Org künftig regelmäßig
Informationen der CIA über jene Länder erhalten sollte, für die sich die Org
interessierte. Es schien ihm offenbar an der Zeit zu sein, den Informationsfluss
nicht länger als Einbahnstraße zu organisieren. Das war ein gut gemeintes Vor­
haben, ganz im Sinne der Org, aber wohl kaum für die CIA-Zentrale, die bislang
ihren Pullacher Nachrichtenlieferanten gegenüber ihren anderen Agenturen
abschottete.
Kurz vor seinem Abflug sprach Critchfield auch mit Gehlen persönlich.
Er bedankte sich für die Betreuung des CIA-Mitarbeiters Sherman Kent, den
Gehlen vor zwei Jahren bei seinem Besuch in der CIA-Zentrale kennenge­
lernt hatte. Ihn trieben noch immer methodische Fragen um, etwa wie die
Org die Fehlerquote ihrer Kalkulation zur Stärke der sowjetischen Streitkräfte
berechne. Wenn zum Beispiel für die Ostzone und die Satellitenstaaten eine
Sicherheit der Prognose von 98 Prozent angesetzt werde, müsste sich das
doch bei fortschreitender Tiefenerfassung nach Osten verringern? Kent bat
um eine spezielle Studie dazu mit methodischen Angaben, wie man zu dieser

430 Aktennotiz über die Besprechung Wendland – Critchfield, 6.5.1953, BND-Archiv, 4317.

810
ungewöhnlich hohen Gewissheit komme – gewiss keine leichte Aufgabe für
Gehlen.431
Der »Doktor« wollte es nicht versäumen, Critchfield ein weiteres persön­
liches Schreiben an Dulles mitzugeben. Er spürte offenbar das Bedürfnis,
erneut auf die angestrebte Gleichrangigkeit mit dem CIA-Chef abzuheben und
dessen Abgesandten Critchfield nicht einfach die Rolle des Unterhändlers zu
überlassen. Gehlen verzichtete auf ein längeres Memorandum, die Positio­
nen waren geklärt. So verfasste er einen kurzen Brief, mit dem er Dulles dafür
dankte, dass in den letzten Monaten die Org mehr Freiheit und Verantwortung
bei der Durchführung von Operationen erhalten habe. Dulles wisse doch aus
eigener langjähriger Erfahrung, dass allzu strenge Regulierungen der Tod jedes
Geheimdienstes seien – ein Wink mit dem Zaunpfahl!432
Gehlen übergab den Entwurf an Critchfield zur Weiterleitung, der sich mit
dem Inhalt einverstanden zeigte.433 Der »Doktor« wollte offenbar die Peinlich­
keit der Situation durch einige spontane Eingebungen überspielen. Er zeigte
sich also besorgt über die Sicherheit im Amt Blank und beim Verfassungs­
schutz Johns. Angeblich hatte er 1951 eine Meldung erhalten, dass ein Bericht
aus Paris innerhalb von drei Tagen in Berlin-Karlshorst bei der KGB-Zentrale
gelandet sei, angeblich über das Amt Blank. Die Briten hätten ihm außerdem
mitgeteilt, dass bei Staatssekretär Lenz Vorsicht geboten sei – Lenz wollte
demnächst Dulles in Washington besuchen. Hier sorgte Gehlen schon einmal
durch eine Indiskretion vor. Er zeigte größtes Interesse daran, von den Ame­
rikanern zu erfahren, ob John nun für die Briten oder den Osten arbeite. Er
hoffte wohl auf belastendes Material gegen seinen Konkurrenten. Dann sprach
er noch rasch die möglichen Fluchtpläne an, die ihm stets am Herzen lagen.
Nach eingehender Prüfung hielt er Portugal für besonders geeignet, eine Exil­
regierung aufzunehmen. Critchfield versicherte, dass man in Washington aus­
giebig über die Kriegsplanungen sprechen werde und im Grundsatz mit den
Vorschlägen aus Pullach einverstanden sei. Gehlen gab ihm außerdem eine
größere Ausarbeitung zur Problematik von Zersetzung und Sabotage beim
Gegner mit auf den Weg.434
In Bonn dagegen kamen die Dinge für Gehlen nicht recht voran. Globke
verwies auf bösartige Angriffe gegen die Org und forderte eine Aufklärung
der Hintergründe.435 Er sprach Gehlen aus dem Herzen, wenn er meinte, dass

431 Schreiben Critchfields an Gehlen, 13.5.1953, ebd.


432 Entwurf eines Schreibens von Gehlen an Allen W. Dulles, 12.5.1953, BND-Archiv, 1173,
Blatt 40.
433 Notiz über die Besprechung Gehlen – Critchfield, 13.5.1953, ebd., Blatt 41.
434 Notiz Gehlens vom 13./14.5.1953, BND-Archiv, 4317.
435 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 20.5.1953, ebd.

811
Heinz verschwinden müsse, was von Blank allerdings immer wieder hinausge­
schoben werde. Immerhin billigte Globke bereits eine Aktennotiz von Gehlen
über die Besetzung wichtiger Schlüsselstellen im künftigen BND.
Aus der Sicht von Heusinger war die Zukunft von Gehlens Konkurrenten
Heinz noch längst nicht besiegelt. Ende Mai 1953 erläuterte er einigen Abge­
ordneten des EVG-Ausschusses in Wiesbaden, am Sitz des »Archivs für Gegen­
wartsforschung«, im Beisein von Friedrich Wilhelm Heinz Aufgaben und Funk­
tion des auf militärische Aufklärung beschränkten Nachrichtendienstes der
Dienststelle Blank.436 Die Abgeordneten ließen bei dieser Gelegenheit erhebli­
che Vorbehalte gegen die Org erkennen. Sie erschien »von fremder Seite vor­
gebildet«. Ebenso wurde die Tendenz zur Weiterentwicklung zu einem obers­
ten und umfassenden Nachrichtendienst abgelehnt. Heusinger stellte seine
bisherige Fürsprache für die Übernahme der Org durch die Bundesregierung
wohlweislich zurück.
Wenige Tage später ließ Heusinger in einem vertraulichen Gespräch mit
Wessel seine Gründe erkennen. Der Bundestagsausschuss sei sehr positiv vom
Heinz-Dienst beeindruckt, was auch für ihn selbst gelte, meinte Heusinger.
Fritz Erler (SPD) und Franz Josef Strauß (CSU) hätte ihm gegenüber erklärt,
dass sie niemals der Übernahme der Org zustimmen würden, weil Gehlen
innenpolitische Ambitionen hege.437 Man habe nichts gegen die einzelnen
Mitarbeiter, er, Heusinger, habe ja selbst dazugehört, aber Innenpolitik und
Gegenspionage hätten bei der Org nichts zu suchen. Heusinger meinte, dass
sei wohl eine Auswirkung des Bestrebens der Org, ihre Leute in möglichst vie­
len Ämtern und Dienststellen zu platzieren. Er bat darum, seine Bezahlung
durch Pullach künftig nicht mehr regelmäßig zu leisten, weil sich das eines
Tages ungünstig auswirken könnte. Er bevorzugte eine vierteljährliche Über­
weisung.438 Das war ein erster Hinweis darauf, dass der künftige höchste Soldat
der Bundeswehr seine Tätigkeit besser von Gehlen abgeschirmt wissen wollte,
eine klammheimliche Distanzierung, die ihm später von anderen führenden
Mitarbeitern Gehlens vorgeworfen wurde. Was dieser über das Ansinnen sei­
nes ehemaligen Chefs dachte, wissen wir nicht. Er könnte es als eine Demü­
tigung empfunden haben, wenn er sich nicht in solchen Dingen eine als kalte
Sachlichkeit getarnte Gleichgültigkeit zugelegt hätte.
Wessel war wieder einmal besorgt über den Kurs von Gehlen. In einem
Brief an einen Vertrauten berichtete er, dass viele »urteilsfähige Personen«
erhebliche Gefahren sähen durch die einseitig auf Globke festgelegte Politik

436 Meyer, Heusinger, S. 457- 458.


437 Aufzeichnung über das Gespräch Wessel-Heusinger, 3.6.1953, BND-Archiv, N l/v.6.
438 Schreiben Wessels an »Reiner« (Werner Repenning, Gehlens Verbindungsmann in
Bonn), 12.6.1953, ebd.

812
Gehlens.439 Man müsse versuchen, ihn in engeren Kontakt mit »wirklich füh­
renden Persönlichkeiten« zu bringen, von denen die Zukunft der Org positiv
beeinflusst werden könnte. Gehlen habe zu Blank einfach keinen menschli­
chen Kontakt gefunden. Wessel schrieb weiter: Mit seinen eigenen Warnun­
gen könnte er Gehlen lästig werden, womit sich seine Zukunftsplanungen zer­
schlagen könnten. Er könne aber nichts daran ändern, wenn er vor sich selbst
verantwortet Dinge ungeschminkt weiter an Gehlen gebe, die ihm bekannt
geworden seien.
Dagegen schienen die Beziehungen zum neuen CIA-Chef auf einem guten
Weg zu sein. Dulles bedankte sich für das letzte Schreiben von Gehlen und
kündigte Interesse an einem Ausbau der Zusammenarbeit auch über die bis­
herigen Felder hinaus an. Critchfield sei informiert. Er hoffe, in einigen Mona­
ten bei einem Besuch in Europa auch mit Gehlen persönlich über diese Fragen
diskutieren zu können.440 Offenbar geschmeichelt, machte sich Gehlen sofort
an den Entwurf eines erneuten Schreibens an Dulles, um seine Einschätzung
der politischen Situation in der Welt und die möglichen Entwicklungen mit­
zuteilen und zu erfahren, ob Dulles womöglich eine andere Meinung zu dem
einen oder anderen Problem habe. Wegen der Ereignisse in der DDR im Juni
blieb der Entwurf zunächst in der Schublade und wurde erst vier Wochen spä­
ter auf den Weg gebracht.441
Inzwischen berichtete Critchfield nach der Rückkehr aus den USA von dem
Gespräch mit seinem Chef.442 Dieser hatte mit Staatssekretär Lenz gesprochen,
der ihn fragte, was denn die USA mit der Org vorhätten. Antwort von Dulles:
Es liege an den Deutschen zu entscheiden, was ihr Anteil an der nachrichten­
dienstlichen Zusammenarbeit in Westeuropa sei solle. Er teile den Standpunkt
Gehlens, dass die geheime psychologische Kriegführung Sache des Nachrich­
tendienstes sei. Propaganda sei dagegen eine andere Sache. Dulles habe sich
mit den Leistungen der Org im Allgemeinen sehr zufrieden gezeigt. Als Erstes
habe er konkret die Frage der Aufklärung im Nahen und Mittleren Osten ange­
schnitten. Hier gebe es gemeinsame Interessen. Aber leider liege die Zusam­
menarbeit mit den Briten im Argen. Diesen Vorwurf an die deutsche Seite wies
Gehlen sofort zurück. Die Briten hielten die Org für ein bloßes Instrument
der USA.
Dulles betrachtete die aufgeworfene Frage des Sabotagedienstes vorläufig
als nicht aktuell und kam damit den Besorgnissen Gehlens entgegen. Großes
Interesse dagegen zeigte der CIA-Chef am Thema Gegenspionage. So seien

439 Schreiben Wessels an »Reiner« (Werner Repenning), 5.6.1953, ebd.


440 Schreiben von Dulles an Gehlen, 1.6.1953, BND-Archiv, 1173, Blatt 44.
441 Entwurf eines kurzen Schreibens von Gehlen an Dulles, 6.7.1953, ebd., Blatt 47.
442 Besprechung Gehlen-Critchfield, 106.1953, BND-Archiv, 4317.

813
die Erkenntnisse der Org über die subversive Westarbeit der DDR-Blockpartei
NDPD sehr wertvoll und von politischem Nutzen. Allerdings bezog sich Dulles
auch auf Informationen, dass sich die Org zu sehr innenpolitisch betätige, und
wünschte bei seinem geplanten Deutschlandbesuch Aufklärung über Art und
Umfang dieser Betätigung.
Gehlen nahm diesen Hinweis zum Anlass, um seinen Mitarbeitern sogleich
in einem Rundschreiben einzubläuen, dass es keine innenpolitische Aufklä­
rung gegen Parteien und Einzelpersonen geben dürfe. Nur eine völlig überpar­
teiliche Arbeit könne von Regierung und Opposition mitgetragen werden. Die
Org verfuge über »wertvollste« Menschen und Fachleute, die von der westli­
chen Seite nicht entbehrt werden könnten. Sie dürften nicht im Parteienstreit
zerrieben werden. »Wir haben als Widersacher den Bolschewismus und seine
Helfershelfer in vielerlei Gestalt, und die besondere Aufgabe, unseren wesent­
lichen Beitrag zu seiner Abwehr und Überwindung zu leisten, und wir müssen
uns dafür in Form halten.«443
Die dienstinterne Ablehnung innenpolitischer Aufklärung diente lediglich
zur Abdeckung einer gänzlichen anderen Praxis, die weder dem Kanzleramt
noch der CIA verborgen blieb und auch ausdrücklich gewünscht wurde. Alles
war letztlich Fassade. Der Ausbruch des Volksaufstandes in der DDR zwei Tage
später lenkte von diesem leidigen Problem ab und stellte die Org auf die Probe.

5. Nach dem Volksaufstand in der DDR (1953/54)

Der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 geriet zu einem vollständigen
Fiasko der Organisation Gehlen. Der von den USA finanzierte und geführte
deutsche Geheimdienst hatte über etwa 700 Agenten auf dem Boden der
DDR, konnte von West-Berlin aus unmittelbar in den anderen deutschen
Staat hineinwirken und verfugte durch die wachsende Zahl von Flüchtlingen
über aktuelle Informationen auf allen Gebieten. Doch der Aufklärungsdienst
Gehlens hatte sich daran gewöhnt, in Moskau den Hauptakteur zu sehen. Die
krisenhafte Entwicklung in der DDR war demgegenüber in den Hintergrund
geraten, weil der Schwerpunkt der nach Bonn gesandten Berichte aus Pullach
auf der Einschätzung der außenpolitischen Strategie der Sowjetführung sowie
der Stärke und Dislozierung der sowjetischen Streitkräfte ist Ostmitteleuropa
lag.444

443 Anweisung von Gehlen über die Arbeit der Organisation auf dem politische Gebiet,
15.6.1953, VS-Registratur Bka, Bk 1:15100(64) Bd. 1.
444 Siehe Ronny Heidenreich: Die Organisation Gehlen und der Volksaufstand am
17. Juni 1953, Marburg 2013, S. 14.

814
Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, hier in Leipzig

Zwar erkannten Gehlens Sachbearbeiter auch die repressive Politik des


DDR-Regimes, aber sie hielten es entsprechend der Vorstellungswelt Gehlens
für ausgeschlossen, dass sich daraus ein Volksaufstand entwickeln könnte.
Zum Feindbild Sowjetunion gehörte die Annahme, dass der Sicherheitsap­
parat des totalitären kommunistischen Regimes in der Lage sein würde, jede
Opposition auszuschalten. Nur im Kriegsfall rechnete man sich im Westen
Chancen für Aufstandsbewegungen aus. Auch deshalb lag das Hauptaugen­
merk der wirtschaftlichen Aufklärung auf der Beobachtung der Rüstungsin­
dustrie, deren Leistungsfähigkeit für eventuelle Angriffspläne Moskaus von
Bedeutung war. Nicht zuletzt hatte sich die politische Diskussion im Westen
seit dem Ausbruch des Koreakrieges um die Stärkung der eigenen Verteidi­
gungsbereitschaft und einen deutschen Wehrbeitrag gedreht, was in Pullach
nicht ohne Folgen blieb. Gehlen selbst hatte sich fast ausschließlich um die
Aufklärung der sowjetischen Politik und die Notwendigkeit einer deutschen
Wiederbewaffnung gekümmert, um damit die Übernahme seiner Org in den
Bundesdienst zu erreichen. Streikbewegungen unter Ost-Berliner Bauarbei­
tern schienen aus dieser Optik ohne Belang zu sein. Von Interesse war einzig
die Einschätzung, wie es der Sowjetführung gelingen würde, das DDR-Regime
zu festigen und so die eigenen Kriegsvorbereitungen abzusichern.
Als sich am Morgen des 17. Juni 1953 rund eine Million Menschen in der
DDR zu einer umfassenden Streikbewegung organisierten, war man in Pullach

815
völlig überrascht und entnahm die neuesten Meldungen den Radiogeräten.445
Um die Mittagszeit, als die Volkspolizei mit Rückendeckung durch die Rote
Armee den Aufstand niederzuschlagen begann, dämmerte am Isarstrand die
Einsicht, dass es Zeit wurde, die Lage neu zu beurteilen. Offenbar hatte die
Leitung den Demonstrationen zunächst keine größere Bedeutung zugemessen
und erst die Mobilisierung der Roten Armee als potenzielle Bedrohung für die
Bundesrepublik wahrgenommen. Gehlen ordnete für 16 Uhr eine Besprechung
der Abteilungsleiter an. Die Außenstellen erhielten Anweisung, eine schnelle,
laufende Berichterstattung über die Vorgänge in der DDR sicherzustellen.446
Vordringlich zu klären sei die Regie der Sowjets bei der Auslösung der Demons­
trationen – denn Gehlen war der festen Überzeugung, dass der Arbeiterstreik
nur von langer Hand aus Moskau herbeigeführt sein konnte, um Ulbricht unter
Druck zu setzen, durch mögliche Zugeständnisse Westdeutschland doch noch
vom Beitritt zur EVG abzuhalten. Gehlen ordnete deshalb an, das vermutete
Entgleiten der sowjetischen Regie und die Maßnahmen der »Zonenregierung«
zu untersuchen sowie nach Hinweisen zu forschen, die auf eine geplante Ablö­
sung Ulbrichts und Grotewohls hindeuteten. Das war leichter gesagt als getan.
Gehlen stand mit dieser aus heutiger Sicht absurden Lagebeurteilung am
17. Juni 1953 keineswegs allein. Auch die anderen westlichen Geheimdienste
hatten die Entwicklung nicht vorhergesehen und vermuteten – ebenso wie
Kanzler Adenauer in einer Regierungserklärung – eine sowjetische Regie hin­
ter der dramatischen Entwicklung.447 Tagelang war man in Pullach von Auf­
klärungsergebnissen abgeschnitten. Allein die Bewegungen der Roten Armee
wurden hinreichend registriert. Die politische Aufklärung hingegen versagte
auch nach interner Einschätzung völlig.448 Gehlen ordnete deshalb an, die
Erfahrungen auszuwerten, um Änderungen vorzunehmen. Aber er wollte
keine unmittelbare Weitergabe der Erkenntnisse an die US-Kontrolloffiziere
in Pullach. Er behielt sich vor, dort, wo es sinnvoll erschien, die Dinge mit
Critchfield direkt zu besprechen. Natürlich muss es für ihn peinlich gewesen
sein, wenn die Amerikaner in Pullach während des Aufstands vergeblich nach
neuesten Meldungen fragten.449 Man habe doch so viel Geld in die Org inves­
tiert. Aber bei seiner Begabung, unangenehmen Fragen auszuweichen, war es
nicht erstaunlich, dass er keine Schuldigen unter seinem handverlesenen Lei­

445 Ebd., S. 26.


446 Anweisung Gehlens vom 17.6.1953, BND-Archiv, 4317.
447 Siehe Heidenreich, Organisation, S. 42 – 50.
448 Notiz über die Gruppenleiter-Besprechung am 22.6.1953, BND-Archiv, 4317, Blatt 288 -
291; Studie »Der Juniaufstand in Ostberlin und der sowjetisch besetzten Zone Deutsch­
lands«, BND-Archiv, 7361, S. 224.
449 Heidenreich, Organisation, S. 30.

816
tungspersonal suchte, sondern die zuständigen Abteilungsleiter anhielt, aus
den Fehlern zu lernen und Verbesserungen durchzusetzen. Ohnehin forderte
die bald darauf beginnende Offensive der DDR-Staatssicherheit gegen die Org
die ganze Aufmerksamkeit.450
In der Stunde größter Bewährung war in Pullach das große Schweigen
ausgebrochen. Lediglich im Bereich militärischer Beobachtungen entsprach
man – wenn auch erst Tage nach den Ereignissen – den Erwartungen der
CIA.451 Von dem Ziel eines umfassenden, auch politischen Nachrichtendiens­
tes war Gehlen also noch weit entfernt. Seine Konkurrenten in Bonn, der
Heinz-Dienst des Amtes Blank sowie das Bundesamt für Verfassungsschutz,
unterrichteten die Bundesregierung schneller und umfassender. Ihre Analy­
sen waren zutreffender als die Mutmaßungen des Gehlen-Dienstes über die
sowjetische Deutschlandpolitik. Aber diese wurden in Regierungskreisen als
Bestätigung eigener Meinungen durchaus geschätzt. Der »Doktor« besaß das
notwendige Geschick, den Tenor der Berichte an den Vorstellungen des Kanz­
lers zu orientieren. Dass weder die Meldungen der DDR-Spionage der Org noch
die nachträglichen Untersuchungen in Pullach im Kanzleramt größere Beach­
tung fanden, beschädigte nicht sein Ansehen bei Globke, spornte aber dazu an,
die politische Berichterstattung über die DDR auszubauen. Schnelle Erfolge
waren dabei freilich nicht zu erwarten.
Reinhard Gehlen schien in keiner guten Verfassung zu sein. Wessel gewann
den Eindruck, dass dieser die Gefahren für die Org nicht sehen oder unter­
schätzen würde und »dass er vereinsamt und der Dinge z.Zt. nicht mehr ganz
Herr wird«.452 Er müsste die Verbindung zu Blank intensivieren, die zur Oppo­
sition ausbauen und durch Qualität überzeugen. Besonders wichtig sei der
Nachweis, dass man keine innenpolitischen Ambitionen hege – Wessel erwar­
tete nicht weniger als das Unmögliche von seinem ehemaligen Chef. Er schnitt
auch die umstrittene Tätigkeit von »>Alis< Club« an, dem Zusammenschluss
der Generale in der Org unter der Leitung von Fritz Scheibe, dem ehemaligen
Leiter der Führungsgruppe FHO. Gehlen reagierte unwirsch und räumte ein,
ihm seien die Zügel aus der Hand geglitten. Mellenthin, sein Stellvertreter, sei
nicht der richtige Mann, die Arbeit von »>Alis< Club« in das richtige Gleis zu
bringen. Man sollte aber den Club nicht auflösen, sondern einen anderen an
die Spitze stellen – wer das allerdings sein könnte, sei auch ihm schleierhaft.

450 Siehe dazu umfassend Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg,


S. 102-135.
451 General Truscott, Deutschland-Chef der CIA, bedankte sich bei Gehlen ausdrücklich
über die Order of Battle Berichte, siehe Schreiben vom 10.7.1953, BND-Archiv, 1173,
Blatt 63.
452 Schreiben Wessels an einen Vertrauten in Pullach, 18.6.1953, BND-Archiv, N l/v.6.

817
Dass Gehlen sich in diesen bewegten Tagen ausführliche Gedanken über die
Weltlage machte und diese unbedingt mit dem CIA-Chef Dulles austauschen
wollte, bedarf der Erklärung. War es Anbiederung, Selbstüberschätzung oder
der plumpe Versuch, Dulles zu Äußerungen über die amerikanischen Absich­
ten zu veranlassen, die ihm im verschlafenen Pullach nützliche Orientierun­
gen geben könnten? Gehlen konnte sich darauf verlassen, dass man sich in
Washington darauf eingestellt hatte, in ihm den Chef eines künftigen deut­
schen Nachrichtendienstes zu sehen. Doch noch war der »Doktor« lediglich
der Leiter einer CIA-Hilfstruppe. Wie konnte er sich einbilden, den Geheim­
dienstchef der Weltmacht USA mit höherem Zeitungswissen zu beeindrucken
und zu einem Meinungsaustausch gleichsam auf Augenhöhe zu veranlassen?
Gehlens Ausflug in die Weltpolitik war umso vermessener, weil sein eigener
Dienst noch nicht einmal in der Lage gewesen war, die Entwicklung in Berlin
zutreffend einzuschätzen. An Wessel hatte er noch am 13. Juni 1953 »Gedanken
zur weltpolitischen Lage« zur Kenntnis gegeben, eine intern angefertigte Tour
d’Horizon, in der vier Tage vor Ausbruch des Volksaufstandes die Entwicklun­
gen in Ost-Berlin keine Rolle spielten.453 Gehlen bewegte sich offenbar lieber in
solchen weltpolitischen Dimensionen.
Der Wahlsieg des Gespanns Eisenhower und Richard Nixon sowie John
Foster Dulles schien der propagierten Strategie der Eindämmung und »Befrei­
ung« neuen Schub zu geben. Stalins Tod und der Volksaufstand in der DDR
konnten als Zeichen für eine Schwäche des Ostblocks gedeutet werden, die
Hoffnung machten, es könnte nun vieles in Bewegung geraten. Auch Kanzler
Adenauer richtete seinen Wahlkampf für die Bundestagswahl am 6. Septem­
ber 1953 stark auf die Befreiungsrhetorik und die Erwartung einer baldigen
Wiedervereinigung aus, für die eine klare Westintegration der Bundesrepublik
Voraussetzung sei. Einen Tag nach dem überraschend hohen Wahlsieg der
CDU sprach er öffentlich von der »Befreiung des Ostens«.454 In der Öffentlich­
keit zeigte er sich von der Rückgabe der Gebiete jenseits von Oder und Neiße
durch Polen überzeugt – ein taktisches Spiel, das ihm die Stimmen der Ver­
triebenen sicherte.
Gehlens »Gedanken zur weltpolitischen Lage« waren von der Sorge geprägt
gewesen, dass in den USA Unsicherheit über die außenpolitische Linie herr­
sche. Der US-Präsident bemühe sich zwar um einen klaren Kurs, aber promi­
nente Republikaner würden heute außenpolitische Brandreden halten und
morgen mit Isolationismus drohen. Es gebe vereinzelt Vorstellungen, man

453 Gedanken zur weltpolitischen Lage, 13.6.1953, ebd.


454 Stöver, Befreiung, S. 671-672. Siehe insgesamt Mathias Friedei: Die Bundestagswahl
1953; in: Wahlkämpfe in Deutschland. Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation
1912-2005, hg. von Nikolaus Jackob, Wiesbaden 2007, S. 112-136.

818
könne Rotchina mit militärischen Mitteln bekämpfen. Deutschland könnte
in dieser Situation zu einer Mäßigung beitragen, wenn es bei den Amerika­
nern das Gefühl seiner Loyalität und Bündnistreue erhalte und taktvoll auf
die Komplexität der Probleme hinweise. Dann würden die Amerikaner auch
von den Deutschen Ratschläge annehmen, besonders gegen die Illusion, man
könne die Rote Armee mit ein paar Wunderwaffen binnen weniger Wochen
zerschlagen.
Ein unmittelbarer Eintritt Deutschlands in die NATO wäre gefährlich, denn
dann kämen schnell Forderungen nach einer Steigerung der deutschen Auf­
rüstung, die zum sozialen Bruch im Land führen könnten. Außenpolitisch
würde sich der Westen beruhigen, dass im Kriegsfall die Deutschen die größ­
ten Blutopfer tragen müssten. Deshalb müsse der EVG-Kurs fortgesetzt wer­
den, denn in der EVG sei der deutsche Beitrag zahlenmäßig begrenzt. Man
müsse auf einer Armee bestehen, vielleicht 250.000 Mann, und die wirtschaft­
liche Integration mit dem Westen unbedingt erhalten. Solange Russen an der
Oder stünden, müssten auch die Amerikaner einen Teil ihrer Landstreitkräfte
in Westeuropa stationiert halten.
Die Möglichkeit der Wiedervereinigung beschäftigte natürlich ebenfalls
die Gemüter in Pullach. Die Gefahr, dass sich Amerikaner und Russen auf
Deutschlands Rücken einigen könnten, sei sehr gering. Was müsse Deutsch­
land fordern? Keinesfalls Neutralisierung und Entwaffnung! Im äußersten Fall
wären die Neutralisierung und Bewaffnung eines gesamtdeutschen Staates
tragbar. Außerdem könne keine deutsche Regierung die Oder-Neiße-Grenze
zu Polen anerkennen. Eine Revision der Grenze gehöre aber in einen größe­
ren europäischen Rahmen. Verhandlungen darüber seien nur möglich, wenn
nicht nur in Berlin, sondern auch in Warschau eine frei gewählte Regierung am
Ruder sein würde. Im Augenblick seien Kräfte am Werk, die Westdeutschland
zu einem sofortigen Aufgreifen der Oder-Neiße-Problematik veranlassen woll­
ten. Darauf würde sich Moskau aber nicht einlassen. Man würde also dadurch
eine Viererkonferenz der Siegermächte torpedieren und die Chance einer Wie­
dervereinigung zunichtemachen.
Knapp drei Wochen nach dem Volksaufstand in der DDR verfasste Gehlen
persönlich eine ungewöhnlich lange Abhandlung für CIA-Chef Dulles.455 Der
CIA-Chef in Deutschland, General Truscott, hatte ihn eher beiläufig gebeten,
seine Einschätzung der Weltlage zu Papier zu bringen.456 Das gehörte zu den

455 Schreiben Gehlens an Allen Dulles mit Gedanken zur Weltlage, 6.7.1953, BND-Archiv,
1173.
456 Memorandum vom Chief of Operations, Richard Helms, für Acting Deputy Director,
10.8.1953, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol l_20F3. Darin
übermittelte Helms den Gehlen-Brief und erwähnt, dass er auf Anforderung von Trus­

819
Bemühungen auf amerikanischer Seite, mit der Gehlen-Truppe einen neuen
Modus Vivendi zu finden, da sich die Übernahme in deutsche Dienste immer
weiter verzögerte.
Zudem lag es nahe, für den neuen CIA-Director Allen Dulles ein aktuelles
Meinungsbild des »Doktor Schneider« zur Verfügung zu stellen. Ob Dulles
tatsächlich daran interessiert war, muss offenbleiben. Es ist jedenfalls von
seiner Seite keine Reaktion darauf überliefert. Dagegen nutzte Gehlen die
Gelegenheit, wenige Tage nach der Übermittlung des Briefes eine Kopie auch
an Globke zu senden, mit dem Hinweis, es handele sich um seine ganz persön­
liche Meinung, die »sehr genau« derjenigen des Bundeskanzlers entspreche.
Er habe die Sache nicht lange liegen lassen wollen, weil sich sonst die Mei­
nung hätte durchsetzen können, dass im Osten bereits das Morgenrot herauf­
komme und man deshalb den schnellen Aufbau der westlichen Verteidigung
vernachlässigen könnte. Vielleicht würde sich auch der Bundeskanzler dafür
interessieren, die Lagebeurteilung zu lesen.457 Auch darauf ist keine Reaktion
bekannt.
In seinen »Gedanken zur Weltlage« führte Gehlen aus, dass die Entwicklung
seit Kriegsende noch nie so im Fluss gewesen sei.458 Bis zu Stalins Tod habe
die politische Initiative stets in Moskau gelegen. Der Westen habe mit seinen
Gegenzügen stets reagiert, mit einer Ausnahme: dem Abschluss des Friedens­
vertrages mit Japan (8. September 1951) durch John Foster Dulles, durch den
innerhalb weniger Tage die Russen klar überrumpelt worden seien. In der
Außenpolitik seien die Russen also überall in der Welt auf dem Vormarsch,
abgesehen von der US-amerikanischen Innenpolitik, in der »Reinigungspro­
zesse gegenüber der kommunistischen Verseuchung« zu einer Verdrängung
geführt hätten. Die Fronten zwischen Ost und West verliefen nicht vertikal,
sondern horizontal. In allen europäischen Regierungen und Parteien säßen
bis zur Spitze hinauf gut getarnte Sowjetagenten, welche den Gang der Dinge
oft mit Erfolg beeinflussen würden. Der Westen denke politisch defensiv, der
Osten offensiv. Das müsse sich ändern. Der Westen müsse politisch offensiv
werden. Das sei eine Frage der Machtpolitik. Nur so könne der Frieden erhalten
bleiben.
Dazu gehöre als wichtigstes Mittel die Möglichkeit der Drohung mit der
militärischen Macht. Ein offensiver Kampfwille gegen den Kommunismus rege
sich derzeit nur in den USA. Kommunismus und Faschismus seien gleiche
geistige Erscheinungsformen des Totalitarismus. In allen westlichen Völkern

cott angefertigt worden sei, aber auch für den Acting Deputy Director und Sherman
Kent von Interesse sein könnte.
457 Schreiben Gehlens an Globke, 13.7.1953, BND-Archiv, 1110.
458 Gehlen an Allen Dulles, 6.7.1953, BND-Archiv, 1173, Blatt 48-57.

820
müssten kommunistisches Gedankengut und ihm nahestehende undemokra­
tische Richtungen als »unethisch« abgestempelt werden. Es müsse – wie im
Weltkrieg gegen den Faschismus – eine geistige Aufrüstung erfolgen.
Seit Stalins Tod hätten sich dem Westen einige zusätzliche Entwicklungs­
möglichkeiten eröffnet: Die UdSSR sei vorübergehend in ihrer politischen
Durchschlagskraft geschwächt, eventuell gäbe es einen internen Machtkampf.
Der Kommunismus sowjetischer Prägung stehe am Anfang einer geistigen
Krise. Der Juniaufstand in Deutschland sollte nicht gering geschätzt werden.
Es sei deutlich geworden, dass die Menschen auf der westlichen Seite stünden
und dass die sowjetische Herrschaft nicht unerschütterlich und fest sei. Die
Ereignisse dürften aber auch nicht überschätzt werden. Die Demonstratio­
nen seien anfänglich geduldet worden, um die SED-Herrschaft zu schwächen,
seien dann aber unerwartet ins Rollen gekommen. Hätte die Volkspolizei von
Anfang an einen Schießbefehl gehabt, wäre schnell alles vorbei gewesen. Die
sowjetische Seite habe jetzt die Taktik gewechselt und eine Friedensoffensive
mit neuen Methoden eröffnet. Wie jeder »Kenner des Sowjetsystems« wisse,
sei das Ziel unverändert. Vielleicht gehe die sowjetische Politik jetzt davon aus,
dass sie in der Nachkriegszeit nicht expansiv genug gewesen sei und von daher
die Schwierigkeiten rührten. Stalin sei durch das Schreckgespenst der Atom­
bombe zur Zurückhaltung veranlasst worden, bei einem größeren Potenzial an
eigenen Luftabwehrraketen könnte sich das ändern.
Nur die USA und die UdSSR verfügten als Akteure der Weltpolitik über
genügend Potenzial und geopolitische Vorteile. Zwischen totalitärer und frei­
heitlicher Konzeption herrsche ein absoluter Gegensatz. Die weltpolitische
Lage werde von diesem Gegensatz geprägt, aber auch von dem Freiheitswillen
und dem Kampf der kolonialen und farbigen Völker gegenüber dem weißen
Herrschaftsanspruch.

Die führende Rolle der weißen Rasse und ihr Kampfpotential gegenüber dem
Totalitarismus sowjetischer Prägung kann auf lange Sicht nur gerettet wer­
den, wenn baldigst die kolonialen Probleme im vernünftigen Sinne gelöst
und die Kolonialvölker als Bundesgenossen des Weißen zum Abwehrkampf
gegen die Sowjetunion gewonnen werden. Andernfalls wächst den Sowjets,
die – wie bekannt – das koloniale Problem für ihre Zwecke propagandistisch
auszunutzen versuchen, ein Menschenpotential zu, welches in 50 Jahren den
Westen trotz seinem überlegenen wirtschaftlichen und technischen Poten­
tial erdrücken wird.

Gehlen verwies auf die große Zahl von »Angehörigen der Neger-Gesellschaf­
ten«, die in Prag für die koloniale Untergrundarbeit der Kommunisten aus­
gebildet würden. Die Sowjetunion verfolge das Ziel, den Einfluss der USA in

821
Europa und Vorderasien zurückzudrängen sowie die europäische Einheit zu
verhindern, es sei denn unter sowjetischen Vorzeichen. Er wisse

aus zuverlässigen, persönlichen Informationen, dass Russland selbst ein anti­


kommunistisches Einheits-Deutschland für einen vorübergehenden Zeit­
raum nach Räumung der Ostzone in Kauf nehmen würde, wenn dieses nur
über beschränkte Polizeikräfte verfügen würde, ein entsprechendes Abkom­
men mit Frankreich und Grossbritannien zustande käme und die Gewähr
gegeben wäre, dass der Einfluss der Vereinigten Staaten aus Europa ausge­
schaltet bliebe.459

Die britische Politik basiere auf antiquierten politischen Anschauungen. Ähn­


lich wie vor 1939 im Hinblick auf Hitler-Deutschland glaube man, dass die
Gefahr eines Krieges mit der UdSSR auf viele Jahre hinaus nicht gegeben sei:
»was für den gegenwärtigen Zeitpunkt auch zutrifft«. Großbritannien ver­
suche, frühere eigene Positionen zurückzugewinnen und die USA zurückzu­
drängen. Neuerdings gebe es den Gedanken, auf Kosten der USA, Deutschlands
und der europäischen Satelliten der UdSSR einen längerfristigen Ausgleich mit
Moskau zu versuchen, um so die eigenen Interessen im Vorderen Orient und
die Handelsbeziehungen zum Ostblock und zu Rotchina auszubauen sowie die
wirtschaftliche Kraft des Commonwealth zu stärken.
Frankreich habe keine wirkliche Konzeption, werde von nationalistischen
Ressentiments geprägt, von der Furcht gegenüber Deutschland und vor dem
Einfluss Großbritanniens sowie von eigenen kolonialen Problemen. Frank­
reichs Kurs werde davon abhängen, ob sich der amerikanische oder der
britische Einfluss durchsetze. Währenddessen sei Italien stark auf die USA
ausgerichtet. Deutschlands Konzeption habe bisher auf ein militärisch vertei­
digungsfähiges, vereintes Europa gezielt, wobei selbst ein Aufgehen Deutsch­
lands mit allen Souveränitätsrechten in Europa in Kauf genommen worden
sei, aus der Ȇberzeugung, die von jedem Russland-Experten geteilt wird, dass
ein ausreichend gerüstetes Europa in der Lage ist, auf dem Wege friedlicher
Verhandlungen mit Russland zu einer Befreiung und Einbeziehung auch der
europäischen Satellitenstaaten Russlands in die europäische Konzeption zu
kommen«.
Diese deutsche Konzeption sei gefährdet durch eine starke sowjetische
Untergrundarbeit in allen westdeutschen Parteien. Nur eine starke politische
Unterstützung Deutschlands durch die USA werde die Aufspaltung Westeuro­
pas und der antikommunistischen Kräfte verhindern. Derzeitig bestehe keine

459 Ebd., Blatt 52.

822
Kriegsgefahr in Europa. Aber auch Hitler habe 1939 den Krieg vom Zaune
gebrochen, obwohl alle Experten der Meinung gewesen seien, dass dieser Krieg
für das mangelhaft gerüstete Deutschland in wenigen Monaten verloren gehen
würde, wenn die Alliierten sofort handelten. Ein solcher Fall sei auch heute
nicht völlig auszuschließen, vor allem, wenn Europa bis 1956 nicht endlich
militärisch so aufgebaut werde, dass für die Sowjetunion ein unkalkulierbares
Risiko entstehe.
Zum Problem der selbstständigen Linie Jugoslawiens schrieb er: Er habe
Informationen, dass Tito bemüht sei, wieder den Kontakt zu Moskau zu ver­
bessern. Großbritannien favorisiere einen Balkanbund zwischen Jugoslawien,
Griechenland und der Türkei. Von daher sei Vorsicht vor Titos Politik geboten.
Im Iran habe man nicht rechtzeitig durch ein Opfern von Teilpositionen die
Entwicklung aufgefangen. Das Hinübergleiten in den sowjetischen Machtbe­
reich sei so gut wie sicher.460 Damit würde auch die Haltung der Türkei unge­
wiss werden. Das russische Ziel sei die Schaffung eines neutralen Vorfeldes,
um dem Westen für den Fall einer militärischen Auseinandersetzung das güns­
tigste Angriffsglacis im Schwarzmeergebiet aus der Hand zu nehmen. Die Bri­
ten mit ihrer konservativen Einstellung seien in der Gefahr, ihren Einfluss im
östlichen Mittelmeer zu verlieren. Gehlen prognostizierte: In wenigen Jahren
würden keine britischen Truppen mehr am Suezkanal stehen. Zumindest das
traf tatsächlich ein.
Außerdem müsse alles getan werden, um ein Hinübergleiten Indiens in
den kommunistischen Machtbereich zu verhindern. Es wäre außerdem von
Vorteil, die Möglichkeit zu nutzen, einen eigenständigen chinesischen Kom­
munismus vom sowjetischen Vorbild zu entfremden. Die Sowjets seien aber
in asiatischen Fragen sehr geschickt. Westliche Experten hätten sich hier oft
geirrt. Mao sitze fest im Sattel. Die zunehmende Wühlarbeit der Sowjets auch
in Afrika und Lateinamerika sei im Augenblick bedeutungslos. Gehlen fasste
zusammen: Das Ziel der sowjetischen Politik sei die Eroberung der Welt für
das Sowjetsystem. Gegenwärtig betreibe man eine machtpolitische Beeinflus­
sung Eurasiens, das Hinausdrängen der USA und die Bildung eines neutra­
len Blocks in Vorderasien und Arabien. Nicht überall gehe man den Weg von
Eroberungen, sondern versuche eine politische Durchdringung und Aufspal­
tung des Gegners. Hier sei Moskau bisher erfolgreich. Die Einheitsfront des
Westens müsse wiederhergestellt werden.

460 Nur einen Monat später sorgten die CIA und der britische Auslandsgeheimdienst MI 6
im Iran für eine ganz andere Entwicklung, indem sie erfolgreich einen Putsch gegen
Premierminister Mossadegh organisierten, was Gehlen vorher wohl nicht wissen
konnte.

823
Schweden habe als bislang einziges Land richtig auf einen russischen Über­
griff reagiert. Nach dem Abschuss eines schwedischen Flugzeugs sei angeord­
net worden, bei Verletzung des schwedischen Hoheitsgebiets künftig sofort
das Feuer zu eröffnen, worauf sich die Russen seitdem zurückgehalten hätten.
Das zeige, mit den »Sowjets kann man nur mit dem Schwert in der Hand ver­
handeln, und auch nur dann, wenn der Sowjet weiss, dass das Schwert notfalls
auch gebraucht wird«.
Für den Westen habe sich nach dem Juniaufstand die einzigartige Gelegen­
heit geboten, die politische Initiative wiederzugewinnen, und zwar durch den
gemeinsamen Vorschlag einer deutschen Einheit auf der Basis UN-überwach­
ter freier und geheimer Wahlen. Damit hätte man die Sowjets zwingen kön­
nen, Farbe zu bekennen. Dann hätte man als Handelsobjekt anbieten können,
dass man sich im Falle einer Annahme mit der EVG-Lösung begnügen würde,
andernfalls dazu übergehen müsste, Deutschlands Wehrbereitschaft auf einer
nationalen Basis im Rahmen eines Bündnissystems wiederherzustellen. Ob
sich »der Sowjet« von einer solchen Drohung beeindrucken lassen würde?
Gehlen glaubte selbst nicht daran.
So führte er aus, dass solche Verhandlungen sicher nicht zum Erfolg geführt,
aber dem Russen nach dem Prestigeverlust durch den Juniaufstand auch noch
eine diplomatische Niederlage beigebracht hätten. Dann hätte der Westen an
anderer Stelle der Welt die politische Initiative ergreifen können. Der Welt­
stratege Gehlen hatte noch weitere Ideen: Vielleicht würden sich angesichts
der derzeitigen Unruhen in Polen ähnliche Forderungen erheben lassen.461
Die Gelegenheit zum Handeln sollte jedenfalls ausgenutzt werden. Es dürfe
keine Minute verloren gehen, um die Verteidigung Europas aufzubauen. Die
Locarno-Idee Churchills462 mit dem Gedanken einer Neutralität Deutschlands
sei verheerend. Das würde auf lange Sicht zur Sowjetisierung Europas und
zum Kriege führen. Die USA müssten eine klare Richtung vorgeben.
Mit diesem Appell schloss Gehlen seine weltpolitischen Betrachtungen,
eine Mischung aus zutreffenden Beobachtungen, Mutmaßungen und wilden
Spekulationen. Mit ihnen ordnete er sich in die Strategie der kompromisslosen
Abschreckung ein, die John Foster Dulles, der Bruder des CIA-Chefs, als neuer
US-Außenminister verfolgte. Bemerkenswert sind Gehlens Plädoyer für eine
harte und offensive Haltung gegenüber der UdSSR sowie sein Vertrauen auf

461 Nach der Ausrufung der »Volksrepublik« 1952 und dem Tod Stalins hatten sich die
innenpolitischen Auseinandersetzungen in Polen verschärft.
462 Mit den Locarno-Verträgen im Oktober 1925 erkannte Deutschland seine Westgrenze
an und erhielt dafür die Aufnahme in den Völkerbund. Mit einem ähnlichen Konstrukt
für ein mögliches neutrales Gesamtdeutschland versuchte Churchill 1953 eine Annähe­
rung an sowjetische Positionen.

824
militärische Druckmittel, um Moskau in die Knie zu zwingen, und die Bereit­
schaft, den »Kalten Krieg« notfalls zu eskalieren. Es war das Weltbild eines
militärisch geprägten Strategen, der seine neue Position als Geheimdienstchef
dazu nutzte, den Feind in den eigenen Reihen anzuprangern, um neben der
materiellen auch eine geistige Aufrüstung auf den Weg zu bringen. Letztlich
ging es in seinem Weltbild um Sieg oder Untergang – »friedliche Koexistenz«
war ihm verhasst.
Wenn sich Gehlen in seinem Lagebild für CIA-Chef Dulles mehrfach auf sein
angebliches Expertentum und nicht näher erläuterte, geheimnisvolle Quellen
berief, dann nahm er damit eine ziemlich anmaßende Haltung gegenüber sei­
nem Arbeitgeber ein. Es verwundert nicht, dass Washington nicht reagierte.
Ein anderer Umstand gibt zu denken. Als Gehlen seine »Gedanken« zu Papier
brachte, um sie Dulles und Adenauer zur Lektüre anzubieten, lag bereits ein
ähnliches Papier in Bonn vor. Sein schärfster Konkurrent Friedrich Wilhelm
Heinz hatte bereits eine Studie über »Die Nah- und Fernziele der sowjetischen
Deutschlandpolitik« im Kanzleramt vorgelegt.463 Im Amt Blank hielten Heu­
singer und Kielmansegg sie für »durchaus beachtlich«. Sie entsprach ebenfalls
im Wesentlichen den Auffassungen des Bundeskanzlers. Gehlen hatte also
Gründe, ein eigenes Papier auf den Weg zu bringen und dafür nach Möglichkeit
das Renommee des allmächtigen CIA-Chefs für sich zu nutzen.
Es war an der Zeit, den von ihm politisch bekämpften Heinz-Dienst endlich
zur Strecke zu bringen. So mag Gehlen gedacht haben, als im Juni 1953 der
Präsident des BfV, Otto John, mit dem Gehlen sich selbst in herzlicher Feind­
schaft verbunden sah, ein Dossier über Verfehlungen von Heinz vorlegte. John
war in diesem Falle ein Verbündeter, der das Misstrauen der alliierten Nach­
richtendienste gegen Heinz schürte, weil dieser sich – neben der militärischen
Aufklärung – auch mit der Inlandsaufklärung befasste, die die Domäne von
John darstellte.464 Heinz hatte sich in jüngster Zeit in eine Reihe von Prozes­
sen verstrickt. Die Anmaßung, sich als »Oberst a. D.« zu titulieren, obwohl nur
die frühere Beförderung zum Oberstleutnant nachweisbar war, verstärkte den
Zweifel an seiner Seriosität, die Gehlen mit der Behauptung grundsätzlich in
Abrede stellte, Heinz sei einer der letzten Agenten der »Roten Kapelle«.465

463 Sie stammte vom 16.6.1953 und erreichte Anfang Juli Staatssekretär Lenz; siehe
Susanne Meinl und Dieter Krüger: Der politische Weg von Friedrich Wilhelm Heinz.
Vom Freikorpskämpfer zum Leiter des Nachrichtendienstes im Bundeskanzleramt,
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 1, S. 39-70, hier S. 67.
464 Siehe hierzu ausführlich Henke, Geheime Dienste, Kap. 2.
465 Meinl/Krüger, Der politische Weg, S. 62. Siehe auch umfassend zum Komplex »Rote
Kapelle« Sälter, Phantome, S. 414.

825
Mit diesem Gerücht nervte Gehlen häufiger seine amerikanischen Auftrag­
geber. Dabei stand außer Frage, dass sowjetische und ostdeutsche Geheim­
dienste natürlich versuchten, das Amt Blank und den Heinz-Dienst zu infiltrie­
ren. Bei Gehlens Org war ihnen das mit der Installation von Heinz Felfe bereits
gelungen. Richard Helms briefte Anfang Juli 1953 seinen Chef Dulles, der sich
auf ein Treffen mit Blank einstellte,466 mit einem Memorandum über den Hin­
tergrund der Rivalität zwischen Heinz und Gehlen.467 Heinz sei der Protagonist
jener politischen Kräfte in Bonn, die Gehlen als ehemaligen Generalstabsoffi­
zier und seinen Dienst als Geschöpf der USA ablehnten. Blank habe es noch
vor Kurzem für eine Option gehalten, den Gehlen-Dienst im Zuge seiner Lega­
lisierung aufzuspalten, Beschaffung und Auswertung zu trennen sowie ein­
zelne Komponenten in verschiedene Ministerien zu überführen. Dabei habe
er wohl vor allem an sein künftiges Verteidigungsministerium gedacht. Unter
dem Einfluss von Heusinger habe sich Blank aber von der Professionalität
der Org überzeugen lassen. Dass Blank jetzt bereit sei, mit Dulles über das
Problem der westdeutschen Nachrichtendienste zu sprechen, sei auf die Ent­
hüllung von Otto John zurückzuführen. Der Chef des BfV habe nachgewiesen,
dass der Heinz-Dienst eine Meldung über Gehlens Auftritt vor den Leitern der
Landesämter für Verfassungsschutz gefälscht habe. Das sei auch Adenauer
mitgeteilt worden.
Am 3. Juli 1953 führten Heusinger und Blank in Washington ihr Gespräch
mit Dulles.468 Der CIA-Chef ließ keinen Zweifel daran, dass die Org als deut­
scher Nachrichtendienst in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Sowjetblock
eine große Hilfe für die Aufklärung gegen die östlichen Ziele sei. Als Heusinger
und Blank die Meinung in deutschen Regierungskreisen vortrugen, dass eine
Aufteilung verschiedener nachrichtendienstlicher Elemente auf die einzelnen
Ministerien die beste Lösung sei, legte der gut vorbereitete Dulles ein Orga­
nigramm der CIA vor, um zu zeigen, wie wichtig es für einen leistungsfähigen
Nachrichtendienst sei, eine gewisse Größe und Selbstständigkeit innerhalb des
Staates zu erhalten.
Bei einem abendlichen Dinner mit zwei Vertretern von Dulles wurde die
Diskussion über die Zukunft eines deutschen Nachrichtendienstes fortgesetzt.
Blank wirkte nervös und schüchtern, sah sich aber einig mit Heusinger und
gewann im Verlauf der Diskussion an Statur. Die amerikanische Seite betonte
die Notwendigkeit einer Trennung zwischen einem Auslands- und einem

466 Blank befand sich im Juni/Juli 1953 auf einer USA-Reise in Begleitung von Heusinger.
467 Memorandum von Helms, Acting Deputy Director Plans für Director CIA, Briefing for
Meeting with Theodor Blank, 2.7.1953, Anhang: Background of Heinz-Gehlen Rivalry;
in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. 2, S. 461-462.
468 Aufzeichnung dazu von Peter Sichel, 6.7.1953; in: ebd., S. 465-469.

826
Inlandsnachrichtendienst, damit der Auslandsdienst vollständig unpolitisch
und professionell arbeiten könne. Blank zeigte sich beeindruckt, verwies
jedoch darauf, dass die Anfälligkeit der Deutschen für totalitäre Lösungen -
anders als in den USA – den Einbau starker Sicherungen notwendig mache. Er
sei zusammen mit Heusinger für den Aufbau deutscher Streitkräfte zuständig,
die für ihre Aufstellung und Operationen nicht ohne nachrichtendienstliche
Informationen auskommen könnten. Er habe aber noch nie von Pullach die
erforderlichen Hinweise erhalten, die er für seine Aufgabe benötige. Er habe
deshalb seinen eigenen kleinen Dienst eingerichtet, der noch nie ein Sicher­
heitsproblem gehabt habe (im Gegensatz zur Org).
Blank meinte, dass die Org eigentlich ihre Lageberichte über ihn an den
Kanzler und den Oppositionsführer leiten müsste. Solange das nicht geschehe,
werde er den Heinz-Dienst aufrechterhalten. Als zweiten Punkt erwähnte
Blank den Vorbehalt gegenüber der Org, dass diese sich in die Innenpolitik
einmische. Das sei für keine Regierung hinnehmbar, ebenso wenig die häufigen
Verleumdungen seitens der Org von loyalen Mitarbeitern seines Amtes durch
falsche Informationen, Flüsterpropaganda, Gerüchte und politischen Druck in
den letzten zwei Jahren. Er schätze die professionelle Qualität des Personals in
Pullach, aber vor einer Ratifizierung des EVG-Vertrages könne die Org ohnehin
nicht legalisiert werden. Danach würden die finanziellen Mittel für das Militär
sicher ausreichend sein, um eine Agentur wie »Zipper« zu unterhalten.
Es blieb dabei: Die CIA setzte auf ihren Mann in Pullach, was für dessen
Position in Bonn entscheidend war, auch wenn Blank an seinen vorbehalten
festhielt und die Entscheidung dem Kanzleramt überließ. Allerdings sprach
sich auch Heusinger für die Ablösung von Heinz aus. Um London einzubinden,
überzeugte Speidel einen alten Bekannten beim britischen Geheimdienst, was
zu einem Meinungswandel »maßgeblicher Kreise« über Gehlen und seinen
Dienst geführt habe, wie Speidel selbst meinte.469 So konnte Globke den Fall
endgültig klären. Zum 1. Oktober 1953 schickte Blank Heinz in den Urlaub, mit
anschließender Auflösung des Dienstverhältnisses.470 Sein Nachrichtendienst
blieb allerdings bis 1956 bestehen.
Während der Zuspitzung der Auseinandersetzung mit Heinz im Juli 1953
hatte sich Gehlen zu dem Versuch gezwungen gesehen, seine Abhängigkeit
von den Amerikanern weiter zu lockern, um den Kritikern in Bonn den Wind
aus den Segeln zu nehmen. Dazu legte er Critchfield ein offizielles Schreiben
vor und betonte, dass bei der Diskussion um die Überleitung der Org in deut­
sche Verhältnisse das Argument an Gewicht gewinne, die Org sei durch ihre

469 Aufzeichnung Speidels, 22.7.1953, BND-Archiv, N l/v.6.


470 Meinl/Krüger, Der politische Weg, S. 63.

827
siebenjährige Arbeit für die USA und die enge Verflechtung auf Arbeitsebene
derartig abhängig geworden, dass die Überleitung vom deutschen Standpunkt
aus nicht tragbar sei, da die Abhängigkeit zwangsläufig erhalten bliebe.471
Er selbst habe daher in letzter Zeit Vorschläge gemacht, um den US-Stab zu
verkleinern und das Arbeitssystem so zu gestalten, dass für die deutsche Lei­
tung mehr Möglichkeiten der freien Führung und Gestaltung gegeben seien.
Gehlen schlug vor, der Org schon jetzt eine größere Unabhängigkeit zu geben,
vor allem durch ein festes Budget, und es ihm zu überlassen, diese Mittel ein­
zusetzen. Anderenfalls würde das Argument der Abhängigkeit ein derartiges
Gewicht bekommen, dass eine Überleitung nicht mehr möglich wäre. Dann
bliebe nur die Auflösung der Org.
Critchfield zeigte Verständnis, sah aber kaum Spielraum für Veränderun­
gen. Die Org habe doch schon jetzt weitgehend freie Hand. Es könne nicht
sein, dass Pullach in die einzigartige Situation komme, weder gegenüber den
USA noch einer Bonner Regierung verantwortlich zu sein, die noch nicht ein­
mal über die Souveränität und den Hauptbedarfsträger von Nachrichtendiens­
ten, eine Wehrmacht, verfüge (handschriftliche Notiz von Gehlen: »So ein
Unsinn!«). Letztlich habe Gehlen doch mit seinem Entschluss, die Org unter
dem Schutz der USA aufzubauen, diese Risiken in Kauf genommen.
Auf der nächsthöheren Ebene spielte General Truscott den Ball geschickt
wieder an Gehlen zurück. Er räumte ein, dass es tatsächlich einige Probleme
gebe, über die man sorgfältig nachdenken müsse. Gehlen solle doch selbst
einmal überlegen, wie man am besten zu einer schnellen und effizienten Ver­
bindung zum Amt Blank kommen könne. Das sei wichtig, weil die Wieder­
bewaffnung und die Einrichtung eines Nachrichtendienstes in Deutschland
umstritten seien. Es komme also darauf an, möglichst rasch eine freundschaft­
liche Beziehung zwischen beiden Institutionen aufzubauen.472
Gehlen lenkte in der Frage der Unabhängigkeit wieder etwas ein und legte
schließlich maßvolle Vorschläge vor.473 Sie zielten auf eine Erhöhung der
Eigenverantwortung der deutschen Seite, bei ausreichender und rechtzeitiger
Orientierung der CIA über geplante sowie durchgeführte Maßnahmen und
Operationen. Die Amerikaner sollten ein Einspruchsrecht dort erhalten, wo
ihre eigenen Interessen berührt wurden. Pullach erwartete die Beibehaltung
der US-amerikanischen Hilfe in West-Berlin und Wien sowie auf den Verbin­
dungswegen dorthin. Schließlich wollte man eine enge Zusammenarbeit beim
Austausch operationeller Erfahrungen und von Nachrichten.

471 Schreiben Gehlens an Critchfield, 8.7.1953, BND-Archiv, 4317.


472 Schreiben Truscotts an Gehlen, 10.7.1953, BND-Archiv, 1137.
473 Vorschläge Gehlens vom 23.7.1953, ebd.

828
Hinsichtlich der Beziehungen zum Amt Blank hatte Truscott seine »Emp­
fehlungen« nicht ohne Grund gegeben. Blank hatte sich offenbar während
seines Besuchs bei Dulles darüber beschwert, dass er als Beauftragter des
Kanzlers für militärische Fragen nicht Gehlens Ergebnisse zu sehen bekomme.
Critchfield sprach den »Doktor« daraufhin an, der emotionslos behauptete, er
habe seine militärischen Erkenntnisse stets an das Amt Blank weitergeleitet.474
Allerdings habe er niemals gewollt, abseits spezieller Instruktionen des Kanz­
lers, dass seine Berichte im Amt Blank frei kursieren, denn keiner der Mitarbei­
ter dort verfuge über eine Sicherheitsüberprüfung. Blank habe aber stets den
Wochenbericht erhalten, nur den letzten nicht, weil er sich in den USA befand.
Gehlen erklärte, er halte Blank für einen ehrenwerten und fähigen Mann, mit
dem die Org und er selbst bestens zusammenarbeiten könnten, wenn das Pro­
blem Heinz gelöst sei.
Critchfield bewertete das für die Akten: Das sei Gehlens offizielle Position.
Bei mehreren Gelegenheiten habe er sich aber skeptisch darüber geäußert,
dass Blank die Probleme bewältigen könnte, wenn er Verteidigungsminister
werden sollte. In seiner Gegenwart habe Gehlen außerdem mehrfach Blanks
Alkoholkonsum und die Folgen für dessen Sicherheitsempfinden abfällig kom­
mentiert.
Mit der Erwähnung von Heinz verband Gehlen die Behauptung, dass seine
jahrelangen Bemühungen um eine Kooperation mit Blank prompt sabotiert
worden seien. Er habe niemals ein denunziatorisches Statement zu Heinz
abgegeben, mit Ausnahme einer Bewertung, zu der er vom Kanzleramt vor
zwei oder drei Jahren aufgefordert worden sei. Das waren fadenscheinige
Schutzbehauptungen Gehlens. Nach weiteren Diskussionen um die Intrigen
in Bonn meinte schließlich Critchfield, dass die USA in diesen internen deut­
schen Streit der Nachrichtendienste zu viel Zeit und Mühe investieren muss­
ten und nur oberflächlich informiert seien.
Der anhaltende Verdruss Critchfields über die Unaufrichtigkeit von Gehlen
fand eine Woche später seinen Ausdruck in einer schriftlichen Beschwerde,
dass Gehlen Studien und Meldungen hauptsächlich für die Bundesregierung
und andere westliche Dienste anfertigen lasse und die amerikanische Seite
dabei zu kurz komme.475 Der »Doktor« gab sich überrascht über derart massive
Vorwürfe und konterte im Entwurf eines Schreibens mit einer Klage über das
amerikanische System des opposite number, das ihm schon lange ein Dorn im
Auge war, weil Critchfield damit auf der Arbeitsebene einen tieferen Einblick

474 Aufzeichnung von Chief Pullach, Critchfield, über das Treffen mit Gehlen, 28.7.1953, NA
Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 72.
475 Schreiben Critchfields an Gehlen, 5.8.1953, BND-Archiv, 1173, Blatt 72.

829
in Pullach erhielt, als es Gehlen recht war. Dieses System führe zu bürokra­
tischem Stillstand und ersticke die Initiative, behauptete er. Für bedeutende
Operationen brauche man aber eine andere Mentalität. Nach der Übertragung
der Org an die deutsche Regierung werde er oder sein Nachfolger sich bemü­
hen, dafür die Voraussetzungen zu schaffen.476
Den unausgesprochenen Vorwurf der mangelnden Loyalität bzw. der Unfä­
higkeit wies er zurück Er fühle sich gegenüber General Truscott und Mr. Dulles
verantwortlich. Deshalb wolle er die Basis der Zusammenarbeit noch einmal
erläutern. Sie beruhe auf dem gemeinsamen Anliegen, den Kampf gegen den
Kommunismus zu führen. Er führe keine US-Agentur, sondern eine deutsche
Organisation, die mit der amerikanischen Seite zusammenarbeite, mit der
Verpflichtung, die US-Aufträge mit erster Priorität zu erfüllen, bis die Org in
deutsche Dienste übernommen werde. Da die Bundesregierung diesen Stand­
punkt teile, könne die Org sowohl für amerikanische wie für deutsche Interes­
sen arbeiten, ohne gegenüber der deutschen Seite illoyal sein zu müssen.
Da ein Interesse vorhanden sei, auch nach der Etablierung eines unab­
hängigen deutschen Nachrichtendienstes eng zu kooperieren, sei es ihm
ein Anliegen, dass bei Truscott und Dulles kein Zweifel an seiner Loyalität,
Fähigkeit und Kooperationsbereitschaft aufkomme. Das gelte umso mehr, als
es feindliche Kräfte gebe, die Critchfield mit falschen Informationen über die
Organisation Gehlen hinsichtlich ihrer angeblichen politischen Interessen
oder Aktivitäten fütterten. Deshalb habe er die Absicht, Critchfields Brief zum
Gegenstand einer Diskussion mit Truscott und Dulles zu machen und auch
die deutsche Regierung in den nächsten Tagen zu informieren (dieser Satz ist
in dem Entwurf handschriftlich gestrichen). Es gelang Herre, in diesem erneu­
ten Streit an der Führungsspitze zwischen beiden Seiten zu vermitteln. Gehlen
verzichtete offiziell auf die Einschaltung der Vorgesetzten von Critchfield, und
dieser bedauerte die Brüskierung in seinem internen Schreiben.
Doch Gehlen blieb in der Sache hartnäckig. In mehreren Gesprächen kon­
zentrierte er sich gegenüber Critchfield auf den Vorschlag, parallel zum US-
Verbindungsstab auch auf deutscher Seite ein Verbindungsbüro zu schaffen,
in dem die Amerikaner Ansprechpartner zu einzelnen Komplexen finden wür­
den.477 Er würde damit Critchfield und seine Aufpasser von sich selbst und
von direkten Gesprächen mit den Fachreferaten fernhalten können. Critchfield
stimmte einigen Vorschlägen zu, bestand dafür auf einer strikten finanziel­
len Kontrolle bestimmter Bereiche. Der Haushaltsvoranschlag zum Beispiel
für »Forschung« sei viel zu allgemein und eine Verschwendung von Geld und

476 Entwurf Gehlens, 6.8.1953, ebd., Blatt 74.


477 Schreiben Gehlens an Critchfield, 20.8.1953, ebd., Blatt 88-89.

830
Personal (dahinter standen politische Studien, die Gehlen in Auftrag gegeben
hatte). Ebenso lehnte er die Umschichtung von Geldern, die bisher für die
DDR-Aufklärung eingesetzt worden waren, für Einsätze gegen die Tschecho­
slowakei ab, die Gehlen als neues Zielgebiet ausbauen wollte.478 Die beiden
Kontrahenten schenkten sich also nichts.
Gehlen bat Dulles dringend um ein persönliches Gespräch – es stand ja
auch noch dessen Antwort auf die übersandte Weltschau aus. Doch der CIA-
Chef hielt sich bedeckt. Im Auftrag von Truscott teilte Critchfield mit, Dulles
weile zwar im Augenblick in der Schweiz, aber nur zur Erholung. Mit dienstli­
chen Belangen wolle er sich nicht beschäftigen und werde ohnehin noch heute
zurück in die USA reisen.479 Deutlicher konnte die Abfuhr kaum ausfallen.
Gehlen, der wieder einmal gemeint hatte, er könnte den lästigen Dienstweg
überspielen und mit seinem obersten Chef Dulles auf Augenhöhe verhandeln,
musste eine peinliche Niederlage einstecken. Im Ergebnis hatte er außerdem
eine erhebliche Kürzung des nächsten Jahresbudgets durch die CIA hinzuneh­
men, was ihn aber nicht allzu sehr bekümmerte, weil er darauf vertraute, bald
über deutsche Mittel verfugen zu können.
Persönliche Erfolge blieben für ihn auch in Bonn nicht leicht zu erringen.
Heinz würde Blank nicht halten können. Aber Gehlen wollte mehr. Anfang
August hatte er Globke gedrängt, dass nach der Bundestagswahl endlich die
Übernahme der Org erfolgen müsse. Außerdem sei auch Achim Oster, der
Mitarbeiter von Heinz, mit seinen »Machenschaften« nicht länger tragbar.480
Globke versprach zwar, dass Adenauer einen Brief an Blank schreiben werde.
Im Ergebnis musste Heinz gehen, Oster aber wurde sein Nachfolger und der
Heinz-Dienst blieb vorerst, schließlich wurde es auch mit der Übernahme der
Org wieder einmal nichts.
Dazu trug auch ein spektakulärer Artikel des Spiegel mit dem Titel »Über-
Ministerium« bei.481 Darin hieß es, Lenz und Globke wollten nach den bevor­
stehenden Wahlen ein Informationsministerium schaffen. Dort sollten das
Bundespresseamt, die Bundeszentrale für Heimatdienst482 sowie das Bundes­
amt für Verfassungsschutz und die Organisation Gehlen zusammengeführt
werden. Damit würden die beiden wichtigsten Elemente eines modernen Mas­

478 Memorandum Critchfields, 24.9.1953, ebd., Blatt 93.


479 Mitteilung Critchfields, 3.9.1953, ebd., Blatt 92.
480 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen-Globke, 10.8.1953, BND-Archiv, 1110,
Blatt 443.
481 Das Über-Ministerium, Spiegel 35/1953 vom 26.8., S. 5.
482 Die später in Bundeszentrale für politische Bildung umbenannte Institution sollte seit
1952 einen Beitrag zur Erziehung zur Demokratie leisten und war in den Anfangsjahren
vor allem durch den Antikommunismus geprägt.

831
senstaates vereinigt: Information und Propaganda. Otto Lenz, bisher Staatsse­
kretär im Kanzleramt, strebe auf diese Weise ein Ministeramt an, Globke, bis­
her Personalchef des Kanzleramts, wolle endlich Staatssekretär werden, aber
in der Nähe Adenauers bleiben. Gehlen wolle ihn aber als »Staatssekretär für
Innere Sicherheit« sehen und stelle sich vor, selbst »Staatssekretär für Äußere
Sicherheit« zu werden.
Gehlen war über Worgitzky und dessen Verbindungen vorher informiert
worden, dass kurz vor der Wahl ein solcher Angriff erfolgen würde. Er schien
nach dem Eindruck eines amerikanischen Gesprächspartners nicht sonderlich
besorgt, sondern fand es lediglich bedauerlich, dass sein Name mit Globke und
Lenz in Beziehung gebracht werde, was weitere Verdächtigungen hervorrufen
werde. Der Amerikaner wunderte sich darüber, dass es der Org mit ihrer Son­
derverbindung zum Spiegel nicht gelungen sei, den Bericht zu verhindern.483
Die Gelassenheit Gehlens war offenbar nur gespielt, denn gleich nach dem
Erscheinen des Spiegel-Artikels beauftragte er Kurt Weiß, einen Pressebeitrag
zu entwerfen. Darin sollte die westdeutsche Presse davor gewarnt werden, sich
bewusst oder unbewusst in den Dienst der intensiven konspirativen Tätigkeit
des Ostens und seiner Verleumdungskampagnen gegen westliche Geheim­
dienste zu stellen. Natürlich lasse sich sehr wohl unterscheiden

zwischen kritischen Stimmen, an denen es in einer Demokratie nie fehlen darf


und solchen Veröffentlichungen, die – im Zusammenhang mit den Bestre­
bungen des Gegners – sich zu einer zersetzenden Kraft verbinden. Auch der
scharfen Kritik können vor aller Öffentlichkeit Grenzen gesetzt sein, wenn
die Sicherheit und der Bestand des Landes gefährdet sind. Wer diese Grenzen
überschreitet, muss sich der Tragweite seines Handelns bewusst sein.484

Gehlen verzichtete offenbar darauf, diese Warnung in die Presse zu lancieren.


Nach Protesten der alliierten Hohen Kommissare gegen ein »Über-Ministe­
rium« und einer ablehnenden Resolution der Bundespressekonferenz wurde
das Projekt gleich nach der nächsten Bundestagswahl lautlos beerdigt.485
Damit war wohl auch ein Brief von Eric Waldman erledigt, den Gehlen Mitte
September aus Alexandria, einer Stadt im Einzugsbereich der amerikanischen
Hauptstadt Washington, erhielt. Der frühere US-Begleitoffizier in Pullach, zum
Freund geworden und inzwischen Student der Politikwissenschaft in Washing­

483 Notiz für Chief Eastern Europe und Chief Pullach, 11.9.1953, NA Washington RG 319,
Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 78.
484 Aktennotiz für Gehlen betr. Spiegel-Artikel vom 28.8.1953 mit Anlage: »Am Rande der
grossen Offensive«, BND-Archiv, 122280_1666-1670.jpg.
485 Über-Ministerium. Wo sowas endet, Spiegel 40/1953 vom 30.9., S. 5.

832
ton, hatte sich – vermutlich angeregt durch den Spiegel-Artikel – angeboten,
eine PR-Firma »E. Waldman & Associates« zu gründen, um die öffentliche
Meinung in den USA im deutschen Interesse zu beeinflussen. Bei Vertragsab­
schluss wäre eine Abschlagszahlung von 50.000 US-Dollar zu zahlen, danach
jährlich 250.000.486 Das überschritt Gehlens finanziellen Spielraum bei Wei­
tem, aber wenn es zur Gründung eines Informationsministeriums in Bonn
gekommen wäre, hätte sich Gehlen vielleicht in diesem Sinne für seinen guten
Bekannten aus Washington einsetzen können.
Gehlen konnte nicht wissen, dass man sich in Washington immer noch dar­
über Gedanken machte, ob es nicht besser sei, den »Doktor« aus der Schusslinie
zu ziehen. Seinen stärksten Fürsprecher hatte er in Heusinger, der gegenüber
den Amerikanern meinte, dass Gehlen als Chef der Org nicht ersetzt werden
könne. Er verfüge über sehr starke Beziehungen zu Adenauer und Globke,
außerdem ein großes Reservoir an Loyalität bei den Angehörigen der Org. Heu­
singer glaubte nicht, dass Mellenthin die Org übernehmen und zusammenhal­
ten könnte. Früher oder später würde in diesem Fall die Wirtschaftsaufklärung
vom Wirtschaftsministerium übernommen, die Militäraufklärung vom Vertei­
digungsministerium. Damit würde das Konzept eines einheitlichen deutschen
Nachrichtendienstes zerstört werden.487 Das konnte die CIA nicht wollen, weil
es dann schwieriger wäre, die deutschen Nachrichtendienste zu kontrollieren.
Doch es hätte für Gehlen noch viel schlimmer kommen können. Wäre die CDU
durch ein schlechtes Wahlergebnis bei der Bundestagswahl gezwungen gewe­
sen, eine große Koalition mit der SPD einzugehen, hätte er seine Hoffnung auf
eine Übernahme in den Bundesdienst wohl fahren lassen müssen.
So erklärte sich Ende September 1953 die CIA mit Gehlens Vorschlägen für
eine größere Selbstständigkeit der Org einverstanden,488 und Heinz musste
seinen Platz im Amt Blank endlich verlassen. Gleichzeitig aber begannen
schlagartige Aktionen in der DDR gegen westliche Geheimdienste, insbeson­
dere gegen die Org. In Pullach hatte man dem Wechsel in der Führung der
DDR-Staatssicherheit keine größere Beachtung geschenkt. Ernst Wollweber,
ein Kommunist vom alten Schlage, ehemals kaiserlicher Matrose, Revolutio­
när und angeblicher Spezialist für Sabotage, entwickelte sich in kürzester Zeit
zum erfolgreichen Gegenspieler des Schreibtischstrategen und Generalstabs­
offiziers in Pullach. Der Haudegen im Osten konzentrierte die Arbeit seiner
Spionageabwehr auf den »Nazi-General« Gehlen und dessen Truppe.

486 Waldman an Gehlen, 15.9.1953, BND-Archiv, N 46.


487 Gesprächsnotiz vom 26.8.1953, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen
vol l_20F3, S. 77.
488 Schreiben Critchfields an Gehlen, 24.9.1953, BND-Archiv, 1173.

833
Aufgrund der instabilen Strukturen vor allem in der Außenorganisation
und laschen internen Sicherheitsmaßnahmen war die Org schon seit Anfang
der 1950er-Jahre zunehmend unterwandert worden. Die bedenklichen Sicher­
heitsvorkommen hatten sich in jüngster Zeit gehäuft. So war es für Wollweber
ein leichtes Spiel, Gehlen – fälschlicherweise – als Hauptverantwortlichen für
den Volksaufstand öffentlich zu diffamieren und dessen V-Leute in der DDR
aufs Korn zu nehmen. Am 9. November 1953 präsentierte man mit Hans-Joa­
chim Geyer einen stellvertretenden Filialleiter Gehlens und Doppelagenten in
Ost-Berlin der Weltöffentlichkeit (Aktion »Feuerwerk«).489 Es war der Auftakt
zu einer Serie »Konzentrierter Schläge«, mit denen die Arbeit der Org in der
DDR zerstört werden sollte.
Gehlen hatte zunächst auf interne Informationen seines Strategischen
Dienstes vertraut, wonach Wollweber »alt« und »kampfesmüde« geworden
sei. Der Spiegel hatte sich im vergangenen Frühjahr mit einer auf »westdeut­
sche Nachrichtendienste« gestützten Meldung an Spekulationen über einen
angeblichen Sabotageapparat Wollwebers beteiligt, der zu diesem Zeitpunkt
noch Staatssekretär im Verkehrsministerium der DDR gewesen war. Gehlen
glaubte der Einlassung eines alten Kampfgefährten von Wollweber, der diesen
für einen »Genussmenschen« und »gewissenlosen Zyniker« hielt, der sich nicht
von ideologischen Gesichtspunkten leiten ließ.490 Gehlen witterte sogleich die
Chance, Wollweber umzudrehen und nach einer Flucht in den Westen sicher
unterzubringen.491 Wenige Tage später führte Wollweber mit der Präsentation
des Doppelagenten Geyer durch MfS-General Erich Mielke seinen Schlag gegen
Pullach aus. Damit erledigte sich Gehlens Operation »Seidenspinner«.
Da mag es in den aufregenden Tagen nach dem Volksaufstand für Rein­
hard Gehlen eine willkommene Ablenkung gewesen sein, als er die Nachricht
erhielt, Leute, die 1945 den Goldschatz des Deutschen Reiches mit einer Lkw-
Kolonne in einem bayerischen See versenkt hätten, fragten nun um Rat. Sie
hätten nach eigenem Bekunden die Aktion bisher geheim gehalten, damit
nicht die Alliierten den Goldschatz beschlagnahmten, fürchteten andererseits
aber, sie könnten wegen Fundunterschlagung belangt werden. Gehlen hatte
sich zur Vermittlung bereit erklärt.492
Auf amerikanischer Seite schüttelte man den Kopf. In Washington stand
man noch immer unter dem Eindruck, dass Gehlen für die Arbeit, für die er

489 Siehe ausführlich Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 102-


200.
490 Die Bewertung stammte von Erich Wollenberg, der mit dem Stalinismus gebrochen
hatte, siehe ebd., S. 370-371.
491 Notiz Gehlens, 27.10.1953, zit. nach: ebd., S. 371.
492 Aufzeichnung vom 10.7.1953, BND-Archiv, 1110, Blatt 437.

834
sein Geld erhielt, recht wenig Interesse zeigte. Die Gerüchte um einen angeb­
lichen Nazigoldschatz waren hier längst bekannt. Die Amerikaner erinnerten
sich an die Zeit, in der man Tonnen von Material aus Österreich evakuiert hatte
und die Fahrer einzelne Goldmünzen bei sich hatten, die angeblich aus Häu­
sern verhafteter Nazi stammten. Dieselbe Gruppe habe auch FHO-Material
nach München transportiert, ebenso das Gold der ungarischen Staatsbank.
Vielleicht hätten die Russen recht, wenn sie behaupteten, die ungarischen
Kommunisten hätten nur einen kleinen Teil davon in Besitz nehmen können.
Vielleicht sei das Gold in die Hände von Gehlen und seinen Gefährten gefallen.
Das sei natürlich nur eine Spekulation, aber immerhin ein Hinweis auf Aktivi­
täten, die man schon lange vermutet habe.493 Der »Goldschatz« war allerdings
nicht in Gehlens Kasse zu finden, sondern blieb bis heute ein Phantom.
Die Amerikaner behandelten den angeschlagenen Filialleiter in Pullach im
Herbst 1953 ausgesprochen gut. In der Zentrale erinnerte man sich daran, dass
Gehlen bereits vor drei Monaten eine Studie zur Weltlage mit einem persönli­
chen Schreiben an Dulles verfasst hatte. Die Studie sei ganz und gar sein eige­
nes Werk gewesen und Gehlen habe ihm große Bedeutung zugemessen. Von
verschiedenen Seiten habe man erfahren, dass Gehlen in solchen Sachen sehr
empfindlich und betroffen sei, dass er bisher keine Antwort erhalten habe. Er
habe sich ziemlich angestrengt und die amerikanische Seite sollte doch aner­
kennen, wie sehr er sich persönlich bemüht habe.494
Der CIA-Chef ließ sich dennoch weitere drei Monate Zeit und sandte
Gehlen gleichsam als Weihnachtsgeschenk ein – wenngleich sehr kurzes -
Memorandum.495 Dulles entzog sich also der Umarmung: knapp zwei Seiten,
unpersönlich, ohne auf Gehlens Angebot eines künftigen persönlichen Mei­
nungsaustauschs einzugehen, keine persönlichen Ansichten, sondern nur
die Wiedergabe der Diskussion im Kreis der »senior intelligence officers«.
Man habe sich in diesem Kreis ausführlich mit der Studie beschäftigt, finde
sie nützlich und hilfreich, auch zur Klärung der eigenen Positionen. Es gebe
weitgehend Zustimmung. Eine Prognose über die Entwicklung der UdSSR und
der Ost-West-Beziehungen in den nächsten zehn bis 15 Jahren sei schwierig.
Man glaube ebenso wie Gehlen, dass sie mehr von der Entwicklung im Wes­
ten abhängen werde als von Entwicklungen innerhalb des Sowjetblocks. Über
die westliche Politik zu sprechen, sei man aber im Intelligence-Bereich nicht
kompetent genug.

493 Memo für Chief Frankfurt und Chief Pullach, 2.10.1953, NA Washington RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_vol. l_20F3, S. 79-80.
494 Notiz vom 7.10.1953, ebd., S. 81.
495 Kopie des Memorandums von Dulles für Gehlen, Dezember 1953, BND-Archiv, 1173,
Blatt 132-133.

835
Nach kürzlich angefertigten Studien glaube man auch, dass der partei­
interne Machtwechsel in Moskau keine Auswirkungen auf die grundsätzliche
Feindschaft der UdSSR gegenüber nichtkommunistischen Staaten habe und
die Wahrscheinlichkeit eines harten Kurses im Kalten Krieg nicht vermindern
werde. Es gebe einen Wechsel der Taktik, nicht der Ziele. Gehlens Einschät­
zung, dass ein allgemeiner Krieg in unmittelbarer Zukunft unwahrscheinlich
sei, werde von den meisten Beobachtern geteilt. Alle stimmten aber überein,
dass die Sicherheit vor einer allgemeinen Kriegsgefahr in den nächsten drei bis
zehn Jahren größtenteils davon abhängen werde, welche Fortschritte bei der
Stärkung der europäischen Verteidigung gemacht würden.
Auch pflichtete man Gehlens Einschätzung bei, dass der Kreml langfristig
damit rechne, die Kolonialpolitik in den unterentwickelten Ländern für Pro­
pagandazwecke und subversive Operationen ausnutzen zu können. Die politi­
sche und soziale Instabilität in diesen Gebieten stelle eine der größten Schwie­
rigkeiten für den Westen dar, der UdSSR gegenüber eine »total power position«
aufzubauen. Hinsichtlich der Juniunruhen in Ostdeutschland stimme man
seiner Beobachtung zu, dass die spontane Demonstration des Volkswillens
von großer psychologischer Bedeutung sei, dass man aber ihre augenblickli­
che politische Bedeutung nicht als effektiven Widerstand überbewerten sollte.
Was die Deutschlandpolitik betreffe, teile man Gehlens Ansichten fast voll­
ständig, insbesondere über die Notwendigkeit, beständig eine Wiedervereini­
gung auf der Basis freier, überwachter Wahlen zu fordern.
Auf der anderen Seite aber glaube man, trotz real vorhandener Differen­
zen bei Auffassungen, Programmen und Taktiken, dass Großbritannien die
Basis seiner Sicherheitsinteressen sehr eng mit denen der USA identifiziert
habe und nicht daran arbeite, wie Gehlen meine, den US-Einfluss in Europa
und Gebieten des früheren Empires zurückzudrängen. (Dulles will sich also
nicht von Gehlen in eine antibritische Ecke ziehen lassen.) Ähnlich sei man
zwar besorgt über die möglichen Gefahren der jugoslawischen Beziehungen
zum Sowjetblock, doch laute die beste Einschätzung, dass Tito seine gegen­
wärtigen Interessen in der Beziehung zum Westen gewahrt sehe, und da Tito,
wie auch Gehlen meine, ein Realist sei, wäre es nicht wahrscheinlich, dass er
ein doppeltes Spiel treibe. Damit würde er sehr schnell in sowjetisches Fahr­
wasser geraten und sich jeder Chance berauben, bei einer künftigen Krise
mit dem Kreml die Unterstützung des Westens zu erhalten. Abschließend
übermittelte Dulles seinen Dank und den seiner senior colleagues für die
Mühe, die sich Gehlen mit seiner Studie gemacht habe, und für die Hilfe, die
sie geboten habe, selbst über diese breiten und komplexen Probleme nach­
zudenken.
Ebenso zuvorkommend war die Antwort der CIA auf Gehlens Planungen
für den Kriegsfall. Es habe bei den Mob-Plänen beträchtliche Fortschritte

836
gegeben, hieß es in einem von Critchfield übermittelten Grundsatzpapier.496
Deshalb sei der Zeitpunkt erreicht, um über eine Ausweitung der Abspra­
chen zu reden. Das betreffe die Stay-behind-Operationen in Westdeutschland
(Deckname »Saturn«), die Vorbereitung der bestehenden Quellen in der SBZ
für den Kriegsfall (Deckname »Juno«), Vorbereitungen für die Einrichtung im
rückwärtigen Raum (Deckname »Zobel«), insbesondere in Frankreich, sowie
die Beteiligung der Org in Kommando Stäben von USAREUR (US Army Europe)/
SHAPE (Supreme Headquarters Allied Powers Europe).
Die Verbindung der Org zur deutschen Regierung und zu den Amerikanern
stellte ein besonderes Problem dar. Im Augenblick musste sich Gehlen in sei­
ner Zwitterrolle darauf einstellen, auf die amerikanische Seite zu treten.497 Im
Ernstfall sollte die Org temporär in die CIA eingegliedert werden, ihren Cha­
rakter als deutscher Nachrichtendienst dennoch nicht einbüßen und mit einer
deutschen Exilregierung sowie anderen westeuropäischen Nachrichtendiens­
ten eng zusammenarbeiten. Solange es keine deutschen Uniformen im Rah­
men der EVG gebe, müssten die Mitarbeiter der Org US-Uniformen mit Natio­
nalitätenabzeichen tragen. Ihr selbstständiger Auftrag wäre die Aufklärung im
deutschsprachigen Raum, in den Satellitenstaaten und im Westteil der UdSSR,
die Frontaufklärung im Bereich der US-Heeresgruppe und der EVG. Gehlen
dachte insbesondere an die rechtzeitige Evakuierung der Familienangehöri­
gen, möglichst in die USA, und die Erleichterung der Einwanderung bewähr­
ter Mitarbeiter nach Beendigung ihrer Tätigkeit (das sollte wohl heißen, falls
Europa verloren ginge). Nach dem bevorstehenden Aufbau deutscher Streit­
kräfte sollten – so Gehlen – diese Regelungen im Wesentlichen auch für den
künftigen BND gelten.
Bei diesen Mob-Planungen fühlte sich Gehlen offensichtlich ganz in seinem
Element. Es muss ihn an seine frühe Generalstabstätigkeit in den 1930er-Jah­
ren erinnert haben.498 Die Aufarbeitung des Versagens der Aufklärung gegen
die DDR während des Volksaufstandes geriet damit immer stärker in den
Hintergrund. Angesichts der augenblicklich laufenden Verhaftungswelle von
V-Leuten der Org in der DDR, zu der peinliche Enthüllungen der ostdeutschen
Propaganda gehörten, konnte Gehlen nicht in der Deckung bleiben. Wor­
gitzky musste zu seinem schwierigsten Gang zu Rudolf Augstein antreten, um
einen bereits gesetzten Artikel über die Blamage der Org zu verhindern. Darin
hieß es, die ganze Org sei zerschlagen worden und Wollweber habe Gehlen

496 Schreiben vom 12.10.1953, BND-Archiv, 1173, Blatt 95-98.


497 Denkschrift Gehlens über die grundsätzliche Regelung der Zusammenarbeit zwischen
CIA und der Organisation im E-Fall, 15.10.1953, ebd., S. 99-101.
498 Schreiben vom 13.11.1953, Anlage mit Gedanken zur Vorbereitung und Durchführung
des neuen Evakuierungsplanes, ebd., S. 108-111.

837
besiegt.499 Worgitzky konnte Augstein diesen Artikel ausreden. Die Informatio­
nen über den Fall Geyer erschienen später und blieben sachlich, ohne die Org
zu beschädigen. Dass Augstein im Gegenzug erwartete, künftig mehr über die
Tätigkeit der Org zu erfahren und Gehlen auch bald einmal wieder persönlich
sprechen zu können, schien hinnehmbar zu sein.500
Darüber hinaus drängte Gehlen das Kanzleramt zu einer publizistischen
Gegenoffensive. In einer Vortragsnotiz für den Kanzler hieß es, der Gegner
betrachte die Org im europäischen Bereich als seinen größten Feind.501 Im
Fall Geyer sei es ihm gelungen, einen Mann der alleruntersten Führungsebene
umzudrehen und zu veranlassen, unter Mitnahme einiger Akten in die SBZ
zu fliehen. Es liefen bereits Sicherheitsüberprüfungen. Sechs Personen in der
SBZ seien vom Gegner festgenommen worden, ausgewichen nach West-Berlin
seien bisher drei Personen, gefährdet seien insgesamt 45 Personen. Die aus­
geschalteten Quellen hätten ausschließlich Aufträge zur Erkundung gehabt,
nicht zur Sabotage. Die Arbeitsfähigkeit der Org sei nicht eingeschränkt. Der
Vorfall bleibe natürlich bedauerlich.
Ähnlich beschwichtigend äußerte sich Gehlen auch gegenüber den eige­
nen Mitarbeitern. Es blieb ihm auch kaum etwas anderes übrig. Er zeigte sich
auffällig aktiv und ließ im Rahmen der verstärkten Sicherungsmaßnahmen
sogar den Wachdienst in Pullach provisorisch verstärken, indem die Mitar­
beiter angehalten wurden, reihum den nächtlichen Wachdienst zu verstärken.
Das löste intern einigen Wirbel aus, konnte jedoch ein geeignetes Mittel sein,
die innere Lähmung zu überwinden, denn die Kampagne der DDR mit immer
neuen Verhaftungen schien kein Ende zu nehmen.502

499 Notiz für Gehlen, 6.11.1953, BND-Archiv, 1147. Siehe auch Heidenreich/Münkel/Stadel­
mann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 346-347.
500 Zu dieser Begegnung könnte es gekommen sein, als Gehlen die Gelegenheit erhielt,
sich in Gesprächen mit Augstein und Hans Detlev Becker für die Titelgeschichte »Des
Kanzlers lieber General« in Szene zu setzen, siehe S. 860 – 864 in diesem Teilband und
den Hinweis im Tagebuch Weiß, Eintrag vom 20.3.1959, BND-Archiv, N 10/6, S. 88. Aug­
stein gab später an, Gehlen bereits 1951 in der Nähe von Bremen getroffen zu haben,
und machte sich lustig darüber, dass ihm Gehlen eine Zigarre Marke »Geheimdienst«
angeboten hatte (zit. nach: Unrühmliche Rolle, Spiegel 38/2012, S. 81) – zumindest das
ist glaubwürdig, weil es Gehlens Art von Humor entsprochen hätte. Der im Novem­
ber 1953 an Gehlen überlieferte Wunsch Augsteins nach einem persönlichen Treffen
spricht allerdings dafür, dass sich Augstein in seiner Erinnerung bei der Jahreszahl 1951
irrte, das freilich das Jahr war, als der erste Kontakt zwischen Org und Spiegel geknüpft
wurde.
501 Vortragsnotiz Gehlens für den Bundeskanzler vom 10.11.1953, BND-Archiv, 1110,
Blatt 450-451.
502 Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 149-150.

838
Um die Absicht des Gegners zu durchkreuzen, mit seiner Kampagne die
Übernahme der Org in den Bundesdienst zu verhindern, war Gehlen gezwun­
gen, auf jede behördeninterne Kritik heftig zu reagieren. So unterrichtete er
das Kanzleramt darüber, dass der Berliner Referent der immer noch beste­
henden Heinz-Gruppe unter Journalisten angeblich folgende Auslassungen
verbreite:503 Die Org sei geplatzt und unfähig zur Weiterarbeit. Es seien durch
zahlreiche Nichtfachleute grobe Fehler gemacht worden. Nur dank Globke
habe der »Doktor« das Ohr des »alten Herrn«. Hier werde ohne Wissen des
Kabinetts die Legalisierung vorangetrieben, obwohl an der Spitze der Org
zweifelhafte Leute stünden. Sogar über die Arbeit des Gehlen-Bruders in Rom
seien abfällige Äußerungen gefallen. Blank und Strauß stünden weiterhin hin­
ter Heinz. Es war der für Gehlen typische Stil von Verschleierung und Irrefüh­
rung, um vermeintliche Gegner anzuschwärzen.
Der Denunziantenkrieg hinter den Bonner Kulissen allein brachte Gehlen
natürlich auch nicht weiter. Da sowohl das Kanzleramt als auch der amerika­
nische Verbündete seinem Drängen auf eine stärkere Lenkung der Presse und
positive Stellungnahmen auswichen, brauchte er dringend Erfolge gegen den
äußeren Feind, um die Existenz seiner Org zu rechtfertigen. Er übertrug sei­
nem Referenten Kurt Weiß die Aufgabe, die eigene Pressearbeit zu intensivie­
ren. Es war der Beginn einer weitergehenden Vernetzung der Org in der west­
deutschen Medienlandschaft, die in kurzer Zeit durchaus Früchte trug. Ganze
Serien beschäftigten sich in den nächsten Monaten mit Reinhard Gehlen und
seinem Dienst sowie den vermeintlichen Erfolgsgeschichten. Der »Doktor«
kümmerte sich dabei gelegentlich persönlich um die Anbahnung entsprechen­
der Kontakte, etwa mit dem Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,
Hans Baumgarten. Aber meist zog er es vor, im Hintergrund zu bleiben und
seine Referenten vorzuschicken.504
Gehlen ließ die Gegenpropaganda gegen den Osten auf Hochtouren laufen.
Der Fall »Brutus« schien so ein Erfolg zu sein, dessen er sich noch in seinen
Memoiren rühmte.505 Durch Zufall hatte die Org Kontakt zu einem Ministerial­
rat im Verkehrsministerium der DDR gefunden, der zeitweilig in der Umge­
bung von Wollweber gearbeitet hatte, als dieser im Verkehrsministerium tätig
war. Walter Gramsch traf mit seiner Familie Ende November in Westdeutsch­
land ein. Damit sollte propagandistisch der Eindruck erweckt werden, dass
der Stasi-Chef lediglich einige kleinere Doppelagenten enttarnt habe, Gehlen
aber dem Gegner mit der erfolgreichen Evakuierung einer Spitzenquelle einen

503 Fernschreiben Gehlens für Gumbel, 17.11.1953, BND-Archiv, 1110, Blatt 452.
504 Siehe etwa das Beispiel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieben bei Heiden­
reich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 352-353.
505 Gehlen, Der Dienst, S. 158 -159.

839
schweren Schlag zugefugt hätte. In seinen Memoiren erwähnte Gehlen eine
Reihe von anderen Operationen, die dem Feind angeblich weitere erhebliche
Rückschläge zugefügt hätten. Das war eine Übertreibung, doch unter den
damaligen Umständen kam es allein darauf, um jeden Preis Erfolge präsen­
tieren zu können.
Auch wenn sich die Bundesregierung und Washington grundsätzlich dazu
entschieden hatten, den Gehlen-Dienst bei passender Gelegenheit als Bundes­
nachrichtendienst zu legalisieren, dürfte Gehlen selbst geahnt haben, dass die­
ser Transfer durchaus noch in letzter Minute scheitern könnte. Der CIA-Chef
nutzte Anfang 1954 den Besuch des Grafen Schwerin in den USA, um den alten
Freund nach seiner Meinung über die Organisation Gehlen zu befragen.

Man sei in den Vereinigten Staaten besorgt, daß die Organisation völlig
unkontrolliert in den letzten Jahren gearbeitet und sich in politische, vor
allem deutsche innerpolitische Angelegenheiten eingemischt habe. Er
[Schwerin] habe dies nur bestätigen können, und auf einige von ihm erzählte
Beispiele habe Allen Dulles die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
Es sei doch so, der Bundeskanzler und Staatssekretär Globke hätten die
Organisation zu innerpolitischen Zwecken praktisch mißbraucht, vielleicht
ohne daß Gehlen Bescheid darüber gewußt habe.506

Das war eine sehr wohlwollende Vermutung Schwerins. Er verschaffte dem


SPD-Abgeordneten Fritz Erler bei dessen USA-Besuch einen Termin bei Dulles,
um mit dem CIA-Chef über die »Möglichkeiten einer wirksamen Kontrolle der
Organisation Gehlen durch das Parlament« zu sprechen.
Erler hatte Gehlen gerade vor dem EVG-Ausschuss des Bundestages erlebt,
wo dieser bestritten hatte, dass seine Org innenpolitische Aufklärung betrie­
ben habe. Der »Doktor« soll sich mit Händen und Füßen gegen eine derartige
Befragung durch das Parlament gewehrt haben. Nach Erlers Kenntnis habe es
eines vierstündigen Ringens mit Globke bedurft, um Gehlen zu diesem Schritt
zu veranlassen.507
Für die Anhörung in der Ausschusssitzung des Bundestages am 11. Dezem­
ber 1953 hatte sich Gehlen dann mit einer neuen Fassung seiner »Grundsätze
des geheimen Nachrichtendienstes« bestens vorbereitet.508 Er nutzte die Gele­

506 Aktennotiz für Globke über ein Gespräch zwischen Speidel und Schwerin, 2.3.1954,
VS-Registratur Bka, Bk 1:15100(64) Bd. 1, Blatt 85.
507 Ebd.
508 Gehlen, Grundsätze des Geheimen Nachrichtendienstes, 9.12.1953, ebd., Blatt 67-84;
Protokoll der 4. Sitzung, 11.12.1953; in: Der Bundestagsausschuss für Verteidigung und

840
Fritz Erler, Verteidigungsexperte der SPD-Fraktion
im Bundestag, 1950er-Jahre

genheit, die Geschichte seiner Org kurz zu schildern, auf die Angriffe seitens
der DDR einzugehen und seine Sicherheitsphilosophie als zuverlässig darzu­
stellen. Sogar auf die umlaufenden Gerüchte über eine hohe Zahl von politisch
belasteten Mitarbeitern der Org hatte er sich eingestellt. Mit seinen Zahlen
und einer Grafik erweckte er den Eindruck, dass er das Problem im Griff hätte
und bei ihm weniger Exnazis beschäftigt würden als in vielen Ministerien. Kei­
ner konnte ihm widersprechen. Die CIA war sehr zufrieden.509
Auch in der deutschen Öffentlichkeit entstand der Eindruck, dass Gehlen
die Unterstützung des Bundestages habe. Neue Hoffnung auf eine baldige
Übernahme keimte in Pullach und bestimmte den Geist der Weihnachtsfeier
im Camp. Udo Ritgen, als Hilfsreferent für Ostaufklärung neu in der Org,510
hatte als Neuzugang den Nikolaus zu spielen. Die Feier im gemütlichen und
stilvollen Clubhaus verlief nach seiner Erinnerung optimal, bis der »Doktor«
am 18. Dezember mittags das Wort ergriff. Es wurde für Ritgen eine herbe Ent­
täuschung. »Mühsam rang er um Worte, man zitterte mit ihm und um ihn, bis
er schließlich zum guten Ende fand.«511 Gehlen hatte seine Hartnäckigkeit und
Geschicklichkeit bewiesen, aber es zeigte sich, dass der Kampf seinem Naturell
widersprach und offenbar an seinen Kräften zehrte.

seine Vorläufer, hg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Bd. 2, Düs­


seldorf 2010, S. 707-750.
509 Peter Sichel, Eastern Europe, Resume of Developments in Zipper/CIA/West German
Government Relations, 19.1.1954; in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. 2, S. 502-503.
510 Der ehemalige Major i.G. wurde 1969 Unterabteilungsleiter Militärische Aufklärung
und Brigadegeneral der Bundeswehr.
511 Erinnerungen Ritgen, S. 219, BND-Archiv, N 28/7.

841
Als bekannt wurde, dass Heinz kurz nach seiner Entlassung vergeblich vom
sowjetischen Geheimdienst angesprochen worden war, meldete der Spiegel,
dass Heinz womöglich doch ein Sowjetagent sein könnte, und stellte zuguns­
ten Gehlens fest, nun bleibe »nur noch ein anderer, ungleich mächtigerer
amtierender deutscher militärischer Nachrichtenmann übrig [...] Jetzt steht
den Plänen nichts mehr im Wege, den Gehlen-Apparat wieder in deutsche
Finanzgewalt zu nehmen« und die Org »als besonders wertvollen deutschen
Beitrag in die EVG« einzubringen.512
Doch Gehlen konnte die Hände nicht in den Schoß legen und musste nahe
am Feind bleiben. Um seine politische Offensive gegen Stasi-Chef Wollweber
fortzusetzen und damit zugleich seine umstrittene Position in der Bonner
Politik zu festigen, ergriff er weitere Initiativen. Gehlen machte Critchfield
den Vorschlag, ein Weißbuch über die Kasernierte Volkspolizei anzufertigen,
um Angriffen gegen die Org und die Tätigkeit westlicher Nachrichtendienste
in West-Berlin begegnen zu können. Das sei »im Sinne einer Immunisierung
der im demokratischen Staatsleben maßgebenden Kreise gegen den sowjeti­
schen Nervenkrieg notwendig«. Dabei müsste man die Aktivitäten vorsichtig
dosieren.513 Mit der Studie wollte Gehlen im Hinblick auf die bevorstehende
Berliner Außenministerkonferenz der vier ehemaligen Alliierten die westliche
Seite gegenüber zu erwartenden sowjetischen Vorwürfen mit Gegenargumen­
ten munitionieren.
Der Chef erteilte in Pullach klare Anweisungen.514 Die Studie sollte 30 Seiten
umfassen, mit reichlich Anlagen und einem festen Einband. Es waren Nach­
weise zu erbringen, dass die »Ostzonenregierung« mit sowjetischer Unterstüt­
zung eine Militärmacht aufbaue und »mobmäßig« Umsturzpläne gegen die
Bundesrepublik verfolge. Zu beschreiben seien die Westinfiltration, die Ausbil­
dung von Agenten und Sabotagegruppen sowie Vorbereitungen für die Über­
nahme öffentlicher Ämter in Westdeutschland. Nach Anordnung von Globke
sollte sich das BfV mit Informationen beteiligen.515 Das passte Gehlen offen­
bar überhaupt nicht. In Pullach lag bereits ein eilig zusammengezimmertes
Papier vor, das nicht von den fachlich zuständigen Referenten der Gegenspio­
nage stammte, sondern unter der Federführung von Kurt Weiß entstanden
war. Entgegen den Zweifeln seiner eigenen Fachleute stützten sich Gehlen
und Weiß auf fragwürdige Meldungen des Strategischen Dienstes, die intern

512 Geheimdienste. Ein Heldenlied, Spiegel 47/1953 vom 18.11.


513 Schreiben Gehlens an Critchfield, 16.12.1953, BND-Archiv, 1173, Blatt 129-131.
514 Weisung Gehlens, 5.1.1954, BND-Archiv, 4318.
515 Aktennotiz über das Gespräch Gehlen-Globke, 7.1.1954, BND-Archiv, 1110, Blatt 453-
456.

842
als »Handelsware und größtenteils schwindelhaft« galten.516 Gehlen ließ sich
davon nicht beirren. Bei einer Besprechung des Entwurfs zwischen Weiß und
Vertretern des BfV zeigte sich, dass für die Verfassungsschützer das Gehlen-
Produkt völlig unakzeptabel war und sich auf teils erfundene oder fehlerhafte
Angaben stützte. Es musste mühsam eine Kompromisslinie gefunden werden,
um den Konflikt, der das ohnehin problematische Verhältnis zwischen beiden
Institutionen nachhaltig belastete, nicht über das Kanzleramt laufen zu lassen.
Im Ergebnis unterblieb die Veröffentlichung – von Gehlen in seinen Memoi­
ren als Erfolg herausgestellt, weil schon die Lancierung einer Pressemeldung
über ihre Entstehung ausgereicht habe, Moskau von der Übergabe seines
Materials auf der Konferenz abzuhalten.517 Er deutete das als weiteren Beweis
für seine erfolgreiche Arbeit, die angeblich zum »rühmlosen Abgang« des »für
allmächtig gehaltenen sowjetzonalen Spionagechefs« geführt habe.
Die Viererkonferenz der Außenminister in Berlin endete am 18. Feb­
ruar 1954 ergebnislos. Die Westmächte bestanden auf freien Wahlen als Vor­
bedingung für eine Wiedervereinigung Deutschlands sowie dessen Einglie­
derung in die EVG. Moskau hingegen verlangte die Auflösung der NATO, den
Rückzug der US-Truppen aus Europa und die Neutralisierung Deutschlands.
Es war der Zeitpunkt, zu dem die Weichen endgültig für die deutsche Teilung
gestellt wurden.518
In Pullach wird man aus dieser Situation die Gewissheit abgeleitet haben,
dass die Zukunft der Org als der deutsche Nachrichtendienst kaum noch infrage
gestellt würde. Allerdings gab es auch die Zuversicht, dass im unwahrschein­
lichen Falle einer Wiedervereinigung die DDR-Funktionäre in die UdSSR aus-
weichen würden und dass, wenn man unter ihnen V-Leute gewinnen könnte,
sie aus dem Exil weitermelden würden.519 Und Gehlen schien neuen Schwung
nehmen zu wollen. Er wechselte auf der Position seines Persönlichen Referen­
ten den Mecklenburger Lobedanz gegen den auslandserfahrenen, ehemaligen
Kavalleristen Eberhard Blum aus, später Präsident des BND (1982-1985).
Ein wichtiger organisatorischer Schritt wurde unter Wolfgang Langkau die
Neuaufstellung des Strategischen Dienstes, der insgeheim politische Nach­

516 Zit. nach: Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 378.


517 Gehlen, Der Dienst, S. 158. Intern räumte die Org Ende 1954 gegenüber dem Kanzleramt
ein, die Veröffentlichung sei aus »nicht eindeutig geklärten Gründen« unterblieben, zit.
nach: Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 384.
518 Zum Hintergrund siehe Hermann-Josef Rupieper: Die Berliner Außenministerkonfe­
renz 1954. Ein Höhepunkt der Ost-West-Propaganda oder die letzte Möglichkeit zur
Schaffung der deutschen Einheit?, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986) 3,
S. 427-453.
519 Zusammenfassende Darstellung der Beschaffung über die Nachrichtenaufklärung in
der DDR, bearb. von Heinz Guderian (jr.), 15.2.1954, BND-Archiv, 4318.

843
Hans-Heinrich Worgitzky, Außenstellenleiter,
ab 1956 Stellvertreter Gehlens, ca. 1956

richten über das Ausland, insbesondere den Ostblock, beschaffen sollte. Dar­
auf setzte Gehlen große Hoffnungen, um das enge Korsett der militärischen
Nahaufklärung für die Amerikaner zu sprengen und sich als großer Meister der
politischen Spionage profilieren zu können. So beauftragte er unter anderen
den Leiter der Dienststelle 11 in Bremen, Worgitzky, mit der Aufklärung im
Nahen und Mittleren Osten. Dazu sollte dieser bis Ende 1954 etwa fünf hoch­
wertige Vertrauensleute an wichtigen Punkten platzieren und gegenüber dem
Stab der Org sorgfältig abschirmen – was sich vor allem gegen die Amerikaner
richtete. Zusätzliche finanzielle Mittel standen dafür allerdings nicht zur Ver­
fügung.520
Das Prinzip enger Abschottung der einzelnen Bereiche, nach den Sicher­
heitseinbrüchen 1953 von Gehlen noch einmal verstärkt, führte zu heftigen
Diskussionen unter leitenden Mitarbeitern, die bis zum Ende der Dienstzeit
Gehlens anhielten. Langkau, der zu den engsten, aber auch umstrittensten
Mitarbeitern Gehlens gehörte, führte einen Apparat außerhalb der Zentrale,
in den die Amerikaner keinen Einblick hatten. Für Gehlen bot sich damit die
Möglichkeit, der Bundesregierung vermehrt außenpolitische Informationen
zur Verfügung zu stellen und Meldungen aus diesem Bereich an die CIA nach
eigenem Ermessen zu dosieren. Der Strategische Dienst überschnitt sich in
seinen Aufgaben allerdings mit der von Kurt Weiß innerhalb der Zentrale
geleiteten außenpolitischen Nachrichtenbeschaffung. Weiß interpretierte die
Haltung Gehlens als Ausfluss des Grundsatzes divide et impera. Der Chef habe
Parallelentwicklungen zugelassen, ohne zunächst einzugreifen, und sich erst

520 Notiz vom 8.1.1954, ebd.

844
Kurt Weiß, ca. 1956

nach der Schaffung des BND dazu entschlossen, eine gewisse Koordinierung
zu erreichen, sich dabei allerdings die Möglichkeit offengehalten, gelegentlich
einzelne Operationen unter Abschirmung gegeneinander von einem anderen
Bereich weiterfuhren zu lassen.521 Was Weiß als gezielte Führungsstrategie sei­
nes Chefs interpretierte, ist tatsächlich wohl mehr Führungsschwäche Geh­
lens gewesen.
Um der Unsicherheit in den eigenen Reihen über mögliche Sicherheits­
lecks entgegenzuwirken, ordnete Gehlen zwar weitreichende Überprüfungen
an, die allerdings die Zentrale ausnahmen und sich auf die Peripherie der Org
beschränken sollten. Im Hinblick auf den Jahre später aufgedeckten Verratsfall
Heinz Felfe, die größte Katastrophe in der Geschichte des BND, gab es zwar
schon Anfang 1954 eindeutige Meldungen und Warnungen, doch keine Kon­
sequenzen. Auch der US-Stab wurde nicht unterrichtet. So verließ sich Critch­
field auf die Wirksamkeit der Maßnahmen Gehlens, auch wenn ein Unbeha­
gen blieb, wie er in seinen Memoiren schrieb.522 Der »Doktor« hatte jedoch ein
»behutsames Vorgehen« bei den Sicherheitsüberprüfungen angeordnet, die
den einzelnen Dienststellen überlassen blieben. Es lag also bei den jeweiligen
Vorgesetzten, die Zuverlässigkeit ihrer Untergebenen nach eigenem Ermessen
zu beurteilen.523
Das Kontaktverbot zwischen den Abteilungen und die komplette Umbe­
nennung aller Untergliederungen sollten nach Gehlens Ankündigung eine

521 Dazu umfassend Erinnerungen Weiß, BND-Archiv, N 10/2.


522 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 197.
523 Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 146.

845
»organisierte Desorganisation« herbeiführen, bei der allein die Führung einen
Überblick habe, ein möglicherweise eingedrungener Gegner aber von unten
her die Gliederung nicht erkennen könne. Da wundert es nicht, dass die ganze
Aktion zur Sicherheitsüberprüfung praktisch im Sande verlief.524 Gehlens Aus­
sagen vor dem Bundestagsausschuss Anfang Dezember, die eingetretenen Ver­
luste seien unerheblich und beeinträchtigten nicht die Leistungsfähigkeit der
Org, entsprachen jedenfalls nicht der Realität.
Besonders bedenklich waren die Folgen der Verhaftungswelle in der DDR,
die zu einem Einbruch der V-Mann-Meldungen vor allem bei der Militäraufklä­
rung geführt hatten.525 Trotz verstärkter Bemühungen zur Rekrutierung neuer
V-Leute verfestigte sich im Verlauf des Jahres 1954 der Niedergang. Es war
kaum noch möglich, die sowjetischen Streitkräfte in der DDR flächendeckend
zu beobachten, was die Sicherheit der Bundesrepublik gefährden konnte. Doch
Gehlen reagierte anscheinend gelassen. Bei der Auswertung zog man die Kon­
sequenz, das Bewertungsverfahren für Anzeichen, die auf einen herannahen­
den Krieg hindeuten könnten, zu straffen und zu systematisieren.526
»Doktor Schneider« kümmerte sich, wie meist, kaum um die Schwierigkei­
ten der Beschaffung, sondern konzentrierte sich darauf, seinen umstrittenen
Dienst endlich zu legalisieren. Das Startsignal könnte die noch ausstehende
Ratifizierung der EVG-Verträge durch das französische Parlament geben.
Danach sah es Anfang 1954 jedenfalls aus, sodass Gehlen bestrebt war, sich
umsichtig auf der politischen Bühne zu bewegen und im Hintergrund alle
Möglichkeiten zu nutzen, Entscheidungsträger und Öffentlichkeit in seinem
Sinne zu beeinflussen.
Die größte Gefahr für seine Pläne schien die ungeklärte Frage zu bergen,
ob man die Org womöglich als Zwischenlösung oder auch endgültig dem Amt
Blank zuschlagen könnte. Als ihm von britischer Seite entsprechende Hinweise
bekannt wurden, alarmierte Gehlen sofort Globke, dass man an der beabsich­
tigten »Endlösung« unbedingt festhalten müsse. Rein sachlich, so meinte er,
komme nur eine Lösung infrage: die einheitliche Leitung aller Sparten eines
Auslandsnachrichtendienstes. Natürlich sei eine baldige Übernahme der Org
durch die Bundesregierung erwünscht, und eine Zwischenlösung bei Blank
hätte manche Vorteile, aber nur, wenn die fachliche Breite erhalten bliebe
und der Leiter Zugang zu Globke und den zivilen Ministerien behalten würde.
Wenn dann das Amt Blank zum Verteidigungsministerium umgewandelt
werde, müsste endgültig über den künftigen BND entschieden werden. Aber

524 Ebd., S. 187.


525 Siehe ausführlich ebd., S. 422 – 423.
526 Studie vom 28.1.1954, BND-Archiv, 7685.

846
eine solche Zwischenlösung berge doch viele Nachteile und sei deshalb besser
zu vermeiden.527
Der neue CDU-Innenminister Gerhard Schröder gab sich äußerst misstrau­
isch. Über dessen persönlichen Referenten erhielt Gehlen die Information, dass
sein Vortrag im Ausschuss Anfang Dezember zwar einen positiven Eindruck
gemacht habe; man verstehe auch, dass man sich der Org bedienen müsse,
halte Gehlen aber hinsichtlich seiner letzten Absichten für undurchsichtig.
Zwischen Gehlen und Schröder bestehe praktisch kein persönlicher Kontakt.
Der Minister habe den Eindruck, dass Gehlen eine Machtstellung anstrebe.
Das werde genauso abgelehnt wie seinerzeit der Ruf des Kanzlers nach einem
Sicherheitsministerium. Globke sei bei den meisten Parteien unbeliebt, allein
auf ihn zu setzen sei gefährlich. Außerdem sei ein so großer Apparat wie die
Org von keinem Ministerium zu verkraften. Allein die Zentrale umfasse offi­
ziell 320 Köpfe. Es gebe einen riesigen Geldbedarf. Der Regierung falle es schon
schwer, auch nur drei Millionen für das BfV lockerzumachen. So komme wohl
nur das Amt Blank infrage.528 Wenn die Org über Blank mit der EVG gekoppelt
würde, könnte sie eine gute Verbindung zum Innenministerium gebrauchen.
Doch dort gebe es noch nicht einmal eine Anschrift, mit der man sich an die
Org wenden könnte.529 Gehlens Verhältnis zu dem spröden Juristen Schröder,
im Krieg Funker und Unteroffizier, blieb auch später distanziert, als dieser in
der Endphase der Ära Gehlen mit dem Ruf eines Law-and-Order-Politikers
Außenminister (1961-1966) und dann Verteidigungsminister (1966-1969)
wurde.
Reinhard Gehlen musste auch 1954 in manche Abgründe blicken. Da
bewährte sich sein enges Verhältnis zur Machtzentrale. Globke sorgte dafür,
dass ein »katastrophaler« Artikel eines Bonner Journalisten über die Org nicht
in der Zeitschrift Revue erschien. Er sicherte außerdem zu, das Thema »Ver­
borgener Goldschatz« neu aufzugreifen und sich bei den Amerikanern dafür
einzusetzen, dass der »Schatz«, wenn er denn gefunden werden sollte, der
Bundesregierung zu übergeben sei. Er verriet Gehlen außerdem, dass Franz
Josef Strauß, zu dieser Zeit Bundesminister für besondere Aufgaben, dem
Kanzler laufend zusammengestellte Nachrichten über den Westen zukommen

527 Schreiben Gehlens an Globke, 9.1.1954, BND-Archiv, 1110, Blatt 457-458.


528 Notiz vom 2.2.1954, BND-Archiv, 4318. Der Finanzminister wollte die veranschlagte
Höhe eines BND-Etats von 35 Millionen D-Mark nicht ohne Weiteres akzeptieren und
setzte eine Prüfgruppe ein. Unterdessen durften die Kosten aber auch nicht über Blank
verrechnet werden. So musste sich Gehlen darauf einstellen, mit der CIA über ein weite­
res Haushaltsjahr verhandeln und erneut Kürzungen hinnehmen zu müssen; Gespräch
Critchfield-Wendland, 19.3.1954, ebd.
529 Notiz vom 2.2.1954, ebd.

847
lasse und dafür vom Kanzler Geld zu bekommen versuche. Steckte Schwerin
dahinter, fragte sich Gehlen, und von wem könnten die Nachrichten kom­
men.530
Im Frühjahr 1954 beurteilte Heusinger, der inzwischen im Amt Blank fest
im Sattel saß, die Zukunftsaussichten der Org als denkbar schlecht. Die Kam­
pagne der DDR, die zunehmenden Presseangriffe und vor allem die Angst von
Globke, bei einer Übernahme der Org durch das Kanzleramt selbst die Verant­
wortung tragen zu müssen, hätten die Perspektiven verdüstert. Adenauer und
Globke, so meinte Heusinger, versuchten offenbar, die Org an das Amt Blank
anzubinden, um sich der direkten Verantwortung zu entziehen. Damit steige
aber erneut die Gefahr einer Zerschlagung der Org.
Insgesamt seien in den letzten Monaten die Vorbereitungen für eine Über­
nahme nicht wirklich vorangekommen. Selbst wenn der förmliche Beschluss
käme, müsste man noch mit monatelangen Verhandlungen mit dem Finanz­
ministerium rechnen, ehe die Übernahme vollzogen werden könnte. Als Wes­
sel, der jetzt im Amt Blank Heusinger unterstand, sich bei dieser Gelegenheit
den Hinweis erlaubte, dass Gehlen in drei Tagen Geburtstag habe, zeigte Heu­
singer allerdings kein Interesse, eine Gratulation überbringen zu lassen, was
Wessel im Stillen verwunderte. Diese Einstellung zur Org sei, nach allem was
Heusinger Gehlen zu verdanken habe, völlig unverständlich.531
Auch Heinz Danko Herre, ein alter Vertrauter Gehlens und zu dieser Zeit
als Leiter der Auswertung in einer der wichtigsten Führungspositionen der
Org, verstand Heusinger nicht mehr. In einem Telefonat mit dem Leiter der
Beschaffung, Kühlein, platzte ihm förmlich der Kragen. Er kämpfe mit Verbüro­
kratisierung und Überalterung, bekomme nicht genügend Personal, für den
Nachwuchs gebe es keine attraktiven Verhältnisse, es drohe eine Katastrophe.
Seit über einem Jahr werde die Truppenkartei nicht mehr geführt. Und schließ­
lich sei auch der »Laden von Wessel« im Amt Blank, wichtigster Empfänger der
militärischen Auswertung, viel zu klein. In dieser Situation sei das Verhalten
von Heusinger besonders schlimm. Jetzt wolle er ohne Einbeziehung von Geh­
len an Critchfield herangebracht werden. Warum? Heusinger habe reüssiert,
erhalte seine Diäten aber weiterhin von der Org. Nun heiße es sogar, er, Herre,
sei eine potenzielle Gefahr, er könne zu gut mit den Wlassow-Leuten und den
Amerikanern. »Gegenüber dieser Gemeinheit muss nun abgerechnet werden.
Oder ich blase den Mann durch den Schornstein.«532

530 Aktennotiz über die Besprechung Gehlens mit Globke und Gumbel, 3.2.1954, BND-
Archiv, 1110, Blatt 463.
531 Notiz über die Besprechung Wessel – Heusinger, 31.3.1954, BND-Archiv, N l/v.6.
532 Notiz von Herre zu einem Telefonat mit dem Leiter Beschaffung Kühlein, 16.4.1954,
BND-Archiv, N 2/v.3.

848
Angesichts des undurchsichtigen Spiels von Heusinger ließ sich Gehlen
durch Critchfield zusichern, dass die Amerikaner alles tun würden, um eine
Überstellung der Org an das künftige Verteidigungsministerium zu verhin­
dern, weil das ihrer grundsätzlichen Auffassung widerspreche.533 Diese ein­
deutige Haltung der Amerikaner, die ihre Bedenken gegen die Person Gehlen
im Interesse der Sache zurückstellten, trug dazu bei, dass die französische und
die britische Regierung ihre Vorbehalte gegen die Übernahme der Org als ein­
heitlichen deutschen Auslandsnachrichtendienst aufgaben.
In London baten die Chiefs of Staff den Premierminister darum, eine engere
Zusammenarbeit mit dem deutschen Nachrichtendienst zu genehmigen. Die
Veränderungen in der politischen Lage in Westdeutschland und der anhal­
tende wirtschaftliche Zwang, die britischen nachrichtendienstlichen Aktivitä­
ten dort zu reduzieren, machten es notwendig, den Zugang zu deutschen Quel­
len zu sichern, um Informationen über den Sowjetblock zu erhalten und die
Sicherheit der in Deutschland stationierten britischen Streitkräfte zu gewähr­
leisten. Um das Vertrauen der Deutschen zu gewinnen, sollte man voll und
ganz mit ihnen kooperieren. Die Schwächen lägen im deutschen System der
strikt voneinander getrennten Zuständigkeiten, das man geschaffen habe, um
keine neue Gestapo aufkommen zu lassen.534 Aus seinen persönlichen Gesprä­
chen mit dem französischen Geheimdienstchef konnte Gehlen Globke darüber
unterrichten, dass auch Paris bereit sei, die Überführung der Org in deutsche
Hände zu unterstützen.535
Und er drängte darauf, dass man sich vonseiten der Regierung stärker um
persönliche Kontakte zum amerikanischen Hochkommissar bemühen sollte.
»Nicht unbeliebt, aber auch nicht unumstritten bei den Amerikanern von
HICOG [High Commissioner for Germany] ist Minister Franz-Josef Strauss.«
Er verstehe es immerhin, eine persönliche Gesprächsatmosphäre herzustellen.
Wirkliche Kontakte zu den Amerikanern hätten eigentlich nur solche Perso­
nen, die in Opposition zu Adenauer stünden und Beziehungen zu John hätten,
besonders Axel von dem Bussche, ehemaliger Widerstandskämpfer der Stauf­
fenberg-Gruppe, derzeit Leiter der Pressestelle im Amt Blank, der Bundestags­
abgeordnete Hans Schütz (CSU) sowie Sefton Delmer. Alle unangenehmen
Dinge, zum Beispiel die gegenwärtigen publizistischen Angriffe gegen Theodor
Oberländer, kämen über diesen Kanal. Gehlen wies auch auf den angeblichen
Zusammenhang mit Horkheimers Institut für Sozialforschung in Frankfurt
hin. Prinz Louis Ferdinand von Preußen werde ohne Wissen in den Kreis ein­

533 Gespräch Gehlen – Critchfield, 21.4.1954, BND-Archiv, 4318.


534 Vorlage der Chiefs of Staff für den Premierminister, 23.4.1954, PRO Kew, PREM 11/677.
535 Gespräch Gehlen – Critchfield, 21.4.1954, BND-Archiv, 4318.

849
bezogen. Eine weitere noch gefährlichere Oppositionsgruppe bilde sich in der
CDU auf Bahnen des alten Zentrums (Heinrich Brüning, Karl Arnold, Joseph
Wirth). Durch sie könnte die Autorität von Adenauer Schaden erleiden.536
Gehlens Denunziationen gegenüber Globke zeigen, wie sehr ihn die Rolle
reizte, sich dem Kanzler als Ratgeber auch gegen dessen innere Gegner anzu­
dienen. Als er sich Ende Mai 1954 zu einem Gespräch mit Globke traf, erfuhr er,
dass es in der CDU/CSU Tendenzen gebe, Strauß, der als Minister keinen spezi­
ellen Aufgabenbereich hatte, mit nachrichtendienstlichen Fragen zu befassen.
Das sei dem Bundeskanzler aber unerwünscht wegen des engen Verhältnisses
zwischen Strauß und Schwerin. Globke nahm bei dieser Gelegenheit die Anre­
gung auf, das Verhältnis des Kanzlers zu dem neuen amerikanischen Hohen
Kommissar James Bryant Conant zu verbessern. Dazu bedürfe es vorbereiten­
der Schritte, für die Gehlen nähere Anweisungen erhalten werde.537
Der »Doktor« hatte wegen der immer wieder aufkommenden Bedenken -
auch auf amerikanischer Seite – über die Beschäftigung von ehemaligen SS-
und SD-Leuten in der Org eine Klarnamenliste mitgebracht. Er konnte sich
den Hinweis nicht verkneifen, dass von der 1952 vorgelegten Liste inzwischen
drei Mitarbeiter anderweitige Einstellungen in den Staatsdienst erhalten hät­
ten. Und er versprach, die Attraktivität der Org für das Kanzleramt dadurch
zu erhöhen, dass er die strategische Aufklärung und andere Elemente der
Auslandsaufklärung erheblich verstärken werde.538 Schließlich legte er noch
einmal ein grundsätzliches Papier über den Aufbau eines deutschen Nachrich­
tendienstes vor, in dem er seine bekannten Vorstellungen präzisierte, insbe­
sondere die Forderung nach einer fachlich einheitlichen Steuerung aller Infor­
mationsbereiche. Die Ministerien sollten auf eigene Kapazitäten verzichten,
auch das Verteidigungsministerium, ebenso der Verfassungsschutz auf den
Bereich der Gegenspionage.539
Diese überhöhte und ehrgeizige Selbstdarstellung stand freilich im Gegen­
satz zu den internen Spannungen, die sich unter dem Druck der Wollweber-
Kampagne verschärft hatten. Gehlen hielt sich zwar vom Alltagsgeschäft der
Org weitgehend fern, von Zeit zu Zeit kam er aber natürlich nicht umhin, sich
die Sorgen der leitenden Mitarbeiter anzuhören. So hatte sich auch sein Ver­
trauter Herre zu einem Vortrag vor dem Chef vorbereitet. Darin beklagte er,

536 Bericht Gehlens über die politischen Verhältnisse in Bonn »aufgrund der Meldung eines
fremden Nachrichtendienstes«, wie er behauptete, 26.4.1954, ebd.
537 Aktennotiz Gehlens über die Besprechung mit Globke, 31.5.1954, BND-Archiv, 1110,
Blatt 481.
538 Besprechungspunkte für Bonn vom 28.5.1954, ebd., Blatt 479.
539 Vortragsnotiz Gehlens betr. Aufbau eines deutschen Nachrichtendienstes, 31.5.1954,
ebd., Blatt 483-494.

850
dass die Männer unter größtem Einsatz draußen Material beschafften, das
intern nicht voll verwertet werde, weil die Arbeit nicht rationell verteilt werde.
In den Schwerpunkten gebe es zu wenig Personal. Die Bearbeiter der politi­
schen Auswertung seien oft überlastet, hilflos, krank und müssten gleichzeitig
Doppelarbeit und unnötige Überschneidungen hinnehmen. Herre warnte vor
den »Hausemigranten«, die Gehlen in seiner »Studiengruppe« förderte, deren
politische Lagebeurteilungen über die UdSSR aber in den Bonner Ministerien
angeblich kein Echo hervorriefen.540
Gleichzeitig hatte Herre als Leiter der Auswertung eine neue »Weltpoliti­
sche Lagebetrachtung« mit Stand vom Mai 1954 zu verfassen, gewissermaßen
eine Aktualisierung der Studie, die Gehlen im Vorjahr an Dulles gesandt hatte.
Herre reichte den zusammengestückelten Entwurf, mit dem er trotz eigener
Nachbearbeitung unzufrieden war, an seinen Chef zurück.541 Auch Gehlens
Schwager, Seydlitz-Kurzbach, kritisierte den Entwurf, speziell die sprachli­
chen Schnitzer und das Fehlen eines roten Fadens. Herre riet Gehlen davon ab,
die Studie an das State Department zu übergeben, auch wenn die Franzosen
angeblich begeisterte Zustimmung gezeigt hätten. Gehlen hatte also offen­
sichtlich bei seinem letzten Besuch in Paris höfliche Diplomatie angetroffen.
Die interne Kritik ließ ihn nicht kalt, und so beauftragte er Herre mit einer
weiteren Überarbeitung. Dieser blieb dabei, dass es sich um Stückwerk han­
dele und allen Regeln widerspreche, die er in zwölf Jahren seit 1942 von Geh­
len für die Anfertigung von Studien erhalten habe. Gerade die gut gegliederte,
generalstabsmäßige Darstellungsweise werde von den Amerikanern geschätzt.
Herre plädierte dafür, das Projekt aufzugeben. Das hat offenbar auch Gehlen
am Ende überzeugt.
Er sah wohl ein, dass er in der Fülle tagesaktueller politischer Aktivitä­
ten nicht mehr die Spannkraft besaß, eine größere Studie zu verfassen und
seine politischen Gedanken zu ordnen und überzeugend vorzutragen. In einer
grundsätzlichen Aussprache mit Herre nahm er zur Kenntnis, wie groß die
ungelösten Probleme und Fragen tatsächlich waren. Wie sollte es mit der Stu­
diengruppe weitergehen? Welche Lösung gab es für die Personalpolitik? Hoch­
wertige Referentenposten seien mit »kleinen Leuten« besetzt, meinte Herre.
Die Besten würden davonlaufen, ohne dass man es ihnen übel nehmen könne.
Die Abgrenzung zum Verfassungsschutz sei ungelöst – viel schlimmer sei es,
dass viele Dinge gar nicht erledigt würden, etwa eine systematische Bearbei­
tung des Themas Emigration aus dem Ostblock. Und überhaupt: Wie denke

540 Herre, zweite Fassung des Vortragstextes, 19.4.1954, BND-Archiv, N 2/v.3.


541 Herre, Entwurf »Weltpolitische Lagebetrachtung Mai 1954«, 20.5.1954, BND-Archiv,
N 2/v.3.

851
sich Gehlen die Rolle der Org in der psychologischen Kriegführung? Bei einer
weiteren Aussprache beklagte Herre, dass die Formulierung der politischen
Lagebeurteilung immer schwieriger werde, wenn man einerseits die Wahr­
heit sagen wolle und andererseits an die »Kunden« denken müsse. Seien also
schärfere oder weichere Deutungen und Prognosen gewünscht? Und welche
Bedeutung hatten die West-Wirtschaftsmeldungen aus Pullach in Bonn – bla­
miere man sich damit am Ende?542 Für solche Führungsentscheidungen und
Hinweise fehlten Gehlen immer häufiger Kraft und Zeit.
Noch schlimmer war der anhaltende Niedergang der militärischen Auf­
klärung, das frühere »Paradepferd« der Org.543 Critchfield meldete Anfang
Juli 1954 an seinen Vorgesetzten in Frankfürt, dass sich USAREUR derzeit bei
seinen Lageanalysen nur noch auf eigene Quellen verlasse und die Informa­
tionen aus Pullach nicht berücksichtige.544 Da musste Critchfield vermutlich
gute Miene zum bösen Spiel machen, als ihm Gehlen freudestrahlend ankün­
digte, dass künftig vermehrt Nachrichten von der Vertretung in Rom eintreffen
würden.545 Es handelte sich um seinen Halbbruder Johannes Gehlen, der sich
unter Protektion des »Doktor« offensichtlich kaum um seine dienstlichen Ver­
pflichtungen kümmerte.
Auch wenn sich Reinhard Gehlen angesichts seiner starken Belastung kaum
noch ein Privatleben leistete, so war ihm die Fürsorge für die Familie auch
jetzt stets wichtig. Als sein 17-jähriger Neffe Peter Gehlen ein Praktikum bei
MAN in Nürnberg antreten wollte, griff sein Onkel auf den örtlichen Residen­
ten zurück und bat ihn, die Beschaffung eines einfachen möblierten Zimmers
zu veranlassen. Er wollte seinen Neffen persönlich vorbeibringen, damit der
Verbindungsmann der Org ab und zu nach dem Rechten sehen könne. Dieser
kümmerte sich natürlich um die Chefsache und ließ herzliche Grüße an den
»Doktor« ausrichten, der hoffentlich wieder ganz gesund sei.546 Gehlen war
offensichtlich erkennbar angeschlagen.
Hiobsbotschaften, wie die Verhaftung seines Führungsexponenten in
Wien,547 wechselten sich mit Erfolgsmeldungen ab, wie die anfänglich erfolg­

542 Aussprache Herres mit Gehlen, 3.6.1954, ebd.


543 Siehe z. B. Bericht Sichtung Heer (124/H) an Leiter Beschaffung (124) betr. Entwicklung
der Heeresaufklärung SBZD, 16.9.1954, BND-Archiv, 4318.
544 Chief of Base Pullach to Chief of Mission, Frankfurt, Zipper Capability for Reporting on
SHAPE East Germany Targets, 9.7.1954; in: Ruffner (Hg.), 1940 – 56, Bd. 2, S. 777.
545 Gespräch Gehlen – Critchfield, 21.5.1954, BND-Archiv, 4318.
546 Hartwig an Wenzel, 3.8.1954, BND-Archiv, Digitalisate 120299_0027-26.
547 Die Österreicher waren erheblich verstimmt, als sich aus den beschlagnamten Unter­
lagen ergab, dass die Org versuchte, die Staatspolizei und das Außenministerium zu
unterwandern. Es zwang Gehlen dazu, jede Aufklärungstätigkeit gegen Österreich und
jegliche Kontakte mit Angehörigen österreichischer Behörden zum Zwecke der Auf­

852
reiche Anbahnung einer hochrangigen Quelle im Parteivorstand der DDR-
Blockpartei NDPD, die gleichzeitig vom sowjetischen Geheimdienst umwor­
ben werde und deshalb auch für die Gegenspionage verwendbar schien.548 Es
handelte sich um den Schriftsteller Günter Hofe (Fall »Lena«)549, ein Spiel, das
die Sowjets über ihren Mann bei Gehlen eingefädelt hatten. Damit begann eine
Geheimoperation, auf die Gehlen große Erwartungen richtete. Sie wurden von
seinem Mitarbeiter Heinz Felfe, der insgeheim von den Russen entsprechendes
Spielmaterial erhielt, so gut erfüllt, dass Gehlen Felfe zum Leiter der Gegen­
spionage machte. Daraus entwickelte sich Gehlens größte Niederlage als Spio­
nagechef.550
1954 behielt Gehlen bei allen politischen Querelen auch seine selbstgestellte
Aufgabe im Blick, sich mit allen Mitteln für die Wiederbewaffnung einzuset­
zen. Dafür bot er unter anderem Globke an, einen vorsichtigen Kontakt zu
Willi Gingold, dem Leiter der Hauptabteilung Jugend im Deutschen Gewerk­
schaftsbund, zu schaffen, um in der besonders kritischen Gewerkschafts­
jugend einen Mitstreiter zu haben.551 Von dem ursprünglichen Projekt eines
»Über-Ministeriums« blieb die Bildung eines überparteilichen »Kuratoriums
Unteilbares Deutschland« am 14. Juni 1954, das den Gedanken an die deutsche
Wiedervereinigung wachhalten sollte.
Vier Wochen später erfuhr er, dass sich bei einer Kabinettsbesprechung alle
Beteiligten über die Notwendigkeit einer baldigen Übernahme der Org durch
die Bundesregierung einig waren. Blank drängte sogar auf eine Beschleuni­
gung des Verfahrens und wollte seinen eigenen nachrichtendienstlichen Sek­
tor möglichst bald abgeben. Allerdings wollten der Kanzler und sein Finanzmi­
nister die Finanzierung durch die Amerikaner so lange wie möglich ausnutzen,
um das eigene Budget zu entlasten. Adenauer und Globke fuhren ohnehin erst
einmal in den Urlaub, dann kamen die Parlamentsferien, sodass eine Über­
nahme also erst im Oktober möglich sein würde, vorausgesetzt, Gehlen lieferte
bis dahin Begründungen für die hohen Personalkosten, eine Klärung seines
Verhältnisses zum BfV und Vergleichsmaterial über Gliederung und Aufgaben

klärung offiziell zu untersagen; siehe Chronik, Einträge vom 8.6. und 16.7.1954, BND-
Archiv, 4318. Der Nachbarstaat blieb freilich als Basis für die Aufklärung gegenüber den
sowjetischen Satellitenstaaten unentbehrlich.
548 Siehe Unterrichtung Globkes durch Gehlen, 9.4.1954, BND-Archiv, 1110, Blatt 473.
549 Siehe demnächst ausführlich die UHK-Studie von Heidenreich, Die Spionage des BND
in der DDR.
550 Siehe den Überblick von Bodo Hechelhammer: KGB-Spione aus Dresden. Der Verrats­
fall Heinz Felfe; in: Pahl/Pieken/Rogg (Hg.), Achtung Spione! Essays, S. 157-165.
551 Aktennotiz über die Besprechung Gehlens mit Globke und Gumbel, 22./23.4.1954,
BND-Archiv, 1110, Blatt 475.

853
anderer Nachrichtendienste552 – Gehlen geriet also mit seinem »Freikorps«
allmählich in den Sog der Bonner Bürokratie, was einen langen und schmerz­
haften Lernprozess bei ihm auslöste.

6. Irritationen und Endspurt (1954/55)

Auch der geplante Übernahmetermin Oktober 1954 platzte. Bis aus der Org der
Bundesnachrichtendienst wurde, verging ein weiteres Jahr. Es waren neben
außen- und innenpolitischen Hindernissen insbesondere auch gravierende
sicherheitspolitische Rückschläge, die zu den Verzögerungen beitrugen, auch
wenn sie im Ergebnis die bereits getroffene Grundsatzentscheidung Adenau­
ers und seines Kabinetts nicht mehr infrage stellten. Gehlen behauptete sich in
diesen schwierigen Auseinandersetzungen und konnte auf die Rückendeckung
sowohl der Amerikaner als auch des Kanzlers vertrauen.
Die harten Schläge, die ihm sein Gegenspieler Wollweber seit einem Jahr
versetzte, erreichten Ende Juli 1954 einen absoluten Höhepunkt. Der Fall Otto
John wuchs sich zur größten sicherheitspolitischen Katastrophe in der Früh­
geschichte der Bundesrepublik aus. Er beeinträchtigte die Arbeitsfähigkeit der
Org insbesondere in der DDR-Aufklärung, weil die eigenen Agenten erneut
zutiefst verunsichert wurden, aber für die politischen Ambitionen Gehlens
bedeutete der Skandal einen unerwarteten Gewinn. Er konnte darauf verwei­
sen, dass er von Anfang an vor dem ehemaligen Widerstandskämpfer Dr. Otto
John gewarnt hatte. Allerdings hatte er John als britischen Agenten angese­
hen und für völlig ungeeignet gehalten, als Präsident das Bundesamt für Ver­
fassungsschutz aufzubauen. Gleichzeitig hatte er den Verdacht gehegt, dass
John für die »Rote Kapelle« arbeitete, also ein sowjetischer Einflussagent sein
könnte.553
Am 20. Juli 1954 hatte sich John zu nächtlicher Stunde von einem Bekann­
ten in den Ostsektor Berlins fahren lassen. Aus Sorge um die bevorstehende
Wiederbewaffnung und weitere Spaltung Deutschlands unternahm er den
dilettantischen und naiven Versuch, ein persönliches Gespräch mit maßgebli­
chen sowjetischen Vertretern zu führen. Nach Verhören durch die sowjetische
Seite präsentierte ihn die DDR-Propaganda als angeblichen Überläufer und
sonnte sich in dem Erfolg, ausgerechnet den Chef des westdeutschen Inlands­
geheimdienstes auf ihrer Seite zu haben. John plauderte manche Geheimnisse

552 Notiz über das Telefonat mit Lossow, 14.7.1954, ebd., Blatt 496. In der Edition der Kabi­
nettsprotokolle der Bundesregierung (Bd. 7) findet sich dazu kein Hinweis.
553 Siehe hierzu Sälter, Phantome, S. 449-460.

854
Otto John (Mitte) zu Besuch in der Ost-Berliner Stalinallee, links der Architekt Hermann
Henselmann, rechts Erich Correns, Präsident des Nationalrates der Nationalen Front der
DDR, 5. August 1954

aus, nutzte jedoch ein Jahr später eine günstige Gelegenheit, in den Westen zu
fliehen und dort zu behaupten, er sei in den Osten entfuhrt worden.554
In den ersten Tagen dieser sensationellen Geschichte im Juli 1954 schien man
auch in Pullach die Entführungsthese für denkbar zu halten. Ein »hochrangiger
Informant« übergab den Amerikanern aber ein Dossier über John, das ihn sofort
zum Verräter stempelte.555 John sei am 20. Juli 1944 bei den Widerständlern in
der Bendlerstraße in Berlin gesehen worden, hieß es. Er sei vermutlich ein Mit­
glied der »Roten Kapelle« gewesen und 1950 von den Briten als Präsident des
BfV favorisiert worden, weil sie ihn nach mehrfacher Überprüfung für einen
»Musterdemokraten« gehalten hätten. Durch ihn hätten sie Informationen aus
der deutschen Innenpolitik erhalten. Er kenne alle westlichen Geheimdienste.
Sollte er ein Überläufer sein, wäre das eine verlorene Schlacht des Westens.

554 Zum Forschungsstand siehe Bernd Stöver: Der Fall Otto John. Neue Dokumente zu den
Aussagen des deutschen Geheimdienstchefs gegenüber MfS und KGB, Vierteljahrshefte
für Zeitgeschichte 47 (1999) 1, S. 103-136, sowie Goschler/Wala, »Keine neue Gestapo«,
S.47-52.
555 Nicht näher gekennzeichnetes Dossier vom 25.7.1954, NA Washington RG 319, Entry
134A, Reinhard Gehlen_vol. 3_20F3, S. 3-6.

855
Ein weiteres Dossier aus Pullach vertrat die These, dass John bereits im
Zweiten Weltkrieg für die Sowjets gearbeitet habe. Er sei mit dem Herrn von
und zu Putlitz befreundet gewesen, der in den 1930er-Jahren an der Deutschen
Botschaft in London gearbeitet hatte. 1934 sei dieser in einem Homosexuel­
len-Club aufgegriffen und vom britischen Geheimdienst angeworben worden.
Putlitz sei nach Kriegsende Oberregierungsrat in der Landesregierung von
Schleswig-Holstein gewesen und 1947 in den Osten verschwunden, hätte aber
noch 1954 Kontakt mit John in Köln gehabt. Der Informant behauptete, dass
sich jetzt der Gehlen-Dienst bereit mache, das BfV zu übernehmen.556
Völlig aus der Luft gegriffen war zumindest diese Behauptung nicht. Aber
wie standen die Aussichten, die alten Vorstellungen Gehlens einer engen Ver­
bindung von Inlands- und Auslandsnachrichtendienst doch noch umsetzen zu
können? Auch wenn sich der Kanzler mit einer solchen Lösung früher einmal
angefreundet hatte, die Ablehnung einer solchen Machtkonzentration war in
allen Parteien des Bundestags eindeutig, die Signale der Alliierten nicht weni­
ger ablehnend. Konnte der Fall John zumindest die Amerikaner dazu bringen,
einen größeren Einfluss der Org auf das BfV zu erlauben?
Nach dem spektakulären Auftritt Johns bei einer Pressekonferenz in Ost-
Berlin am 11. August 1954 traf CIA-Chef Dulles am 29. August in Frankfurt am
Main mit seinem Deutschlandresidenten General Truscott sowie mit Critch­
field und Reinhard Gehlen zusammen.557 Der Inhalt der Gespräche ist nicht
bekannt, doch wird man annehmen dürfen, dass der Fall John eine große Rolle
spielte. Einen Tag später scheiterte der seit Jahren vorbereitete EVG-Vertrag
in der französischen Nationalversammlung. Die Zukunft der Organisation
Gehlen stand damit nicht grundsätzlich infrage, ebenso wenig der bereits
beschlossene Wehrbeitrag der Bundesrepublik. Die Ratifizierung durch Paris
hätte aber das Signal für Bonn sein sollen, die Legalisierung der Org umge­
hend in Kraft zu setzen. Nun musste rasch eine neue Lösung gefunden werden.
Zwei Monate nach dem Scheitern der EVG wurde der Brüsseler Pakt von 1948
zur gegenseitigen militärischen Hilfeleistung durch die Aufnahme Italiens und
der Bundesrepublik zur Westeuropäischen Union (WEU) erweitert. Die Pariser
Verträge vom 23. Oktober 1954 regelten den deutschen Beitritt zur WEU und
zur NATO sowie im Deutschlandvertrag die Übergabe der außenpolitischen
Souveränität der Bundesrepublik. Deutschland und Frankreich verständig­

556 Dossier vom 29.7.1954, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard Gehlen_vol3_20F3,
S.7-10.
557 Weder bei Ruffner in den veröffentlichten US-Materialien noch in der CIA-Akte des BND
findet sich ein Bericht über den Inhalt der Gespräche, hier lediglich ein Hinweis auf das
Treffen, BND-Archiv, 1173, Blatt 136.

856
CIA-Chef Allen Dulles
in West-Berlin, 1954

ten sich außerdem auf ein Statut für die Saar. Die Alliierte Hohe Kommission
wurde aufgelöst, die ehemaligen Besatzungsmächte behielten aber Vorrechte
für die Sicherheit ihrer in Westdeutschland stationierten Truppen.558
Frühere Vorbehalte auf alliierter Seite gegenüber Gehlen als künftigen
bundesdeutschen Spionagechef waren weitgehend ausgeräumt. Als Mann
der Amerikaner wurde er inzwischen auch von den Briten akzeptiert. Das
Wohlwollen der französischen Führung war ihm ebenfalls gewiss, auch wenn
das interne Urteil in Paris nicht sonderlich schmeichelhaft, aber zumindest
politisch beruhigend war. In einer Ausarbeitung des Sicherheitsdienstes des
Hochkommissariats der Französischen Republik über die Organisation Gehlen
hieß es:

Gehlen, sehr ehrgeiziger und eifriger Offizier, verfügt über eine betonte mili­
tärische Begabung, sowohl als Organisator als auch als Techniker. Er interes­
siert sich wenig für Politik Die Offiziere des 20. Juli 1944 haben ihn als völ­
lig ungeeignet für eine Beteiligung am Komplott gegen Hitler erachtet, weil
Gehlen niemals seine Stellung und Laufbahn aufs Spiel setze und sich nicht
in eine militärische Machenschaft hineinziehen lasse – es fehle ihm hierfür

558 Zu den Pariser Verträgen siehe Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 3,


S. 32-64, Bd.4, S. 301-330.

857
jegliche Phantasie. Er wird stets danach streben, peinlich loyal seine militä­
rischen Vorgesetzten voll zufriedenzustellen, solange er sich damit nicht der
Gefahr aussetzt, seinen Ehrgeiz oder seiner Karriere zu schaden.559

Immerhin hielt man ihn für »äusserst verschwiegen« und »absolut seriös«.
In diesem politischen Prozess musste Gehlen darauf achten, dass sein Kon­
zept einer Installierung der Org als Bundesnachrichtendienst nicht noch in
letzter Minute gefährdet wurde. Das betraf insbesondere das Prinzip des ein­
heitlichen Nachrichtendienstes, die Übernahme des früheren Heinz-Dienstes
und die Anbindung an das Kanzleramt. Nach den bisherigen Erfahrungen war
freilich damit zu rechnen, dass Adenauer aus innen- und finanzpolitischen
Gründen keine Eile zeigen würde, das Verfahren zu beschleunigen. Zwischen­
zeitlich kam es darauf an, mit der CIA einen Modus Vivendi zu finden, der
eine schrittweise Abkoppelung von den Amerikanern zuließ, ohne deren finan­
zielle Stützung zu riskieren. Schließlich stand die Einbindung der Org in die
NATO-Strukturen auf dem Programm. Noch völlig ungelöst war die künftige
Aufstellung des BND als globaler Akteur im Auftrag der Bundesregierung. Das
vorhandene Personal reichte nach Zahl und Qualifikation dafür bei Weitem
nicht aus, und mit der bevorstehenden Gründung der Bundeswehr musste
mit dem Abgang einer erheblichen Zahl von Mitarbeitern gerechnet werden,
die es vorziehen würden, wieder die Uniform anzuziehen. In diesen aufregen­
den Herbsttagen des Jahres 1954 spekulierte die Washington Post darüber, dass
Gehlen zwar bestens geeignet wäre, in einem künftigen deutschen Oberkom­
mando Chef der Militäraufklärung zu werden. Wer aber neun Jahre im Sold
einer fremden Macht gestanden habe, dürfe sich wohl keine große Hoffnung
auf eine Spitzenstellung in deutscher Uniform machen.560
Reinhard Gehlen dachte schon längst nicht mehr in solchen Kategorien.
Eine Reise nach Oslo zur Vertiefung der nachrichtendienstlichen Verbindung
mit Norwegen lenkte ihn sicherlich von den heimatlichen Aufregungen etwas
ab. Ihm blieb verborgen, dass die Stasi in diesen Tagen einen Operativplan zu
seiner Entführung entwarf. Der Agent Major Otto Freitag (DN »Hausmann«),
ehemaliger Rittmeister der Wehrmacht, beobachtete ihn über Monate an
seinem Wohnort Berg und lieferte Unterlagen für eine groß angelegte Ent­
führungsaktion.561 Er stellte fest, dass Gehlen sehr isoliert lebte und unter

559 Studie der Sûreté vom 21.1.1955, Auszug nach Übersetzung von Harald Mors (August
1985), BND-Archiv, N 19/3.
560 Daniel de Luce, No. 1 U. S. Anti-Red Spy Is Former Nazi Defeatist, Washington Post vom
19.9.1954.
561 Siehe ausführlich Hermann Bubke: Der Einsatz des Stasi- und KGB-Agenten Otto Frei­
tag im München der Nachkriegszeit, Hamburg 2004, S. 85-112. Die Stasi hatte mit Frei­

858
MfS-Foto Waldstraße in Berg, das Grundstück gegenüber Gehlens Wohnhaus, 1955

der Woche oft in Pullach blieb, was eine mögliche Entführung nicht gerade
erleichterte. Die Aktion »Jäger« (Gehlen) wurde Ende 1955 abgebrochen. Die
veränderte politische Großwetterlage nach dem Adenauer-Besuch in Moskau
ließ offenbar eine derartig spektakuläre Aktion nicht mehr zu. Das eigens für
die Unterbringung des Entführungstrupps angekaufte Haus Etztalstraße Nr. 87
in Oberberg ließ Freitag 1961, kurz bevor er von München wieder in die DDR
»übersiedelte«, an seine Tochter übertragen.562 Nach dem Abbruch der Aktion
»Jäger« richtete sich das Interesse der enttäuschten Stasi kurzzeitig auf Geh­
lens Schwager Walter Carlos von Gehlen, der damals als Wirtschaftsberater

tag, Jg. 1908, nicht viel Glück. 1975 nahm er heimlich Schriftverkehr mit westdeutschen
Behörden auf, um seine etwaigen Pensionsansprüche aus der Zeit vor 1945 zu klären,
und sandte dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz anonym Informatio­
nen. Über seine Tochter Gisela R., die jetzt in der Nachbarschaft Gehlens wohnte (Berg,
Etztalstraße 1), versuchte er sogar, Kontakt zu Gehlen aufzunehmen, von dem er jedoch
keine Antwort erhielt. Diesen Teil seiner Aussagen widerrief Freitag jedoch; Verneh­
mungsprotokoll, 6.7.1978, BStU, MfS, AIM, Nr. 16161-784, S. 11-67. Vater und Tochter
wurden wegen angeblicher Spionage für den BND am 22.12.1978 in der DDR verurteilt,
bereits zwei Jahre später aber nach einem Gnadengesuch zur Bewährung entlassen;
Bubke, Einsatz, S. 145-146.
562 Ebd., S. 129-130.

859
Titelgeschichte des Spiegel Nr. 39/1954:
»Des Kanzlers lieber General«

an der Botschaft in Lissabon arbeitete. Seine Absicht, zu einem bestimm­


ten Termin von West-Berlin nach Hannover allein mit dem Auto zu fahren,
wurde als mögliche Gelegenheit erkannt, mit ihm in Kontakt zu treten, denn
es sollte sich nach Informationen der Stasi »um einen von Natur aus feigen
und auf Geld versessenen Menschen handeln«.563 Erich Mielke gab Anweisung,
den Mann unauffällig zu überprüfen. Das Ergebnis ist nicht bekannt, aber es
könnte sich bei ihm um jenen Informanten gehandelt haben, von dem spätere
IM-Berichte aus der unmittelbaren Umgebung Reinhard Gehlens vorliegen.564
Als IM ist Carlos von Gehlen nach Auskunft der Stasi-Unterlagenbehörde aller­
dings selbst nicht geführt worden.
Dass die Stasi den General selbst unbehelligt ließ, mag vielleicht auch mit
dem Eindruck der persönlichen Sicherheitsmaßnahmen Gehlens Zusammen­
hängen, über die sogar der Spiegel zeitgenössisch berichtete.565 Mit der Titelge­
schichte von Hans Detlev Becker landete Gehlen durch Vermittlung von Weiß
und Worgitzky einen publizistischen Volltreffer. Unter dem Titel »Des Kanzlers
lieber General« war ein ungewöhnlich ausführliches und wohlwollendes Por­
trät Gehlens erschienen, das mit spitzer Feder, aber gleichsam im kamerad­

563 Schreiben des 1. Stellvertreter des Staatssekretärs betr. Schwager Gehlens, 8.10.1955,
BStU, MfS, AIM, Nr. 16161-7825, S. 202.
564 Siehe S. 1072-1073 und S. 1150-1151 in diesem Teilband.
565 Des Kanzlers lieber General, Spiegel 39/1954 vom 22.9., S. 12-35.

860
schaftlichen Geiste von Wehrmachtveteranen den militärischen Werdegang
des Generals und seine Verdienste beim Aufbau eines deutschen Nachrichten­
dienstes darstellte. Gehlen hatte nicht nur seine Fotos und zahlreiche Details
seiner militärischen Laufbahn beigesteuert, sondern auch seine Version von
der angeblich unfehlbaren Feindlagebeurteilung während des Krieges und die
Legende vom Gentlemen’s Agreement mit US-General Sibert. Zudem hatte er
die Selbstdarstellung der Org als angeblich rein deutscher Nachrichtendienst
unterbringen können. Becker war nach Pullach eingeladen worden, wo man
ihm Karten und Unterlagen zeigte, die beweisen sollten, dass FHO während
des Krieges unschlagbar gewesen sei. Er wurde sogar von Gehlen empfangen,
der sich bei einem Essen im »Doktorhaus« ziemlich lustlos zeigte, dem Journa­
listen, ehemaliger Unteroffizier der Wehrmacht, aber immerhin »eine antiqua­
rische Ausgabe der Memoiren des einstigen Generalstabschefs Helmuth von
Moltke« schenkte.566 Gehlen bezeichnete Becker später nach seiner Pensio­
nierung als persönlichen Freund.567
Ausführlich wurden in dem von Becker redigierten Artikel dann Struktur
und Methoden der Org dargelegt sowie die jüngsten Vorfälle im innerdeut­
schen Agentenkrieg ganz im Sinne von Pullach interpretiert. Abschließend
widersprach der Spiegel den aktuellen Gerüchten, Gehlen würde die Über­
nahme des BfV und den Staatssekretärsposten im Kanzleramt anstreben. Das
würde nicht seiner Denkweise der parteipolitischen Neutralität des gelern­
ten Reichswehr- und Generalstabsoffiziers entsprechen. Dann machte sich
das Hamburger Magazin lustig über den »Taifun im Wasserglas«, den auch
westliche Zeitungen entfesselt hätten, um Gehlen als »neuen Chef der alten
Gestapo-Boys« hinzustellen. Der Gegensatz zwischen den ehemaligen Gene­
ralstäblern und den Exnazis sei unüberbrückbar, auch wenn man sich hier und
da einiger ehemaliger SD- und Gestapoleute bediene. »Eines aber wird Konrad
Adenauer auf sein Wort nehmen können, wenn er der Organisation Gehlen die
politische Reife bescheinigt: In Gehlens Stab gibt es nicht einen ehemaligen
SD- oder Gestapo-Mann.« Diese irrige Annahme dürfte später mancher in der
Spiegel-Redaktion bereut haben.
Das berüchtigte »Sturmgeschütz der Demokratie« (Chefredakteur Rudolf
Augstein) gab Reinhard Gehlen Feuerschutz, indem es ihm einwandfreie
Gesinnung und Befähigung bescheinigte. Mit einer eingebauten Homestory
und aufmerksamen Beschreibungen seiner Erscheinung verschaffte man
Gehlen sogar einen ausgesprochenen Sympathiebonus in der Öffentlichkeit.
Förderlich ist dafür auch die Auswahl des Titelbildes gewesen, für das man

566 Unrühmliche Rolle, Spiegel 38/2012 vom 17.9., S. 84.


567 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 16.1.1972, IfZ, ED 100-68-37.

861
Spiegel-Chefredakteur
Rudolf Augstein, 1954

vorsichtshalber ein zehn Jahre altes Foto für eine Montage nutzte, die seine
Uniform von 1944 wegließ.
Mit einer Episode vom Oktober 1953, als die Familie Gehlen das Gastspiel
eines Bühnenmagiers in München besuchte, wurde der politisch interessierte
Leser auf das Lebensbild des Protagonisten eingestimmt. Der 17-jährige Sohn
Christoph habe als pfiffiger Primaner mit einem lauten Zwischenruf einen
Lacherfolg erzielt, auch bei seinen Eltern und seinen drei Schwestern.

Der Familienvater, ein eher zierlicher als drahtiger Herr mittlerer Größe,
hatte zeitweilig dem Elternbeirat des Starnberger Realgymnasiums angehört.
Auf die Bitte des Oberstudiendirektors Dr. Jobst, jedes Beiratsmitglied möge
doch einige Worte über sich selbst verlieren, hatte sich der Vater des Prima­
ners Christoph Gehlen als Kaufmann bezeichnet und mitgeteilt, er habe mit
Patenten zu tun und arbeite auch im Interesse der Bundesregierung.

Die Tarnung als Patentkaufmann nutzte Gehlen vorzugsweise für seine Aus­
landsreisen, der Verweis auf die Bundesregierung wäre im Schulbeirat sicher
überflüssig gewesen, aber ganz konnte er offenbar nicht darauf verzichten,
sich bei aller Bescheidenheit doch auch im Privatleben mit einer bedeutenden
Aura zu umgeben.
Die halbwüchsigen Kinder, die jüngste Tochter war inzwischen neun Jahre
alt, die älteste 19, waren, dem beruflichen Milieu ihres Vaters verpflichtet,
daran gewöhnt, falsche Auskünfte über ihn zu geben. Katharina kannte der
Oberstudiendirektor einer Höheren Handelsschule in München. Als er sich
an der Schule in seinen historischen Ausführungen kritisch über preußische
Offiziere äußerte, hatte sie als Schülerin selbstbewusst protestiert. Auf seine

862
Frage, ob sie mit dem geheimnisvollen General Gehlen verwandt sei, verleug­
nete sie ihren Vater und bezeichnete ihn als entfernten Verwandten. Doch die
Lüge fiel ihr offenbar schwer, denn nachdem sie an der Familientafel mit ihm
gesprochen hatte, bekannte sich Katharina nach der nächsten Stunde beim
Schulleiter dazu, die Tochter des Generals zu sein.568 Die Kinder erlebten ihn in
dieser aufregenden Zeit als vielbeschäftigten Vater, dem sie oft nur beim Früh­
stück begegneten, wo er anhand der Zeitungslektüre die Weltläufte erklärte.
Bestimmend konnte er nach ihrer Erinnerung auftreten, wenn seine Töchter
zum Beispiel mit ihm über ihren Ausgang zu diskutieren versuchten. Mit gro­
ßem Verständnis nahm er sich der Bitte an, sich einer Nachbarstochter und
Mitschülerin von Katharina anzunehmen, die nach der Handelsschule eine
Arbeitsstelle suchte. Auf Kosten der Org durfte sie ihre Schreibmaschinen­
kenntnisse verbessern und wurde anschließend in Pullach beschäftigt.
Der Spiegel hob Gehlens Faszination für alles Technische hervor. Er sei ein
»einfallsreicher Spezialist und Tüftler« gewesen. Durch seine halsbrecherische
Raserei im Dienstmercedes reagierte er offenbar seine unbefriedigte reiterli­
che Passion ab, wie die Hamburger Journalisten recherchiert hatten. Das Rei­
ten von Springpferden hätte er auf Bitten der Mitarbeiter und der Amerikaner
eingestellt, »die ihren 52jährigen Chef und Star nicht mit gebrochenem Rück­
grat im Rollstuhl sehen möchten. Und auf einem frommen Pferde spazieren zu
traben, verbietet ihm der reiterliche Stolz.«569
Fast wöchentlich sei er mit seinem Mercedes nach Bonn unterwegs, das
Kennzeichen ausgetauscht und mit wechselnden Personalpapieren. »In der
Hosentasche trägt er eine sechsschüssige Pistole, sein Sicherheitsschutz
besteht gewöhnlich aus zwei Scharfschützen.« Adenauer, Globke und Ollen­
hauer würden ihn kennen als mittelgroßen, schmalen Mann, der in der franzö­
sischen Zeitung Le Monde so beschrieben worden sei: »Schmale Lippen, sehr
tiefliegende Augen unter einer hohen, kahlen Stirn, sehr abstehende Ohren, so
ist Reinhard Gehlen [...]« Und der Spiegel weiter:

Die sprungbereite, erdrückende Energie, die aus seinem Gesicht spricht,


wird nach dem übereinstimmenden Eindruck aller, die ihn kennen, gemil­
dert durch den rustikalen Charme der frischen Rötung seiner Wangen und
einen etwas altväterlichen, sehr kurz gestutzten Schnurrbart, der das wesent­
lichste Unterscheidungsmerkmal zwischen der heutigen Physiognomie des
Generals und den schätzungsweise zehn Jahre alten Bildern darstellt, die
als einzige von ihm existieren. Die Heftigkeit des physiognomischen Ein­

568 Des Kanzlers lieber General, S. 12.


569 Ebd., S. 24.

863
drucks mildert sich, sobald Gehlen in seiner lebhaften, kontaktsicheren und
stark mimischen Art spricht, zumal die idiomatische Gemütlichkeit seines
Geburtsortes Erfurt mit >hartem und weichem B< noch leicht durchklingt.
Das Haar, an den Seiten 1/10 Millimeter, ist über der Schädeldecke licht,
aber noch blond, die Attitüde bescheiden, die Aufmachung eher schlicht als
elegant und nicht ohne kleine Stilbrüche: Krawattenspange aus Chrom und
hellbraune Slippers mit Gummisohlen.570

Die ausführliche Beschreibung seiner Erscheinung rechtfertigte sich damals


vielleicht durch den Umstand, dass es angeblich kein nach 1945 angefertigtes
Foto von ihm gab. Aber sie leistete natürlich einen Beitrag dazu, den künfti­
gen deutschen Spionagechef mit der Aura des Geheimnisvollen zu umgeben,
ohne ihn der Erfahrung der Zeitgenossen gänzlich zu entziehen. Zu der Story
gehörte selbstverständlich auch ein Hund. Nachbarn hätten Gehlen angeblich
noch nie zu Gesicht bekommen. »Der Gehlensche Hund ist das gefürchtetste
Lebewesen im weiten Umkreis.« Ansonsten verfüge die Familie über die in
dieser Gegend üblichen Utensilien: das zweigeschossige Landhaus aus Holz,
ein »altes Hausmädchen«, einen Gärtner-Chauffeur, einen blauen VW zur aus­
schließlichen Nutzung durch die Familie und ein BMW-Motorrad, mit dem der
einzige Sohn die Spaziergänger verscheuche. Bis zur Flucht von Otto John habe
das Nachbargrundstück der »Filmschönheit« Ruth Leuwerik größeres Inter­
esse gefunden.571
Im Kanzleramt fand die Spiegel-Titelgeschichte nur verhaltene Resonanz.
Gehlen rechtfertigte die enge Kooperation mit dem Magazin damit, dass die
Gefahr bestanden hätte, dass Globke in sehr unangenehmer Weise erwähnt
worden wäre, wenn man nicht versucht hätte, sich einzuschalten.572 Wovon
Globke nicht wissen konnte, war Gehlens Versuch, ihn gleichzeitig bei den
Amerikanern anzuschwärzen. Critchfield erhielt von ihm Hinweise, dass
Hans Globke ein sowjetischer Spion sein könne, der für das Netz der »Roten
Kapelle« arbeite. Gehlen meinte, er könne keine Garantie dafür geben, dass
Globke nicht versuchen werde, ein neutrales Deutschland durchzusetzen.573
Den Hintergrund bildete nicht nur Gehlens Manie, die »Rote Kapelle« aufzu­
spüren, sondern auch eine zeitweilige Abkühlung seines Verhältnisses zu dem
für seine Zwecke wichtigen Mann im Kanzleramt, der wegen seiner NS-Vergan­
genheit von der Presse angegriffen wurde, während Gehlen sich in der Gunst
des Spiegel sonnen durfte.

570 Ebd.
571 Ebd.
572 Aktennotiz über die Besprechung mit Gumbel, 29.9.1954, BND-Archiv, 1110, Blatt 499.
573 Siehe dazu ausführlich Sälter, Phantome, S. 12.

864
Fritz Erler, der führende Verteidigungsexperte der SPD-Fraktion im Bundes­
tag, äußerte Zweifel, »ob der General Gehlen seine Funktion später ausüben
könne, nachdem er so bekannt geworden sei«.574 Solche Zweifel hatte Reinhard
Gehlen sicherlich nicht. Wichtiger als die Opposition im Bundestag war für
seine Pläne die Haltung der Amerikaner. Deshalb dürfte es ihn eher beunru­
higt haben, als Critchfield davon berichtete, dass die US Army in Heidelberg in
letzter Zeit mit dem Gedanken eines rein militärischen deutschen Nachrich­
tendienstes liebäugele. Das werde offensichtlich durch Kielmansegg und Oster
gefördert.575 Durch ein persönliches Gespräch mit General Butler (G-2 EUCOM)
unter Vermittlung von Critchfield konnte Gehlen dieses Hintergrundraunen
vorerst beenden.576
Colonel Truman Smith, Ende der 1930er-Jahre US-Militärattaché in Berlin,
jetzt Berater des Weißen Hauses, stand in einem Briefwechsel mit Generalleut­
nant a. D. Hans Speidel, dem deutschen Chefdelegierten bei den Pariser Ver­
handlungen. Speidel sei, so Truman Smith, nach Adenauer in Washington der
Deutsche mit dem zweitgrößten Ansehen. Alle wünschten das frühere Feind­
verhältnis in dauerhafte Beziehungen zwischen Verbündeten umzuwandeln.
Man sei allerdings beunruhigt über das Chaos bei den zahllosen deutschen
Nachrichtendiensten. Der Fall John zeige die Gefahren. Vielleicht sei auch die
Organisation Gehlen infiltriert. Adenauer werde auf Dauer die Vielzahl der
Organisationen nicht bestehen lassen können. Künftige deutsche NATO-Streit­
kräfte benötigten einen militärischen Nachrichtendienst, wie ihn alle anderen
zur Verfügung haben. Dieser gehöre in das Verteidigungsministerium, sonst
habe er keinen großen Wert. Der G-2-Offizier sollte ein »ehrenwerter und edel­
gesinnter Soldat der alten Schule« sein, der von der Sache des freien Westens
innerlich überzeugt ist. Einen solchen in Bonn zu finden, werde vielleicht nicht
einfach sein. Es müsse ein Soldat mit diplomatischen Fähigkeiten sein, kein
bloßer Nachrichtendienst-Fachmann.577
Speidel antwortete (wider besseres Wissen?), dass die Org seit Jahren
»lückenlose« Aufklärungsergebnisse über die SBZ liefere, ausreichende Unter­
lagen über die Satellitenstaaten und die UdSSR. Das seien für die künftige
militärische Führung gute Grundlagen. Er kenne Gehlen schon seit der Vor­
kriegszeit »als besonders befähigten, charakterlich noblen Generalstabsoffi­
zier bester Prägung«. Er sei kein einseitiger Nachrichtenfachmann, sondern
stamme aus der »Führungsbranche«, ebenso wie seine engeren militärischen

574 Schreiben Speidels an Gehlen, 29.9.1954, BND-Archiv, 1110, Blatt 500. Speidel berichtete
hier von einem Gespräch zwischen Blank und Erler am Rande der britischen Manöver.
575 Besprechung Gehlen – Critchfield, 4.10.1954, BND-Archiv, 4318.
576 Gespräch Gehlen – Butler – Critchfield, 15.12.1954, ebd.
577 Schreiben Truman Smith an Speidel, 14.11.1954, BND-Archiv, 4318, Blatt 139–143.

865
Mitarbeiter mit einer »all round«-Ausbildung. Dass die Org in den USA und
in Deutschland Gegner habe, sei nicht verwunderlich, sei es aus Missgunst,
Ehrgeiz oder durch östliche Verleumdungen.578
Neben den Amerikanern musste sich Gehlen auch auf den Kanzler verlas­
sen können. Deshalb war eine gut bedachte Reaktion erforderlich, als Ade­
nauer, der sich auf den Abschluss der Sicherheitsverträge in Paris vorberei­
tete, bei Gehlen rückfragen ließ, ob er sich auf dessen Berichte über die Politik
Frankreichs verlassen könne. In jüngster Zeit hatte Gehlen unter Verweis auf
glaubwürdige Quellen auf eine angebliche Tendenz in Paris zur Zweigleisigkeit
gegenüber den USA und der UdSSR hingewiesen.579 Jetzt musste er sich »bis
heute mittag« erklären. Es ging um das Renommee von Pullach. Manche Miss­
geschicke musste Gehlen ausräumen, um auch den guten Willen auf amerika­
nischer Seite zu pflegen. In der von General Hermann Foertsch betreuten »Ori­
entierung« Nummer 72 für die Mitarbeiter der Org waren im Zusammenhang
mit dem Streit im Amt Blank über die »Innere Führung« künftiger deutscher
Streitkräfte580 abfällige Bemerkungen über die Gis im Zweiten Weltkrieg gefal­
len. Critchfield nahm das zum Anlass einer geharnischten Beschwerde, nicht
ohne persönliche Anspielungen. Als Berufssoldat habe er in der US-Infanterie
und gelegentlich auch mit der französischen Fremdenlegion gekämpft. Daher
verbat er sich Bemerkungen über angebliche Liberalität und Verweichlichung
in der US Army. Das sei eine politische Instinktlosigkeit, die nichts in der Org
zu suchen habe. Die Frage der Inneren Führung stehe allein im Amt Blank
sowie in der Presse zur Diskussion.581
In seiner Antwort hob Gehlen darauf ab, dass die »Orientierung« lediglich
einen Artikel des Rheinischen Merkurs wiedergegeben habe. Es könne über­
haupt nicht die Rede davon sein, dass die Org die Reputation des amerikani­
schen Soldaten unterminieren könnte. Beim letzten gemeinsamen Gespräch
habe er deutlich gemacht, dass man sich nicht in die Angelegenheiten des
künftigen Verteidigungsministeriums einmischen wolle. Es sei aber für ehe­
malige Berufssoldaten natürlich, dass sie emotional von der Diskussion um die
Innere Führung berührt seien. Als persönliche Meinung gab Gehlen kund: »We
should have a good democratic army under an effective parliamentary control,

578 Schreiben Speidels an Truman Smith, 14.12.1954, ebd., Blatt 153-154.


579 Aktennotiz über die Besprechung Gehlens mit Globke und Gumbel, 8.10.1954, BND-
Archiv, 1110.
580 Siehe hierzu Meyer, Heusinger, S. 515 – 518. Die »Innere Führung« wurde das Konzept für
die Wertegrundlage für verantwortliches Handeln in der Bundeswehr sowie Rechte und
Pflichten des Soldaten als »Bürger in Uniform«. Um dieses Konzept wurde für viele Jahre
zwischen »Reformern« und »Traditionalisten« innerhalb der Bundeswehr gerungen.
581 Memorandum Critchfields für Gehlen, 23.12.1954, BND-Archiv, 1173, Blatt 137.

866
but an army which is trained to fight hard.« Man werde nur noch zwei Jahre
Zeit haben, dann werde sich zeigen, ob Europa auf längere Sicht an den Kom­
munismus verloren gehen werde oder nicht. »Therefore, everything should be
done not to waste this time. Under no circumstances the development of the
world Situation since the last three years gives any reason for an over-optimis­
tic prospect.«582
Nach der grundlegenden Entscheidung über einen deutschen NATO-Bei­
tritt drängte die amerikanische Seite darauf, die Org möglichst bald in die
Bundesverwaltung einzugliedern, auch wenn die Ratifizierung der Verträge
noch etwas Zeit brauchen würde. Die zu erwartenden Mehrbelastungen für
den Bundeshaushalt waren erheblich, sodass das Finanzministerium umfas­
sende Vorprüfungen für notwendig hielt. Über die Höhe der Mittel könne erst
entschieden werden, wenn über die Form der Eingliederung, die Abgrenzung
der Aufgaben, die künftige Organisation sowie den Personal- und Geldbedarf
hinreichende Klarheit bestehe. Eine baldige Überprüfung der Org sei unerläss­
lich. Außerdem müsse das Kabinett die parlamentarische Zustimmung klären.
Eine Ressortbesprechung am 10. Dezember 1954 sollte die Weichen stellen,
dazu hatten die Verwaltungsbeamten der Org fleißige Vorarbeiten zu leisten.583
Vor dieser Seite seines politischen Kampfes schreckte Gehlen sicherlich
zurück und überließ die Ausführung seiner eigenen Verwaltung. Am Tag der
Ressortbesprechung im Finanzministerium empfing er den Chef des norwegi­
schen Nachrichtendienstes in Pullach. Einige Tage zuvor hatte er sich bei einer
Reise zum schwedischen Dienst in Stockholm von solchen Alltagsgeschäften
erholen können.584
Nach der Rückkehr befasste sich Gehlen mit einem ausgesprochen ernsten
Aspekt der internationalen Lage. Nach der Unterzeichnung der Pariser Ver­
träge hatte Moskau angekündigt, dass der Ostblock im Falle einer Wiederbe­
waffnung Westdeutschlands und seiner militärischen Integration in WEU und
NATO reagieren werde. In der Bundesrepublik stieg die Sorge, dass damit alle
Chancen für eine Wiedervereinigung verbaut würden. Kriegsangst beförderte
eine breite Protest- und Streikbewegung.585 Gehlen diskutierte mit Herre. Die
politische Initiative liege derzeit stärker beim Westen. Moskau könnte sich

582 Schreiben Gehlens an Critchfield, 12.1.1955, ebd., Blatt 142.


583 BMF, IIA-134/54, Fernschreiben für Gehlen, 10.11.1954, gez. Victor von Schmiedeberg,
BND-Archiv, 1110, T. 2, Blatt 1-2. Zu diesem Prozess siehe demnächst ausführlich die
UHK-Studie von Thomas Wolf, BND, Regierung und Parlament.
584 Chronik, Einträge 1.-3.12.1954,10.12.1954, BND-Archiv, 4318.
585 Siehe umfassend Hans-Erich Volkmann: Die innenpolitische Dimension Adenauer­
scher Sicherheitspolitik in der EVG-Phase; in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspoli­
tik, Bd. 2, S. 235-604.

867
kaum Hoffnungen machen, die Ratifizierung der Verträge aufzuhalten. Wür­
den die Sowjets auf Entspannung schalten? Gehlen ordnete die Durchfüh­
rung eines Planspiels mit zwei Phasen an: zu den Ratifizierungsrunden sowie
anschließend Verhandlungen mit Themen, die der Sowjetführung nicht gele­
gen sein könnten. Herre notierte: »Hauptsache, dass Bundeskanzler zufrieden.
Was fangen wir aber ohne jede Resonanz an?«586
Handfester als solche politischen Spekulationen war ein zweitägiges Plan­
spiel Ende Januar 1955. Dessen Zweck war das »Aufzeigen der Möglichkeiten
einer geplanten sowjetischen Offensive in Mitteleuropa unter Herausstellen
der Warnzeichen für die westliche Aufklärung«.587 Anfang des Monats war die
Bundeswehr gegründet worden. Aber noch stand die geplante Armee auf dem
Papier. Die Anlage des Spieles war auf das Jahr 1958 abgestellt, in der Annahme,
dass keine sofortige Reaktion der UdSSR auf die deutsche Wiederbewaffnung,
wohl aber nach der Aufstellung erster deutscher Verbände erfolgen könnte.
Es zeigte sich, dass ein sowjetischer Überfall ohne Vorwarnzeit nicht möglich
sein würde, weil die Sowjetführung die westlichen Luftstreitkräfte in einem
ersten Schlag entscheidend treffen müsste – was ein Heranführen größerer
eigener Luftstreitkräfte erfordern würde. Das galt auch für eine notwendige
Verstärkung der Vorfeldkräfte der Sowjetarmee in der SBZ, um wesentliche
NATO-Kräfte östlich des Rheins vernichten zu können. Ein Angriff nach syste­
matischer Vorbereitung würde aber nicht verborgen bleiben. Der gigantische
Aufmarsch wäre störungsanfällig und verwundbar. Er würde dem Westen Zeit
und Gelegenheit zu einem Präventivschlag geben. Ein guter Nachrichtendienst
würde es der westlichen Führung ermöglichen, den Entschluss zu einem Prä­
ventivschlag zu treffen, der den Angriff des Ostens entscheidend schwächen
könnte, auch wenn er erst einen Tag vor dem beabsichtigten Antreten des
Feindes erfolgen würde. Die Führung der Org war also davon überzeugt, dass
ein bewaffneter Konflikt mit dem Osten unvermeidbar war. Die Entscheidung
dazu würde im engsten Moskauer Zirkel fallen, was dem Westen wohl verbor­
gen bleiben würde. Deshalb setzte Pullach ganz darauf, auch kleinste Verände­
rungen der militärischen Lage jenseits des »Eisernen Vorhangs« zu erfassen,
um von der lokalen und regionalen Ebene Rückschlüsse auf die in Moskau
gefassten Beschlüsse ziehen zu können.
Der gegenwärtige Zustand der Org ließ freilich Zweifel daran zu, dass man
künftig genügend Quellen in der DDR finden würde, die bereit waren, Militärspi­
onage zu betreiben. Der Leiter der Dienststelle für psychologische Kriegführung

586 Gespräch Herre – Gehlen am 14.12.1954, BND-Archiv, Sig. N 2/v.3.


587 Siehe die Ausarbeitung von Hinrichs: Gedanken zu dem Planspiel am 27./28.1.1955,
BND-Archiv, 4319.

868
bereitete für Gehlen einen Maßnahmenkatalog vor.588 Es sah eine verstärkte
Einwirkung auf die westdeutsche öffentliche Meinung, insbesondere in West-
Berlin, vor, um das Ansehen der nachrichtendienstlichen Tätigkeit zu erhöhen.
Im Rahmen eines Offensivprogramms sollte die Presse mit Material beliefert
werden, um Gegenschläge gegen die Stasi fuhren zu können. Man sollte deren
Personal anprangern und Drohungen aussprechen. Solche Planungen waren
wiederholt vorgelegt worden, aber in der psychologischen Kriegführung hatten
bisher die Amerikaner ihre eigenen Operationen durchgeführt. Wenn jetzt, so
das Bedenken in Pullach, die Aufgabe an die Bundesregierung übergehe, könn­
ten diese Verbände ausgehungert werden. Man brauche einen eigenen Apparat
und Netze für die psychologische Tiefenarbeit. Außerdem sei daran zu denken,
künftige Mitarbeiter in einem »Festigungsprogramm« ideologisch besser zu
schulen. Die »Orientierung« sollte durch eine Schulungsschrift »ähnlich wie
s. Zt. die SS-Leithefte« ersetzt werden, um ein eigenes Ethos zu entwickeln und
die Haltung zu festigen. Später müsste sich die Org dann in das Informations­
programm der künftigen Bundeswehr einschalten. Der »Doktor« wurde gebe­
ten, vertrauliche Gespräche mit einflussreichen Pressevertretern zu führen und
die Bonner Stellen für die Unterstützung von Publikationen zu gewinnen.
Gehlen war sich der Notwendigkeit ideologischer Schulung der eigenen
Mitarbeiter sowie der entsprechenden Einflussnahme auf die antikommu­
nistische Haltung von Medien, Politik und Öffentlichkeit bewusst. Der BND
unterstützte später die Aktivitäten der Bundeswehr im Bereich der psycholo­
gischen Kriegführung, betrieb eine umfangreiche Förderung von Publikatio­
nen, und Gehlen selbst nutzte seine letzten Jahre als Pensionär, um mit seinen
Büchern den Kampf gegen den Kommunismus zu führen, besser gesagt: gegen
die eigene Regierung. 1955, kurz vor der Gründung des BND, zog er es vor, im
Hintergrund zu bleiben und seine Mitarbeiter vorzuschicken.
So hatte er zum Beispiel Interesse an René Bayer gefunden, dem Korres­
pondenten der Süddeutschen Zeitung in Berlin. Dieser berief sich auf eine
Bekanntschaft mit Halder, Gehlens früheren Förderer im Oberkommando des
Heeres. Grüße zum Neujahr hatte der Herr Generaloberst nicht beantwortet,
sodass Gehlen Stephanus vorschickte, der entsprechend bei Halder anfragte.
Dieser bezeichnete Bayer als sympathischen, bescheidenen Journalisten, der
vertrauenswürdig sei, obwohl – wie Halder anmerkte – er wie alle heutigen
deutschen Journalisten eine »geradezu feindselige Einstellung« habe. Stepha­
nus möge seinen Chef Gehlen bitte grüßen, der nachsichtig sein möge, dass
er noch nicht auf die Neujahrsgrüße geantwortet habe. »Davon aber darf er

588 Aufzeichnung von Stichworten zum Vortrag bei Gehlen, vom Januar 1955, BND-Archiv,
4319.

869
überzeugt sein, dass das an meiner herzlichen Freundschaft zu ihm und mei­
nen guten Wünschen für ihn und seine Familie nichts ändert.«589 Gehlen, der
ehemalige Adjutant, dürfte erfreut darüber gewesen sein, dass der hochver­
ehrte Generalstabschef von sich hören ließ. Halder arbeitete selbst noch für
die Historical Division der US Army und hoffte darauf, dass der von ihm ver­
waltete Erfahrungsschatz des ehemaligen deutschen Generalstabs bald wieder
von Nutzen sein würde. Mit Wohlwollen beobachtete er die Wiedererrichtung
einer deutschen Armee, an deren Spitze jene Männer stehen würden, die ihm
bis 1942 als seine Führungsgehilfen zur Seite gestanden hatten. Dazu gehörte
an herausragender Stelle auch Reinhard Gehlen.
Dieser nahm derweilen den Kampf gegen jene auf, die sich auf die Seite
des neuen bzw. alten Feindes geschlagen hatten. Dazu gehörten nicht nur -
»einmal Verräter, immer Verräter« – Männer des 20. Juli wie Otto John,590 son­
dern jene Handvoll Generale, die Ulbricht halfen, eine »Nationale Volksarmee«
aufzubauen. Ferdinand Schörner, Generalfeldmarschall und in den letzten
Kriegstagen letzter Oberbefehlshaber des Heeres, ein gnadenloser Durchhal­
tekämpfer und fanatischer Nationalsozialist, wurde Mitte Januar 1955 aus der
sowjetischen Kriegsgefangenschaft entlassen. Er war von Stalin als möglicher
ostdeutscher Oberbefehlshaber vorgesehen gewesen und stieß nun in der Bun­
desrepublik auf Ablehnung.
Gehlen ließ Material Zusammentragen, das er dem Innenminister übergab,
darunter die Meldung aus der SBZ, Schörner sei angeblich der NDPD beigetre­
ten und sei in den Westen gegangen mit dem politischen Auftrag, Verbindung
mit seinen früheren Soldaten und Offizieren aufzunehmen.591 Damit leistete
Gehlen einen Beitrag dazu, dass der Bundesdisziplinaranwalt am 31. März 1955
ein Verfahren zur Aberkennung der Versorgungsbezüge einleitete. 1957 wurde
Schörner wegen Totschlags an deutschen Soldaten zu vier Jahren Freiheits­
strafe verurteilt. Im Kreise der Generalität blieb der »blutige Ferdinand« per­
sona non grata. Der damalige Verteidigungsminister, Franz Josef Strauß, dis­
tanzierte sich von diesem »Ungeheuer in Uniform«.592

589 Schreiben Haiders an Stephanus, 23.2.1955, BA-MA, N 220/79.


590 Gehlen behauptete später, er habe sich um John überhaupt nicht gekümmert. Dieser
sei Alkoholiker gewesen und habe auch über vertrauliche Sachen viel geredet. Behaup­
tungen, er habe etwas gegen John unternommen, seien »reine Lügen«. Es habe freilich
Kritik an John gegeben, im Dienst von Leuten, die in Kriegsgefangenschaft von ihm in
englischer Uniform vernommen worden waren. Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich,
10.1.1972, IfZ, ED 100-68-17. Über Gehlens heftigen Kampf gegen John siehe demnächst
auch Henke, Geheime Dienste.
591 Gehlen an den Bundesinnenminister, 10.2.1955, BND-Archiv, 1110, Blatt 506.
592 Zit. nach: Das Lubjanka-Dossier von Generalfeldmarschall Schörner, Forum für osteu­
ropäische Ideen- und Zeitgeschichte 13 (2009), S. 203.

870
Parallel zu Halder bei den Amerikanern arbeitete in der Historischen Abtei­
lung der Kasernierten Volkspolizei ein anderer ehemaliger Generalfeldmar­
schall: Friedrich Paulus. Der Verteidiger von Stalingrad, der im Herbst 1940 mit
der Assistenz von Gehlen den Plan »Barbarossa« bearbeitet hatte,593 ließ sich
aus vermeintlich patriotischer Gesinnung von der DDR-Propaganda gegen
die Westintegration der Bundesrepublik und deren militärischen Beitrag ein­
setzen.594 Er hatte Ende Januar 1955 ein gesamtdeutsches Treffen ehemaliger
Offiziere organisieren lassen, zu dem immerhin 29 Bundesbürger eintrafen. In
seinem Einführungsreferat warnte Paulus vor der Umsetzung der Pariser Ver­
träge und den Folgen für die deutsche Einheit. Auch die weiteren Treffen bis
zum Sommer 1955 wurden natürlich vom Verfassungsschutz beobachtet und
ausgewertet, unter Mithilfe der Org.
Neben der Militärpolitik und der Aufklärung gegenüber der DDR, den
bedeutendsten Aktivitäten der Org, durfte Gehlen in dieser letzten Phase
seines Endspurts zur Gründung des BND die internationalen Aspekte nicht
vernachlässigen. Denn als bloßen Militärapparat konnte er die Org nicht der
Bundesregierung anbieten. Die nachrichtendienstliche Beobachtung der
internationalen Politik würde in Zukunft noch größere Bedeutung erlangen,
so viel war für ihn sicher. Gehlen musste auskunftsfähig sein, wenn Globke ihn
zum Beispiel nach einem Agenten fragte, der in Ägypten Aufsehen erregte.595
Man habe, so die ausweichende Antwort, keine direkten Beziehungen zu ihm,
vermute aber, dass er für den ägyptischen Nachrichtendienst arbeite. Außer­
dem lägen Verbindungen zum israelischen Geheimdienst vor, weshalb auch
ein Ostverdacht nicht völlig ausgeschlossen sei.
Neben dem Nahen Osten hatte die Org einige wichtige Verbindungen in die
Satellitenstaaten Ostmitteleuropas. Die Zusammenarbeit mit hochrangigen
Repräsentanten der verschiedenen Exilgruppen lief nicht reibungslos. Geh­
len war deshalb skeptisch über diese Möglichkeiten, die hauptsächlich von
den Amerikanern genutzt wurden. Seine Dienststelle 12 im Raum München
hatte mit Horia Sima, dem ehemaligen Führer der faschistischen rumänischen
»Eisernen Garde«, über eine Zusammenarbeit verhandelt. Gehlen besorgte
Anfang 1955 die Zustimmung der Bundesregierung.596 Die »Anerkennung

593 Siehe vorn Bd. 1, S. 172-209.


594 Siehe Diedrich, Paulus, S. 417- 448.
595 Schreiben an Globke betr. Aufklärung in Ägypten, 14.1.1955, BND-Archiv, 4319. Siehe
hierzu demnächst auch ausführlich die UHK-Studie zum Nahen Osten von Lüdke; in:
Krieger (Hg.): Globale Aufklärung.
596 131/1 (stellv. Leiter der Dienststelle für Aufklärung in den Satellitenstaaten), betr. Horia
Sima vom 16.2.1955 mit einer Aussage des Gesandten Altenburg, BND-Archiv, 4319; Mit­
teilung Gehlens vom 8.3.1955, ebd.

871
seiner politischen Gesinnung« sei selbstverständlich nur im Sinne von »Ach­
tung« zu verstehen, nicht als Identifizierung mit ihr. Der zuständige Fachmann
im Auswärtigen Amt hatte Sima zuvor als charakterlich geläutert und politisch
gereift beschrieben. Er sei ein glühender Patriot, der sich alles von einer kriege­
rischen Auseinandersetzung mit dem Osten erhoffe. Sima habe gute Beziehun­
gen zum US-Militär und bereite Störaktionen sowie den Einsatz seiner Bewe­
gung am Tage X vor. Er wolle, dass Deutschland wieder »die ihm gebührende
Rolle in Europa und im Südosten« spiele. Er sei ein anständiger Charakter und
guter Kamerad.
Für eine solche Bewertung war der General in Pullach sicher empfänglich,
wenngleich er durchschaute, dass es den Exilpolitikern hauptsächlich darum
ging, sich durch Kontakte zu westlichen Geheimdiensten finanziell über Was­
ser zu halten und in ihrer jeweiligen Organisation auftrumpfen zu können.
Waren die Deutschen unmittelbar nach 1945 keine attraktiven Partner gewe­
sen, so boten sie zehn Jahre später bessere Aussichten. Das galt auch für den
Kameradschaftsverband ungarischer Frontkämpfer (MHBK), der über General
András Zákó, ehemaliger Abwehrchef im ungarischen Generalstab, neuerdings
an einer Zusammenarbeit mit Pullach interessiert war, nachdem er zuvor bei
anderen westlichen Diensten und beim Amt Blank Anschluss gesucht hatte.
Die Außenstelle Ungarn der Leitstelle Süd der Org warnte aber vor der natio­
nalistischen und deutschfeindlichen Einstellung von Zákó, der gleichwohl zu
einer ungarischen Delegation gehörte, die Anfang Juli 1955 vom Bundeskanzler
empfangen wurde. Dabei ging es um die Bitte, den ungarischen Veteranen in
Deutschland eine Rente zu gewähren, was Adenauer wohlwollend zu prüfen
versprach.597 Ein Jahr später entstand mit dem Aufstand in Ungarn eine neue
Situation, auf die der BND nicht vorbereitet war.
Schon die Aufklärung in der benachbarten DDR kam unter dem Druck der
Großoffensive Wollwebers nur schwer wieder auf die Beine. Der Führungsbe­
auftragte der Leitung (Leiter 121), Conrad Kühlein (DN »Kühne«), legte Geh­
len eine Studie vor, die für das Absinken des Meldeaufkommens im Bereich
Militär und Wirtschaft auch die Haushaltskürzung verantwortlich machte.598
Einzelne Außenstellen hätten »Notschlachtungen« vorgenommen, das heißt
einige V-Mann-Führer gekündigt und nicht ersetzt, deren Gehalt dann auf die
verbliebenen aufgeteilt. Die Hilfe der Amerikaner und der Bundesregierung
beschränke sich darauf, die Org nicht fallenzulassen. Es komme darauf an,

597 Studie »Der MHBK und General ZAKO« vom November 1955, BND-Archiv, 33407.
598 Studie über die Situation der Wehrmacht- und Wirtschaftsaufklärung, 9.3.1955, BND-
Archiv, 4319. Drei Monate später beklagte die Dienststelle 131 (Satellitenaufklärung,
Leiter Toni Halter), dass die Tätigkeit in den Satellitenstaaten praktisch zum Erliegen
gekommen sei; Schreiben vom 21.6.1955, ebd.

872
dass durch den Bundeshaushalt endlich Klarheit geschaffen werde. Und er
fügte noch eine Warnung hinzu: Man solle die unbefriedigende Aufklärung in
den Satellitenstaaten nicht einstellen, denn ein Bundesnachrichtendienst, der
sich nur auf die Osthälfte Deutschlands beschränkt, sei Nonsens. Eine Antwort
seines Chefs erwartete der besorgte Mitarbeiter nicht.
Die Annahme, dass der »Doktor« ganz andere Sorgen habe, war nicht
unberechtigt. In einer Meldung der Org war behauptet worden, dass Israel in
London Schritte gegen die deutsche Wiederaufrüstung unternehme, weil man
befurchte, dass dadurch die deutschen Reparationslieferungen an das Land
gefährdet sein könnten. Der israelische Beauftragte in der Bundesrepublik
beschwerte sich daraufhin beim Leiter der Politischen Abteilung des Auswär­
tigen Amtes, Botschafter Herbert Blankenhorn. Das seien Zweckmeldungen
aus der arabischen Welt, um die israelische Regierung zu diskreditieren. Blan­
kenhorn bat Gehlen dringend darum, die Quelle der Org zu überprüfen, um
zu vermeiden, dass derartige Nachrichten zu politischen Fehldispositionen
führten, die im Einzelfall ernste Folgen haben könnten.599 Obwohl Gehlen aus
Krankheitsgründen abgehalten sei, nach Bonn zu reisen, möge er doch schon
Ermittlungen einleiten.
Hier schienen also Vorsicht und Umsicht geboten, denn der Kanzler hatte
die Absicht, bei der nächsten Kabinettsitzung die Einrichtung des BND, des­
sen Angliederung an das Kanzleramt, die Überführung der Org nach seiner
näheren Weisung sowie die Bildung eines Koordinierungsausschusses für das
geheime Nachrichtenwesen beschließen zu lassen.600 Und Gehlen selbst ließ
den bereits 1952 vorgelegten Vierphasenplan für den Abzug des US-Personals
aus Pullach aktualisieren. Doch der förmliche Beschluss im Bundeskabinett
wurde immer wieder hinausgeschoben, denn es musste einerseits abgewartet
werden, bis die Wiederherstellung der deutschen Souveränität förmlich voll­
zogen war, und andererseits nutzte Strauß die Chance, in letzter Minute seine
Idee eines Bundessicherheitsrates zu lancieren, der Gehlen eingebunden und
dessen direkten Zugang zum Kanzler bzw. zum Kanzleramt blockiert hätte. So
wurde die förmliche Beschlussvorlage des Kanzlers über den BND erst in der
Kabinettsitzung am 11. Juli 1955 einstimmig angenommen.601
Es waren freilich noch viele Probleme zu lösen. So erwartete zum Beispiel
die Regierung selbstverständlich eine zügige und reibungslose Einigung von
Org und BfV über die Abgrenzung der Aufgaben. Hier sah Gehlen keine Veran­

599 Schreiben Globkes an Gehlen, 9.3.1955, BND-Archiv, 1110, Blatt 510-511.


600 Schreiben Adenauers an die Kabinettsminister, 28.3.1955, BND-Archiv, 1110, T. 2,
Blatt 8-13.
601 Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 8, S. 420, im Protokoll nur unter Hin­
weis auf die Kanzlervorlage erwähnt, ohne Nennung des BND.

873
lassung, dem angeschlagenen BfV weiterreichende Zugeständnisse zu machen.
Nach dem Skandal um BfV-Präsident John bezog die Org eine harte Haltung
vor allem in zwei Bereichen: bei der Gegenspionage und bei der Befragung von
Flüchtlingen, die als »Lebensnerv« der Org betrachtet wurde. Hier war die
beste Gelegenheit gegeben, um Tipper zur Quellenfindung zu gewinnen, eine
unverzichtbare Voraussetzung für die operationeile Arbeit. Alle Flüchtlinge
sollten als Gegenleistung für ihre Unterstützung ihr Wissen über das jeweilige
Herkunftsland der Bundesrepublik zur Verfügung stellen. Das Organ für die
Entgegennahme des Wissens sei der BND. Wenn es sinnvoll erscheine, könnte
man das BfV beteiligen.602
Was solche Verhandlungen nicht selten behinderte, waren nicht die sachli­
chen Probleme, sondern die Obsessionen von Reinhard Gehlen. So verschlech­
terten sich ausgerechnet jetzt, kurz nachdem die Bundeswehr gegründet war,
seine Beziehungen zu Adolf Heusinger, dem künftigen Generalinspekteur.
Wie Heusinger Critchfield erklärte, sei der Hintergrund Gehlens Theorie, dass
die ominöse »Rote Kapelle« weiterexistiere und die westdeutsche Regierung
unterwandert habe.603 Konkret ging es um Achim Oster und Jürgen Brandt604
im Stabe Heusinger. Gehlen habe fleißig Material sammeln lassen, aber bisher
keinen Beweis gefunden. Heusinger wusste darum, war aber besorgt über die
politischen Einmischungen Gehlens, der offenbar seine Kompetenzen über­
schreite. Speidel, der in Paris eine bequeme Position besetze, während er -
Heusinger – in Bonn die Arbeit machen müsse, tendiere leider dazu, Gehlens
Mutmaßungen zu unterstützen. Er kritisiere Heusingers Unentschlossenheit,
das Amt Blank von Sicherheitsrisiken zu säubern.
Dazu kam die Rolle von Wessel. Dieser sei früher in Pullach Heusingers
Mann gewesen, nach seinem Weggang zu Speidel aber dessen Gefolgsmann
geworden. Wessel stehe deshalb an der Seite Gehlens im Hinblick auf die angeb­
lichen Sicherheitsrisiken. Wenn Wessel nach dem Willen von Heusinger als G-2
künftig an der Spitze stehen würde, müsste er unter Kielmansegg arbeiten und
Oster in seinem Stab hinnehmen.605 Wessel aber lehne Kielmansegg aus per­
sönlichen Gründen, Oster aus Sicherheitsgründen ab. Falls Kielmansegg aber

602 Notiz über die Besprechung von Vertretern der Org in Köln beim BfV, 16.5.1955, BND-
Archiv, 4319.
603 Memorandum für Chief of Operations über die Gespräche mit Heusinger, 18.4. u.
1.6.1955, NA Washington, CIA, FOIA-ERR, Heusinger, Adolf.
604 Der Exleutnant der Wehrmacht brachte es später in der Bundeswehr bis zum General­
inspekteur (1978-1983).
605 Kielmansegg war deutscher Delegierter bei den Verhandlungen über die EVG- und die
Pariser Verträge gewesen und wurde im Juli 1955 Erster Nationaler Militärischer Reprä­
sentant der Bundesrepublik beim NATO-Oberbefehlshaber Europa (SACEUR), St. Ger-
main/Frankreich.

874
zu SHAPE gehen könnte, wäre die Sache für Wessel geklärt. Wenn dann die Org
endgültig legalisiert würde, könnten damit die Friktionen eigentlich geklärt
sein, wenn es nicht Gehlens Vorurteile über die Unterwanderung der Regie­
rung gäbe. Die Wurzeln des Problems seien Dossiers in Pullach über Bonner
Offizielle. Diese Klagen Heusingers zeigen, dass persönliche Animositäten und
Konkurrenzdenken auch zwischen Berufsmilitärs eine Rolle spielen konnten.
Auch aus dieser Erfahrung hielt es Gehlen offenbar für richtig, im Hinblick
auf die bevorstehende politische Entscheidung noch einmal seine Auffassung
über die Befugnisse festzuhalten, die dem künftigen Leiter des BND »als unab­
dingbare Grundlagen für eine im Sinne des Staatsinteresses erfolgreiche Tätig­
keit eingeräumt werden müssen«.606 Hierzu sollten die Regelungen bei den drei
westlichen Großmächten als Vergleich herangezogen werden. Der BND-Chef
sei verantwortlich für das Lagebild, die Beratung des Kanzlers und des Bundes­
verteidigungsrates, die Sicherheit des eigenen Dienstes gegen das Eindringen
fremder Spione, die Belieferung der verschiedenen Bedarfsträger sowie den
sachgemäßen Einsatz der Haushaltsmittel. Daraus ergebe sich, dass der BND
nicht das Organ eines Bundesministeriums sein sollte, sondern am besten
unmittelbar dem Kanzler zu unterstellen sei. Der Leiter des BND müsse über
die Personalhoheit verfügen, sein Haushalt könne nur durch den Präsidenten
des Bundesrechnungshofes auf der Grundlage strikter Geheimhaltung geprüft
werden. Während bereits aus der Dienststelle Blank das Bundesministerium
der Verteidigung geformt wurde, lag Gehlen daran, nicht in letzter Minute Ein­
bußen hinnehmen zu müssen. Bis auf die von ihm angestrebte unmittelbare
Unterstellung unter den Bundeskanzler hat er die hier aufgezeichneten Punkte
immerhin alle erreichen können.
Er versäumte deshalb auch nicht, Globke über anhaltende Spannungen
zwischen CIA und US Army zu unterrichten, weil die Army noch immer an
der Lösung hing, im deutschen Verteidigungsministerium, zu dem man gute
Verbindungen hatte, auch einen militärischen Nachrichtendienst einzurich­
ten. Gehlen warnte vorsichtshalber noch einmal vor einer möglichen militä­
rischen »Mammutbehörde«.607 Dahinter stecke Major General Arthur Gilbert
Trudeau (Chief of Army Intelligence, ein hochdekorierter Kriegsheld), eine
»höchst eigenartige Persönlichkeit«, wie Gehlen meinte, obwohl er ihn nicht
persönlich kannte. Trudeau habe bereits versucht, den Bundeskanzler gegen
ihn aufzubringen.
Der US-General hatte den deutschen Botschafter in Washington, Heinz
Krekeler, ausdrücklich vor einer Übernahme der Org gewarnt und Gehlens

606 Aktennotiz Gehlens, 7.6.1955, BND-Archiv, 1110, Blatt 521.


607 Schreiben Gehlens an Globke, 23.6.1955, ebd., Blatt 433.

875
»operational inefficiency« und seine Unfähigkeit, »to create operational
cover«, beklagt. Die Org benutze einfach, wenn einer ihrer Mitarbeiter bei der
deutschen Polizei auffliege, als Cover die angebliche Zugehörigkeit zum BfV
oder zum Counter Intelligence Corps des US-Militärs. Sie habe im vergangenen
Jahr mehr als 80 Agenten in der DDR verloren und so dem Gegner die Möglich­
keit zu einer extensiven Offensive gegeben. Das habe sein Vertrauen in Gehlen
erschüttert. Westdeutschland brauche aber einen effektiven Sicherheitsappa­
rat, um der Sowjetspionage zu begegnen. Es sei bekannt, dass die Org Operati­
onen der Gegenspionage in Westdeutschland durchführe, obwohl sie lediglich
für die Auslandsspionage zuständig sei. Die Org sei zudem nicht bereit, ihre
Operationen mit der US Army zu koordinieren. Eine glaubwürdige Quelle mit
guten Verbindungen nach dem Osten habe berichtet, dass es die Schwächen
ihres Sicherheitssystems dem kommunistischen Nachrichtendienst ermög­
licht hätten, die Org in vielen Bereichen zu penetrieren.608
Trudeau, so hieß es später, habe nichts von der Erwartung des CIA-Chefs
gehalten, auch nach einer Übernahme der Org einen Durchschlag aller Mel­
dungen des künftigen Bundesnachrichtendienstes an die deutsche Regierung
zu erhalten. Dadurch, so Trudeau, könnte im Westen Schaden entstehen, weil
damit gerechnet werden müsse, dass diese Meldungen über kommunistische
Maulwürfe im BND auch in den Osten gelangen könnten609 – eine nicht unbe­
rechtigte Sorge, wie später der Fall Felfe bewies.
Die Sache geriet für Gehlen in ein gefährliches Fahrwasser, als Adenauer
Anfang Oktober 1955 zu einem Empfang im Weißen Haus nach Washington
reiste. Im Anschluss daran fand ein Dinner in der Deutschen Botschaft statt.
Anwesend waren neben den beiden Dulles-Brüdern hochrangige amerikani­
sche Repräsentanten und Generale. Zu ihnen gehörte auch Trudeau. Dieser
näherte sich während des Dinners dem deutschen Bundeskanzler und sprach
freimütig davon, dass er diesen gespenstischen Naziladen in Pullach nicht
mochte. Adenauer war sichtlich erschüttert und meinte, dass man solche
Dinge nicht bei einem Dinner-Empfang besprechen könne, und lud ihn ein,
am nächsten Tage zu einem Gespräch in die Botschaft zu kommen.610
Trudeau war sehr nahe an der Wahrheit und hatte Karteikarten mit Anga­
ben über 30 Gehlen-Leute dabei, die nach Erkenntnissen der US-Gegenspi­
onage für den Osten arbeiteten. Adenauer stellte, so erinnerte sich Trudeau

608 Trudeau hatte seine Warnung in Form von Einzelblättern Krekeler im Juni 1955 überge­
ben; BND-Archiv, 1173, Blatt 143-144.
609 So unter Berufung auf den amerikanischen Leitartikler John O’Donnell (Daily News):
US-Abwehrchef stürzt über Gehlen, 8 Uhr-Blatt, 10.10.1955.
610 Beschrieben von Cookridge, Gehlen, S. 315, der den Vorfall auf Oktober 1954 falsch
datiert.

876
Lieutenant General Arthur Gilbert Trudeau,
seit 1953 Chief of Army Intelligence, ca. 1950

später, einige Fragen und bat am Ende des Gesprächs um Aushändigung der
Karteikarten. Nach seiner Rückkehr übergab der Kanzler die Karten Globke,
der sie zur Stellungnahme den CIA-Vertretern in Deutschland überließ. So lan­
deten sie bei Critchfield, der – ohne Gehlen einzuschalten – innerhalb von
24 Stunden anhand eigener Unterlagen die Behauptungen der US-Militärs ent­
kräften konnte.611
Adenauer unterrichtete unverzüglich Allen Dulles über die Bemerkung von
Trudeau beim Dinner-Empfang in Washington. Gleichzeitig erhielt der CIA-
Chef die Entwarnung von Critchfield, die er umgehend dem Verteidigungs­
minister vorlegen ließ. Dulles war entrüstet und betrachtete den Angriff von
Trudeau als persönlichen Affront. Er brauchte Gehlen für seine Zukunftspläne
und konnte nicht zulassen, dass dieser von hemdsärmeligen US-Militärs aus
dem Boot geworfen wurde.612 Als dann der Vorfall beim Dinner-Empfang mit
den Nazivorwürfen durch die Presse bekannt wurde, ging Dulles zu Eisen­
hower und verlangte die Entlassung von Trudeau. Dieser erhielt zwar Rücken­
deckung durch den Verteidigungsminister und die Stabschefs, aber am Ende
setzten sich die Dulles-Brüder durch. Allen Dulles beklagte zudem in einem
Memorandum für den Präsidenten die heftigen antikommunistischen Ausfälle
Trudeaus und dessen häufige Zusammenstöße mit Regierungsvertretern, die

611 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 214-215.


612 Burton Hersh: The Old Boys. The American Elite and the Origins of the CIA, New York
1992, S.372.

877
eine andere Meinung über die kommunistischen Absichten hatten. Das reichte
aus, um dafür zu sorgen, Trudeau von seinem Posten als Chief of Army Intelli­
gence abzulösen und nach Korea zu versetzen.
Gehlen war allem Anschein nach nicht direkt in die Affäre involviert, die für
ihn von der CIA erledigt wurde. Doch er profitierte zweifellos von dem Ergeb­
nis, denn so festigte sich seine eigene Lage auch auf deutscher Seite, die in
den vergangenen Wochen nicht einfach gewesen war. Er dürfte in jedem Falle
froh darüber gewesen sein, dass ihm eine persönliche Begegnung mit Trudeau
erspart geblieben war. Zu den »harten Kriegern« und Draufgängern fand Rein­
hard Gehlen nun einmal keinen Zugang und einem derartigen Gegner wich er
lieber aus.
Das galt offenbar auch für Franz Josef Strauß, der sich Hoffnungen machte,
bald Theodor Blank als Verteidigungsminister abzulösen. In einem Schrei­
ben an Bundeskanzler Adenauer hatte Strauß eine Aussprache zur geplanten
Übernahme der Org gefordert. Das könne seiner Meinung nach nicht einfach
im Rahmen der Organisationsgewalt der Bundesregierung geregelt werden.613
Der andere Weg wäre ein BND-Gesetz gewesen. Im Zuge der notwendigen
parlamentarischen Aussprache hätten dann aber noch Abstriche an Gehlens
Forderungskatalog gemacht werden können. Doch Gehlen hatte nicht nur die
Unterstützung von Dulles für einen Einheitsdienst, sondern auch von Ade­
nauer. In der Sitzung am 11. Juli 1955 befasste sich das Bundeskabinett mit
dem Stand der Sicherheitspolitik.614 Heusinger trug zur militärischen Lage vor
und hielt außerhalb der Tagesordnung einen Vortrag über die »Einwirkung der
Atomkraft auf die Kriegführung und die Bodenverteidigung«. Nach der Bera­
tung über einen Personalgutachterausschuss für die Aufstellung der Bundes­
wehr folgte die Diskussion über ein Luftschutzprogramm. Dann beschloss das
Kabinett entsprechend der Kanzlervorlage vom 28. März 1955 die Überführung
der Org nach näherer Weisung des Bundeskanzlers, die Einrichtung des BND,
dessen Angliederung an das Kanzleramt sowie die Bildung eines Koordinie­
rungsausschusses für das geheime Nachrichtenwesen.615
Es folgte am 16. Juli 1955 eine informelle Sitzung unter Vorsitz von Finanz­
minister Fritz Schäffer mit den Beauftragten der Fraktionsvorsitzenden zum

613 Schreiben von Strauß an Adenauer, 9.7.1955, VS-Registratur Bka, Bk 1:15100.


614 Die Kabinettsprotokolle, Bd. 8, S. 410 – 421.
615 Ebd., S. 420. In der Edition werden der BND und der Inhalt des Beschlusses nicht
genannt und lediglich auf das Adenauer-Schreiben vom 28.3.1955 Bezug genommen.
Dass Gehlen in seinen Memoiren einen Kabinettsbeschluss vom 21.2.1956 erwähnt
(Der Dienst, S. 176), ist irreführend oder ein Fehler, der sich in der Literatur, z. B. bei
Critchfield, Auftrag Pullach, S. 225, fortsetzte, ebenso jüngst bei Meinl/Hechelhammer,
Geheimobjekt Pullach, S. 200. An diesem Tag fand keine Kabinettssitzung statt.

878
Thema BND. Hier bestand Einigkeit über die Notwendigkeit eines Nachrichten­
dienstes und darüber, dass die Org dazu überführt werden sollte. Die Bereit­
stellung entsprechender finanzieller Mittel sollte nach den Parlamentsferien in
Angriff genommen werden. Adenauer sorgte dafür, dass der Tagesordnungs­
punkt BND auf der nächsten Sitzung des Verteidigungsausschusses, die für den
29. September angesetzt war, gestrichen wurde.616 Mit der geplanten »Anglie­
derung« des BND an das Kanzleramt hatte Gehlen im Prinzip kein Problem,
ihm lag aber daran, einen direkten Zugang zum Kanzler und möglichst als
Staatssekretär auch eine herausgehobene Stellung zu erhalten, die ihn nicht
länger von Globke abhängig machen würde. Er begrüßte es, dass der Kanzler
ein BND-Gesetz und damit die feste Verankerung innerhalb der Bundesver­
waltung vermied.617 Die Mitwirkung des Parlaments sollte auf die Information
eines Vertrauensmänner-Gremiums beschränkt sein.
Nach dem Bezug des »Doktorhauses« hatte Gehlen im Keller eine Abhör­
anlage installieren lassen. Von Tonbandaufnahmen sind vereinzelt Abschriften
vorhanden. Dazu gehört ein Gespräch am 19. Juli 1955 mit Martin Riedmayr,
Präsident des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, der in enger
Verbindung mit Pullach stand.618 Gehlen erzählte von einem guten Gespräch
mit Schäffer. Wenn dieser Lust hätte, den Betrieb in Pullach zu sehen, sei er
sehr willkommen. Er habe ihn noch nicht persönlich aufgefordert, »weil ich
die Initiative von ihm aus gerne sehen würde, sonst muss ich erst wieder den
Globke orientieren«. Außerdem sei er nach seiner Genesung bei Ollenhauer
gewesen, der ihm gesagt habe, er bejahe den Nachrichtendienst als eine natio­
nale Angelegenheit und sei jederzeit zur Unterstützung bereit. Nur bei einem
Punkt sträube er sich mit Händen und Füßen: wenn Globke dabei eine Rolle
spielen würde. Gehlen hatte deshalb Bedenken, dass Globke jetzt die Sache
einfach durchziehe und so die Opposition provoziere. Und was heiße denn
»Angliederung« ans Kanzleramt?
Riedmayr erklärte, dass er Globke für einen Falschspieler halte. Man sollte
ihn besser unter die Lupe nehmen. Er habe den Kanzler schon einmal gewarnt.
Die Reaktion Adenauers: »Nehmen Sie mir nicht meinen letzten Mann.« Josef
Rust, derzeit Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium und zuvor bis 1952
einflussreicher Wirtschaftsreferent im Kanzleramt und Vertrauter Adenauers,
künftiger Staatssekretär im Verteidigungsministerium,619 habe ihm erklärt,

616 Schreiben Adenauers an Richard Jaeger, den Vorsitzenden des Ausschusses, 16.7.1955,
VS-Registratur Bka, Bk 6:15205(1), Bd. 1.
617 Gehlen, Der Dienst, S. 175.
618 BND-Archiv, 24854-OT.
619 Siehe Nachruf, Spiegel 29/1997 vom 14.7., S. 182. Rust war unter Blank und Strauß für
die Aufrüstung verantwortlich.

879
Globke werde verkannt. Durch seine gehemmte Persönlichkeit bringe er sich
oft in ein schiefes Licht. Gehlen dazu:

Wenn man mit jemand zusammenarbeitet, ich hab ja doch viele Vorgesetzte
gehabt, mit denen ich z. T. doch sehr delikate Dinge zu verhandeln hatte. Und
es erwartet ja niemand, dass einem von vorgesetzter Stelle nur je letzte Dinge
gesagt werden. Das erwarte ich auch nicht. Aber ich habe bei Globke auch
immer den Eindruck, dass er mit mir Schach spielt, in der letzten Zeit nicht
mehr so sehr. Also ich hatte mich in der letzten Zeit zu dem Gefühl entschlos­
sen – er hat also diese schlechten Freunde, das ist sein Pech sozusagen [...]

Wenn jetzt Hubert Schrübbers als Präsident des BfV komme, sei das ein zwei­
ter John, einer, der wohl in der Bundesrepublik bleiben werde und mit allen
Wässerchen gewaschen sei: »Also ein Jurist«.
Gehlen weiter: Er verstehe den Globke nicht. Wenn diese in den Nachrichten­
fluss eingeschaltet werden wolle, sei das ohnehin gewährleistet. Er habe den
Eindruck, dass es Globke darauf ankomme, selber der Mann am Knopf zu sein.

Nun ich meine, an sich ist es mir ganz wurscht, wer mein Disziplinarvorge­
setzter ist, aber es ist natürlich so, ich müsste mich jeder Handlung enthal­
ten – so ein Gespräch mit Ihnen. Ich kann ja nicht über meinen Disziplinar­
vorgesetzten.

Gehlen lag verständlicherweise daran, seine bisherigen Freiräume zu erhalten.


Sein weiteres Verhältnis zu Globke gestaltete sich freilich bald so freundschaft­
lich, dass die Unterstellungsfrage ihre Schärfe verlor.
Entgegen seinen früheren Prognosen von einer erhöhten Kriegsgefahr, die
von dem Beginn der Wiederbewaffnung ausgehen könnte, einer sowjetischen
Kriegsbereitschaft ab 1955 sowie kürzlich geäußerten düsteren Prognosen, es
werde sich bald zeigen, ob der Westen vom Kommunismus überrollt werde,
ergab sich im August 1955 intern ein eher beruhigendes Bild. Die Genfer Gipfel­
konferenz zur Deutschlandfrage hatte zwar keine Fortschritte gebracht, aber die
Deutschlandpolitik der UdSSR änderte sich nach der Ankündigung Chruscht­
schows, es seien auf dem Gebiet des früheren Deutschen Reiches zwei souve­
räne Staaten entstanden. Der Ministerrat der UdSSR beschloss die Reduzierung
der Streitkräfte um 340.000 Mann. Auch die Gruppe sowjetischer Streitkräfte in
Deutschland war davon betroffen.620 Die letzten sowjetischen Besatzungssol­

620 Siehe Armin Wagner und Matthias Uhl: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Mili­
tärspionage in der DDR. 2. korr. Ausg., Berlin 2007, S. 82.

880
daten verließen Österreich. Eine erste Phase der Entspannung im Kalten Krieg
deutete sich an. Bundeskanzler Adenauer kündigte eine Reise nach Moskau
an, um über die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen und die
Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu verhandeln.621
Das neueste Handbuch der Org »Zur Lage des Ostblocks« führte aus:

Die risikobewußte sowjetische Führung würde wahrscheinlich selbst gegen­


über den heutigen 14 NATO-Divisionen in Westdeutschland den Überra­
schungsangriff mit den 22 schwächeren Kampfdivisionen in der SBZD im
Hinblick auf die gefährdeten Versorgungswege durch Polen nicht erwägen.622

Reinhard Gehlen fand daher die Muße, die Einladung der US Naval Forces
zum Besuch der 6. Flotte im Mittelmeer anzunehmen. Da platzte in Bonn die
Bombe. Die Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamts verhaftete vier sowje­
tische Agenten, darunter einen Mitarbeiter der Org. Ludwig Albert arbeitete
bei der Spionageabwehr und war zugleich Doppelagent des CIC. Er beging in
der Haft Selbstmord, sodass der Fall vertuscht werden konnte. Aber Gehlen
misstraute nun auch Critchfield, weil er glaubte, dieser sei davon unterrichtet
gewesen, dass das CIC die Org unterwandert hatte.623
Die Mittelmeerreise wurde zu einem bewegenden und erhebenden Ereignis,
das ihn mit der amerikanischen Seite wieder versöhnte. Der ehemalige Artil­
lerist war vom kontinentalen Denken des deutschen Heeres zutiefst geprägt.
Seemacht und globale maritime Strategie waren für ihn eine fremde Welt. Bis­
her kannte er nur jeden Winkel des europäischen Russland – zumindest auf
der Karte. Auch künftig würde die neue deutsche Marine ein nicht über Nord-
und Ostsee hinauswirkender militärischer Faktor sein. Der Bericht seines ame­
rikanischen Begleitoffiziers verdient eine größere Betrachtung, weil er einen
erhellenden Eindruck von dieser ungewöhnlichen Begegnung des künftigen
deutschen Spionagechefs mit der von ihm bewunderten amerikanischen Welt­
macht vermittelt.624 Gehlen hatte zwar Ende der 1940er-Jahre inspiriert von
seinem Konkurrenten Baun von globalen nachrichtendienstlichen Aktivitäten
geschwärmt, erst mit der bevorstehenden offiziellen Gründung des BND aber
bewegte er sich auf der Bahn eines künftigen Global Players.

621 Siehe dazu ausführlich Helmut Altrichter (Hg.): Adenauers Moskaubesuch 1955. Eine
Reise im internationalen Kontext, Bonn 2007.
622 Studie vom August 1955, BND-Archiv, 7357.
623 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 219-220.
624 Munich Representative of Commander US Naval Forces Germany to Director of Naval
Intelligence, 12.10.1955, NA Washington RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol2_20F2, S. 3-8.

881
Auf der Reise vom 5. bis 10. September 1955 begleitete ihn Albrecht Ober­
mayer, der Chef der Marine-Auswertung in Pullach. Während der ganzen Zeit
nannte sich Gehlens Gehilfe bei seinem Namen Obermayer, Gehlen jedoch
benutzte das Pseudonym »Dr. Gebler«. Der Besatzung war die Identität der
deutschen Gäste nicht bekannt. Der Berichterstatter kam zu der Überzeugung,
dass der Besuch ein voller Erfolg war und Gehlen einen Eindruck bekommen
habe von den Fähigkeiten und Aufgaben moderner Seestreitkräfte. Bei der
Abreise in Neubiberg bedankte sich Gehlen, der äußerst ungern flog, für ent­
sprechende Tabletten gegen die Flugkrankheit. Während des Fluges genoss er
dann ohne Probleme eine Lunchbox und fragte danach, ob er nicht für seine
geplante USA-Reise im Januar einen Vorrat an Tabletten erhalten könne. Ganz
zufrieden mit der Welt, plauderte er über die geplante USA-Reise und wollte
aus Bequemlichkeit gern die Rückreise mit dem Schiff antreten. Gehlen sprach
außerdem über seine Ferienpläne mit der Familie im nächsten Jahr. Er liebe
Camping und das Leben im Freien.
Über Frankreich im Anflug auf Marseille erzählte er von seiner ältesten
Tochter (21 Jahre), die am Vortag aus Italien zurückgekehrt war. Sie arbeite
gelegentlich als Kurier für das Auswärtige Amt (AA). Während ihrer letzten
Reise habe ein sehr sorgfältig kontrollierender deutscher Zollbeamter fast
die Diplomatenmappe gefunden. Gehlen sei ganz stolz gewesen, dass seine
Tochter in weiser Voraussicht die Mappe unter allerlei weiblichen »Nettigkei­
ten« auf den Boden des Koffers gelegt hatte. Es sei notwendig, seine Tochter
als Kurier einzusetzen, weil es dem AA an Personal fehle. Die Kurierfahrten
seien auch nicht mehr gefährlich, weil die Alliierten das AA kürzlich aner­
kannt hatten.
Nach der Landung in Nizza konnten Passkontrollen etc. vermieden wer­
den, weil die Gruppe von dem Adjutanten des Kommandeurs der 6. Flotte
abgeholt wurde. Gehlen bewunderte das sonnige Wetter und sprach über die
Geschichte von Nizza und Villefranche. Am Pier in der Nähe von Villefranche
wartete die Barkasse des Kommandeurs der 6. Flotte. Die Gruppe ging an Bord
der »USS Salem«, die so sauber und herausgeputzt war, dass man sich dafür
entschuldigte, mit den Schuhen Spuren an Deck hinterlassen zu haben. Gehlen
war beeindruckt von seiner ersten Begegnung mit der US Navy und der Auf­
merksamkeit, die man ihm schenkte. Er nahm als Souvenir einen Flyer an sich
mit den Namen der Schiffsoffiziere, der Shops des Schiffes, der Sodaquelle und
des Tabakladens etc. Am Abend bummelte Gehlen mit der Gesellschaft durch
die Straßen von Villefranche und plauderte mit dem Begleitoffizier, bis sie auf
das Signal des Captains hin wieder an Bord gingen.
Nach dem Frühstück am 6. September lichtete die »USS Salem« die Anker
und glitt langsam aus dem Hafen, um die 6. Flotte zu treffen. Nach einer Besich­
tigung von Schiffsräumen kam Gehlen auf die Anerkennung eines deutschen

882
Nachrichtendienstes zu sprechen. Er sah keine Hindernisse und Schwierigkei­
ten für die noch erforderliche parlamentarische Anerkennung seines Dienstes
voraus. Er ging davon aus, dass es gefährlich wäre, wenn die Anerkennung des
Dienstes ein politischer Streitfall wäre, und betrachtete es als sein persönli­
ches Verdienst, seine Org aus der Politik herausgehalten zu haben. Er sagte, er
habe einflussreiche Freunde in Regierung und Opposition, rechne aber noch
mit längeren parlamentarischen Debatten. Er sei zu geringen Konzessionen im
Verlauf des Prozesses bereit.
Mit dem Fernglas in der Hand und auf dem Kommandeurssitz der Admi­
ralsbrücke gab Gehlen das Bild eines Mannes mit Zuversicht für seine Zukunft
ab. Er schien alles im Griff zu haben. Vor dem letzten Lunch an Bord des Schif­
fes am 7. September fragte Gehlen den Begleitoffizier, ob er wohl Rear Admiral
Ralph A. Ofstie, dem Commander der US Sixth Fleet, einen kurzen Bericht über
die Org geben könnte. Das wurde ihm freigestellt, was er sehr begrüßte. Gleich
nach Beginn des Lunchs erschien ein kleines korsisches Fischerboot, dessen
Kapitän um Hilfe für seinen Motor bat. Gehlen verfolgte den Vorfall mit dem
Fischerboot mit großem Interesse und war erstaunt, dass der Kreuzer stoppte,
um dem Boot zu helfen.
Der Lunch fand in festlicher und entspannt-freundlicher Atmosphäre statt.
Rechts vom Admiral sitzend verlor Gehlen keinen Augenblick in seinem Eifer,
dessen Fragen nach Deutschland, seiner wirtschaftlichen Lage und seiner
Zukunft akkurat und schnell zu beantworten. Nach dem Lunch entspannte
sich die Gruppe in bequemen Sesseln und erging sich im Small Talk. Anschlie­
ßend gab Gehlen ein Briefing zu seiner Org und vermied jeden Anschein einer
Übertreibung. Er präsentierte die Vorgänge exakt, einschließlich der genauen
Hintergründe. Die Aufgabe des Nachrichtendienstes werde die Sammlung
und Auswertung von politischen, wirtschaftlichen und militärischen Nach­
richten sein.
Sein Vertreter für die Marineauswertung, Obermayer, werde neben seinen
derzeitigen Aufgaben in der Org die Marineauswertung im Verteidigungsmi­
nisterium übernehmen. Gehlen betonte die Notwendigkeit einer Zentralisie­
rung aller Beschaffungsvorhaben aus ökonomischen Gründen und die gegen­
wärtige Reise bestätige ihn in der Notwendigkeit einer Marineaufklärung. Er
sprach dann von einer kleinen, aber effektiven deutschen Marine in der Ostsee,
die fähig sei, jeden sowjetischen Invasionsversuch in Dänemark abzuschre­
cken, und fügte hinzu, dass die deutsche Marine eines Tages auch für eine
offensive Aktion in der Ostsee wertvoll sein werde. Er sprach über die Notwen­
digkeit einer engen Kooperation innerhalb der NATO-Intelligence-Community
und dass er Schritte unternommen habe, entsprechende Verbindungen zu
knüpfen. Er legte dar, dass er einen engen Kontakt zu Kanzler Adenauer habe,
und sagte voraus, dass dessen Moskaumission scheitern werde. Adenauer sei

883
sich bewusst, dass ihm harte Forderungen begegnen könnten und er kaum
die Möglichkeit haben würde, ernsthafte Verhandlungen zu fuhren. Er habe
deshalb den Wirtschaftsminister und seinen Beraterstab von der Delegation
ausgeschlossen. Gehlen glaube, dass der Kanzler vielleicht erfolgreiche Ver­
handlungen über die Entlassung von Kriegsgefangenen führen könnte, dass
die sowjetische Propaganda daraus aber nur eine Erlaubnis für die entlassenen
Kriegsgefangenen machen würde, in die DDR zu gehen.
Es müsse gesagt werden, dass Gehlen sein kleines Publikum faszinierte und
er sich dessen bewusst gewesen sei. Am späten Nachmittag erhielten die Besu­
cher ein Briefing in Anwesenheit von Admiral Ofstie zu den Operationen und
den Operationsräumen seiner Flotte sowie zur Versorgung auf See, was Gehlen
besonders interessierte. In Begleitung des Admirals wurde Gehlen die gesamte
Flotte einschließlich der beiden Flugzeugträger gezeigt. Mit Parfüm aus dem
Shop des Schiffes sowie einer Schachtel Zigarren für Staatssekretär Globke
gehörte Gehlen zur ersten Gruppe, die mit dem Hubschrauber auf den Flug­
zeugträger »Coral Sea« geflogen wurde. Beim Abschied lud er Admiral Ofstie
ein, ihn in Deutschland zu besuchen.
Kurz nach der Ankunft auf der Admiralsbrücke stellte Gehlen den Unter­
schied zwischen der »Salem« und der »Coral Sea« fest. Die Besatzung des
Kreuzers habe eine freundliche und würdige Haltung gezeigt, auf dem Flug­
zeugträger hingegen wurde harte Arbeit geleistet. Seine Bemerkung war inso­
fern richtig, da die »Coral Sea« gerade von einem Tanker befüllt wurde, der auf
der anderen Seite an einem Zerstörer angelegt hatte. Während die Betankung
lief, zwei Kreuzer und ein U-Boot in der Nähe waren und andere tankende
oder ergänzende Schiffe am Horizont zu sehen waren, hatte Gehlen Schwie­
rigkeiten, die richtige Kamera auszuwählen, denn er hatte sieben verschiedene
dabei. Auf Wunsch des Commanders vermied er jedes Foto der elektronischen
Ausrüstung der Schiffe.
Nach dem Dinner beobachtete Gehlen die Landung von Düsenflugzeugen
auf die abgedunkelten Träger. Weil das erste mit einem enormen Krach, einem
schrecklichen Schlag landete und die Hitze der Düse die Brücke erreichte,
sprang Gehlen rückwärts gegen seinen Begleitoffizier, denn er nahm an, es
handele sich um einen Crash. Nachdem andere Jets präzise gelandet waren,
bewunderte er die von der Navy entwickelte und beherrschte Technik, die Effi­
zienz der ganzen Crew, die technische Überlegenheit der Navy und die strate­
gische Bedeutung der Flugzeugträger.
Am Morgen des 8. September war Gehlen einer der ersten beim Frühstück
und zeigte sich begierig darauf, weitere Landungen und Starts zu beobachten.
Er dankte Rear Admiral Clarence Ekstrom, Commander der »USS Franklin D.
Roosevelt«, für die Gelegenheit, Trägeroperationen beobachten zu können. Er
bezeichnete sie als die interessantesten und aufregendsten technischen Ent­

884
Der Flugzeugträger »USS Coral Sea« während einer Mission im Mittelmeer, 1955

Wicklungen, die er jemals gesehen habe. Den ganzen Tag über war es unmög­
lich, mit ihm über ein anderes Thema zu sprechen. Er hörte aufmerksam den
verschiedenen Vorträgen zu, die über Trägeroperationen und die Marineluft­
waffe gehalten wurden. Begleitet von einem strammen Marine, schien er sich
in seinem Milieu zu fühlen und genoss jede Minute.
Das nächste Event war das Überholen einer Krankenbox von einem Zerstö­
rer. Anschließend erhielt er eine Einführung in den Film Victory at Sea. Nach
dem Katapultstart von sechs Düsenflugzeugen am 9. September fragte er
danach, ob es möglich wäre, General Heusinger und Admiral Wagner zu einer
solchen Einladung zu verhelfen, denn beide seien einflussreich beim Aufbau
einer deutschen Marine. Beide sollten die Bedeutung moderner Schiffe und die
strategische Bedeutung einer Marineluftwaffe erkennen. Er fragte dann noch
nach einer Einladung für Globke und sprach mit Admiral Ekstrom über die
gegenwärtigen Einsatzpläne der 6. Flotte und berichtete von den deutschen
militärischen Aktivitäten im Schwarzen Meer und auf dem Balkan während
des Zweiten Weltkriegs. Die 6. Flotte halte die Moral von Griechenland, Italien
und insbesondere Spanien aufrecht. Beim abendlichen Dinner und vor dem
Kinoprogramm äußerte er seine Ansichten über Indien, Griechenland und die

885
Türkei. Gehlen lud Admiral Ekstrom zweimal nach Deutschland ein und bot
großzügig an, ihm dort ein Fahrzeug zur Verfügung zu stellen.625
Bei der Ankunft in Mallorca am 10. September hätten die 21 Salutschüsse
und die Reihen der weißgekleideten Matrosen Gehlen sehr beeindruckt. Später
empfahl er eine sorgfältige Marineaufklärung in den Anliegehäfen und fragte,
ob die 6. Flotte dazu Informationen von seiner Org gebrauchen könne. Beim
Bummeln durch die Straßen von Palma sprach er über die Verhältnisse in
Spanien und erklärte, dass er über enge Beziehungen zu den wichtigsten Mili­
tärs verfüge. Dann erfolgte der Rückflug nach München. Gehlen war sichtbar
beeindruckt von der 6. Flotte, geschmeichelt wegen der ihm erwiesenen Auf­
merksamkeit und sehr darum besorgt, die Anerkennung und Unterstützung
der US Navy für seine Organisation zu bekommen.
Während Gehlen die »Franklin D. Roosevelt« besichtigte, hatte Konrad
Adenauer – entgegen den Prognosen »seines lieben Generals« – erfolgreich
seinen Moskaubesuch absolviert. Die letzten zehntausend deutschen Kriegs­
gefangenen durften in die Heimat zurückkehren.
Gleichzeitig brach das KGB die Vorbereitungen der Stasi zur Entführung
Gehlens ab. Im Landhaus des BND-Chefs wachte dennoch für längere Zeit
noch sein Fahrer Ernst Jonscher (»Bubi«) nächtens im Flur, mit der Maschi­
nenpistole auf dem Schoß. Gehlen hatte die Gefahr einer Entführung schon seit
Längerem umgetrieben. Regelmäßig übte er daher das Schießen mit Handfeu­
erwaffen auf einem US-Schießplatz.626 Die Vorstellung, womöglich vom KGB
gefoltert und unter Drogen vor die Fernsehkameras gezerrt zu werden, muss
für ihn ein Albtraum gewesen sein, vermutlich auch eine Erinnerung an die
Angst, die ihn vor zehn Jahren, am Kriegsende, getrieben hatte. Das erklärte
seine Manie zu rasanten Fahrten mit seinem Mercedes, seine Verkleidung
sowie verrückte Manöver, mit denen er Besuchern zugleich zu imponieren
versuchte, wenn er während der Autofahrt plötzlich auf einen Waldweg abbog
und eigenhändig die Nummernschilder auswechselte, um mögliche Verfolger
zu verwirren.
Der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Fragen der europäischen
Sicherheit, Dr. Richard Jaeger (CSU), lud für den 29. September 1955 zu einer
gemeinsamen Sitzung mit dem Ausschuss zum Schutze der Verfassung ein.
Dazu sollten dann Gehlen für den künftigen BND und Schrübbers als Präsi­

625 Der Gegenbesuch des Admirals fand am 7.10.1955 statt. Critchfield hielt die ganze
Operation deshalb für einen Erfolg, weil es gelungen sei, Gehlen und seine Leute zu
»indoktrinieren«. Siehe Schreiben vom 25.10.1955, NA Washington RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol2_20F2, S. 14.
626 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 2.3.1972, IfZ, ED 100-69-54.

886
dent des BfV befragt werden.627 Jaeger und Erler (SPD) legten Wert darauf, den
für die Kontrolle der Geheimdienste vorgesehenen Ausschuss auf parlamen­
tarischem Wege zu installieren, was sich Adenauer aber nicht aus der Hand
nehmen lassen wollte.
Die Moskaureise des Bundeskanzlers beschäftigte Gehlen noch lange, denn
Globke wollte unbedingt seine persönlichen Eindrücke loswerden. Immerhin
hatte er anlässlich der Reise einige Persönlichkeiten der gegnerischen Führung
aus nächster Nähe kennenlernen können. Gehlen, dem eine solche Begegnung
bisher »erspart« worden war, reagierte etwas lustlos auf das Ansinnen, ließ
aber immerhin wie gewünscht einen Fragebogen für Globke entwerfen, den
dieser dann unter Benutzung eines Tonbandgeräts beantworten sollte.628
Wenig Interesse zeigte Gehlen ebenso an den begonnenen Verhandlungen
über einen Agentenaustausch, die er Eberhard Blum überließ. Das Ange­
bot war vonseiten der DDR gemacht worden und bot der Org immerhin die
Chance, sich direkt für die im Osten inhaftierten V-Leute zu verwenden, denen
die Todesstrafe drohte.629
Im Fall »Gänseblümchen« scheiterte die stille Diplomatie. Elli Barczatis,
Chefsekretärin des DDR-Ministerpräsidentin Otto Grotewohl, hatte seit 1953
Geheimdokumente an ihren Geliebten Karl Laurenz weitergegeben, in dem
Glauben, dieser benötige sie für seine journalistische Arbeit. Doch Laurenz
belieferte die Organisation Gehlen. Im März 1955 wurden beide verhaftet, in
einem Geheimprozess zum Tode verurteilt und am 23. November 1955 hin­
gerichtet. Wahrscheinlich war es auch und gerade dieser Fall, der nach der
Erinnerung der Familie bei Herta Gehlen tiefe Zweifel an der Tätigkeit ihres
Mannes auslöste. Sie gab ihm freilich auch die Möglichkeit, sich für die Flucht
von Verwandten und Bekannten einzusetzen. Gertrud Stephani war die Witwe
eines in Stalingrad gefallenen Majors, einem ehemaligen Kameraden von
Gehlen. Sie hatte 1945 den Einmarsch der Roten Armee erlebt und brachte
sich mit ihrem Sohn im thüringischen Gotha durch, bis sie sich 1955 mithilfe
der Org nach München absetzen konnte. Die traumatisierte Frau erhielt eine
Beschäftigung als Sekretärin von Kurt Weiß. Das Ehepaar Gehlen kümmerte
sich rührend um sie, um ihr eine Wohnung zu besorgen, Formalien zu erledi­
gen usw.630 Es waren persönliche Hilfestellungen, wie sie damals viele Men­

627 Schreiben Jaegers an Adenauer, 23.9.1955, VS-Registratur Bka, Bk 6: 15205(1), Bd. I,


Blatt 20.
628 Auftragszettel Gehlens betr. Moskaureise des Bundeskanzlers, 9.10.1955, BND-Archiv,
1110, Blatt 532-534
629 Siehe Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 414 – 421.
630 Es finden sich persönliche Dankschreiben von Frau Stephani an Gehlen in personenbe­
zogenen Akten, BND-Archiv, 35644; Tagebuch Weiß, 15.6.1956, BND-Archiv, N 10/4.

887
Elli Barczatis, Chefsekretärin von DDR-Minister­
präsident Otto Grotewohl, ca. 1953/54

schen von Bekannten und Verwandten erfuhren, und Reinhard Gehlen konnte
als Chef der Org vielfältig helfen. Das mag seine Frau Herta mit ihrem »Rei­
nerle« versöhnt haben, dessen heimliche Distanz als Ehemann sie sicherlich
gekränkt hat. Sie führte ihr Leben am Starnberger See ziemlich vereinsamt, so
der Eindruck einer guten Bekannten. Wenn Reinhard einmal zu Hause war,
zog er es vor, in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock seine »Kunstbücher«
zu studieren. Einfluss auf ihren Mann hatte sie offenbar nicht. Dabei hätte sie
lieber »als gütige Kommandeuse – wie man früher zu den Frauen der oberen
Offiziersschicht sagte – bei Offz.-Bällen die Aufwartung der jungen Offiziere
entgegengenommen«, anstatt als Präsidentenfrau versteckt ihr Leben in Abge­
schiedenheit an einem See zu verbringen.631
Für den Präsidenten selbst hatte Priorität, den Prozess der Überleitung in
den Bundesdienst zu beschleunigen. Er ließ bereits Vorschläge für Maßnah­
men nach erfolgter Legalisierung entwerfen.632 Dabei galt es zu berücksichti­
gen, dass sich die Verantwortung verschieben würde. Bisher hatte sie der Lei­
ter der Org für sich allein reklamiert, jetzt würde sie bei der Regierung liegen,
woraus sich wesentlich strengere Maßstäbe und weitgehendere Konsequen­
zen als bisher ergeben würden. Die Durchsetzung der Anliegen des künftigen

631 Erinnerungen Grabers von Gesprächen mit seiner BND-Sekretärin Frau Hasper, früher
in Liegnitz Nachbarin Gehlens, BND-Archiv, N 4/20, S. 12.
632 Aktennotiz o. D. [Okt. 1955] mit »Vor-Bemerkungen« und ersten Textfassungen für Auf­
gaben und Stellung des BND, BND-Archiv, 1110, Blatt 535-545.

888
BND bei den Regierungsstellen würde von der eigenen Glaubwürdigkeit und
Überzeugungskraft abhängen, die Org konnte nicht darauf setzen, dass diese
anderen Regierungsstellen ihr bereitwillig zu einer Schlüsselposition verhelfen
würden. Folgende Dringlichkeitsstufen waren vorgesehen: I. alle Fragen, die
für die Beschaffung von Auslandsnachrichten wichtig sind; II. Fragen, deren
Lösung eine erfreuliche Unterstützung und Verbreiterung der Basis ergibt;
III. Fragen, deren Lösung eine Änderung gesetzlicher Gegebenheiten usw. not­
wendig macht, sowie »Fragen, die an sich verfassungswidrig sind«.
Die administrativen Probleme überließ Gehlen lieber seinen Mitarbeitern.
Er kümmerte sich vorzugsweise um die strategisch-politischen Fragen. Dazu
gehörte zum Beispiel die Information vom »Archivrat« (Langkau) an den »Pro­
fessor« (Gehlen), Adenauer müsse ziemlich massiv angesprochen werden, weil
er die Mentalität habe, nur auf Ansprachen zu hören, hinter denen wirkliche
Machtgruppen stehen.633 Die Meinung von Einzelpersonen sei ihm ziemlich
egal. Die Meldung stammte von Dr. Gerhard Kroll, ehemals jüngerer Mitschü­
ler Gehlens in Breslau, Mitbegründer der CSU, aus dessen »Abendländischem
Manifest« der Spiegel gerade Auszüge abgedruckt und als verfassungsfeindlich
eingestuft hatte. Kroll, der im Bereich des Strategischen Dienstes innerhalb der
Org die Vatikanmeldungen vom Gehlen-Halbbruder Johannes redigierte, habe
mitgeteilt, dass die Jesuiten bedenklich gestimmt seien, dass die Entscheidung
über den »fähigsten Nachrichtendienst Europas« noch immer nicht gefallen
sei. Er schlug vor, dass Pater Rösch einen unmittelbaren Vortrag von Pater Lei­
ber, dem Beichtvater des Papstes, auslöst und der Apostolische Nuntius Aloy­
sius Muench dann Weisung erhält, bei Adenauer vorzusprechen. Muench habe
den Vorteil, dass er Amerikaner sei und sowohl die katholische wie auch die
US-Auffassung vortragen könne. Das konnte sicher hilfreich sein und wäre ein
Vorgehen so ganz nach dem Geschmack von Gehlen.
Wenige Tage später half auch ein Schreiben von Verteidigungsminister
Blank an den Kanzler, der in vier Wochen die ersten Freiwilligen der Bundes­
wehr vereidigen wollte und darum bat, das Verfahren zur Übernahme der Org
zu beschleunigen.634 Nützlich konnte auch ein Anerkennungsschreiben von
SHAPE für den ersten regelmäßigen Intelligence Report von deutscher Seite
sein. Die Offiziere der Intelligence Division hätten ihn sorgfältig geprüft, hieß
es, und als bestens eingestuft – in jeder Hinsicht.635 Das zeugte davon, dass sich
Gehlen auf die Auswertung in seinem militärischen Bereich unbedingt verlas­
sen konnte, auch wenn die Beschaffung entsprechender Nachrichten nicht

633 Schreiben Langkaus an Gehlen vom 21.10.1955 (erwähnt in einer Studie vom 22.9.1982),
BND-Archiv, 42507.
634 Schreiben Blanks an Adenauer, 25.10.1955, VS-Registratur Bka, Bk 1:15100.
635 Schreiben SHAPE an den deutschen militärischen Repräsentanten, 18.11.1955, ebd.

889
leichter geworden war. Der Militärsektor in Pullach organisierte Ende Novem­
ber 1955 eine Arbeitstagung, bei der die Führungsgrundsätze der Bundeswehr
anhand von kriegsgeschichtlichen Erfahrungen aller Wehrmachtsteile unter
Heranziehung der neueren und neuesten Entwicklungen (ABC-Waffen) im
kleinen Kreis diskutiert wurden.636 Die Öffentlichkeit hatte sich beunruhigt
gezeigt, als beim Manöver »Carte Blanche« der taktischen NATO-Luftstreit­
kräfte im Juni angenommen worden war, dass 268 eigene Atomsprengkörper
auf deutschen Boden fallen und mit 1,7 Millionen Toten sowie 3,5 Millionen
Verwundeten zu rechnen wäre. Im Hintergrund schwelte der Streit um die
Bedeutung der atomaren Bewaffnung, der die Geschichte der Bundeswehr
von ihren Anfängen bis zum Ende des Kalten Krieges drei Jahrzehnte später
belastete.637
Es sind zu diesem Thema keine kritischen Äußerungen von Reinhard Geh­
len bekannt. Sein Vertrauen zur atomaren Weltmacht USA und die damals
unter ehemaligen und aktiven Militärs verbreitete Vorstellung, Atomwaffen
seien gleichsam die Weiterentwicklung der Artillerie, dürften dem ehemali­
gen Artilleristen Gehlen mögliche Zweifel verwehrt haben. Es gehörte zudem
nicht in seinen unmittelbaren Zuständigkeitsbereich. Operative Planungen
im Kriegsfall, denen noch vor zehn Jahren seine Leidenschaft gegolten hatte,
beschränkten sich jetzt für ihn auf die Frage einer rechtzeitigen Evakuierung
seiner Organisation, insbesondere der Zentrale, inklusive der Familienangehö­
rigen des Leitungspersonals.
Ein anderer Streitfall im militärischen Bereich, der die Geschichte der Bun­
deswehr prägen sollte, betraf Gehlens Aufgabenfeld durchaus auch direkt. Für
die Einstellung ehemaliger Wehrmachtsoffiziere in die Bundeswehr war ein
Personalgutachter-Ausschuss (PGA) geschaffen worden, eine in der Frühge­
schichte der Bundesrepublik einzigartige Einrichtung zur – auch politischen -
Überprüfung einer ehemaligen Elite des NS-Regimes. Die Sorge in den USA
sowie in Teilen der politischen Öffentlichkeit in Deutschland vor einer Beschäf­
tigung von NS-belastetem Personal in der Org hatte Gehlen in den vergange­
nen Jahren immer wieder zu schaffen gemacht. Ein ähnlicher Ausschuss wie
jetzt in Bonn hätte ihm die Verantwortung erleichtern können. Doch Personal­
politik betrachtete er als sein exklusives Recht. Durch die Prüfung der Bewer­
ber durch die Bundeswehr waren nicht wenige Mitarbeiter der Org betroffen,
die sich entschlossen hatten, wieder die Uniform anzuziehen. Gehlen musste

636 Schreiben Worgitzky an Halder, 15.11.1955, BA-MA, N 220/79.


637 Drei Monate nach der »kleinen Runde« in Pullach wurde die Heeres-Dienstvorschrift
100/2 »Führungsgrundsätze des Heeres im Atomkrieg« (März 1956) in Kraft gesetzt,
die – entgegen den Warnungen Heusingers – ziemlich unbefangen mit dem Einsatz von
Atomwaffen umging; siehe Meyer, Heusinger, S. 496.

890
also ein Interesse daran haben, dass seine Leute nicht aus politischen Gründen
auf Ablehnung stoßen und dann wieder nach Pullach zurückkehren würden.
Das wäre für das Image des BND nicht gerade günstig gewesen. Gehlen wurde
daher zu einem »tatkräftigen« Unterstützer des Ausschusses. Gegenüber Gor­
don Stewart erklärte er, die Arbeit des PGA sei ein sinnvolles Vorgehen, um
sicherzustellen, dass die Führer der neuen deutschen Armee sorgfältig ausge­
wählt würden, auch wenn es erst kürzlich wieder Streit um vier hochrangige
Offiziere des ehemaligen Amts Blank gegeben habe. Diese seien nach seiner
Meinung Ehrenmänner mit vielfältigen Erfahrungen. Man hätte den Ausschuss
besser schon vor drei Jahren gebildet.638
Die grundsätzliche Entscheidung der politischen Führung zu einem solchen
Verfahren hatte er nicht zu hinterfragen. Da hielt er sich im Zweifel bedeckt.
Die offizielle Anerkennung der Org verzögerte sich unter anderem wegen der
ungeklärten Abgrenzung der Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Spionagebe­
kämpfung. Die Innenministerkonferenz drängte auf eine rasche Entscheidung.
Adenauer hatte sich persönlich vorbehalten, ob die Zuständigkeit weiterhin
beim BfV liegen oder an den BND übertragen werden solle. An sich stimmte
er der Auffassung von Bundesinnenminister Gerhard Schröder zu, dass Spio­
nagebekämpfung und Verfassungsschutz gegenüber dem Osten eng zusam­
menhingen.639 Doch es sollte keine starre Zuständigkeitsregel geben, darum
hatte Gehlen erfolgreich gebeten, um seinen Dienst schützen zu können und
die Jagd auf die »Rote Kapelle« nicht aus der Hand zu geben. Dessen ungeach­
tet ließ der »Doktor« in der Zentrale bereits einen Arbeitsstab »Index« bilden,
der sich um die Beschaffung von Material und die Bespitzelung der diploma­
tischen und anderer sowjetischer Vertretungen in der Bundesrepublik küm­
mern sollte.640 Der Streit um die Zuständigkeiten mit dem BfV wurde zu einem
Dauerthema der nächsten Jahre.641
In seinem Bemühen, Einbrüche in den bisher von ihm eigenmächtig abge­
steckten Aufgabenbereich der Org zu verhindern oder zumindest abzuriegeln,
ließ Reinhard Gehlen nicht nach. Hier konnte er zäh und hartnäckig sein. Am
meisten bedroht war immer noch und immer wieder sein militärischer Bereich.
So nutzte er die Gelegenheit, um anlässlich des bevorstehenden Besuches des
G-2 der US Army in Pullach dem politisch angeschlagenen Verteidigungsmi­

638 Memo Gordon M. Stewarts für Assistent Chief of Staff, G-2, Department of the Army,
22.12.1955, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol2_20F2, S. 23.
639 Schreiben Schröders an Adenauer, 18.11.1955, und Notiz Adenauers für Globke,
21.11.1955, VS-Registratur Bka, Bk 10200/8 Bd. 1, Blatt 1-4.
640 Eintrag vom 4.1.1956, BND-Archiv, 4320.
641 Zur Spionageabwehr beim BfV Mitte der 1950er-Jahre siehe Goschler/Wala, »Keine
neue Gestapo«, S. 103-107.

891
nister Blank eine Arbeitsteilung vorzuschlagen, wie sie seinen Interessen ent­
sprach.642 Im Verteidigungsministerium sollte eine Abteilung Dokumentation
(J-2) unter Leitung von Oberstleutnant Horst Nitschmann gebildet werden.
Dieser wäre Leiter der militärischen Auswertung nach Weisung des Verteidi­
gungsministers. Im Frieden werde das Ministerium keine militärische Nach­
richtenbeschaffung betreiben. Das sei im Rahmen der Gesamtaufgaben Sache
des BND nach Weisungen und Forderungen des Verteidigungsministeriums.
Die Verbindungen der US-Streitkräfte würden zum J-2 des Ministeriums lau­
fen, geführt durch das Intelligence Committee der US-Botschaft unter dem
Vorsitz des CIA-Vertreters, die geheimdienstlichen Verbindungen des BND zu
befreundeten Nachrichtendiensten direkt vom BND. Die künftigen Militäratta­
ches würden dabei nicht eingebunden.
Darüber hinaus fand Gehlen auch Zeit für seine persönlichen Interessen,
etwa Gespräche mit Jürgen Thorwald, einem dem BND verbundenen Journa­
listen, die in eine Serie »Der Mann im Dunkeln« der Zeitung Die Welt flossen.
Darin bestritt Gehlen, SS-Leute engagiert zu haben, und berief sich auf Sam
Bossard, den amerikanischen Geheimdienstreformer, der ihm 1947 gesagt habe,
Spionage sei ein schmutziges Geschäft, das man nur als Gentleman betreiben
könne.643 Der »Gentleman« nutzte die Verbindung zum Pullacher Chief of Base,
um für seine Tochter einen College-Besuch in den USA zu arrangieren.644
Dabei häuften sich die dienstlichen Fragen, die in Bonn geklärt werden
mussten und nicht bis zur bevorstehenden Übernahme warten konnten, die
nach voreiligen Pressemeldungen bereits auf den 1. Februar 1956 terminiert
worden sei.645 Globke bemühte sich um eine beschleunigte Durchführung
der Legalisierung der Org auf besondere Weise. Das Kanzleramt erklärte dem
Finanzministerium, dass eine Finanzierung der Org durch die USA ab 1. Feb­
ruar nicht mehr erfolgen werde und deshalb der Bund die Kosten zu überneh­
men habe, »anderenfalls die Verantwortung für eine evtl. Arbeitsunfähigkeit
der ORG vom Finanzminister getragen werden muss«.646

642 Vortragsnotiz Gehlens für Blank, 1.2.1956, BND-Archiv, 4320.


643 Die Serie erschien in den Ausgaben vom 16., 25.12.1955 und 1.1.1956; Übersetzung in
NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol2_20F2, S. 25.
644 Memo vom 9.2.1956, ebd., S. 41.
645 Gehlen-Dienst wird übernommen, Frankfurter Rundschau vom 12.1.1956. Auch die CIA
hatte sich bereits auf diesen Termin eingestellt und rechnete damit, dass die Finanzie­
rung des BND ab 1. Februar durch die Bundesregierung erfolgen würde; siehe Pullach to
Director, 2.2.1956; in: Ruffner (Hg.), 1949-56, Bd. 2, S. 572. Tatsächlich zahlte das Bun­
desfinanzministerium ab Februar 2,25 Millionen D-Mark Vorschuss an die Amerikaner
zurück, den die CIA für Gehlen bereitgestellt hatte.
646 Abschrift eines Fernschreibens vom Verbindungsbüro Bonn an Gehlen, 18.1.1956, BND-
Archiv, 1110, T. 2 (ohne Paginierung).

892
Eine mehrtägige Dienstreise mit einer Fülle von Themen und Terminen
trieb Gehlen bis zur Erschöpfung.647 Da ging es unter anderem um die Abgren­
zung zum BfV,648 Personal- und Stellenfragen, den künftigen Verteiler für die
Materialien des BND, die Verbindung zum Verband der Landsmannschaften
usw. Und Gehlen erhielt problematische Aufträge. Minister Oberländer hatte
Hinweise erhalten, dass gegen ihn ein diffamierender Rundfunkbericht geplant
sei. Ob der BND das nicht verhindern könne? In der Revue sei eine gehässige
Seite über Verteidigungsminister Blank abgedruckt. Blank bat um Auskunft
über die Hintermänner. Minister Strauß hatte Fragen zu »Ochsensepp«, sei­
nem politischen Ziehvater nach Kriegsende.649 Hinzu kamen ein belangloses
Mittagessen mit dem britischen Botschafter und ein Fernschreiben aus Pull­
ach über die letzten Schauprozesse in Ost-Berlin, die unter den eigenen V-Leu­
ten für äußerste Nervosität sorgten.
Die bevorstehende offizielle Übernahme der Org zum 1. April 1956 ließ Geh­
len daran denken, erneut in die USA zu reisen, nun freilich als legitimer Leiter
eines deutschen Nachrichtendienstes, der als Freund und Partner kommen
würde, nicht mehr als Gehalts- und Befehlsempfänger der Amerikaner. Beab­
sichtigt war eine zwölftägige Reise Ende April, auf der Hinfahrt von Le Havre
mit dem Schiff, zurück mit dem Flugzeug, begleitet von zwei Mitarbeitern,
die mit ihrem richtigen Namen reisen würden, er selbst wie stets mit Deck­
namen.650 Die Reise fiel allerdings ins Wasser.
Mit der Abwicklung der US-Finanzierung verließ auch die CIA-Aufsicht
Pullach und sah ihre Treuhandschaft über die Org als beendet an. Das US-
Personal zog in die Münchener McGraw-Kaserne als künftiger Verbindungs­
stab. Um die privilegierte Position der CIA gegenüber dem BND zu bewahren,
komme es darauf an, die Verbindung zu Pullach »in einer sehr diskreten und
unauffälligen Art und Weise« zu halten, hieß es im Abschlussbericht für den
CIA-Chef.651

647 Notiz zur Reise Gehlens nach Bonn 22.- 24.2.1956, BND-Archiv, 4320.
648 Am 2.2.1956 hatte dazu eine Besprechung unter Anwesenheit von Gehlen stattgefun­
den. Man verständigte sich darauf, dass die Spionagebekämpfung Sache des BfV sein
sollte, der BND sollte bei der Gegenspionage aktiv bleiben. Gehlen verlangte, dass die
Entsendung von V-Leuten ins »Feindland«, das heißt die DDR, von seiner Zustimmung
abhängig sein sollte – seinen engen Mitarbeiter Felfe dürfte es gefreut haben. Siehe
Notiz vom 23.2.1956, VS-Registratur Bka, Bk 10200/8 Bd. 1, Blatt 9.
649 Notiz über den Besuch Gehlens in Bonn 22.- 24.2.1956,27.2.1956, BND-Archiv, 4320.
650 Meldung vom 29.2.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol2_20F2, S.45.
651 Memorandum for Director of Central Intelligence vom 15.5.1956; in: Ruffner (Hg.),
1949-56, Bd. 2, S. 586.

893
In einem bilanzierenden Überblick der CIA wurden Kosten von insgesamt
25 Millionen Dollar seit 1949 aufgelistet.652 Auch künftig werde die CIA gewisse
Aktivitäten des BND, die im US-Interesse lägen und für die keine deutschen
Gelder zur Verfügung stünden, weiterfinanzieren (zum Beispiel das Stay-
behind-Programm, Kommunikationstechnik). Auf personellem Gebiet habe
die CIA die Org mit der Finanzierung von insgesamt 2490 Mann unterstützt,
davon etwa die Hälfte Stabspersonal, sowie jeweils rund 600 Agenten westlich
bzw. ostwärts des Eisernen Vorhangs. Als Gewinn für die Amerikaner wurde
benannt: ca. 5000 Berichte jährlich mit Erkenntnissen im militärischen, ökono­
mischen, wissenschaftlichen, technischen und politischen Bereich; wertvolle
Informationen zur Gegenspionage über den Sowjetblock, die nicht zahlen­
mäßig bewertet werden könnten; Ergebnisse der Funk- und Fernmeldeauf­
klärung, die von deutscher Seite betrieben wurde; eine beachtliche Summe
von Kenntnissen und Erfahrungen zu den deutschen nachrichtendienstlichen
Operationen, und die CIA habe sicherstellen können, dass sie auch künftig das
gesamte Nachrichtenmaterial über den Ostblock erhalten werde. Im Gegenzug
habe die deutsche Seite von der Zusammenarbeit profitiert, weil sie über Jahre
eine finanzielle und rechtliche Abdeckung erhalten habe und einen wohlaus­
gestatteten Nachrichtendienst aufbauen konnte. Sie habe zudem in einem
beträchtlichen Ausmaß von einer direkten technischen und logistischen
Unterstützung durch die weit überlegene CIA profitiert.
Critchfield berichtete Allen Dulles von einem persönlichen Gespräch mit
Gehlen, um das dieser ihn gebeten hatte.653 Er war gerade von einer anstren­
genden Reise nach Bonn zurückgekehrt, sei erkältet gewesen und – unge­
wöhnlich für Gehlen – habe einen müden Eindruck gemacht. Er habe eine
bedeutsame Angelegenheit von einiger Sensibilität diskutieren wollen. »Uti­
lity« (Gehlen) glaube, dass sich die allgemeine politische Lage in Europa ver­
schlechtere. Nach seiner Meinung bewege sich die Entwicklung in Frankreich
und Italien zur Wiederherstellung einer Volksfrontregierung hin. In der Bun­
desrepublik könnten wachsende politische Schwierigkeiten zu einem ziemlich
drastischen Wechsel in der Zusammensetzung der Regierung führen, wenn
Adenauers Führung ausfallen sollte. Obwohl Gehlen davon ausgehe, dass die
deutsche Bevölkerung unempfindlich gegenüber dem Kommunismus sei und

652 Memorandum for Chief of Operations vom 10.5.1956, ebd., S. 584 – 585.
653 Chief of Station Pullach für Director Kubark, Attn. »Robert A. Ascham« (Dulles),
13.3.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol2_20F2, S. 46.
Spiegel-Online berichtete am 11.5.2002 mit der Überschrift »BND-Chef Gehlen plante
Staatsstreich« nach der Freigabe dieses Dokuments über den Vorgang. Weder konnte
Critchfield als Ansprechpartner identifiziert werden, noch war bekannt, ob es zu dem
von Gehlen vorgeschlagenen Gespräch »in Washington« gekommen ist.

894
kaum eine Volksfrontregierung akzeptieren würde, sei er überzeugt, dass die
kommunistische Durchdringung wesentlicher Teile der Gesellschaft ein enor­
mes Ausmaß angenommen habe, dessen Umfang letztlich niemand genau
kenne. Er sei nicht optimistisch, dass sich ein ausreichender Widerstand gegen
eine neutralistische politische Strömung bilden würde, eine Verbindung von
Sozialisten mit den Anti-Adenauer-Elementen auf der Rechten. Eine solche
Koalition wäre fast so verheerend wie eine Volksfrontbewegung.
Er betonte, dass er das Problem als nicht akut ansehe, aber dass sich der
gegenwärtige Trend umkehren könnte, wenn eine große Koalition nach einem
Abgang Adenauers von der politischen Szene entstehen würde. Er thematisiere
das Problem zu diesem speziellen Zeitpunkt wegen seines bevorstehenden
Besuches in Washington und weil er das Problem persönlich mit »Ascham«
(Dulles) diskutieren wolle. »Utility« sei überzeugt, dass er als Chef von Pullach
eine neutralistisch-nationalistische Regierung nicht überleben würde, in der
die drei Personen Herbert Wehner (SPD), Otto Lenz (CDU) und Josef Müller
(CSU) an der Macht wären. Eine solche Regierung wäre verwundbar gegenüber
einer politischen Infiltration und eventuellen Kontrolle durch den Osten. Ihre
Etablierung würde den Beginn einer Periode markieren, in der sich »Utility«
moralisch berechtigt sähe, alle möglichen Aktionen zu unternehmen, ein­
schließlich des Aufbaus eines illegalen Apparates in der Bundesrepublik, um
jenen Elementen Widerstand zu leisten, die eine prosowjetische Politik unter­
stützen. Er würde gern mit »Ascham« einen solchen Eventualplan diskutieren
und bitte um die Gelegenheit, dies in aller Verschwiegenheit bei seinem Besuch
in Washington tun zu können. Er führte weiter aus, dass er die Hoffnung habe,
dass eine solche Aktion niemals notwendig werde und dass er weitere acht
Jahre als Chef von Pullach haben werde (er dachte offenbar daran, sich mit 62
pensionieren zu lassen), um seine Organisation systematisch zu entwickeln -
entlang professioneller Linien, gestützt auf das Gesetz oder Beschlüsse des
Parlaments sowie die feste Verbundenheit der Regierung mit dem Westen.
Dieses geheime Angebot von Gehlen, in Absprache mit dem CIA-Chef
im Falle einer Art »Finnlandisierung« Deutschlands gemeinsam gegen die
gewählte Regierung vorzugehen, überrascht in mindestens zweierlei Hin­
sicht. Es stellt sich die Frage, was Gehlen, der für sich beanspruchte, Patriot
und loyaler Offizier zu sein, zu einer derartigen verfassungsfeindlichen Hal­
tung veranlasst haben könnte, der Bereitschaft, der eigenen Regierung mithilfe
einer fremden Macht gegebenenfalls in den Rücken zu fallen. Da er mit seinem
Gedankenspiel in Rechnung stellte, bei einer großen Koalition seinen Posten in
Pullach zu verlieren, und sich das Recht zusprach, jedes Mittel zu benutzen, um
einen neutralistischen Regierungskurs zu bekämpfen, ist anzunehmen, dass er
mit gleichgerichteten verdeckten Operationen der CIA rechnete, denen er sich
mit illegalen Aktionen anschließen würde. Sein weitgestecktes Netzwerk an

895
Beziehungen bis in die Führungsspitze der Bundeswehr sowie die vorbereitete
geheime Stay-behind-Truppe würden ihm mancherlei Möglichkeiten bieten.
Was mag Gehlen also bewogen haben, derartig radikalen Gedanken nach­
zugehen? »Treue« zu seinem verehrten Kanzler Adenauer wird es bei einem so
nüchternen Machtmenschen wie Reinhard Gehlen allein wohl kaum gewesen
sein. Er selbst nahm Bezug auf eine angeblich besorgniserregende innenpoli­
tische Konstellation, die zur Bildung einer Großen Koalition, das heißt einer
Koalition unter Einbeziehung der SPD, führen könnte. Hier zeigt sich, dass
Gehlens Kontakte zu einigen sozialdemokratischen Führungspersönlichkei­
ten offenbar nicht einem Respekt vor demokratischen Regeln entsprangen,
sondern erzwungen waren durch den Wunsch und die innenpolitischen Inte­
ressen seines Kanzlers.
Im Kern handelte es sich bei dieser ungewöhnlichen Intrige Gehlens im
März 1956 anscheinend um einen Reflex auf die Sorge des Kanzlers, der gerade
seinen 80. Geburtstag gefeiert hatte, dass seine Koalition mit der FDP über
außenpolitische Fragen platzen könnte. Er versuchte vergeblich, mit einer
Wahlrechtsreform dem kleinen Koalitionspartner das Wasser abzugraben.
Nachdem im Düsseldorfer Landtag die FDP zum Sturz des CDU-Ministerprä­
sidenten beigetragen hatte und es auf Bundesebene zu einer vorübergehenden
Spaltung der Partei kam, schien die Bonner Koalition gefährdet.654 Als Alterna­
tive kam eine große Koalition ins Gespräch, für die vor allem die CSU offen zu
sein schien. Mit einer Kabinettsumbildung und der Hereinnahme von Strauß
als neuem Verteidigungsminister löste Adenauer das Problem am 16. Okto­
ber 1956.655 Die innenpolitische Konfrontation flammte jedoch um die Kam­
pagne der Opposition für eine atomwaffenfreie Zone in Europa immer wieder
auf, die eine Herauslösung der beiden deutschen Staaten aus den Bündnissys­
temen als Weg zur Wiedervereinigung für gangbar hielt.
Gehlen zeigte in dem Ringen Adenauers um den Zusammenhalt der Regie­
rungskoalition offenbar vorübergehend Wirkung. Immerhin hatte sich der
Kanzler schon einmal bei Globke über die ihm eventuell zustehenden Pensi­
onsbezüge informiert.656 Vielleicht war es eine solche Information, die Gehlen
veranlasste, Zuflucht bei der CIA zu suchen – eine Haltung, die sich bei ihm
Anfang der 1970er-Jahre nach seiner Pensionierung im Kampf gegen die Ostpo­
litik bzw. die von ihm befürchtete »Sozialdemokratisierung« seines Dienstes
wiederholte.

654 Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 9, S. 16-22.


655 Zum politischen Hintergrund siehe Hans-Peter Schwarz: Adenauer, Bd. 2: Der Staats­
mann. 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 249-280.
656 Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer, Bd. 2: Epochenwechsel. 1957-1963 (= Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3), Stuttgart 1983, S. 19.

896
Gehlen erklärte im März 1956 seine Haltung vordergründig mit der zuneh­
menden Gefahr einer kommunistischen Unterwanderung der Bundesrepublik
und der Ausdehnung des sowjetischen Einflusses in Europa. Angesichts der
tatsächlichen politischen Entwicklung kann diese krasse Fehleinschätzung des
angeblich besten Spionagechefs auf dem europäischen Kontinent nur erstau­
nen. Im Februar hatte in Moskau der XX. Parteitag der KPdSU stattgefunden.
Er stärkte die Position von Parteichef Nikita Chruschtschow und seine außen­
politische Linie einer »friedlichen »Koexistenz«. Chruschtschow leitete zudem
mit seiner geheimen Rede auf dem Parteitag eine Entstalinisierung des Sowjet­
systems ein, einschließlich eines weiteren Truppenabbaus in Mitteleuropa.657
In den folgenden Monaten kam es sogar zu schweren Erschütterungen des
sowjetischen Imperiums durch Aufstände in Polen und Ungarn. Und im Jahr
darauf errang Adenauer bei der Bundestagswahl den größten Wahlsieg in der
Geschichte der CDU.
Wieder zeigt sich, dass Gehlen mit düsteren Prognosen über das angebliche
Vordringen des Kommunismus eigene politische Ambitionen kaschierte. Die
Reaktion in Washington auf das merkwürdige Angebot des Reinhard Gehlen,
das nicht aus einer südamerikanischen Hauptstadt, sondern aus den bayeri­
schen Wäldern bei Pullach kam, ist nur indirekt zu erschließen. Die für Ende
April geplante USA-Reise wurde abgesagt – die Gründe sind nicht bekannt.
Das von Gehlen gewünschte Treffen mit Dulles fand erst am 27. August 1956 in
Frankfurt am Main statt.
Critchfield, der Gehlen wie kein anderer kannte, verließ nach der Aufhe­
bung des Besatzungsstatuts Deutschland und leitete bis 1961 die Osteuropa­
abteilung der CIA, blieb damit in der Zuständigkeit auch für den BND, und
übernahm anschließend die Abteilung für den Mittleren Osten. Seine Pull­
acher Erfahrungen erwiesen sich dabei sicher als nützlich. Er wusste nur zu
genau, was er von Gehlen und seinen Männer erwarten konnte. Sein letzter Tag
in Pullach war besonders merkwürdig gewesen. Pünktlich zum Dienstschluss
am 31. März 1956, einem kalten, grauen Tag, verließ er als Letzter das Büro
im »Weißen Haus«, das am nächsten Tag zu Gehlens »Doktorhaus« werden
würde. Critchfield beobachtete das Niederholen der US-Flagge.658 Er hatte den
Eindruck, der Einzige zu sein, der das bisher tägliche Ritual beobachtete. Geh­
len befand sich in Bonn. Seinen Stab hatte er angewiesen, dieses Ereignis nicht
zu feiern. Auch öffentlich wurde über die Gründung des BND kein Aufheben
gemacht.

657 Siehe Wagner/Uhl, BND contra Sowjetarmee, S. 82.


658 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 226 – 227.

897
Nachfolger Critchfields in Pullach wurde in München Tom Lucid, ein erfah­
rener Nachrichtenmann mit heiterem Gemüt und einer geselligen Lebensart.
Wenn Gehlen doch einmal zu einer der zwangslosen Partys erschien, gab er
sich als freundlicher, angenehmer Beobachter der heiteren Gesangseinlagen
seines neuen Aufpassers. Im Mai 1956 lud er Critchfield und dessen Frau zum
Kaffee in sein Haus in Berg ein. Beide Seiten zeigten sich zufrieden über den
erreichten Erfolg und Gehlen überreichte die Sankt-Georgs-Medaille, die neue
Verdienst- und Erinnerungsmedaille des BND. Zum Schluss bat er darum, dass
sich Critchfield um seine Tochter Katharina kümmern möge, die sich in ein
New Yorker College einschreiben lassen wollte. Es begann, wie Critchfield in
seinen Erinnerungen berichtet, eine lange und enge Beziehung zu Herta Geh­
len und ihren vier Kindern. Katharina sei häufig in seinem Landhaus im Nor­
den Virginias zu Gast gewesen und sei ein Teil der Familie geworden.659
Gehlen hatte sich rasch wieder von seinen düsteren Gedanken erholt, denn,
wie sich bald erwies, saß der Kanzler fest im Sattel und das Störfeuer in Bonn
behinderte nicht den Übernahmeprozess für den BND. Der künftige Präsident
sorgte zunächst dafür, dass eine interne Kommission die derzeitige Aufgaben­
verteilung und Arbeitsweise eingehend erfasste. Auf dieser Grundlage wollte
er dann organisatorische und Führungsmaßnahmen treffen, um die Org für
ihre künftigen Aufgaben zu ertüchtigen.660 Darüber hinaus musste die Zustän­
digkeit auf dem Gebiet der Abwehr und Bekämpfung fremder Nachrichten­
dienste zwischen BND und BfV geregelt werden.661 Die Personalabgabe an die
Bundeswehr durch den BND bedurfte immer wieder der Eingriffe Gehlens, der
zum Beispiel vom Personalgutachter-Ausschuss um eine eingehende Beur­
teilung der Bewerber gebeten wurde. Schließlich erhielt er überraschend von
Verteidigungsminister Strauß die Einladung zur Teilnahme an einem Vortrag,
die Gehlen annahm, und so die angespannten Beziehungen zu dem ehrgeizi­
gen Bonner Minister wieder etwas verbesserte. Und dann erteilte Globke sein
Einverständnis zur Beschaffung und Verwendung eines Dienstsiegels mit der
Aufschrift »Der Bundesnachrichtendienst«, was seiner neuen offiziellen Funk­
tion erst das richtige bürokratische Aussehen verschaffte.662 Nun hatte Rein­
hard Gehlen nach zehnjährigem unermüdlichen Ringen voller Kompromisse,
Rückschläge und Teilerfolge sein Ziel als politischer Akteur erreicht. Aus dem
namenlosen Bürogeneral der Wehrmacht war ein Präsident geworden, Chef
einer der größten Bundesbehörden und einflussreicher Berater des Kanzlers.

659 Ebd., S. 228-229.


660 Internes Schreiben zur Anordnung Gehlens, 14.3.1956, BND-Archiv, N 23/1.
661 Notiz, 19.3.1956, und Vermerk des Abt. VI des Bka über die endgültige Besprechung am
25.4.1956, VS-Registratur Bka, Bk 10200(8), Bd. 1, Blatt 12-15.
662 Notiz, 22.3.1956, BND-Archiv, 4320.

898
IV. Der Präsident
1. Der »Doktor« wird Präsident (1956)

Zum Beginn des Rechnungsjahres am 1. April 1956 konnte die Aufstellung


des Bundesnachrichtendienstes wirksam werden. Reinhard Gehlen hätte nun
eigentlich nach einem Jahrzehnt als »Freikorps«-Führer in US-Diensten die
Hände in den Schoß bzw. die Leitung der Org abgeben können. Mit 54 Jah­
ren gehörte er im Vergleich zu dem 80-jährigen Bundeskanzler aber noch zu
den »jüngeren« Vertretern der Kriegsgeneration, deren selbstgestellte Aufgabe
mit der Erringung der Souveränität für die Bundesrepublik noch längst nicht
erfüllt war. So hatte sicher auch Gehlen das Gefühl, keineswegs zum alten
Eisen zu gehören, zumal ihm noch einige Jahre bis zu einer regulären Pensio­
nierung fehlten – seine Verbeamtung, Einstufung und die Anrechnung seiner
Jahre in US-Diensten standen noch aus und stellten für ihn wie für alle seine
Mitarbeiter keine geringe Sorge dar.
Seine Überzeugung, einer Fürsorgepflicht für die Mitarbeiter folgen zu
müssen, dürfte auch zu den Motiven gehört haben, um sich in den nächs­
ten zehn Jahren dem Ausbau und der Festigung des Bundesnachrichten­
dienstes zu widmen. Aber es ging vor allem um sein Lebenswerk. Er war der
Chef einer ungewöhnlichen Gemeinschaft, die er gleichsam unter schweren
Wehen auf die Welt gebracht und am Leben erhalten hatte, ein erstaunli­
cher Erfolg, wenn man die Ausgangslage und die Umstände der vergangenen
Jahre bedenkt. Für das berechtigte Gefühl der Befriedigung ließ ihm seine
nüchterne Haltung wohl wenig Raum. Sein BND befand sich mitten im Ein­
satz und nach Gehlens Selbstverständnis stellte die offizielle Überführung
der Org in den Bundesnachrichtendienst keinen Bruch dar, sondern bedeu­
tete eine natürliche Weiterentwicklung des seit 1946 unter seiner Führung
existierenden »deutschen« Nachrichtendienstes. Diese von ihm geschaffene
Gründungslegende blieb unangefochten und die Grundlage für die vermeint­
liche Kontinuität.
Tatsächlich vollzogen sich die stärksten Veränderungen im personellen
Bereich. Der BND übernahm zwar einige Elemente des früheren Heinz-Diens­
tes aus dem jetzigen Verteidigungsministerium, verlor aber schrittweise einen
beträchtlichen Anteil des eigenen Personals an die Bundeswehr. Es handelte
sich – neben den in der Org »geparkten« und mit allerlei Scheinaufgaben
beschäftigten Offizieren – um eine ganze Reihe von bewährten und qualifi­
zierten Org-Angehörigen, die es vorzogen, wieder die Uniform anzuziehen und
in den regulären Militärdienst zurückzukehren. Diese Abgänge mussten mög­
lichst rasch durch jüngere Bewerber ersetzt werden. Die »Neuen« waren ein­
zuweisen und anzulernen, um ihre nachrichtendienstlichen Aufgaben erfüllen
zu können. Aus der sprunghaften und willkürlichen Personalbeschaffung der
Org-Zeit musste sich ein geregeltes Personalwesen entwickeln, das sich, unter

901
Berücksichtigung von Besonderheiten des Nachrichtendienstes, in den gere­
gelten Bundesdienst einordnete.
Auf diesem Felde lauerte einiges Konfliktpotenzial, das den BND im nächs­
ten Jahrzehnt wie kaum ein anderes Thema beschäftigte. Gehlens Versuch,
hier sein privilegiertes Entscheidungsrecht zu verteidigen, war auf längere
Sicht zum Scheitern verurteilt, aber sein zähes Festhalten an einem autori­
tären Führungsstil und willkürlichen Personalentscheidungen verzögerte die
notwendige Modernisierung des Personalwesens. Dass Gehlen zunächst sei­
nen Schwager Seydlitz-Kurzbach zum Personalchef machte, verhinderte nicht
die Konflikte. Dieser bewies wieder einmal seine Standfestigkeit, musste frei­
lich hinnehmen, dass er sich mit dem Einfluss der Chefsekretärin und Gelieb­
ten Gehlens letztlich nicht messen konnte.1
Was Gehlen im Zusammenhang mit dem Einbau in die Verwaltungsstruk­
turen, neben Fragen wie etwa die Zuordnung von Planstellen der Offiziere,
besonders interessierte, war die Platzierung des BND innerhalb des Regie­
rungsapparats. Hier kämpfte er bis Mitte der 1960er-Jahre darum, dass der
Dienst nicht als bloße Oberbehörde behandelt, sondern zumindest teilweise
als Ministerialabteilung auf der Ebene des Kanzleramts verankert wurde. Er
verwies darauf, dass CIA-Chef Dulles Ministerrang hatte. In den Verhandlun­
gen mit dem Finanzministerium fand er dafür wenig Verständnis, zumal er
dezent darauf verwies, dass der britische Geheimdienst etwa das Zehnfache
der Finanzausstattung des BND erhalte.2 Die offizielle »Zuordnung« zum
Kanzleramt blieb freilich bis 1963 eine dehnbare Regelung, die Globke und
den Kanzler nicht mit der direkten Verantwortung belastete sowie für Gehlen
Freiräume ließ.
Die Neuaufstellung des BND als einheitlichen Auslandsnachrichtendienst
für den selbstständigen globalen Einsatz war eine weitere Herausforderung,
der sich Gehlen stellen musste. Doch auch hier mangelte es ihm an Inspira­
tionen, Impulsen und konzeptionellen Entwürfen. Die Selbstständigkeit des
Operierens, ohne Lenkung bzw. Beratung durch die CIA, sah er als Chance an.
Nun konnte er beweisen, dass er der fähigste europäische Spionagechef war.
Allerdings hatten seine Ansätze, die politische Aufklärung, die gegenüber der
Militäraufklärung von Anfang an ein Schattendasein im Dienst führte, per­
sonell aufzustocken und durch persönliche Lenkungsimpulse zu größeren
Erfolgen zu führen, bislang keine überzeugenden Ergebnisse gebracht. Den

1 Stellungnahme von Seydlitz-Kurzbach zu »offenen Fragen« des Archivleiters »Brock« (KN


Hans Peter Büchler), 11.11.1991, BND-Archiv, N 71.
2 Vortragsnotiz Gehlens über die Stellung des Auslandsnachrichtendienstes im Rahmen
der Struktur des Regierungs- und Verwaltungsapparates, 24.5.1956, BND-Archiv, 1172,
S. 222-224.

902
Hauptgegner, die DDR, nahm er als solchen kaum ernst und geriet im deutsch­
deutschen Agentenkrieg immer wieder in die Defensive.
Für Gehlen blieb der Sowjetkommunismus der eigentliche Feind. In Moskau
aber hatte er keine hochrangigen Agenten im Einsatz. Seine Kremlastrologen
fanden noch nicht einmal im Bonner Auswärtigen Amt Interesse, wie er von
Herre Anfang Mai 1956 erfuhr.3 Die vom BND verteilte »Übersicht zu Ostfra­
gen« machte auf die dortigen Experten keinen Eindruck. Die Mitteilungsblätter
waren, wie Herre einräumte, tatsächlich ein Kompromiss, eine für den Leser
nicht erkennbare Vermischung von geheimem und offenem Material. Wegen
des heterogenen Verteilers habe man auf die Wiedergabe besonders wertvoller
Einzelerkenntnisse verzichten müssen. Der amtliche Kundenkreis bevorzuge
aber entweder ausgereifte Studien oder qualifizierte Einzelmeldungen.
Andere Abnehmer zeigten sich weniger anspruchsvoll. Und mit der Instal­
lation des BND kamen neue dazu. Bei seiner Bonnreise Anfang Mai 1956 wurde
Gehlen geradezu bestürmt mit der Bitte um Informationen.4 Sein in der Öffent­
lichkeit verbreiteter legendärer Ruf förderte natürlich hochgesteckte Erwar­
tungen. Wilhelm Mellies, Fraktionsgeschäftsführer der SPD im Bundestag,
jüngst in das Parlamentarische Vertrauensmännergremium berufen, wollte
alle Studien haben, auch rückwirkend, die Gehlen an die Regierung gegeben
habe. Er bat auch um ein Exemplar einer dem Bundeskanzler avisierten Studie
über das Menschenpotenzial der Sowjetunion.5 Staatssekretär Franz Thedieck
vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen bat um eine Ausarbei­
tung über die Wirtschaft der SBZ sowie um Unterlagen über Professor Ger­
hardt Katsch, Greifswald. Staatsekretär Lex interessierte sich für Informatio­
nen über mögliche Ostverbindungen von Wolfgang Leonhard, Verfasser des
Buches Die Revolution entlässt ihre Kinder, usw.
Am 8. Mai 1956 fand unter dem Vorsitz des Kanzlers eine Sitzung des Ver­
trauensmännergremiums für den BND statt. Gehlen durfte über die getroffene
Zuständigkeitsabgrenzung mit dem BfV vortragen und wurde von Adenauer
darin unterstützt, dass die Vereinbarung eventuell noch umgearbeitet werden
müsste. Die Grundlage der Zusammenarbeit sei beiderseitiges Vertrauen -
eigentlich eine Selbstverständlichkeit, doch für Gehlen eine Zumutung, der er
sich immer wieder zu entziehen versuchte.
Von seinem alten Konzept eines Einheitsdienstes hat er sich – trotz aller
offiziellen Absprachen – im Bereich innenpolitischer Aufklärung verschwie­

3 Notiz Herres für Gehlen, 4.5.1956, BND-Archiv, N 2/v.3. Siehe demnächst die UHK-Studie
von Andreas Hilger über die Ostaufklärung in Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
4 Notiz über Gehlens Reise nach Bonn 8.-14.5.1956, BND-Archiv, 4320.
5 Vier Wochen später mahnte das Kanzleramt die Studie beim BND noch einmal an; siehe
VS-Registratur Bka, Vermerk Ref. 5, 5.6.1956, Bk 1:15100.

903
gene Refugien und Netzwerke erhalten. Als Handlanger spielte dabei sein Ver­
trauter Kurt Weiß eine wichtige Rolle.6 Die marginale Wirtschaftskompetenz
des BND, gestützt auf einige persönliche Kontakte Gehlens zu deutschen Wirt­
schaftsbossen und einem Netzwerk von Informanten, die sich in der boomen­
den Exportwirtschaft tummelten, beruhte vor allem auf der systematischen
Auswertung von offenem Material. Hier hatte Gehlen bereits während des
Krieges bei FHO ähnliche Arbeiten organisiert. Für seinen global agierenden
Nachrichtendienst war zudem die Nutzung von Tarnfirmen eine wesentliche
Voraussetzung.
Die Beschaffung und Auswertung von Auslandsnachrichten stand in einer
gewissen Konkurrenz zum Auswärtigen Amt. Mit der Übergabe der Souveräni­
tät weitete die Bundesrepublik schrittweise ihre diplomatischen Vertretungen
aus, die mit ihrer Expertise ein zumeist ausgefeilteres Lagebild des betreffen­
den Landes beschaffen konnten als der BND. Gehlens Agenten boten dafür
illegale Kontakt- und Operationsmöglichkeiten, von denen die Diplomaten oft
besser nichts wussten. Dazu gehörte zum Beispiel ein namhafter österreichi­
scher Parteipolitiker, später auch Botschafter in Bonn, der sich als »Großdeut­
scher« bezeichnete und bereit erklärte, laufend zu berichten sowie als Tipper
behilflich zu sein. »Er erwarte eine Vergütung seiner Tätigkeit, die zugesagt
worden sei«, wie Weiß seinem Chef berichtete.
Es boten sich auch etliche Journalisten an, ihre Kenntnisse dem BND zur
Verfügung zu stellen. Zu ihnen gehörte die Verbindung »Stefan«, außenpoliti­
scher Redakteur einer führenden deutschen Tageszeitung, SPD-Mitglied, Ost­
experte – und »Jude«, wie Weiß notierte. Er sei an einer finanziellen Zuwen­
dung (1000 D-Mark monatlich) »stark interessiert« und lieferte fortlaufend
Berichte mit dem Schwerpunkt UdSSR und Polen, die ausnahmslos positiv
beurteilt würden.7 Es mangelte auch nicht an Angeboten zum Beispiel lei­
tender Herren eines großen deutschen Stahlkonzerns, Reiseberichte über den
Ostblock zu liefern.8
Es mussten also adäquate Kooperationsformen gefunden werden. Die
Abordnung eines Verbindungsmannes zum Auswärtigen Amt war eine selbst­
verständliche erste Maßnahme.9 Später kamen Absprachen über den Einsatz
der Militärattaches und schließlich auch die getarnte Installation von BND-
Vertretern in einzelnen deutschen Botschaften oder in getarnten Residenturen
hinzu. Mit einer Ausnahme: Sein ehemaliger persönlicher Referent und jetzi­

6 Zu Weiß und seiner Rolle als Medienberater Gehlens siehe demnächst ausführlich Jost
Dülffer, Die Krise des Bundesnachrichtendienstes in den 1960er-Jahren, Kap. VIII.
7 Notiz vom 3.9.1956, BND-Archiv, N 10/4, Teil 1.
8 Notiz zum 10.9.1956, ebd.
9 Aufzeichnung über die Gespräche Gehlens in Bonn am 7./8.9.1956, BND-Archiv, 4320.

904
ger Vertreter in Madrid, Oberstleutnant Lobedanz, erhielt die Anweisung, mit
dem Militärattaché Achim Oster aus nachrichtendienstlichen Gründen keinen
Kontakt aufzunehmen.10 Gehlens persönliche Abneigung gegen den ehemali­
gen Widersacher im Amt Blank und Sohn eines »Verräters« im militärischen
Widerstand war unüberwindbar.
Gehlen lag daran, mit seinen Informationen über das Kanzleramt auch Ade­
nauer direkt unterrichten zu können bzw. Aufträge von dort zu erhalten. Der
Kanzler schätzte die Länderberichte aus Pullach, wenn sie ihm die Möglichkeit
gaben, seinen Außenminister Heinrich von Brentano (CDU) mit Marginalien
zu belehren, weil er annahm, dass sein Geheimdienst wieder einmal besser
gearbeitet hatte als seine Diplomaten. Worauf diese nicht selten ihren Ärger
unterdrückten, obwohl sie den Eindruck hatten, dass man in Pullach lediglich
Reise- und Gesprächsnotizen, wie man sie in Tageszeitungen fand, kunstvoll
als Geheimberichte angeblich bewährter Informanten deklarierte.11 Eine Kon­
kurrenz zum Auswärtigen Amt war jedenfalls aus Gehlens Sicht unvermeidbar.
Es blieb außerdem die Bearbeitung jener Länder offen, zu denen wegen ihrer
Anerkennung der DDR die diplomatischen Beziehungen entsprechend der
Hallstein-Doktrin abgebrochen wurden.
Die Abstimmung mit anderen Einrichtungen innerhalb des staatlichen
Gefüges war in vielen Fällen längst erfolgt und funktionierte meist reibungs­
los. Ein Bespiel dafür ist die Absprache mit Verteidigungsminister Blank, der
Gehlen zusicherte, dass jeweils ein Vertreter des BND zu den Abteilungen des
Amts für Sicherheit der Bundeswehr (ASBw, 1984 umbenannt in Militärischer
Abschirmdienst), des auf Spionageabwehr beschränkten Geheimdienstes der
Bundeswehr, bei den Wehrbereichskommandos treten solle.12 Die konkreten
Absprachen sollten mit dem neuen Leiter des ASBw, Oberst Wessel, erfolgen.
Mit seinem früheren Stellvertreter hatte Gehlen in dieser Hinsicht keine Pro­
bleme. Anders als bei der internen Sicherheit der Bundeswehr blieb die Verbin­
dung zum BND für die militärische Führungsspitze im Bereich der Feindnach­
richten und der Lagebeurteilung eine schwer zu akzeptierende Lösung. Gehlen
war es gelungen, den militärischen Nachrichtendienst im Wesentlichen in
seinem Hause zu behalten. Die Bundeswehrführung und der Verteidigungs­
minister blieben auf diese Weise abhängig von den in Pullach produzierten
Einschätzungen. Josef Kammhuber, unter Göring General der Nachtjagd-Ver­
bände, jetzt erster Inspekteur der Bundesluftwaffe, besuchte im August 1956

10 Schreiben Gehlens an Wessel, 14.9.1959, ebd.


11 Unter Berufung auf einen Zeitzeugen und Ostexperten des AA in Zolling/Höhne, Pullach
intern, S. 268.
12 Notiz über das Gespräch Gehlen – Blank am 8.5.1956, BND-Archiv, 4320.

905
die Zentrale des BND in Pullach13 und gehörte zu jenen Bundeswehrgeneralen,
die mit dieser Arbeitsteilung kein Problem hatten.
Gehlens vorrangiges Tätigkeitsfeld blieben die Bemühungen hinter den
Kulissen der Bonner Bühne. Zu den operativen Vorgängen, die zu nützlichen
innenpolitischen Erkenntnissen führten, gehörten im Sommer 1956 die Kon­
takte, die sich zeitweilig zwischen der westdeutschen FDP und der Schein­
liberalen Blockpartei in der DDR, der LDPD, anbahnten. Wolfgang Döring,
Fraktionsvorsitzender der FDP im Düsseldorfer Landtag, initiierte Gesprä­
che, die in Weimar und Garmisch standfanden – Anlass genug für Gehlen, um
über Weiß mit Döring (DN »Dorz«) sein Verhältnis zur FDP auszubauen und
Erkenntnisse über Funktionäre der LDPD abzuschöpfen. Nach der Rückkehr
von Erich Mende, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bun­
destag, und Willy Weyer von den Gesprächen ließ sich Weiß auch von ihnen
unterrichten.14
Vermutlich nicht ganz redlichen Absichten entsprang Gehlens Verhalten
gegenüber Bogislaw von Bonin, einem ehemaligen Generalstabskameraden,
der 1938 bis 1940 wie Gehlen im OKH gedient hatte. Während des Krieges in
höherer Frontverwendung, leitete er seit 1952 die Unterabteilung Militärische
Planung im Amt Blank. Da er daran zweifelte, dass innerhalb von nur vier Jah­
ren eine Armee von 500.000 Mann auf die Beine gestellt werden könnte, war er
1953 von dieser Aufgabe abgezogen worden. Er hatte dann eine eigenständige
Verteidigungsplanung entwickelt, für eine neutralisierte Bundesrepublik, die
den Weg für eine mögliche Wiedervereinigung offenhalten würde. Wegen der
Propagierung eines solchen Konzepts, das im Gegensatz zur offiziellen Poli­
tik der Westintegration stand, war er im September 1955 aus der Bundeswehr
entlassen worden.15 Bonin gehörte also zu jenen »Neutralisten«, die Gehlen
so sehr als Gefahr empfand, dass er sie notfalls auch mit illegalen Mitteln
bekämpfen wollte. Als Bonin Kontakte mit der sowjetischen Seite knüpfte und
die Aussicht auf ein Gespräch mit dem Generalstabschef der sowjetischen
Streitkräfte in der DDR Sedelnikow bestand, suchte er den Kontakt mit dem
BND, um sich abzusichern. Er holte sich die Zustimmung Gehlens, auf Fragen
der sowjetischen Seite zugeben zu dürfen, dass er vor seiner Abreise mit Geh­
len gesprochen habe, aber nicht für den BND arbeite – was stimmte. Bonin
wollte gegenüber beiden Seiten mit offenen Karten spielen. Aus der Sicht des

13 Eintrag vom 20.8.1956, ebd.


14 Notizen vom 12.6. und 20.7.1956, ebd.
15 Siehe dazu weiter Meyer, Heusinger, S. 468-481, sowie umfassend zur Biografie Heinz
Brill: Bogislaw von Bonin im Spannungsfeld zwischen Wiederbewaffnung – Westinte­
gration – Wiedervereinigung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Bundeswehr
1952-1955, 2 Bde., Baden-Baden 1987/1989.

906
Bogislaw von Bonin auf
dem Spiegel-Titel 6/1956

BND hatte »Bolav« (DN) den Auftrag, die Absichten zu erkunden, die Moskau
mit seiner gesamtdeutschen Propaganda verfolgte.16
Am 26. August 1956 fand dazu das Abschlussgespräch mit »Bolav« in der
Pullacher Zentrale statt.17 Zur Überraschung von Weiß kam Gehlen in Beglei­
tung von Felfe, trotz der Absicht, den Kreis der Mitwisser bei dieser brisanten
Operation möglichst klein zu halten. Weiß schrieb später,18 er habe wie viele
andere Generalstabsoffiziere eine instinktive Abneigung gegen Felfe gehabt,
nicht so sehr wegen dessen SD-Vergangenheit, sondern weil Felfe im persönli­
chen Auftreten mit seiner Mischung von Arroganz und Unterwürfigkeit nicht
durchschaubar gewesen sei. Er habe aber gewusst, dass Gehlen Felfe als Fach­
mann für Gegenspionage sehr schätzte und ihn auch gegenüber auswärtigen
Besuchern immer wieder als Experten ausgab. Außerdem habe Weiß mit sei­
nem Bereich vom Fall »Lena« profitiert, einem der spektakulärsten Fälle des
Dienstes in den 1950er-Jahren, der viel echtes Material erbrachte und so Felfes
Position festigte, aber auch viel Spielmaterial des sowjetischen Geheimdiens­
tes, das Beschaffung und Auswertung jahrelang beschäftigte.

16 Notiz vom 9.7.1956, BND-Archiv, N 10/4, Teil 1.


17 Notizen von Weiß am 26. u. 29.8.1956, ebd. Das Treffen mit Sedelnikow sollte am
8./9.9.1956 stattfinden.
18 Späterer Kommentar von Weiß, ebd., Blatt 100.

907
Gehlen rief Felfe also zum Abschluss des Gesprächs mit Bonin in sein Büro
und wies ihn voll in den Fall »Mercedes« ein. Felfe meldete sein Wissen sofort
an seinen Auftraggeber, den KGB, worauf die sowjetische Seite beschloss, das
Treffen mit dem Generalstabschef nicht stattfinden zu lassen. Bonin war ent­
täuscht, dass er nur von einem Oberst »Wladimir Karpow« (DN) empfangen
wurde. Dabei handelte es sich um Wadim Kutschin, Mitarbeiter des KGB in
Ost-Berlin und vor Jahresfrist Betreuer von Otto John. »Karpow« hat darüber
später in einem Spiegel-Interview berichtet und behauptet, Bonin habe den
Kontakt im Auftrag Gehlens gesucht, der für eine Entspannung und Normali­
sierung der Beziehungen zur UdSSR gewesen sei.19 Es fiel Gehlen nicht schwer,
dieser falschen Behauptung in einem Leserbrief zu widersprechen, den der
Spiegel mit leiser Ironie so anonymisierte: »Stellungnahme einer mit den
geheimdienstlichen Zusammenhängen in Europa vertrauten Persönlichkeit«.
1956 jedenfalls war Bonin mit seinen neutralistischen Illusionen von Gehlen
unauffällig neutralisiert worden.20
Zu den vorrangigen Zielen der außenpolitischen Aufklärung gehörten schon
seit Ende der 1940er-Jahre die geheimdienstlichen Verbindungen in den Nahen
Osten, eine Erbschaft von Baun und seiner Truppe von ehemaligen Abwehrof­
fizieren. Die drohende Enteignung des Suezkanals durch das nationalistische
Regime des Gamal Abdel Nasser legte es Mitte 1956 nahe, eine eigene Quelle in
Kairo einzusetzen. Durch Vermittlung von Weiß bot der für den Nahen Osten
zuständige Leiter der Generalvertretung B in Bremen, Worgitzky, seinen bis­
herigen persönlichen Referenten und Ziehsohn Gerhard Bauch an, um unter
der Legende eines Industrierepräsentanten an den Nil zu gehen.21 Gehlen war
mit der Entsendung einverstanden. Er schenkte Bauch bei seinem Abschied

19 »Schweigen ist nicht immer richtig«, Spiegel 3/1966 vom 10.1., S. 54-60. Zum Fall Bonin
siehe Stefanie Waske: Mehr Liasion als Kontrolle. Die Kontrolle des BND durch Parla­
ment und Regierung 1955-1978, Wiesbaden 2009, S. 118-120.
20 In einem Interview mit Elke Fröhlich am 16.12.1971 berichtete Gehlen, dass er Bonin
ermuntert habe, die Einladung nach Ost-Berlin anzunehmen. Er habe gleichzeitig das
Gespräch heimlich auf Tonband aufgenommen und dieses dann dem Generalbundes­
anwalt geschickt. Derart abgesichert, glaubte er, einen »Faden zum Gegner« spinnen zu
können; IfZ, ED 100-69-260. Es sei nicht die einzige Gegenspionageoperation mit Mos­
kau gewesen. Die erste sei eine Meldung zum Sturz von Lawrenti Berija gewesen, die
man zunächst in Pullach nicht glauben wollte, bis man die Quelle, einen KGB-Offizier,
ernst nahm. Gehlen habe dann Vorbereitungen getroffen, um diesen direkten Kanal aus­
zunutzen. Nachdem der KGB-Mann ein Jahr für die Org gearbeitet habe, sei er spurlos
verschwunden; Interview 27.12.1971, IfZ, ED 100-69-261. Es dürfte sich um Spielmaterial
des KGB gehandelt haben.
21 Besprechung Weiß – Worgitzky am 18.6.1956, Chronik, BND-Archiv, 4320. Siehe hierzu
demnächst die UHK-Studie zum Nahen Osten von Tilman Lüdke in Krieger (Hg.): Globale
Aufklärung.

908
ein silbernes Tablett mit der Inschrift: »Sei klug wie die Schlangen und ohne
Falsch wie die Tauben!«22 Der Chef wünschte sich offenbar einen Mitarbeiter
mit solchen Qualitäten – ob er sich selbst so einschätzte, sei dahingestellt. Das
Symbol der Schlange mochte auf ihn zutreffen, eine »Taube« war Gehlen sicher
nicht. Das konnte er sich in der Politik nicht leisten.
Während im Hintergrund bereits die Planungen für ein britisch-französi­
sches Eingreifen im Suezstreit und den Sturz Nassers liefen, organisierte Weiß
im Auftrag Gehlens eine strategische Unterstützung. Über seine Vertretung
in Paris hatte ein nahöstlicher Geheimdienst den Pullachern den Vorschlag
gemacht, mithilfe kurdischer Organisationen, zu denen er Verbindung hielt, die
kurdisch besiedelten Räume im Süden der UdSSR aufzuklären und zu destabi­
lisieren. In der Abteilung von Weiß entstand darüber eine lebhafte Diskussion,
denn die gleiche Idee hatte Baun schon Ende der 1940er-Jahre verfolgt, aber
den aktuellen nachrichtendienstlichen Nutzen schätzte man dann doch eher
gering ein. So zog man sich aus der politisch heiklen Schlinge, indem man dem
Wunsch der Partner folgte, die Operation zumindest mit einer Million D-Mark
finanziell zu unterstützen. Der BND stellte die Summe mit Zustimmung des
Kanzleramts schließlich zur Verfügung. Diese »Hilfestellung«, so kommen­
tierte Weiß die Entscheidung später, habe sich sehr positiv auf die weiteren
Beziehungen beider Geheimdienste ausgewirkt.23
Ägypten blieb freilich für Gehlen eine wichtige Drehscheibe seiner Aus­
landsoperationen. Das galt auch für das NATO-Mitgliedsland Türkei, mit der
seit 1956 eine partnerschaftliche Beziehung aufgebaut werden konnte.24 Die
Beziehung zu anderen Nachrichtendiensten, bislang mit dem Namen von Tie­
ren getarnt, ließ Gehlen nun auf die Namen von Blumen umstellen.
Neben der internen Stabilisierung des BND im Zuge der Übernahme der
Org in den Bundesdienst, seiner Einordnung in den westdeutschen Staatsap­
parat und in die militärische Sicherheitsstruktur erforderte das Verhältnis zu
den Amerikanern Gehlens besonders Aufmerksamkeit. Ein überraschendes
Schreiben von J. Edgar Hoover, Direktor des Federal Bureau of Investigation
(FBI), sorgte für persönliche Aufregung.25 Es enthielt Informationen über einen
August Wilhelm Pasch, deutscher Seemann und Krimineller, der behauptete,
er sei mehrfach vom Osten angesprochen worden, Gehlen für 50.000 D-Mark
zu entführen oder zu töten. Nachdem er in den USA entdeckt und in die Bun­

22 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 295.


23 Notiz zur Stabsbesprechung am 29.8.1956, Nachlass Weiß, BND-Archiv, Sig. N 10/4, Teil 1.
24 Besprechung Gehlen-Weiß am 18.7.1956 zu den Beziehungen zum türkischen Nach­
richtendienst, Chronik, BND-Archiv, 4320.
25 Schreiben Hoovers vom 21.6.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol.3_10F2, S. 3.

909
Dienstausweis von Annelore Krüger, Gehlens Chefsekretärin und
Geliebte, eingetragener Deckname »Johanna Martin«

desrepublik abgeschoben worden war, meldete er sich beim Arbeitsamt in


Hamburg. Zu seiner Überraschung habe er den Leiter als Bekannten aus seiner
Gefängniszeit wiedererkannt. Dieser habe ihm für den Gehlen-Job sogar fünf
Millionen angeboten. Gehlen werde zwar streng bewacht, wenn er eine gewisse
Dame besuche, sei er allerdings allein. Das wäre die Gelegenheit. Pasch habe
auf einem Schiff anheuern können und sich dann mit seinem Wissen auf den
Bahamas bei der Polizei gemeldet.
Die Sorge um seine körperliche Unversehrtheit hatte Gehlen mittlerweile
im Griff. Ob er nach dieser Information durch Hoover den privaten Besuch
bei seiner Sekretärin einstellte, ist nicht bekannt. Mit Fräulein Krüger blieb er
nicht nur dienstlich in einer sehr engen Beziehung, sodass bei Mitarbeitern
der Eindruck entstehen konnte, der »Vorzimmerdrache« des Chefs führe das
eigentliche Regiment im Hause. Gehlen gab sich jedenfalls sehr viel Mühe, um
Annelore auf eine höhere Beamtenposition zu hieven und sie zur ersten Frau
innerhalb der Führungsriege des BND zu machen.26
Ende August 1956 hatte Gehlen endlich Gelegenheit zu einem Gespräch mit
Dulles, um das er Critchfield bereits im März gebeten hatte. Es fand in einem
Trefflokal der CIA in Frankfurt am Main statt. Nimmt man das Protokoll von
deutscher Seite, dann sei Gehlen hauptsächlich daran interessiert gewesen,

26 Der BND-Historiker Bodo Hechelhammer belässt es bei einer sehr zurückhaltenden


Umschreibung des Verhältnisses zwischen Gehlen und Frau Krüger; siehe Meinl/Hechel­
hammer, Geheimobjekt Pullach, S. 210-212.

910
verwaltungs- und organisationstechnische Ratschläge von Dulles entgegenzu­
nehmen.27 Er ließ sich die Regelungen etwa für das Budget der CIA erklären und
bat Dulles, ihm die Erstellung des National Intelligence Estimate zu erklären,
der wöchentlichen Gesamtlagebeurteilung. Jeden Dienstag, so Dulles, komme
die Intelligence Advisory Commission zusammen (Army, Air Force, Navy, State
Department, Joint Chiefs of Staff), um unter seinem Vorsitz die Ergebnisse vor­
zubereiten – was für Gehlen zweifellos ein äußerst attraktives Vorbild gewesen
sein dürfte. Dulles erklärte sich bereit, einem nachrichtendienstlich erfahre­
nen deutschen Juristen in den USA Einblick in spezifische beamtenrechtliche
Fragen, Nachwuchsprobleme, Sonderrechte etc. zu gewähren.
Dann dankte Gehlen für die Hilfestellung und Unterstützung in den vergan­
genen Jahren. Dulles zeigte sich generös und meinte, die US-Regierung habe
dafür doch die »volle Gegenleistung« bekommen. Ausdrücklich betonte er,
dass der BND aus der Tatsache der Unterstützung »keinerlei Verpflichtungen
irgendwelcher Art gegenüber den amerikanischen Partnern ableiten solle« -
das hätte Gehlen später seinen Mitarbeitern ins Gebetbuch schreiben lassen
sollen! Der »Doktor« aber hob die jahrelang erprobte Freundschaft hervor, die
die beste Gewähr für eine fruchtbare Zusammenarbeit sei. Dulles reagierte
weniger sentimental und sprach sein Interesse an einer zweiseitigen Koope­
ration bei der Fernmeldeaufklärung an, wovon die Briten nichts zu wissen
bräuchten – woraus sich zwangsläufig auch eine erwartete Zurückhaltung
gegenüber der deutschen Regierung ergab. Großes Interesse äußerte Dulles
außerdem an der vom BND beabsichtigten Errichtung einer Zentralstelle für
Chiffrierwesen – es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die ein
halbes Jahrhundert später zum NSA-Skandal führte.
Dulles regte außerdem einen Gedankenaustausch über das jüngst in der
Bundesrepublik erlassene Verbot der KPD an, denn in anderen Ländern sei die
CIA für die Aufklärung gegenüber den kommunistischen Parteien verantwort­
lich, mit Ausnahme Westdeutschlands, wo dies in den Händen des CIC läge.
Damit ignorierte Dulles die Zuständigkeit des BfV und ermutigte Gehlen zu
seinen innenpolitischen Ambitionen. Das BND-Protokoll gibt keinen Hinweis
auf das wichtige Anliegen, die Besorgnis über die angeblich wachsende Gefahr
einer kommunistischen Unterwanderung der Bundesrepublik, das Gehlen ver­
anlasst hatte, um ein persönliches Gespräch mit Dulles zu bitten. Das amerika­
nische Gesprächsprotokoll ist nur auszugsweise zugänglich.28 Dieser Auszug
enthält lediglich das Angebot von Dulles, das Studium der Gehlen-Tochter in

27 Aufzeichnung über das Treffen am 27.8.1956, BND-Archiv, 1173, S. 145 -147.


28 Auszug aus dem Protokoll des Gesprächs zwischen Gehlen und Dulles am 27.8.1956,
21.9.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol.3_10F2, S. 11.

911
den USA zu unterstützen, worauf Gehlen zur Überraschung von Dulles aber
nicht einging – wie erwähnt hatte er sich bereits mit Critchfield privat verstän­
digt. Auch der mächtige CIA-Boss wusste anscheinend nicht alles über seine
eigenen Mitarbeiter.
Es hat demnach einen mehr privaten Teil des Gesprächs gegeben, und es
ist schwer vorstellbar, dass Dulles versäumt haben sollte, seinen Standpunkt
zu Gehlens Vorstellungen zu erläutern, bei einem grundlegenden Kurswechsel
in Bonn eine illegale Widerstandsaktion zu initiieren. Dulles, für den es nicht
außergewöhnlich war, weltweit am Sturz von Regierungen zu arbeiten, sofern
das im amerikanischen Interesse zu liegen schien,29 wird die demonstrative
Bereitschaft seines »utility«, ihn auch notfalls gegen die deutsche Regierung
zu unterstützen, vermutlich wohlwollend zur Kenntnis genommen haben.
Ein förmliches Plazet wäre aber sicher unangebracht gewesen. Eine scharfe
Ermahnung zur Einhaltung der von Amerikanern maßgeblich mitgeschaffe­
nen Nachkriegsordnung in Westdeutschland und demokratischer Spielregeln
ist nicht dokumentiert. Gehlen seinerseits hat diesen Punkt wahrscheinlich
nicht forciert, denn seine Sorge vor einem neutralistischen Kurs dürfte sich in
den vergangenen Monaten verringert haben. Bonins Aktion hatte er gegen die
Wand laufen lassen, und in Bonn war es dem Kanzler gelungen, den Koalitions­
partner FDP wieder in den Griff zu bekommen.
Offensichtlich hatte er bereits einen Brief an Dulles entwerfen lassen.30
Darin skizzierte er für Mitteleuropa drei mögliche politische Entwicklungen:
erstens Beibehaltung der bisherigen Linien, zweitens politische und militäri­
sche »Auflockerung«, drittens den großen Krieg. Die eigentliche Sorge richtete
sich auf eine mögliche Neutralisierung der beiden deutschen Staaten. Dann
würde der BND über den bisherigen Rahmen hinaus als »Stabilisierungsfaktor
vermehrt zum Zuge kommen«. Es müssten dafür vollkommen andere Wege
konstruiert und abgeschirmt werden, um die geheimdienstliche Zusammenar­
beit mit den USA zu gewährleisten. Darüber, so hieß es in dem Entwurf, könne
Gehlen mit keiner anderen Stelle in der Bundesrepublik sprechen. Um vor­
zubereitende Maßnahmen noch im Laufe des Jahres einzuleiten, sollten die
Überlegungen beider Seiten möglichst bald zum Abschluss gebracht werden.
Diese Sorge Gehlens verflüchtigte sich freilich. Den Briefentwurf ließ er auf

29 Zu nennen sind hier etwa die Umstürze im Iran 1953 und in Guatemala 1954.
30 Siehe im Folgenden Erich Schmidt-Eenboom und Ulrich Stoll: Die Partisanen der NATO.
Stay-Behind-Organisationen in Deutschland 1946-1991, Berlin 2016, S. 150-151. Hier
wird der undatierte Entwurf, angeblich aus Privatbesitz – also nicht überprüfbar -, auf
den Herbst 1959 datiert. Dazu wird er in der Argumentation ohne erkennbare inhaltliche
Beziehung mit einem kurzen Briefwechsel zwischen Gehlen und Dulles vom August 1959
in Verbindung gebracht. Dort ging es lediglich um die Ablösung von Tom Lucid.

912
Wiedervorlage im Dezember legen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er dann freilich
andere Sorgen. In der Sache selbst legte der Entwurf nicht mehr das Szenario
einer Großen Koalition in Bonn und möglicher Widerstandsaktionen des BND
zugrunde, sondern beschrieb lediglich das Problem der deutsch-amerikani­
schen nachrichtendienstlichen Verbindungen im Falle einer Neutralisierung
Deutschlands – womöglich nach dem Beispiel Österreichs.31
Am 4. September 1956 ließ Gehlen seinen Stellvertreter Worgitzky ein
Schreiben an das Kanzleramt unterzeichnen, um den leidigen Vorgang zu sei­
ner eigenen Ernennung voranzubringen.32 Es war mit dem formellen Antrag
an den Bundespersonalausschuss verbunden, die erforderliche Ausnahmege­
nehmigung zur Feststellung von Gehlens Befähigung zu erteilen. Dazu wurde
kurz Gehlens Tätigkeit seit Kriegsende angesprochen und »schönfarberisch«
behauptet, dessen Bedingung für die Arbeit im Auftrag der USA sei die »Wah­
rung der nationalen Eigenständigkeit des Dienstes«, die »Partnerschaft in der
Abwehr gegen den Bolschewismus« und die Möglichkeit gewesen, deutsche
Interessen in den Kreis der westlichen Alliierten einzubringen. Nach dem
Kabinettsbeschluss zur Bildung des BND sei Gehlen mit der Aufgabe betraut
gewesen, einen Führungsapparat aus Beamten zu bilden, in dem lediglich die
Bearbeiter des militärischen Bereichs Offiziere sein würden. Entsprechend
der gewählten Organisationsform solle Gehlen die Bezeichnung »Präsident«
führen.
Es war mehr als eine bloße Formsache, denn um die Amtsbezeichnung ent­
wickelten sich längere bürokratische Auseinandersetzungen, da das Bundes­
präsidialamt bei der Ausstellung der Ernennungsurkunde Bedenken anmel­
dete. Es gab Zweifel, ob der BND wirklich eine nachgeordnete Behörde oder
nicht vielmehr eine Abteilung des Kanzleramts sei, und in diesem Falle sei die
Bezeichnung Ministerialdirektor angemessen. Gehlen verteidigte in diesem
Streit nicht nur seine Unabhängigkeit gegenüber dem Kanzleramt, sondern
auch sein Ansehen. Für den General a. D. und »Doktor« (DN) war allein die
Bezeichnung »Präsident« ein angemessener Titel. Der Dienstgrad »Ministerial­
direktor« muss ihm ein Graus gewesen sein.
Da war es eine glückliche Fügung, dass dieser Tage die Operation »Herbst­
gewitter« als Erfolg gemeldet werden konnte. Es war am 5. September 1956
gelungen, Professor Hermann Kästner, 1949/50 Vorsitzender der LDPD und
stellvertretender Ministerpräsident der DDR, in die Bundesrepublik zu schleu­

31 Die Republik Österreich hatte durch einen Staatsvertrag mit den alliierten Sieger­
mächten am 27. Juli 1955 ihre Unabhängigkeit wiedererlangt. Verbunden damit war
das Bekenntnis zur Neutralität und zur Verpflichtung, keinen erneuten Anschluss an
Deutschland anzustreben.
32 Schreiben vom 4.9.1956, VS-Registratur Bka, Personalakte Reinhard Gehlen.

913
Verbeamtungsurkunde von Reinhard
Gehlen, 20. Dezember 1956

sen.33 Seit 1948 hatte Kastner für die CIA gearbeitet und später auch die Org
beliefert. Angesichts der Verhaftungswelle in der DDR um die Sicherheit sei­
ner »Spitzenquelle« Kastner besorgt, wollte ihn Gehlen in die Bundesrepublik
holen und hier als prominenten »Flüchtling« präsentieren. Da Kastner anfäng­
lich zögerte, besorgte sich Gehlen die Zustimmung Adenauers, gleichsam die
Einladung des Kanzlers und das Versprechen einer politischen Position über­
bringen zu lassen.34
Mit Zustimmung von Adenauer und Globke sollte Kastner im Anschluss
an seine Flucht durch eine Rundfunkansprache gegen Ulbricht groß herausge­
stellt werden. Nach der Ankunft Kästners in West-Berlin besprach Gehlen das
weitere Vorgehen mit seinem Intimus Weiß, der von dieser Idee nicht begeis­
tert war.35 Weiß befürchtete heftige Reaktionen vonseiten der DDR mit einer
Diffamierung Kästners und seiner Frau (die »rote Pompadour«) ebenso wie
von der FDP, die sich nach einem Vorgespräch in Garmisch auf ein Treffen mit

33 Gehlen lehnte es ab, den bisherigen Verbindungsmann zu Kastner in den Dienst zu über­
nehmen. Seine Vorbehalte gegen den Slowaken sind nicht bekannt; Besprechung Weiß
mit Dienststellenleiter »Klinger« am 11.9.1956, BND-Archiv, N 10/4, Teil 1.
34 Gehlen, Der Dienst, S. 160-161.
35 Besprechung Gehlen – Weiß am 6.9.1956, BND-Archiv, N 10/4, Teil 1.

914
der ostzonalen »Schwesterpartei« in Weimar vorbereitete. Eine spektakuläre
Herausstellung Kästners bot für Gehlen die Chance, auch diese innerdeutsche
Initiative zu torpedieren, die zur Gefahr des von ihm gefürchteten Neutralis­
mus beitrug.
Die Prognose von Weiß erwies sich rasch als zutreffend. Schneller als die
Reaktionsfähigkeit in Pullach wuchs in der westdeutschen Presselandschaft
die Kritik an der fragwürdigen politischen und persönlichen Haltung Kästners,
sodass man es in Bonn vorzog, Gehlens Idee einer Rundfunkrede Kästners
gegen Ulbricht fallenzulassen. Ersatzweise wurde Kastner dann als Spitzen­
verbindung des BND öffentlich herausgestellt, doch besteht bis heute der Ver­
dacht, dass Kastner als Doppelagent auch für den KGB gearbeitet hat.36
Ende September 1956 gab sich Gehlen höchst zufrieden. Der Chief of Base
in Bonn kam zum Tee.37 Es gab keine besorgniserregenden gemeinsamen
Probleme und so plauderte Gehlen über Aspekte der Legalisierung des BND.
Wie bei allen Begegnungen in jüngster Zeit, berichtete der Chief of Base nach
Washington, scheine Gehlen zuversichtlich, erleichtert und im Frieden mit der
Welt zu sein. Die große Schlacht sei gewonnen, das wichtigste Ziel erreicht.
Nun komme das lange Programm der Konsolidierung. »Utility« wisse, dass es
der größte Fehler wäre, zu schnell voranzugehen und sich zu verzetteln. Jeder
einzelne Schritt werfe die Frage auf: »Ist die Zeit dafür richtig?« Und bis nicht
für jeden Schritt die richtige Zeit gekommen sei, laute die Antwort Nein. Diese
Selbstzufriedenheit kaschierte aber nach dem Eindruck führender Mitarbei­
ter lediglich die Lethargie Gehlens, der über ein Labyrinth herrschte, in dem
nicht einmal der Chef wusste, welche Dienststellen noch effektiv arbeiteten
und welche nur Spielmaterial produzierten, um ihre Existenzberechtigung
vorzutäuschen.
Eine Gruppe von Beamten bedrängte den »Doktor«, einen Vizepräsiden­
ten zu berufen, der ein Organisationsexperte sein sollte, um das Durcheinan­
der zu beseitigen. Gehlen hörte zu, zögerte aber eine Entscheidung hinaus.
Offenbar beabsichtigte er, Brigadegeneral Wolfgang Langkau zu beauftragen,
seinen Freund und ehemaligen Regimentskameraden. Langkau leitete den
Strategischen Dienst, der dem Präsidenten unmittelbar unterstellt war. Dass
er kein Generalstabsoffizier gewesen war und jetzt eine Spitzenposition ein­
nehmen sollte, war nicht der gewichtigste Einwand der »Reformer«. Langkau
galt bei den anderen höheren Offizieren im Dienst als Intrigant, als Abbild des
Chefs, wie dieser ausgestattet mit einem »konspirativen Tick«. Als wichtigster

36 Wagner/Uhl, BND contra Sowjetarmee, S. 99. Siehe dazu demnächst Ronny Heidenreich,
Die Spionage des BND in der DDR.
37 Bericht an Chief Eastern Europe vom 4.10.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol.3_10F2, S. 12.

915
Kontaktmann zu Abgeordneten und Politikern traf er sich vorzugsweise an
zwielichtigen Orten. Da Gehlen das Gerücht über Langkaus Kandidatur nicht
dementierte, drohten mehrere leitende Herren damit, sie würden bei seiner
Berufung den BND verlassen und zur Bundeswehr gehen.38
Der Präsident scheute den Konflikt und berief mit Hans-Heinrich Wor­
gitzky einen auch bei den »Reformern« hoch angesehenen Mann der Praxis.
Er hatte bisher die Außenstelle Hamburg geleitet. Worgitzky kümmerte sich
als Vizepräsident intensiv um eine Modernisierung des Dienstes, für den der
Einsatz von technologischen Aufklärungsmitteln bald bedeutsamer wurde als
der konventionelle Spion. Daneben ließ er stärker als bisher offenes Material
zur Urteilsbildung heranziehen, was die Einführung eines differenzierten Sys­
tems der Nachrichtenbewertung ermöglichte. Später erhielt der BND den ers­
ten behördlichen Computer in der Bundesrepublik und nach US-Vorbild ein
ständig einsatzbereites Lagezentrum. Der politisch erzkonservative Worgitzky
öffnete mit dieser stärkeren Verwissenschaftlichung des BND die Tür für eine
neue Generation jüngerer Mitarbeiter, die sich, als Akademiker oft naturwis­
senschaftlich ausgebildet, in der vom älteren Offizierskorps großdeutscher
Prägung dominierten Binnenwelt des BND behaupten und mühsam nach
oben kämpfen mussten. Als sich Worgitzky von dem unproduktiven personel­
len Ballast der Vergangenheit trennen wollte, griff Gehlen ein. Seine vertraute
Umgebung und seine selbstherrlichen Eingriffsmöglichkeiten wollte er nicht
durch Rationalisierung verlieren. »Der kluge, aber sensible Vize ließ sich all­
mählich von dem robusten Gehlen ausschalten und auf Randgebiete (der Nahe
Osten wurde später sein unfreiwilliges Hobby) abschieben.«39
Langkau blieb in unmittelbarer Nähe Gehlens. Dort leitete er einen neuen
»Superstrategischen Dienst«, eine Ansammlung hochrangiger, älterer Jahr­
gänge, ehemalige Generale, Botschafter, Wissenschaftler, teils politisch
belastet und daher nicht anderweitig verwendbar. Sie repräsentierten in
Abweichung von der Struktur des BND eine Mischung von Beschaffung und
Auswertung mit einem bevorzugten Abnehmerkreis, direkt über den Chef an
das Kanzleramt, was intern ein stetiger Stein des Anstoßes war. Gehlen ver­
teidigte die Sonderstellung Langkaus gegen alle Einwände, auch wenn der
nachrichtendienstliche Wert mancher Verbindung höchst fraglich blieb und
der Verdacht berechtigt schien, es gehe schlicht darum, einem alten Generals­
kameraden mit einem Angestelltenvertrag die Möglichkeit zu verschaffen,
die fehlenden Jahre bis zur Pensionierung zu füllen. Gehlen legte Anfang 1959

38 Siehe hierzu auch die später im Ruhestand verfasste Aufzeichnung Worgitzkys, BND-
Archiv, N 23/1, S. 78-79.
39 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 272-273 (Zitat: S. 273).

916
ein neues Personalsystem fest. Neben dem Planpersonal (künftig X-Personal
genannt) sowie den auf individueller Vertragsbasis beschäftigten V-Leuten
und sonstigen Mitarbeitern (Z-Personal) schuf er die Gruppe Rahmenperso­
nal (künftig Y-Personal), zu der alle jene gehörten, die aus unterschiedlichen
Gründen nicht auf Planstellen des X-Personals beschäftigt werden konnten.40
Im Ergebnis schwoll der Umfang des Y-Personals erheblich an, was später zu
dienstinternen Verunsicherungen führte, als Y-Personal mit nur zum Teil ange­
glichenen Vergütungen in das X-Personal eingegliedert werden sollte.
War die Zeit für weitere und offensivere Operationen gekommen, um dem
BND Ansehen und Einfluss zu verschaffen sowie gegenüber dem »großen
Bruder« USA stärker auftreten zu können? Aufseiten der CIA schloss man ein
Interesse Gehlens daran nicht aus und bereitete sich intern zumindest darauf
vor, dass »utility« bei seinem kommenden Besuch in den USA diese Frage auf­
werfen könnte. In Ungarn wurde die Lage immer undurchsichtiger, ein bewaff­
neter Volksaufstand stand unmittelbar bevor, und im Nahen Osten war jeder­
zeit mit dem Beginn der französisch-britisch-israelischen Operationen gegen
Ägypten zu rechnen. Konnte in dieser Situation Kastner womöglich ein Ersatz
für Ulbricht sein? Würde die Lage in der DDR nach den Aufständen in Polen
und Ungarn ruhig bleiben?
Für den Chief Psychological and Paramilitary Staff erörterte ein Memoran­
dum die Möglichkeit, dass Gehlen bei seinem Besuch im November die Frage
selbstständiger deutscher Operationen anschneiden könnte.41 Bisher sei die
Org innerhalb der CIA nur im Bereich des Foreign Intelligence Staff einge­
setzt gewesen. Nun seien aber in deutschen Regierungskreisen Überlegungen
vorhanden, dem deutschen Dienst auch Geheimoperationen zu übertragen.
General Gehlen habe große Hoffnungen, im nächsten Jahr dieses Feld betre­
ten zu können. Der endgültige Charakter des deutschen Nachrichtendienstes
und einige strukturelle Aspekte seien auf der deutschen Seite noch ungeklärt.
Es gebe aber kein Konzept aufseiten der CIA für den Fall, hieß es weiter, dass
der deutsche Dienst Policy Planning (PP) Operations, also Aktionen zur poli­
tischen Einflussnahme auf andere Staaten, unternehmen sollte. Da man noch
nicht wisse, ob die Deutschen überhaupt solche Operationen unternehmen
wollten, und wenn ja in welchem Ausmaß, und ob General Gehlen die US-Ope­
rationen akzeptieren würde, könnte es zu früh sein, um über die US-Haltung
zu entscheiden. Es sollte aber zumindest eine interne Abstimmung dazu statt­
finden.

40 Aufzeichnung von Weiß über die Festlegungen des Präsidenten am 25.3.1959 und spä­
tere Kommentare, BND-Archiv, N 10/8.
41 Memo PP/OPS/C/PR vom 8.10.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol3_10F2, S. 14-15.

917
Der Verfasser äußerte die Meinung, dass die CIA nicht daran interessiert
sei, mit dem deutschen Nachrichtendienst auf diesem Felde gemeinsame Ope­
rationen zu unternehmen. Deshalb habe man keinen Grund, Gehlen in dieser
Hinsicht zu ermutigen. Dieser wisse von amerikanischen Verbindungen mit
dem bundesdeutschen Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen und habe ver­
mutlich selbst gute Ideen für die amerikanischen PP-Ziele. Man würde deshalb
kaum Verhandlungen darüber ablehnen können, wenn er darüber sprechen
wolle. Aus politischen Gründen könnte man unter den gegenwärtigen Bedin­
gungen eine Zusammenarbeit nicht verweigern. Solange Adenauer an der
Spitze der westdeutschen Regierung stehe und solange die US-Außenpolitik
in Europa mit Adenauers Politik übereinstimme, würden PP-Operationen spe­
ziell nach Ostdeutschland hinein durchaus im amerikanischen Interesse sein.
Doch dieser glückliche Umstand werde nicht ewig währen. Adenauer werde
nicht immer Kanzler bleiben und selbst jetzt nähmen die politischen Diffe­
renzen zu. Deshalb erscheine es wünschenswert, so viele unabhängige, viel­
seitige PP-Aktiva wie möglich in Deutschland zu haben und die Unterstützung
für Gehlens eigene PP-Operationen, wenn überhaupt, auf das unvermeidbare
Minimum zu beschränken.
Gehlen erwartete zumindest eine Mitsprache bei Aktionen der psychologi­
schen Kriegführung. In Bonn hatte man verärgert reagiert, als in West-Berlin
aufgestiegene Propagandaballone, mit denen Propagandamaterial über DDR-
Gebiet verstreut werden sollte, mit einem polnischen Flugzeug kollidiert
waren. Gehlen sollte im Bonner Auftrag prüfen, ob die Amerikaner beeinflusst
werden könnten, diese Ballonaktionen einzustellen.42 Seit Jahren betrachteten
die Amerikaner diese Aktionen als wirksamste Waffe ihrer liberation policy,
trotz solcher Zwischenfälle, zumal sie in der amerikanischen Öffentlichkeit
sehr populär waren. Das Auswärtige Amt befürchtete aber, dass damit der Sta­
tus von West-Berlin in Gefahr geraten könnte, war jedoch beim US-Botschafter
auf Granit gestoßen. Das »Rollback« mithilfe von Flugblättern und Ballons
ging weiter bis Anfang der 1960er-Jahre, nach 1956 auch im Rahmen der psy­
chologischen Kriegführung des BND und der Bundeswehr.
Gehlen nutzte jede Gelegenheit, sich in Vorbereitung seines ersten USA-
Besuchs als Präsident des BND für den CIA-Chef als nützlich zu erweisen. So
informierte er ihn über eine mögliche Propagandaaktion des Ost-Berliner Aus­
schusses für Deutsche Einheit gegen Dulles.43

42 Aufzeichnung über die Gespräche Gehlens in Bonn am 7./8.9.1956, BND-Archiv, 4320.


43 Schreiben Gehlens an Dulles vom 12.10.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol3_10F2, S. 16-17.

918
Von einer Quelle, deren Glaubwürdigkeit noch nicht überprüft werden
konnte, stammt nachstehende Gelegenheitsinformation, die im Rahmen
einer zufälligen Gesprächserkundung bekannt wurde.

Der zweite Vorsitzende des Ausschusses, Karl Raddatz, solle sich im Sommer
1956 für fünf Wochen in Warschau aufgehalten haben, um Material gegen
westdeutsche Politiker zusammenzutragen. Dabei war er angeblich an alte
Unterlagen geraten, aus denen hervorgehe, dass Himmlers Beauftragter, der
General der Waffen-SS Karl Wolff, kurz vor Kriegsende Verhandlungen mit
Dulles geführt habe mit dem Ziel, die Kampfhandlungen im Westen einzu­
stellen und den Krieg im Osten fortzusetzen. Das Aktenmaterial solle von
der früheren polnischen Exilregierung in die Hände der jetzigen Warschauer
Regierung gelangt sein. Der Ausschuss wolle das Material für eine intensive
Propaganda mit der Behauptung verwenden, dass die Westalliierten schon
während des Krieges mit den Faschisten paktiert hätten und dem sowjetischen
Partner in den Rücken fallen wollten. Dulles hatte freilich nichts zu verbergen
und veröffentlichte später selbst ein Buch zu den Verhandlungen, die 1945 zu
einer Teilkapitulation der Wehrmacht in Italien geführt hatten.44
Für Gehlen zogen dunkle Wolken auf. Im Zuge einer Kabinettsreform
ersetzte Adenauer am 16. Oktober 1956 Blank als Verteidigungsminister durch
dessen Rivalen Strauß, der künftig der wichtigste Abnehmer von Geheiminfor­
mationen des BND sein würde. Gehlen war also gut beraten, seine stillen Vor­
behalte gegenüber dem bayerischen Vollblutpolitiker vorerst ruhen zu lassen.
Am 23. Oktober eskalierte die Lage in Ungarn zu einem Volksaufstand, der die
Führungsmacht UdSSR herausforderte. Wieder war der BND auf die Ereignisse
nicht vorbereitet und hatte Mühe, nach dem Beginn des Aufstands ein zuver­
lässiges Lagebild für die Bundesregierung zu erstellen. Es gab kaum Quellen
im Lande, erst die später eintreffenden Flüchtlinge gaben Informationen, aber
die waren nicht mehr aktuell. Die Funkaufklärung erwies sich als wichtigstes
Standbein des Dienstes und ermöglichte, zusammen mit der Auswertung offe­
ner Quellen, allmählich ein einigermaßen zutreffendes Bild über Akteure und
Aktionen.
Gehlen erreichte die Nachricht von dem überraschenden Umsturz in Buda­
pest während seiner Reisevorbereitungen für die USA. Er schätzte die Situation
in den letzten Oktobertagen aber offenbar nicht als so brenzlig ein, dass er
den Termin hätte verschieben wollen, obwohl gleichzeitig im Nahen Osten der

44 Zu dem realen historischen Hintergrund siehe Allen Dulles und Gero v. Gaevernitz:
Unternehmen »Sunrise«. Die geheime Geschichte des Kriegsendes in Italien, Düsseldorf
1967.

919
Angriff auf Ägypten begann. Sein Besuch bei Dulles war Gehlen wichtiger als
ein Besuch von Franz Halder, seinem ehemaligen Förderer, der noch immer
im Dienste der US Army an der Aufarbeitung des Erfahrungsschatzes des
deutschen Generalstabs arbeitete. Halder erwartete mit einiger Genugtuung,
dass beim bevorstehenden Wiederaufbau deutscher Streitkräfte die »herein­
strömenden Vertreter alten bewährten Generalstabsgeistes sich durchsetzen
können gegenüber den Hemmungen, die sich aus der psychologischen Ent­
wicklung nach 1945 nun einmal ergeben haben«.45 Mit der Hoffnung Haiders,
dass es zum »Aufbau eines wurzelechten deutschen Soldatentums« kommen
werde, konnte sich Gehlen sicher identifizieren, obwohl er selbst den Weg ins
höhere Beamtenwesen vorgezogen hatte.
Der ehemalige Adjutant, nun zum »Präsidenten« gereift, hatte den General­
oberst a. D. zu einem Besuch in Pullach eingeladen, sicher in der Absicht, ihm
voller Stolz das Erreichte zu zeigen, das zumindest äußerlich an den spröden
Charme des OKH-Hauptquartiers in den ostpreußischen Wäldern erinnerte.
Die Terminabsage überließ Gehlen jetzt seinem militärisch ranghöheren Mit­
arbeiter August Winter. Halder reagierte gelassen. Es werde sich schon eine
Gelegenheit finden, der freundlichen Einladung »Ihres Direktors« zu folgen.
Eilig sei die Sache ja nicht.46 Soweit bekannt, fand die nächste persönliche
Begegnung bei Haiders Beerdigung 1972 statt.
Gehlen trat die USA-Reise mit großen Erwartungen an. Es sollte sein ers­
tes offizielles Auftreten als souveräner »Präsident« des deutschen Auslands­
nachrichtendienstes sein, jetzt als »Partner« von CIA-Chef Dulles, den Gehlen
erst später in seinen Memoiren als »Freund« bezeichnete.47 Auch auf ame­
rikanischer Seite hatte man den Besuch intensiv vorbereitet. Dazu gehörte
nicht zuletzt auch eine neue Bearbeitung der internen biografischen Daten­
sammlung über Gehlen. Registriert waren seine bisherigen Aliasnamen: »Dr.
Richard Schneider«, »Richard Garner«, »Robert Gontard«, »Hans Holbein«,
»Dr. Gross«, »Dr. Ernst«, »Robert Graber«. Die Gefahr einer unerkannten Ein­
reise des BND-Chefs bestand natürlich nicht. Die Beschreibung, Gehlen zeige
eine militärische Haltung und sehe im Vergleich zu seinem Alter (54) sehr viel
jünger aus, hätte wohl kaum dazu beitragen können, seine Tarnung auffliegen
zu lassen 48
Gehlen wurde begleitet von Eberhard Blum, seinem Stellvertreter, sowie
von Kurt Weiß und Tom Lucid, den Leiter des CIA-Verbindungsstabes in Mün­

45 Schreiben Haiders an Heusinger vom 3.5.1956, BA-MA, N 220/80.


46 Schreiben von August Winter an Halder, 23.10.1956, BA-MA, N 222/81.
47 Gehlen, Der Dienst, S. 207.
48 Karteiblätter vom 19.10.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen
vol3_10F2, S. 19-22.

920
chen.49 Die Delegation aus Pullach hatte wieder die umständliche Schiffsreise
mit der »America« gewählt, da der »Doktor« den Luftverkehr scheute. Auf dem
Atlantik erfuhr er am 5. November 1956 vom Einmarsch sowjetischer Panzer,
die den Aufstand in Ungarn brutal niederwalzten. Gehlen war bis zu diesem
Augenblick zwar über die bedrohliche Lage in Ungarn und Nahost informiert,
hatte aber keine Hinweise auf unmittelbar bevorstehende Kampfhandlungen.
Nach Konsultation der CIA hatte er sich entschlossen, die Reise anzutreten. An
Bord des Schiffes, sieben Tage vor der Ankunft in New York, fühlte er sich nun
wie gefangen und machte sich selbst schwere Vorwürfe. Tag für Tag umrundete
er mit Lucid bzw. Weiß das gesamte Schiff, bis schwere Stürme auch diesen
Gedankenaustausch verhinderten. Lucid und Gehlen mussten schließlich see­
krank das Bett hüten. Weiß suchte nach Wegen, um mehr Informationen zu
erhalten, als die Bordzeitung verharmlosend – um die jüdischen Passagiere
wegen der in Ungarn lebenden Juden nicht zu beunruhigen – täglich veröffent­
lichte. Der Funker, der die ausführlichen Radionachrichten empfangen konnte,
war von der Schiffsführung zum Schweigen verpflichtet worden. Weiß nutzte
die kleinen Dollarbeträge, die Lucid für eventuelle Trinkgelder verteilt hatte,
um dieses Schweigen zu durchbrechen.
Bei der Landung in New York war Gehlen also in etwa auf dem Laufenden.
Die CIA-Delegation begrüßte ihn mit ernsten Mienen. In der City erwartete ihn
Allen Dulles, der ziemlich gestresst wirkte. An diesem Tag sollte die Wieder­
wahl Eisenhowers stattfinden. Nach Kurzvorträgen über die Lage in Europa
und Nahost zog Dulles pessimistische Schlussfolgerungen. Er sah eine »akute
Kriegsgefahr« durch die Drohung des sowjetischen Ministerpräsidenten, Niko­
lai Bulganin, Paris und London mit Raketen zu beschießen, falls die britisch­
französischen Operationen am Suezkanal nicht sofort eingestellt würden. Geh­
len reagierte spontan mit der Feststellung, es handele sich um eine »plumpe
Drohung«. Nach seinen Erfahrungen mit den Sowjets sei sie unglaubwürdig.
Schon befand man sich in einer lebhaften und kontroversen Diskussion, bei
der Gehlen rasch ins Hintertreffen geriet, weil Dulles und seine Experten mit
neuen Detailerkenntnissen aufwarten konnten. Gehlens Vorschlag, aus Pull­
ach eine Lagebeurteilung einzuholen, ignorierte Dulles und riet seinem Gast,
unverzüglich nach Europa zurückzukehren. Als Gehlen zögerte, erklärte Dul­
les, er würde jedenfalls in einer solchen Lage sofort zu seinem Dienst zurück­
kehren.
Der schockierte Gehlen stimmte zu, noch am Abend des Ankunftstages
über London nach Frankfurt zurückzufliegen. Weiß hatte den Eindruck, dass

49 Siehe den ausführlichen Reisebericht von Weiß in dessen Nachlass, BND-Archiv, N 10/4,
Teil 1, S. 104-111.

921
Überfahrt mit der »America« 1956 zum Antrittsbesuch bei CIA-Chef Allen Dulles:
Kurt Weiß (links) und Reinhard Gehlen

dem CIA-Chef »ein Stein vom Herzen fiel«, weil er froh war, »utility« und seine
Delegation wieder »los zu sein«.
Der Rückflug mit den komfortablen Schlafmöglichkeiten in der Senator­
klasse verlief planmäßig. In Frankfurt wurde Gehlen von Horst Wendland
abgeholt, der mit Unverständnis auf die plötzliche Rückkehr reagierte und auf
mitgeführte BND-Analysen verwies. Gemeinsam bedauerte man, dass die CIA
offenbar kein Interesse daran zeigte.
Dulles hatte seinen Vertreter in Frankfurt am Main beauftragt, Gehlen bei
seiner Landung noch einmal die Einschätzung der CIA zu erläutern, obwohl
sich die Dinge täglich ändern würden und ein Waffenstillstand in Sicht sei:
1. Die Briefe des sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin enthielten
eine starke, aber unbestimmte Warnung vor einem Einsatz sowjetischer Kräfte
entweder im UN-Rahmen oder auch allein.
2. Die Sowjets wollten eine starke Fähigkeit herstellen, um ihre Position
als »Champion« Ägyptens und der antikolonialen Mächte zu stärken, die Auf­
merksamkeit von Ungarn abzulenken, die Interessen und das Prestige von
Frankreich und Großbritannien zu schädigen sowie die westliche Allianz zu
spalten und damit die Angst vor dem Einsatz sowjetischer Kräfte als Schlüs­
selfaktor in der Weltpolitik erneuern.

922
3. Man glaube, dass die frühere Einschätzung gültig sei, wonach die Sowjets
einen allgemeinen Krieg vermeiden wollen.
4. Die gegenwärtige Einschätzung der Sowjets: Sie würden ziemlich sicher
nicht die Heimatgebiete Frankreichs und Großbritanniens angreifen, weil das
einen großen Krieg bedeuten würde. Unwahrscheinlich sei der Einsatz gro­
ßer sowjetischer Kräfte im Mittelmeer, weil die Fähigkeiten dazu gering und
die Gefahr groß sei, dass es dadurch zu einem Weltkrieg komme. Im kleineren
Maßstab könnten Angriffe durch die Luftwaffe oder U-Boote im östlichen Mit­
telmeer zu einem befriedigenden Ergebnis für sie fuhren. Die Sowjets würden
die Entsendung von Material und Freiwilligen zu den Arabern wahrscheinlich
in steigendem Maße fortsetzen, zumindest würden sie eine Alarmstimmung
im Westen durch fortgesetzte Drohungen schaffen.
5. Die CIA glaube nicht, dass die Sowjets Nuklearraketen im ägyptisch-isra­
elischen Krieg einsetzen werden, obwohl sie die Fähigkeit dazu hätten.
6. Sowjetische Luftangriffe im westlichen Mittelmeer würden Langstre­
ckenbomber oder IL-28 (zweistrahliges Frontbombenflugzeuge) für eine
Strecke erfordern. IL-28-Stützpunkte in Syrien, Jordanien oder im Irak wären
möglich, würden aber eine Menge Probleme hinsichtlich der Logistik und der
Verteidigung mit sich bringen.
7. Möglich, aber nicht wahrscheinlich sei die Ausnutzung der Suezkrise für
Luftangriffe auf die britische Kronkolonie Hongkong.
8. Die Entwicklung werde von täglichen Entscheidungen abhängen und von
der Einschätzung der Sowjets, welchen Kurs die Großen Drei wählten.50
Mit dieser weitgehend zutreffenden Analyse von Dulles im Gepäck, bemühte
sich Gehlen gleich nach seiner Rückkehr, den Eindruck, den er in den USA hin­
terlassen hatte, zu überspielen. In einem Brief an Dulles teilte er mit, dass die
deutsche Regierung mit der Arbeit des BND während der »heißen« Tage zufrie­
den sei. Er hoffe auf sein Einverständnis, die Reise zu wiederholen, sobald es
die Lage zulasse. Er habe während der jetzt abgebrochenen Reise eigentlich
die Absicht gehabt, ihm als kleines Erinnerungsstück die goldene St.-Georgs-
Medaille des Dienstes zu überreichen, als Symbol für den gemeinsamen Kampf
gegen den Bolschewismus. Er schicke sie ihm jetzt zugleich mit den besten
Weihnachts- und Neujahrswünschen.51

50 Mitteilung Director an Frankfurt, 6.11.1956, NA Washington, RG 319, Entry 134A,


Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2, S.34-37. Zur historischen Einordnung siehe Winfried
Heinemann und Norbert Wiggershaus (Hg.): Das internationale Krisenjahr 1956. Polen,
Ungarn, Suez, München 1999; Jost Dülffer: Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1990,
München 2004, sowie Bernd Greiner, Christian Th. Müller und Dierk Walter (Hg.): Krisen
im Kalten Krieg, Bonn 2009.
51 NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2, S. 38.

923
St.-Georgs-Medaille, höchste Auszeichnung des
BND für Kämpfer gegen den roten Drachen

Critchfield übernahm den Liebesdienst und übersandte den Brief Geh­


lens samt Goldmedaille an seinen Chef Dulles. Auf Critchfields Frage, ob es
eine besondere Bedeutung habe, dass St. Georg der Schutzpatron Englands
sei, erklärte Gehlen, das sei ihm nicht bewusst gewesen und habe auch keine
Bedeutung. Er sei eben bei der Auswahl des Symbols fasziniert gewesen von
dem tapferen Ritter, der den roten Drachen tötet. Vermutlich mit einem
Augenblinzeln fügte Gehlen hinzu, dass es wohl immerhin eine bessere Wahl
sei als etwa St. Patrick, der Schutzpatron des neutralen Irland. Dulles bedankte
sich kurz und freundlich für das schöne Geschenk. Er dürfe den Besuch gern
nachholen. Fröhliche Weihnachten.52
Die Vorfreude auf das Weihnachtsfest wurde auch in Pullach etwas getrübt.
Washington hatte die Unterstützung der militärischen Intervention am Suez­
kanal von Anfang an mit Rücksicht auf seine Interessen gegenüber den Staa­
ten der Dritten Welt abgelehnt und suchte auf der Basis eines Stillhaltens
gegenüber der sowjetischen Aggression gegen Ungarn das Einvernehmen mit
Moskau. Die UNO-Vollversammlung forderte Israel zum Rückzug aus Ägypten
auf. Großbritannien und Frankreich räumten das Feld. Es war das Ende einer
eigenständigen Weltmachtpolitik der beiden Mächte, die gerade die Reste ihre

52 Chief Eastern Europe an Ascham (Dulles), 16.11.1956, ebd., S. 40-41.

924
Kolonialreiche verloren. Gehlen hatte in diesem Konflikt ganz auf eine harte
Linie gesetzt, ebenso auch im Falle Ungarns. Die Enttäuschung über das ame­
rikanische Stillhalten beim Fall von Budapest verstärkte das Misstrauen Ade­
nauers gegenüber der westlichen Schutzmacht und verleitete den Kanzler zu
kritischen Äußerungen in der Öffentlichkeit. Ihm ging es darum, die Bundes­
republik als das »alleinige Bollwerk gegen den Bolschewismus in Europa«53 zu
stärken, und deshalb reagierte er mit Sorge auf die Diskussion in den USA über
eine Umrüstung, das heißt eine Reduzierung der konventionellen Streitkräfte
zugunsten der atomaren Bewaffnung (Radford-Plan).
Hier konnte Gehlen seine nützlichen Dienste einbringen, um die Sorgen in
Washington zu dämpfen. In einem Gespräch mit Critchfield, das dieser an sei­
nen Chef Dulles berichtete,54 verwies Gehlen darauf, dass ihm der Staatssekre­
tär des Auswärtigen Amts Walter Hallstein versichert habe, Adenauer sei kei­
neswegs gegen die US-Politik eingestellt. Seine Ausbrüche beruhten meist auf
einem falschen Rat und resultierten aus der Notwendigkeit einer raschen Reak­
tion. Die Ansichten änderten sich aber wieder, wenn der Sachverhalt gründlich
erklärt werde. Adenauer habe großes Vertrauen zu US-Außenminister John Fos­
ter Dulles und dessen Bruder, dem CIA-Chef. Deshalb, so übermittelte Critch­
field, glaubten Hallstein und Gehlen, dass unabhängig von einzelnen Äußerun­
gen des Kanzlers dieser grundsätzlich proamerikanisch eingestellt sei. Gehlen
hielt das schon aus praktischen Gründen für unvermeidbar. Eine konstruktive
Zukunft Europas sei nur mithilfe der amerikanischen Freundschaft möglich.
Darüber hinaus sei der Umgang mit Russland nur aus einer Position der Stärke
heraus möglich, die in Westeuropa erst noch entwickelt werden müsste.
Hallstein, so Gehlen, halte amerikanisch-sowjetische Gespräche zwar für
notwendig, doch sollten sie nicht mit einer Fülle von Fragen belastet werden.
Es sei wichtig, keinen Zeitdruck zu schaffen und zu beachten, dass solche
Gespräche eine Sache der Zukunft seien, wenn der Westen eine Position der
Stärke auch in militärischer Hinsicht erreicht habe. Zum gegenwärtigen Zeit­
punkt (die Bundeswehr bereitete sich gerade darauf vor, die ersten drei Divisio­
nen aufzustellen) sei ein Aufstand in Ostdeutschland nur möglich, wenn der
Westen seine Hilfe ganz deutlich machen würde. Daran würde sich auch nichts
ändern, wenn es einen Aufstand in Polen gäbe. Critchfield sprach den »Hei­
matschutz« an, eine geplante westdeutsche Territorialarmee aus kriegsge­
dienten ehemaligen Wehrmachtsoldaten. USAREUR hätten Gerüchte erreicht,
dass diese nicht der NATO unterstellten Truppe gegen Ostdeutschland einge­

53 112. Sitzung des Bundeskabinetts am 11.1.1956, Die Kabinettsprotokolle, Bd. 9, S. 87.


54 Message from Frankfurt to Director mit Bericht über das Gespräch am 17.12.1956, NA
Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol3_10F2, S.45-47.

925
setzt werden könnte. Gehlen meinte, dass viel diskutiert werde über solche
westdeutschen Elemente als Defensiv-, aber nicht als Offensiveinheiten, die
verfügbar sein sollten, bis die deutsche Armee wiederaufgebaut worden sei.
Man müsse ihren Status noch festlegen, bisher sei aber nichts getan worden.
Gehlen, der noch Anfang des Jahres eine Ausbreitung des sowjetischen Ein­
flusses befürchtet hatte, beurteilte jetzt die Politik Moskaus zurückhaltender.
Dass die Sowjets einen Agentenaustausch zur Freilassung von Werner Haase,
einem entführten und verurteilten BND-Mann, nur mit einigen Schwierigkei­
ten erfüllen konnten, gebe einen Hinweis auf interne Differenzen. Der gegen­
wärtige Schauprozess gegen den ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy
zeige ihre Angst, es könnte der Anschein entstehen, dass die Verurteilung zum
Tode vorher abgesprochen sei. Was ihm momentan wirklich Sorge bereitete,
war der ungeklärte Status des BND im Kriegsfall. Seit Jahren hatte Gehlen auf
eine rechtzeitige Evakuierung und die volle Eingliederung in die CIA gesetzt;
jetzt wünschte er sich einen Status als eine Art vierter deutscher Teilstreitkraft,
mit einem militärischen Rang für sich selbst, verbunden mit der Stellung als
politischer Berater des Kanzlers sowie als Intelligence-Berater und Auswer­
ter im militärischen Oberkommando. Dies würde die Selbstständigkeit seines
Dienstes erhalten und die besten Ergebnisse hervorbringen sowie es ihm per­
sönlich ermöglichen, am effizientesten aufzutreten.
Als weiteren Punkt aus dem Gespräch mit Gehlen erwähnte Critchfield,
dass die deutsche Mitgliedschaft in dem Coordinating and Planning Commit­
tee (CPC) der NATO demnächst vollendet sein werde, wenn Wessel Exgeneral
Winter zum CPC-Treffen im Januar mitnimmt und ihn als deutschen Reprä­
sentanten vorstellt. Über seine Beziehungen zum Verteidigungsministerium
habe er sich noch keine Gedanken gemacht, trotz der Ernennung von Strauß.
Er wolle den Wechsel im Ministerium erst einmal abwarten. Gehlen zeigte sich
bereit, auch darüber die amerikanische Seite zu informieren, wünschte sich
freilich für solche und ähnliche Zwecke einen privaten Kommunikationskanal,
den er für spezielle Botschaften an Dulles nutzen könnte. Vielleicht lasse sich
ein Weg finden, Dulles einzuschalten und die US-Station in Deutschland ein­
zuweihen. Anscheinend dachte Gehlen an Critchfield, zu dem er trotz häufiger
Differenzen in der Vergangenheit noch am ehesten Vertrauen hatte und dessen
Aufstieg zum Osteuropachef der CIA den offiziellen Dienstweg zwischen ihnen
keineswegs abgeschnitten hatte.
Die erfreulichste Nachricht dieser Tage für Gehlen war der lange erwartete
Beschluss des Bundeskabinetts über seine Ernennung zum Präsidenten des
BND.55 Critchfield kümmerte sich um die Terminplanung für Gehlens nächsten

55 Sitzung des Kabinetts am 19.12.1956, Kabinettsprotokolle, Bd. 9, S. 777.

926
USA-Besuch.56 In einem Gespräch erklärte ihm Kurt Weiß, man könne jedes
Vertrauen in den anhaltenden Willen Gehlens haben, die engen Beziehungen
fortzusetzen.57
Bei allen Gesprächen Gehlens mit Pressevertretern sei »Winterstein« (Kurt
Weiß) dabei, erfuhr Critchfield. Die meistgestellte Frage der Journalisten sei,
ob die CIA nicht alles über ihn und seinen Dienst wisse. Gehlen erwidere dann
immer in derselben Weise: »Ein Geheimdienst ist stets so konstruiert, dass
keiner von außerhalb ein Gesamtbild von allen internen Details haben kann.«
Er verweise auf das grundlegende Verständnis der CIA für dieses Problem
und bestätige, dass die CIA nicht seine Quellen kenne und dass die Dinge, die
geheim bleiben müssten, auch geheim blieben, gegenüber der CIA wie gegen­
über jedermann. Wenn Gehlen daran wirklich geglaubt haben sollte, dann
unterlag er einem fatalen Irrtum. Die CIA – aber auch der KGB – wussten über
interne Geheimnisse Pullachs mehr als Gehlen recht sein konnte.
Die Verärgerung der Amerikaner über kritische Äußerungen Adenauers ließ
Gehlen nicht los. Immerhin hatte selbst Dulles kürzlich bei einem Besuch Spei­
dels Besorgnis geäußert, es sei ein wachsendes Misstrauen des Bundeskanz­
lers gegenüber der US-Politik zu spüren. Dulles bat Gehlen herauszufinden,
wo die »Brunnenvergifter« saßen. Und Gehlen war gefällig. Er übermittelte
folgendes Bild: Friedrich von Kessel, Bundesvorsitzender des BHE, und Axel
von dem Bussche wirkten über den Chef des Presse- und Informationsamtes,
Felix von Eckardt, auf Adenauer ein. Sie gehörten zur »Baldrian-Gruppe«, die
den Gedanken einer Wiedervereinigungspolitik mit dem militärischen Rück­
zug beider Seiten vertrete, eine Gruppe von Politikern, die nach Einschätzung
von Gehlen dazu neigte, die Wachsamkeit gegenüber der sowjetischen Expan­
sionspolitik in Bonn »einzuschläfern«. Dazu werde dem Kanzler wohl auch
vorsichtig Material aus dem Osten zugespielt.58 In seiner Manie, hinter jeder
kritischen Haltung eine Verschwörung zu wittern bzw. sie mit dieser Behaup­
tung zu denunzieren, sah er eine Verbindung mit der Fortsetzung des Kampfes
aus dem Osten gegen Pullach.
Das von ihm angeführte Beispiel war absurd: Über Kielmansegg, Oster und
Ulrich de Maizière werde über den im Gutachterausschuss für die Bundeswehr
sitzenden »Herrn von Schiaberndorf« (sic! Recte: Schlabrendorff) der Versuch
gemacht, durch Ablehnung von Oberst a. D. Herre dem Dienst und Gehlens
persönlichem Ansehen einen schweren Schlag zuzufugen. Er habe deshalb die
Nominierung von Herre zurückgezogen und werde ihn im Dienst zivil verwen­

56 Mitteilung Critchfields für Frankfurt, München und Pullach vom 29.12.1956, NA


Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol3_10F2, S. 48.
57 Notiz über ein Gespräch mit »Winterstein« am 16.1.1957, ebd., S. 49.
58 Aktennotiz (vermutlich von Gehlen) vom 3.2.1957, BND-Archiv, 1163.

927
den. »Schlaberndorf« (so die gezielte Falschnennung von Fabian von Schlab­
rendorff, einem Überlebenden des 20. Juli 1944) spiele im Kampf gegen den
BND eine maßgebende Rolle, auch wenn er äußerst vorsichtig operiere. Seine
Motive seien nicht ganz klar. Beim John-Prozess habe sich außerdem gezeigt,
dass verschiedene Stellen versucht hätten, einen Freispruch für den ehema­
ligen BfV-Präsidenten zu erreichen. Offenbar suche de Maizière einen enge­
ren Kontakt zu Henry Pleasants. Es wäre zweckmäßig, wenn Pleasants einen
»gewissen Wink zur Vorsicht« erhalte. Gehlen wollte das nicht selbst machen,
um nicht missverstanden zu werden.
Critchfield schaltete sich wieder ein und erörterte mit Henry Pleasants,
dem Chief of Base Bonn, einige Probleme, die Gehlens Position in der Bundes­
hauptstadt schwächten.59 Beide waren der Ansicht, dass die Periode, in der
Gehlen sich auf seinen Lorbeeren ausruhte und das Leben eines Landedelman­
nes in Pullach genoss, in der Meinung, dass die großen Schlachten geschla­
gen und gewonnen seien, zu einem Ende gelangen könnte. Sein alter Feind
Achim Oster, der jetzt als Referatsleiter in der Abteilung Streitkräfte des Ver­
teidigungsministerium wirkte, habe ins Ohr von Minister Strauß geflüstert,
und er habe »keine süßen Kleinigkeiten« geflüstert. Die Melodie seiner »Flüs­
terlieder« gehe dahin, dass ein Verteidigungsminister nicht zulassen könne,
von einem zivilen Geheimdienst abhängig zu sein, der sich nicht unter seiner
Kontrolle befindet. Er sollte seinen eigenen haben, und Achim Oster wäre der
Mann, das zu schaffen. Oster machte Strauß auf die vielen Gehlen-Leute in
seiner Umgebung aufmerksam, die sich in Schlüsselpositionen befanden. Die
Kenntnis der Vorgänge stamme von einer geheimen Quelle in Bonn. Sie seien
kürzlich im Allgemeinen von Gehlen bestätigt worden, der dem Vorgesagten
hinzufügt habe, dass de Maizière ein »Advokat des Teufels« sei.60
Ein anderes Ärgernis bilde Kielmansegg, der weitermache, von Paris aus
Einfluss auf die Entwicklung in Bonn zu nehmen. Gehlen habe kürzlich darum
gebeten, mit US-General John Schweizer in Paris in Verbindung gebracht zu
werden, um den Kanal zwischen Kielmansegg und dem Ministerium zu unter­

59 Chief Eastern Europe an Chief of Base Bonn, 4.2.1957, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_vol3_10F2, S. 50-51.
60 De Maizière spielte als Abteilungsleiter Landesverteidigung und vor allem als konsens­
orientierter Befürworter des Prinzips der »Inneren Führung« und des »Staatsbürgers in
Uniform« eine wichtige Rolle an der Spitze der Bundeswehr. Er machte im Gegensatz zu
Gehlen eine zweite militärische Karriere und avancierte 1964 zum Inspekteur des Heeres
und war von 1966 bis 1972 Generalinspekteur der Bundeswehr. Gegenüber Gehlen als
Präsidenten des BND bemühe er sich in den 1960er-Jahren um ein respektvolles, kame­
radschaftliches Verhältnis und sprach bei diversen Geburtstagsgrüßen u. Ä. stets seinen
persönlichen Dank für Gehlens Hilfe aus; siehe John Zimmermann: Ulrich de Maizière.
General der Bonner Republik 1912 bis 2006, München 2012, S. 196-197, 244-245.

928
brechen. Gleichzeitig bemühte sich Gehlen selbst darum, seinen Einfluss auf
das Verteidigungsministerium zu erhalten und nicht abgehängt zu werden.
Zu dieser Zeit war er regelmäßig dienstags im »Militärischen Führungsrat«
der Bundeswehr präsent und konnte sich in gewissem Maße auf Heusinger
stützen, der als Generalinspekteur daran interessiert war, den Kontakt zu
ihm intensiv zu pflegen.61 Gehlens Animositäten gegenüber de Maizière und
Kielmansegg, die sich beide als gemäßigte Reformer auf dem Sprung an die
Spitze der Bundeswehr befanden, lassen sich mit unterschiedlichen politi­
schen Einschätzungen und persönlicher Missgunst gegenüber den jünge­
ren Kameraden aus der ehemaligen Operationsabteilung nicht ausreichend
erklären.
Gehlen nahm es sehr persönlich, dass er seinem Vertrauten Herre nicht
zu der erhofften Obristenuniform verhelfen konnte, woran nach seiner Mei­
nung Kielmansegg Schuld hatte. Herre hatte der Vorgang sehr erregt.62 Gehlen
konnte nicht mehr tun, als ihm ersatzweise schriftlich Genugtuung zu geben
und ihn zum »Führungsbeauftragten des BND« zu ernennen, mit unmittelba­
rer Unterstellung unter den Präsidenten sowie einer Weisungsbefugnis gegen­
über Teilen des Geheimen Meldedienstes, die Herre unterstellt wurden – es
dürfte auch mit einer Besoldungserhöhung verbunden gewesen sein.
Critchfield führte weiter aus: Doch es seien nicht allein Gehlens Schwie­
rigkeiten auf militärischer Seite. Das Auswärtige Amt sei verärgert über die
außenpolitische Berichterstattung des Bundesnachrichtendienstes an Ade­
nauer über den Kanal Globke. Die Berichte, die über den Verteiler das Auswär­
tige Amt (AA) erreichten, würden nicht hoch eingeschätzt. Gehlens Position in
diesem Bereich sei nicht stark, und es könnte sein, dass sie weiter geschwächt
werde, wenn Bundespressechef Felix von Eckardt Erfolg haben sollte, sich in
den Kanal einzuschalten. Ein ausgearbeitetes Schema nationaler Ziele nach
dem amerikanischen Modell könnte einige der Schwierigkeiten beseitigen.
Aber solange der Kanzler Appetit darauf habe, werde Gehlen solche politi­
schen Berichte beisteuern, und solange er das tue, werde er Ressentiments
des AA begegnen.

61 Meyer, Heusinger, S. 532. Heusinger nutzte die Gelegenheit, um den ehemaligen Gestapo­
mann Willy Litzenberg beim BND unterzubringen. Litzenberg hatte Heusinger nach dem
20. Juli vernommen und ihn anschließend laufen lassen. Intern wurde eine Übernahme
wegen Dienstunfähigkeit und mangelnder Fachkenntnis abgelehnt. Gehlen kam Heusin­
gers Bitte insofern entgegen, als dass Litzenberg in einem losen Verhältnis beschäftigt
wurde; Gehlen an Heusinger, 6.3.1957, BA-MA, 643/56a, Blatt 98. Hier schuf Litzenberg
sich ein Netzwerk aus ehemaligen Gestapokameraden; siehe demnächst die UHK-Studie
von Gerhard Sälter: NS-Kontinuitäten und ihre Folgen im BND.
62 Aktennotiz für Gehlen vom 28.2.1957, Nachlass Herre, BND-Archiv, N 2/v.3.

929
Gehlen musste dieser Kritik des Auswärtigen Amts unbedingt widerspre­
chen, wollte er nicht seinen Einfluss auf den Kanzler gefährden. So ließ er
nach seiner eigenen Art eine detaillierte Statistik anfertigen. Demnach habe
der BND im ersten Jahr seiner Existenz 2117 Meldungen, rund ein Drittel
des Gesamteingangs, jeweils ans Kanzleramt und an das AA weitergereicht,
dazu elf Studien und 18 Stellungnahmen. In diesem Zeitraum habe es ledig­
lich 26 Anfragen des AA gegeben, das die vom BND erhaltenen Meldungen in
832 Fällen als objektiv zutreffend oder wahrscheinlich bezeichnet habe. 681
seien für die Urteilsbildung im AA als wertvoll eingestuft worden.63 Diese Zah­
len erhöhten sich zwar in den folgenden Jahren erheblich (1964: 2663 Meldun­
gen als besonders wertvoll bzw. wertvoll eingestuft), das Dilemma aber blieb:
Das AA war vor allem an aktuellen und wichtigen Einzelmeldungen interes­
siert, weniger an »Erwägungen« des BND. Diese zu lesen, fehle in Bonn die
Zeit. Außerdem möge der BND doch »präzise Ansichten vertreten und sich zu
einer Meinung bekennen, auch auf die Gefahr hin, >falsch zu liegen<. Auf jeden
Fall würde damit zum Nachdenken angeregt.«64
Bei der nächsten Sitzung des Parlamentarischen Vertrauensmännergre­
miums nutzte Gehlen die Gelegenheit, sein Meldungswesen ausführlich zu
erläutern.65 Das Kanzleramt erhalte alle Meldungen auf wirtschaftlichem und
politischem Gebiet und leite sie entsprechend weiter. Mehrheitlich gingen
die politischen Meldungen an das AA. Die meisten militärischen Meldungen
erhalte direkt das Verteidigungsministerium, wo sie in Lagekarten eingetragen
und einer ständigen, sorgfältigen Endauswertung in der Unterabteilung G-2
unterzogen würden. Der BND sei für die NATO im Hinblick auf die SBZ die
wichtigste Informationsquelle im militärischen Bereich.
Jede Meldung erhalte einen Bewertungsbogen. Im März 1957 seien nur
fünf Prozent der BND-Meldungen von den Empfängern als geringwertig
eingestuft worden. Sie seien für das AA auch deshalb eine wertvolle Quelle,
weil zu den osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion keine diplo­
matischen Beziehungen bestehen – dass die geringe Anzahl von Quellen in
diesem Bereich der größte Schwachpunkt des BND gewesen ist, blieb dessen
Geheimnis. Gehlen ließ sich aber, jenseits der Statistik, nicht davon abbringen,
scheinbar strategisch bedeutsame außenpolitische Meldungen direkt an den

63 BND Abt. Z Nr. 350/57, 29.3.1957, Anlage 1, VS-Registratur Bka 6:152.05, Akte 1, Bd. 1.
Im Vergleich zu außenpolitischen Vorgängen hatte der BND im Zeitraum 1.4.1956-
25.3.1957 in der militärischen Berichterstattung 16 685 Meldungen vorzuweisen.
64 Der Staatssekretär im AA Karl Carstens, nach dem Bericht Leiter 749, 6.4.1966, BND-
Archiv, N 13/21.
65 Bk, Ref. 5, Aufzeichnung für Sitzung am 8.4.1957, VS-Registratur Bka, 6:152.05, Akte 1,
Bd. l.

930
Kanzler zu geben und das Auswärtige Amt mit möglichen Sensationen aus­
zustechen. So reichte er im November 1957 eine Meldung, es gäbe Hinweise,
dass es Ägypten vorziehen würde, westliche statt sowjetische Wirtschaftshilfe
anzunehmen, an Globke mit der Bitte, diese nur an den Bundeskanzler direkt
weiterzugeben.66
Wenn die Vertreter der CIA den Eindruck hatten, dass Gehlen ansonsten
dazu neigte, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, dann hatte das sicher­
lich auch etwas mit seinem Führungsstil zu tun. Denn im Wohlgefühl seines
politischen Erfolgs hielt er sich nach Möglichkeit von allem fern, was Ärger
oder Unannehmlichkeiten versprach. Zur Erledigung dieser Zumutungen
bediente er sich seiner aufgeblähten Entourage in der Zentrale, der Stell­
vertreter und Führungsbeauftragten. Bei drohenden Einbrüchen in seinen
Machtbereich war er aber hellwach. Als es Anzeichen gab, dass sich die deut­
sche Luftwaffe darum bemühte, eine eigenständige Funkaufklärung mithilfe
der Amerikaner zu installieren, suchte Gehlen Verteidigungsminister Strauß
in dessen Münchener Wohnung auf. Er wollte mit dessen Unterstützung
eine klare Aufgabentrennung zwischen BND und Bundeswehr im Kanzler­
amt durchsetzen. Die Vorstellungen von Gehlen gingen aber selbst Globke
zu weit, der den BND-Chef zur Mäßigung ermahnte und ihm einen Allein­
gang untersagte. Ihm blieben lediglich Gespräche mit Strauß und Heusinger
über die Funkaufklärung. Daraus entstand das erste Grundlagendokument
für die Abgrenzung der Aufgaben. Gehlen musste hinnehmen, dass seine ehr­
geizigen Ziele Kompromissen weichen mussten. Als Leiter einer dem Bun­
deskanzleramt unterstellten Behörde gelang es ihm nicht, auf Augenhöhe
mit dem Verteidigungsministerium zu agieren. Bei den Verhandlungen um
die Funkabwehr, also Maßnahmen gegen feindliche Agentenfunker, erreichte
er gegenüber dem Innenministerium hingegen einen beachtlichen Erfolg in
Bezug auf die Abgrenzung zum Verfassungsschutz. Als Gehlen versuchte, die
Verantwortung für die elektronische Kampfführung der Bundeswehr inner­
halb der NATO an sich zu ziehen, biss er bei Strauß auf Granit und musste
einen Rückzieher machen.67

Die zentrale Führungsebene des BND 195768


Leitungsstab
Präsident Gehlen
Vizepräsident Worgitzky

66 Gehlen an Globke, 26.11.1957, BND-Archiv, 1163.


67 Siehe hierzu Müller, Wellenkrieg, S. 184-212.
68 Quelle: Vorläufige Arbeitsgliederung des BND vom 21.6.1957, BND-Archiv, 1113, Blatt
187-188.

931
Referenten:
Blum
Foertsch
Oxenius69
Fregattenkapitän Möhlmann70
Frl. Krüger
6 Sachbearbeiter/Bürokräfte
Führungsbeauftragte:
Geheimdienstliche Planung und Mobilmachung (Wendland)
Strategische Aufklärung (Langkau)
Auswertung (Herre)
Fernmeldeaufklärung (Pfannenschwarz)71
Gesamtsicherheit einschließlich Personal und Ausbildung (Kühlein)
Sonderdienste (Polleck)72
Allgemeine Verwaltung (bis auf weiteres Wendland)

In einem anderen Fall hatte die Innenministerkonferenz beschlossen, eine


Arbeitsgruppe einzurichten, um einheitliche Zuständigkeitsregelungen für die
Verfassungsschutzbehörden, das ASBw, den BND und die Polizei zu erarbeiten.
Gehlen zog es vor, die Ministerpräsidenten und Innenminister der Länder gele­
gentlich aufzusuchen und ihnen die Arbeit des BND zu erläutern, die weiteren,
für die Arbeit des BND wichtigen Verhandlungen überließ er seinem Vizeprä­
sidenten Worgitzky.73
Der CIA-Vertreter in Pullach brachte bei einer Angeltour mit Gehlen eine
fremde Person mit und stellte sie vor als Mann mit diversen geschäftlichen
Kontakten mit den Sowjets sowie zur sowjetischen Botschaft in Bonn und in
Ost-Berlin.74 Die Amerikaner hatten ihn seit Jahren abgedeckt, das heißt mit
einer vorgetäuschten Identität geschützt. Es handelte sich um den Ingenieur
Roman Schellenberg vom Rheinmetall-Konzern, ein ehemaliger Schulfreund
von Baun in Odessa. Gehlen leugnete auf Befragen des CIA-Mannes jeglichen
Kontakt mit Schellenberg – in den letzten Jahren. Zugleich räumte er ein, dass

69 Friedrich-Wilhelm Oxenius, Leiter der Presseauswertung, 1944 als Major i. G. Adjutant


von General Alfred Jodl im OKW und als Dolmetscher bei den Kapitulationsverhandlun­
gen am 7. Mai 1945 in Reims beteiligt.
70 Helmut Möhlmann (DN »Molnar«).
71 Ekbert Pfannenschwarz (DN »Schwartz«).
72 Fritz Polleck (DN »Pohl«).
73 Auszug aus der Niederschrift der Konferenz am 20.2.1957, VS-Registratur Bka, Bk
10200/8, Bd. 1.
74 Bericht der Station Pullach für Chief Eastern Europe vom 6.2.1957, NA Washington, RG
319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol.3_10F2, S. 52.

932
sein Freund Oberst a.D. Friedrich Geist, ein Rüstungsexperte, Schellenberg
mehrfach getroffen habe. Er vertraue Geist, es liege jedoch in der Natur des
Geschäfts, dass er in Kontakt zu allen möglichen schmutzigen und finsteren
Figuren komme. Gehlen bat deshalb die Amerikaner, ihm jegliche Informatio­
nen über die Aktivitäten von Geist zu geben und es ihm so zu ermöglichen,
»die Nase sauber zu halten«.

2. Ausbau des BND und der Partnerschaft mit


der CIA (1957-1959)

Im Frühjahr 1957 freute Gehlen sich darauf, den wegen der Ungarnkrise
abgebrochenen USA-Besuch nachholen zu können. Es war schließlich seine
Antrittsreise als »Präsident« beim »großen Bruder« Dulles. Die Kosten über­
nahm die CIA, und Gehlen wollte gleichsam zur persönlichen Entspannung
die Rückreise für Tagesaufenthalte in Lissabon, Madrid und Rom nutzen, bei
denen er die örtlichen Geheimdienstchefs zu einem Höflichkeitsbesuch auf­
suchen wollte. Anders als bei Dulles würde er hier, bei den kleineren euro­
päischen Verbündeten, zumal ehemals faschistischen Staaten, mit besonders
großer Sympathie und Anerkennung rechnen dürfen. Er wollte wieder unter
Aliasnamen reisen und brauchte deshalb einen offiziellen CIA-Reisebegleiter.
Bei den Gesprächen sollte dieser freilich nicht anwesend sein.75
Gehlen reiste unter dem Decknamen »Robert Graber« und ließ sich von
Eberhard Blum und Kurt Weiß begleiten.76 Nach einem Zwischenaufenthalt
in Lissabon traf das Flugzeug am Sonntag, den 17. März 1957 in New York
ein. Ein mehrtägiges Besichtigungsprogramm, einschließlich Polizeizentrale,
Hafenrundfahrt und Musical-Aufführung, sorgte für Entspannung. Die Gruppe
fuhr dann weiter nach Washington zum offiziellen Empfang durch den CIA-
Chef. Dulles zeigte sich bemüht, durch eine besonders herzliche Begrüßung
die peinlichen Umstände der letzten Begegnung zu überspielen. Vor der
deutschen Delegation lag ein viertägiges Mammutprogramm mit vielfältigen
Besichtigungen in Teilbereichen der CIA, mit denen die deutschen Juniorpart­
ner offenbar beeindruckt werden sollten. Gehlen bat um Vorträge über die
Personalbearbeitung und Ausbildung, von denen er sich Anregungen für die
Entwicklung des BND versprach. Politisch hoch brisant waren Gespräche mit
Helms und Wisner über die Möglichkeit, dass in den nächsten Jahren in Polen

75 Notiz vom 4.2.1957, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol3_10F2,


S.51.
76 Kurzbericht des Deputy Directors Plans für den Director FBI vom 15.3.1957, ebd., S. 56,
sowie in den Erinnerungen von Kurt Weiß, BND-Archiv, N 10/4, S. 106-109.

933
und der DDR Volksaufstände wie in Ungarn ausbrechen könnten. Dann müsste
man in der Lage sein, so Gehlen, den Widerstand notfalls auch mit Waffen und
Ausrüstungen zu unterstützen. Es blieb offenbar bei solchen Gedankenspielen.
Konkrete Aktivitäten in dieser Hinsicht sind nicht zu erkennen.77
An jedem Abend gab es gesellschaftliche Veranstaltungen, sodass am Ende
Gehlen sichtbar erschöpft war. Den Vorschlag der amerikanischen Seite, einige
Erholungstage in Kalifornien zu verbringen, lehnte Gehlen ab. Ein erneuter
Flug über eine große Distanz war ihm zu viel. Nach Rückkehr nach New York
machte Blum allein einen Abstecher nach Boston. Gehlen traf sich dafür mit
Critchfield. Dieser berichtete anschließend, dass sich Gehlen auf »philosophi­
sche Weise« von seinen augenblicklichen Problemen gelöst und betont habe,
dass er keinerlei militärische oder politische Ambitionen mehr habe.78 Er wolle
nicht mehr erreichen, als den Dienst in der Zukunft zu einem professionel­
len Nachrichtendienst zu entwickeln, der in der Lage sei, einen Beitrag für die
Sache der westlichen Welt zu liefern, für die er sich nach wie vor engagiere. Die
Jahre würden so schnell vergehen; für den Fall, dass er sich auf seine Pensio­
nierung und einen Nachfolger einstellen müsse, sei und bleibe Oberst Wessel,
sein ehemaliger Vertreter und letzter Chef von FHO, der designierte Nachfol­
ger. Critchfield notierte: Gehlen sei erst 54 Jahre alt, sehe jünger aus und sei bei
bester Gesundheit, trotz seines früheren Gallenleidens. Wessel sei zehn Jahre
jünger als Gehlen – unausgesprochen: der hatte noch Zeit und sollte erst ein­
mal seine zweite militärische Karriere vorantreiben.
Die USA-Reise sollte durch erholsame Tage auf den Bermudainseln abge­
rundet werden. Weiß und Blum langweilten sich unendlich, doch der »Dok­
tor« genoss die Zeit, weniger den gemeinsamen Besuch in einem bekannten
Nachtlokal. Die Hauptattraktion dort war eine rassige Solotänzerin, die zu
fortgeschrittener Stunde gern ältere Herren aus dem Publikum zum Tanz auf­
forderte. Lucid hatte für die Gruppe einen der besten Tische an der Tanzfläche
reservieren lassen. Gehlen erkannte schnell die Gefahr und zog sich auf einen
Stuhl in der zweiten Reihe zurück, nicht ohne an Blum und Weiß zu appellie­
ren, falls erforderlich für ihn »einzuspringen«. So kam es, dass der Blick der
langbeinigen Dame auf den groß gewachsenen Weiß fiel. Ihrer Aufforderung
zum Tanz nach südamerikanischen Rhythmen konnte er sich nicht entziehen.
Weiß, so schreibt er in seinen Erinnerungen, habe später seinen Chef immer
wieder auf dieses »Opfer« hingewiesen, dass er für ihn gebracht habe. Rein­
hard Gehlen, als ehemaliger Reitersmann sicherlich mit einer gewissen Por­

77 Aufzeichnung über die Meetings 18.-21.3.1957, BND-Archiv, 1193/1.


78 Extrakt aus einem Memo Critchfields über das Treffen am 25.3.1957, NA Washington, RG
319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol3_10F2, S. 58.

934
tion Gelenkigkeit ausgestattet, hätte in seiner jetzt eher linkischen Haltung
in gesellschaftlicher Runde vermutlich eine unfreiwillig komische Vorstellung
gegeben – die Furcht, sich so vor seinen Untergebenen zu zeigen, muss groß
gewesen sein.
Nach dem Zwischenstopp auf den Bermudas traf Gehlen am 30. März in
Rom ein. Inzwischen hatte ein schwerer Schlag seinen Dienst getroffen, der
Gehlen auch persönlich belastete. In Bern hatte der Schweizer Bundesanwalt
René Dubois kurz vor der Aufdeckung eines Spionageskandals, in den er selbst
verstrickt war, Selbstmord begangen. Durch die Verhaftung des Inspektors
Ulrich von der Bundespolizei und die Ausweisung des Vertreters des fran­
zösischen Nachrichtendienstes, Mercier, war Gehlens selbst geknüpfte und
wichtige Auslandsverbindung gekappt worden.79 Es verging mehr als ein hal­
bes Jahr, bis sich die Wogen in der Schweiz so weit geglättet hatten, dass Geh­
len mit dem Schweizer Militärattaché in Bonn über die Wiederaufnahme der
Beziehungen des BND mit dem militärischen Nachrichtendienst des Schwei­
zer Generalstabs verhandeln konnte. Man verständigte sich auf eine Einladung
des Chefs des Schweizer militärischen Nachrichtendienstes, »Oberst Wechini«
(DN) und seines Stellvertreters nach Pullach sowie die Übergabe von nachrich­
tendienstlichem Material in Zürich.80 Nach der Verurteilung von Max Ulrich
wegen Landesverrats und seiner späteren Entlassung kümmerte sich der BND
um die Versorgung der Familie.
Kurz nach seiner Rückkehr nach München bedankte sich Gehlen in einem
persönlichen Schreiben bei Dulles für die herzliche Gastfreundschaft und die
exzellenten Briefings, die ihm eindrucksvoll die vielfältigen Aufgaben und
erfolgreiche Arbeit der CIA vermittelt hätten. Der gewährte Einblick und die
verschiedenen Diskussionen hätten ihm wertvolle Hinweise für den weiteren
Ausbau des BND gegeben. Gehlen verband seinen Dank mit einer Gegeneinla­
dung und Glückwünschen zum 64. Geburtstag von Dulles am 7. April, vier Tage
nach seinem eigenen.81
Seit Längerem schon erhielt Gehlen Briefe von einem offensichtlich ver­
wirrten Jack Herne aus Las Vegas, was ihn nun zu Nachforschungen durch
den Direktor des FBI, J. Edgar Hoover, veranlasste.82 In seiner eigenen, kleinen
Welt warteten wie üblich ärgerliche Zwischenfälle, deren Erledigung er oft
seinem Adlatus Weiß übertrug. So beunruhigte ihn die Meldung, dass es ein
aktuelles Foto von ihm gebe, das veröffentlicht werden sollte. Weiß musste das

79 Eintrag vom März 1957, BND-Archiv, 4321.


80 Eintrag vom Februar 1958, BND-Archiv, 4322.
81 Schreiben Gehlens an Dulles, 4.4.1957, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard
Gehlen_vol 3_10F2, S. 60.
82 Deputy Director to Director FBI, 11.4.1957, ebd., S. 61.

935
unbedingt verhindern.83 Dieser steckte der Illustrierten Quick, dass der Bun­
desgerichtshof die Publikation des Bildes als Landesverrat beurteilen könnte.
Die Redaktion ließ es in einer unscharfen Version im Konzernblatt Weltbild
erscheinen.
In Verdacht geriet ein junger Mitarbeiter des Kanzleramts, der einen der
Routinebesuche Gehlens abgepasst hatte, um insgeheim ein Bild von dem foto­
scheuen Geheimdienstchef zu machen. Die Amerikaner verstanden nicht ganz
dessen Aufregung, auch wenn sie einräumten, dass die Aura des geheimnisvol­
len, publikumsscheuen Mannes mit den tausend Gesichtern für Gehlen in Bonn
und in den Bundesministerien nützlich sei.84 Er selbst berief sich darauf, dass
dies ihm gut angestanden und zu dem Respekt beigetragen habe, mit dem man
ihn behandele. Seine Rolle sei nun einmal eine andere als die von Dulles. Dieser
führe einen riesigen Geheimdienst, der mit Rücksicht auf andere Weltmacht­
belange öffentlich und ungeschützt auftrete. Außerdem genieße Dulles die
moralische Stärke seines Landes, einen hervorragenden Sicherheitsdienst und
sichere Transportmöglichkeiten. Für ihn, Gehlen, den Chef des im Vergleich
zur CIA winzigen BND, aber sei die Situation ganz anders. Das fange damit an,
dass ein Preis auf ihn ausgesetzt sei, er Ziel für ein feindliches Attentat und
Chef eines Nachrichtendienstes in einem geteilten europäischen Land sei. Er
sei also körperlich höchst verwundbar. Und da er häufig öffentliche Verkehrs­
mittel benutzen müsse, um inkognito zu reisen, sei es wünschenswert, dass
man ihn nicht wie Hinz und Kunz identifizieren könne. Er fürchte sich daher
nicht so sehr vor dem Feind, sondern vor den gutmeinenden westdeutschen
Pressevertretern, die in Zügen und Bahnhöfen leicht über ihn stolpern könnten.
Die Begründung ist aus heutiger Sicht durchaus verständlich. Sie bestä­
tigt aber auch seine tiefe Sorge um seine körperliche Unversehrtheit. So rich­
tig wohl fühlte sich Gehlen nur in einer sicheren Umgebung, die er selbst
beherrschte und in der ihm das Wohlwollen anderer entgegengebracht wurde.
Eine Gelegenheit dazu war die Einrichtung der »Brücke« durch die CIA, einer
Begegnungsstätte außerhalb des Pullacher Komplexes in Solln. Bei seinem ers­
ten offiziellen Rundgang durch die Anlage zeigte sich Gehlen Anfang Mai 1957
höchst begeistert, von dem Moment an, als er durch die elektrisch betriebene
Tür trat – und ordnete sogleich an, die gleiche für Pullach zu besorgen.85 Er
inspizierte die Konferenzräume, die Bibliothek, die Aufenthalts-, Dinner- und
Barräume, die Sauna (der vom BND finanzierte Beitrag) und den Vervielfälti­
gungsraum.

83 Info Director Bonn vom 6.5.1957, ebd., S. 60.


84 Notiz der CIA vom 7.6.1957, ebd., S. 65.
85 Notiz der CIA vom 9.5.1957, ebd., S. 64.

936
Ein CIA-Mitarbeiter hatte Gelegenheit, mit Gehlen während des Lunchs zu
sprechen. »Dr. Schneider« fand das Essen leicht und appetitlich. Man hatte
sich nach seinen Vorlieben gerichtet. Es bestand eine ideale Atmosphäre
für die Konversation, Gehlen war vollständig entspannt. Was er besonders
schätzte, war die Nähe seines Büros und die Abgeschiedenheit von Telefonan­
rufen. Er erwähnte, dass seine Tochter die letzte Neujahrsparty sehr genossen
habe und dass es für seine Leute ein idealer Ort für größere Feierlichkeiten bei
einem Maximum an Sicherheit sei. Bei der sorgfältigen Inspektion der Sauna
erinnerte er sich, welche Behaglichkeit ein solcher Ort während des Krieges
bedeutet habe.
Die CIA gab sich größte Mühe, den deutschen Präsidenten respektvoll zu
hofieren und nach Möglichkeit auf sein Wohlergehen zu achten – nach der
konfliktreichen Zeit im Solde der Amerikaner und der quälenden Abhängig­
keit hatte Gehlen allen Grund, die seit einem Jahr grundlegend veränderte
Situation zu genießen. Für die CIA war Gehlen als Präsident des BND auch
künftig ein wichtiger bundesdeutscher Einflussfaktor. Ein schlichter Besuch
der Lindsey Air Base in Wiesbaden veranlasste gründliche Vorbereitungen. Der
CLA-Vertreter in Pullach informierte die Base über das Eintreffen Gehlens mit
einem schwarzen Mercedes, Kennzeichen AB-634294, um 9.45 Uhr am Haupt­
tor Schiersteiner Straße. Der Fahrer müsse verpflegt werden und Gehlen werde
als »Dr. Schneider« angesprochen. Er bevorzuge ein leichtes Dinner, ohne
Wein, mit Mineralwasser oder Saft, keinen Kaffee hinterher. Wenn es Drinks
gebe, nehme er Saft oder Coca-Cola. Er liebe eine gute Zigarre.86
Die Amerikaner sorgten sich über die Schwäche Gehlens, sich im Bonner
»Dschungelkampf« zurechtzufinden. Nach einem Bericht sei Gehlen bei einem
Dinner in Bonn beobachtet worden, bei dem neben US-Vertretern nur wenige
Deutsche, darunter Globke, teilgenommen hätten. Das Verhalten Gehlens
gegenüber Globke sei wie das eines kleinen Schuljungen in Anwesenheit eines
mächtigen Meisters gewesen. Das klang für die CIA nicht ermutigend, aber
man habe sich nun einmal für Gehlen entschieden, weil er der beste verfügbare
Wetteinsatz (»the best available bet«) sei.87
Bei seiner asketischen Einstellung konnten Gehlen die sprichwörtlichen
Genüsse, die Gott in Frankreich bot, sicher nicht reizen. Die Begegnung mit
dem Generaldirektor des SDECE in Paris Mitte Mai 1957 galt ernsthaften The­
men.88 Im französischen Partnerdienst stand ein Wechsel auf dem Chefsessel
an. Der SDECE war nach dem Versagen bei der Niederlage von Dien Bien Phu

86 Fernschreiben Base Pullach vom 20.6.1957, ebd., S. 67.


87 Auszug aus einem Bericht vom 23.7.1957, ebd., S. 75.
88 Eintrag über den Besuch in Paris am 16.5.1957, BND-Archiv, 4321. Siehe dazu demnächst
Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.

937
(1954) im Indochinakrieg und der kritischen Bewertung seiner Leistungen
während der Aufstände in Polen und Ungarn (1956) unter erheblichen Druck
geraten. Sein Konzept eines umfassenden politischen, militärischen und wirt­
schaftlichen Geheimdienstes, das auch Gehlen mit seinem BND verfolgte,
hatte sich nicht bewährt. Der Generalstab zog den Bereich des militärischen
Geheimdienstes wieder stärker in seinen eigenen Bereich.89 Unter der Konzen­
tration der Kapazitäten des SDECE auf den Algerienkrieg litt derzeit zwangs­
läufig die Aufklärung gegenüber der UdSSR. Die kürzliche Unterzeichnung
der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemein­
schaft und der Europäischen Atomgemeinschaft setzte neue Rahmenbedin­
gungen. Vor allem die Frage der atomaren Bewaffnung erhitzte die Gemüter
und führte zu geheimen deutsch-französischen Gesprächen.
Gehlen blieb bemüht, die Verbindung der deutsch-französischen Geheim­
dienstallianz mit der CIA nicht abreißen zu lassen. Er drängte deshalb über sei­
nen persönlichen Kanal Critchfield auf einen baldigen Gegenbesuch von Dul­
les.90 Vorerst musste er mit einer Einladung durch den neuen US-Botschafter in
Bonn, David K. E. Bruce, zufrieden sein. Hier bot sich Gehlen als spezielle Ver­
bindung zu Adenauer an, falls der Botschafter einmal keine diplomatischen
Kanäle nutzen mochte. Und er ließ seinen persönlichen Dank übermitteln für
die freundlichen und ermutigenden Bemerkungen über den BND, die Dulles
beim Besuch kürzlich gegenüber Adenauer gemacht habe.91 Die gewünschte
Begegnung Gehlens mit Dulles fand später statt.92
Nicht unwichtig für die Stimmung der Mitarbeiter des BND war der Antrag
im August 1957 auf Anerkennung der Tätigkeit in der früheren Org als reguläre
Dienstzeit. Als Begründung wurde auf das angebliche Gentlemen’s Agreement
mit US-General Sibert von 1946 verwiesen.93 Die von Gehlen Ende der 1940er-
Jahre in die Welt gesetzte Legende bewies einmal mehr ihre Nützlichkeit und
wurde noch einmal kräftig retuschiert. Von einer »rein deutschen« Organi­
sation »unter uneingeschränkter Verantwortung ihres Leiters« war die Rede
und dass eine nachrichtendienstliche Tätigkeit gegen Deutsche ausdrücklich
ausgeschlossen gewesen sei, »soweit sich diese nicht im kommunistischen
Auftrag betätigen«.

89 Siehe Soutou, French Intelligence, S. 128.


90 Chief of Base Pullach an Chief Eastern Europe Division vom 31.7.1957, NA Washington,
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2, S. 76.
91 Informationsaustausch zwischen CIA Bonn, Chief of Base Pullach und Chief Eastern
Europe, 10., 18., 19., 31.7.1957, ebd., S. 71-76.
92 Erwähnt in dem Fernschreiben von Critchfield an Chief of Base Munich vom 11.12.1957,
ebd., S. 84. Informationen zum Besuch liegen nicht vor.
93 Notiz vom 5.8.1957, BND-Archiv, 4321. Siehe Teil II, S. 478.

938
Das für Gehlen und den noch längst nicht gefestigten BND wichtigste poli­
tische Signal gab die Bundestagswahl am 15. September 1957, als die Unions­
parteien die absolute Mehrheit erzielten. Damit verschwanden für Gehlen
endgültig die Befürchtungen vor einer möglichen Großen Koalition. Die Sta­
bilisierung der Adenauer-Demokratie, zusätzlich gestützt durch einen unge­
brochenen Wirtschaftsboom und wachsende internationale Anerkennung der
Bunderepublik, sicherte Gehlens Position als Leiter des BND auf Jahre hinaus.
Als er einige Tage nach der Wahl den Besuch des afghanischen Königs Zahir
Schah erhielt, vermittelte ihm das gewiss das Gefühl einer Öffnung des BND
für globale Einsatzmöglichkeiten.94 Das Ergebnis des Besuchs war eine Ver­
einbarung über eine Unterstützung des afghanischen Geheimdienstes bei der
Ausbildung. Voller Stolz ließ Gehlen über Critchfield Dulles ein Gesprächspro­
tokoll zuleiten, um dann einige Tage später seinen Bericht über eine Audienz
bei König Saud von Saudi-Arabien nachzureichen, den er offiziell für Adenauer
angefertigt hatte.95
Parallel dazu regten Gehlens Kontakte Globke zu der Bemerkung an, dass
der Nahe Osten für die Zukunft von besonderer Bedeutung sein würde und in
enger Zusammenarbeit mit den USA die Aufklärung dort intensiviert werden
sollte.96 Der engste Vertraute des Kanzlers vergaß darüber nicht das Problem
der andauernden NS-Belastung des Dienstes und forderte dazu eine Zusam­
menstellung der ehemaligen SD-Angehörigen des BND an, über die bei der
nächsten Sitzung des Kontrollgremiums gesprochen werden sollte. Bei der
Gelegenheit bat er Gehlen auch darum, die Gestapoakten zum 20. Juli sam­
meln zu lassen, »so dass sie nicht ohne Anordnung jedermann zur politischen
Auswertung zugänglich sind«.
Über das Ausbleiben von amerikanischer Resonanz auf manche Berichte
konnte sich Gehlen erheblich aufregen. Anfang November 1957 hatte der BND
Vorbereitungen für groß angelegte militärische Bewegungen im Raum Berlin
gemeldet und vergeblich auf eine Rückmeldung des G-2 in Heidelberg gewar­
tet. Über den Vorgang wurde Dulles unterrichtet.97 Umso mehr drängte Geh­
len auf eine weitere Begegnung. Bereits Anfang Oktober 1957 befasste er sich

94 Anschreiben Critchfields für Dulles vom 16.10.1957 mit einem Bericht Gehlens über das
Treffen am 23.9.1957, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2,
S. 80. Siehe umfassend Matin Baraki: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der
Bundesrepublik Deutschland 1945-1978, Frankfürt a.M. 1996.
95 Anschreiben Critchfields für Dulles vom 30.10.1957 (die Berichte sind nicht enthalten),
NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2, S. 81.
96 Notiz Globkes vom 28.10.1957, BND-Archiv, 1163.
97 Heidelberg an Director vom 8.11.1957, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen, vol 3_10F2, S. 83.

939
mit Einzelheiten eines geplanten US-Besuchs im nächsten Frühjahr. Termin­
lich wollte er ein Zusammentreffen mit dem zu erwartenden USA-Besuch von
Willy Brandt (SPD), dem neuen Regierenden Bürgermeister von Berlin, unbe­
dingt vermeiden.
Es ging sehr stark auch um persönliche Interessen, die der CIA einige
Schwierigkeiten bereiteten. Gehlen wollte, dieses Mal auf Kosten des deut­
schen Steuerzahlers, einen Begleiter mitbringen, der nicht zum nachrich­
tendienstlichen Personal gehörte. Es handelte sich um den Präsidenten des
Bundesrechnungshofes, Dr. Guido Hertel, den er offenbar mit einer schönen
USA-Reise und Damenbegleitung stärker für die Belange des BND gewinnen
wollte. Selbstverständlich würde ein allgemeines politisches Gespräch mit
Dulles im Mittelpunkt stehen. Der mit der Vorbereitung befasste Chief Munich
Base schlug vor, Gehlen auch mit einigen hochrangigen Vertretern der US-
Administration bekannt zu machen, um seinen Horizont zu erweitern.98 Dass
Gehlen Wert darauf legte, auf eigene Kosten, aber inkognito zu reisen, hing mit
seiner Tochter Katharina zusammen, die in New York studierte und heiraten
wollte. Critchfield, der versprochen hatte, sich um Katharina in New York zu
kümmern, sah eine Menge Schwierigkeiten auf sich zukommen.99 Gehlen ver­
schob schließlich den Besuch um ein halbes Jahr auf Mitte 1958, bestand aber
darauf, Hertel mitzubringen. Es würde genügen, für ihn ein kurzes Gespräch
mit einem für die Finanzierung der CIA zuständigen Mann zu arrangieren
und ihn ansonsten auf eine Sightseeing-Tour zum US-Schatzamt, zur Münze
etc. zu schicken.100 Das ließ es ratsam erscheinen, vor der Reise der Chefs die
Arbeitsebene der beiden Behörden zwecks Erfahrungsaustauschs mit der CIA
in Marsch zu setzen. So fuhren zwei BND-Mitarbeiter und ein Vertreter des
Bundesrechnungshofes in die USA und Gehlen hatte Veranlassung, sich bei
Dulles für den freundlichen Empfang und das Briefing durch dessen Mitarbei­
ter zu bedanken.101
Auf der politischen Bühne hatte der »Sputnik«-Schock Ende 1957, als es der
Sowjetunion gelangt, den ersten Satelliten überhaupt ins Weltall zu schießen,
der Sorge in westlichen Hauptstädten vor einer Bedrohung durch die Raketen­
waffen der UdSSR einen neuen Schub gegeben. Dabei hatte sich der deutsche
Bundeskanzler auf der großen NATO-Konferenz in Paris zum Erstaunen der
Öffentlichkeit – und vermutlich auch Gehlens – für eine Verbesserung des Ver­
hältnisses zur Sowjetunion eingesetzt. Er wollte dazu auf die wirtschaftliche

98 Chief Munich Base an Chief Eastern Europe vom 9.10.1957, NA Washington, RG 319,
Entry 134A, Reinhard_Gehlen, vol 3_10F2, S. 79.
99 Notiz von Critchfield vom 4.12.1957, ebd., S. 85.
100 Chief Munich Base an Chief Eastern Europe vom 20.1.1958, ebd., S. 87.
101 Schreiben Gehlens an Dulles vom 5.2.1958, ebd.

940
Karte setzen, die Moskau zu einem Entgegenkommen auch in anderen Berei­
chen veranlassen könnte. Adenauer fand dazu die Unterstützung der USA,
musste freilich auch deren neue Nuklearstrategie der massiven Vergeltung
einschließlich der Stationierung von US-Atomwaffen in Europa akzeptieren.
Dafür erhielt er die langfristige Garantie, man werde trotz der Bedrohung der
USA durch sowjetische Interkontinentalraketen treu zu dem deutschen Ver­
bündeten stehen.102
Adenauer empfing Gehlen zu einem Vortrag über das Raketenpotenzial der
UdSSR und ließ sich mit dem Verweis auf die überlegene strategische Bomber­
waffe der USA beruhigen. Gehlen konnte darauf verweisen, dass erst kürzlich
mehrere Bomber des Typs B-47 von einem westdeutschen Flugplatz aus mehr
als eine Stunde lang über nordrussischem Gebiet geflogen seien, ohne dass es
der sowjetischen Luftabwehr gelungen sei, sie mit Raketen und Jagdflugzeu­
gen zu vertreiben.103 Ebenso blieb in den folgenden Monaten die Aufregung
um die von östlicher Seite unterstützte Bewegung für eine atomare Abrüstung
begrenzt, die vor allem in Großbritannien und in der Bundesrepublik zahlrei­
che Anhänger aus dem linken und liberalen politischen Spektrum fand. Die
oppositionelle SPD hielt noch immer an ihren außenpolitischen Positionen
fest, die auf die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa als Voraus­
setzung für eine deutsche Wiedervereinigung hinausliefen.
In Frankreich scheiterte im Mai 1958 ein rechtsgerichteter Militärputsch
und brachte General Charles de Gaulle an die Macht, der mit der Durchset­
zung eines starken Präsidialsystems die Republik stabilisierte und den Alge­
rienkrieg beendete. Damit wurde Gehlen die Sorge vor einer Entwicklung zu
einer kommunistisch beeinflussten Volksfront im Nachbarland los. Die nach­
richtendienstliche deutsch-französische Achse hatte für Gehlen kaum eine
geringere Bedeutung als die Verbindung zu den USA. Umso peinlicher war für
ihn ein Zwischenfall, bei dem eine Instruktion an die Residenten in Paris, Lon­
don, Rom, Brüssel und Den Haag, Informationen über Rüstung, Flugzeugpro­
duktion, Atomwaffen und Verteidigungspläne bei den Verbündeten zu sam­
meln, in die Hände der französischen Gegenspionage fiel. Hinter den Kulissen
gab es die Erklärung, es sei der Fehler eines übereifrigen Untergebenen gewe­
sen, und eine Entschuldigung Adenauers. Aber die Nachricht, dass Gehlen die
deutschen Verbündeten ausspionieren lasse, gelangte dennoch in die Presse.104
Hinzu kamen spektakuläre Attentate in der Bundesrepublik gegen Helfer der
algerischen Befreiungsbewegung FLN, die mindestens sechs Todesopfer for­

102 Schwarz, Die Ära Adenauer, Bd. 2, S. 48.


103 Aktennotiz Gehlens vom 14.11.1957, BND-Archiv, 1163.
104 Cookridge, Gehlen, S. 305.

941
derten. Die Blutspur der »Roten Hand« richtete sich gegen diverse Waffen­
händler. Wie erst später bekannt wurde, spielte Gehlens alter Bekannter Mer­
cier bei dieser Aktion des französischen Geheimdienstes eine wichtige Rolle.
Fast vor der Haustür von Gehlens Dienstwohnung in der Bonner Koblenzer
Straße wurde im November 1958 der FLN-Sekretär Ait Ahcene zusammenge­
schossen. Verantwortliche französische Nachrichtendienstler rühmten sich
später: »Gehlens Leute gaben uns prima Informationen.«105 Gemeint waren
Informationen über Waffen aus der Tschechoslowakei, die auf jugoslawische
Schiffe zur Lieferung an die FLN verladen wurden. Der BND-Chef konnte aber
wohl kaum ein Interesse daran haben, die Terrorwelle auf deutschem Boden
zu fördern. Also wird er bei seinem bereits erwähnten Besuch in Paris das
Thema angeschnitten haben. Ob er etwas erreicht hat, bleibt offen, denn die
Anschläge gingen zunächst weiter.
Sein Verhältnis zu Großbritannien dagegen besserte sich nur unmerklich.
So meldete er Anfang 1958 an Globke, dass eine innenpolitische Aufklärung in
der Bundesrepublik durch den britischen Nachrichtendienst entdeckt worden
sei.106 Eingebunden sei wohl auch der niederländische Geheimdienst. Zielper­
sonen seien hohe deutsche Regierungsbeamte, daneben auch Mitglieder des
Bundestages. Einige der angeworbenen Agenten würden auch für Außenstel­
len des amerikanischen Nachrichtendienstes tätig sein. Es gab keinen Zweifel,
die Westmächte machten von den ihnen eingeräumten Vorrechten Gebrauch.
Die Souveränität Westdeutschlands war nun einmal eingeschränkt, und
Gehlen dürfte über manche Aktivitäten der Alliierten auch gar nicht betrübt
gewesen sein, etwa das Abhören im Telefonbereich – sofern er selbst davon
profitierte.
Es gab zahlreiche Rechtsbeschwerden von Deutschen und Ostemigranten,
weil sie auf westdeutschem Boden von US-Stellen wegen angeblicher nachrich­
tendienstlicher Tätigkeit für den Osten festgenommen, monatelang festgehal­
ten und auf eine Weise verhört worden waren, die nach deutschem Recht nicht
zulässig war – ohne Wissen der deutschen Behörden. Nicht immer handelte es
sich um Vorwürfe einer Tätigkeit, die sich gegen die Sicherheit der US-Truppen
in der Bundesrepublik richtete. Im BND gab es die Besorgnis, dass diese Vor­
kommnisse, wenn sie in die Öffentlichkeit gelangten, Aufregung verursachen
und die Ostpropaganda begünstigen könnten. Eine rechtliche Handhabe sah
man freilich nicht, wollte aber künftig grundsätzlich von den Amerikanern

105 Aussage des früheren französischen Geheimdienstlers Konstantin Melnik; Lizenz zum
Töten, Spiegel 35/1997 vom 25.8., S. 60 – 61. Siehe auch das Foto von Mercier vorn S. 561
aus dem Spiegel-Artikel: Algerier-Attentat. Mercier ging durch die Stadt, 47/1958 vom
19.11., S.26.
106 Aktennotiz Gehlens für Globke, 27.1.1958, BND-Archiv, 1163.

942
Gehlen 1958 beim Verlassen seines Dienst-Mercedes anlässlich eines Besuchs im Landes­
amt für Verfassungsschutz in Hannover

über die Fälle informiert werden, die den engen Rahmen des Truppenvertra­
ges überschritten.107
Allem Anschein nach störte Gehlen die Konkurrenz durch das BfV wesent­
lich mehr, zumindest konnte er hier versuchen, Abhilfe zu schaffen. Entgegen
den bisherigen Abmachungen, so seine Sicht, betreibe das BfV im großen Stil
eigene Gegenspionage-Operationen. Ihm schwebte vor, einen Referenten des
BND zum BfV abzuordnen. Dieser könnte dann bei der Bearbeitung von Sicher­
heitsfallen, insbesondere nach der Aufdeckung eines gegnerischen Agenten,
dessen Eignung für ein Umdrehen prüfen. Globke hielt es freilich nicht für
denkbar, dass der selbstbewusste Schrübbers einem solchen Verfahren zustim­
men würde.108 Gehlen machte als weiteren Beweis für dessen Illoyalität gel­
tend, dass vom BfV mit der US Army über die Beobachtung des Funkverkehrs
jenseits der Grenze verhandelt werde.
Globke begegnete Gehlens Wünschen auf Absicherung des BND mit Wohl­
wollen, vor allem dort, wo es ihn nicht tangierte. So stimmte er der Absicht

107 Aufzeichnung über die Tätigkeit der US-Nachrichtendienste in der Bundesrepublik,


13.8.1958, BND-Archiv, 1163.
108 Notiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 26.2.1958, ebd.

943
Gehlens zu, bei Verteidigungsminister Strauß den Antrag zu stellen, für den
BND ein Fernmelderegiment und eine Sonderflugstaffel der Bundeswehr auf­
zustellen. Strauß verfügte freilich angesichts der kaum zu befriedigenden For­
derungen innerhalb der Bundeswehr für die befohlene Aufstellung von zwölf
Divisionen nicht über den Spielraum, solche Extrawünsche zu erfüllen. Mit
dem Vorschlag, die Erfüllung der BND-Forderungen zeitlich zu strecken, war
Gehlen nicht einverstanden, aber seine Beschwerde bei Globke blieb ohne Wir­
kung.109
Ähnlich fruchtlos blieb seine wichtigste Forderung gegenüber Globke: den
noch ausstehenden Einbau des BND in die ministerielle Ebene zu vollziehen,
um das Herabsinken auf den Status einer Oberbehörde wie beim BfV zu ver­
hindern.110 Doch Globke ließ sich nicht drängen. Wenig später erfuhr Gehlen
von Globkes Absicht, den BND als Bundesoberbehörde zu organisieren, was
Gehlen erneut zu einer Demarche veranlasste. Unter Verweis auf die anderen
westlichen Nachrichtendienste blieb er bei seiner Forderung und reichte das
Argument nach, wenn die Regierung vom BND erwarte, dass die politische und
wirtschaftliche Aufklärung gleichwertig neben die militärische gestellt wird,
dann müsse das von Personen geleistet werden, deren Qualifikation auf der
ministeriellen Ebene liege. Das BfV und seine Aufgaben dagegen würden auf
einer ganz anderen Ebene liegen.111
Gehlen hatte den BND nie als bloßen Dienstleister der Regierung gesehen,
sondern als Beratungsorgan des Kanzlers und Träger einer eigenständigen
politischen Verantwortung. Dabei kümmerte ihn nicht die Frage nach einer
demokratischen Legitimierung, wie sie die Minister besaßen. Er hatte gerade
den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone, in Pul­
lach zu einem mehrstündigen Gespräch empfangen. Krone galt als enger Ver­
trauter des Kanzlers, und Gehlen legte Wert darauf, ihn durch laufende Unter­
richtung für sich einzunehmen. In seinem bescheidenen, spröden Wesen, mit
seiner Scheu vor der Öffentlichkeit und seinem Selbstverständnis als Mode­
rator im Hintergrund des Kanzlers wies Krone ähnliche Züge wie sein Gegen­
über auf. Und ihn verband mit Gehlen auch die ambivalente Abneigung gegen
Strauß.112
Globke war von ähnlicher Statur wie Krone, was es für Gehlen aber nicht
leichter machte, ihn zur Parteinahme und zum Handeln in einem Streit mit
einem Ministerium zu veranlassen. Das galt etwa für die Besetzung der deut­

109 Vorbemerkung eines Vortrags von Gehlen bei Globke, 20.8.1958, ebd.
110 Notiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 26.2.1958, ebd.
111 Schreiben Gehlens an Globke, 24.3.1958, ebd.
112 Krone, Tagebücher, Bd. I, Eintrag vom 24.3.1958, S. 297; Horst Möller: Franz Josef
Strauß, München 2015, S. 166.

944
schen Vertretung in zwei Ausschüssen der NATO: dem Special Committee
für allgemeine nachrichtendienstliche Fragen und dem Security Committee
für Sicherheitsfragen. Für Gehlen stand fest, dass BND und BfV zwar beide in
den Komitees vertreten sein sollten, aber er beanspruchte die Federführung
zumindest im Special Committee.113 Das Innenministerium widersprach dann
einer zusätzlichen Präsenz des BND im Committee für Sicherheitsfragen. Geh­
len begründete diesen Anspruch mit dem Hinweis darauf, dass es hier unter
anderem um die Bearbeitung des Weltkommunismus ginge. Das falle sehr
wohl in die Zuständigkeit eines Auslandsnachrichtendienstes. Das Arbeitsge­
biet des BfV sei dagegen ausschließlich auf das Territorium der Bundesrepu­
blik beschränkt, mit der Beobachtung der ehemaligen KPD, der Bekämpfung
subversiver Bestrebungen und der Spionageabwehr. Nur im Zusammenhang
mit der Bekämpfung des Weltkommunismus sei ein Erfahrungsaustausch mit
NATO-Staaten möglich.114
Das Wohlwollen des Kanzlers und sein oft sprunghaftes Interesse an ein­
zelnen Fragen verstand Gehlen bestens zu bedienen. So fand er bei Adenauer
zum Beispiel am 17. März 1958 Aufmerksamkeit für laufende Sonderaktionen
des BND und weckte spontan die Forderung des Kanzlers, Gehlen möge ihm
so bald wie möglich eine Persönlichkeit in Bonn zur Verfügung halten, die ihm
über wirtschaftliche Vorgänge im Ostblock auf Anforderung sofort vortragen
könne. Gehlen erörterte anschließend mit Globke die Möglichkeit, diese Person
womöglich direkt im Kanzleramt einzubauen oder besser noch ein außerhalb
gelegenes Lagebüro mit Besucherraum zu schaffen, in dem besonders wichtige
Unterlagen nicht aus der Hand gegeben werden müssten.115 Dabei war eigent­
lich klar, dass sein bisheriger Verbindungsmann in Bonn nicht das Kaliber
hatte, um ohne Rücksprache mit Pullach den Kanzler direkt und ausführlich
über die Wirtschaft des Ostblocks zu unterrichten, davon einmal abgesehen,
dass es in die Zuständigkeit des Auswärtigen Amts bzw. des Wirtschaftsmi­
nisteriums fiel. Das bekümmerte Gehlen aber nicht, und er witterte sofort die
Chance, seine alte Idee einer unmittelbaren und umfassenden Beratung des
Kanzlers, womöglich in Gestalt eines Lagebüros, realisieren zu können. Das lag
aber wohl überhaupt nicht im Interesse Adenauers, dessen Aufmerksamkeit
sich bereits einem Artikel des Spiegel gegen das BfV zuwandte. Dort war von
angeblichen Missständen bei der Abschiebung von Asylbewerbern aus dem
Ostblock berichtet worden.116 Gehlen war in der Lage, den Sachverhalt sofort
zu kommentieren.

113 Schreiben Gehlens an Globke vom 30.1.1958, BND-Archiv, 1163.


114 Siehe Schreiben Gehlens an Globke vom 27.5. und 17.6.1958, ebd.
115 Notiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 17.3.1958, ebd.
116 Eine Frau schrie, Spiegel 11/1958 vom 12.3., S. 30-33.

945
Es lief insgesamt nicht schlecht für »Doktor Schneider« aus Pullach. Von
dem spontanen Projekt eines Lageraums für den Kanzler blieb zumindest die
ständige Reservierung eines Zimmers im Kanzleramt, sodass der Präsident des
BND bei seinen anstrengenden Besuchen einen Rückzugsort erhielt und nicht
in Vorzimmern und auf Fluren auf seinen Termin warten musste.117 Außerdem
verfügte er in Bonn über eine eigene Residenz in der Koblenzer Allee Nr. 29,
und zwar in der dritten Etage eines vierstöckigen Hauses, mit einer unauf­
fälligen Geschäftszeile im Erdgeschoss. Bei einer Fahrt von Frankfurt nach
Bonn nahm er Tom Lucid mit und zeigte ihm die Wohnung. Lucid bemerkte,
dass die Zimmer ziemlich leer seien und das Fehlen einer »weiblichen Hand«
zeigten. Wenn er das darauf zurückführte, dass »Mrs. Utility« ganz selten in
Bonn anwesend sei – dann schätzte er womöglich die Rolle von Annelore
Krüger falsch ein. Vorhanden seien einige Geschenke, die Gehlen irgendwann
erhalten habe, unter anderen eine Transistoruhr für den Schreibtisch, die seit
Weihnachten 1956 durchgehend funktioniert habe und nicht gestellt werden
musste, was Gehlen als schönes Beispiel für amerikanische Technik betrach­
tete. Er sei stolz darauf, ein solches Exemplar zu besitzen. CIA-Mann Lucid
interessierte sich allerdings mehr dafür, ob neben dem BND-Chefkryptologen
in der ersten Etage auch noch weitere BND-Mitarbeiter im Haus wohnten, und
bat den Chief of Base Bonn um entsprechende Nachforschungen.118 Er traute
also dem »utility« des CIA einige Geheimnisse zu.
Dulles ließ Gehlen diplomatisch höflich Glückwünsche zum Geburtstag
ausrichten und mitteilen, dass er sich auf Gehlens bevorstehenden Besuch in
seinem Hauptquartier freue.119 Geplant war der USA-Besuch jetzt für Anfang
Juni 1958, was dann aber – wahrscheinlich wegen der dramatischen Ereignisse
in Frankreich – wieder einmal verschoben werden musste.
Bei dem Besuch des neuen französischen Geheimdienstchefs General Paul
Grossin in Pullach hatte sich die Entwicklung offenbar noch nicht angedeu­
tet.120 Ende Mai, bei Gehlens Gegenbesuch in Paris, hatte sich die Lage in
Algier erheblich zugespitzt.121 Da Gehlen Staatspräsident de Gaulle vertraute,
verfolgte er die Krise beim Nachbarn zuversichtlich. Bei einem Treffen der
NATO-Verteidigungsminister in Paris Mitte April war mit der Verabschiedung
des Dokuments MC-70 die Ausrüstung der NATO-Divisionen, also auch der
deutschen, mit Waffen beschlossen worden, die für die Kriegführung mit tak­

117 Besprechung Gehlens mit Ministerialdirektor Jantz, 1.6.1958, BND-Archiv, 1163.


118 Bericht Chief Munich Base, 26.9.1958, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard
Gehlen, vol 3_10F2, S. 96.
119 Fernschreiben von Dulles an Munich und Frankfurt, 1.4.1958, ebd., S. 90.
120 Notiz zum 15./16.4.1958, BND-Archiv, 4322.
121 Notiz zum 30.5.1958, ebd.

946
tischen Atomwaffen geeignet waren. Damit verflüchtigten sich Gehlens Sorgen
vor einer möglichen Aufweichung der harten Haltung im Regierungslager.122
Dieser Tage konnte er mit der Operation »Alabaster« einen historisch zu
nennenden Erfolg verbuchen. Seit 1955 wurden zehn junge afghanische Poli­
zeioffiziere an der Polizeischule in Hiltrup in Westfalen für den Aufbau einer
politischen Polizei ausgebildet. Ihr Heimatland hatte seit 1916, als das Deut­
sche Reich die Unabhängigkeit Afghanistans unterstützte, lange und intensive
Beziehungen zu Deutschland unterhalten. Der zentralasiatische Staat spielte
zwischen der traditionellen britischen Einflusssphäre und dem russischen
Reich eine wichtige strategische Rolle und sah sich dem intensiven Werben
Moskaus ausgesetzt. Kabul wünschte für seine politische Polizei eine zusätz­
liche nachrichtendienstliche Ausbildung, die nicht in Hiltrup vermittelt wer­
den konnte. Auf Antrag des Bundesinnenministeriums an Globke war der BND
eingeschaltet worden. Da die Bundesregierung großes Interesse daran hatte,
die Wünsche Kabuls zu erfüllen, wurde ein ergänzender Lehrgang beim BND
genehmigt. Durchgeführt wurde er aus Sicherheitsgründen in einem beson­
deren Ausbildungsobjekt außerhalb des Großraumes München. Die Dienst­
aufsicht oblag Kurt Weiß, dem verantwortlichen Leiter der außenpolitischen
Beschaffung.123
Die afghanischen Offiziere, so der Eindruck aller Beteiligten, übertrafen die
anderen ausländischen Lehrgangsteilnehmer durch ihr Interesse und Enga­
gement, ihr gutes Deutsch, tadelloses Auftreten, ihre rege Beteiligung am
Unterricht und ihr glaubwürdiges Bekenntnis zu den deutsch-afghanischen
Beziehungen. Die Ausbildung wurde im Mai 1958 erfolgreich beendet. Selbst­
verständlich hielt man auch nach ihrer Abreise Verbindung zu ihnen. Mit
wachsendem sowjetischem Einfluss in Afghanistan sind später alle Einzelhei­
ten bekannt geworden. Das regte Gehlen offenbar weniger auf als eine Reise
von Dr. Günther Nollau, dem späteren Vizepräsidenten des BfV, nach Afghanis­
tan, da er gleichsam alte Rechte des BND in Gefahr glaubte.
Bei den immer wieder aufkommenden Personalquerelen, die am Ende
zu einem Zerwürfnis mit seinem Schwager Seydlitz-Kurzbach führten, der
Ende der 1950er-Jahre die Personalabteilung leitete, reagierte Reinhard Geh­
len regelmäßig mit der Bitte um »diskrete Erledigung«. Er war sich dabei der
Gefahr bewusst, dass solche Konflikte, wenn sie nach außen dringen würden,
seine eigene Position und die geheimnisvolle Aura, auf die er so viel Wert
legte, gefährden könnten. So betraf ihn im Mai 1958 auch die Affäre um Rudolf

122 Gleichsam auf den Spuren seines Kanzlers, der de Gaulle am 14. September 1958 in
dessen Heimatort Colombey-les-Deux-Eglises besucht hatte, traf Gehlen vom 9. bis
11. September erneut mit Grossin in Paris zusammen, ebd.
123 Siehe hierzu ausführlich die Erinnerungen von Kurt Weiß, BND-Archiv, N 10/4, T. 2.

947
Schellhorn, einen entfernten Verwandten Gehlens aus Breslau, für dessen
Verwendung er sich intensiv eingesetzt hatte. Gehlen hatte den Inhaber eines
Berliner Kleinverlages 1956 persönlich mit Weiß zusammengebracht und
darum gebeten, Schellhorns verlegerische Kenntnisse für den BND zu nutzen,
zweckmäßig in Verbindung mit der Zeitschrift Deutscher Wirtschaftsdienst.124
Als zwei Jahre später eine dienstliche Untersuchung gegen Schellhorn wegen
Doppelabrechnungen bei Reisen lief, bat Gehlen seinen Vertrauten Weiß um
eine »diskrete Erledigung«.
Schellhorn wurde eröffnet, dass er im BND nicht mehr haltbar sei und dass
er eine Schuldenerklärung zu unterschreiben habe. Gehlen stimmte zu, dass
Schellhorn einen Unterhaltsbeitrag zum Aufbau einer neuen Existenz in Höhe
von 1000 D-Mark monatlich für ein Jahr erhielt, dazu monatlich 1100 D-Mark
zur Schuldentilgung.125 Diese für den öffentlichen Dienst ungewöhnliche Groß­
zügigkeit konnte sich Gehlen nur deshalb leisten, weil er mit den Ausgaben
des BND gegenüber dem Bundesrechnungshof nicht in allen Details abrech­
nungspflichtig war. Mögliche moralische Skrupel wogen für ihn anscheinend
geringer als die Fürsorge für Familienangehörige und das Interesse an einer
lautlosen Beseitigung von Problemen.
Gehlen musste den für Anfang Juni geplanten USA-Besuch verschieben,
also auch die für den Präsidenten des Bundesrechnungshofes geplante Sight­
seeing-Tour. Der bei Dulles angekündigte Besuch des »Doktors« aus Pullach
sollte ohnehin nur einer außenpolitischen Tour d’Horizon dienen, für die der
CIA-Boss angesichts zahlreicher Krisen in der Welt wenig Sinn gehabt haben
dürfte. Vor allem aber war Gehlen gezwungen, in Bonn präsent zu sein, um
dem Vertrauensmännergremium Rede und Antwort zu stehen. Es standen
einige schwierige Themen auf der Tagesordnung. Dazu gehörten nicht nur
die beantragten Ausnahmeregelungen für den BND bezüglich der Bundesver­
waltungsgerichtsordnung und des Personalvertretungsgesetzes.126 Politisch
brisant war zum einen die von Gehlen betriebene Übernahme ehemaliger
Gestapobeamter in das Beamtenverhältnis; zum anderen hatte man sich in
Bonn gewundert, warum der BND nicht rechtzeitig über einen bevorstehenden
Geldumtausch in der »Sowjetzone« informiert hatte.
Die geheime Sitzung fand am 11. Juni 1958 unter dem Vorsitz des Bun­
deskanzlers statt. Gehlen berichtete zunächst routinemäßig über die Arbeit
des BND im abgelaufenen Rechnungsjahr, präsentierte stolz sein Zahlenwerk
über die Entwicklung der Aufklärungsaufträge und den Auslauf der Meldun­

124 Besprechung Weiß mit Dr. Voss, 14.8.1956, Kommentare, ebd., T. 1.


125 Eintrag vom 19.5.1958, BND-Archiv, N 10/5, S. 22-23.
126 Sitzungsvorlagen Gehlens für Globke, 6.6.1958, BND-Archiv, 1163.

948
gen an die Bedarfsträger. Er versäumte natürlich auch nicht, auf den großen
Arbeitsaufwand für die Überleitung der Org hinzuweisen. Danach berichtete
Oberst Lothar Metz, Führungsbeauftragter Beschaffung, über die nachrichten-
dienstliche Lage in der DDR sowie den Satellitenstaaten, erklärte die Verluste
der Org seit 1953, beschrieb die Passivität der ostdeutschen Bevölkerung und
konzedierte, dass sich die Tiefenaufklärung des BND in der Tschechoslowa­
kei und in Ungarn wenig günstig entwickelt habe.127 Was damit weitgehend
verdeckt wurde, war der fortschreitende Niedergang der DDR-Spionage. Der
BND hatte kaum noch Einblick in das politische Entscheidungszentrum des
Gegners. Gehlen kannte offenbar keine Skrupel, in seinen Meldungen hin und
wieder eine angebliche Quelle aus dem SED-Zentralkomitee anzugeben. Von
einem Referatsleiter darauf angesprochen, dass dieses Verfahren unseriös sei,
entgegnete er: »Wer will uns das Gegenteil beweisen?«128
In der Sitzung des Kontrollgremiums gab der SPD-Abgeordnete Fritz Erler
Gehlen mit der Forderung, das Befragungswesen so bald wie möglich in die
Zuständigkeit des BND zu überfuhren, eine Steilvorlage. Erler trieb die Sorge an,
dass alliierte Befragungsstellen Druck auf Flüchtlinge ausübten, Gesinnungsge­
nossen zu nennen, was zur Gefährdung eines größeren Personenkreises führe.
Gehlen erklärte, die größten Schwierigkeiten gebe es mit dem Beffagungswesen
der USA – der CIA lag natürlich daran, die interessantesten Tipps der Flücht­
linge für potenzielle Informanten jenseits des Eisernen Vorhangs für sich nut­
zen zu können. Adenauer griff wie zu erwarten das Problem auf und sagte zu,
die Angelegenheit bei nächster Gelegenheit mit dem US-Botschafter zu bespre­
chen. Es zeigte sich freilich später, dass die Alliierten gar nicht daran dachten,
ihre Vorrechte, hier bei der Erstbefragung von Flüchtlingen in den Notaufnah­
melagern, aufzugeben. Aber der BND erhielt nun immerhin die Berechtigung,
in seinen eigenen Strukturen Befragungen außerhalb der Lager durchzuführen.
Als die Diskussion im Ausschuss darauf kam, dass der BND die bevorste­
hende Währungsreform in der »Ostzone« nicht rechtzeitig gemeldet hatte,
wiegelte Gehlen windungsreich ab. Er berief sich zunächst auf die Sorgfalts­
pflicht. Es hätten über einen längeren Zeitraum unregelmäßige Meldungen
vorgelegen, die sich aber bei näherer Prüfung als unzutreffend erwiesen hät­
ten. Deshalb habe der BND nicht geglaubt, verantworten zu können, eine zur
kritischen Zeit aus der Hauptstadt eines Satellitenstaates eingegangene – wie
sich später herausgestellt habe – richtige Meldung ohne Nachprüfung wei­
terleiten zu können. Die Zeit bis zur Einführung der Währungsreform habe
dann nicht ausgereicht. Im Übrigen könne kein Nachrichtendienst sämtliche

127 Vermerk vom 20.6.1958 über die Sitzung des Ausschusses, BND-Archiv, 4322, S. 39 – 43.
128 Aus dem Tagebuch des Referatsleiters zit. nach: Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 263.

949
Erscheinungen gleichzeitig beobachten. Er müsse Schwerpunkte bilden, was
von den Aufträgen der Bedarfsträger abhänge. Ein entsprechender Auftrag
habe aber für den BND nicht vorgelegen. Fast versöhnlich fügte Gehlen hinzu,
dass die DDR-Regierung in diesem Falle aber auch ungewöhnliche Maßnah­
men ergriffen habe, um die Geheimhaltung der Reform zu gewährleisten.
Die Darlegung und Diskussion der personalwirtschaftlichen Entwicklung
des BND gelangte dann rasch zu dem heiklen Problem der NS-Belastung. Hier
war es der Bundeskanzler selbst, der den Finger in die Wunde legte und sich
auf eine höhere Moral berief. Der Fall des ehemaligen Personalchefs im Aus­
wärtigen Amt Hans Schröder, nach 1945 wegen seiner Säuberungsaktionen im
NS-Auftrag nicht wiederverwendet, vordergründig »entnazifiziert«, ließ Ade­
nauer unliebsames Aufsehen befürchten, da Schröder vom BND übernommen
worden war und verbeamtet werden sollte. Der Vertreter der Opposition Erler
hielt den Fall nicht für so bedenklich. Gehlen fing die Hinweise so auf, dass er
zusicherte, Schröder nach seiner Verbeamtung nur innerhalb des BND als eine
Art von Inspekteur zur Nachprüfung einzelner Vorgänge zu verwenden. Ade­
nauer zeigte sich nur unter der Bedingung einverstanden, dass es eine Zustim­
mung des AA gäbe. Die erfolgte offenbar, denn Schröder avancierte schließlich
zum Verbindungsmann des BND zum Auswärtigen Amt.129
Gehlen verteidigte schließlich vehement die Beschäftigung und Verbeam­
tung ehemaliger Gestapoleute. Von 27 sollten zehn als Beamte weiterverwen­
det werden. Auch hier zeigten sich die Abgeordneten nachsichtig angesichts
des Arguments, dass bei Bund und Ländern in jüngster Zeit vielfach ehema­
lige Gestapoleute im Beamtenverhältnis eingestellt worden seien. Adenauer
aber beharrte auf seinen »sittlichen« Bedenken. Gehlen parierte diesen ihm
offenbar fremden Gesichtspunkt des Kanzlers mit dem sachlich gemeinten
Einwand, vor allem im Bereich der Gegenaufklärung sei die Erfahrung die­
ser Beamten nicht entbehrlich. Es handle sich durchweg um Leute, gegen die
nichts Nachteiliges bekannt sei. Adenauer akzeptierte schließlich die Begrün­
dung und stellte seine »starken Bedenken« zurück. So wurden die Vorschläge
Gehlens insgesamt akzeptiert, der glauben mochte, mit seinen vermeintlich
sachlichen Argumenten nicht nur der »Vernunft«, sondern auch einer höheren
Moral zu dienen. Es zeigte sich freilich dabei, dass sein Maßstab, wenn es um
die Möglichkeit einer politischen NS-Belastung ging, sehr großherzig war, im
Gegensatz zu seiner Haltung bei einer möglichen Ostbelastung.
Das zeigt der Fall von Fritz Grobba, ehemals Arabienbevollmächtigter
Ribbentrops. Exgeneral Walther Wenck, jetzt Vorsitzender der Geschäftsfüh­

129 Siehe zu Schröder die Kurzbiografie bei Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im
Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, Berlin 1987, S. 192-193.

950
rung einer Firma für Apparate- und Rohrleitungsbau, war an geschäftlichen
Kontakten in Bagdad interessiert und wollte Grobba mit einem Begleiter in
den Irak schicken. Der Begleiter war ein Gehlen-Mann, der die Reise nutzen
sollte, Grobbas frühere Kontakte in Bagdad abzugreifen. Gehlen hatte sich
vorsichtig Rückendeckung bei den Amerikanern verschafft, die gleichfalls an
der Reise interessiert waren.130 Tatsächlich kam es dann in Bagdad aber zu
einem heftigen Zusammenstoß mit dem deutschen Botschafter Dr. Herbert
Richter, der Grobba jegliche politischen Kontakte untersagte. Richter hatte
allerdings selbst schon zuvor den Spiegel-Korrespondenten Hans Germani
über seine Einwände gegen Grobba informiert. Der Botschafter stand in enger
Verbindung mit seinen amerikanischen und britischen Kollegen in Bagdad,
die versuchten, Grobba zu diskreditieren und das AA vor dessen Beziehun­
gen zu warnen, wie Gehlen meinte. Dann kam von amerikanischer Seite die
Information, dass Grobba bis 1956 in sowjetischem Gewahrsam gewesen und
Islamkonvertit sei. Der Präsident des BND wich daraufhin aus, schätzte aber
weiterhin den Arabienspezialisten.
Gehlen verstärkte seine Bemühungen auf internationaler Bühne und
kompensierte damit in gewisser Weise den Niedergang der Ostaufklärung.
Eine Ausnahme bildete ein Unternehmen seiner Abteilung Gegenspionage.
Es wurde als angebliche eigene Erfolgsgeschichte ein Jahrzehnt später den
Spiegel-Redakteuren Zolling und Höhne für ihr Buch Pullach intern gesteckt.131
Es handelte sich um den Oberstleutnant Siegfried Dombrowski der NVA
(Nationalen Volksarmee der DDR), der gegen gute Bezahlung für die Amerika­
ner arbeitete. Als stellvertretender Stabschef der »Verwaltung für Koordinie­
rung« (VfK), wie der militärische Nachrichtendienst der NVA mit Decknamen
hieß, lieferte er höchst interessante Informationen. Die CIA machte dann den
Vorschlag, einige ihrer Zuträger in der DDR als Überläufer groß herauszustel­
len und damit der Ost-Berliner Propaganda einen Schlag zu versetzen. Dafür
erhielt der Verfassungsschutz die Führung eines Agenten, der BND übernahm
Dombrowski. Nach Zolling und Höhne sei es den Experten in Pullach im Juni
1958 gelungen, einen Verdacht des KGB gegen Dombrowski gegen seinen sow­
jetischen Aufpasser zu lenken. Lange konnte das Verwirrspiel mit dem Gegner
nicht dauern, der – wie wir heute wissen – schließlich eigene »Maulwürfe« in
der Pullacher Zentrale hatte.
Dombrowski floh in den Weihnachtstagen aus der DDR nach West-Berlin
und wurde von der CIA in die USA ausgeflogen, wo er im CIA-Hauptquartier in

130 Notiz über die Unterrichtung Globkes durch Gehlen am 22.8.1958, BND-Archiv, 1163.
131 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 264-267 (zum Niedergang der Ostaufklärung ohne
Belege). Siehe dagegen demnächst Heidenreich, Spionage.

951
Langley umfassend abgeschöpft wurde. Anschließend stellte man ihn auf einer
Pressekonferenz in Bonn vor. Der Spiegel meldete damals, dass Dombrowski
als »prominenter Spionage-Flüchtling« anschließend wieder untergetaucht
sei. »Um ihn jeder möglichen Rache der Sowjetzonen-Machthaber zu entzie­
hen, wurde Dombrowski vom Gehlen-Dienst in Sicherheit gebracht.«132 Diese
Vorsorge des BND war nicht unberechtigt, denn nach heutiger Kenntnis nahm
das MfS die Panne des konkurrierenden DDR-Geheimdienstes zum Anlass,
nicht nur den NVA-Spionagedienst für längere Zeit auszuschalten, sondern
auch Dombrowski hartnäckig zu verfolgen. Man versuchte, seinen Aufent­
haltsort zu ermitteln, mehrere Entführungs- und Mordanschläge scheiterten
allerdings.133 Erst 1977 starb Dombrowski an einem Herzinfarkt während eines
Reifenwechsels auf der Autobahn nahe Nürnberg.
Gehlen hatte sich das alles etwas anders vorgestellt. Noch kurz vor Dom­
browskis überstürzter Flucht hatte er angenommen, es könnte im Verlauf des
nächsten Jahres notwendig werden, eigene Spitzenquellen in die Bundesrepu­
blik zu überführen, um sie unter besonderer Abschirmung abzuschöpfen. Und
er hatte daran den früheren Gedanken geknüpft, in ein oder zwei Jahren pro­
minente Überläufer, die in der ganzen »Ostzone« bekannt seien, zusammen­
zubringen, um unter Umständen eine Exilregierung zu bilden. Dieser Gedanke
sollte aber erst geprüft werden, wenn sich entsprechende Persönlichkeiten
abgesetzt hätten. Für die technische Durchführung sei beabsichtigt, die Hilfe
der CIA in Anspruch zu nehmen.134 Aus der Sache wurde nichts. Anders als in
den frühen 1950er-Jahren hatte der BND keine eigenen prominenten Quellen,
die der Öffentlichkeit präsentiert werden konnten.
Fanden solche operativen Vorgänge, sofern ein größerer politischer Nut­
zen zu erwarten war, Gehlens angespannte Aufmerksamkeit, so kümmerte
er sich nun weniger denn je um organisatorische Details des Dienstes. Auch
für die Sorgen seiner Abteilungsleiter hatte er kaum noch ein offenes Ohr und
ließ sie, abseits von regelmäßigen Einzelvorträgen, oft durch seine Sekretä­
rin Annelore Krüger abwimmeln. Gehlen ernannte sie zu seiner persönlichen
Assistentin und überließ ihr in manchen für ihn persönlich unangenehmen
Streitfällen sogar das letzte Wort. Die Sicherheitsabteilung wollte zum Beispiel
Friedrich Leikamp, den Jugoslawienbearbeiter, schon seit 1956 loswerden, weil
er beschuldigt wurde, in der Kriegsgefangenschaft Antifadienste geleistet zu
haben. Seine Dienststelle aber wollte ihn als Fachmann unbedingt halten.
Der Streit zog sich über Jahre hin. Das Machtwort sprach schließlich Annelore

132 Spiegel Nr. 6/1959 vom 4.2., S. 64.


133 Krieger, Geheimdienste, S. 55.
134 Vermerk Gehlens vom 12.11.1958, BND-Archiv, 1163.

952
Krüger. Weil Leikamp sämtliche Auflagen aus früheren Untersuchungen nicht
eingehalten habe, sei er untragbar geworden. Der Einwand des Dienststellen­
leiters, er müsste ohne Leikamp die Tätigkeit einstellen, blieb vergeblich. Der
Beschuldigte erklagte sich eine hohe Abfindung und wurde aus dem Dienst
entfernt.135
Kurt Weiß meldete sich einmal pro Woche bei Gehlen mit dem Lagevor­
trag zur außenpolitischen Aufklärung. Hier griff dieser gelegentlich mit spon­
tanen Anregungen und Entscheidungen ein, wobei er sich mehr auf seine
Intuition als auf sorgfältige Planung verließ.136 Siegfried Graber, Urgestein
der Org und jetzt als Leiter der Schule des BND ins Abseits gestellt, fand für
sein Unverständnis kein Gehör, dass die Mitarbeiter eine förmliche Verpflich­
tungserklärung unterschreiben sollten, selbst die alten. Auch der Soldateneid
würde nicht von Zwang und Disziplinarstrafordnung sprechen. Man sollte
mit einer Bereitschaftserklärung nicht die Paragrafen des Strafgesetzbuchs
in den Mittelpunkt stellen, sondern die Erfüllung der Aufgabe. Wenn man
Pflichterfüllung fordere und gleichzeitig keine Rechte zugestehe, müsste man
wenigstens gut bezahlen, meinte er137 – für Gehlen nicht mehr als das Murren
Einzelner.
Ohne große Resonanz blieb auch die Organisationsprüfung des Jahres 1958,
bei der bemängelt wurde, dass die großen Personalaufstockungen der jüngs­
ten Zeit »nur durchschnittlich qualifiziertes Personal« in den Dienst gespült
hätten.138 Gehlens Schwager Seydlitz-Kurzbach, Leiter der Personalabteilung,
lag dem Chef ebenfalls vergeblich in den Ohren. Ihm waren zahlreiche Fälle
benannt worden, wonach Mitarbeiter zusätzliche Vergütungen aus Mitteln
erhielten, die für nachrichtendienstliche Operationen bestimmt waren. Dafür
würden diese Empfänger V-Nummern und pauschale Zahlungen erhalten,
ohne Abrechnungen. Teilweise seien Zahlungen erfolgt, die weit über die tat­
sächlich nachgewiesenen operativen Aufwendungen hinausgingen, ebenso
laufende Zahlungen an Ehefrauen für angeblich dienstliche Tätigkeiten (zum
Beispiel für die Bedienung des häuslichen Telefons) und Zahlungen für angeb­
lich dienstlich benötigte Räume in den Privatwohnungen der Mitarbeiter.
Für Kinder höherer Mitarbeiter würden Studienbeihilfen mit dem Argument
der Nachwuchsförderung gezahlt. Personen außerhalb des Dienstes, die eine
Besoldung oder Pensionen aus öffentlichen Mitteln erhielten, bekämen für

135 Siehe demnächst die Fallstudie von Hilger/Nowack, Dienststelle 71 Südosteuropa.


136 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 267 unter Verweis auf ein Zeitzeugengespräch.
137 Siegfried Graber, Gedanken zur Verpflichtungserklärung in unserem Dienst, 9.11.1958,
BND-Archiv, N 4/v.11.
138 Dr. Neumann an Gehlen betr. Organisationsprüfung 1958, 19.12.1958, zit. nach: Hilger/
Nowack, Dienststelle 71 Südosteuropa.

953
angebliche Dienste ohne Rücksicht auf ihre Aufwendungen Gelder des BND.
In vielen Fällen handelte es sich offensichtlich um strafrechtliche Tatbestände,
aber Gehlen wollte davon nichts hören und ging davon aus, dass hinter sol­
chen Angaben bloße Missgunst stand, da von den großzügigen Regelungen nur
ein kleiner Kreis profitierte. Zwar wurden einige Änderungen vorgenommen,
aber die Missstände – so der Eindruck von Seydlitz-Kurzbach – wurden in der
Masse weiter abgeschirmt und in Bereichen abgewickelt, die nicht überprüft
wurden.139
Für seine Großzügigkeit in finanziellen Dingen glaubte Gehlen sich nicht
rechtfertigen zu müssen. Er stand in seinem Selbstverständnis über solchen
Symptomen von Neid und Missgunst. Als Warnzeichen für eine heranwach­ -
sende Missstimmung innerhalb des Dienstes begriff er solche Meldungen
offenbar nicht, Seydlitz-Kurzbach verlor seinen Posten als Leiter der Personal­
abteilung. Gehlens Erfahrung besagte, dass für das Ansehen und die politische
Rückendeckung des Dienstes die »Landschaftspflege« in Bonn entscheidend
war, nicht die Stimmung der Mitarbeiter und auch nicht die Überschwem­
mung der Bedarfsträger in den Ministerien mit mehr oder weniger inhaltsrei­
chen Meldungen und Gutachten, deren Qualität sorgfältiger Tarnung bedurfte.
Seine persönliche Machtstellung und den Einfluss des BND zu zementieren,
galt offenkundig Gehlens größtes Bemühen, auch wenn von seinen beiden
schwachen Konkurrenten, BfV und ASBw, kaum Gefahr drohte. Leichter
machte das die Vertretung der BND-Interessen nicht.
Den Anregungen der CIA folgend hatte er sich mit dem Verteidigungsmi­
nisterium und dem Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen über
eine Arbeitsteilung mit einer Federführung des BND bei der psychologi­
schen Kampfführung gegen den Osten verständigt. Dann widersprach das
Innenministerium unter Gerhard Schröder, weil man eine Verquickung mit
innenpolitischen Aspekten sah und deshalb die Steuerung beim Kanzleramt
angesiedelt wissen wollte.140 Gehlen aber sah die weltweite Bekämpfung des
Kommunismus als originäre Aufgabe des BND an, zumal als ein ausbaufä­
higes Kompetenzfeld, das vielfältige Einflussmöglichkeiten versprach. Mit
einer gewissen Steuerung durch das Kanzleramt, also durch Globke, konnte
er wohl leben, auch wenn er sich für den BND einen größeren Gestaltungs­
spielraum wünschte. Deshalb wehrte er sich auch dagegen, dass nach einer
Anfrage des japanischen Amts für Sicherheit für einen Erfahrungsaustausch
bei der Bekämpfung des Kommunismus und nach Material über die Verhält­

139 Aktennotiz von Seydlitz-Kurzbach über ein Gespräch mit dem Leitungsstab Gehlen
vom 2.3.1959 und Notiz vom 2.3.1959, BND-Archiv, N 71.
140 Besprechung Gehlen – Globke, 15.10.1958, BND-Archiv, 1163.

954
Außenminister Gerhard Schröder (links) beim 7. CDU-Bundesparteitag in Hamburg mit
Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, Mai 1957

nisse innerhalb Deutschlands das BfV eingeschaltet wurde. Das Kanzleramt


hatte die Zuständigkeit offenbar zutreffend beurteilt, aber Gehlen wollte den
Anfängen wehren und bestand darauf, dass wegen der Auslandsverbindung die
Koordinierung vom BND geleistet werden müsse.141
Die NS-Belastung von BND-Mitarbeitern erwies sich immer wieder als
Schwachstelle, die Gehlen zu Verteidigungsmaßnahmen veranlasste. So
zeigten sich die Amerikaner ernsthaft besorgt über Pressemeldungen, dass
offenbar in Polen eine Sonderkommission gebildet wurde, die westdeutsche
Gerichte mit Materialien gegen NS-Täter beliefern sollte.142 Sollte das Beispiel
Schule machen, könnten alle östlichen Nachrichtendienste solches Material
benutzen, um Druck auf ehemalige Nazis und Kriegsverbrecher auszuüben.
Die UdSSR dürfte über umfangreiches Material verfugen, auch gegen längst
entnazifizierte Personen, die jetzt in einflussreichen Stellen säßen. Selbst
wenn das Material sich nicht für Erpressungen eignen würde, könnte es für
Propagandaaktionen benutzt werden. Die Amerikaner verwiesen insbeson­
dere auf die Möglichkeit, dass frühere Gestapobeamte in ihrem Fortkommen

141 Siehe Schriftwechsel mit dem Kanzleramt im Dezember 1958, ebd.


142 Schreiben der CIA, 21.11.1958, ebd.

955
empfindlich gestört werden könnten, eventuell ihre Pension verlieren würden,
was erhebliche Rückwirkungen auf die Sicherheitslage im Beamtenkörper der
Bundesrepublik haben könnte. Wegen der Unabhängigkeit der bundesdeut­
schen Gerichte könne wohl nur wenig getan werden, »um gegen diese mäch­
tige Waffe des Feindes entscheidend einzuwirken«. Die CIA war daran interes­
siert, Gehlens Ansicht zu diesem Problem zu erfahren.
Der BND-Chef überließ die Festlegung der Sprachregelung Globke, da es
sich um ein Problem der gesamten Beamtenschaft handelte. Im Hinblick
auf die ehemaligen Gestapobeamten im BND sah er sich mit den bereits im
Vertrauensmännergremium des Bundestages vorgebrachten Argumenten im
Reinen. Globke ließ daraufhin mitteilen, dass die Bundesregierung die polni­
schen Aktivitäten beobachte, aber keine Möglichkeit sehe, auf die Justizorgane
einzuwirken. Sie teile, von einzelnen Ausnahmen immer abgesehen, nicht die
Besorgnis, dass Geheimnisträger bloßgestellt oder erpresst werden könnten.
Dieser Personenkreis sei hinsichtlich seiner politischen Vergangenheit als
auch unter Sicherheitsgesichtspunkten sorgfältig überprüft worden. Eine sol­
che Selbstgewissheit erwies sich in den folgenden Jahren als leichtfertig. Das
trug erheblich zum wachsenden Glaubwürdigkeitsverlust sowohl Globkes als
auch Gehlens bei. Dem BND-Chef oblag es dann immer wieder, im Auftrag und
im Interesse Globkes Material zu beschaffen, um Vorwürfe zur NS-Belastung
prominenter Vertreter der Bonner Republik zu widerlegen – natürlich auch in
eigener Sache.
Der Kampf gegen den heuchlerischen Antifaschismus der DDR-Propaganda
gehörte wohl kaum zum Aufgabenfeld des BND. Aber Gehlen war auch hier
stets dem Kanzleramt gefällig. Das zahlte sich aus, wenn es um eine ausgrei­
fende Interpretation der Zuständigkeiten zugunsten des BND ging. In Minis­
terialdirektor Reinhold Mercker (DN »Merkur«) fand Gehlen einen langjähri­
gen wohlwollenden Mitstreiter im Kanzleramt, der sich erst in der Spätphase
der Ära Gehlen zum Kritiker des eigenwilligen Präsidenten entwickelte. Zehn
Jahre zuvor, Ende 1958, war er der Ansprechpartner für die Anliegen des BND,
so etwa wenn sich Pullach zwar gegen die von den USA gewünschte Auswei­
tung des Abhörens des Telefonverkehrs in der Bundesrepublik aussprach, sich
gleichzeitig aber an der Auswertung gegenwärtiger Ergebnisse stark interes­
siert zeigte.
Die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr beurteilte Gehlens Referent zwar
als grundsätzlich zufriedenstellend, aber er bedauerte gegenüber Mercker,
dass sich der leitende G-2 (Wessel), Unterabteilungsleiter II, Nachrichtenwe­
sen, im Führungsstab der Streitkräfte, nicht gegenüber den Teil Streitkräften
durchsetzen könne. Da das Verteidigungsministerium seine Aufträge an den
BND richte, müsse dessen Präsidenten auch ein fachliches Weisungsrecht im
G-2-Bereich eingeräumt werden. Es wäre eine große Hilfe, wenn der Bundes­

956
kanzler ein Mitspracherecht bei der Besetzung der vier Spitzen-G-2-Stellen
hätte und der BND außerdem Einfluss auf die G-2-Ausbildung bekäme143 – ein
letztlich aussichtsloses Unterfangen, das gegen den starken Verteidigungsmi­
nister Strauß nicht durchsetzbar war.
Nicht viel leichter war die Abgrenzung der Zuständigkeiten im Bereich der
Gegenspionage gegenüber dem BfV und dessen Fachaufsicht durch den Innen­
minister. Hier versuchte Gehlen sein Glück mit dem Verweis auf die Amerika­
ner, die angeblich dafür plädierten, dass der BND die alleinige Zuständigkeit
für Gegenspionageoperationen erhalten sollte.144 Um das BfV an die Leine zu
legen, könnte es nützlich sein, meinte Gehlen gegenüber Globke, dem BND die
alleinige Zuständigkeit für Kontakte zu ausländischen Nachrichtendiensten
zu geben. Damit wäre automatisch eine Kontroll- und Steuerungsmöglichkeit
verbunden.
In diesem umtriebigen Bemühen, seinen politischen Einfluss im westdeut­
schen Regierungssystem zu festigen und auszudehnen, boten Dienstreisen
zum amerikanischen Partnerdienst nicht nur wohltuende Entspannung vom
heimischen Intrigendschungel, sondern auch manche nützliche Empfehlung.
In der zweiten Novemberhälfte des Jahres 1958 fand sein mehrfach verscho­
bener USA-Besuch statt. Bei der zweiwöchigen Tour traf er unter anderen mit
General Major Gordon Stewart zusammen, dem früheren Deutschlandchef der
CIA, jetzt Personalleiter, der mit ihm in einem längeren Briefing den gesetzli­
chen Rahmen für die Arbeit der CIA diskutierte.145 Es sollte dazu dienen, die
Effektivität der Arbeit des deutschen Nachrichtendienstes sicherzustellen,
denn die Amerikaner legten verständlicherweise großen Wert darauf, ihren
deutschen Zögling so gut wie möglich im bundesdeutschen Regierungsappa­
rat verankert zu wissen. Außerdem stand die Überprüfung einzelner nachrich­
tendienstlicher Operationen auf dem Programm. Wie geplant wurde Gehlen
vom Präsidenten des Bundesrechnungshofes begleitet. Der Rückweg wurde
über Spanien und Italien gewählt, wo Gehlen den spanischen Generalstabs­
chef und die Leiter der Dienste beider Länder besuchte.146
Wenige Tage nach seiner Rückkehr hielt der sowjetische Staats- und Par­
teichef Nikita Chruschtschow im Moskauer Sportpalast eine viel beachtete
Rede, in der er eine Änderung des Potsdamer Abkommens verlangte, insbe­
sondere durch die Übertragung sowjetischer Befugnisse über West-Berlin an
die DDR-Regierung. Die zweite Berlinkrise zog herauf. Am 27. November 1958

143 Notiz über die Besprechung Gehlens bei Mercker am 1.12.1958, ebd.
144 Undatierte Notiz über das Gespräch Gehlen – Globke (Mitte Januar 1959), ebd., S. 228.
145 Entwurf für das Briefing Gehlens am 22.10.1958, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2, S. 97-104.
146 Notiz zur Reise vom 18.10. bis 1.11.1958, BND-Archiv, 1163.

957
übergab Moskau ein auf sechs Monate befristetes Ultimatum für Verhandlun­
gen über einen Friedensvertrag, mit der Drohung, ansonsten die Hoheit über
die Zufahrtswege nach West-Berlin direkt an die DDR zu übergeben sowie
West-Berlin als eine »Freie Stadt«, als eine selbstständige, entmilitarisierte
Einheit auf DDR-Territorium, zu proklamieren. Es begann eine mehrjährige
Zeit erhöhter Spannungen im Ost-West-Konflikt, unterbrochen durch Perio­
den relativer Entspannung, die am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer um
West-Berlin ihren Höhepunkt erreichte. Chruschtschow setzte den Hebel an
der Schwachstelle des Westens, dem isolierten West-Berlin, an. Damit wurde
nicht zuletzt auch ein wichtiger Stützpunkt Pullachs und der anderen westli­
chen Geheimdienste bedroht.
Die Westmächte zeigten sich von den Drohungen ziemlich unbeeindruckt
und zögerten weitergehende Gespräche hinaus, bis sich Chruschtschow
gezwungen sah, sein Ultimatum auslaufen zu lassen. Es wurde ein Testfall
für den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses und den deutschlandpo­
litischen Konsens in der bundesdeutschen Innenpolitik. In der psychologi­
schen Kraftprobe kam dem BND eine Schlüsselrolle zu, gegenüber der sow­
jetischen Kraftmeierei der eigenen Regierung ein nüchternes Lagebild an die
Hand zu geben. Hier konnte Gehlen also die Stärke seines Dienstes in enger
Zusammenarbeit auf NATO-Ebene voll zur Geltung bringen. Die wichtige Auf­
gabe der militärischen Beschaffung übertrug Gehlen jetzt seinem Vertrauten
Heinz Danko Herre. Militärische Planungen für den Fall einer erneuten Blo­
ckade West-Berlins zeigten die Möglichkeiten auf, um notfalls gewaltsam die
Zufahrtswege zu öffnen.147 In seinem machtpolitischen Instinkt war Gehlen
fest davon überzeugt, dass Ulbricht und Chruschtschow zwar die Zuspitzung
suchten, aber eine gewaltsame Lösung nicht riskieren würden.148
Ebenso unerschütterlich war sein Vertrauen in die Stärke der USA, mochten
auch den Kanzler von Zeit zu Zeit Zweifel an der politischen Haltung der US-
Administration befallen. Außenminister John Foster Dulles hatte im Dezember
1958 maßgeblich zur festen Haltung des Bündnisses auf der NATO-Ratstagung
beigetragen. Und dessen Bruder, der CIA-Chef, bestärkte Gehlens Zuversicht
durch ein aufmunterndes Fernschreiben mit Weihnachtsglückwünschen.
Trotz der gegenwärtig bedrohlichen Haltung der Sowjets bezüglich Berlins und
anderer Krisengebiete in der Welt gab sich Allen Dulles optimistisch für das
neue Jahr. Critchfield als unmittelbar mit der Arbeit des BND befasster Chef
der Osteuropaabteilung der CIA fasste die Weihnachtsgrüße etwas persönli­

147 Siehe Winfried Heinemann: Planungen für den Krieg um Berlin; in: Der Mauerbau. Kal­
ter Krieg, Deutsche Teilung, Berlin, Tagung vom 16. bis 18. Juni 2011 (Online-Veröffent­
lichung).
148 Gehlen, Der Dienst, S. 217.

958
Heinz Danko Herre, enger Vertrauter
Gehlens und Verbindungsmann zu
den Amerikanern, ca. 1955

cher und lyrischer. Er verwies darauf, dass sich seine persönliche Verbindung
mit Pullach nunmehr seit zehn Jahren bewährt habe. In diesen Jahren hätten
gewaltige ökonomische und technologische Veränderungen stattgefunden,
trotz anhaltender politischer Unruhen und trotz des unverminderten sowje­
tischen Angriffs gegen die freie Welt. Gehlen könne Zufriedenheit empfinden,
einen bedeutsamen Beitrag zur Stärkung der westlichen Allianz geleistet zu
haben.149
Die Bestätigung durch die amerikanischen Partner mag auch den versteck­
ten Humor Gehlens gefördert haben, als er Herre in einem Schreiben zu dessen
50. Geburtstag Gesundheit und Erfolg für die nächsten 50 Jahre wünschte, »bis
Sie als uralter Opa mit langem Bart aus Schlesien her die nachrichtendienstli­
chen Operationen gegen die Sowjetunion leiten – vorausgesetzt, dass Sie sich
trotz des so erfreulichen Tempos die notwendige Schonung zwischendurch
gönnen!«150 Gehörte Gehlen also zu den »Revanchisten«, wie sie die DDR-
Propaganda anprangerte, weil sie angeblich ein neues Unternehmen »Barba­
rossa« planten?
Allzu ernst sollte man diese Worte Gehlens wohl nicht nehmen, denn es
hieße zu glauben, dass er sich ein Fortbestehen der UdSSR für weitere 50 Jahre
vorstellen konnte. Man wird allerdings davon ausgehen können, dass Gehlen
entsprechend der regierungsamtlichen Devise vom Fortbestehen des Deut­
schen Reiches in den Grenzen von 1937 und als »Heimatvertriebener« die

149 Fernschreiben von Dulles und Critchfield am 23.12.1958, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen, vol 3_10F2, S. 109-110.
150 Schreiben Gehlens an Herre vom 22.1.1959, BND-Archiv, N 2/v.3.

959
Annexion Schlesiens durch Polen nicht als endgültig angesehen hat. Ebenso
lag ihm die Vorstellung einer offiziellen Anerkennung der DDR völlig fern, wie
sie Ulbricht im Zuge der Berlinkrise zur Hauptforderung seiner Politik gemacht
hatte. Auch hier konnte sich Gehlen auf den Konsens in der Regierungskoali­
tion stützen. Die weltweite Ausdehnung der Aktivitäten des BND, die Gehlen
betrieb, sollte nicht zuletzt dazu dienen, einer möglichen Anerkennung der
DDR insbesondere in der Dritten Welt einen Riegel vorzuschieben.
Im Januar 1959 stellte sich Gehlen in der Berlinkrise eine ungewöhnliche
Herausforderung. Das Kanzleramt befasste sich mit einer Überprüfung der
Deutschlandpolitik, um notfalls eine Interimslösung für Berlin mit einer Aner­
kennung der DDR zu verbinden. Globke spielte bei den internen Erörterungen
eine zentrale Rolle. Der Kanzler bereitete sich darauf vor, Anfang Februar den
US-Außenminister zu einem Gespräch in Bonn zu empfangen. Hans Globke
bastelte an einem Papier, das erst 1974 als sogenannter »Globke-Plan« bekannt
wurde. In seinen 1971 erschienenen Memoiren ging Gehlen darauf mit keinem
Wort ein. Der Plan sah eine gegenseitige Anerkennung der beiden deutschen
Staaten vor, die Gewährleistung bestimmter Grundrechte, die Aufhebung aller
Verkehrsbeschränkungen und – für fünf Jahre – das Einfrieren der Mitglied­
schaft in den jeweiligen Bündnissen. In dieser Zeit sollte ganz Berlin entmi­
litarisiert und unter UNO-Kontrolle gestellt werden. Freie Wahlen und eine
Volksabstimmung über die Wiedervereinigung stünden am Ende der Über­
gangszeit.151 Wie ernst es Adenauer und Globke mit einem solchen »Burgfrie­
den-Plan« gewesen sein mag, ist schwer zu sagen, aber es waren zumindest
denkbare Forderungen auf dem möglichen Weg zur Wiedervereinigung, wie sie
parallel auch in der SPD-Führung erörtert wurden. Der von Herbert Wehner
entwickelte »Deutschland-Plan« enthielt freilich ein Element, das bei Globke
fehlte: eine Rüstungskontrollzone in Mitteleuropa. Für Adenauer kam eine
solche Regelung überhaupt nicht in Betracht. Sie hätte eine Sonderstellung
der Bundesrepublik innerhalb der NATO, den möglichen Zerfall des westli­
chen Bündnisses, die Mitsprache der UdSSR bei der deutschen Verteidigungs­
planung und eine Deklassierung gegenüber Großbritannien und Frankreich
bedeutet.
Für Gehlen muss die Lage höchst bedrohlich ausgesehen haben. Jetzt stand
plötzlich ein möglicher deutscher Neutralitätskurs nicht nur bei der Oppo­
sition zur Diskussion, sondern im Zentrum der Macht, dem Kanzleramt als
seinem wichtigsten politischen Bezugspunkt. Er suchte in offenbar düsterer
Stimmung Heinrich Krone auf, den wichtigsten Einflüsterer des Kanzlers.
Gehlen prognostizierte, dass der Kreml mit seinem Ultimatum hart bleiben

151 Siehe Schwarz, Die Ära Adenauer, Bd. 2, S. 86.

960
werde – was sich später als falsch erwies. Und er setzte entsprechend seiner
antikommunistischen Grundlinie zweifellos auf die westliche Standhaftigkeit.
Signale des Entgegenkommens und Kompromisse würden Moskau nur ermu­
tigen. Krone notierte als Ergebnis in seinem Tagebuch: »Wir stehen vor schwe­
ren Entscheidungen. Der Westen will Ruhe haben. Mit Berlin hat der Kreml
die deutsche Frage ins Rollen gebracht. Wir werden diesen Kampf nicht ohne
Verluste bestehen.«152
Es kann angenommen werden, dass Gehlens Stellungnahmen den Kanzler
in seiner Ablehnung der Rüstungskontrollpläne bestärkten, von denen in die­
ser Form auch die Amerikaner nichts wissen wollten. Bei seinem Bonnbesuch
trug Außenminister Dulles Adenauer in aller Deutlichkeit das mögliche militä­
rische Vorgehen bei einer Blockade Berlins vor, an dessen Ende ein Einsatz tak­
tischer Atomwaffen stehen würde – zu einem strategischen Schlagabtausch
würde es nicht kommen. Adenauer gab zwar seine Zustimmung zu einem sol­
chen Eventualplan. Offiziell war er für absolute Härte und eine geschlossene
Front gegen Russland, wie der britische Botschafter nach London berichtete.
»Hinter der Szene aber ringe er die Hände und sage, Rußland und der Westen
seien wie zwei Schnellzüge, die direkt aufeinander zurasten.«153
Der Chef des BND kümmerte sich darum, dass die Front gegen den Osten
weder im eigenen Hinterland noch in Übersee aufgeweicht wurde. Als sich
eine Genfer Außenministerkonferenz der vier Siegermächte abzeichnete,
holte Gehlen den alten Entwurf für ein »Weißbuch« über die kommunistische
Infiltration hervor, das ursprünglich für die Außenministerkonferenz Anfang
1954 vorbereitet worden war. Zu seinem Ärger bestand das BfV auf einer
Abschwächung der bewusst aggressiven Darstellung des BND – bis hin zur
Verharmlosung, wie man es in Pullach empfand. Gehlen reagierte, nicht unty­
pisch, mit einer Betonung seiner bestehenden Sicherheitsbedenken gegen
Dr. Nollau, die, wie früher gegenüber John, lediglich auf schwachen Indizien
beruhten.154
Er genehmigte einen systematischen Aufbau der Afrikaaufklärung und bil­
ligte den Vorschlag von Kurt Weiß für eine Intensivierung der Presseverbin­
dungen des BND.155 Gehlen war bereit, bei nächster Gelegenheit einen Stutt­
garter Zeitungsverleger zu empfangen, dessen kanzlerfromme Artikel er sehr
schätzte. Dieser wollte expandieren, fuhr freilich seine Ambitionen bis zum

152 Eintrag vom 24.1.1959, Krone, Tagebücher, Bd. I, S. 327.


153 Zit. nach: Schwarz, Die Ära Adenauer, Bd. 2, S. 89.
154 Interne Besprechung am 17.3.1959, BND-Archiv, N 10/6. Gehlen war fest davon über­
zeugt, dass Nollau ein feindlicher Agent war, siehe Interview mit Elke Fröhlich,
16.12.1971, IfZ, ED 100-69-201.
155 Siehe zum Folgenden Vortrag Weiß bei Gehlen, 20.3.1959, BND-Archiv, N 10/8.

961
Jahresende an die Wand. Weiß hatte aber noch weitere Verbindungen anzubie­
ten, so einen profilierten SPD-Journalisten (DN »Herbst«), der als Korrespon­
dent nach Paris gehen sollte. Gehlen kannte ihn bereits persönlich durch die
Vermittlung seines Gewährsmannes in der SPD-Zentrale, Dr. Siegfried Ziegler.
Insgesamt war er mit den derzeitigen Verbindungen zur SPD sehr zufrieden.
Gehlen wollte die Beziehungen auf oberster Ebene selbst pflegen, das heißt
mit der Parteiführung und insbesondere zu Erler. Er war aber sehr dafür, auch
künftig Einzelverbindungen durch Weiß wahrnehmen zu lassen, zum Beispiel
mit dem Exoberleutnant Hans-Jürgen Wischnewski, dem neuen Bundesvor­
sitzenden der Jungsozialisten, der über gute Kontakte zum algerischen Befrei­
ungskampf verfügte. Der Draht zu »Ben Wisch«, wie er später wegen seiner
exzellenten Kontakte in den arabischen Raum genannt wurde, erwies sich als
eine äußerst nützliche Verbindung für den BND.
Durch die neu aufgerührten deutschlandpolitischen Kontroversen zeigte
der Chef des BND ein besonderes Interesse am Stand der Verbindungen zum
Spiegel. Seine letzten Gespräche mit Augstein und Becker lagen bereits vier
Jahre zurück. Weiß versicherte ihm, dass über die Dienststelle Worgitzky/
Wicht ein ständiger Kontakt gewährleistet sei, der vorrangig dem Zweck diene,
über geplante einschlägige Veröffentlichungen vorher unterrichtet zu sein.
Man habe bereits in mehreren Fällen unerwünschte Artikel verhindern kön­
nen. Gehlen reagierte auf diesen Lagebericht mit einer weitreichenden Ent­
scheidung, die nur vor dem Hintergrund der Berlinkrise verständlich war. Der
Vorschlag von Weiß ging weit über die bisher geübte interne Rechtfertigung
für Presseverbindungen als Eigenschutz hinaus.
Gehlen stimmte grundsätzlich zu,

daß im Rahmen der eigenen Pressearbeit nach und nach tragfähige Verbin­
dungen zu Verlegern bzw. Herausgebern, Chefredakteuren bzw. leitenden
Redakteuren aller auflagestarken Wochenzeitschriften (>Spiegel<, >Zeit< u. a.),
aller überregionalen sowie der in München erscheinenden Zeitungen herge­
stellt werden sollen. Außerdem sollen auch in den Rundfunkanstalten und in
den großen Agenturen geeignete Redakteure erforscht werden.156

Weiß sicherte damit eine geplante Besprechung mit Vertretern des Bundes­
presseamts (BPA) ab, die erste offizielle Begegnung des BPA mit dem BND.
Dabei sammelte Weiß im Auftrag Gehlens die Klagen von BPA-Vertretern über
das Verhalten mehrerer Rundfunkanstalten mit diffamierenden Sendungen
insbesondere über Bundeswehr und Nachrichtendienste. Weiß sagte seine

156 Besprechung Weiß – Gehlen, 13.10.1959, BND-Archiv, N 10/8.

962
Unterstützung zu, wie bei den früheren Kampagnen der DDR gegen Heusinger
und Speidel.157
Das BPA machte sich Sorgen wegen der Personalpolitik in den Rundfunk­
anstalten. Weiß sah sich aber außerstande, zu den einzelnen genannten Per­
sonen Stellung zu beziehen. Der BND sei bereit, auf Wunsch des BPA einzelne
Sendungen daraufhin zu überprüfen, ob Anhaltspunkte für östliche Desinfor­
mation oder Infiltration festgestellt werden könnten. Es kam zu einer ausführ­
lichen Diskussion über den Spiegel, weil nach Meinung des BPA kein anderes
Presseorgan vergleichbare Schwierigkeiten bereite. Die BPA-Vertreter hielten
Verbindungen des Nachrichtenmagazins zur sowjetischen Botschaft für nach­
weisbar. Weiß erläuterte das Agieren des BND gegenüber dem Spiegel, ausge­
hend von dessen Veröffentlichung »Des Kanzlers lieber General«. Die Kon­
takte würden nicht von der Zentrale ausgehen, sondern einer Außenstelle in
Hamburg. Es gebe keine Materiallieferungen, sondern man versuche, sich von
Fall zu Fall mit der Absicht einzuschalten, negative Veröffentlichungen zu ver­
hindern. Bisher sei das in mehreren Fällen erfolgreich gewesen, allerdings nur
dann, wenn keine übergeordneten Spiegel-Interessen bestanden. Augstein und
Becker seien offenbar jedoch stark daran interessiert, die Verbindung nicht
abreißen zu lassen.
Zur Ambivalenz seiner Haltung gegenüber dem Spiegel gehörte auch Geh­
lens Bereitschaft, das Vorhaben des CSU-Journalisten Winfried Martini, einen
Anti-Spiegel zu gründen, wohlwollend zu prüfen. Auf Nachfrage winkte Globke
jedoch ab, denn nach seiner Information seien die interessierten Wirtschafts­
kreise besorgt, dass der Spiegel doch bald Kenntnis von dem Unterstützerkreis
erhalten und diesen dann mit »schmutziger Wäsche« anprangern werde. Es sei
besser, eine Zeitung aufzuziehen, die nicht eindeutig gegen den Spiegel gerich­
tet sei. Der Verleger Gerd Bucerius werde den Versuch unternehmen, Anteile
des Spiegel aufzukaufen. Dann könne man ihn als Oppositionsblatt ruhig wei­
terlaufen lassen, gewisse Dinge aber verhindern.158 Gehlen dürfte diese indi­
rekte Strategie recht gewesen sein, denn eine offene Konfrontation mit dem
einflussreichen Nachrichtenmagazin wollte er auf jeden Fall vermeiden. Seine
eigenen Fäden in die Redaktion sicherten ihm einen gewissen Einfluss – das
musste reichen. Bei dieser Gratwanderung hatte er wohl Skrupel, aber keine
moralischen, obwohl die Einflussnahme des BND auf die bundesdeutsche
Presse nicht zum offiziellen Auftragsprofil des Auslandsnachrichtendiens­

157 Besprechung Weiß mit BPA-Vertretern, 24.3.1959, ebd. Als Protagonisten für die Auf­
stellung der Bundeswehr waren beide Exgenerale der Wehrmacht von Anfang an Ziel­
scheibe für die DDR-Propaganda gewesen, die sich immer wieder bemühte, ihnen Ver­
antwortung für das NS-Regime und die verbrecherische Kriegführung nachzuweisen.
158 Vortrag Gehlens bei Globke am 30.9.1959, BND-Archiv, 1163.

963
tes gehörte. Da Gehlen aber oft auf Anforderung bzw. mit Unterstützung des
Kanzleramts tätig wurde, mochte er diese innenpolitischen Seitensprünge für
vertretbar halten. Aus seiner Sicht dürfte es sich wohl im weitesten Sinne auch
um eine berechtigte Notwehr des BND gehandelt haben.
Das zeigte sich etwa bei einer telefonischen Mitteilung Globkes im Dezem­
ber 1959, der Spiegel verfolge die Absicht, einen Artikel gegen den BND zu ver­
öffentlichen. Es werde massiv Material durch die Befragung von Mitarbeitern
in deutschen Ostinstituten über eine Zuarbeit für den BND gesammelt. Der
Vorwurf sei, hier werde Zweckforschung wie in der DDR betrieben. Globke
war der Meinung, es müsse geprüft werden, inwieweit diese Absicht des Spie­
gel eine besondere Gefährdung für die deutsche Politik darstelle – die spätere
Spiegel-Affäre warf ihre Schatten voraus.159 In der Sache selbst steckte hier
freilich keine größere Brisanz, denn der BND nutzte sein Recht, wissenschaft­
liche Gutachten und Studien in Auftrag zu geben. Lediglich die damaligen
Vorstellungen einer politikfernen, »freien« Wissenschaft mochten ein solches
Auftragsverhältnis als ehrenrührig ansehen. An der Möglichkeit, einen Anti-
Spiegel zu schaffen, blieben Gehlen und Globke jedenfalls interessiert.160
Globkes Intervention lässt sich als Ausdruck einer zunehmenden Empfind­
lichkeit im Umfeld Adenauers gegenüber einer kritischen Presse verstehen.
So konnte Gehlen seinen Intimus einige Tage später damit beruhigen, dass
er die drohende Spiegel-Veröffentlichung vorläufig verhindert habe. Zugleich
aber berichtete er über ein publizistisches Interesse der Hamburger Redaktion
an einem möglichen Wechsel im Kanzlervorzimmer sowie an der Angelegen­
heit Vialon.161 Der Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt Friedrich Karl
Vialon war während des Zweiten Weltkriegs als Leiter der Finanzabteilung
im Reichskommissariat Ostland unter anderem mit der »Sicherung der jüdi­
schen Vermögenswerte« beauftragt.162 Die Vorwürfe des Spiegel hierzu waren
Anfang 1960 noch vergleichsweise harmlos, denn nach den Informationen des
BND hatten die Journalisten lediglich Material darüber, dass Vialon im Dritten
Reich junge Beamte genötigt haben soll, in die SA einzutreten. Erst nach jahre­
langen Ermittlungen wurde das Ausmaß seiner Verstrickung in den Holocaust
deutlich, aber nach seinem Rücktritt als Staatssekretär im Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1966) wurden die Verfahren Anfang der
1970er-Jahre eingestellt.

159 Telefonat Gehlens mit Globke, 3.12.1959, ebd.


160 Gespräch Weiß’ mit Blum, 1.4.1960, BND-Archiv, N10/7,l, S. 154; Vortrag Weiß’ bei Geh­
len, 13.4.1960, ebd., S. 168.
161 Aktennotiz Gehlens über die Besprechung mit Globke, 12.2.1960, BND-Archiv, 1163.
162 Siehe Zeitgeschichte: Vialon – In den Gettos gesammelt, Spiegel 41/1963 vom 9.10.,
S. 129.

964
Im Auftrag Gehlens behielt Kurt Weiß nicht nur die linke Oppositionspresse
im Blick, sondern war auch darum besorgt, dass am äußersten rechten Rand
kein Organ Einfluss gewann, das mit Kritik an der Regierungspolitik und dem
sicherheitspolitischen Kurs der Bundesrepublik für Ärger sorgen könnte. Hier
ließ sich allenfalls bei weiter Auslegung des Aufgabenspektrums ein gegebe­
nenfalls intervenierendes Interesse des BND konstruieren. Die Kontrolle der
soldatischen Traditionsverbände hatte sich die Gehlen-Truppe seit Beginn der
Debatte um die Wiederbewaffnung zur Aufgabe gemacht und hier einen wich­
tigen Beitrag zur Stabilisierung der Bundesrepublik geleistet.
Die Abgrenzung gegenüber der radikalen Rechten als Staatsräson der
Bundesrepublik war umso notwendiger, da die politische Lage im Vorfeld der
geplanten Genfer Konferenz nicht übersichtlicher geworden war. Das Interesse
Bonns an Fortschritten in der deutschen Frage verlangte auch eine besondere
Rücksicht auf die öffentliche Meinung bei den Verbündeten. Beide deutsche
Staaten durften lediglich als Beobachter teilnehmen, und Adenauer reagierte
entsetzt, als er in seinem Urlaub in Cadenabbia zu Ostern 1959 die Vorberei­
tungspapiere für die Konferenz studierte. Besonders die Verquickung einer
Interimslösung für Berlin mit der Deutschlandfrage sowie dem Problem der
Wiedervereinigung hatte er unbedingt vermeiden wollen. Denn für die Berlin­
frage glaubte er die öffentliche Meinung in der westlichen Welt auf seiner Seite
zu haben, nicht aber bei der Frage der Wiedervereinigung. Seinem Außenmi­
nister, der sich auf dem Weg zur Konferenz befand, telegrafierte er, dass die­
ses Papier abzulehnen sei. Brentano bot seinen Rücktritt an, was Adenauer
zurückwies.163
Gehlen konzentrierte sich dieser Tage auf die »Front« in Übersee.164 Er
fragte vorsichtshalber CIA-Chef Allen Dulles nach der derzeitigen US-Linie in
der Nahostpolitik. Nach dem Zusammenschluss Ägyptens mit Syrien zur Verei­
nigten Arabischen Republik (VAR), zu deren Staatspräsidenten Nasser gewor­
den war, schienen sich neue Möglichkeiten für den BND zu ergeben, seine alten
Verbindungen in Damaskus zu aktivieren, da die VAR Front gegen den Kom­
munismus machte und Nasser einen »islamischen Sozialismus« propagierte.
Dulles ließ ausrichten, dass CIA und State Department die Entwicklung positiv
sehen, man aber vermeiden wolle, allzu offensichtlich auf die Seite der Araber
zu treten, weil dann die sowjetische Propaganda von Einmischung sprechen
werde. Man bestärke aber die deutsche Regierung und Wirtschaft, die Mos­
kauer Wirtschaftshilfe für Nasser zu übernehmen, und die Bundesrepublik
brauche keinerlei unfreundliche Reaktionen Washingtons zu befürchten. Dul­

163 Schwarz, Die Ära Adenauer, Bd. 2, S. 90.


164 Zum Folgenden siehe Aktenvermerk Gehlens für Globke, 1.4.1959, BND-Archiv, 1163.

965
les meinte, dass der Zeitpunkt für eine deutsche Annäherung an Ägypten sehr
günstig sei, und stimmte mit Gehlen überein, dass die deutsche Wirtschafts­
hilfe nicht mit politischen Bedingungen verknüpft werden sollte. Sie hätte viel­
mehr dem Ziel zu folgen, die Neutralität Ägyptens zu unterstützen, um auf
diese Weise den Kampf gegen den Kommunismus zu führen.
Mit diesem Votum von Dulles hatte Gehlen eine Nachricht in der Hand,
um den außenpolitischen Kurs der eigenen Regierung zu bestärken. Er sah
sich bereits in Bonn wieder im Aufwind und ordnete an, die vom Dienst für
ihn persönlich angefertigten »Führungsunterrichtungen«, deren Weitergabe
der Chef persönlich und mündlich an Globke und andere übernahm, erheblich
auszuweiten. Seine Vorstellungen zielten darauf, dass er als Präsident des BND
bei Vorträgen in Bonn in der Lage sein sollte, Informationen aller Art jederzeit
gleichsam »aus der Tasche ziehen« zu können.165
Die aktuellen Kampagnen der DDR und Moskaus, die an dem Status von
West-Berlin rüttelten, indem sie die »Wühlarbeit« der westlichen Geheim­
dienste anprangerten, berührten den BND nicht immer direkt. Ein Spreng­
stoffanschlag auf die Senderäume der russischen Emigrantenorganisation
NTS führte zu einer Nachfrage Gehlens, die ergab, dass die Sendegenehmi­
gung stillschweigend vom Bundesinnenministerium erteilt worden war. Man
verständigte sich darauf, dass die CIA, der Hauptnutznießer der Tätigkeit und
Berichterstattung des NTS, die Kosten für die Beseitigung der Schäden über­
nehmen müsse.166 Eigentlich bedauerte Gehlen den Primat der CIA bei der
Betreuung der Exilrussen, aber in der gegenwärtigen Situation nutzte es ihm,
auf die Hauptverantwortung der CIA verweisen zu können. So konnte er sich
darauf beschränken, die fragwürdige russische Truppe, die nur noch einen pro­
pagandistischen Nutzen hatte und kaum von nachrichtendienstlichem Wert
war, aus der zweiten Linie zu unterstützen, um ihre Arbeitsfähigkeit auf west­
deutschem Boden zu erhalten.167
Vier Wochen zuvor, am 15. Oktober 1959, hatten KGB-Agenten Stepan
Bandera vor seinem Haus in München getötet. Der Führer der ukrainischen
Nationalisten, der während des Krieges zeitweilig auch gegen die Wehrmacht
gekämpft hatte, war 1946 ins Exil geflohen. Seine Anhänger kämpften mit
Unterstützung der CIA bis Ende der 1940er-Jahre gegen das Sowjetregime
in der Ukraine. Die Italiener hatten erst kürzlich ukrainische Agentenfunker
(Afu) in den Abruzzen ausgebildet und durch Vermittlung von »Giovanni«
den Deutschen angeboten. Sie wurden erst nach Bayern, dann nach Öster­

165 Interne Besprechung am 8.4.1959, BND-Archiv, N 10/8.


166 Notiz vom 21.4.1959, ebd.
167 Besprechung Gehlen – Weiß, 11.11.1959, ebd.

966
reich geschleust und drangen nach ihrem Übertritt in die Tschechoslowakei in
die Ukraine ein. In diesem Zusammenhang hatte Herre seine alten Kontakte
spielen lassen und mit Bandera Kontakt aufgenommen, der aber kurz darauf
ermordet wurde. Ob dieser Schlag des KGB durch Verrat von Felfe begünstigt
wurde, bleibt offen. Gehlen betrachtete die Emigranten eigentlich skeptisch.
Banderas OUN war schon im Krieg unzuverlässig gewesen, zerstritten und
unterwandert.168 Der Mord an Bandera schwächte Gehlens Interesse an den
Emigranten weiter. Gehlen beachtete zwar die Zeitschrift Europäischer Osten
im Sinne der angestrebten ideologischen Zersetzung der UdSSR, aber der BND
sollte die Emigrantenkreise nur schrittweise erfassen, um Gefahrenquellen
auszuschließen. Es lägen Hinweise auf die Absicht östlicher Nachrichten­
dienste vor, in diese Gruppen einzudringen, erfuhr er von Weiß.169
Die Ballonaktionen des russischen NTS wurden schließlich in der gesam­
ten Bundesrepublik verboten. Aber die Bitte des SPD-Abgeordneten Herbert
Wehner, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Gesamtdeutsche und
Berliner Fragen, Gehlen möge die NTS-Aktivitäten, die vom westdeutschen
Territorium ausgingen, genau überprüfen, um unerwünschte Reaktionen der
östlichen Seite zu verhindern,170 bestätigte sicherlich einmal mehr dessen tiefe
Abneigung gegen den umstrittenen Politiker.
Dass Herbert Wehner in diesen Wochen eine wichtige Rolle dabei spielte,
die SPD mit dem neuen »Godesberger Programm« innerparteilich mit dem
Kurswechsel zur Westbindung sowie zur NATO-Mitgliedschaft zu versöhnen,
hat Gehlens tiefes Misstrauen gegen ihn nicht gemindert. Abgesehen von dem
Hass auf den Emigranten Wehner zeigte sich der Präsident jedoch durchaus
flexibel, wenn es um geheime Kontakte zur sozialdemokratischen Opposition
ging. Einer Bitte des von ihm geschätzten Fritz Erler, den Wehrexperten Dr.
Ernst Riggert mit Material zu versorgen, folgte er gern. Das gehörte zur Rou­
tine.171 Er hielt es für wichtig, außerhalb der offiziellen Kontakte Parteiver­
bindungen zu unterhalten, etwa auch zu Stephan Thomas vom Ostbüro der
SPD und zu Wolfgang Döring von der FDP.172 Vielfältige Beziehungen in der
Bonner Landschaft waren nützlich, auch wenn es nur um kleine, aber lästige

168 Siehe Schilderung von Graber vom 25.8.1981 in seinem Nachlass, BND-Archiv, N 4/v.ll.
Graber hatte 1959 den Auftrag erhalten, sich um die Unterbringung der einsatzfähi­
gen Afu in Bayern zu kümmern. Er habe sich damals gegen einen direkten Kontakt mit
ihnen gewehrt und vermutete, die Italiener hätten die Ukrainer abschieben wollen, weil
sie politisch unbequem geworden waren, als der Fiat-Konzern mit Moskau eine Lizenz­
produktion unter dem Markennamen Lada in Togliattigrad vereinbarte.
169 Weiß – Gehlen am 7.4.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, S. 162.
170 Interne Besprechung, 3.8.1959, BND-Archiv, N 10/8.
171 Besprechung Weiß bei Gehlen, 31.8.1959, ebd.
172 Besprechung Weiß – Gehlen, 11.11.1959, ebd.

967
Beschwerden ging. Als sich dieser Tage ein früherer persönlicher Referent des
Bundeskanzlers verärgert über den BND äußerte, bat Gehlen Weiß, den Mann
»neutralisieren« zu lassen.173
Unnachgiebig reagierte Gehlen auf den Protest des sowjetischen Außenmi­
nisteriums gegen die Einforderung von Besatzungs- und Passagierlisten von
sowjetischen Schiffen, die den Nord-Ostsee-Kanal passierten, durch den deut­
schen Passkontrolldienst. Die Org hatte 1949 solche Listen angeregt und seit­
dem ausgewertet. Gehlen konnte darauf verweisen, dass sich auch westliche
Schiffe in sowjetischen Gewässern ähnlichen Kontrollen unterziehen muss­
ten. Eine Ressortbesprechung im Auswärtigen Amt hatte dann Anfang April
1959 zu dem einstimmigen Beschluss geführt, die sowjetische Note nur dann
zu beantworten, wenn eine Antwort angemahnt werde. In diesem Falle sollte
darauf verwiesen werden, dass die Kontrolle im Ermessen der zuständigen
deutschen Behörde liege. Eine ausführliche Stellungnahme Gehlens lieferte
dafür die Argumente, auch wenn ihm diese Hinhaltetaktik der Diplomaten
nicht geschmeckt haben dürfte.174
Ihm lag daran, seine Instrumente in der Hand zu behalten und gegebenen­
falls auszubauen. So suchte und fand er die Unterstützung der CIA für seine
Forderung, dass die gesamte Fernmeldeaufklärung der Bundesrepublik durch
den Präsidenten des BND gesteuert werden müsse.175 Dieser Anspruch ging
zulasten vor allem der Bundeswehr, die mit diesen Mitteln eine von Pullach
unabhängige Aufklärung betreiben wollte. Generalinspekteur Heusinger
nutzte einen Besuch in Washington, um persönlich mit CIA-Chef Dulles über
diesen aus seiner Sicht ärgerlichen Fall zu sprechen. Er ließ sich auch von
Critchfield die Gründe darlegen, weshalb dessen Abteilung zugunsten einer
einheitlichen Regelung durch den Präsidenten des BND interveniert hatte.176
Heusinger kündigte an, demnächst sich mit Gehlen persönlich auseinander­
zusetzen. Doch hier kam er nicht weiter, denn der BND-Chef hatte starke
Argumente auf seiner Seite. Der Austausch von Erkenntnissen mit den Ame­
rikanern setzte wegen der besonderen Sicherheitsbestimmungen in den USA
eine formelle Regelung voraus. Botschafter Bruce in Bonn bat deshalb beim
Bundeskanzler um eine förmliche Bestätigung, dass die Zuständigkeit für alle
Fragen der Fernmeldeaufklärung in der Bundesrepublik beim Präsidenten des
BND liege. Erst nach dieser Erklärung sah sich der US-Nachrichtendienst in

173 Besprechung Weiß – Gehlen, 5.11.1959, ebd.


174 Schreiben Gehlens an die beteiligten Ministerien, 28.4.1959, BND-Archiv, 1163.
175 Schreiben des BND an die CIA vom Mai 1959, BND-Archiv, 4323.
176 Fernschreiben Gehlens an Ministerialdirigent Karl Gumbel, stellv. Staatssekretär im
Kanzleramt, 6.11.1959, BND-Archiv, 1163, nach einem Bericht seines Vertreters in
Washington.

968
der Lage, sein wertvolles Material über den Agentenfunkverkehr zu überge­
ben, dass für die Führung von Gegenspionage-Operationen genutzt werden
konnte.177
Anders hingegen lagen die Interessen bei den Vorbehaltsrechten der westli­
chen Siegermächte, insbesondere bei der Telefonüberwachung und der Brief­
zensur. Die Amerikaner zeigten sich stark daran interessiert, die Übertragung
an deutsche Stellen möglichst lange hinauszuzögern. Globke hingegen wollte
bald zu einer deutschen Lösung kommen.178 Das wäre auch Gehlen recht
gewesen, der allerdings auch die großzügige Hilfe der Amerikaner zu schätzen
wusste, wenn diese seine Anfragen in verdeckter Form beantworteten.
Die Ansprüche der Bundeswehr, zumindest die taktische Fernmeldeauf­
klärung stärker in die eigenen Hände zu nehmen, fanden bei Verteidigungs­
minister Strauß nur geringe Unterstützung. Der bullige Bayer, ein Gegentyp
zu Gehlen, hatte in seiner neuen Funktion seine alte Abneigung gegen den
undurchsichtigen BND-Chef zu bremsen verstanden. Glaubt man seinem
damaligen Presseoffizier, Oberst Gerd Schmückle, einem kritischen, relativ
unabhängigen Kopf, dann trieb Gehlen Strauß mit Warnungen vor Atten­
tatsabsichten und angeblichen Gefährdungen seiner Familie in immer neue
Verängstigungen hinein. Gehlen habe über eine besondere Begabung verfugt,
seine Berichte auf die jeweiligen Empfänger einzustimmen.179 Auch der Adju­
tant bestätigte, dass Strauß die Berichte zu ernst genommen habe. Schmückle
berichtet in seinen Memoiren:

Ich konnte nicht nachprüfen, ob diese Behauptung stimmte. Fraglos galt


Gehlen in Bonn als eine Art Wundermann, der mehr als andere von der
Gegenwart wußte, von der Zukunft ahnte. Ich selbst glaubte, er sei zu einem
Drittel Schauspieler, zu einem anderen Drittel Spionagefachmann, zu einem
Drittel Spielernatur. Als Schauspieler hatte ich ihn erlebt, als er Strauß in
München besuchte. Er ließ einen Lastwagen mit Anhänger in die Straße
einfahren, an der das Haus der Begegnung lag. Der Fahrer lachte vergnügt
aus seinem Führerhaus heraus. Plötzlich bremste er ab, als hätte er sich ver­
fahren. Er begann, sein Gefährt zu rangieren. Sein Gesicht rötete sich ange­
strengt hinter dem Steuer. Die Menschen liefen zusammen, starrten auf den
Lastzug, berieten den Fahrer. In diesem Augenblick bog ein Volkswagen in die

177 Vortragsnotiz für Globke betr. Fernmeldeaufklärung [1959], ebd.


178 Vortrag Gehlens bei Globke, 30.9.1959, ebd.
179 Siehe zum Beispiel eine Zusammenstellung von BND-Erkenntnissen über die Propa­
ganda gegen Strauß, für die sich dieser anerkennend bedankte. Gehlen war so stolz
über dieses Produkt, dass er mehrere Exemplare, unter anderen an den Chef des Bun­
deskanzleramts, verteilte; Eintrag vom 10.3.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, S. 112.

969
Franz Josef Strauß, 1956-1962 Bundes­
verteidigungsminister, 1959

Straße ein und hielt, unbemerkt von jedermann. Ein Mann stieg aus: Grau in
grau gekleidet, Mantelkragen hochgeschlagen, Sonnenbrille vor den Augen,
huschte er in das Haus, in dem Strauß wartete – Gehlen.
Ich verstand die Szenenführung. Zuerst wurde ein Publikum geschaffen.
Dann bewies man den Eingeweihten, wie man die Leute an der Nase herum­
führen kann. Die wenigen, auf die es ankommt, sollten die Faszination des
Geheimnisvollen spüren. Strauß, der das Schauspiel vom Fenster aus beob­
achtete, lachte und meinte: »Kasperletheater«.180

Ende der 1950er-Jahre, also vor der Spiegel-Affäre, die zu einem endgültigen
Bruch zwischen Strauß und Gehlen führte, schätzte der Bayer den General in
Pullach immerhin als vermeintlich exzellenten Ostfachmann. So ließ er sich
auf dem Höhepunkt der Berlinkrise von Gehlen eine »Aufzeichnung über
persönliche Eigenschaften Chruschtschows« anfertigen, die der BND-Chef in
erweiterter Form auch dem Kanzler vorlegte.181
Im Kanzleramt verfügte Gehlen deshalb zu diesem Zeitpunkt noch über
einen starken Rückhalt, nicht nur bei Globke, sondern auch bei Reinhold Mer­
cker, als Unterabteilungsleiter unter anderem zuständig für die Angelegen­
heiten des Verteidigungsministeriums, der von Gehlen sehr beeindruckt war.
Während einer Reise in die USA Anfang Mai 1959 äußerte sich, wie man Gehlen
berichtete, Mercker sehr positiv über den BND, was durch einen Besuch bei

180 Gerd Schmückle: Ohne Pauken und Trompeten. Erinnerungen an Krieg und Frieden,
Stuttgart 1982, S. 261.
181 Vermerk Gehlens für Globke, 4.9.1959, mit Übersendung der Aufzeichnung, die in dieser
Akte allerdings nicht enthalten ist, BND-Archiv, 1163.

970
der CIA noch stark unterstrichen wurde.182 Und Mercker entwickelte Ideen, wie
man Gehlen noch stärker fördern könnte. Er wollte sich direkt an Adenauer
wenden, der im Augenblick noch immer daran dachte, im Herbst eventuell die
Nachfolge von Theodor Heuss als Bundespräsident anzutreten. Er könnte ihn
darauf hinweisen, dass er später als Bundespräsident über den BND und Gehlen
»persönlich eine besonders gute Möglichkeit der Einflussnahme auf die Gestal­
tung der Politik« hätte, wenn er bereits jetzt als Kanzler etwas für den BND und
seine Stellung täte. Gehlen könnte Mitglied im Verteidigungsrat werden und
dann als Berater an Kabinettssitzungen teilnehmen, sowie entsprechende The­
men anstünden, ähnlich wie man mit dem Bundesbankpräsidenten verfahre.
Es war bekannt, dass Adenauer die Vorstellung nicht begeisterte, dass Wirt­
schaftsminister Ludwig Erhard sein Nachfolger als Kanzler werden könnte. So
brachte jetzt Mercker die Nachricht mit, dass ihm Critchfield gesagt habe,
Minister Erhard habe bei seinem letzten USA-Besuch erklärt, er sei nicht über
den BND informiert. Das habe in Washington einen schlechten Eindruck
gemacht und man sei besorgt über die künftige Entwicklung des BND, sollte
Erhard Kanzler werden. Dieser sei nicht »intelligence minded«. So hatte Geh­
len also einen Grund mehr, darauf zu hoffen, dass Adenauer trotz seines bibli­
schen Alters so lange wie möglich an seiner Kanzlerschaft festhielt. Ihm selbst
blieben bis zu seiner regulären Pensionierung noch sieben Jahre. Wer auch
immer Nachfolger Adenauers in den nächsten Jahren werden würde, Gehlen
musste in Rechnung stellen, dass sein besonderes Verhältnis zum Kanzler
einen solchen Wechsel kaum überleben würde. Und er wäre kaum in der Lage,
diesen unausweichlichen Wechsel rechtzeitig zu beeinflussen.
So war er gut beraten, auf eine sichere eigene Verbindung zu den USA zu
achten. In Pullach wechselte routinemäßig die Position des CIA-Verbindungs­
offiziers von Tom Lucid auf Donald G. Huefner. Lucid erhielt von Gehlen ein
exzellentes Zeugnis und meinte später im Rückblick: »Critchfield hatte die
stürmische Zeit der ersten Liebe, ich hatte die glückliche Ehe, Don Huefner
die Scheidung.«183
Als seinen ersten Verbindungsreferenten zur CIA in Washington hatte Geh­
len den verdienstvollen Mellenthin stationiert. Dieser war bis 1955 als Stellver­
treter für einige Pleiten verantwortlich und galt – ebenso wie seine Ehefrau – als
medikamentensüchtig. Eine Tochter befand sich in einer geschlossenen psy­
chiatrischen Anstalt. Weil sich Mellenthin beim Dienstarzt des BND Rezepte
für harte Suchtmittel beschafft hatte, musste er aus Washington abgezogen

182 Aktennotiz zur Unterrichtung Gehlens über die USA-Reise Merckers vom 1. bis
12.5.1959, ebd.
183 Zit. nach: Reese, Organisation Gehlen, S. 288. Brief von Gehlen an Dulles vom 7.8.1959,
zit. nach: Schmidt-Eenboom/Stoll, Partisanen, S. 149.

971
werden. Gehlen, der zu Medikamenten selbst eine enge Beziehung hatte, ließ
den Weggefährten nicht fallen und beschäftigte ihn bis zu dessen Pensionie­
rung 1963 auf einem eigens geschaffenen Dienstposten mit einem Forschungs­
auftrag über die Auslandsdienststellen.184
Nachfolger auf dem wichtigen Posten in Washington wurde Conrad Kühlein,
jetzt mit dem Status eines Brigadegenerals, offiziell der Deutschen Botschaft
zugeteilt und angeblich mit der Fortführung von kriegsgeschichtlichen For­
schungsaufgaben betraut.185 Kühlein galt als durchsetzungsstärker im Vergleich
zu Mellenthin, der doch 1953 von der CIA als möglicher Ersatz für Gehlen gehan­
delt worden war. Der Wechsel erhielt seine Bedeutung auch durch den Tod des
schwerkranken US-Außenministers John Foster Dulles zu Beginn der Genfer
Konferenz. Dessen Nachfolger Christian A. Herter neigte nach deutscher Ein­
schätzung sehr stark zu Kompromissen gegenüber dem sowjetischen Gegner.
In dem monatelangen unentschiedenen diplomatischen Ringen der ehe­
maligen Alliierten spielte die Beeinflussung der öffentlichen Meinung eine
wichtige Rolle, wie die Europareise des US-Präsidenten im August sowie der
spektakuläre zweiwöchige USA-Besuch Chruschtschows im September 1959
zeigten. Gehlens Aufmerksamkeit wandte sich unter diesen Umständen wie­
der verstärkt den eigenen Presseverbindungen sowie anderen Möglichkeiten
zu, Einfluss auf die Öffentlichkeit zu nehmen. In seinem Verständnis leistete
er damit einen Beitrag, der kommunistischen Öffentlichkeitsarbeit zu begeg­
nen. Dass er so auch das Image des BND verbessern und nicht zuletzt auch
sein eigenes Erscheinungsbild strahlen lassen konnte, mag ihn ebenfalls dazu
motiviert haben, regelmäßig seinen Vertrauten Weiß zum Vortrag zu empfan­
gen und in dessen Konspirationen einzugreifen. Bei aller Bescheidenheit und
öffentlichen Zurückhaltung, die man ihm nachsagte, empfand er jedoch auch
Stolz, wenn er eine Operation als gelungen betrachten konnte.
Die Verbindung zu Jochen Willke, unter dem Pseudonym »Voluntas« Kom­
mentator in der Abendzeitung und Chefredakteur der Münchner Illustrierten,
war von Weiß auf ausdrücklichen Wunsch Gehlens geschaffen worden. Zu
Willke, der als Sozialdemokrat grundverschiedene politische Ansichten hatte,
entwickelte Gehlen nach mehreren persönlichen Gesprächen eine »eigenartige
persönliche Zuneigung«, wie Weiß notierte. Das Ergebnis war ein ungewöhn­
lich positives zweiteiliges Interview, das Willke über den BND-Chef publizier­
te.186 Wenn Willke in seinen Kommentaren zur Außen- und Sicherheitspolitik
teilweise andere Auffassungen vertrat, machte Gehlen dafür lediglich falsche

184 Angaben nach Vorwort zum Nachlass N 8 im BND-Archiv.


185 Schreiben Gehlens an Fü B II, Brigadegeneral Wessel, 16.6.1959, BND-Archiv, 4323.
186 ... und morgen bist du dran. Der Dschungel-Krieg findet in Deutschland statt, Abend­
post vom 15. und 23.5.1959; Notiz vom 3./4.6.1959, BND-Archiv, N 10/5, S. 40.

972
Informationen verantwortlich und Weiß gab entsprechende freundliche Hin­
weise weiter. Es sei, so bemerkte dieser später, aber nicht gelungen, Willke
umzudrehen.187 Der Journalist sei zeitlebens ein Bewunderer des »Doktors«
geblieben, auch nach Gehlens unrühmlichem Abgang. Zu Beginn dieser Bezie­
hung brachte die Artikelserie von Willke dem BND-Chef einigen Ärger ein,
denn im Bundestag kursierte das Gerücht, die Artikel seien vom BND veran­
lasst worden, was sehr unangenehm aufstoße, wie Globke beklagte, der im
Bundestag eine persönliche Erklärung abgab, dass der BND damit nichts zu
tun habe. Das habe ihm aber keiner geglaubt.188
Gehlen nutzte mit Erfolg auch eine seit 1954 bestehende Verbindung, um
einer Propagandakampagne Ulbrichts das Wasser abzugraben. Der SED-Chef
hatte – enttäuscht vom Verlauf der Genfer Konferenz, der Moskau veran­
lasste, vom Gedanken eines separaten Friedensvertrages mit der DDR wieder
Abstand zu nehmen – den zehnten Jahrestag der Staatsgründung der DDR am
7. Oktober 1959 zum Anlass nehmen wollen, um deren internationale Aner­
kennung auszubauen. Er wollte bekannte Politiker insbesondere in Frankreich
und Großbritannien dafür gewinnen, als Ehrengäste an den Kundgebungen in
Ost-Berlin teilzunehmen. Einer seiner wichtigsten Emissäre für die Kontakte
war Dr. Gotthard Eberlein.
Über dessen in West-Berlin lebenden Sohn Siegfried bestand eine Ver­
bindung zu dem sozialistischen Theologen, der in Ost-Berlin das »Büro der
Internationalen Verbindungen zur friedlichen Lösung der Deutschlandfrage«
leitete. Eberlein war im Sommer unter dem Erwartungsdruck depressiv gewor­
den. In Pullach erkannte man die Chance, ihn direkt anzusprechen und für
eine Übersiedlung in den Westen zu gewinnen. Nach Klärung der finanziel­
len und sachlichen Bedingungen (zum Beispiel Pensionsrechte) war man dem
viermal verheirateten Theologen behilflich, im Anschluss an eine Reise nach
Paris Mitte September 1959 unterzutauchen. Gehlen hoffte mit der Operation
»Nimrod«, der Westarbeit der SED einen Schlag zu versetzen und über Eber­
leins Einfluss auf Linkskreise in Frankreich und Großbritannien die Propagan­
dashow Ulbrichts zu hintertreiben. In seinen Memoiren feierte er es später
als Erfolg, dass kein prominenter Westbesuch bei den Staatsfeierlichkeiten der
DDR zu verzeichnen gewesen sei.189

187 Kommentar von Weiß zu dem Tagebuch-Eintrag vom 5.11.1959 über eine Besprechung
mit Gehlen, BND-Archiv, N 10/8.
188 Telefonische Mitteilung Globkes an Gehlen, 3.12.1959, BND-Archiv, 1163.
189 Gehlen, Der Dienst, S. 217; zu den Vorgängen siehe demnächst Heidenreich, Spionage.
Eberlein war als Herausgeber eines Volksliederbuchs für die deutsche Jugend in den
1920er-Jahren bekannt geworden, siehe auch sein Bekenntnis: Wir Ausgestoßenen. Der
Abschied zweier sozialistischer Pfarrer von der Kirche, o. O. 1922.

973
Eberlein hatte zwar Einblicke in das DDR-Außenministerium gehabt, aber
Gehlen fehlte noch immer ein Ersatz für »Gänseblümchen«, die ehemalige
Chefsekretärin bei DDR-Ministerpräsident Grotewohl. Anders als Anfang der
1950er-Jahre war eine solche Spitzenquelle in der DDR, als sich die SED-Herr­
schaft zunehmend stabilisierte, nicht mehr so leicht zu finden. Das deutete
Gehlen an, als der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Eugen Gersten­
maier, bei ihm anfragte, mit welchen Maßnahmen bei der geplanten Bundes­
versammlung zur Wahl des Bundespräsidenten in Berlin zu rechnen sei. Die
von Gehlen veranlasste Aufklärung hatte keine detaillierten Angaben über
mögliche Gegenmaßnahmen der östlichen Seite erbracht. So blieb nicht viel
mehr als eine allgemeine politische Analyse der unentschiedenen Genfer Ver­
handlungen, die bei einer denkbaren Verschärfung der Gegensätze natürlich
den Osten zu politischen Erpressungsmanövern veranlassen würden.
Es sei dem BND bisher nicht gelungen, so schrieb Gehlen, die konkrete Pla­
nung dafür aufzudecken, weil der damit befasste Personenkreis an der Spitze
der »SBZ« äußerst begrenzt sei.190 Er rief Gerstenmaier zugleich in Erinnerung,
dass der BND im Vorjahr kritisiert worden war, weil er die »ostzonale Wäh­
rungsreform« nicht rechtzeitig aufgeklärt habe. Damals habe man einige nicht
sehr detaillierte Meldungen vorgelegt, aber nicht mit genügendem Nachdruck
auf die bevorstehende Maßnahme aufmerksam gemacht, um zunächst eine
weitere Klärung des genauen Zeitpunkts zu versuchen. Die Währungsreform
sei dann schlagartig unter schärfster Abschirmung durchgeführt worden. Geh­
len wies deshalb im Hinblick auf die Gefahren für die Bundesversammlung
nachdrücklich auf seine Einschätzung hin, dass mit Gegenmaßnahmen unbe­
dingt zu rechnen sei. Man sei selbstverständlich bestrebt, rechtzeitig weitere
Informationen über bevorstehende Aktivitäten zu beschaffen. Hier sicherte
sich Gehlen also vorsorglich ab, obwohl er keine Aussichten hatte, solche
Informationen aus der politischen Spitze der DDR-Führung zu beschaffen. Die
Bundesversammlung fand am 1. Juli 1959 in Berlin statt. Größere Gegenmaß­
nahmen Ost-Berlins blieben aus.
Dafür sorgte im Juli 1959 die Spiegel-Berichterstattung über DDR-Verteidi­
gungsminister Willi Stoph, dem das Hamburger Magazin immerhin einen eige­
nen Titel gewidmet hatte, für Aufmerksamkeit in Pullach. Der Artikel enthielt
den Bericht eines desertierten NVA-Offiziers aus dem Ministerium für Natio­
nale Verteidigung mit erstaunlichen Details, deren Herkunft Gehlen unbedingt
erfahren wollte.191 In dieser Zeit entledigte sich die NVA der letzten ehemali­

190 Schreiben Gehlens an Gerstenmaier vom 2.6.1959; abgedr. in: Mitteilungen der For­
schungs- und Arbeitsgruppe »Geschichte des BND«, Nr. 1, August 2011, S. 9-10.
191 Eintrag vom 15.7.1959, BND-Archiv, N 10/8. Titelbild und Artikel: Genosse General –
Kontrolle, Spiegel 29/1959 vom 15.7., S. 28.

974
gen Wehrmachtsoffiziere in ihren Reihen, die bislang als Spezialisten geduldet
worden waren. Wenn auch die Möglichkeiten der Einflussnahme auf das pro­
minente Politmagazin prekär blieben, andere Journalisten drängten danach,
Kontakte zum BND zu knüpfen und Gehlen auch einmal persönlich sprechen
zu können, etwa der Chefredakteur von Christ und Welt Dr. Giselher Wirsing.192
In manchen Fällen schien Zurückhaltung geboten zu sein. Als Anfang 1960 das
Verteidigungsministerium mitteilte, der Münchener Verleger Josef von Feren­
czy lasse Material zu einem Film über Gehlen zusammentragen, schien das
ein positiver Coup werden zu können. Bei einer internen Besprechung wurde
allerdings dagegengehalten, dass Ferenczy sich zwar in der Münchener Schi­
ckeria bewegte und über hochrangige politische Verbindungen, unter anderen
zu Franz Josef Strauß, verfügte, aber undurchsichtig sei und Ostverbindungen
bestünden. So entschied Gehlen, das Vorhaben nicht zu unterstützen.193 Der
Film wurde nicht gedreht.
Mindestens ebenso aufregend wie die Informationen über die speziellen
Verbindungen von Weiß war Gehlens eigene Mitteilung an den Vertrauten,
dass in wenigen Tagen König Saud eine Kur in Bad Nauheim antreten werde
und bei einem Besuch in München den »berühmten General Gehlen« ken­
nenzulernen wünsche. Die Begegnung mit dem saudi-arabischen Herrscher
fand im Hotel Bayerischer Hof statt. Der König empfing Weiß und Gehlen in
einem großen Raum des von ihm belegten Stockwerks. Von seinem überhöh­
ten Stuhl aus begrüßte er Gehlen mit einer Ansprache, die von einem Dol­
metscher ins Englische übertragen wurde. Dabei hob er den Wunsch nach
einer zukünftigen Zusammenarbeit der Nachrichtendienste beider Seiten
»im Geiste der traditionellen deutsch-arabischen Freundschaft« hervor. In
emotionaler und fast dramatischer Form brachte der König eine Warnung
vor Israel vor.

Wir sollten wissen, so äußerte König Saud sinngemäß, daß Israel >der Tod­
feind der Araber< sei und bleiben werde. Er selbst werde wie auch andere
arabische Führer nicht aufhören, Israel zu bekämpfen, >bis der Judenstaat
vernichtet sei<.

Es kam zu keinem Gespräch, da Gehlen von den Äußerungen des Königs offen­
bar stark betroffen war. König Saud überreichte Gehlen ein langes, mit Edel­
steinen reich verziertes Schwert, das er bis zu seinem Tode als Privatbesitz
betrachtete. Für die Zusage zur Zusammenarbeit mit dem saudischen Nach­

192 Eintrag vom 20.2.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, S. 75.


193 Eintrag vom 26.2.1960, ebd. S. 88.

975
richtendienst holte sich Gehlen nachträglich die Genehmigung vom Chef des
Bundeskanzleramts ein.194
Gehlen war sich der Brisanz dieser Verbindung zweifellos bewusst. Er wurde
jedenfalls wenig später daran erinnert, als sich der israelische Oberstleutnant
Dr. Israel Beer zu einem Besuch ankündigte. Dieser hatte bereits 1957 im Bon­
ner Verteidigungsministerium vorgesprochen und befand sich im Sommer
1959 auf Vortragsreisen. Als Leiter der strategischen Abteilung im israelischen
Verteidigungsministerium lag ihm besonders daran, auch beim BND vortra­
gen zu können. Beer war immerhin persönlicher Berater von Ministerpräsi­
dent Ben-Gurion in militärpolitischen Fragen, dessen Sonderbeauftragter für
die Kontakte zu westeuropäischen Regierungen, insbesondere zu den sozia­
listischen Parteien, und galt als israelische Kontaktperson zur NATO in Paris.
Die Universität Tel Aviv hatte ihm den Lehrstuhl für Militärwissenschaften
übertragen.195 Pullach schien zu zögern, sodass der Exponent des israelischen
Nachrichtendienstes in Paris erneut einen Vortrag Beers vor leitenden Mitar­
beitern des BND anbot. Falls er positive Resonanz finde, solle der BND weitere
Vorträge Beers zum Beispiel an deutschen Universitäten vermitteln.196 Beer
konnte sich dann mit einen Vortrag in Pullach bekannt machen und berichtete
regelmäßig Ministerpräsident Ben-Gurion über seine Gespräche mit Gehlen,
sodass Ben-Gurion den deutschen General auch einmal persönlich zu treffen
wünschte.197 Daraus wurde nichts, denn Beer wurde bald darauf als Agent des
sowjetischen Nachrichtendienstes in Israel verhaftet.198
Kurz zuvor war mit dem Besuch von Isser Harel, dem Chef des israelischen
Auslandsgeheimdienstes Mossad, in Pullach die geheimdienstliche Koope­
ration zwischen der Bundesrepublik und Israel offiziell eröffnet worden.199
Gehlen schätzte vor allem das Netz israelischer Agenten in Osteuropa. Der
Mossad-Chef hatte zunächst gezögert, weil er sich wegen der sowjetischen

194 Siehe Besprechung Weiß-Gehlen, 31.8.1959, BND-Archiv, N 10/8. Nach Auskunft der
Familie ist der Verbleib des kostbaren Geschenks angeblich unbekannt.
195 Eintrag 3./4.8.1959 u. 21.1.1960, über interne Besprechungen u.a. mit Einzelheiten zu
dem Besuch von Beer, BND-Archiv, N 10/8 u. N 10/7,1, S. 27.
196 Interne Besprechung am 31.5.1960, Tagebuch Weiß, BND-Archiv, N 10/7,1, S. 244.
197 Tagebucheintrag Ben-Gurions, 14.5.1960, zit. nach: Yeshayahu A. Jelinek: Deutschland
und Israel 1945-1965. Ein neurotisches Verhältnis, München 2004, S. 416.
198 Meldung des BND vom 10.4.1961, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 37. Die Verhaftung führte zu
einer länger andauernden Verstimmung zwischen beiden Diensten, weil der israelische
Vertreter in Paris dem BND vorwarf, den Vortrag in Pullach veranlasst zu haben. Zum
Fall Beer siehe »Piefkes Abenteuer«, Spiegel 18/1961 vom 26.4., S. 76-77.
199 Siehe zum Folgenden Shlomo Shpiro, Für die Sicherheit Israels kooperieren wir sogar
mit dem Teufel, Berliner Zeitung vom 8.1.2000. In dem Interview mit Elke Fröhlich am
15.12.1971 leugnete Gehlen, Isser Harel zu kennen; IfZ, ED 100-69-239.

976
Infiltration des BND und der engen Beziehungen der deutschen Kollegen zu
arabischen Staaten sorgte. In einer Art von Testlauf bemühten sich BND-Agen­
ten, bestimmte Informationen zu sammeln und sie dem Mossad zu übergeben,
der sie mit eigenen Erkenntnissen verglich. Das Ergebnis war zufriedenstel­
lend. Als Harel die BND-Anlage in Pullach zum ersten Mal sah, erinnerte sie
ihn an eine Art Konzentrationslager. Zwischen ihm und Gehlen habe Distanz
geherrscht. Doch Unterschiede und Antipathien hätten einer Kooperation
nicht im Wege gestanden. Es verbanden sie zudem ein strenger Antikommu­
nismus und der Wille, gemeinsam gegen die sowjetische Einflussnahme in
Europa und im Nahen Osten zu kämpfen. Dabei gab es auf israelischer Seite
starke Vorbehalte gegen die Zusammenarbeit mit ehemaligen Offizieren des
Naziregimes. Harel schob die Bedenken beiseite. Seinen Leuten machte er klar,
dass er sogar mit dem Teufel kooperieren würde, wenn das der Sicherheit des
israelischen Staates dienen würde. Der Mossad zeigte sich in dieser Hinsicht
nicht zimperlich. Er spannte den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Otto
Skorzeny für sich ein, der als Waffenhändler in Madrid für BND und Mossad
arbeitete, diesem zugleich Informationen aus dem dortigen Nazimilieu zukom­
men ließ. Mossad-Offiziere waren willkommene Gäste in der »Doktor-Villa«.
Gehlen nahm selbst am Pistolenschießen mit Mossad-Agenten auf der BND-
Schießbahn teil, aber sein größter Wunsch, selbst im Mossad-Hauptquartier
empfangen zu werden, erfüllte sich nicht.
Die vielfältigen Aktivitäten des BND im Nahen Osten stützten sich nicht
nur auf das Naziexil in Damaskus, die Kontakte zu Israel und Saudi-Arabien,
sondern auch auf einen »Friedensengel«, den Gehlen ganz persönlich betreute.
Eine Mata Hari war Barbara Rotraut Pleyer sicherlich nicht. Aber eine gewisse
Ausstrahlung wird sie wohl auf die großen Männer in der Politik gehabt haben.
Gehlen wollte daran einerseits Anteil haben, andererseits davon auch nach­
richtendienstlich profitieren. Nur Weiß hatte er eingeweiht, dass Barbara mit
seinem Wissen und seiner finanziellen Unterstützung zahlreiche bedeutende
Staatsmänner wie Tito, Nasser, Nehru und Sukarno aufgesucht hatte, um die
Repräsentanten der sogenannten Blockfreien für eine gemeinsame Friedens­
initiative zur Überwindung des Kalten Krieges zu gewinnen.
Die ehemalige Jurastudentin und Skandalnudel200 hatte während der Eröff­
nungsfeier der Olympischen Spiele in Helsinki 1952 in einem Engelsgewand
das Rednerpult besetzt, um einen Friedensappell zu verlesen. Nach den Wor­
ten »Ladies and Gentlemen« hatte man sie entfernt. Dienstlich erwartete Geh­
len von ihr Ende August 1959 gute Erkenntnisse bei den Gesprächen mit den
großen Männern, die, so räumte er gegenüber Weiß ein, aber nur als Hinter­

200 Siehe Titelbild und Notiz im Spiegel 4/1954 vom 20.1.

977
Die deutsche Studentin Barbara Rotraut Pleyer, der »Friedensengel«, wird während
der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1952 in Helsinki abgeführt.

grundwissen relevant seien. Er behielt sich die Beurteilung ihres Wertes also
persönlich vor und ordnete an, dass die Kontakte zurückhaltend zu pflegen
seien. Weiß sollte die Dame nochmals dringend ermahnen, dass die persön­
liche Verbindung zu seinem Chef keinesfalls bekannt werden dürfe. Eine wei­
tere finanzielle Unterstützung sei in geringem Umfang möglich, wenn es die
zu erwartenden Ergebnisse rechtfertigen würden.201 Nach einem Besuch in
Ägypten brachte der »Friedensengel« die Botschaft mit, dass Staatspräsident
Nasser angeblich an der Ausbildung ägyptischer Offiziere in der Bundesrepu­
blik interessiert sei. Leider behinderten ihre durch die Reise aufgelaufenen
Schulden im Umfang von 7000 D-Mark ihre weitere Tätigkeit. Der Bitte um
Unterstützung wollte sich Gehlen nicht entziehen, allerdings erst nach einem
weiteren persönlichen Gespräch.202 Das Interesse an der temperamentvollen
Schauspielerin teilte sich der Präsident unter anderen mit dem Schriftsteller
Erich Kastner, der sie ebenfalls jahrelang in ihrer Schwabinger Boheme finan­
ziell unterstützte.
Die Aktivitäten in Ägypten wurden auch ohne Mitwirkung des »Friedens­
engels« intensiviert. Der Bitte des israelischen Geheimdienstes folgend, leis­

201 Notiz vom 31.8.1959 über die Besprechung von Weiß mit Gehlen über die Gesamtent­
wicklung »Friedensengel«, BND-Archiv, N 10/8.
202 Vortrag Weiß bei Gehlen, 22.9.1959, ebd.

978
tete der BND Unterstützung beim Einschleusen des Agenten Wolfgang Lotz
(DN »Löns«). Unter deutscher Abdeckung betrieb dieser in Kairo einen Reit­
stall für Prominente. Seiner äußeren Erscheinung nach wirkte Lotz wie ein
Supernazi (groß, blond) und verfügte über zahlreiche Verbindungen zu ägypti­
schen Offizieren. Der Verbindungsmann des BND in Ägypten, Gerhard Bauch,
hielt engen Kontakt zum Chef des ägyptischen Geheimdienstes, Nasir, sowie
zu Ali Sabri, einem engen Vertrauten von Nasser. Dadurch gelang es nach der
Einschätzung von Pullach, Nasser auf antikommunistischem Kurs zu halten,
auch wenn die israelische Propaganda anderes behauptete. Die Verbindun­
gen blieben voneinander getrennt, um Gewissenskonflikte von Bauch zu ver­
meiden. Lotz wurde später der Agententätigkeit überführt. Nur die Annahme
der Ägypter, er sei ein deutscher Agent, rettete ihn vor dem Tod durch den
Strang. Schließlich wurde er von Israel gegen mehrere Tausend ägyptische
Kriegsgefangene ausgetauscht. Bauch geriet ebenfalls in Verdacht und in Haft.
Nach mehreren Besuchen seines langjährigen Protektors Worgitzky konnte er
befreit werden. Während des zeitweiligen Abbruchs der Beziehungen Ägyptens
zur Bundesrepublik (1965 -1973) wurden Nasir und seine Vertrauten inhaftiert,
gefoltert und schwer bestraft – im Ergebnis also keine besonders erfolgreiche
Operation.203
Gehlen ging über solche Niederlagen rasch zur Tagesordnung über und
tröstete sich anscheinend gern mit großzügigen persönlichen Gesten, die ihm
vermutlich ein gutes Gefühl vermittelten. Als sein Verwandter Dingler sich
als Pensionär in Südafrika niederlassen wollte, bot er an, gegen 1000 D-Mark
monatlich extra als Informant weiter tätig zu sein. Gehlen stimmte zu und
bewilligte ihm sogar ein Honorar von monatlich 2200 D-Mark und verschaffte
ihm in Abstimmung mit dem Krupp-Generalbevollmächtigten Berthold Beitz
eine Legende als Repräsentant des Konzerns in Johannesburg.204 Wenn es um
junge Frauen ging, konnte Gehlen besonders sentimental sein. Als er von der
Not der Tochter eines hohen Naziführers hörte, den er wohl selbst als einen
der größten Verbrecher einschätzte, bewegte ihn das persönliche Schicksal der
jungen Dame so sehr, dass er sich entschloss, ihr zu helfen und ihr eine Hilfstä­
tigkeit bei einer neuen Tarnfirma des BND in Frankfurt am Main anzubieten.205
Persönlich befriedigend verliefen meist auch seine Auslandsreisen, obwohl
er in seiner Flugangst solche Verpflichtungen möglichst mied. Die regelmäßi­

203 Zum Fall Lotz siehe Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 295-296; Kurzaufzeichnung zum
»Fall Mercedes« vom 3.10.1984, BND-Archiv, N 10/4,1, sowie zum Hintergrund dem­
nächst die UHK-Fallstudie von Tilman Lüdke, Naher Osten, in: Krieger (Hg.), Globale
Aufklärung.
204 Eintrag vom 7.9.1959, BND-Archiv, N 10/5, S. 59.
205 Eintrag vom 6.11.1959, ebd., S. 45.

979
gen Treffen mit General Grossin, seinem Kollegen in Paris, absolvierte er mit
der Bahn. Zu Grossin, der zweimal jährlich nach München kam, entwickelte
Gehlen ein enges persönliches Verhältnis.206 Die Zusammenkunft Mitte Okto­
ber 1959 dürfte wie meist in entspannter Atmosphäre verlaufen sein.207 Kurz
zuvor hatte er nach einem wichtigen Besuch in Bern, wo es um die Einrichtung
einer Residentur des BND ging, den Zug genommen, um nach Rom zu fah­
ren. Hier traf er seine Begleiter für einen geplanten Besuch in Griechenland.
Sie waren mit dem Flugzeug von Neubiberg nach Rom gekommen. Bei dem
gemeinsamen Weiterflug hatte Gehlen das Angebot wahrgenommen, auf dem
Sitz des Kopiloten eine Stunde lang das Flugzeug zu steuern, was ihm wider
Erwarten großes Vergnügen bereitete. In Athen wurde die BND-Delegation,
nebst ihrem CIA-Begleitoffizier, von Mitarbeitern des griechischen Geheim­
dienstes in Empfang genommen. In ihrer Gesellschaft befand sich »Giovanni«,
Gehlens Bruder und BND-Vertreter beim Vatikan. Nach einem Briefing über
die griechische Armee erlebte Gehlen eine ausführliche Besichtigungstour.
Während des Rückflugs nach Rom bat er Lieutenant Colonel Jack W. Clark,
die Arrangements für geplante Flüge nach Ankara und Teheran zu treffen, um
dort die bilateralen nachrichtendienstlichen Verbindungen zu vertiefen. In
Rom benutzte Gehlen die Wohnung seines Bruders und traf sich bei diesem
Kurzaufenthalt mit dem italienischen Geheimdienstchef. Anschließend fuhr er
wieder mit der Bahn nach München zurück. Die übrige BND-Delegation nahm
erneut das Flugzeug nach Neubiberg. Während des Fluges erfuhr der Ameri­
kaner, dass fast hundert Prozent der Anforderungen der Bonner Regierung an
den BND politische oder wirtschaftliche Fragen betrafen208 – eine Erkenntnis,
die für die CIA nicht überraschend gewesen sein dürfte, aber deutlich machte,
dass der BND längst nicht mehr der deutsche Militärgeheimdienst im Auftrag
der CIA war.
Als nach einer Dinnerparty in seinem Haus vier Wochen später die meis­
ten Gäste gegangen waren, fand sich Clark in einem längeren persönlichen
Gespräch mit Eberhard Blum, einem alten Bekannten. Blum hatte offenbar das
Bedürfnis, mit dem Amerikaner über das Führungspersonal des BND zu spre­
chen und auf den Punkt zu kommen, wer als Nachfolger Gehlens in Betracht
kommen könnte, falls dieser eines Tages durch Tod oder Pensionierung ausfal­
len sollte.209 Als derzeitiger Erster Vizepräsident sei Worgitzky (DN »Wagner«)
der ideale Mann in dieser Position. Er treffe keine eigenen Entscheidungen

206 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 31.1.1972, Iß, ED 100-68-12.


207 Eintrag vom 20.10.1959, BND-Archiv, 4323.
208 Bericht von Lt. Col. Clark über die Reise vom 4.-8.10.1959, NA Washington, RG 319,
Entry 134A, Reinhard_Gehlen, vol 3_10F2, S. 117-118.
209 Aufzeichnung Clarks vom 12.11.1959, ebd., S. 119.

980
und führe die Anweisungen des »Doktors« exakt aus. Seine Persönlichkeit sei
erfreulich und in keiner Weise überschattet durch die Nähe zu Gehlen. Ähnli­
ches könne man von Worgitzkys Vorgängern nicht sagen. Nach der Meinung
Blums, der selbst mehr als zwei Jahrzehnte später Präsident des BND wurde,
sei Gerhard Wessel zwar eine herausragende Persönlichkeit, habe aber eine
durchaus begrenzte Reichweite. Er habe ein enges Interessenfeld. Das war
womöglich eine Anspielung auf seine damalige Verwendung in der Bundes­
wehr. Mellenthins Problem als Gehlens Stellvertreter sei es dagegen gewesen,
dass er zu viele Entscheidungen getroffen habe, ohne vorher Gehlen zu fragen.
Das habe dazu geführt, dass er in die USA versetzt worden sei.
Das Gespräch kam dann auf Kühlein, bisher Führungsbeauftragter Beschaf­
fung, der Mellenthin als Verbindungsreferent zur CIA in Washington ersetzt
hatte. Blum lobte ihn in höchsten Tönen als Persönlichkeit und Fachmann.
Kühlein sei wegen seines steigenden Ansehens innerhalb der Organisation
befördert worden. Dieses Ansehen käme vor allem daher, dass die ganze Orga­
nisation glaube, sich auf ihn verlassen zu können und dass er ihre Anliegen Geh­
len vortragen würde. Blum sprach so, als sei es allgemein bekannt, dass Gehlen
niemanden in seinem Stab dulden könne, der eines Tages genügend Ansehen
besitzen könnte, um seine eigene Position zu gefährden. Er glaube, dass nach
Gehlens Ansicht dafür Kühlein in Betracht kommen könnte. Dieser habe bis
zum Ende des Krieges eine Panzerdivision kommandiert, die an der alliierten
Front und in deren Hinterland Schrecken verbreitete. Zum Schluss ließ Blum
durchblicken, dass er sich bemühe, eine Geschichte der Org zu verfassen. Dazu
fand er vier Jahrzehnte später als pensionierter Präsident des BND Gelegenheit.
Es wurde allerdings nur ein persönlicher Rückblick in einem kleinen Aufsatz.210

3. Berlinkrise und Kampf gegen den Weltkommunismus


(1959-1961)

Die Berlinkrise 1959/60 führte zu einer verschärften ideologischen Auseinan­


dersetzung zwischen Ost und West sowie entsprechenden Propagandakampa­
gnen des Ostens. In dem Bemühen, hier aus der Defensive herauszukommen,
hatte Gehlen zum Beispiel auf den Einsatz des Überläufers Dr. Eberlein gesetzt.
Doch waren weitere Schritte notwendig, um in die Offensive gehen zu können.
Der Ausbau der psychologischen Kriegführung, über die Gehlen bereits mit
der CIA gesprochen hatte, war auch im Verteidigungsministerium als eigen­
ständige Aufgabe nicht nur für den Ernstfall ins Visier genommen worden.

210 Siehe abschließenden Essay.

981
Man bereitete die Einrichtung einer Schule für militärische psychologische
Kriegführung und entsprechender Spezialeinheiten vor. Im Frühjahr 1960
sollte bereits ein fahrbarer Sender zur Einwirkung auf die bewaffneten Kräfte
in der DDR zur Verfügung stehen. Der BND suchte hier eine enge Zusammen­
arbeit.211 Pullach erklärte sich bereit, den Versand von Flugblättern mit tech­
nischer Hilfe durch den exilrussischen NTS (Ballons) zu übernehmen. Damit
sollte eine Verschwörung in der NVA mit national-kommunistischer Zielset­
zung vorgetäuscht werden. Für die Aktion stellte der BND Informationen über
Kampfwert, Moral und Stimmung der bewaffneten Verbände in der DDR sowie
über geplante propagandistische Angriffe des Ostens gegen die Bundeswehr
zur Verfügung. Für den Radiosender des Verteidigungsministeriums bot Pul­
lach Beratung und die Belieferung mit Informationen an.
Das Ministerium in Bonn konnte in diesem Bereich freilich nur »kleckern,
nicht klotzen«, denn die beschleunigte Aufstellung der von der NATO geforder­
ten zwölf westdeutschen Divisionen band alle Kräfte. Im Bereich von Oberst
i. G. Wessel als Unterabteilungsleiter des Führungsbereichs II (Fü B II) wurde
eine Gruppe »Psychologische Kampfführung« unter Leitung von Oberstleut­
nant Dr. Karl-Christian Trentzsch gebildet, die innerhalb des Ministeriums
aber weitgehend auf sich gestellt war. Trentzsch zeigte sich deshalb von sich
aus daran interessiert, die Zusammenarbeit mit dem BND zu verstärken.212
Er bat um zusätzliches Material für die Desinformationskampagne gegen die
Spitze der NVA. Als der Propagandasender der Bundeswehr mit der Ausstrah­
lung gegen die »SBZ« beginnen wollte, meldete Gehlen wieder Bedenken an.213
Um die gegnerischen Propagandamaßnahmen abzufangen, war nahezu
jedes Mittel recht. So wollte man auch das Mitteilungsblatt für ehemalige
Angehörige der Abteilung Wehrmachtpropaganda im OKW nutzen, um über
die »Wildente« die weltweit zerstreuten alten Experten zu erreichen und für
die eigenen Zwecke einzuspannen. Allzu wählerisch glaubte man nicht sein
zu müssen. So kamen nicht nur die alten Kameraden ins Gespräch, sondern
auch SED-Dissidenten aus dem linken Lager. Der Sohn von Viktor Agartz,
dem sozialistischen Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschafter, der 1958
wegen seiner Kontakte mit Ost-Berlin aus der SPD und dem DGB ausgeschlos­
sen worden war, hatte seinen Austritt aus der SED erklärt und wollte in der
Bundesrepublik Fuß fassen. Dabei versprach Gehlen Hilfe und die Nutzung der
SPD-Verbindungen. Es sollte insbesondere die ertragreiche Zusammenarbeit
mit dem Ostbüro der SPD intensiviert werden.214

211 Besprechung Gehlens mit Gumbel und Globke, 20.11.1959, BND-Archiv, 1163.
212 Besprechung Weiß mit OTL Dr. Trentzsch, 18.1.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 20.
213 Aktennotiz über den Vortrag von Gehlen bei Globke, 15.3.1960, BND-Archiv, 1163.
214 Einträge vom 11. u. 25.2.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 66, 86.

982
Zugleich war er seit Herbst 1959 besorgt über die Veränderungen bei der
Deutschen Soldaten-Zeitung (DSZ).215 Das Verteidigungsministerium könne bei
der bisher konservativen DSZ einen grundsätzlichen Kurswechsel nicht hin­
nehmen. Mit der Übernahme durch den Verleger Dr. Gerhard Frey und nach
einer Kampagne gegen Heusinger war die kontrollierte, gemäßigte, auf alle
ehemaligen und aktiven Soldaten gerichtete, überparteiliche Linie durch den
wachsenden Einfluss rechtsradikaler Stimmen in Gefahr geraten.216 Rechts­
radikale und antisemitische Tendenzen hätten bereits zur Verunsicherung
bei den westdeutschen Soldatenverbänden geführt, die sich der DSZ bisher
als Mitteilungsorgan bedient hätten. Gehlen informierte Globke, der die Ver­
ständigung des BND mit dem Verteidigungsministerium billigte, die Kampa­
gne Freys schärfstens einzudämmen.217 Doch die Möglichkeiten Pullachs zum
Eingreifen waren beschränkt. Globke billigte den Vorschlag, die Anteile des
Verlegers Frey aufzukaufen,218 doch daraus wurde offenbar nichts, denn Frey
blieb in seiner Position.
Minister Strauß schien angeblich entschlossen, sich durch den Erwerb und
die Umgestaltung der DSZ die Einflussnahme zu sichern. Mit der Einschaltung
des Justiziars des Süddeutschen Verlags schien alles auf einem guten Weg zu
sein. Deshalb meldete Professor Wilhelm Classen bereits sein Interesse an, die
Chefredaktion zu übernehmen. Classen, ehemaliger Angehöriger des Amtes VI
im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Ostasienexperte des SD, nach 1945
durchgehend aktiv in rechtsradikalen Kreisen, dann Chefredakteur der Wehr­
kunde, war 1957 in den BND übernommen worden. Er leitete derzeit die Dienst­
stelle 585 (Außenstelle Afrika). Ihn zog es offensichtlich zurück in vertraute
Gefilde und er brachte als künftigen freien Mitarbeiter bei einer umgestalte­
ten DSZ einen guten Bekannten, den ehemaligen SS-Standartenführer Joachim
Ruoff, ins Gespräch. Gegen ihn lägen keine Vorwürfe wegen Kriegsverbrechen
vor und er genieße hohes Ansehen bei Generalmajor a. D. Foertsch.219
Vorsorgliche Abwehrmaßnahmen waren auch gegen die zunehmenden
persönlichen Angriffe der DDR-Propaganda gegen einzelne Bonner Politiker
und Militärs, nicht zuletzt auch gegen den BND erforderlich. In Ost-Berlin

215 Besprechung Weiß – Gehlen, 5.11.1959, BND-Archiv, N 10/8.


216 Besprechung Weiß – Gehlen, 31.8.1959, ebd.
217 Vortrag Gehlen bei Globke, 30.9.1959, BND-Archiv, 1163.
218 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 8.4.1960, ebd.
219 Besprechung Weiß-Glassen am 28.4.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 184. Classen
wurden später nach den Untersuchungen des NS-belasteten BND-Personals durch die
Organisationseinheit 85 vorzeitig pensioniert, dann aber bis ins hohe Alter per Werk­
vertrag im Außenbereich des BND weiterbeschäftigt. Kurzbiografie in Sabrina Nowack:
Sicherheitsrisiko NS-Belastung. Personalüberprüfungen im Bundesnachrichtendienst
in den 1960er-Jahren, Berlin 2016, S. 448.

983
erschien 1960 eine Zusammenfassung aller bisherigen Angriffe Julius Maders
gegen den Dienst, unter dem Titel Die graue Hand. Seine »Abrechnung mit
dem Bonner Geheimdienst« (Untertitel) hätte Gehlen eigentlich als Schmei­
chelei hinnehmen können, erschien er doch in der Propagandaschrift als
schier übermächtiger Drahtzieher im Hintergrund der Bonner Politik. Doch
die breite Darstellung der angeblichen Spionagetätigkeit des BND gegen den
Westen zielte offensichtlich darauf, Gehlens Ansehen bei Verbündeten und
Partnern zu untergraben. So rühmte dieser sich später in seinen Memoiren,
dass dieser Schlag des Gegners ins Leere gegangen sei, weil der größte Teil
der westdeutschen Presse »Verantwortungsgefühl« gezeigt habe.220 Auch sein
früher Förderer, Exgeneralstabschef Halder, meldete sich zu seiner Unterstüt­
zung mit einem Leserbrief zu Wort. Nur Intellekt, Urteilsvermögen, die Fähig­
keit zu harter Arbeit und entschlossene Energie, verbunden mit der höchsten
persönlichen Integrität, könnten eine derart ungewöhnliche Karriere, wie sie
Gehlen aufzuweisen habe, ermöglichen. Er verdiene die Bewunderung und die
Freundschaft aller, schrieb Halder.221
Anfang März 1960 informierte Gehlen Globke darüber, dass in der »SBZ«
Vorbereitungen für eine Hetzkampagne gegen Bundespräsident Heinrich
Lübke und Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier getroffen würden.222 Die
SED sammle derzeit Material aus den Unterlagen des ehemaligen deutschen
Kolonialarchivs Potsdam, um diese Politiker kolonialistischer Tendenzen zu
verdächtigen. Anlass gebe ein Buch des Sohnes von NVA-General Vincenz Mül­
ler, der nach dreijährigem Studium eine Geschichte des deutschen Kolonialis­
mus in Kamerun herausgebe. Wirksamer als die Kolonialrichtung erwies sich
später die DDR-Kampagne gegen Lübke und Gerstenmaier im Hinblick auf ihre
persönliche Verstrickung im Dritten Reich. Mitunter konnte Gehlen nicht hel­
fen, etwa wenn der Bundeskanzler auf die Meldung, in der »Ostzone« solle ein
Buch erscheinen über »Adenauer und seine Nutten«, die sofortige Beschaffung
anordnete.223 Das Ganze erwies sich als Falschmeldung. Dafür konnte Gehlen
einige Tage später Globke darüber informieren, dass nach den Angriffen gegen
Vertriebenenminister Theodor Oberländer, den Ost-Berlin in einem Schaupro­
zess in Abwesenheit zu lebenslänglichen Zuchthaus wegen der angeblichen
Verantwortung für die Ermordung von Juden und Polen in Lemberg verur­
teilt hatte, jetzt eine »Propagandakampagne des Weltkommunismus« gegen
Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU) starten sollte. Ihm wurde

220 Gehlen, Der Dienst, S. 219 – 220.


221 Leserbrief Haiders in Münchener Illustrierte, 20.2.1960, zit. nach: Cookridge, Gehlen,
S. 318.
222 Schreiben Gehlens an Globke, 2.3.1960, BND-Archiv, 1163.
223 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 8.4.1960, ebd.

984
vorgeworfen, nach der Besetzung der Tschechoslowakei das Vermögen der
jüdischen Familie Petschek »arisiert« zu haben. Die Federation Internationale
des Resistants plane weitere Kampagnen gegen führende Persönlichkeiten in
der Bundesrepublik224 Globke selbst war betroffen und konnte auf die Hilfe
Gehlens vertrauen.
Die ganze Aufmerksamkeit in Pullach richtete sich auf die Abwehr solcher
Gefahren und ihrer möglichen Einflüsse auf die »geistig-moralische Wider­
standsfähigkeit« der Bundesrepublik. Dem Bemühen des SED-Regimes um
internationale Anerkennung musste auch unter diesem Blickwinkel mit allen
Mitteln ein Riegel vorgeschoben werden, wenngleich der BND auf diesem Felde
dem BfV ins Gehege geriet und mit der eigenen Pressepolitik in einer verfas­
sungsrechtlichen Grauzone operierte. Gehlen hatte aber bei dieser Erweite­
rung seiner Zuständigkeit die Rückendeckung Globkes, der daran dachte, im
Kanzleramt einen Apparat zur Abwehr »östlicher Infiltration« einzurichten,
um eine enge Verbindung zum Auswärtigen Amt und zum Bundesministe­
rium für Gesamtdeutsche Fragen zu gewährleisten und eine eigene Aktivpro­
paganda vorzubereiten.225
Gehlen hielt es unter diesen Umständen für angebracht, seine Distanz
gegenüber dem BfV etwas zu verringern. Bei dem Besuch einer Delegation
unter Führung von Dr. Nollau in Pullach verständigte man sich darauf, die
Zusammenarbeit als befriedigend, aber dringend verbesserungsbedürftig zu
bezeichnen.226 Die Herren des BfV boten offensiv Informationen über die Ent­
wicklung des Kommunismus in der Bundesrepublik und die Westarbeit der
SED an. Man verfüge, so hieß es, über genügend Quellen in der illegalen KPD
und ihren Tarnorganisationen. Die innere Sicherheit sei deshalb nicht gefähr­
det. Die Betriebsgruppenarbeit der KPD erfordere aber große Aufmerksamkeit.
Nach ihrem Scheitern bei den Bundestagswahlen 1953 und dem Verbot von
1956 habe die KPD ihre Hoffnung auf eine Massenbasis aufgegeben, konzen­
triere sich daher jetzt auf Zellenbildungen und Versuche, die SPD zu pene­
trieren. Im internationalen Rahmen stehe das BfV in enger Verbindung mit
den Sicherheitsbehörden in westeuropäischen Staaten. Die Kölner Kollegen
bestätigten die vom BND beschafften Berichte über die wachsende Bedeu­
tung des weltpolitischen Kontaktzentrums Prag. Sie begrüßten außerdem die
BND-Berichte zur Lage in West-Berlin. Dort sei die Stimmung überwiegend
schlecht. Es herrsche weithin Resignation. Zum Abschluss äußerte man Inte­
resse an Zusammenstellungen über die osteuropäische Emigration. Auch hier

224 Schreiben Gehlens an Globke, 22.4.1960, ebd.


225 Interne Besprechung unter Weiß über eine Stellungnahme des BND zu diesen Überle­
gungen des Kanzleramts am 8.3.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 104.
226 Eintrag vom 11.3.1960, ebd., S. 113. Siehe hierzu ausführlich Dülffer, Krise, Kap. V

985
war der BND auf Weisung Gehlens bislang zurückhaltend mit der Weitergabe
von Informationen gewesen.
Der Präsident zeigte, wie Kurt Weiß in seinem Tagebuch notierte, beson­
deres Interesse an allen Aktivitäten auf dem Gebiet der »Gegenwirkung«, weil
sich Globke immer wieder anerkennend über die entsprechenden Maßnah­
men des BND äußerte, der damit gleichsam eine Leitfunktion für die Abwehr
und offensive Bekämpfung der Infiltration mit Ausgangspunkten in der »SBZ«
übernahm.227
War aus der Sicht Gehlens eine bessere Zusammenarbeit mit dem BfV
gegen die Infiltration der Bundesrepublik immerhin denkbar, so hielt er ande­
rerseits an seinem Anspruch fest, für die Bekämpfung des Kommunismus auf
internationaler Ebene zuständig zu sein. Ermutigt fühlte er sich durch einen
deutsch-französisch-niederländischen Arbeitskreis zur psychologischen
Bekämpfung des Kommunismus. Im Herbst 1957 zunächst auf französischer
Ebene entstanden, erweiterte sich der Kreis im Herbst 1958 um die Nieder­
länder sowie um Multiplikatoren in Wissenschaft, Wirtschaft und Publizistik.
Mehrere Tagungen im Jahr sorgten für einen persönlichen Erfahrungsaus­
tausch. Später erweiterte sich der Arbeitskreis um die Vertreter Italiens und
anderer europäischer Länder. Ein internationales Dokumentationszentrum
entstand. Die deutsche Seite war durch mehrere Professoren, Publizisten und
Wirtschaftsvertreter unter der Leitung von General a. D. Foertsch, also des
BND, beteiligt.228
Mit der angestrebten Federführung bei der geistig-ideologischen Bekämp­
fung des Weltkommunismus schuf sich der BND ein neues Arbeitsfeld, das
ihn freilich innenpolitisch häufig in Schwierigkeiten brachte. Abgrenzung
bzw. Zusammenarbeit mit dem BfV blieb auf Jahre hinaus ein Minenfeld. Dass
sich das BfV für den Erfahrungsaustausch auf der internationale Polizeiebene
wie etwa mit Afghanistan zuständig erklärte, fand den heftigen, letztlich aber
vergeblichen Widerspruch Gehlens. Als die Leitung des BfV Anfang 1960 eine
Nahostreise plante, um die sowjetische Infiltration »vor Ort« zu studieren und
mit den Sicherheitsdiensten der besuchten Länder Kontakt aufzunehmen,
stimmte Gehlen erst zu, nachdem sich Worgitzky dafür verbürgte, dass ein ihm
persönlich gut bekannter leitender Mitarbeiter des LfV Niedersachsen einge­
hend über die Reise nach Pullach berichten werde.229
Vehement kämpfte Gehlen auch um die Zuständigkeit für die Zusammen­
arbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten bei der sicherheitsmäßigen

227 Eintrag vom 4.5.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 199.


228 Vortragsnotiz Gehlens für Globke, 23.11.1959, BND-Archiv, 1163.
229 Gespräch Weiß – Gorgitzky, 2.3.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 93.

986
Überprüfung beispielsweise von ausländischen »Gastarbeitern« in Deutsch­
land und bei der Weitergabe personenbezogener Informationen über deutsche
Staatsbürger an ausländische Dienste. Das Innenministerium als vorgesetzte
Behörde des BfV strebte dafür völkerrechtliche Vereinbarungen an, was Geh­
len als unrealistisch einschätzte.230 Er bestand darauf, dass alle nachrichten­
dienstlichen Verbindungen zum Ausland durch eine zentrale Stelle, also den
BND, gelenkt würden. Das Innenministerium vertrete den richtigen Leitgedan­
ken, dass die Umsturzbewegungen des Kommunismus gegenüber dem freien
Westen immer weniger offen, sondern mit dem schleichenden Mittel inne­
rer Zersetzung geführt würden. Das BfV könnte auch durchaus eine gewisse
Selbstständigkeit bei der Erteilung von Sicherheitsauskünften erhalten. Vor
Auskunftserteilung müsse aber der BND über die Anfrage unterrichtet wer­
den, um eventuelle Auswirkungen auf Gegenspionage-Operationen rechtzeitig
zu erkennen. Kurzum: Eine wirksame Bekämpfung der Infiltration sei nur in
enger Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten möglich. Das
sei Sache des BND. Und hier lief die Korrespondenz mit dem BfV über Perso­
nenanfragen direkt über Gehlen.231
Um seinen Anspruch auf Koordinierung aller nachrichtendienstlichen Aus­
landsverbindungen von bundesdeutschen Behörden durch den BND durch­
zusetzen, bemühte er sich immer wieder um die Unterstützung des Kanz­
leramts.232 Da es hauptsächlich um das BfV ging, blieb es ihm jedoch nicht
erspart, selbst unmittelbar mit dem Bundesinnenministerium zu sprechen.
Immerhin versprach Globke Rückendeckung.233 Gehlen beharrte darauf, dass
er nichts dagegen einwende, wenn das BfV seine Verbindungen zur Abwehr
kommunistischer Infiltration ausbauen wolle. Doch müsse die Federführung
wegen der möglichen politischen Verwicklungen beim BND liegen.234
Es entsteht der Eindruck, dass Gehlen für seinen seit 1956 personell stark
anwachsenden BND und mit dem Ehrgeiz zu globalen Einsätzen nach dem
Vorbild der CIA rastlos Aufgaben an sich zog, ohne sie in ihrer Vielfältigkeit
wirklich bewältigen zu können. Das erinnert an die mahnenden Worte seines
damaligen Vorgesetzten Heusinger in der Operationsabteilung während des
Russlandfeldzugs 1941. So kümmerte er sich Ende 1959 um die formelle Ertei­
lung einer Genehmigung des Bundeswirtschaftsministeriums zur Gründung
einer Tarnfirma zum Handel mit Waffen und Munition. Das Ziel war es, den

230 Schreiben Gehlens an Globke, 15.12.1959, BND-Archiv, 1163.


231 Siehe Handakte Präsident Gehlen 1960-1962, BND-Archiv, 1223.
232 Aktenvermerk Gehlens, 12.9.1960, BND-Archiv, 1163.
233 Vermerk über die Besprechung Gehlen – Mercker, 7.10.1960, ebd.
234 Aktenvermerk über die Besprechung im BMI, 11.10.1960, ebd.

987
internationalen Waffenhandel auf bundesdeutschem Gebiet zu beobachten.235
Bald aber trat der BND selbst als Vermittler von Geschäften auf, etwa beim
Verkauf von ausgemustertem Altgerät der Bundeswehr, und leistete fremden
Nachrichtendiensten Ausrüstungshilfe, etwa in Indonesien.
Natürlich nutzte die Vermittlung des Verkaufs von ausgemusterten Waffen
der Bundeswehr, aber bei der eigentlichen Aufgabe des BND, der Beschaffung
von militärischen Aufklärungsergebnissen, lag vieles im Argen, wie Brigade­
general Wessel seinem früheren Chef Gehlen mitteilte. Wessel war als Leiter
der II. Abteilung im Führungsstab der Streitkräfte bereit, die G-2-Offiziere der
Teilstreitkräfte zu einer Besprechung im BND einzuladen, um einen verbes­
serten Informationsaustausch herbeizuführen.236 Die Ursache für das geringe
Meldungsaufkommen lag freilich auch bei der Bundeswehr selbst, konkret der
Marine, die ihre Einsätze zur Funkaufklärung für den BND im Ostseeraum aus
Mangel an geeigneten Booten nicht im gewünschten Umfange durchführen
konnte.237 Aus diesem Kerngeschäft des BND hielt sich Gehlen aber nach Mög­
lichkeit heraus und vertraute ganz dem professionellen Können der Verant­
wortlichen. Wichtig war ihm selbstverständlich die Regelung seiner Diszipli­
narbefugnisse gegenüber den zum BND gehörenden Offizieren.238
Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf jene Berichte und Informatio­
nen, die er ausschließlich für sich selbst bestellte und die an der Auswertung
oder anderen fachlich zuständigen Abteilungen vorbei ins Präsidentenbüro
gelangten. Zu seiner Arbeitsentlastung sollten diese Berichte Hinweise des
Absenders erhalten, ob etwas zu veranlassen oder eine persönliche Erläu­
terung im Detail erforderlich sei.239 Dies wiederholte Gehlen als Anweisung
gegenüber Kurt Weiß, der als Einziger regelmäßigen Zugang zum »Doktor«
hatte, an den Abteilungsleitern vorbei, die zudem durch den kleinen Kreis von
sogenannten Führungsbeauftragten vom Chef abgeschnitten waren. Die Son­
derbeziehung zwischen Weiß und Gehlen stieß selbst bei dem Gehlen-Intimus
Langkau auf Missfallen, da er für die politischen Angelegenheiten zuständig
war. Blum, ebenfalls ein Vertrauter Gehlens, riet Weiß deshalb, den Eindruck
zu verwischen, dass ihm Gehlen direkte Anweisungen gebe, die eigentlich über
Langkau laufen müssten.240

235 Aktenvermerk Gehlens für Globke, 15.12.1959, BND-Archiv, 1163.


236 Schreiben Wessels an Gehlen, 22.12.1959, BND-Archiv, 4323.
237 Siehe Schriftwechsel Gehlens mit dem Inspekteur der Marine, Eintrag 23.5.1960, BND-
Archiv, 4324.
238 Aktennotiz Gehlens über die Besprechung mit Ministerialdirektor Dr. Mercker,
12.2.1960, BND-Archiv, 1163.
239 Vortrag Weiß bei Gehlen, 23.12.1959, BND-Archiv, N 10/8.
240 Eintrag vom 15.3.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 123.

988
Auf Weiß konnte sich Gehlen jedoch unbedingt verlassen, wenn es um poli­
tische Schachzüge in der Grauzone ging. Als vielfache Beschwerden über die
Kulturpropaganda des Auswärtigen Amts aufkamen, weil angeblich mehrfach
festgestellt worden sei, dass die Inhalte mit sowjetischen Sprachregelungen
übereinstimmten, übernahm es sofort Weiß, über die Sonderverbindung
August Hoppe, den politischen Redakteur des WDR, herauszufinden, wie der
Sender die inkriminierten Berichte erhielt. In der Dauerfehde mit dem Auswär­
tigen Amt, die – so mag es Gehlen gesehen haben – für den Auslandsnachrich­
tendienst unausweichlich war, achtete er auf jeden eigenen Vorteil.
Doch das Auswärtige Amt revanchierte sich – bei aller gebotenen Kollegia­
lität – auch gerne. So nahm man Meldungen der DDR-Presse über Sabotage­
aktionen im Raum Warnemünde zum Anlass, um den vom Osten beschul­
digten BND nach den Hintergründen zu fragen, denn der Dilettantismus der
Aktionen verwunderte. Urheber war aber die maßgeblich von der CIA gesteu­
erte »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«.241
Zu größeren Irritationen führten spektakuläre antisemitische Ausschrei­
tungen in der Bundesrepublik, die geeignet waren, das internationale Ansehen
Westdeutschlands in dieser schwierigen Phase der Berlinkrise Anfang 1960
ernsthaft zu beschädigen. Am Heiligen Abend 1959 war eine Synagoge in Köln
mit Hakenkreuzen und judenfeindlichen Parolen beschmiert worden.242 In
den folgenden Wochen ereigneten sich Hunderte ähnlicher Zwischenfälle, die
als »antisemitische Schmierwelle« Bekanntheit erlangten. Gehlen gab Anwei­
sung, alle Möglichkeiten und Mittel auszuschöpfen, um Informationen über
die Hintermänner zu gewinnen. Nach wenigen Tagen sah er sich in seiner Ver­
mutung bestätigt, dass Ost-Berlin die Ausschreitungen gesteuert hatte, um die
Bundesrepublik zu diskreditieren. Er leitete die Information sofort an den Chef
des Bundeskanzleramts und unterrichtete insbesondere die CIA. Das Kanz­
leramt veranlasste gezielte Informationen der Öffentlichkeit über die Presse­
verbindungen des BND. Daneben bemühte sich Gehlen, beruhigend auf den
israelischen Partner einzuwirken und ihn von der steuernden Rolle des MfS
zu überzeugen.243 Die Behauptung, dass die Drahtzieher in Ost-Berlin sitzen
würden, gab dem BND Veranlassung, die Sache an sich zu ziehen, obwohl hier
in erster Linie das BfV zuständig war. Heute ist erwiesen, dass die Anschläge
tatsächlich teilweise von der SED gesteuert worden waren. Adenauers Fern­

241 Eintrag vom 4.1.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt S. 2. Siehe Enrico Heitzer: Die Kampf­
gruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg
1948-1959, Köln 2015.
242 Siehe Synagogen-Schändung. Die Nacht von Köln, Spiegel 1/1960 vom 6.1., S. 19-23.
243 Besprechung Weiß – Gehlen, 4.1.1960, ebd., S. 2.

989
sehansprache am 16. Januar 1960 zu den Vorfällen gilt als Zäsur in der öffent­
lichen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen.244
Es gab im BND auch andere Vermutungen. Intern meldete sich der Lei­
ter 535 zu Wort. Der ehemalige Vortragende Legationsrat und Presseberater
Ribbentrops (als dieser 1937/38 Botschafter in London gewesen war) und spä­
tere Leiter des Deutschen Nachrichtenbüros im Dritten Reich, Dr. Fritz Hesse,
war der Englandexperte des Dienstes. Er beklagte die offene Antinazi-Propa­
ganda aus bestimmten britischen Kreisen. Der Vorwurf, die Bundesrepublik
unternehme nicht genügend gegen antisemitische Tendenzen, sei geeignet,
die deutsch-britischen Beziehungen zu gefährden. Hesse führte das auf die
starke jüdische Präsenz im linken Flügel der Labour Party zurück und regte
an, dass Weiß Gehlen darüber unterrichtete, an der Deutschen Botschaft in
London seien »3 Halbjuden und 1 Vierteljude als Diplomaten tätig«. Weiß
nahm die Anregung auf, ignorierte aber offenbar den letztgenannten Hinweis
auf die »rassische Herkunft« der deutschen Diplomaten. Er empfahl Gehlen,
gegenüber dem Auswärtigen Amt nochmals auf die gesicherten Erkenntnisse
über die Hintermänner der Anschläge hinzuweisen und eine entsprechende
Instruktion der Botschaft in London zu empfehlen.245
Dieser Tage kündigte der Präsident des Bundesrechnungshofes einen
Besuch an, um den erhöhten Geldbedarf bei strategischen Operationen zu
überprüfen. Da kam es Gehlen recht, auf das immer noch große Interesse der
Bonner Politiker und der Partnerdienste an Material über die antisemitischen
Aktivitäten in der Bundesrepublik verweisen zu können. Deshalb ordnete er
an, eine Zusammenstellung über die bisherigen Ausarbeitungen, über Erkennt­
nisse zum Antisemitismus im Ostblock sowie über wichtige Broschüren und
Presseveröffentlichungen anzufertigen. Den CIA-Chef wollte Gehlen persön­
lich über den Stand der Erkenntnisse unterrichten. Erneut beschwerte er sich
über das Auswärtige Amt: Er kritisierte das Verhalten mehrerer deutscher Bot­
schaften, die bei Überläufern aus dem kommunistischen Machtbereich oft zu
spät reagiert hätten, indem diese zunächst anderen Behörden überstellt wur­
den und so wertvolle Zeit für den BND verstrichen sei. Gehlen sah auch hier
die Notwendigkeit, einen entsprechenden Runderlass des Auswärtigen Amtes
an die Botschaften anzumahnen.246
Doch wer austeilte, musste auch einstecken können. Außenminister Heinrich
von Brentano verwahrte sich mit einem empörten Brief dagegen, dass der BND
den Botschaftsrat Günter Diehl, der zum Bundespresseamt gewechselt war, als

244 Die Ansprache Adenauers findet sich als Dokument unter www.kas.de/wf/de/71.154/19,
Abruf am 28.9.2017.
245 Besprechung Weiß – Hesse, 11.1.1960, ebd., S. 12.
246 Besprechung Weiß – Langkau, 1.2.1960, ebd., Blatt 40.

990
Sicherheitsrisiko einstufte. Diehl war während des Krieges zunächst im Referat
Rundfunkangelegenheiten des AA Mitarbeiter von Kurt Georg Kiesinger, dem
späteren Bundeskanzler, und zuletzt Kulturattache bei der Vichy-Regierung
gewesen. In den vergangenen Jahren hatte Diehl als Pressereferent bei Staats­
sekretär Walter Hallstein im Auswärtigen Amt gearbeitet, dann für einige Jahre
an der Botschaft in Chile. Gehlen sprach bei Minister Brentano vor und machte
einen vorsichtigen Rückzieher. Er habe nur Materialien zusammenstellen las­
sen, die dem Außenminister helfen sollten, seine Entscheidung zu treffen. Das
Gespräch verlief in angenehmer Atmosphäre, wie Gehlen anschließend Globke
berichtete.247 Zu einigen zugespitzten Formulierungen im Brief des Ministers
wollte er sich lieber nicht äußern. Dafür war er sogleich mit einer überraschen­
den Vermutung zur Hand. Man sei hier wahrscheinlich in eine Operation des
britischen Nachrichtendienstes hineingestoßen. Das habe er selbstverständ­
lich nicht offen gegenüber dem Außenminister geäußert. Man habe sich darauf
verständigt, keinen weiteren Gedankenaustausch über Diehl zu pflegen. Diehl
machte dann in den 1960er-Jahren Karriere als Pressestaatssekretär bei Kanzler
Kiesinger, wurde Botschafter in Neu-Delhi und in Tokio. In den 1980er-Jahren
wirkte er als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Dafür berichtete Gehlen an Globke, dass ein Spiegel-Artikel leider nicht
verhindert werden könne, der sich mit internen Vorgängen in der Deutschen
Botschaft in Moskau befassen werde.248 Und er ging dem Verdacht nach, dass
es ein »Loch« im AA geben müsse, weil angeblich Informationen des BND an
unerwünschte Empfänger gegangen seien.249 Der Verdacht, dass Gehlen sich
in die Innenpolitik einmischte und selbst unbescholtene hochrangige Politi­
ker bespitzeln ließ, beschäftigte nicht nur seine Kritiker in den Oppositions­
parteien. Auch in der Regierungskoalition war nicht jedermann klar, dass die
innenpolitische Aufklärung des BND meist von Aufträgen des Kanzlers bzw.
von Globke ausging oder präventiv als Zuarbeit gegen eine mögliche politische
Unterwanderung der Bundesrepublik verstanden wurde. So wandte sich zum
Beispiel der einflussreiche Bundestagsabgeordnete Karl Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg (CSU) an Globke. Er habe bei einem Mitarbeiter des BND
eine umfangreiche Akte über seinen Fraktionskollegen Professor Hermann
Mathias Görgen gesehen. Dieser war immerhin Beauftragter des Bundespres­
seamts für Lateinamerika und Adenauers Sonderbeauftragter für Brasilien.
(Allerdings war er 1938 ins Exil gegangen und erst 1954 zurückgekehrt – das
mochte das Interesse des BND erklären.) Guttenberg hielt das zu Recht für

247 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 8.4.1960, BND-Archiv, 1163.
248 Aktennotiz über den Vortrag Gehlens bei Globke am 15.3.1960, ebd., Blatt 393
249 Vortrag Weiß bei Gehlen, 13.4.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 168.

991
einen Beweis, dass der BND sich allen gegenteiligen Erklärungen zum Trotz
mit der Aufklärung gegenüber einzelnen Persönlichkeiten beschäftigte. Globke
erklärte scheinheilig, er halte das für völlig ausgeschlossen. Es müsse sich um
einen BfV-Mann gehandelt haben. Vorsichtshalber bat er Gehlen um Überprü­
fung, ob sich der BND womöglich doch mit Görgen beschäftigt habe.250 Eine
entsprechende Akte fand sich angeblich nicht im Archiv, aber über seine Per­
sonaldossiers wachte der »Doktor« höchstpersönlich mit Argusaugen.
In der Hektik der angespannten Lage nahm sich Gehlen die Zeit, sich mit
der Planung der weiteren Entwicklung des BND bis zu seinem voraussichtli­
chen Ausscheiden 1968 zu befassen.251 Sein Interesse daran, während der letz­
ten Jahre seiner Zeit als Präsident den Ausbau seines Dienstes voranzutreiben
und so auch seine eigene Position zu festigen, verband sich mit einer kühnen
Prognose. Nach der vorliegenden Lagebeurteilung sei damit zu rechnen, dass
»voraussichtlich in den Jahren nach 1965 eine langsam sich verschärfende
politische Situation eintreten wird, die sich bis zu einer Kriegsgefahr zuspitzen
kann«.252 Für den Augenblick bedeutete das ein Entspannungssignal, aber so
genau wollte sich Gehlen nicht festlegen. Er rechnete wie die meisten Experten
mit einer wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung des Ostblocks, was
sich positiv auf die Rüstungs- und Kriegsfähigkeit auswirken würde.
Mit dieser Einschätzung sicherte er sich die Zustimmung des Kanzlers für
den langfristigen weiteren Ausbau des BND. Adenauer ließ ihm über Globke
mitteilen, dass er in mehreren Gesprächen mit CIA-Chef Dulles erfahren habe,
dass dieser den Wert der engen Zusammenarbeit beider Dienste und seines per­
sönlichen Verhältnisses zu Gehlen hoch einschätze.253 In diesem Sinne bedankte
sich Gehlen kurz darauf bei Dulles für dessen Glückwünsche zum 58. Geburts­
tag und für das Verständnis der beiderseitigen Probleme mit den Worten:

Es wird uns dies in der weiteren Aufbauarbeit das Gefühl geben, in den poli­
tischen Kampf- und Unruhejahren, die Ende des Jahrzehnts und Anfang des
nächsten kommen und über das weitere Schicksal der Welt bestimmen wer­
den, auf festem Grund zu stehen.254

250 Aktennotiz Gehlens über seinen Vortrag bei Globke, 9.6.1960, BND-Archiv, 1163.
251 Die Geschichte des BND, S. 105, BND-Archiv, N 6/3, bestätigt, dass diese »vorläufige
Endplanung« bis 1968 reichte.
252 Schreiben Gehlens an Globke am 4.3.1960, nach einem Vortrag am Vortag. Die erwähn­
ten Anlagen befinden sich nicht in der Akte; BND-Archiv, 1163.
253 Besprechung Gehlen – Globke betr. Gespräche Dulles – Adenauer, 15.3.1960, ebd.,
Blatt 395.
254 Schreiben Gehlens an Dulles, 31.3.1960, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol 3_10F2, S. 122.

992
Gehlen verließ sich darauf, dass er auch weiterhin mit den ihm vertrauten
Männern der CIA zusammenarbeiten könnte, auch wenn Critchfield nun Lei­
ter der Asienabteilung wurde. Dafür kehrte Gordon Stewart in die Zuständig­
keit für den BND zurück, indem er als Nachfolger von Critchfield die Osteuro­
paabteilung übernahm.255
1960 wurde das Jahr der Dekolonisierung. 18 afrikanische Kolonien erhiel­
ten ihre Unabhängigkeit. Das Ende des kolonialen Zeitalters beschleunigte
sich erheblich und führte nicht überall in Afrika zu einem relativ geordneten
Übergang. Der EWG- und NATO-Partner Belgien löste mit seinem überstürzten
Rückzug aus dem Kongo eine jahrelange blutige Krise aus. Die UdSSR bemühte
sich überall, Möglichkeiten zur Einflussnahme auf den weltweiten Umbruch
zu nutzen, um die Expansion des Kommunismus voranzutreiben. Hier wollte
Gehlen nicht abseitsstehen und mit seinen vergleichsweise geringen Mitteln
zur globalen Politik des Westens zur Eindämmung des sowjetischen Vordrin­
gens in die »Dritte Welt« beitragen. Es galt zugleich die Bonner Afrikapolitik
mit geheimdienstlichen Mitteln zu unterstützen. Es standen wirtschaftliche
Interessen und das Bemühen auf dem Spiel, die Hallstein-Doktrin gegen eine
weltweite Ausbreitung der internationalen Anerkennung der DDR zu vertei­
digen.
Gehlen war sich bewusst, dass er in Afrika lediglich einige Stützpunkte
schaffen konnte. Für Asien standen nur marginale Kräfte zur Verfügung. Bei
der Außenstelle 509 (Afrika) musste sich Gehlen gleich zu Anfang persönlich
einschalten, weil es zu internen Querelen kam. Er hatte dort einen Mitarbeiter
untergebracht, mit dessen Ehefrau Gehlen persönliche Beziehungen verban­
den. »Lerche«, so sein Deckname, war ein ehemaliger hoher Führer der Hitler­
jugend in Wien gewesen, Obersturmführer der Waffen-SS, und arbeitete nicht
zur Zufriedenheit des Leiters, Oberst Hans Lutz, obwohl er zunächst abgesetzt
von der Außenstelle tätig werden sollte.256 Einige Wochen später musste er
nach München zurückbeordert werden. Weil Weiß um das Problem seines
Chefs wusste, unangenehme Gespräche direkt von Angesicht zu Angesicht zu
führen, bot er sich an, ihn selbst zur Rede zu stellen.257
Dazu ist es vermutlich nicht gekommen, denn ein Jahr später häuften sich
wieder interne Klagen über die mangelhafte Berichterstattung von »Lerche«,
der als »Einzelkämpfer« in Äthiopien noch nicht einmal Kontakt zur deut­
schen Kolonie dort hatte. Man lud ihn zu einem Gespräch mit Gehlen und
Weiß in München ein, doch die »Lerche« verlangte nun sogar eine Vergütung

255 Chief of Station Germany for Chief Eastern Europe vom 15.4.1960 über seinen Besuch
bei Gehlen am 4. April, ebd., S. 124.
256 Eintrag vom 3./4.2.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 97.
257 Eintrag vom 29.4.1960, ebd., Blatt 189.

993
für mindestens ein Jahr im Voraus und eine moderne Funkausstattung. Die
Fachleute in Pullach verwiesen auf das Sicherheitsrisiko dieser Ausstattung,
was in einem Einsatzland von eigentlich geringer Bedeutung nicht tragbar
erschien.258
Mit Kurt Weiß, seinem Leiter Beschaffung der Strategischen Aufklärung,
zog Gehlen Mitte 1960 eine erste Bilanz des fortschreitenden Ausbaus der
politischen Aufklärung.259 Sie stellte sich als erheblich verbesserungsbedürftig
dar, wie das Beispiel der Außenstelle Afrika und die Schwachpunkte in Fernost
zeigten. Die von Gehlen geforderte weltweite Ausdehnung bedürfe hinsichtlich
der gewonnenen neuen Verbindungen der Festigung. Weiß wiederholte seine
Bitte, der Präsident solle möglichst häufig Forderungen nach Schwerpunktbil­
dungen und Kräftekonzentrationen stellen, vor allem in voraussehbaren Kri­
senregionen – das blieb ein weitgehend unerfüllter Wunsch, denn mit solchen
Impulsen konnte man auch danebenliegen, und Gehlen, sosehr er sich auch
für die politische Aufklärung interessierte, verlegte sich lieber darauf, seinen
Vertrauten das Steuer zu überlassen, allenfalls hin und wieder einzugreifen.
Auch der Bitte von Weiß, Gehlen möge bei seiner Auftragserteilung die Gefahr
der Doppelarbeit ausschalten, folgte er nicht. Weiß war sich darüber im Kla­
ren, dass Gehlen an seinem divide et impera für die Strategische Aufklärung in
ihrer Breite und Vielfalt festhalten würde.
An der Heimatfront sorgte Gehlen für die Stabilisierung der Abwehr gegen
den Kommunismus, wie er seine Tätigkeit verstand. Wenn das BfV die SPD als
Zielobjekt der von Ost-Berlin aus gesteuerten Unterwanderung ansah, dann
konnte der »Doktor« stets über seine eigenen Kontakte mithalten. Sein gehei­
mer Informant im Parteivorstand berichtete, dass man dort daran dachte, die
Aktivitäten des eigenen Ostbüros auf dem Gebiet der DDR zu reduzieren – von
denen bisher der BND in erheblichem Maße profitiert hatte. Zugleich zeigte
man sich aber besorgt über Bestrebungen der »SBZ«, eine Art von USPD260
zu installieren und damit die westdeutsche Sozialdemokratie zu unterminie­
ren.261 Auf der offiziellen Ebene wandte sich der Parteivorstand an Gehlen mit
der Bitte, die engen Beziehungen von Annemarie Renger, der früheren Pri­
vatsekretärin von Kurt Schumacher, mit dem aus Jugoslawien stammenden
Volkswirt Aleksandar Loncarevic zu überprüfen. Es bestehe der Verdacht, dass
er für den jugoslawischen Geheimdienst arbeite. Erler (DN »Prenzler«), der
oberste bevollmächtigte Gesprächspartner für Gehlen in der SPD, hielt die Rei­
sen von Frau Renger für sehr bedenklich, ebenso die häufigen Aufenthalte von

258 Eintrag Anfang Mai 1961, BND-Archiv, N 10/8.


259 Vortrag Weiß bei Gehlen, 20.6.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 268.
260 Die USPD war zur Zeit des Ersten Weltkriegs eine Abspaltung von der SPD gewesen.
261 Eintrag 14.3.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 118.

994
Lončarević in der Bundesrepublik. Nach langen und intensiven Recherchen
bestätigte sich der Verdacht nicht.262
Seinem Weltbild, in dem eine unbekannte Zahl östlicher Einflussagenten
der »Roten Kapelle« die Sicherheit der Bundesrepublik bedrohte, taten sol­
che Fehlanzeigen keinen Abbruch. Gehlen ließ weiter suchen, denn dieses
Phantom blieb Anlass, seine geheimen Dossiers über politische Prominenz zu
erweitern und sich mit Andeutungen bei Globke wichtig zu machen. Dabei
verlangte die außenpolitische Lage die ganze Aufmerksamkeit. Im März 1960
begab sich der Kanzler auf eine Auslandsreise, um sich auf die Fortsetzung
der Genfer Konferenz vorzubereiten. Es bedurfte nicht der Erkenntnisse der
Korrespondenten der Welt, die Gehlen an Globke übermittelte, wonach in
den anderen westlichen Ländern sich die Neigung verstärkte, den östlichen
Vorschlag für einen Status von West-Berlin als eine »freie Stadt« zu akzeptie­
ren.263 In Bonn war außerdem bekannt, dass Polen die Einstellung westlicher
und neutraler Staaten zu einem separaten Friedensvertrag mit der »SBZ« son­
dierte. Gehlen versprach, zusätzliche Informationen zu beschaffen.264
Sein Kanzler hatte sich besorgt über die Standfestigkeit des Westens auf
den Weg nach Washington gemacht. Zuvor war ihm von amerikanischer Seite
die Gegenfrage gestellt worden, ob die Bundesregierung bereit sei, notfalls
dem Einsatz von Nuklearwaffen zur Erzwingung eines Zugangs zu West-Ber­
lin zuzustimmen.265 Die Gespräche in Washington verstärkten die Sorgen Ade­
nauers. Doch in Pullach erhielt man beruhigende Nachrichten vom Washing­
toner BND-Residenten Kühlein. Der Besuch sei ein großer Erfolg. Adenauer
habe den Schwerpunkt auf die Wahrung des Rechtsstatus von Berlin gesetzt.
Es habe gute Gespräche auch mit CIA-Chef Dulles gegeben, der die Bedeutung
und den Wert der engen Zusammenarbeit zwischen CIA und BND und sein
persönliches Verhältnis zu Gehlen hervorgehoben habe. Das Lob habe den
Kanzler erfreut, wie der BND-Chef prompt an Globke weitermeldete.266
Während sein Kanzler auf Weltreise weilte, verfolgte der »Doktor« ganz
persönliche Ambitionen. Weiß kündigte ihm an, dass er ein weiteres Treffen
mit dem »Friedensengel von Helsinki« Ende März vorgesehen habe. Dann
könne man über weitere Aufträge an sie entscheiden.267 Weiß brachte dann

262 Loncarevic siedelte in die Bundesrepublik über und heiratete Annemarie Renger 1965.
Er starb 1973. Siehe zum Fall Dülffer, Krise.
263 Aktennotiz über den Vortrag Gehlens bei Globke, 15.3.1960, BND-Archiv, 1163, Blatt 393.
264 Eintrag vom 15.3.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 123.
265 Schwarz, Die Ära Adenauer, Bd. 2, S. 106.
266 Besprechung Gehlen – Globke über die Gespräche Adenauers mit Dulles, sowie interne
Meldung aus Washington vom 17.3.1960, BND-Archiv, 1163, Blatt 347.
267 Vortrag Weiß bei Gehlen, 16.3.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 130.

995
von diesem Treffen weitschweifende friedenspolitische Visionen der Schau­
spielerin mit. Es sei der Wunsch von »Rotraut«, nach Kairo zu reisen, um dort
mit Nasser und Nehru über ein Treffen aller »Großen« im Zeichen des Welt­
friedens auf dem Sinai zu sprechen. Man könnte eventuell auch Faisal, den
Premierminister und späteren König von Saudi-Arabien, und Sukarno einbe­
ziehen. Angesichts solcher Friedensvorschläge deutete Weiß seine Skepsis an,
obwohl Gehlen auf frühere gelungene Kontakte und Gesprächsergebnisse der
Emissärin verwies. Weiß erhielt den Auftrag, den Kontakt fortzusetzen.268
Vier Wochen später – nachdem die Ost-West-Gespräche in Genf abgesagt
worden waren – äußerte Gehlen erstmals die Absicht, seine persönlichen Kon­
takte zu »Rotraut« einzuschränken. Weiß bestärkte ihn in diesem Entschluss,
weil er bei einer zu engen Verbindung Rückwirkungen auf den Präsidenten
befürchtete. Bei aller Anerkennung ihrer Initiative zu Gesprächen mit hoch­
rangigen internationalen Politikern bestehe die Gefahr, dass »Rotraut« durch
die naive Art ihres Vorgehens, bei dem sie zwar durch penetrantes Auflauern
viele Gespräche erreichte, Nachforschungen auslösen könnte, die auf die Ver­
bindung zu Gehlen hinführen würden. Der »Doktor« war sicher ein vorsich­
tiger Mann, aber interessiert genug, Weiß anzuweisen, den Kontakt zu der
jungen Dame fortzusetzen. Er solle dabei unter Berücksichtigung der Abnei­
gung »Rotrauts« gegen eine »Steuerung« alle Reisen und Gespräche weiter­
hin kontrollieren, ihm persönlich berichten und ihn nur in besonderen Fällen
einschalten. Der Auftrag war unlösbar, wie Weiß später kommentierte, denn
»Rotraut« bestand auf einem persönlichen Kontakt mit Gehlen, weil Gehlen
ihr viel mehr Freiheiten einräumte und die Ergebnisse der Gespräche mit füh­
renden Politikern lediglich als persönliche Unterrichtung entgegennahm, wäh­
rend Weiß präzise Angaben verlangte. Sie habe mit Gehlen ein »Vater-Tochter-
Verhältnis« verbunden.269 War das dem 58-Jährigen zu wenig oder zu viel?
Er steckte mitten in den Vorbereitungen, um demnächst selbst wieder auf
eine Auslandsdienstreise zu gehen. Gehlen plante einen Besuch in Ankara und
in Teheran, wo Worgitzky als sein Vizepräsident bereits die Türen für einen
Ausbau der nachrichtendienstlichen Kooperation geöffnet hatte. Der »Doktor«
bat daher das US-Verbindungsbüro erneut um ein Flugzeug aus der Spezial­
staffel zu seiner Verfügung. Er wollte ebenso wie der iranische Verbindungsof­
fizier in Bonn eine Tochter mitnehmen.270 Da platzte die Meldung herein, dass
ein US-Aufklärungsflugzeug vom hochfliegenden Typ U-2 am 1. Mai über der

268 Vortrag Weiß bei Gehlen, 13.4.1960, ebd., Blatt 168.


269 Eintrag und Kommentar zum 16.5.1960, ebd., Blatt 226.
270 Chief Munich Base für Chief Eastern Europe, 5.4.1960, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2, S. 123. Der Termin war ursprünglich für Anfang
Juni geplant, wurde dann aber am 13. Mai auf den 22. Juli verschoben.

996
UdSSR abgeschossen worden war. Chruschtschow nutzte den Zwischenfall,
um zu Beginn der Pariser Gipfelkonferenz der vier Siegermächte bei einem
Auftritt vor der Presse wütende Angriffe gegen die USA und die Bundesrepu­
blik zu richten und mit großem Eklat wieder abzureisen. Adenauer empfand
das als Glücksfall, weil in Deutschland zwar wieder einmal Kriegsangst auf­
kam, aber für die aus seiner Sicht schlecht vorbereiteten Westmächte damit
feststand, dass an eine Fortsetzung der Vier-Mächte-Verhandlungen nicht vor
den US-Präsidentenwahlen im November 1960 zu rechnen war.
Auch Gehlen hatte Grund zur Freude. Die Berichterstattung des BND im
Zusammenhang mit der gescheiterten Gipfelkonferenz in Paris fand in Bonn
ein positives Echo, insbesondere im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt. So
bat er Weiß, den beteiligten Dienststellen Anerkennung und Dank zu übermit­
teln, und äußerte dann den Wunsch, Weiß möge ihm doch »Rotraut« »abneh­
men«. Persönliche Kontakte mit ihr seien auf ein Mindestmaß zu beschränken.
Weiß versprach, der jungen Dame noch deutlicher als bisher klarzumachen,
dass Gehlen nicht nur zeitlich stark beansprucht sei, sondern auch im Inte­
resse des BND darauf bedacht sein müsse, sich aus einzelnen Operationen
herauszuhalten. Gehlen stimmte zu und bemerkte ausdrücklich, dass eine
Verstimmung von »Rotraut« in Kauf genommen werden müsse.271 Die Son­
derverbindung »Rotraut« blieb aber bis zu seiner Pensionierung bestehen.272
Dabei war Gehlen keineswegs geneigt, allen Berichten zu glauben, die ihm
von verschiedenen Seiten auf den Tisch gelegt bzw. vorgetragen wurden. Eine
Schilderung des letzten Gesprächs zwischen Eisenhower und Chruschtschow
bezeichnete er gegenüber Weiß schlicht als »Dichtung aus dem Bereich der
Hochgrad-Freimaurer«.273 Eine größere Besprechung mit dem Kanzler am
28. Juni 1960 zeigt exemplarisch den Umgang Adenauers mit seinem Geheim­
dienstchef und seine Erwartungen gegenüber dem BND. Er hatte Gehlen kom­
men lassen, um sich über den Besuch von Dulles bei diesem am Vortag unter­
richten zu lassen. Adenauer war angesichts der eigenen Besorgnisse über die
undurchsichtige Haltung der Amerikaner in der Berlinfrage daran interessiert,
etwas über die Einschätzung des einflussreichen CIA-Chefs zu erfahren. Ihn
trieb die Sorge um, dass die USA womöglich ihre eigene Lage über- und die
der UdSSR unterschätzen könnten. Er gab gegenüber Gehlen an, dass er bei
einer früheren Gelegenheit Dulles selbst darauf hingewiesen habe, dass die
Russen wirtschaftliche Mittel nutzen könnten, um die USA in einer günstigen

271 Vortrag Weiß bei Gehlen, 31.5.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 244.
272 Siehe Einträge vom 26.4.1965, BND-Archiv, N 10/12, und vom 6.4.1967, BND-Archiv,
N 10/14.
273 Eintrag vom 7.4.1960, BND-Archiv, N 10/7,1, Blatt 162.

997
Situation in Schwierigkeiten zu bringen.274 Der Ost-West-Handel berge seiner
Meinung nach die Gefahr, dass die Russen mit einem plötzlichen Abbruch der
Handelsbeziehungen den Westen belasten könnten. Außerdem sei nicht aus­
zuschließen, dass Moskau vielleicht doch auf Einzelgebieten höhere Leistun­
gen erziele, was dann politisch in die Waagschale geworfen würde. Hier wirkte
wohl nicht zuletzt der Sputnik-Schock beim Kanzler nach.
Dulles habe geantwortet, dass die US-Wirtschaft der sowjetischen um hun­
dert Jahre voraus sei und dass dieser Zustand immer bestehen werde. Er, Ade­
nauer, habe das für einen Chef des US-Nachrichtendienstes als leichtfertige
Antwort angesehen. Er forderte deshalb Gehlen auf, entsprechende verglei­
chende Unterlagen anzufertigen und Dulles zuzuleiten. Er selbst sei an dem
Ergebnis erheblich interessiert – eine für Gehlen schwierige Situation, weil
er bei aller Loyalität gegenüber dem Kanzler seinem ehemaligen Chef Dulles
kaum etwas über die US-Wirtschaft erzählen könnte, auch eine allzu rosige
Beschreibung der Perspektiven für die sowjetische Wirtschaft wäre wohl kaum
angebracht.
Ähnlich problematisch war der Auftrag Adenauers, Gehlen solle sich ein­
mal mit dem NATO-Aufbau beschäftigen, und zwar nicht in militärischer Hin­
sicht, sondern mit Blick auf eine mögliche Vertiefung der wirtschaftlichen und
politischen Kooperation. Dem Kanzler war offenbar nicht bewusst, dass er den
BND-Chef mit der Erwartung überforderte, er möge entsprechende Vorstellun­
gen entwickeln, weil der französische Staatspräsident de Gaulle der Meinung
sei, das wäre zu kompliziert. Überhaupt zeigte sich Adenauer sehr besorgt
über die Lage in Frankreich. Dort ruhe das Schicksal des ganzen Landes in der
Person von de Gaulle. Fiele er aus, bliebe ein Vakuum, während in der Bundes­
republik beim Ausfall des Kanzlers starke Regierungsparteien zurückblieben -
Adenauer dachte daran, sich im nächsten Jahr trotz seines hohen Alters noch
einmal zur Wahl zu stellen. Gehlen äußerte sich kurz zur Lage in Frankreich,
über die er durch seine regelmäßigen persönlichen Kontakte gewöhnlich gut
unterrichtet war.275 Adenauer bat um eine umfangreiche Unterlage dazu.276
Er zeigte gleichfalls Sorge über die angeblich schlechte Sicherheitslage
innerhalb der Bundesrepublik – wofür der BND-Chef eigentlich nicht zustän­

274 Aktennotiz über die Besprechung Gehlens mit dem Bundeskanzler, 28.6.1960, BND-
Archiv, 1163.
275 Gehlen war in diesen Tagen wieder einmal zu Besuch beim Generaldirektor des SDECE,
Grossin, in Paris; November 1960, BND-Archiv, 4324. Siehe demnächst Krieger (Hg.),
Globale Aufklärung.
276 Ausarbeitung des BND über die wirtschaftliche Entwicklung in der Sowjetunion,
25.5.1961, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 43-44. Siehe zum Hintergrund den Beitrag von
Hilger in Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.

998
dig war. Gehlen wiegelte jedoch ab und hielt dagegen, dass die Sicherheits­
lage zweifellos noch nicht befriedige und es noch lange Zeit dauern werde,
bis überall das erforderliche Verständnis für die Sicherheitsnotwendigkeiten
vorhanden sein werde. Das BfV und das ASBw hätten aber in den vergangenen
Jahren »ganz erhebliche Fortschritte« gemacht.

Im übrigen sei dies eine sehr langwierige und schwierige Aufbauarbeit, die
Hand in Hand gehen müsse mit einer entsprechenden Aufklärung in der
Öffentlichkeit und in den verschiedenen Ämtern des Bundes und der Länder,
um Verständnis für die Sicherheitsbelange zu schaffen.

Dann schnitt Adenauer drei andere merkwürdige Fragen an. Ihn interessierte
der Werde- und Entwicklungsgang des Regierenden Bürgermeisters von West-
Berlin, Willy Brandt, der als populärer Spitzenkandidat der SPD bei der Bundes­
tagswahl gegen ihn antreten wollte. Sei Brandt eigentlich nachrichtendienst­
lich tätig gewesen? Adenauer spielte damit auf das norwegische Exil Brandts
an. Entsprechende Vorwürfe kamen bald in der Wahlkampfpropaganda zur
Sprache. Gehlen musste sich pragmatischer verhalten, denn er brauchte die
Genehmigung Brandts für die laufenden Vorbereitungen des BND für den
Spannungsfall, etwa die getarnte Unterbringung von Fernmeldeeinrichtungen
und Meldeköpfen in West-Berlin. Brandt bat im Gegenzug um einen besonders
abgeschirmten Besuch in der Pullacher Zentrale, der am 9. November 1960
stattfand.277 Als Fritz Erler von dem Erkundungsauftrag des Kanzlers gegen
Brandt erfuhr und protestierte, bemühte sich Gehlen, abzuwiegeln. Über sein
Gespräch mit Erler informierte er Globke,278 sodass Adenauer auf diesem Wege
erfahren haben dürfte, dass der BND vermeiden musste, mit seinen möglichen
Ermittlungen ins Zwielicht zu geraten.
Besonders absurd in der Besprechung mit Gehlen war Adenauers Hinweis
auf das Institut für Meinungsforschung in Allensbach. Die Inhaberin Frau Neu­
mann sei Kommunistin. Adenauer wollte deshalb Näheres über das Institut
wissen. Hier handelte es sich freilich schlicht um eine Namensverwechslung.
Elisabeth Noelle-Neumann war eine treue Stütze der CDU-Politik.
Dann ging Adenauer kurz auf den Militärputsch in der Türkei ein. Vier
Wochen zuvor hatte die Armee die Macht übernommen und Ministerpräsi­
dent Adnan Menderes hingerichtet. Ihm sei die Rolle der türkischen Armee
in der Vergangenheit immer als gut und zuverlässig dargestellt worden. Jetzt

277 Schreiben Gehlens an Globke betr. des Besuchs von Brandt, 7.11.1960, BND-Archiv,
1163. In den Erinnerungen Brandts findet sich dazu keine Bemerkung.
278 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 10.1.1961, BND-Archiv, 1163/2,
Blatt 9.

999
sei der Putsch erfolgt. Adenauer fragte Gehlen, ob er denn die Bundeswehr als
zuverlässig einschätze. Die Hinrichtung seines türkischen Amtskollegen gab
ihm offenbar zu denken. Was sollte Gehlen in dieser Situation auf die Frage
antworten? Er äußerte sich zurückhaltend, aber positiv und mit dem Verweis
auf die Geschichte, wonach noch keine Revolution von den Soldaten gemacht
worden sei – was nicht stimmte und Adenauer aus eigener Erfahrung besser
wusste.
Im Herbst 1960 ließ Gehlen eine weitere Aktion zur Gegenpropaganda
anlaufen. Ein Überläufer aus der NVA, Hauptmann Günter A. Malikowski,
sollte auch unter Einschaltung einer SPD-Zeitung als Mahner vor der Aufrüs­
tung der »Ostzone« groß herausgestellt werden. Die Sache entwickelte sich
freilich nicht erfreulich, denn insbesondere die britische Presse reagierte, so
meinte Globke, ausgesprochen bösartig und stellte die Zahlen über die Stärke
der NVA als übertrieben hin. Er bat daraufhin darum, dass Gehlen ihm eine
realistische Zusammenstellung über die Stärke der verschiedenen bewaffne­
ten Organe der »Ostzone« vorlegte.279
Die DDR revanchierte sich mit einem weiteren Pamphlet von Julius Mader,
in dem unter dem Titel Die graue Hand die angeblich finsteren Machenschaf­
ten des BND angeprangert wurden. Was Gehlen später in seinen Memoiren
als perfide Verleumdungen anprangerte,280 hat ihm Ende 1960 vielleicht sogar
geschmeichelt, denn es stärkte seinen Nimbus als erfolgreichen Feind des
Kommunismus – wenn nicht die peinlichen Vorwürfe der NS-Verstrickung sei­
nes Dienstes gewesen wären. Auch wenn Gehlen nicht völlig unempfindlich
gegen entsprechende Angriffe, vor allem in der westlichen Presse, gewesen ist,
so unterließ er es doch zugleich, die eigenen Reihen in Pullach von ehemali­
gen Partei- und SS-Angehörigen gründlich zu säubern. Erst drei Jahre später
begann unter starkem politischen Druck mit der Einrichtung der Organisa­
tionseinheit 85 eine entsprechende interne Überprüfung.281
Auch wenn ihm durchaus bewusst gewesen sein dürfte, dass sein Dienst
damit dem östlichen Gegner sowie westlichen Kritikern eine offene Flanke bot,
bedurfte es stärkerer Impulse zum Handeln. Vermutlich war Gehlen auch nicht
sonderlich alarmiert, als im Mai 1960 der israelische Geheimdienst den Orga­
nisator des Holocaust, Adolf Eichmann, aus Buenos Aires entführte und Israel
ihn in Jerusalem vor Gericht stellte. Das Kanzleramt hingegen trieb die Sorge
um, dass dieser Prozess negative Auswirkungen auf das Ansehen der Bundes­

279 Vermerk über die Besprechung mit Ministerialdirektor Dr. Mercker, 7.10.1960, BND-
Archiv, 1163, und Aktennotiz über die Besprechung Gehlens mit Globke, 26.10.1960,
ebd.
280 Siehe Gehlen, Der Dienst, S. 219.
281 Siehe Nowack, Sicherheitsrisiko, S. 96 -166.

1000
republik haben könnte, denn Globke selbst geriet sehr schnell in die Schussli­
nie der Presse. Eichmanns Verteidiger, so hieß es, werde von Globke mit einem
fürstlichen Honorar bezahlt, was dieser in einem Gespräch mit Gehlen bestritt.
Globke beauftragte den »Doktor«, Erkundigungen über den Rechtsanwalt ein­
zuziehen.282 Dem Intimus Adenauers bereiteten schon die Vorbereitungen des
Eichmann-Prozesses große Sorgen, denn abgesehen von seiner eigenen Ver­
strickung in die Innenpolitik des NS-Regimes war nicht absehbar, was alles in
Jerusalem zur Sprache kommen würde. Er bat deshalb Gehlen darum, mög­
lichst über eigene Verbindungen rechtzeitig Informationen einzuholen.283
Dabei handelte es sich vor allem um die Frage, ob Eichmann bei der Befra­
gung durch die Israelis bejahen würde, dass er Globke gekannt habe. Noch war
das nicht der Fall, aber Globke stand unter dem Druck entsprechender öffent­
licher Behauptungen.284 Sie gingen auf Max Merten zurück, der als Kriegsver­
waltungsrat während des Krieges in die Deportation von 56.000 griechischen
Juden nach Auschwitz involviert gewesen war. Trotz der Verurteilung zu einer
langjährigen Haftstrafe hatte man ihn aus Griechenland nach kurzer Zeit
abgeschoben. Er hatte sich dann mit der Behauptung an die deutsche Justiz
gewandt, eine von ihm während des Krieges geplante Abschiebung griechi­
scher Juden nach Palästina sei von Eichmann bewilligt gewesen, aber damals
am Widerstand von Globke gescheitert.285 Wie sich bald herausstellte, war
die Behauptung frei erfunden, belastete aber zunächst Globkes Ansehen und
brachte ihn wider Willen in Verbindung mit Eichmann, sodass er sich hilfesu­
chend an Gehlen wandte. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen
zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg interes­
siere sich zwar für den Fall, erklärte der Chef des Kanzleramts. Aber Ludwigs­
burg könne nicht viel machen, weil am Wohnort West-Berlin gegen Merten
aufgrund des von den Griechen überreichten Materials ermittelt werde.286 Der
»Doktor« zögerte nicht mit seinem Angebot, die Berliner Presse immer wieder
mit dem Ausdruck »Der Fall Merten« für den Mann zu interessieren. Merten
sei »ostgesteuert«, wie Material beim bayerischen LfV beweise. Globke zeigte
sich erleichtert und bat das Material gegen Merten zu übergeben. Sollte man
den stellvertretenden Vorsitzenden des Verbandes ausländischer Journalisten
in Deutschland ausweisen, weil er sich sehr im Sinne von Merten einsetze? Das

282 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 26.10.1960, BND-Archiv, 1163.
283 Vortrag Weiß bei Gehlen, 15.1.1961, BND-Archiv, N 10/8.
284 Ein unbedeutender Mann, Spiegel 8/1961 vom 15.2.
285 Erik Lommatzsch, Hans Globke (1898-1973). Beamter im Dritten Reich und Staatsse­
kretär Adenauers, Frankfurt a. M. 2009, S. 318-319.
286 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen-Globke, 15.2.1961, BND-Archiv, 1163/2,
Blatt 17-19.

1001
würde aber wohl den gesamten Journalismus gegen ihn, Globke, aufbringen.
Gegen den als Nazijäger bekannten Simon Wiesenthal aus Wien, der sich zu
dieser Zeit in Israel aufhielt und angeblich über enge Beziehungen zum israe­
lischen Nachrichtendienst verfügte, waren hingegen weitere Erkenntnisse
»dringend« erwünscht.287
Über eine von Gehlen mitgebrachte Meldung, dass der Osten eine Propa­
gandakampagne gegen den Bundeskanzler beabsichtige, erregte sich Globke
offenbar weniger, zumal Gehlen nicht den Hinweis versäumte, der Quellen­
schutz erfordere in diesem Falle eine äußerst vorsichtige Behandlung. Der
Schutz Adenauers hatte natürlich für beide Herren dennoch hohe Priorität,
denn ihre eigene Position hing davon ab. Eine Meldung, dass die tschechi­
sche Militärmission in Berlin eine Fotografie anbiete, die Willy Brandt nach
dem Krieg in norwegischer Uniform bei seiner Hochzeit zeige, sei ganz sicher
eine Fälschung, wie Globke sofort vermutete, und eine politische Falle für die
CDU. Da dürfte es ihn beruhigt haben, dass Gehlen eine weitere Meldung mit­
gebracht hatte, wonach auch gegen Brandt von östlicher Seite Propaganda
geplant sei. Die SED wollte seine Stellung als Regierender Bürgermeister
in West-Berlin unterminieren, selbst wenn das bei den Bundestagswahlen
zugunsten Adenauers ausschlagen sollte.288
Dass die östliche Propaganda den Eichmann-Prozess weidlich nutzte, um
das internationale Ansehen der Bundesrepublik zu schädigen und so das
Bemühen um die Anerkennung der DDR voranzubringen, gab Anlass genug,
aktiv zu werden, auch wenn damit der Eindruck riskiert wurde, man wolle das
Ausmaß der deutschen Schuld verbergen und die Täter in Schutz nehmen.
Umso günstiger schien es, unverdächtige Unterstützer zu gewinnen. Gehlen
ließ eine Studie über die propagandistische Ausnutzung des Eichmann-Pro­
zesses durch den Osten verfassen und legte sie nicht nur Globke, sondern auch
Dulles vor, der eine sehr positive Aufnahme signalisierte. Das Material werde
innerhalb der Regierung ausgewertet, ließ der CIA-Chef verlauten. Er werde
prüfen, ob auch eine Verwendung in der Öffentlichkeit möglich sei, und wolle
versuchen, das Magazin Life zu veranlassen, nach bisher zwei negativen Arti­
keln einen dritten, positiven zu bringen, der die Bundesrepublik als Opfer einer
böswilligen Verleumdung darstellen sollte.289
Dulles ließ kurz darauf durchblicken, dass angesichts der Lage in Israel eine
amerikanische Stellungnahme zugunsten von Globke nicht angebracht wäre,
was diesen darin bestärkte, vorerst nicht selbst an Personen heranzutreten,

287 Vortrag Weiß bei Gehlen, 17.2.1961, BND-Archiv, N 10/8.


288 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 15.2.1961, BND-Archiv, 1163/2,
Blatt 19.
289 Schreiben Gehlens an Globke, 27.2.1961, ebd., Blatt 28.

1002
die für ihn aussagen könnten.290 Die Bundesregierung hatte nicht die Absicht,
einen offiziellen Beobachter zum Eichmann-Prozess zu entsenden, weil sonst
auch die DDR den gleichen Anspruch erheben würde. Bundesaußenminister
Brentano verfolgte die Absicht, den Wiesbadener Rechtsanwalt Gerhard von
Preuschen als privaten Berichterstatter zu entsenden. Gehlen hatte von sich
aus den US-Generalmajor Julius Klein eingeschaltet, ehemaliger Kriegsheld im
Pazifikkrieg, dann Schöpfer der ersten Public-Relations-Abteilung im Kriegs­
ministerium und schließlich seit Jahren eine Art von »Schattenbotschafter«
der Bundesrepublik in den USA. »Werbegeneral« Klein291 hatte erst kürzlich
das erste Zusammentreffen Adenauers mit dem israelischen Ministerpräsident
Ben-Gurion vermittelt und stand seit Langem auch mit Gehlen in Verbindung.
Klein machte den Vorschlag, den ehemaligen Strafverteidiger im Nürnber­
ger Prozess Dr. Horst Pelckmann als Beobachter zu entsenden. Gehlen sagte
seine Unterstützung zu, die Kandidaten des Kanzlers und des Außenministers
überprüfen zu lassen.292 Preuschen machte das Rennen und durfte mit Zustim­
mung von Ben-Gurion als inoffizieller Beauftragter der Bundesregierung beim
Eichmann-Prozess anwesend sein.293
Globke verfolgte parallel dazu die immer wieder laut werdenden Vorwürfe,
die ihn selbst betrafen, sehr genau. Als ihm die BND-Meldung vorgetragen
wurde, dass im Hamburger Echo der Vorwurf erhoben wurde, Globke habe
1938 als Vertreter des Reichsinnenministeriums den Vorschlag gemacht, die
Pässe deutscher Juden mit einem roten J zu kennzeichnen, was eine Sonder­
verbindung des BND (ein ehemaliger hoher SS-Führer) bestätigt habe, winkte
Globke ab. Ihm war der Artikel schon bekannt.294 Aus der Sicht Gehlens war
der Abwehrkampf gegen Vorwürfe von antifaschistischer Seite, die führende
Persönlichkeiten der Bundesrepublik betrafen, Teil eines propagandistischen
Mehrfrontenkrieges, den der Kommunismus mit großer Hartnäckigkeit führte.
Hier war er dankbar für jeden Verbündeten wie den »Werbegeneral« Klein, der
ihn einmal dringend sprechen wollte, weil ein vom Osten gesteuertes Anti-
Adolf-Heusinger-Komitee mit der Behauptung an die Öffentlichkeit treten
wollte, der neu berufene Vorsitzende des Militärausschusses, der obersten

290 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke, 10.3.1961, ebd., Blatt 29-30.
291 So die Bezeichnung im Spiegel 15/1963, S. 72.
292 Vortrag Weiß bei Gehlen am 20. und 23.3.1961, BND-Archiv, N 10/8.
293 Adenauer dankt Ben-Gurion am Beginn des Eichmann-Prozesses, Frankfurter Allge­
meine Zeitung vom 11.4.1961.
294 Notiz vom 15.3.1961, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 32. Die Vorwürfe erwiesen sich als
falsch. Der Vorschlag ging auf eine Initiative der Schweizer Regierung zurück. Globke
hatte sich vergeblich für eine andere Lösung eingesetzt; siehe Lommatzsch, Globke,
S. 77-78.

1003
militärischen Instanz, der NATO in Washington habe nach dem 20. Juli 1944
ein falsches Spiel betrieben.295 Gehlen behielt zum Beispiel auch die Griechen
im Blick und beabsichtigte, die Gründung einer antikommunistischen Zeitung
im Land zu unterstützen. Ministerialdirektor Vialon vom Kanzleramt lehnte
die Idee als nicht genügend fundiert ab. Gehlen stimmte zu, es sei wohl bes­
ser, die infrage kommenden Kreise in Griechenland auf dem Weg der Entwick­
lungshilfe bei ganz fest umrissenen Planungen zu unterstützen.296
Die antifaschistischen Kampagnen trafen hauptsächlich die Bundesrepu­
blik, und hier engagierte sich Gehlen mit seinen Möglichkeiten im Interesse
des deutschen Staatswohls, wie er es verstand, und im Auftrag der Bundes­
regierung. Mit der Unterstützung des Auslands, insbesondere der amerikani­
schen Verbündeten, war also nicht zu rechnen, wohl aber mit ihrem Verständ­
nis, dass es sich um einen speziellen Frontabschnitt der kommunistischen
Propaganda und Unterwanderung handelte. So war Gehlen bei Dulles auf gro­
ßes Interesse gestoßen, als er Ende 1960 ein groß angelegtes Projekt zur Grün­
dung einer internationalen University of Human Rights vorstellte. Es sollte ein
Gegenzug privater westdeutscher Kreise zu der kürzlich erfolgten Gründung
der Moskauer Freundschafts-Universität sein.297 Um den geistigen Angriffen
des Weltkommunismus zu begegnen, so die Begründung, wollten die Sponso­
ren in gemeinsamer Anstrengung aller führenden antikommunistischen Län­
der eine erfolgreiche Gegenoffensive starten. Das Projekt wurde als Kampf um
die Jugend verstanden.
Die geplante Universität sollte ein philosophisch-anthropologisches Cur­
riculum haben, sich aber auch praktischen politisch-administrativen Proble­
men zuwenden, getragen von einer internationalen Stiftung, an einem Ort in
einem der kleineren europäischen Länder. Die Studenten sollten Stipendien
erhalten und von den besten Akademikern der nichtkommunistischen Länder
unterrichtet werden. Dabei dachte Gehlen auch an seinen Cousin Arnold Geh­
len, der gerade mit seiner Bewerbung um den Lehrstuhl für Soziologie an der
Universität Heidelberg gescheitert war.298 Doch Arnold lehnte ab, weil er die
marxistische Dialektik für überholt hielt. Gehlen wollte Dulles auf die Bestre­
bungen zur Gründung einer eigenen Universität aufmerksam machen, viel­
leicht gebe es aber auch bereits ähnliche Überlegungen in den USA. Finanzielle
Unterstützung aus deutschen Industriekreisen sei zugesagt. Er selbst wolle die

295 Vermerk über einen Vortrag bei Globke, 25.10.1961, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 69.
296 Vermerk über den Vortrag Gehlens bei Ministerialdirektor Vialon, 25.10.1961, ebd.,
Blatt 73.
297 Schreiben Gehlens an Dulles, 30.12.1960, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 2_10F3, S. 132.
298 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 30.11.1971, IfZ, ED 100-69-117.

1004
Bestrebungen aber nur dann unterstützen, wenn Dulles keine grundlegenden
Bedenken habe.
Dulles stimmte der Idee grundsätzlich zu, schlug aber vor, eine solche Insti­
tution nicht in einem kleineren europäischen Staat wie etwa den Niederlanden
einzurichten, sondern in Verbindung mit der West-Berliner Freien Universi­
tät. Der Plan müsste sorgfältig vorbereitet werden und dürfe nicht als gezielte
Provokation angelegt sein, um keine kommunistische Gegenpropaganda auf
sich zu ziehen. Eine internationale Fakultät in West-Berlin könnte zugleich
abschreckend gegen böswillige sowjetische Aktivitäten gegen Berlin wirken.
Wegen der Verwundbarkeit West-Berlins stelle die kommunistische Unterwan­
derung eine große Herausforderung dar. Eine erste Anstrengung in Berlin ließe
deshalb größere Resultate als an einem kleineren Ort erwarten. Wenn Gehlen
daran Interesse hätte, dass der US-Präsident das Vorhaben unterstützt, könnte
man ernsthaft daran denken, amerikanische Gastprofessoren zu gewinnen.299
Und Dulles lud ihn zu einem erneuten Besuch in den USA ein.
Die ungelöste Berlinkrise und die schwierige außenpolitische Situation der
Bundesrepublik förderten die Nervosität in Regierungskreisen. Der hitzige
Bundestagswahlkampf mit der scharfen Anti-Brandt-Kampagne der Kanzler­
partei erregte die Gemüter. Dagegen hatten die Vorwürfe gegen Globke das
Potenzial, die Wahlkampfstrategie der CDU zu durchkreuzen. Der Spiegel
berichtete von Überlegungen, Globke zum Rücktritt zu veranlassen. Angeb­
lich hegte der Staatssekretär trotz aller Dementis die Absicht, aus dem Dienst
auszuscheiden. Trotz seiner »Freude am Aktenhandwerk« sei Globke amts­
müde. Starke Kreislaufbeschwerden und die politischen Anwürfe hätten sei­
nen Durchhaltewillen erschüttert.300
Auch wenn der 85-jährige Konrad Adenauer die nächste Bundestagswahl
noch einmal gewinnen sollte, neigte sich seine Kanzlerschaft zweifellos dem
Ende zu. Doch Gehlen konnte davon ausgehen, dass er selbst politisch fest im
Sattel saß und Globke samt Kanzleramt auch bei einem Kanzlerwechsel an
seiner Seite haben würde. Es schien aber ratsam, die eigene Position rechtzei­
tig zu arrondieren. So drängte Gehlen darauf, seine alte Forderung nach einer
Koordinierung aller nachrichtendienstlichen Verbindungen mit ausländischen
Diensten durch den BND umzusetzen und so auf diesem Felde das BfV aus dem
Felde zu schlagen.301 Auch bei der Fernmeldeaufklärung sah Gehlen Hand­

299 Schreiben von Dulles an Gehlen, 24.1.1961, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 2_10F3, S. 130-131. Aus dem Universitätsprojekt Gehlens wurde
nichts. Amerikanische Gastdozenten traten auch in West-Berlin in verschiedenen Ein­
richtungen auf, so zum Beispiel seit 1957 im Amerika-Haus.
300 Ein unbedeutender Mann, Spiegel 8/1961 vom 15.2.
301 Vermerk über die Besprechung Gehlen – Mercker, 4.1.1961, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 7.

1005
lungsbedarf. Er habe durch CIA-Vertreter gehört, dass NATO-Organe zu einer
Besprechung ins Bonner Verteidigungsministerium eingeladen hätten. SHAPE
erhalte die Ergebnisse der deutschen Fernmeldeaufklärung immer nur verspä­
tet und nur unvollständig und wolle Verbindungsorgane darin einbauen. Diese
Absicht stehe aber nicht im Einklang mit den Interessen der CIA. Deshalb sei
es notwendig, dass der BND bei der Besprechung vertreten sei und den Vorsitz
führe. Gehlen versprach, bei der Veranstaltung die Anregungen von SHAPE ver­
ständnisvoll entgegenzunehmen, Zusagen vorerst zu vermeiden und zunächst
den Bundeskanzler entscheiden zu lassen.302 Selbst die Zusammenarbeit mit
dem G-2-Dienst der Bundeswehr, die das eigentliche Kerngeschäft des BND
betraf, war noch immer nicht verbindlich geregelt. Globke sagte zu, die Sache
bald zu erledigen.
Gehlen revanchierte sich mit der Zusage, für Globkes geplanten Besuch in
Lissabon das Quartier zu besorgen. Und er machte dezent darauf aufmerk­
sam, welchen Beitrag der BND für die Arbeit der Bundesdienststellen leistete.
Nahezu alle 17 Bundesministerien würden fast täglich Anfragen, häufig zu
Personen, aber auch zum Beispiel zur Wirtschaft des Auslands, an den BND
richten, pro Woche insgesamt bis zu 3000. Über das Amt für Sicherheit der
Bundeswehr (ab 1984 Militärischer Abschirmdienst MAD) würden täglich
400 Karteiauskünfte erteilt.303 Seit Jahren wurde um den Status des BND in der
Ministerialbürokratie gerungen, und so nutzte Gehlen die Gelegenheit, wieder
einmal seine Bitte vorzutragen, ihn als Präsidenten des BND ins Kanzleramt
einzubauen, was auf seine Ernennung zum Staatssekretär hinauslaufen wür­
de.304 Doch daran konnte dem Staatssekretär Globke nicht gelegen sein, für
den es sicher angenehmer war, sich von Gehlen zuarbeiten zu lassen.
Und Gehlen lieferte. Besondere Aufmerksamkeit fand sicher die Vorlage
eines Berichts über ein Gespräch des stellvertretenden Vorsitzenden des
Ministerrats der DDR, Bruno Leuschner, mit Chruschtschow. Darin verstän­
digten sich beide Seiten darauf, den Aufbau des Sozialismus nicht durch
einen dritten Weltkrieg gefährden zu lassen. Die USA und die BRD könnten
sich in den nächsten zwanzig Jahren ohnehin dem Sozialismus zuwenden.305
Das bestärkte Gehlen in seiner Einschätzung, dass die größere Gefahr nicht
in einer unmittelbar bevorstehenden militärischen Konfrontation bestand,
sondern in der schleichenden Infiltration der westlichen Welt durch den

302 Vermerk über die Besprechung Gehlen – Globke am 31.1.1961, ebd., Blatt 38. Globke
unterzeichnete wenige Tage später zumindest die von Gehlen vorgelegten Sicherheits­
bestimmungen für die Fernmeldeaufklärung, Vermerk vom 15.2.1961, ebd.
303 Aufstellung vom 6.1.1961, ebd., Blatt 3-6, hier Blatt 5.
304 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen – Globke am 10.1.1961, ebd., Blatt 9.
305 Schreiben Gehlens an Globke vom 20.2.1961, ebd., Blatt 20-27.

1006
Kommunismus, der man nur durch eine Politik der Stärke und konsequenten
Gegenaktionen begegnen könne. Darin sah er auch die Begründung für die
Ausweitung der BND-Aktivitäten in Afrika. Auch wenn er in der operativen
Umsetzung auf seinen Vertrauten Kurt Weiß setzte, behielt er sich die persön­
liche Unterrichtung Globkes und Adenauers vor. Das betraf speziell die Lage
im Kongo, wo es nach Gehlens Auffassung darauf ankam, eine gemeinsame
westliche Position durchzusetzen. Vor einem halben Jahr war der sozialisti­
sche Premierminister Lumumba wegen seiner Absicht, die reichen Rohstoff­
vorkommen in der Provinz Katanga zu verstaatlichen, im Zuge einer Opera­
tion der CIA gestürzt worden. Er hatte vergeblich in einem Telegramm um
sowjetische Unterstützung gegen die im Kongo stationierte belgische Truppe
gebeten. Nach monatelangen »Kongo-Wirren« war Lumumba Mitte Januar
1961 ermordet worden.306 Beim politischen Neuaufbau könne, so meinte Geh­
len, der BND lediglich im nachrichtendienstlichen Bereich einige Hilfe leisten,
insbesondere durch die Unterstützung antikommunistischer Politiker und
Organisationen vor Ort.307
Erfolge zeichneten sich auch im Nahen Osten ab, wo es der DDR zwar gelang,
in Damaskus ein Konsulat einzurichten, Gehlen aber melden konnte, dass Nas­
ser an der Nichtanerkennung der DDR festhalten wolle. Es sei aber deutlich
zu erkennen, dass »der Osten« weiter daran arbeite, auf einen Abbruch der
diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik hinzuwirken, um den bedeu­
tenden westdeutschen Anteil am Import der Vereinigten Arabischen Republik
an sich zu bringen.308
Die Auftritte Chruschtschows hatten in der deutschen Bevölkerung den
Eindruck verstärkt, dass die sowjetische Politik auf Einschüchterung und
Unterwerfung angelegt war. Im Bundestag herrschte ein breiter Konsens, in
der Deutschland- und Berlinfrage keine Kompromisse hinzunehmen. Die
Opposition von FDP und SPD, die bisher neutralistische Lösungen auf dem
Weg zur Wiedervereinigung für möglich gehalten hatte, vollzog die öffentli­
che Kehrtwendung. Herbert Wehner, bislang Vorkämpfer für die Suche nach
einem dritten Weg zwischen Ost und West, bekannte sich am 30. Juni 1960 im
Bundestag zum europäischen und atlantischen Vertragssystem sowie zur Lan­
desverteidigung – ein Anlass offenbar für Gehlen, Wehner persönlich kennen­
lernen zu wollen und ihm schon einmal eine Zigarrenkiste »unserer besten
Hausmarke« über Erler zum Weihnachtsfest zuzusenden.309

306 Siehe Emmanuel Gerard und Bruce Kuklick: Death in the Congo. Murdering Patrice
Lumumba, Cambridge/Mass. 2015.
307 Besprechung Weiß – Gehlen am 24.2.1961, BND-Archiv, N 10/8.
308 Fernschreiben aus Kairo, 19.5.1961, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 40.
309 Dülffer, Krise, Schlussbetrachtung.

1007
Regierung und Opposition wetteiferten darum, im Wahlkampf 1961 die
neue US-Administration John F. Kennedys auf ihre Seite zu bekommen. Es
schien geboten, die Verteidigung der freien Welt neu zu organisieren. Vor allem
der französische Staatspräsident de Gaulle wurde nicht müde, Konsequenzen
aus der veränderten Weltlage zu ziehen. Er setzte auf eine engere deutsch­
französische Zusammenarbeit, was die Versuchung bedeutete, die Neuord­
nung Europas ohne die USA durchzuführen. In seinem eigenen Weltbild geriet
Gehlen damit sinnbildlich zwischen zwei Stühle. Als Befürworter enger Bezie­
hungen zu Frankreich lag ihm dennoch daran, die Allianz mit den USA nicht zu
gefährden. Meldungen über einen Stimmungsumschwung in den USA, wo man
ein größeres Entgegenkommen der Bundesrepublik in der Berlinfrage erwar­
tete, sorgten nicht nur bei Gehlen für Beunruhigung.310
Das Wirken hinter den Bonner Kulissen nahm Reinhard Gehlen so sehr in
Anspruch, dass er kaum noch richtig wahrnahm, welche internen Spannungen
und Probleme sich im Dienst entwickelten. Seine engsten Mitarbeiter sahen
den »Doktor« immer seltener. Auch wenn sie es gewohnt waren, ihre Aufgaben
mit einem hohen Maß an Selbstständigkeit zu verrichten, so ging ihnen doch
das Verständnis für die Interessen der obersten Führung hin und wieder verlo­
ren. Siegfried Graber, einer von der alten Garde der Frontaufklärer Bauns, seit
1958 in der operativen Beschaffung und mit der Betreuung der ukrainischen
Bandera-Bewegung betraut, geriet mit Gehlen in einen Disput und wurde von
ihm auf eine eigens geschaffene Außenstelle des Strategischen Dienstes ver­
setzt, wo er sich mit »Kirche und Vatikan« beschäftigen sollte.311
Heinz Danko Herre stand Gehlen besonders nahe, und doch glaubte er,
seinen Chef mit einem persönlichen Schreiben ansprechen zu müssen.312 Er
habe ihn jetzt an zwei Abenden sprechen können und fühle sich sehr bedrückt.
Denn es verstärke sich bei ihm das Gefühl, dass er Gehlens Gedanken nicht
mehr kenne. Natürlich könne es nicht mehr so sein wie vor einem Jahrzehnt,
aber in seiner jetzigen Position, in die er von Gehlen gesetzt worden sei (Füh­
rungsbeauftragter operative Meldungsbeschaffung), sollte er doch von Zeit
zu Zeit dessen wichtigste Leitgedanken zu den Hauptproblemen des Zeitge­
schehens erfahren. Das sei auch deshalb nötig, damit er gegenüber seinen
unterstellten Herren Gehlens Gedanken vertreten und eine Einheitlichkeit des
Denkens im Führungsbereich erzielen könne. Auch wolle er davor bewahrt
bleiben, in Gesprächen mit Sonderverbindungen und Vertretern befreundeter
Dienste auf den »falschen Hufschlag« zu geraten. Gehlen habe ihm in den ver­

310 Aktennotiz über den Vortrag Gehlens bei Globke, 13.3.1961, ebd., Blatt 29-30.
311 Erinnerungen von Siegfried Graber zum Jahr 1961, BND-Archiv, N 4/v. 11.
312 Schreiben Herres an Gehlen, 16.1.1961, BND-Archiv, N 2/v.3.

1008
gangenen Jahren und Monaten, wann immer er sich beklagte, dass er zu selten
zum Vortrag bei Gehlen gelange, erwidert: »Sie brauchen keine Führung. Sie
wissen selbst, was Sie zu tun haben.« Das habe er zwar als ehrenhaft empfun­
den, aber nur bezogen auf sein derzeitiges Aufgabenfeld. Ansonsten bittet er
»sehr herzlich« um Gehlens gedankliche Führung. Herres Vorschlag lautete: Er
mache in den letzten Jahren mit seinen Herren gelegentlich einen Spaziergang,
wenn er ihnen in Ruhe und ohne störende Telefonanrufe leitende Gedanken
vermitteln wolle. »Darf ich mich nicht einmal zu einem solchen Spaziergang
bei Ihnen einfinden?« Herre wurde am Jahresende mit der Ernennung zum
Brigadegeneral d. R. getröstet. Im Glückwunschreiben von Seydlitz-Kurzbach,
dem Schwager Gehlens – Spitzname »Winnetou« -, hieß es, Herre habe diese
späte Wiedergutmachung verdient, denn Gehlen hätte sich 1957 in Sachen Per­
sonalgutachterausschuss der Bundeswehr unbedingt vor ihn stellen müssen.
Die außenpolitischen Spannungen im Verhältnis zu den USA gaben Geh­
lens persönlichen Kontakten zu seinem früheren Arbeitgeber besonderes
Gewicht. Critchfield hatte sich Anfang 1961 als neuer Nahostbeauftragter der
CIA gemeldet und darum gebeten, ihm – für den Krisenfall – Verbindungen
und Residenten des BND in Nahost und Nordafrika zu benennen.313 Solche
heiklen Auskünfte konnte nur Gehlen genehmigen, und es dürfte ihm schwer­
gefallen sein, der Bitte nachzugeben.314 Umso dankbarer war man in Washing­
ton. Dulles lud Gehlen erneut ein, nach längerer Zeit wieder einmal in die USA
zu kommen. Gehlen nahm angesichts der vielfältigen Probleme die Einladung
an, natürlich nicht ohne sich zuvor bei Globke mit einem kurzen Vortrag abzu­
melden.315
Die dreiwöchige Reise im April und Mai 1961 wurde von amerikanischer
Seite intensiv vorbereitet.316 Sie fand parallel zu dem gescheiterten Invasions­
versuch von Exilkubanern in der Schweinebucht auf Kuba statt. Das Desaster
der CIA, die die Invasion unterstützt hatte, führte zu einer öffentlichen Absage
Kennedys an Geheimoperationen, aber auch zur Bekräftigung der antikom­
munistischen Ausrichtung seiner Regierung. Mit Genugtuung dürfte Gehlen
Kennedys Warnung vor einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus ver­

313 Besprechung Weiß mit Mr. Feldheimer, 23.2.1961, BND-Archiv, N 10/8.


314 Critchfield scheint die gewünschten internen Informationen erhalten zu haben, denn
er bedankte sich in einem Schreiben an »Dr. Schneider« vom 1.6.1961 (NA Washing­
ton, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen, vol 3_10F2, S. 155) für die langjährige enge
Zusammenarbeit, die jetzt durch seine Versetzung zur Far East Division unterbrochen
werde. Seine Hoffnung, später zur Eastern Europe Division zurückkehren und sich dann
wieder mit den deutschen Fragen befassen zu können, ging nicht in Erfüllung.
315 Schreiben Gehlens an Globke vom 12.4.1961, VS-Registratur Bka, 15100(64), Bd. 2.
316 Memo Gordon Stewarts vom 24.4.1961 mit dem Reiseprogramm Gehlens, NA Washing­
ton, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2, S. 135-136.

1009
nommen haben. Er reiste mit seinem persönlichen Referenten Oberstleutnant
i. G. Klaus Eschenburg, Herre als Operationschef, seinem Sicherheitschef und
Kühlein als seinem Washingtoner Residenten an. Sie trafen unter anderen mit
Gordon Stewart, Richard Helms (Chief of Operations) und Dulles zusammen.
Die zwei Hauptthemen waren zum einen die Aufklärungsziele in der UdSSR
(militärisch, wissenschaftlich, technologisch) und die Ermutigung, die deut­
sche Zivilgesellschaft (Geschäftsleute, Wissenschaftler etc.) für die Aufklä­
rung dort einzusetzen, und zum anderen die Aufklärungs- und politischen
Aktionsziele in Afrika sowie im Nahen Osten, mit der Betonung, dass man in
bestimmten Fällen direkt zusammenarbeiten sollte.
Als Gast von Dulles bei einem Dinner im Alibi Club sowie bei zwei kurzen
Gesprächsrunden standen nach der Auflistung von Stewart, dem zuständigen
Chief Eastern Europe Division, folgende Themen an:
1. Das 1965 auslaufende Aufbauprogramm für den BND werde den deut­
schen Dienst zu einem der stärksten Nachrichtendienste in der westlichen
Welt machen.
2. Es bestehe weiterhin Bedarf an militärischen Informationen über den
sowjetisch-chinesischen Block. Die US Army in Westdeutschland habe kürz­
lich ihre besondere Zufriedenheit über die militärische Berichterstattung aus
Pullach ausgedrückt. Dies bleibe eine der nützlichsten und wertvollsten Auf­
gaben, die der deutsche Dienst wahrnehme. Sie verdiene deshalb »our whole-
hearted support«.
3. Es sei wichtig, dass die Deutschen gemeinsam mit den Amerikanern das
zivile Leben in West-Berlin fördern und stabilisieren. Der CIA erwarte weiter­
hin frühzeitige Warnungen höchst genauer und detaillierter Art vor geplanten
sowjetischen oder ostdeutschen Aktionen gegen die Bevölkerung und die Ver­
bindungswege nach West-Berlin.
4. Die CIA habe Interesse an Operationen des BND in Nahost und Afrika.
Man glaube, dass die Bundesrepublik als Macht ohne koloniale Vergangen­
heit317 einen nützlichen Beitrag dabei leisten könne, unterentwickelte Länder
zu unterstützen.
5. Gehlen werde dankbar sein zu hören, dass Dulles zu den Krisenpunkten
(Kuba, Laos, Vietnam und Kongo) ähnlich wie er denke.
6. Gehlen werde geschmeichelt sein, wenn er seine Einschätzung des Eich­
mann-Prozesses mitteilen könne.
7. Es wäre nützlich zu hören, was er inzwischen mit dem Projekt einer Uni­
versität für Menschenrechte erreicht habe.

317 Das reichlich kleine Kolonialreich des deutschen Kaiserreichs war nach dem Ersten
Weltkrieg durch den Versailler Vertrag in die Hände der Siegermächte übergegangen.

1010
8. Man sollte Gehlen ausdrücklich dafür danken, dass sich der BND bei der
Auswertung des Absturzes einer sowjetischen IL 18 in Bayern so kooperativ
verhalten habe.318
9. Der Sicherheitsoffizier in Gehlens Begleitung werde eine Woche lang ein­
gehende Gespräche mit der amerikanischen Seite führen. Das betreffe einen
hochrangigen Überläufer des polnischen Nachrichtendienstes, den man gerade
im Hinblick auf eine mögliche feindliche Penetration des BND vernehme. Es sei
keine Angelegenheit, bei der man gegenüber Gehlen in die Tiefe gehen, son­
dern ihm lediglich mitteilen sollte, dass man sich über seinen entschlossenen
Einsatz gegen dieses Sicherheitsrisiko gefreut habe. Gehlen schätze es, dass die
CIA ihre Spuren übergeben habe und ihn mit Daten unterstütze.
Der Fall Felfe, der sich übers Jahr zur größten Katastrophe in seiner Lauf­
bahn als Präsident des BND entwickeln sollte, warf also seine Schatten voraus.
Ein weiterer Hinweis auf die bevorstehende »Götterdämmerung« des Reinhard
Gehlen findet sich in der mit großer Schärfe vorgetragenen Aufforderung von
Dr. Hertel, dem Präsidenten des Bundesrechnungshofes, das Kanzleramt möge
sich mehr um den BND kümmern.319 Hertel, den Gehlen im Zuge der Aufstel­
lung des BND für seine besonderen Belange gewonnen zu haben glaubte, fühlte
sich durch die in Pullach betriebene Haushaltspolitik zum Handeln gedrängt.
Er löste damit eine Lawine aus, die Gehlen nicht rechtzeitig erkannte bzw.
falsch einschätzte. Dieser glaubte vermutlich, nach allen Seiten abgesichert zu
sein und sich des allgemeinen Wohlwollens, auf das er bei seinen Gesprächen
auf der politischen Bühne traf, erfreuen zu können.
Bei dem vergangenen USA-Besuch war Herre, der den Mangel an Führungs­
impulsen seines Chefs beklagt hatte, in einem intensiven Dialog mit Stewart
über die Politik der CIA informiert worden, durch den Ausbau offener Kon­
takte, zum Beispiel mit der Geschäftswelt, an Informationen zu gelangen, ohne
in Peinlichkeiten zu geraten. Stewart nahm an, dass Westdeutschland in dem
Maße, wie es eine zunehmend wichtige Rolle in der Welt spielte, durch die
Kontakte zu Geschäftsreisenden einen erheblichen Beitrag leisten könnte, die
Fähigkeiten beider Nachrichtendienste zu verbessern. Das Verfahren sei zwar
nicht neu, aber ausbaufähig. Es könnte außerdem dazu beitragen, innerhalb
der Geschäftswelt die Aufgeschlossenheit gegenüber dem BND und die Bereit­

318 Nach dem Absturz einer sowjetischen IL 18, die als Passagier- bzw. Transportflugzeug
genutzt wurde, hatte der BND bei der Abschirmung und technischen Auswertung des
Wracks unauffällige Unterstützung für die Amerikaner geleistet, die an dem Flugzeug­
typ, der 1959 auch an die Rote Armee ausgeliefert worden war, interessiert waren.
319 Bezogen auf den 5. Mai 1961 erwähnt in der Ausarbeitung von Ministerialdirigent Bach­
mann für die Kommission zur Untersuchung von BND-Angelegenheiten, 15.10.1968,
VS-Registratur Bka, Az. 15100-1166/geh., Ordner BK 25.

1011
schaft zu Geheimoperationen zu erhöhen. Stewart bot an, dafür jederzeit mit
seinem Rat zur Verfügung zu stehen.320
Dieses Spiel beherrschte Gehlen inzwischen sehr gut, wobei er sich vor­
behielt, die Kontakte zu hochrangigen Persönlichkeiten selbst zu knüpfen,321
unter denen sich nicht selten ehemalige Generalstabsoffiziere befanden, was
die Gespräche ungemein erleichterte. Die wirtschaftlichen Informationen,
die auf diese Weise zu erlangen waren, dürften ihn nur am Rande interes­
siert haben. Das Prestige, das mit solchen Kontakten verbunden war, reizte
ihn sicher mehr. Von persönlich großem Nutzen waren die Sonderverbindun­
gen, die er in die Presse- und Medienlandschaft knüpfen konnte. Nach seiner
bereits Jahre zurückliegenden Begegnung mit Spiegel-Chef Rudolf Augstein
gelang Gehlen im Sommer 1961 ein weiterer Coup. Nach Vorbereitungen von
Weiß und Worgitzky zeigte Axel Springer, der konservative Pressezar, Interesse
an einem Besuch in Pullach. Den internen Vorschlag, Gerhard Bauch, ehema­
liger BND-Agent in Ägypten, in seiner jetzigen Funktion als Adjutant des ein­
flussreichen Generalbevollmächtigten des Krupp-Konzerns Berthold Beitz als
Vermittler zu Springer einzuschalten, lehnte Gehlen ab.322 Er wird es wohl als
unter seiner Würde betrachtet haben, einen ehemaligen kleinen Angestellten
um eine Art von Gefälligkeit zu bitten.
Der Besuch fand drei Wochen später, Ende Juni 1961, statt. Springer, der
sich in Begleitung des Chefredakteurs der Tageszeitung Die Welt Hans Zeh­
rer befand, zeigte hauptsächlich Interesse an allen Unterrichtungen über die
Entwicklung in der SBZ und zur Lage in Berlin.323 Nach seinem Eindruck seien
viele Berichte in der deutschen Presse allzu kritiklos gegenüber dem Osten.
Springer, der vor drei Jahren mit Zehrer zu einem Besuch in Moskau gewe­
sen und danach von seiner Idee einer gesamtdeutschen Neutralität abgerückt

320 Schreiben Stewarts an Gehlen, 17.7.1961, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 3_10F2, S. 159-160.
321 So hatte er zum Beispiel auch ein intensives Gespräch mit Berthold Beitz, dem Krupp-
Generalbevollmächtigten, vor dessen geplanter Reise nach Ungarn, die dann aber spä­
ter verschoben wurde, siehe Notiz vom 22.1.1962, Tagebuch Weiß, BND-Archiv, N 10/9,
Blatt 431.
322 Besprechung Gehlens mit Weiß und Worgitzky, 5.6.1961, BND-Archiv, N 10/8. Gehlen
wird in der Biografie von Hans-Peter Schwarz: Axel Springer, Berlin 2008, nur an einer
Stelle erwähnt (S. 347). Hier geht es um Warnungen vor einer Abriegelung West-Berlins
im August 1961. Springer habe damals nach Beweisen gesucht, um seinen Verdacht zu
erhärten, »Leisetreter« in Bonn, auch Adenauer, seien in ein abgekartetes Spiel zwi­
schen Russen und Amerikanern verwickelt. Vielleicht diente Springers Besuch in Pul­
lach, der von Schwarz nicht erwähnt wird, dazu, mehr durch ein persönliches Gespräch
mit dem BND-Chef zu erfahren.
323 Eintrag vom 28.6.1961, BND-Archiv, N 10/8.

1012
war, meinte gegenüber Gehlen, dass die sowjetische Position in der Deutsch­
landpolitik überbewertet werde. Chruschtschow sei ein »guter Schauspieler«.
Gehlen meinte, dass es durch das Trauma der deutschen Teilung zu einer
Fehleinschätzung der sowjetischen Mentalität gekommen sei. Die UdSSR
sei – hier sprachen wieder seine eigenen Kriegserfahrungen mit – empfindlich
gegen offensives Verhalten des Gegners. Der BND-Chef erläuterte außerdem
die Bedeutung der sowjetischen Ideologie als Heilslehre. Die Vorgänge und
Entwicklungen in der Sowjetunion seien aber nur aufgrund nüchterner und
realitätsbezogener Erkenntnisse zu beurteilen. Man vereinbarte, dass Springer
künftig über Weiß fortlaufend unterrichtet werden sollte.
Einen Tag später lag intern eine Meldung vor, dass die DDR-Volkspolizei am
Ring um Berlin stärkere Kräfte zusammenzog.324 Man hielt das für eine Bestä­
tigung des Eindrucks, dass die DDR-Regierung ihre angekündigte Regelung
der Berlinfrage umsetzen wolle – also eine politische Maßnahme, um nach
dem Vorbild der Berlinblockade von 1948 Druck auf die Alliierten auszuüben.
In diesem Sinne schätzten auch die Westmächte entsprechende Hinweise auf
Aktivitäten der DDR-Organe ein. Trotz des kürzlich in Washington abgegebe­
nen Versprechens Gehlens war der BND nicht in der Lage, präzise Angaben
zu ermitteln; auch wenn die Lagerung großer Mengen von Baumaterial nicht
zu übersehen war, blieb ihre wahrscheinliche Verwendung offen. Die stark
anschwellende Fluchtwelle, meist gut ausgebildeter Facharbeiter, war geeig­
net, die ökonomische Krise in der DDR zu verschärfen. Fast 50.000 DDR-Bürger
arbeiteten als »Grenzgänger« legal in den Westsektoren Berlins. Moskau hatte
bislang mögliche Sperrmaßnahmen abgelehnt. Auf einer Pressekonferenz am
15. Juni 1961 hatte Ulbricht den vielzitierten Satz gesprochen: »Niemand hat
die Absicht, eine Mauer zu errichten.«
Gehlen, fest davon überzeugt, dass alle wichtigen Entscheidungen von der
sowjetischen Führung getroffen werden und das ostdeutsche Satellitenregime
keinen eigenen politischen Spielraum habe, blieb ahnungslos, als Ulbricht am
3. August bei einem Gespräch mit Chruschtschow in Moskau die Zustimmung
zur »Sicherung der Westgrenze« erhielt, was wenige Tage später auf einer
Tagung der Führungsspitzen des Warschauer Pakts bestätigt wurde. Dass sich
die Situation um Berlin zuspitzte, war längst offensichtlich. Die Außenminis­
ter der drei Westmächte und der Bundesrepublik beschlossen am 7. August in
Paris, Maßnahmen vorzubereiten, um auf eine kritische Lage in Berlin reagie­
ren zu können. Noch immer rechnete man mit polizeilichen Absperrmaßnah­
men, nicht mit dem Bau einer Mauer. Erst nach öffentlichen, wenn auch vagen

324 Dringende Meldung, 29.6.1961, abgedr. in: Mitteilungen der Forschungs- und Arbeits­
gruppe »Geschichte des BND« Nr. 1 vom 1.8.2011, S. 10.

1013
Ankündigungen Chruschtschows und der DDR-Volkskammer zur Grenzsiche­
rung sowie sowjetischen Signalen gegenüber den Westmächten, dass deren
Zugangsrechte nach West-Berlin nicht betroffen seien, lag am 11. August eine
halbwegs zutreffende Meldung eines Informanten aus Ost-Berlin in Pullach
vor.325 Es sei mit einer Abriegelung West-Berlins in den nächsten Tagen zu
rechnen. Wegen des Wochenendes fand sie keine größere Aufmerksamkeit. In
der Nacht zum 13. August begannen die bewaffneten Organe der DDR mit der
dem Bau einer Mauer, die zum Symbol einer sprichwörtlichen Zementierung
der deutschen Teilung werden sollte.
Die politische Schockwelle des Mauerbaus löste wie der Volksaufstand
des 17. Juni 1953 eine hektische Lagefeststellung durch den BND aus. Gehlens
Apparat hatte hier seine eigentliche Stärke und konnte – nachdem die militä­
rischen Aktivitäten des Gegners offen zu erkennen waren – auch für die Alli­
ierten wichtige Informationen liefern. Durch den Mauerbau wurde allerdings
die Möglichkeit des BND, von West-Berlin aus Nachrichten aus der DDR zu
beschaffen, nahezu lahmgelegt. Die DDR-Aufklärung musste völlig neu orga­
nisiert werden. Gehlen selbst befand sich im Hinblick auf die Beurteilung der
politischen Lage in einem gewissen Zwiespalt. Es sickerte nämlich rasch durch,
dass auch der amerikanische und der britische Stadtkommandant in Berlin
spätestens am 12. August mittags Informationen über die geplanten östlichen
Sperrmaßnahmen gehabt hatten. Das Bundeskabinett beschloss, die Infor­
mation geheim zu halten, weil man kritische Reaktionen in der Öffentlichkeit
befürchten musste.326 Eine Aktion hatte zwar gleichsam »in der Luft« gelegen,
doch Bonn war in den Stunden vor Beginn des Mauerbaus ahnungslos gewe­
sen. Hatte der BND versagt oder war die Ahnungslosigkeit der Bundesregie­
rung hilfreich, um denkbare, aber zwangsläufig hilflose Reaktionen in letzter
Minute zu vermeiden? War der Mauerbau zwischen den Siegermächten abge­
sprochen und welche Rolle spielte eigentlich der BND dabei? Gehlen konnte
froh sein, dass solche Fragen nicht auf ihn zukamen. Damit ließ sich zugleich
verbergen, dass Pullach im Fall des Mauerbaus letztlich kläglich versagt hatte.
Das Tagesgeschäft sorgte wie stets für Ablenkung. Neben den dramatischen
Berichten über die Ereignisse um Berlin gingen die erneuten scharfen Angriffe
des britischen Publizisten Sefton Delmer im Sunday Telegraf auf Gehlen und
den BND (»Nazi-Organisation«) nahezu unter.327 Bei der CIA schätzte man den
Artikel als bösartig und verleumderisch ein. Die Behauptungen von Delmer

325 Dringendes Fernschreiben, 11.8.1961, abgedr. ebd., S. 10-11.


326 Notiz des BND aus Bonn über die Sitzung des Kabinetts, 17.8.1961, abgedr. in: Mitteilun­
gen der Forschungs- und Arbeitsgruppe »Geschichte des BND« Nr. 1 vom 1.8.2011, S. 12.
327 Eintrag vom 20.8.1961, BND-Archiv, N 10/8, und NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2, S. 161.

1014
seien vom Hass auf den deutschen Militarismus getragen und kämen der kom­
munistischen Propaganda entgegen. Gehlen werde als cleverer und finsterer
Geselle dargestellt, die Amerikaner als naive Kumpanen.328
Am Tag des Mauerbaus war der KGB-Agent Bogdan N. Staschinski, der zwei
Jahre zuvor in München Stepan Bandera ermordet hatte, nach West-Berlin
geflohen und stellte sich der deutschen Justiz. Die Presseresonanz darauf war
so groß, dass die DDR bald darauf eine andere Person als Mörder Banderas
präsentierte, einen Stefan Lippolz, angeblich Mitarbeiter des BND, der sich
freiwillig der DDR gestellt habe. Die Geschichte war frei erfunden und erregte
in Pullach nur Verwunderung.329
Adenauer, der sich erst spät nach dem Beginn des Mauerbaus entschloss,
einen symbolischen Besuch in Berlin zu machen, um der Bevölkerung den
Rücken zu stärken, sandte Ende September 1961 Gehlen als persönlichen
Geheimemissär zu einem Gespräch mit CIA-Chef Dulles in Washington. Der
Kanzler, der wenige Tage zuvor bei der Bundestagswahl die absolute Mehrheit
von CDU/CSU verloren hatte, war besorgt über Äußerungen von John McCloy,
dem ehemaligen amerikanischen Hohen Kommissar in Deutschland, der als
die einflussreichste Privatperson Amerikas galt. Im Kreis von deutschen Indus­
triellen, speziell gegenüber Fritz Berg, dem Präsidenten des Bundesverbandes
der Deutschen Industrie, hatte McCloy davon gesprochen, dass die Bundes­
republik selbst die Initiative ergreifen sollte, um mit der DDR ins Gespräch zu
kommen, über Berlin und nicht zuletzt die Oder-Neiße-Linie. Gehlen übermit­
telte Dulles als Adenauers Einschätzung, dass man damit Chruschtschow das
geben würde, was dieser wolle, noch bevor richtige Gespräche zwischen dem
Westen und der UdSSR begonnen hätten. Die US-Presse berichtete bereits über
Äußerungen von McCloy, dass die Deutschen bald einige Grundlagenvereinba­
rungen treffen sollten.
Dulles zeigte sich skeptisch zu diesen Äußerungen. McCloy habe keine Auf­
gaben mehr im Hinblick auf Berlin und sei mit der Abrüstungspolitik befasst.
Wenn wichtige Leute in Washington der Meinung wären, die Deutschen soll­
ten die Initiative ergreifen, um die festgefahrenen Berlinverhandlungen wie­
der in Schwung zu bringen, so würden sie das über offizielle Kanäle an Bonn
übermitteln. Von Dulles zur innenpolitischen Situation in Westdeutschland
befragt, betonte Gehlen, dass es die Hauptaufgabe einer neuen Bundesre­
gierung sei, ein Notstandsgesetz durchzubringen. Dessen Zweck sei es, den
militärischen Aufbau durch innere Sicherungen zu ergänzen. Dafür sei eine

328 Memorandum, 26.9.1961, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen


vol2_10F3, S. 170-171.
329 Geschichte des BND, S. 106, BND-Archiv, N 6/3.

1015
Zweidrittelmehrheit im Bundestag notwendig, die der Kanzler notfalls mit
einer Allparteien-Regierung herbeifuhren wolle. Gehlen selbst ging von der
Einschätzung aus, dass der Westen gegenüber den Sowjets in Berlin wahr­
scheinlich einige Zugeständnisse machen müsse, da eine harte Position nicht
möglich sei, weil der Westen nicht kampfbereit sei. Angesprochen auf die Ver­
hältnisse in Frankreich, meinte er, dass die Gefahr einer Volksfrontregierung
nicht mehr bestehe, selbst wenn General de Gaulle zurücktreten müsste.
Dann kam Dulles auf die delikate Rolle des BND vor dem Mauerbau zurück.
Der Chef der CIA sprach deutlich an, dass der BND in einem gewissen Aus­
maß beschädigt worden sei durch seine unzureichenden Berichte im Zusam­
menhang mit der Berlinkrise. Man brauche ein angemessenes Wissen über
politische Hintergründe, das nur durch harte Aufklärung erreichbar sei. Wäh­
rend einer kurzen Aussprache über den Fall Staschinski erläuterte Dulles sein
Zögern, bei einem möglichen illegalen Grenzübertritt des KGB-Mörders zu
helfen, und Gehlen erklärte, dass ihm der Generalbundesanwalt eine solche
Aktion verboten hatte. Deshalb hatte sich Staschinski offen der deutschen Jus­
tiz stellen müssen.
Tags darauf brachte Dulles Gehlen mit General Maxwell Taylor zusammen,
den ehemaligen Chief of Staff der US Army, den Präsident Kennedy zu sei­
nem militärischen Berater gemacht hatte. Gehlen durfte sein Anliegen wegen
der Äußerungen McCloys noch einmal vortragen. Ihm wurde dann mit aller
Klarheit deutlich gemacht, dass man Gerüchte, die dem Kanzler zugetragen
wurden, nicht glauben dürfe. Die offizielle amerikanische Sichtweise sei mit
Bundesaußenminister Brentano und dessen ständigem Vertreter Carstens
besprochen worden. Dulles und Taylor sprachen die Hoffnung aus, dass es
Gehlen gelingen werde, dem Kanzler zu verdeutlichen, dass die USA ihren
Standpunkt über offizielle Kanäle vorbringen würden. Erneut wandte sich die
Diskussion mit dem Chef des deutschen Auslandsnachrichtendienstes der
innenpolitischen Situation in der Bundesrepublik zu. Dabei, so der Eindruck
der beiden Amerikaner, sei es nicht leicht, zwischen Gehlens Auffassung und
dem, was er dem Kanzler zuschrieb, zu unterscheiden. Da Gehlen es gewohnt
war, gegenüber Vorgesetzten seine eigene Meinung nur zu äußern, wenn er
dazu aufgefordert worden war, hielt er sich offenbar an seine Rolle als Emissär
Adenauers.
Er vertrat die Einschätzung, dass Adenauer es ablehnen werde, eine Einpar­
teien-Minderheitsregierung zu führen und stattdessen lieber eine Allianz mit
der FDP und der SPD eingehen werde. Er könnte eine große Allianz aus Union,
SPD und FDP schaffen, um die gegenwärtige Krise zu überwinden. Dulles
ließ anschließend das State Department über den Besuch Gehlens und seine
Ansichten unterrichten, auch von dessen Mitteilung, dass weder das Bonner
Auswärtige Amt noch die Botschaft in Washington von seinem Besuch infor­

1016
miert seien. Das fanden die US-Diplomaten doch überraschend.330 Stewart, der
für Dulles Protokoll geführt hatte, machte seinen Chef anschließend darauf
aufmerksam, dass es neben dem überraschenden Besuch von Gehlen auch
weitere Bemühungen von deutscher Seite gab, die deutsch-amerikanischen
Beziehungen zu entspannen. So liege inzwischen ein Brief von Klaus Dohrn
vor, dem Europakorrespondenten von Time und Life, der die Meinung der
CDU widerspiegele. Dohrn habe exzellente Kontakte zu Adenauer, Globke und
Gehlen. Er hoffe, dass sein Brief einflussreiche Männer in der US-Regierung
erreiche. Interessant sei, so Stewart, dass sich Eric Warburg (ein deutsch-ame­
rikanischer Bankier jüdischer Herkunft) bemühe, zwischen den Meinungsfüh­
rern in Deutschland und den USA wieder eine Vertrauensbasis herzustellen,
natürlich auch zwischen den Regierungen. Robert Pferdmenges (Bankier,
CDU-Bundestagsabgeordneter, einflussreichster Finanzberater Adenauers
und einziger Duzfreund des Kanzlers) habe McCloy zu einem Vortrag nach
Hamburg eingeladen.331
Die mögliche Konzessionsbereitschaft des neuen US-Präsidenten Kennedy
gegenüber Moskau in der Deutschlandfrage bereitete nicht nur Adenauer
Sorge. In der deutschen Öffentlichkeit wurde darüber spekuliert, ob Deutsch­
land jetzt verkauft werde.332 Von Reinhard Gehlen sind dezidierte Äußerungen
dazu nicht bekannt. Ihn müssen andere Sorgen geplagt haben. Die Nachricht
des FBI, die sowjetische Botschaft bei der UNO in New York stehe mit einem
verdächtigen Subjekt in Verbindung und habe ihm eine Menge Geld für eine
Entführung Gehlens angeboten,333 mag alte Ängste geweckt haben. Aber eine
viel ernstere persönliche Bedrohung lag in der zunehmend sicheren Erkennt­
nis, dass es in der BND-Zentrale einen sowjetischen Maulwurf geben müsse.
Am 6. November 1961 genehmigte Gehlen die Verhaftung seines für die Gegen­
spionage gegen die UdSSR zuständigen Mitarbeiters Heinz Felfe und dessen
Unterstützers Clemens.

330 Aktenvermerk mit einer Summary der Gespräche zwischen Dulles und Gehlen am
24./25.9.1961, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 3_10F2,
S. 166-168.
331 Memo von Stewart für Dulles, 25.10.1961, ebd., S. 172-173. Der Brief von Dohrn ist nicht
enthalten.
332 Schlagzeile der BZZd-Zeitung vom 25.9.1961.
333 Aufzeichnung des FBI, 2.11.1961, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh-
lenvol 3_10F2, S. 174.

1017
4. Gehlen vor dem Absturz: Felfe und die Spiegel-Affäre
(1961/62)

Noch am Vormittag des 6. November 1961 hatte der BND-Chef bei einer routi­
nemäßigen Besprechung mit Globke eine wichtige Vorlage überreicht.334 Der
Bundeskanzler hatte eine Antwort auf die Frage nach dem Kräfteverhältnis
zwischen Ost und West angefordert. Andeutungen Präsident Kennedys über
eine neue Nuklearstrategie und die hektischen Krisenplanungen der Ameri­
kaner nach dem ultimativen Auftreten Chruschtschows beim Gipfeltreffen im
Juni in Wien machten deutlich, dass es mit der militärischen Bereitschaft in
Westeuropa nicht zum Besten stand. Der US-Kongress hatte daraufhin einer
Erhöhung des Verteidigungshaushalts zugestimmt. Vorbereitungen für eine
Luftbrücke nach Berlin hatten begonnen, ebenso die Verlegung zusätzlicher
US-Divisionen nach Europa. Adenauer erwartete deshalb von Gehlen eine
zuverlässige Lagebeurteilung, die dieser nicht selbst vornahm, sondern seiner
militärischen Auswertung übertrug. Im Gespräch mit Globke spielten eben­
falls Zeitungsberichte eine Rolle, die über eine Verhaftung des Alois Brunner,
eines der größten NS-Verbrecher, in Damaskus spekulierten. Globke wollte
wissen, was dem BND über Brunner bekannt sei. In Pullach hatte man bislang
wenig unternommen, um einen der meistgesuchten Massenmörder der deut­
schen Justiz zu übergeben. Brunner gehörte in Damaskus zu der Gruppe von
Naziexilanten, die vor Ort über einen gewissen Einfluss verfügten. Der BND
beschränkte sich auf die Beobachtung. So konnte Brunner seinen Lebens­
abend in aller Ruhe im Orient verbringen.
Am Abend des 6. November unterrichtete Gehlen Globke über die Fest­
nahme Heinz Felfes. Beide sorgten sich vor allem um mögliche Pressereak­
tionen, bei denen die frühere SS-Zugehörigkeit Felfes herausgestellt werden
könnte. Der Fall schien wieder einmal jene Kritiker zu bestätigen, die wie Sef­
ton Delmer den BND als »Naziladen« betrachteten, aber auch jene, die immer
wieder eine gründliche Entnazifizierung des Dienstes angemahnt hatten.
Adenauer selbst hatte sich – wie erwähnt – vor drei Jahren gegen eine Weiter­
beschäftigung von ehemaligen SS- und SD-Angehörigen ausgesprochen. Jetzt
zeigte sich, dass über seine berechtigte moralische Empörung hinaus die poli­
tisch Belasteten auch ein hohes Sicherheitsrisiko bedeuteten. Gehlen bemühte
sich, die Verhaftung Felfes gegenüber Globke als Erfolg zu verkaufen. Er habe
bereits vor längerer Zeit eine Vorermittlungsgruppe eingesetzt, zu der – unter
Umgehung der zuständigen Abteilung Sicherheit – nur persönliche Vertraute

334 Aktennotiz über die Besprechung Gehlen-Globke, 6.11.1961, BND-Archiv, 1163/2,


Blatt 75.

1018
Heinz Felfe präsentiert 1986
in Ost-Berlin sein Buch als
Memoiren eines Meisterspions.

wie Annelore Krüger und die jüngeren Mitarbeiter Hans-Henning Crome, Vol­
ker Foertsch und Karl-Eberhard Henke gehörten. Gleich nach der Verhaftung
Felfes habe er den Sonderstab »Chile« unter Leitung von General Langkau
beauftragt, das Ausmaß des Verrats festzustellen.335 Wenn Gehlen ernsthaft
daran geglaubt haben sollte, dass sich der Fall rasch unter den Teppich keh­
ren ließe, dann täuschte er sich. Der ehemalige Gestapobeamte Felfe, der nach
dem Krieg als Doppelagent für die Sowjets arbeitete, war über lange Jahre von
Gehlen selbst protegiert und in eine Spitzenposition gebracht worden.336 Doch
der Fall entwickelte seine Sprengwirkung erst allmählich. Noch konnte Gehlen
die Presse mit der Erfolgsmeldung über die Erkenntnisse zum Bandera-Mord
füttern, und der Spiegel widmete erst knapp zwei Jahre später »Moskaus Spio­
nen«, darunter auch Felfe, eine Titelgeschichte.337
Es zeigte sich aber, dass der Kanzler dem BND-Chef nicht einmal dort mehr
uneingeschränkt Glauben schenkte, wo der Exgeneral seine persönliche Kom­
petenz in Anspruch nehmen konnte. Gehlens Vorlage zum Kräfteverhältnis

335 Schreiben Gehlens an Globke, 9.11.1961, VS-Registratur Bka, Bk 10218 (105), Bd. 1.
336 Zum Fall Felfe siehe demnächst die Studie von Bodo Hechelhammer, dem Leiter des
Historischen Büros des BND.
337 Vermerk für Globke betr. Freigabe der Erkenntnisse über den Bandera-Mord, 16.11.1961,
BND-Archiv, 1163/2, Blatt 76; nachfolgend siehe Aktennotiz Gehlens über die Bespre­
chung mit dem Herrn Bundeskanzler, 21.12.1961, ebd., Blatt 80-81.

1019
zwischen Ost und West wollte Adenauer nicht akzeptieren. Bei einer Bespre­
chung am 16. November 1961 widersprach der Kanzler Gehlens Annahme, dass
die USA ihre nukleare Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion auf Dauer
würden halten können. Ihn beschäftigte insbesondere der Prozentsatz der
strategischen Bomber, die ihre Ziele im Ernstfall erreichen würden. Gehlen
hatte eine Zahl von 50 Prozent geschätzt. Adenauer hielt das für zu optimis­
tisch und fragte nach, ob Gehlen damit lediglich amerikanische Informatio­
nen weitergebe. Dieser behauptete selbstbewusst, dass man in Pullach eigene
unabhängige Berechnungen angestellt habe. Doch Adenauer ließ nicht locker.
Würden die Russen nicht doch feste Brennstoffe für ihre Raketen verwenden,
wollte er wissen. Welche Zahl an Langstreckenraketen haben sie? Ihm, Ade­
nauer, seien einmal 300 genannt worden. Manche würden 150 angeben. Wie sei
der Unterschied zu erklären? Gehlen möge ihm möglichst bald eine ganz kurze
Studie mit Zahlen zum atomaren Kräfteverhältnis vorlegen – der General war
offenbar in Verlegenheit.
Und Adenauer verband diese Erörterung existenzieller strategischer Fra­
gen mit banalen personellen Angelegenheiten. Er warnte den BND-Chef vor
dem Abgeordneten Wolfgang Döring (FDP), der sich guter Beziehungen zu
Pullach rühme, den der Kanzler aber – in Übereinstimmung mit Strauß -
nicht als »einwandfrei« einschätzte. Das war wohl unverblümt der Auftrag,
Nachforschungen anzustellen. Außerdem erinnerte er an die Einstellung eines
Gerichtsassessors aus Rhöndorf, der zurzeit bei der Stadt Bonn tätig war.
Dessen Einstellung beim BND sei doch zum Januar beabsichtigt (Gehlen ließ
intern sofort nachfragen). Schließlich war eine Nichte Adenauers mit Jürgen
Graf Waldersee verheiratet, der in Bonn wohnte. Dieser habe Beschäftigung
beim Schatzministerium erhalten und solle Regierungsrat werden. Von Minis­
ter Hans Lenz habe er, der Kanzler, erfahren, dass der Vizepräsident des BND
eine Übernahme ablehne, weil Waldersee in der Kriegsgefangenschaft dem
kommunistischen Nationalkomitee Freies Deutschland angehört habe.
Adenauer kommentierte: Das sei zwar nicht schön, aber wenn es das ein­
zige Bedenken sei, wäre das nach seiner Ansicht kein ausreichender Grund
zur Ablehnung, wenn sich diese Persönlichkeit nach ihrer Rückkehr bewährt
habe. Der Kanzler spürte offenbar den Widerwillen Gehlens, einen – in seinem
Sinne – nicht ganz »sauberen« Kandidaten zu unterstützen, während er sich
zum Unwillen Adenauers bei der Beschäftigung von ehemaligen Nazis sehr viel
großzügiger verhielt. Deshalb verwies er auf einen ähnlichen, politisch aber
anders gelagerten Fall. Der ehemalige SS-Untersturmführer Franz Krapf, jetzt
Botschaftsrat und Chef der Bonner NATO-Mission in Paris, habe die Zugehö­
rigkeit zum SD nicht verschwiegen und sei ein tüchtiger Mann. Gehlen wagte
einzuwenden, dass es sich zu einem Skandal entwickeln könnte, wenn in brei­
terem Rahmen bekannt würde, dass er nun Leiter der Ostabteilung im Auswär­

1020
tigen Amt sei. Er ließ anschließend intern Nachforschungen anstellen, vermut­
lich, um dieses Risiko besser einschätzen zu können.338 Gehlen widersprach
seinem Kanzler in dieser Frage nicht weiter. Globkes häufige Bedrängnis in
der Frage von NS-Belastungen mögen Gehlens plötzliche Sensibilität geweckt
haben, in der Sache stimmte er aber mit Adenauer überein und für Gefällig­
keiten zugunsten einer Beschäftigung von Bekannten und Verwandten war er
ja stets aufgeschlossen.
Von dem Gespräch mit dem Kanzler über Atomwaffen berichtete er vor­
sichtshalber sofort Stewart und meinte, der deutsche Regierungschef rechne
nicht mit den amerikanischen Polaris-Raketen339 und anderen nuklearen
Fähigkeiten. Er sei eben ein militärischer Laie. Dann empfahl Gehlen, dass
man beim nächsten Washingtonbesuch des Kanzlers den Versuch unter­
nehmen sollte, ihn von der nuklearen Stärke und Überlegenheit des Westens
zu überzeugen. Abschließend bat er darum, dass der Kanzler unter keinen
Umständen den Eindruck gewinnen dürfe, dass er, Gehlen, mit den Ameri­
kanern über dieses Thema gesprochen oder dass er einen solchen Vorschlag
gemacht habe. Die CIA-Führung zeigte sich über den Vorgang einigermaßen
verwundert, abgesehen davon, dass sie Gehlens Optimismus über die Bomber
nicht teilte.340 In Washington war man also vorgewarnt.
Kanzler Adenauer konferierte am 21. November im Arbeitszimmer des ame­
rikanischen Kabinetts mit den Außen- und Verteidigungsministern beider Sei­
ten. Ein US-Colonel referierte über die militärischen Kräfteverhältnisse im Ost-
West-Konflikt. Verteidigungsminister Strauß fiel sofort auf, dass die Stärke des
Warschauer Pakts hier erheblich niedriger angegeben wurde, als bisher inner­
halb der NATO angenommen worden war. Er warnte impulsiv davor, die sow­
jetischen Armeen auf amerikanischen Schreibtischen einfach auf- oder abzu­
bauen. In seinen Erinnerungen erklärte er dazu, dass er zwar auch vom BND
regelmäßig über die militärische Stärke der UdSSR unterrichtet worden sei.

338 Erst Außenminister Joschka Fischer lehnte 2005 das »ehrende Gedenken« an den ver­
storbenen Botschafter Krapf ab und löste damit eine anhaltende Kontroverse aus, siehe
Eckart Conze et al.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten
Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, und Hans-Jürgen Döscher: Seilschaf­
ten. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes, Berlin 2005, S. 11-12.
339 Die ab 1964 in Dienst gestellte zweistufige Atomrakete mit einer Reichweite von über
4000 Kilometern konnte von U-Booten abgefeuert werden und galt als eine nahezu
unverwundbare Zweitschlagwaffe.
340 Memo Stewarts, 18.11.1961, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol 3_10F2, S. 138, der die Informationen Gehlens an das State Department, CIA-Chef
Dulles und an McGeorge Bundy im Weißen Haus weitergab, siehe Memo vom 20.11.1961,
ebd., S. 140.

1021
Die Frage war aber weniger, was der BND an fremden Material oder an eige­
nen Erkenntnissen beschaffen konnte, die entscheidende war, von welchem
Stärkeverhältnis auf der anderen Seite unsere amerikanischen Verbündeten
ausgingen. Die Expertisen, die General Reinhard Gehlen mit seinem Dienst
anfertigte, waren nicht bestimmend für das Gesamtbild des Bündnisses,
hier gaben im wesentlichen die Berichte und Analysen des amerikanischen
Geheimdienstes CIA den Ausschlag. Aus den uns vorgelegten Unterlagen ging
nicht hervor, was Erkenntnisse des BND und was Erkenntnisse von verbün­
deter Seite waren, alle Quellen wurden zu einer Gesamtschau zusammenge­
fügt. Die Vorstellung, daß der deutsche Verteidigungsminister sozusagen mit
einem eigenen Lagebild im Bündnis und gegenüber den USA hätte auftreten
können, weil man über eigene Kundschafter, über ein vollständiges eigenes
Informationsnetz und deshalb über Souveränität auf dem Felde der Aufklä­
rung verfügte, ist theoretischer Natur. Auch der Hinweis auf die große Ruß­
landerfahrung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg war Vergangenheit, und
was unsere Agentenaufklärung betraf, so war sie fast gleich Null [...] Was blieb
war vor allem die elektronische Aufklärung, also Abhörtechniken aller Art,
und die Auswertung der Publizistik aus dem Bereich des potentiellen Geg­
ners. Dazu kamen dann die von den Verbündeten, vor allem von den Ameri­
kanern, erzielten Ergebnisse der Luftaufklärung und der Agententätigkeit.341

Nicht nur Strauß gewann im November 1961 in Washington den Eindruck, dass
die Amerikaner bei der Darstellung der sowjetischen Gefahr weniger von ver­
änderten Tatsachen als von Wunschvorstellungen ausgingen. Aus der Nähe
betrachtet reichte die Erkenntnis aus, dass sich die sowjetischen Truppen in
der DDR von »teilweise schlecht ausgerüsteten und wenig beweglichen Besat­
zungstruppen« in eine »kampfstarke, hochmobile, offensiv eingestellte und
schlagkräftige Streitkräftegruppierung« gewandelt hatten. Dieses militärische
Drohpotenzial gegen die Bundesrepublik musste ernst genommen werden,
was der sowjetische Verteidigungsminister Rodion J. Malinowski 1961 auf einer
internen Parteikonferenz der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutsch­
land (GSSD) so ausdrückte: »Wenn uns die Gefahr des Ausbruchs eines Krie­
ges dazu zwingt, den Speer zu schleudern, dann kann sie [die GSSD] nur der
Ärmelkanal aufhalten, und dies nur zeitweise.«342 Für die USA als global agie­
rende Weltmacht mochten diese Gefahren auf der anderen Seite des Atlantiks
weniger bedrohlich wirken. Für die Bundesrepublik ging es um das Überleben.
In Bonn ging die Sorge um, dass die Amerikaner mit einer neuen Militärpoli­

341 Franz Josef Strauß: Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 357-358.


342 Zit. nach: Wagner/Uhl, BND, S. 86.

1022
tik versuchten, sich ihrer Verpflichtung, die Bundesrepublik vor einer sowje­
tischen Expansion zu schützen, zu entziehen. Verteidigungsminister Strauß
wandte sich »unverhohlen gegen Gedankenspiele in der Umgebung des Prä­
sidenten Kennedy, das Risiko eines Atomkrieges könnte berechenbar sein«.343
Adenauer ließ die Sorge nicht los, dass sich Kennedy hinter seinem Rücken
mit Chruschtschow zulasten der westdeutschen Positionen verständigen
könnte. Er näherte sich deshalb dem Gedanken an, den sowjetischen Partei­
chef persönlich zu treffen und das Verhältnis zur UdSSR auf eine erträgliche
Weise zu bereinigen. Wie der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundes­
tag Heinrich Krone, den Adenauer im neuen Kabinett mit der Position eines
Sonderministers abfand, gehörte sicherlich auch Reinhard Gehlen unverändert
zu den Anhängern einer Politik der Stärke gegenüber Moskau, zumal durch
eine solche Initiative Adenauers die bisher konsequent betriebene Politik der
Westbindung kompromittiert werden könnte. Aber er respektierte auf der
anderen Seite die US-Politik – im Vertrauen auf die Hardliner in der Kennedy-
Administration. Zu ihnen hatte auch CIA-Chef Dulles gehört, den Kennedy
allerdings durch den gleichfalls als Hardliner geltenden John McCone ersetzte.
Als Anfang April 1962 Adenauer ein neues Berlinpapier der Amerikaner mit
weitgehenden Kompromissen gegenüber Chruschtschow erhielt, tauchten
die Grundgedanken umgehend in der deutschen Presse auf und verursachten
einen Sturm der Entrüstung. US-Außenminister Dean Rusk zeigte sich empört
über den Vertrauensbruch und zog das Papier zurück. Das Auswärtige Amt
in Bonn vermutete als Urheber der Indiskretionen Heinrich von Brentano –
bewiesen ist es bis heute nicht.344
Reinhard Gehlen hätte die Möglichkeit zur Indiskretion vermutlich auch
gehabt. Doch er hätte wohl niemals gegen seine Gönner in Washington agiert.
Die schwelende Felfe-Affäre zog ihn im eigenen Hause immer stärker in den
Bann. Sein früherer Vertrauter Herre, der sich erst kürzlich über die mangelnde
Unterrichtung durch seinen Chef beklagt hatte, sah im Dienst bereits einen
Scherbenhaufen und bat in einem Schreiben an Gehlen um seinen Rücktritt
als Führungsbeauftragter für den Operationellen geheimen Meldedienst.345
Das durfte als eine Art Misstrauensvotum verstanden werden. Felfe war zwar
zunächst ein Problem der internen Sicherheit, es musste aber damit gerech­
net werden, dass durch diesen Verratsfall eine große Zahl westlicher Agenten
in Gefahr geraten war. Gehlen musste also eine erhebliche Mühe aufwenden,
um einerseits das Ausmaß des Sicherheitslecks feststellen und andererseits

343 Meyer, Heusinger, S. 694.


344 Schwarz, Die Ära Adenauer, Bd. 2, S. 247.
345 Schreiben Herres an Gehlen, 5.1.1962, BND-Archiv, N 2/3, Blatt 221, 226.

1023
Reinhard Gehlen 1962 als General­
leutnant der Reserve der Bundeswehr

nachforschen zu lassen, welche internen Unterlagen durch Felfe in die Hände


des Ostens geraten sein könnten. Solche Nachforschungen führten auch dazu,
dass erste Nachrichten aus dem BND über schwere Missstände das Kanzleramt
erreichten.346
Dass der Botschafter Ecuadors an Gehlen und fünf seiner führenden Mit­
arbeiter den Orden »Abdón Calderón« erster Klasse überreichte, vermittelte
vermutlich kaum nachhaltige Genugtuung, obwohl das Bundespräsidialamt
den Antrag genehmigte, den schönen Orden zur Uniform tragen zu dürfen.347
Ein Foto Gehlens in der Uniform eines Generalleutnants der Bundeswehr ist
wenig bekannt geworden.
Ob das ein Ausweis seiner angeblichen Bescheidenheit ist, sei dahingestellt.
Die tiefe Vertrauenskrise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen und die
Unsicherheit über den Status von Berlin dürften ihn mehr beschäftigt haben.
Für ihn persönlich hatte nicht zuletzt auch die Frage größte Bedeutung, wer
Nachfolger Adenauers als Kanzler werden würde. Schon vor der letzten Bun­
destagswahl hatte es so ausgesehen, als ob Franz Josef Strauß sich die größten
Chancen ausrechnete, nach dem Vorsitz seiner CSU auch die Kanzlerschaft
erringen zu können. Gehlen musste darauf bedacht sein, rechtzeitig sein Ver­
hältnis zu dem derzeit amtierenden Verteidigungsminister auszubauen.
Die Politik, so viel hatte der Exgeneral inzwischen gelernt, war voller Fall­
gruben. Strauß bat seinen neuen Sympathisanten darum, herauszufinden, wer

346 Bachmann-Bericht für Mercker-Kommission, 15.10.1968, S. 7, VS-Registratur Bka, Az.


15100-1166/68.
347 Genehmigung vom 24.1.1962, VS-Registratur Bka, Personalakte Gehlen.

1024
alles während des Krieges im »Soldatensender Calais« britische Radiopropa­
ganda gemacht habe. Dazu habe auch sein CSU-Konkurrent Freiherr von und
zu Guttenberg gehört. Der Hitler-Gegner hatte sich damals als Kriegsgefange­
ner bereitgefunden, mit den Briten zusammenzuarbeiten, und in der Gefan­
genschaft eine Reihe von emigrierten Sozialdemokraten kennengelernt. Wenn
die Stunde käme, wollte Strauß auch mit dieser Waffe gegen seinen Opponen­
ten schießen. Er wusste allerdings nicht, dass Gehlen Globke von dieser Bitte
informierte.348 Der ehrgeizige Verteidigungsminister verließ sich offenbar
darauf, dass Reinhard Gehlen der dienstbare Geist und Schauspieler war, der
nach einem neuen Herrn Ausschau hielt. So erzählte er bei einer Sitzung des
CDU/CSU-Fraktionsvorstands allen Ernstes, es bestehe ein Plan, ihn und den
Außenminister bei Beginn eines Krieges zu ermorden. Er müsse sich, seine
Frau und die nächsten Angehörigen streng sichern lassen. In Rott am Inn habe
man in der Wohnung seiner Schwiegereltern einen alten unterirdischen Gang
ausspioniert, um festzustellen, ob er für eine Flucht geeignet sei. Die einen
Fraktionskollegen, notierte Heinrich Krone, seien ergriffen gewesen, die ande­
ren fragten sich, was mit Strauß los sei. Dieser habe sich auf eine Mitteilung
aus dem »Amt Gehlen« berufen.349
Dort ließ der Chef seine dienstlichen Alltagspflichten abseits seiner Auf­
tritte hinter den Kulissen der Bonner Politik sträflich schleifen. Selten berief
er eine Leitungssitzung ein und legte die Prioritäten der Aufklärungsgebiete
fest.350 Im aktuellen Lagebild der Streitkräfte des Warschauer Pakts rangierte
nach der DDR, Polen und der CSSR die UdSSR erst an vierter Stelle. Sein Ver­
trauter Kurt Weiß gab sich zuversichtlich, den Chef für die Probleme seines
Bereichs der politischen Aufklärung interessieren zu können. Er lieferte sei­
nen Tätigkeitsbericht ab, sprach über die Auslandsvertretungen und Sonder­
verbindungen sowie die Operationen – von Gehlen gab es keine Reaktion,
die Weiß hätte notieren können. Bei einer internen Besprechung in seinem
Bereich berichtete er, dass es keinerlei Kritik des Chefs gebe, er selbst sei aber
mit dem gegenwärtigen Stand unzufrieden. Die Referenten seien ausnahmslos
fleißig und bemüht, zeigten aber zu wenig Initiative. Bei Krisen nach Ausfällen
herrsche eine starke Neigung zur Resignation, anstatt mit allen Mitteln nach
Ersatz- bzw. Ausweichlösungen zu suchen.351
Um die Sonderstellung des BND zu verteidigen, war Gehlen natürlich stets
zur Stelle. So lehnte er eine Denkschrift des Generalbundesanwalts über Straf­

348 Notiz vom 29.1.1962, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 28.


349 Eintrag vom 12.2.1962, ebd., S. 37.
350 Siehe zum Beispiel Niederschrift über die Sitzung beim Präsidenten, 2.2.1962, BND-
Archiv, 3192, Blatt 8-10.
351 Einträge vom 6. u. 9.2.1962, BND-Archiv, N 10/9, Blatt 446.

1025
justiz und Nachrichtendienste und gegen eine Gleichbehandlung mit dem BfV
und dem ASBw ab. Er nahm für den BND in Anspruch, auch bei landesverräte­
rischen Bestrebungen im Einsatz zu sein, nicht zu deren Bekämpfung, aber zu
deren Aufklärung. Das Tätigwerden unterliege dem reinen Opportunitätsprin­
zip nach »pflichtgemäßem Ermessen des Präsidenten des BND im Rahmen des
ihm gestellten Auftrags«.352 Ein Beispiel für sein Verständnis war der Auftrag
an Weiß, die laufende Kampagne gegen Verteidigungsminister Strauß auf eine
Oststeuerung, die sehr wahrscheinlich sei, zu untersuchen. Dabei sollte auf
eine mögliche Rolle des Spiegel und der Brüder Augstein geachtet werden.353
Das war zehn Monate vor dem Ausbruch der Spiegel-Affäre, die Gehlens kom­
pliziertes Spiel um drei Ecken zerstörte und ihm die offene Feindschaft von
Adenauer, Strauß und Augstein einbrachte.
Gehlen erwartete seinen 60. Geburtstag am 3. April 1962. Der Gedanke an
ein Ausscheiden aus dem Dienst lag ihm wohl schon deshalb fern, weil das
Innenministerium noch immer nicht über die Berücksichtigung der Dienst­
zeit bei der Vorläuferorganisation entschieden hatte. Die Bestätigung erhielt er
am 9. November 1962, mitten in der Spiegel-Affäre. Umso mehr dürfte ihn ein
Gratulationsschreiben von Richard Helms erfreut haben, dem alten Vertrauten
bei der CIA, der angeblich mit großer Freude auf die früheren Begegnungen
zurückblickte.354 In einer biografischen Skizze zu Gehlen notierte die CIA nicht
nur die persönlichen Beziehungen zu Dulles und dessen aktuellem Nachfol­
ger, sondern vermerkte auch eine gesunde Kondition von »General Gehlen«,
abgesehen von seinem Gallenblasenproblem. Er rauche und trinke nicht – was
nicht ganz zutreffend war, denn seine geliebten Zigarren verteilte er nicht nur
gern, sondern konsumierte sie auch häufig zur Entspannung. Die CIA erwar­
tete, dass er noch mehrere Jahre seine Position innehaben werde.355 Es wurden
tatsächlich mehr Jahre, als man sich in Washington vorzustellen vermochte.
Im Augenblick konnte Gehlen seinen zweiten Besuch bei der 6. US-Flotte im
Mittelmeer genießen, zu dem er Ende März zusammen mit dem Generalins­
pekteur der Bundeswehr, Generalleutnant Friedrich Foertsch, Ministerialdi­
rektor Dr. K. Schubert und Brigadegeneral Wessel eingeladen worden war. Auf
dem Flugzeugträger »USS Saratoga« erlebte er am 24. März 1962 unter ande­
rem eine Demonstration der Feuerkraft der 3. Trägergruppe.

352 Stellungnahme des BND vom 21.2.1962 für den Staatssekretär des Kanzleramts, BND-
Archiv, 1163/2, Blatt 91-106.
353 Besprechung Weiß – Gehlen, 1.3.1962, BND-Archiv, N 10/9, Blatt 469.
354 Helms an Gehlen, 22.3.1962, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol 210F3, S. 182.
355 Biographical Scetch of General Reinhard Gehlen, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol 2_10F3, S. 156-157.

1026
Der Flugzeugträger »USS Saratoga«,
den Gehlen im März 1962 besuchte

Mehrere Rückschläge schüttelte Reinhard Gehlen wie gewohnt ab. Im Falle


Felfe wies er intern jede persönliche Verantwortung von sich, nach außen
spielte er gegenüber den befreundeten Diensten die Bedeutung des Verrats
herunter. Die Enttarnung Felfes wollte er vielmehr als Erfolgsgeschichte inter­
pretieren. Sorgsam achtete er darauf, die Presselandschaft unter Kontrolle zu
behalten. Als August Hoppe (DN »August«), Redakteur beim Westdeutschen
Rundfunk, nach Auseinandersetzungen mit seinem Intendanten damit rech­
nen musste, das Ressort Außenpolitik abgeben zu müssen, sah man in Pullach
die Gefahr, dass ferngesteuerte Sendungen mit »Gegenwirkung« (das heißt
gegen »linke« Positionen) gefährdet sein könnten. Gehlen versprach Weiß,
mit dem Chef des Kanzleramts sowie mit dem FDP-Bundesvorsitzenden Erich
Mende und dem Verwaltungsratsvorsitzenden des WDR, Josef Hermann Duf­
hues (CDU), zu sprechen.356 Er war offenbar erfolgreich, denn Hoppe brachte
es bis zum Politikchef des WDR.
Peinlich hingegen war wenige Tage später ein Schreiben aus dem Kanzler­
amt. Dort monierte man eine vorgelegte BND-Meldung über die amerikanische
Auffassung zur Lage West-Berlins. Es handele sich um die geringfügig gekürzte
Wiedergabe eines Berichts des State Departments, der bereits Ende Februar an
die Deutsche Botschaft in Washington gegeben worden war. Dieser Bericht sei

356 Interne Besprechung bei Weiß, 7.5.1962, BND-Archiv, N 10/9, Blatt 505.

1027
in eigener Übersetzung Teil der BND-Meldung, ohne dass der Zusammenhang
ersichtlich sei – »wodurch der Wert der Meldung leider herabgesetzt wird«,
wie der zuständige Beamte Günter Bachmann das Plagiat beurteilte.357 Bach­
mann sah sich in seiner aufkeimenden Skepsis gegenüber Pullach bestätigt, als
dieser Tage sein Chef Globke in einem Gespräch mit Bundesrechnungshof-Prä­
sident Hertel von Missständen im BND erfuhr, die dieser in einem Schreiben
mit großer Sorge beklagte. Daraufhin fuhr Bachmann mit seinem Vorgesetzten
Mercker nach Frankfurt am Main, um ausführlich mit Hertel zu sprechen.358
Vier Wochen später musste Gehlen selbst im Dienstzimmer von Mercker
im Kanzleramt erscheinen. Damit sollte dem selbstherrlichen BND-Chef offen­
bar deutlich signalisiert werden, dass man im Bonner Kanzleramt den Begriff
»Angliederung« endlich genauer definieren wollte. Gehlen, der drei Mitarbei­
ter mitgebracht hatte, um die zu erwartenden Vorwürfe abwehren zu können,
musste sich anhören, dass Mercker – sicher nicht ohne Zustimmung seines
Chefs Globke – eine Stelle im Kanzleramt schaffen wollte, die sich ausschließ­
lich mit dem BND, also seiner Beaufsichtigung, beschäftigte. Gehlen erklärte
selbstbewusst, das sei schon ein merkwürdiger Gedanke. Bisher sei nichts
Ernsthaftes passiert, was er nicht in eigener Zuständigkeit hätte regeln kön­
nen. Im Übrigen müsste der Inhaber einer solchen Position schon etwas vom
Nachrichtendienst verstehen – das hieß, er müsste ein BND-Mann sein.359
Gehlen wollte sich auch künftig seiner exklusiven Verbindungen mit der
Spitze des Kanzleramts bedienen und sich nicht mit einer Referentenebene
abspeisen lassen. Dass der angeschlagene Globke eine solche Möglichkeit
überhaupt zulassen konnte, hätte für Gehlen ein Warnzeichen sein können.
Innerhalb weniger Wochen geriet seine eigene Position in Bonn so ins Wanken,
dass es das Ende seiner Karriere als Präsident des BND hätte werden können.
So verbrachte Reinhard Gehlen den Sommer 1962 noch in weitgehend ent­
spannter Atmosphäre. Er empfing im Juli, kurz nach der algerischen Unabhän­
gigkeitserklärung, seinen neuen französischen Kollegen General Paul Jacquier
und spann wie gewohnt seine politischen Fäden. Dazu gehörte die Anregung
einer Schriftenreihe zur aktuellen Weltpolitik beim Karlsruher Condor-Verlag.
Dort erschien ein publizistischer Schnellschuss von Alfons Dalma, ehemals
Propagandist des faschistischen Ustascha-Regimes in Kroatien, nach Kriegs­
ende österreichischer Staatsbürger, derzeit Journalist beim Münchner Kurier.

357 Schreiben Staatssekretär des Bundeskanzleramts, i.A. Dr. Bachmann, an den BND,
16.5.1962, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 15-16.
358 Gespräch Hertels mit Globke, 17.5.1962, Schreiben Hertels vom 29.5. und Gespräch
mit Hertel in Frankfurt am 8.6.1962, Bachmann-Bericht für Mercker-Kommission vom
15.10.1968, S. 8, VS-Registratur Bka, Az. 15100-1166/68.
359 Gespräch am 15.6.1962, ebd.

1028
Er wurde 1967 Chefredakteur beim Österreichischen Rundfunk (ORF). Seine
Schrift über Die Hintergründe der Berlin-Krise erwies sich mit 50.000 verkauften
Exemplaren als großer Erfolg. Gehlen sollte Wünsche für den Inhalt der nächs­
ten Bücher äußern. Der Autor sei bereit, bei einer krisenhaften Entwicklung in
irgendeinem Land sofort mit einer aktuellen Broschüre herauszukommen.360
So erschien noch im selben Jahr eine Schrift von Dalma über De Gaulle, die
Deutschen, Europa. Damit endete auch schon die von Gehlen angeregte Schrif­
tenreihe, eines jener publizistischen Produkte, die vom BND gefördert die
öffentliche Meinung beeinflussen sollten.
Gehlen hatte sich inzwischen von dem Projekt einer antikommunistisch
ausgerichteten Universität entfernt und nach dem amerikanischen Vorbild
der RAND Corporation die Gründung eines Instituts in die Hand genommen.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse sollten in der Regel nicht publiziert wer­
den, sondern dem BND zur Vertiefung und Ergänzung der Nachrichtenaus­
wertung zur Verfügung stehen. Er war noch immer von der Idee fasziniert,
seinen Nachrichtendienst auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. In
seinem Verständnis hieß das, eine Art von Zuverlässigkeit und Objektivität
der Auswertung zu erreichen, die dem BND in der Konkurrenz mit anderen
Informationsquellen einen Vorteil verschaffen sollten. Dazu ließ er die ehe­
malige Privatklinik Haus Eggenberg bei München anmieten, instand setzen
und erweitern. Die Leitung übernahm Dr. Klaus Ritter, bisher stellvertretender
Leiter der Abteilung Auswertung.361 Die Stiftung Wissenschaft und Politik als
Trägerin des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit ent­
wickelte sich ab 1965 zu einem unabhängigen und hochrenommierten Bera­
tungsorgan von Bundestag und Regierung.362
Ende Juli 1962 – in der Berlinfrage deutete sich eine erneute Verschärfung
an – sandte Gehlen an seinen ehemaligen Chef Heusinger einen Geburtstags­
gruß. Dem jetzigen Vorsitzenden des Ständigen Militärausschusses der NATO
schrieb er besinnliche Sätze.

Der Zukunft sehe ich doch mit einem gewissen Pessimismus entgegen; es
stellt sich eigentlich immer klarer für beide Seiten die Frage Krieg oder Frie­
den. Trotzdem glaube ich noch nicht an Krieg, zumindesten für die nächsten
Jahre, zumal ein solcher für beide Parteien nur ein Verlustrisiko in sich birgt.363

360 Vortragsnotiz für 106 (Stab Gehlen), 9.7.1962, BND-Archiv, 120127_0409.


361 Vermerk von Bachmann für Bundesminister Dr. Krone betr. Wissenschaft und Politik,
10.6.1964, VS-Registratur Bka, Bk7:152.05(l)Bd. 2.
362 Siehe ausführlich Albrecht Zunker: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Entwick­
lungsgeschichte einer Institution politikbezogener Forschung, Berlin 2007.
363 Gehlen an Heusinger, 30.7.1962, BA-MA, N 643/56a.

1029
Die düsteren Ahnungen trogen nicht, aber die Kriegsgefahr kam sehr viel
schneller, als Gehlen annahm. Noch nicht einmal drei Monate später stand die
Welt am Abgrund eines Atomkriegs. Der Chef des BND genoss zunächst einmal
seinen Urlaub mit Ehefrau am Wasser und in der freien Natur bei Bekannten
am Ammersee. Das Wetter sei wechselhaft, aber abhärtend »und im Sinne
einer Wörishofener Kur«. Gehlen, für den die »Abhärtung« mit morgendlichen
Schwimmrunden zum festen Tagesritual gehörte, konnte nicht ahnen, dass er
die körperliche Ertüchtigung schon bald brauchen würde, um die Schläge, die
ihn erwarteten, abfedern zu können.
Es begann mit einer unerwartet heftigen Kampagne der israelischen Poli­
tik gegen die Mitwirkung deutscher Techniker am ägyptischen Raketenpro­
gramm. Strauß und Adenauer wurden von Israel zum Eingreifen aufgefordert.
Der BND müsse doch über das ägyptische Projekt und die Verwicklung von
Bundesbürgern informiert sein. In der Knesset und der israelischen Presse
wurde lautstark über die deutschen Machenschaften gewettert, die den Fein­
den Israels den Zugang zu Massenvernichtungswaffen und entsprechenden
Trägerraketen ermöglichten. Tatsächlich hatte die deutsche Regierung die
Arbeitsmöglichkeiten vor allem jüngerer, politisch unbelasteter Techniker in
Ägypten wohlwollend gefördert. Nun geriet der von Gehlen vorsichtig mode­
rierte zweigleisige Nahostkurs des BND in Gefahr. Mossad-Chef Harel, der
sich mit Ben-Gurions Begriff vom »gewandelten Deutschland« ohnehin nie
anfreunden konnte, überwarf sich mit seinem Ministerpräsidenten wegen des
weiteren Vorgehens gegenüber der Bundesregierung und trat zurück. Da die
Untersuchung der israelischen Vorwürfe im Hinblick auf die Entwicklung von
ABC-Waffen keine Beweise lieferte, verstärkten sich die Proteste in Politik und
Öffentlichkeit in Deutschland gegen ein mögliches Gesetz zur Unterbindung
der Tätigkeit deutscher Wissenschaftler im Ausland. Die Erlösung kam aus
unerwarteter Richtung. Ägypten strich 1964 das Raketenprogramm und die
deutschen Wissenschaftler fanden in der Heimat bzw. in anderen Ländern eine
neue Beschäftigung. Die von israelischen Terroraktionen gegen das ägyptische
Raketenprogramm begleitete Kampagne gilt als Ausdruck einer jüdischen
Paranoia, für die es auf deutscher Seite wenig Verständnis gab.364
Der Oktober 1962 wurde zu einem Wendepunkt in Gehlens Karriere, frei­
lich nicht wegen der israelischen Verwicklungen. Während in der Karibik der
sowjetische Raketenaufmarsch auf Kuba zu einer raschen Verschärfung der
amerikanisch-sowjetischen Konfrontation führte, entwickelte sich im Schat­
ten dieser globalen Krise mit der sogenannten Spiegel-Affäre eine politische
Krise der Bundesrepublik. Sie führte zum Sturz von Verteidigungsminister

364 Jelinek, Deutschland und Israel S. 423 – 429.

1030
Strauß, erschütterte die letzte Koalition Adenauers und brachte den BND an
den Rand des Abgrunds. In der Kubakrise machte Reinhard Gehlen mit sei­
nen Mannen keine schlechte Figur. Nach dem Umsturz in Havanna 1958/59
hatte Gehlen nach eigenem Bekunden bereits Ende der 1950er-Jahre gegen­
über den Amerikanern dafür plädiert, diese »gefährliche kommunistische Bas­
tion« durch einen militärischen Präventivschlag zu beseitigen.365 Nach dem
Scheitern des Geheimunternehmens der CIA in der Schweinebucht 1961 zeigte
sich Gehlen enttäuscht darüber, dass Kennedy die Aktion im entscheidenden
Moment nicht durchgestanden habe.366 Es sei nicht zu übersehen, dass die
zunehmende sowjetische Einflussnahme nicht nur die kommunistische Infil­
tration in Mittel- und Südamerika beförderte, sondern sich zu einer ernst zu
nehmenden strategischen Bedrohung der USA auswuchs. Damit konnte sich
Chruschtschow nicht zuletzt auch einen Hebel verschaffen, um aus seiner
Sicht endlich die Berlinfrage zu lösen.
Mit seinen langjährigen Südamerikaverbindungen konnte der BND für die
Amerikaner nützliche Informationen auch über Kuba beschaffen. Die erste
Meldung über sowjetische Raketentransporte nach Kuba stammte offenbar
vom BND. Die Kontrolle der sowjetischen Schiffsbewegungen aus der Ostsee
gehörte zu seinen traditionellen Nachrichtenquellen. Seit Juni 1962 hatte sich
das Lagebild geändert. Nun wurde ersichtlich, dass die Aufrüstung Kubas nicht
nur defensiven Charakter hatte. In einem Vortrag für die Bundesregierung vom
20. August 1962 wies Gehlen darauf hin, dass die Landung Tausender sowje­
tischer Militärspezialisten und der Bau von Raketenbasen auf der Insel zur
gefährlichsten Bedrohung der USA werden könnten.367 Kennedy müsse vor
deren Fertigstellung diesen Gefahrenherd eliminieren. Chruschtschow sei sich
dessen bewusst. Mit seiner Provokation setze er darauf, sich bei einem US-
Angriff auf Kuba West-Berlins zu bemächtigen. Nehme Kennedy die Herausfor­
derung nicht an, werde Chruschtschow mit den Raketen auf Kuba die USA so
unter Druck setzen, dass die Standfestigkeit der amerikanischen Bevölkerung
und Regierung in der Berlinfrage gefährdet sein dürfte.
Als der US-Präsident am 22. Oktober 1962 den sofortigen Abzug der sowje­
tischen Raketen sowie den Abbau der Abschussrampen auf Kuba forderte und
seinem Ultimatum mit einer Seeblockade Nachdruck verlieh, hielt Gehlen am
nächsten Morgen eine Leitungsbesprechung über die »Lage Kuba« ab.368 Er
fühlte sich wahrscheinlich wieder ganz in seinem eigentlichen Element. Die

365 Reinhard Gehlen: Verschlußsache, Mainz 1980, S. 135-136.


366 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 10.1.1972, IfZ, ED 100-68-18.
367 Bodo Hechelhammer (Hg.): Der Bundesnachrichtendienst und die Kuba-Krise. Doku­
mente aus den Akten des BND, Berlin 2015, S. 6,12.
368 Eintrag vom 23.10.1962, BND-Archiv, N 10/9, Blatt 624.

1031
Darstellung der militärischen Lage, sowohl auf Kuba als auch die Maßnahmen
der NATO (Intensivierung der nachrichtendienstlichen Aufklärung, Sicher­
heitsüberprüfungen, Alarm- und Mob-Maßnahmen sowie Bereitschaft für die
Kampftruppen), bedeutete, dass der BND kurz davor stand, seine Kriegsglie­
derung einzunehmen und im Falle eines sowjetischen Zugriffs auf West-Berlin
seine vorbereiteten Stay-Behind-Pläne umzusetzen. Würde Reinhard Gehlen
in diesen Tagen seine Uniform als Generalleutnant der Reserve anziehen und
sich mit seinem Dienst der Bundeswehr unterstellen müssen?
Vor diesem Hintergrund wird sein Lavieren verständlicher, das zwei
Wochen zuvor mit der Entwicklung der sogenannten Spiegel-Affäre begon­
nen hatte und ihn persönlich an den politischen Abgrund führte. Hin- und
hergerissen zwischen der sich verschärfenden außenpolitischen Krise und
der unkalkulierbaren innenpolitischen Herausforderung, werden das für ihn
die schwierigsten Tage seines Lebens gewesen sein. Am 10. Oktober 1962 war
der Spiegel mit der Titelgeschichte »Bundeswehr – bedingt abwehrbereit«
erschienen. Aufhänger des Artikels war die gerade abgelaufene Stabsrahmen­
übung »Fallex 62« der NATO, keine spektakuläre Aktion, aber doch immer­
hin das erste Manöver der NATO, dem die Annahme zugrunde lag, dass der
Dritte Weltkrieg mit einem Großangriff des Warschauer Pakts auf Westeuropa
begonnen habe. Es zeigte, wie der Spiegel meinte, nicht nur die Mängel der
Bundeswehr, sondern auch die katastrophalen Folgen einer mit taktischen
Atomwaffen geführten Abwehrschlacht für die Zivilbevölkerung. Im Zentrum
der fundiert erscheinenden Kritik stand Verteidigungsminister Strauß, der
Lieblingsfeind des Hamburger Blattes. Es sah immerhin so aus, als ob eine
Menge Interna, insbesondere aus dem Verteidigungsministerium, in den Arti­
kel eingeflossen seien.
Der BND war der Sache nach also gar nicht tangiert. Gehlen musste keine
Notwendigkeit sehen, seinen Herbsturlaub zu unterbrechen. Die Verstrickung
seines Dienstes war eine Folge der langjährigen engen Zusammenarbeit, die
der Spiegel zu seinem Vorteil hatte nutzen können, insbesondere wenn es um
»Ostmaterial« aus der DDR ging, das man gern zuvor in Pullach überprüfen
ließ. Verbindungsmann Gehlens war seit 1956 Oberstleutnant Adolf Wicht,
der als Deckung einen Pressedienst in Hamburg betrieb und sich angeboten
hatte, Entwürfe von Spiegel-Artikeln gegebenenfalls auf Geheimhaltungsbe­
dürftigkeit von Inhalten zu überprüfen. Als der Dienst im Herbst 1962 erfuhr,
dass ein Artikel über die Bundeswehr geplant sei, versuchte Wicht allerdings
vergeblich, an den Entwurf heranzukommen. Wenige Tage vor dem Druck
erhielt Wicht von Verlagsdirektor Becker ein vertrauliches Papier. Es war
nicht der Artikel, sondern eine Zusammenstellung von 13 Fragen zum Gegen­
stand. Becker erwartete eine Überprüfung der Fakten und der Geheimhal­
tungsbedürftigkeit und revanchierte sich mit der Zusage, eine Woche später

1032
für eine Fortbildungsveranstaltung von Wicht als Referent zur Verfügung zu
stehen.369
Wicht übergab den Fragenkatalog an den Gehlen-Intimus Weiß, der in der
Abwesenheit seines Herrn die Stellung in Pullach hielt. Weiß, für die politi­
sche Aufklärung zuständig, fand übers Wochenende einen Militärexperten
im Dienst, der nach flüchtiger Lektüre die Fragen beantwortete. Probleme
mit der Geheimhaltung sah man weder in Pullach noch in Hamburg. Es gab
auch zunächst nach der Publikation kein größeres Aufsehen. Gehlen hingegen
erkannte die Brisanz des Verfahrens, durch das der BND in eine Mitverant­
wortung für den Inhalt gezogen werden konnte. An seinem letzten Urlaubstag
suchte er Verteidigungsminister Strauß auf. Von dem Gespräch wurde später
nur bekannt und wichtig, dass Strauß offenbar erwähnte, in seinem Ministe­
rium werde ein Gutachten für die Bundesanwaltschaft erarbeitet, um die Frage
zu klären, ob es sich um einen Fall von Landesverrat handele. Gehlen sagte
dem Minister die volle Unterstützung des BND zu.
Gleich nach seiner Rückkehr in Pullach beraumte Gehlen eine Krisensit­
zung ein. Er rügte das Verhalten von Weiß, der seine Kompetenzen überschrit­
ten und zudem versäumt habe, den ganzen Artikel vor der Veröffentlichung
beizubringen. Es stehe außer Frage, dass Auskünfte zu aktuellen militärischen
Fragen nur vom Verteidigungsministerium gegeben werden könnten. Geh­
len erwähnte zumindest Weiß gegenüber, dass bereits Ermittlungen gegen
den Spiegel liefen. Wicht hatte die berechtigte Sorge, die Beteiligung des BND
könnte dabei zutage treten, und wandte sich noch an diesem 18. Oktober an
Weiß, der anscheinend von laufenden Ermittlungen sprach. Das veranlasste
Wicht, sich umgehend an Verlagsdirektor Becker zu wenden und die Antwor­
ten des BND auf die 13 Fragen des Spiegel zurückzuverlangen. Becker entzog
sich der Forderung und notierte anschließend in einem Aktenvermerk, dass
ihm Wicht die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft bestätigt habe.
Die Notiz wurde später aufgefunden und zum Stein des Anstoßes, als eine
Woche später in einer überraschenden Polizeiaktion die Redaktionsräume
der Zeitschrift durchsucht wurden. Es war der Höhepunkt der Kubakrise. Der
BND versorgte die Bundesanwaltschaft mit einschlägigen Unterlagen, aber der
Vorwurf konzentrierte sich jetzt auf die Schlussfolgerung, der Spiegel sei vor
der Polizeiaktion gewarnt worden und habe deshalb belastendes Material in
Sicherheit bringen können. Die Notiz von Becker lenkte den Blick auf Wicht
als dem möglichen Verräter. Wicht und Becker sowie Augstein und der Autor

369 Siehe den Überblick bei Jost Dülffer: Der Bundesnachrichtendienst in der »Spiegel«-
Affäre 1962; in: Die »Spiegel«-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, hg. von Martin
Doerry und Hauke Janssen, München 2013, S. 112-129, und Dülffer, Der BND in der
Krise, Kap. VIII.

1033
des Artikels, Conrad Ahlers, wurden daraufhin verhaftet, die Redaktionsräume
blieben längere Zeit von der Polizei besetzt. Die Vorfälle führten rasch zu
empörten Reaktionen in der Öffentlichkeit, insbesondere unter den Studenten,
die durch die Polizeimaßnahmen die Pressefreiheit bedroht sehen wollten.
Gehlen bemühte sich aus der Deckung heraus um Selbstschutz. Die Verbin­
dung zu seinem Mitarbeiter Wicht ließ er gemäß einer Forderung der Ermitt­
lungsbehörden abbrechen und ordnete pro forma eine Sicherheitsüberprüfung
an. Von wem hatte Wicht die Information, dass die Bundesanwaltschaft gegen
den Spiegel ermittelte, und steckte hinter der Weitergabe dieser Information an
Becker womöglich ein Dritter? Bis heute halten sich allerlei Gerüchte. Strauß
wollte an eine Intrige Gehlens gegen den Spiegel glauben und bestritt später,
mit diesem über die Bundesanwaltschaft gesprochen zu haben. Sollte Gehlen
tatsächlich den Verteidigungsminister zu einem harten Vorgehen gegen den
Spiegel gedrängt haben, so hätte er sich nur auf der Linie des Kanzlers bewegt.
Wenig plausibel ist auch die Vermutung, dass sich in der Affäre ein Streit um
die Militärdoktrin der Bundeswehr manifestiert habe. Da Strauß auf die ato­
mare Vorwärtsverteidigung zulasten der konventionellen Verteidigungskräfte
setzte, hätten Traditionalisten, womöglich auch unter Einschaltung der CIA,
auf einen Sturz des Ministers hingearbeitet. Gehlen wird gern als Exwehr­
machtgeneral den Traditionalisten in der Bundeswehr zugerechnet, obwohl er
sich in aktuellen Fragen der Militärdoktrin sehr zurückhielt, erst recht, wenn er
in Widerspruch zu amerikanischen Interessen zu geraten drohte. Wie Gehlen
wusste, soll ihn Strauß dennoch als einen »Hauptfeind« bezeichnet haben.370
Die von Gehlen selbst in seinen Memoiren geäußerte Vermutung, der Spie­
gel habe zusammen mit dem damaligen Hamburger Innensenator Helmut
Schmidt den Verdacht auf den BND lenken wollen, um von der Verstrickung
Schmidts in die Affäre abzulenken,371 ist nicht bewiesen. Schmidt hatte den
Entwurf des Ahlers-Artikels bereits vor den Pullachern begutachten können.
Gehlen räumt an dieser Stelle immerhin ein, dass Kanzler Adenauer selbst für
eine kurze Zeit an eine »düstere Hintergrundrolle des BND« geglaubt habe,
und gab damit einen Fingerzeig auf die eigentliche Katastrophe, die sich für
den BND und für Gehlen persönlich aus der Affäre ergab. Politisch und juris­
tisch klärte sich der Streit um den Artikel und die Maßnahmen gegen die
Redaktion nach wenigen Jahren. Selbst gegen den »Unglücksraben« Wicht
stellte die Bundesanwaltschaft das Verfahren ein.

370 Strauß, Erinnerungen, S. 370-373; Möller, Strauß, S. 329.


371 Gehlen, Der Dienst, S. 229. Schmidt wird hier nicht namentlich genannt.

1034
5. Adenauers Bruch mit Gehlen (1962-1965)

Der Beginn der Spiegel-Affaire im Oktober 1962 war für den BND und damit für
Gehlen noch eine bloße Kommunikationspanne gewesen. Diese Panne resul­
tierte freilich einerseits aus einer fragwürdigen Kumpanei mit dem führenden
politischen Nachrichtenmagazin, die Pullach auf das Glatteis eines »Abgrunds
von Landesverrat« geführt hatte, und andererseits aus gravierenden Füh­
rungsschwächen Gehlens. Denn mit seinem Führungsstil des Laisser-faire,
der vertrauten engsten Mitarbeitern weiten Spielraum zum eigenen Handeln
ließ, haben es in seiner Abwesenheit die beiden Hauptakteure in Pullach bzw.
Hamburg, Weiß und Wicht, am notwendigen Fingerspitzengefühl fehlen las­
sen. Das jahrelange Agieren in einer Grauzone der Politik war nicht geeignet,
hohe Standards von Recht und Moral zu gewährleisten.
Dass die Spiegel-Affaire den BND bis in seine Grundfesten erschüttern
konnte, resultierte aus Gehlens Verhalten Mitte Oktober 1962 nach dem
Erscheinen des ominösen Artikels zur Militärstrategie. Anfang November fand
im Bundestag eine dreitägige hitzige Debatte über den Fall Spiegel statt, die
Adenauer politisch in schwere Bedrängnis brachte. Er schien zu ahnen, dass
ihm eine Kabinettskrise drohte. Tatsächlich war die Krise mit dem Rücktritt
von Verteidigungsminister Strauß wenig später nicht erledigt. Auch die vier
FDP-Minister der Bundesregierung reichten zeitweilig ihren Rücktritt ein und
zwangen Adenauer eine Diskussion über eine mögliche Große Koalition sowie
am Ende eine Kabinettsumbildung auf. In seiner Empörung im Bundestag über
den »Abgrund von Landesverrat« schwang die Enttäuschung mit, dass aus­
gerechnet der BND, eine »unsichtbare Säule seiner Herrschaft« (Hans-Peter
Schwarz), versagt hatte. Noch schwelte der unglaubliche Verrat durch Felfe,
der ebenso wie Wicht in Karlsruher Untersuchungshaft einsaß. Mit Wicht aus
Pullach als Bauernopfer wollte sich Adenauer nicht zufriedengeben. Die pro­
vokative Unschuldsmiene des BND-Chefs trug vielleicht dazu bei, dass Gehlen
eine Vorladung des Kanzlers erhielt.
Dieser hatte sich vorgenommen, kurz vor der Abreise zu einem USA-Besuch
Gehlen persönlich der Lüge zu überführen und seine Verhaftung bzw. Abset­
zung zu veranlassen. In Vertretung von Globke forderte Mercker für das Kanz­
leramt Gehlen schriftlich auf, umgehend die entscheidenden Fragen zu beant­
worten, wie Wicht von dem Ermittlungsverfahren gegen den Spiegel erfuhr und
ob die BND-Zentrale davon unterrichtet gewesen sei, dass er Kontakt mit dem
Nachrichtenmagazin gehabt habe.372 Da mit einer parlamentarischen Anfrage

372 Schreiben Mercker an Gehlen betr. Verhaftung des Oberst Wicht, 12.11.1962, VS-Regis­
tratur Bka, Bk 10218/175, Bd. 1.

1035
zu rechnen sei, wie es möglich sein könne, dass ein prominenter Mitarbeiter
des BND der Begünstigung des Landesverrats verdächtigt werde, sei Eile gebo­
ten. Vielleicht erhielt Gehlen das Schreiben noch auf dem Weg zu Adenauer.
Aber er war sicherlich überrascht davon, was ihn im Arbeitszimmer des Kanz­
lers erwartete. Adenauer hatte eine förmliche Vernehmung arrangiert, die er
persönlich unter Beiziehung des Bundesjustizministers Wolfgang Stammber­
ger (FDP) und eines Vertreters der Bundesanwaltschaft zu führen gedachte.
Da er wohl mit einem Geständnis rechnete, wollte der Kanzler den BND-Chef
anschließend auf der Stelle verhaften lassen – eine unglaubliche und einmalige
Konstellation in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Vergleichbares war Gehlen weder in seiner früheren militärischen Kar­
riere noch in den vergangenen Jahren seiner Präsidentschaft widerfahren. Am
12. November 1962, an einem Montagmittag, erlebte er eine niederschmet­
ternde persönliche Erfahrung, die ihn für den Rest seines Lebens geprägt hat.
Auch wenn er noch immer Soldat genug war, um den »Anschiss« durch den
Kanzler äußerlich mit Haltung wegzustecken – es ist kaum vorstellbar, dass es
nicht der Moment für ihn war, um über ein Rücktrittsgesuch ernsthaft nach­
zudenken. Das jetzt zugänglich gewordene Protokoll dieser ungewöhnlichen
Begegnung zeigt einen Exgeneral, der sich mit Falschaussagen über die hoch­
notpeinliche Befragung seines Oberbefehlshabers hinwegmogelte. Er setzte
auf Standfestigkeit und das Leugnen jeder Schuld, womit er die Absicht des
Kanzlers unterlief, ihn am Ende des kurzen Gesprächs durch den im Neben­
raum wartenden Justizminister verhaften zu lassen. Vielleicht könnte man
ihm dabei eine gewisse Portion Kaltblütigkeit zubilligen, wenn er nicht mit
diesem äußerst fragwürdigen Verhalten den Ehrenkodex der militärischen
Kaste zutiefst verletzt hätte, der er sich zugehörig fühlte. Doch wo hatte es in
der Wehrmachtelite je einen standhaften General gegeben, der sich nach einer
Demütigung durch den »Führer« offenen Widerspruch getraut hat? Reinhard
Gehlen hat sich vermutlich in diesem Augenblick ähnlich gefühlt wie im Alter
von vier Jahren bei der einzigen Tracht Prügel seines Vaters.
Auch wenn vorstellbar ist, dass es Gehlen in diesem Augenblick nicht als
»Frage der Ehre« ansah, und er tatsächlich von seiner Unschuld überzeugt
oder schlicht sprachlos und überrumpelt gewesen sein sollte – die Umstände
der Befragung hätten ihn dennoch veranlassen können, sofort oder zumin­
dest am Tag danach seinen Rücktritt anzubieten. Es wäre auch bei nüchterner
Betrachtung eine sinnvolle Handlung gewesen und hätte Reinhard Gehlen im
historischen Rückblick viel Respekt einbringen können. Nach diesem peinli­
chen Zusammentreffen mit dem Kanzler konnte er nicht ernstlich damit rech­
nen, den Bruch wieder heilen zu können. Damit fehlte ihm für die Zukunft
die notwendige Vertrauensbasis mit der politischen Führungsspitze, die eine
unabdingbare Voraussetzung dafür war, die Interessen des BND in Bonn wirk­

1036
sam zur Geltung zu bringen. In seinen Memoiren spielte er diese Situation
später auf einen einzigen Satz herunter: »Zeitweilige Verstimmungen Dr. Ade­
nauers, die sich – unberechtigt – aus der Spiegel-Affaire ergeben hatten, konn­
ten rasch beseitigt werden.«373
Heinrich Krone, Adenauers vertrauter Bundesminister für besondere
Aufgaben, der während der bevorstehenden Kanzlerreise wegen der Koali­
tionskrise die Stellung in Bonn halten sollte, wurde vom Kanzler unmittelbar
nach dem Abgang Gehlens gerufen. Für Adenauer stand fest, dass, sollte Geh­
len selbst oder einer seiner Mitarbeiter Schuld tragen, »die Phantasie Anlaß
genug [hätte] zu fragen, was auch sonst der Münchener Dienst an Informatio­
nen weitergegeben haben könnte. Das Vertrauen zu Gehlen und seinem Kreis
wäre dahin.« Krone notierte in seinem Tagebuch: »Der Kanzler war erregt und
empört. Über das Gespräch Kanzler – Gehlen wurde eine Notiz angefertigt, die
auch Gehlen nach genauer Durchsicht unterschrieb.«374 Das Besondere die­
ses Gesprächs lag in seiner Förmlichkeit, aber es lohnt sich, auch den Inhalt
genauer zu studieren, der bislang nur in Umrissen bekannt war.
Das Protokoll der »Ladung« Gehlens zum Fall Wicht zeigt, dass Adenauer
erfahren wollte, wie es denn dazu kommen konnte, dass, nachdem Gehlen am
17. Oktober von Strauß über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens infor­
miert worden war,375 Oberst Wicht dann den Spiegel unverzüglich unterrich­
tete. Gehlen wich aus und behauptete, er sei nicht am 17. Oktober, sondern
bereits am 14. oder 15. bei Strauß gewesen. Er habe von Strauß auch nicht die
Mitteilung bekommen, dass ein Verfahren wegen Landesverrats eingeleitet sei,
sondern dass der Generalbundesanwalt das Verteidigungsministerium um die
Abgabe eines Gutachtens ersucht habe, ob Landesverrat vorliege. Adenauer
belehrte Gehlen, dass die Anforderung eines Gutachtens bereits die Einleitung
eines Verfahrens bedeute. Dann setzte Adenauer nach:

Nach wiederholten Rückfragen bei Bundesminister Strauss wurde dann fest­


gestellt, dass Präsident Gehlen am 17. Oktober 1962 von 15-16 Uhr und von
17 bis 18 Uhr nachmittags bei Bundesverteidigungsminister Strauss gewesen
ist. Ich habe dann Präsident Gehlen gefragt, wen er nach seiner Rückkehr
nach München von dieser Mitteilung des Bundesverteidigungsministers in
Kenntnis gesetzt habe.

373 Gehlen, Der Dienst, S. 207.


374 Wocheneintrag 11.-17.11.1962, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 115.
375 Protokoll vom 12.11.1962, VS-Registratur Bka, Bk 10218/175, Bd. 1; Möller, Strauß,
S.249.

1037
Günter Bachmann, persönlicher Referent
Konrad Adenauers, 1958

Gehlens Taktik, durch die falsche Angabe eines früheren Termins Zeit im
Ablauf der Ereignisse zu gewinnen, ging also nicht auf. Er hätte damit rech­
nen müssen, dass Adenauer sofort telefonisch bei Strauß nachfragen würde.
Diese Telefonate müssen für den BND-Chef Augenblicke höchster Anspannung
gewesen sein.
Gehlen nannte auf die Frage Adenauers seinen Stellvertreter Worgitzky (der
sich allerdings zu diesem Zeitpunkt noch im Urlaub befand) und Weiß. Ade­
nauer wollte wissen, wie Rudolf Augstein noch am selben Tag Kenntnis erhal­
ten habe. Gehlen meinte, er könne sich das nicht erklären. Adenauer hielt ihm
vor, nur einer der drei, Gehlen, Worgitzky oder Weiß, könne es gewesen sein.
Gehlen blieb bei seiner Darstellung. Adenauer:

Ich habe Präsident Gehlen nochmals vorgehalten, dass diese Mitteilung nur
jemand an Oberst Wicht gemacht haben könnte, der in enger Verbindung
mit Oberst Wicht stehe. Präsident Gehlen erklärte, er habe es nicht getan. Er
halte auch die beiden genannten Herren für unschuldig. Er meinte, es könne
irgendjemand sonst getan haben. Ich habe Präsident Gehlen nochmals vor­
gehalten, die zeitliche Verbindung, die Tatsache, dass von dem Ganzen nur
sehr wenige gewusst hätten und die weitere Tatsache, dass derjenige, der
dem Oberst Wicht die Mitteilung gemacht habe, ihn genau kennen müsse.
Das berechtige den Schluss, dass einer von den Dreien es gewesen sei. Präsi­
dent Gehlen blieb bei seiner Erklärung. Bonn, den 12. November 1962, Unter­
schriften Gehlen und Adenauer.

Der Kanzler nahm womöglich an, dass diese Aussage Gehlens zu seiner Ver­
haftung reichen könnte, musste sich allerdings durch seinen Justizminister

1038
Stammberger belehren lassen, dass dieser aus verfassungsrechtlichen Grün­
den keine Verhaftung persönlich durchführen könne. So wurde die Verneh­
mung des BND-Präsidenten am 12. und 13. November 1962 durch den Gene­
ralbundesanwalt fortgesetzt. Angesprochen auf seine falschen Angaben zum
Gesprächstermin bei Franz Josef Strauß, räumte Gehlen nun ein, dass er erst
am 17. Oktober vom Verteidigungsminister erfahren habe, dass es ein Gut­
achten seines Ministeriums geben werde. Gehlen gab an, er habe nach seiner
Rückkehr nach Pullach Worgitzky und Weiß über den Sachstand informiert.
Demgegenüber machte Vizepräsident Worgitzky die Aussage, er sei zu diesem
Zeitpunkt im Urlaub gewesen und erst am 23. Oktober wegen der Kubakrise
zurückberufen worden, was durch Regierungsrat Walrab von Buttlar aus dem
Sicherheitsbereich des BND bestätigt wurde.
Auch Weiß widersprach der Einlassung seines Präsidenten. Bei seinem
Gespräch am 18. Oktober habe ihm dieser nichts von einem Verfahren oder
einem Gutachten erzählt. Er, Weiß, sei dann vom Eingreifen der Bundesan­
waltschaft völlig überrascht worden. Schließlich gab der Persönliche Referent
Gehlens, Klaus Eschenburg (DN »Torgau«), an, er habe zwar am Gespräch des
Präsidenten mit Weiß am Vormittag des 18. Oktober teilgenommen, bei dieser
Gelegenheit habe sein Chef jedoch weder von dem Gespräch mit Strauß noch
von bevorstehenden Exekutivmaßnahmen gegen den Spiegel gesprochen. Es
war der Zusammenbruch der letzten Verteidigungslinie des Exgenerals.
Seine drei engsten Mitarbeiter ließen Gehlen mit seinen Aussagen gegen­
über dem Kanzler und dem Generalbundesanwalt also im Stich: Worgitzy war
gar nicht anwesend, Weiß und Eschenburg leugneten angebliche Hinweise aus
dem Gespräch Gehlens mit Strauß. Somit blieb der Verdacht der Weitergabe
von Ermittlungsgeheimnissen am BND-Chef hängen. War es eine gescheiterte
Verteidigungsstrategie, sich hinter Worgitzky und Weiß zu verschanzen und
die beiden Mitarbeiter großzügig in seine Unschuldsbehauptung einzubezie­
hen?
Der Generalbundesanwalt sah jedenfalls genug Anlass, den Präsidenten am
Abend des 13. Novembers neuerlich zu vernehmen. Gehlen bezog eine neue
Verteidigungslinie, indem er angab, er habe den Ausführungen von Strauß
nicht entnehmen können, ob das Gutachten des Verteidigungsministeriums
zu einem positiven oder negativen Ergebnis führen würde. Er habe auch nicht
die Vorstellung gehabt, dass bereits ein Ermittlungsverfahren laufe, sondern
mehr an vorbereitende Schritte gedacht. Das Gespräch mit Weiß und Eschen­
burg am 18. Oktober schilderte er jetzt so, dass die Beantwortung der Fragen
zum Spiegel-Artikel durch den BND zu unangenehmen Folgen führen könnte,
käme es zu einem Verfahren. An genaue Formulierungen konnte sich Gehlen
nicht erinnern, vor allem nicht daran, ob seine Äußerungen den Schluss zulie­
ßen, dass ein Verfahren mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei.

1039
Weiß zog er damit als möglichen Informanten von Wicht und damit des
Spiegel etwas aus der Schusslinie. Dafür trat nun der BND-Mitarbeiter Volker
Foertsch (DN »Fritz Fleming«) auf und gab an, er habe bereits am 14. Oktober
außerhalb seines Dienstbereichs erfahren, dass man im Verteidigungsminis­
terium die Frage einer möglichen Strafanzeige gegen den Spiegel prüfe. Am
17. habe er davon Eschenburg Kenntnis gegeben. Dieser behauptete, er habe
sein Wissen für sich behalten. Foertsch wollte aber an diesem Tage auch von
einem anderen Mitarbeiter gehört haben, dass man sich im Verteidigungsmi­
nisterium noch nicht schlüssig sei, ob der Artikel Staatsgeheimnisse enthalte.
Er wandte sich an den Präsidenten, der gesagt habe, dass der Verteidigungs­
minister Schritte gegen den Spiegel erwäge.
Seine bisherigen Ermittlungen fasste der Generalbundesanwalt für den
Kanzler so zusammen, dass Gehlen am 18. Oktober eine Besprechung mit
Weiß und Eschenburg gehabt habe, die sich vor allem mit der Beantwortung
der Spiegel-Fragen beschäftigt habe. Dabei sei Weiß wegen Überschreitung sei­
ner Befugnisse von Gehlen scharf gerügt worden. Der Präsident habe Schwie­
rigkeiten mit dem Verteidigungsministerium befürchtet. Weiß wiederum habe
dieses Gespräch auf den 15. Oktober verlegt. Ob sich Weiß lediglich irre oder
bewusst den zeitlichen Ablauf vertuschen wolle, lasse sich noch nicht absehen.
Nachweislich aber habe Weiß nach dem Erscheinen des Artikels mehrfach mit
Wicht telefonisch gesprochen. Dabei soll erörtert worden sein, dass der Spiegel
den BND beim Zustandekommen des Artikels hintergangen habe. Weiß wolle
erklärt haben, dass der Spiegel selbst die Verantwortung für den Artikel über­
nehmen müsse.376
Im Ergebnis deutete alles daraufhin, dass die Warnung an die Spiegel-Redak­
tion von Oberst Wicht gekommen sein muss. Wicht wurde dann freilich früher
aus der Untersuchungshaft entlassen als Augstein und Ahlers. Nachdem die
Bundesanwaltschaft die Ermittlungen zwei Jahre später eingestellt hatte, fand
Wicht bis zu seiner Pensionierung bei der Bundeswehr Verwendung. Helmut
Schmidt und Willy Brandt setzten sich vergeblich dafür ein, ihn außerplan­
mäßig zum General zu befördern. Anschließend beschäftigte ihn der Spiegel-
Verlag mit der Zuständigkeit für den Auslandsvertrieb. Hatte sich Wicht in der
ganzen Affäre untadelig verhalten oder hatte er Warnungen vor juristischen
Folgen aus Pullach nach Hamburg weitergegeben? Hatte er ein politisches
Bauernopfer werden sollen, dem Gehlen persönlich folgen sollte? Hat Gehlen
sich mit einem geschickten Verwirrspiel um Termine, Gesprächspartner und
-inhalte dieser ihm womöglich zugedachten Rolle entziehen können?

376 Schreiben des Generalbundesanwalts an den Bundeskanzler, 18.11.1962, VS-Registra­


tur Bka, Bk 10218/175, Bd. 1.

1040
Der Neubau der CIA-Zentrale in Langley (Virginia), 1961 von John F. Kennedy feierlich
übergeben

Gleich nach seiner Rückkehr aus den USA und mit der Hoffnung, dass die
schwelende Kubakrise glimpflich zu Ende gehen würde, bestellte Adenauer in
der »Gehlen-Angelegenheit« am 19. November noch einmal den Vertreter der
Bundesanwaltschaft. Dieser bestätigte, dass Gehlen einiges nicht aufrechter­
halten könne, was er dem Kanzler am 12. November gesagt und in dem gemein­
samen Protokoll unterschrieben habe. Heinrich Krone riet dazu, »noch keine
Konsequenzen gegen Gehlen zu ziehen«. Bundestagspräsident Eugen Gers­
tenmaier (CDU), dem der Kanzler am Morgen zuvor von der Angelegenheit
erzählt hatte, war »für sofortiges Durchgreifen«.377 Warum Adenauer zögerte
und scheinbar resignierte, ist schwer verständlich. Sein Koalitionspartner FDP
forderte inzwischen den Rücktritt von Verteidigungsminister Strauß und wäre
mit einem Bauernopfer Gehlens nicht zu besänftigen gewesen. So stellte Ade­
nauer sein neues Kabinett Mitte Dezember zusammen, mit der FDP, aber ohne
Strauß, und Gehlen durfte bleiben.
Inzwischen hatte Bundesanwalt Albin Kuhn noch einmal mit Gehlen
gesprochen. Dieser räumte ein, dass er im Nachgang zu der Befragung durch
den Kanzler in einem Gespräch mit Strauß in dessen Wohnung nun selbst zu
der Überzeugung gekommen sei, dass ihm Strauß am 17. Oktober von einem
Gutachten für die Bundesanwaltschaft erzählt habe. Davon habe er nach
Rückkehr nach Pullach nur Worgitzky und Weiß in Kenntnis gesetzt. Von sei­
nem Persönlichen Referenten habe er dann gehört, dass die Zentrale vor der
Publikation des Spiegel-Artikels versucht habe, auf dessen Gestaltung Einfluss

377 Eintrag vom 19.11.1962, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 119.

1041
zu nehmen. Statt des Artikelentwurfs sei von der Spiegel-Redaktion nur ein
Fragenkatalog vorgelegt worden, der in der Abwesenheit Gehlens und Worgitz­
kys vom Abteilungsleiter Weiß beantwortet worden sei. Das sei nicht opportun
gewesen. Deshalb habe er Weiß seine Missbilligung ausgesprochen. Er habe
aber mit keinem in der Dienststelle über ein Vorgehen der Bundesanwaltschaft
gesprochen, erst nach der Verhaftung von Wicht. Dann habe er Ermittlungen
seiner Sicherheitsabteilung durchführen lassen, die noch andauerten.378 Damit
verliefen die Ermittlungen im Sande. Zur Berichterstattung von Adenauer
nach Cadenabbia bestellt, hörte, so erzählte man sich anschließend im Kanz­
leramt, der »Alte« dem BND-Präsidenten 45 Minuten geduldig zu, um dann
trocken im schönsten Kölsch zu bemerken: »Herr Gehlen, sind Sie doch so nett
und schreiben Sie mir das alles auf – jetzt gleich!« Der Kanzler verabschiedete
sich, verließ das Zimmer und sperrte die Türe zu.379
Gehlen konnte davon ausgehen, dass Strauß nach seinem Rücktritt am
30. November 1962 politisch aus dem Rennen war und Adenauer die gesamte
Affäre beerdigen wollte. Mochte ihn der Kanzler, dessen Tage bereits gezählt
waren, auch künftig auf Distanz halten. Sein BND würde – so mag er gedacht
haben – auch für künftige Regierungen ein unentbehrliches Werkzeug sein.
Als »utility« hatte er in jedem Falle die Rückendeckung der CIA. Schließlich
war sich auch Krone, intern ein harter Kritiker von Strauß, sicherlich bewusst,
welchen Nutzen der BND für die bürgerliche Mehrheit im Parlament hatte.
Ein durch Adenauers Würgegriff geschwächter BND-Präsident konnte sich
bei anhaltender öffentlicher Kritik künftig nur durch bedingungslose Loyalität
im Amt halten. Und Reinhard Gehlen wusste sich wie stets der neuen Lage
anzupassen. Unter dem Druck immer neuer öffentlicher Kritik verstieg er sich
zwar gelegentlich zu einer kämpferischen Haltung, aber Zeichen von Lethargie
waren unübersehbar.
Dabei hätte er bei einer Bilanz Ende 1962 zwei triumphale Erfolge des Wes­
tens feiern können, an denen der BND einen nicht geringen Anteil hatte. Mit
dem Abflauen der Berlinkrise zeigte sich, dass es der Berliner Bevölkerung
gelungen war, in einem mehr als zehnjährigen Abwehrkampf gegen Schika­
nen und Erpressungen des Ostens standhaft zu bleiben. Alle Bemühungen des
Gegners, den Status von Berlin grundlegend zu verändern und eine Deutsch­
landpolitik nach Moskauer Wünschen durchzusetzen, waren trotz gelegent­
lich starker Schwankungen bei den westlichen Alliierten gescheitert. In der
Kubakrise waren einem globalen Ausgreifen der UdSSR und einer gefährli­

378 Vermerk von Bundesanwalt Kuhn vom 23.11.1962, VS-Registratur Bka, Bk 10218/175,
Bd.l.
379 Erinnerungen Grabers, S. 15, BND-Archiv, N 4/20.

1042
chen Aufweichung des atomaren Gleichgewichts Riegel vorgeschoben wor­
den. Chruschtschow musste mit seinen Raketen den Rückzug aus der Karibik
antreten und seine Politik ultimativer Erpressungen in der Berlinfrage aufge­
ben. Im Gegenzug haben die USA 1963 insgeheim ihre Mittelstreckenraketen
(»Jupiter«) aus der Türkei abgezogen.
Dazu kam schließlich noch ein weiterer Triumph. Die deutsch-französische
Annäherung, die Gehlen selbst seit 1945 als Fundament westlicher Sicher­
heit und eines deutschen Wiederaufstiegs angesehen hatte und zu der er auf
geheimdienstlicher Ebene mit großem persönlichen Engagement beizutra­
gen bemüht gewesen war, erreichte mit der Unterzeichnung eines Freund­
schaftsvertrages durch Kanzler Adenauer und Staatspräsident de Gaulle am
22. Januar 1963 einen ersten Höhepunkt. In seinen Memoiren rühmte sich Geh­
len später, dass die Verbindungen beider Dienste von den politischen Konjunk­
turen unabhängig gewesen seien.380 Dabei war nicht zu leugnen, dass Paris
mithilfe der Deutschen eine eigenständige Rolle Europas gegenüber den USA
anstrebte, Bonn aber die Brücke über den Atlantik als lebenswichtig betrach­
tete. Gehlen bewährte sich in seinem Metier als Mediator und verstand es, die
Interessen auszubalancieren.
In einer für Weiß angefertigten Jahresbilanz 1962 waren, um die Leis­
tungsfähigkeit des BND quantitativ zu illustrieren, für die Ostaufklärung ca.
25.000 Einzelberichte verzeichnet worden, woraus 5229 Meldungen für den
Meldungsausgang produziert worden waren. Für den Westen und die Entwick­
lungsländer hatte man rund 10 000 Meldungsausgänge zu verzeichnen, ein
Ergebnis der erfolgreichen globalen Ausdehnung der BND-Aufklärung, wenn
auch noch nicht in der gewünschten Qualität. Eine bessere Quellenauswahl sei
notwendig, hieß es intern, insbesondere der Wert von Reisequellen sei zweifel­
haft. Besser wären ortsfeste Quellen.381
Ebenso wie solcher internen Organisationsprobleme hätte Gehlen sich der
Leistungsfähigkeit des BND im Kriegsfälle annehmen können. Im Nachklang
zur Kubakrise war festzustellen, dass die Aufstellung eines zugesagten Fall­
schirmjägerbataillons für den BND noch immer nicht begonnen hatte – und
auch niemals zustande kam. Dazu forderten die Experten des BND jetzt die
Aufstellung einer Kampfschwimmereinheit für die Kleinkriegführung – ein
aussichtsloses Unterfangen, da die Marine allenfalls ab 1965 eine entspre­
chende Zusammenarbeit für möglich hielt.382 Statt einer Unterstützung durch

380 Gehlen, Der Dienst, S. 231.


381 Jahresabschluß-Unterrichtung vom 31.12.1962, BND-Archiv, N 10/10.
382 Schreiben an Führungsstab der Bundeswehr vom 7.12.1962 und Vermerk über die
Besprechung beim Stellvertretenden Marineinspekteur am 7.10.1963, Chronik, BND-
Archiv, 4324.

1043
die aktive Bundeswehr wurde der BND auf die eigenen Kräfte verwiesen. Die
ca. tausend Beamten und Angestellten des Dienstes sollten nach einer neuen
Regierungsvorlage ebenso wie die zivilen Bundeswehrbeamten im Verteidi­
gungsfall ihre Aufgaben als Soldaten auf Zeit fortfuhren. Gehlen hätte dann
eine rein militärische Truppe zu fuhren, in der Mehrzahl mit frustrierten Zeit­
soldaten, die keine Gelegenheit hatten, im Frieden notwendige Reserveübun­
gen abzuleisten und damit einen ihrer Dienststellung gemäßen militärischen
Rang zu erwerben.383 Man verständigte sich schließlich auf Planungsgrößen
des BND für den Kriegsfall. Als Teil der Kriegsbundeswehr sollte der BND rund
9000 Personen umfassen, dazu fünf Bataillone mit Stabs-, Fernmelde-, Versor­
gungs- und Fallschirmjägereinheiten erhalten, außerdem eine Staffel Heeres­
flieger und ein Kriegsgefangenenlager.384 Das bedeutete Kräfte im Umfang
einer Division, wofür Gehlens Reservedienstgrad Generalleutnant angemessen
war. Aber das blieb reine Utopie.
Sein besonderes Engagement in dieser Frage folgte offenbar seinem alten
Handlungsschema, das ihm bereits 1944 die ungewöhnliche Beförderung zum
Generalmajor eingebracht hatte: dem Ansichziehen benachbarter Tätigkeits­
felder und damit der Vergrößerung seines Apparats. Es war ihm gelungen,
mithilfe von Strauß den Dienstposten eines Generalleutnants der Reserve
(der höchste jemals an einen Reservisten vergebene Dienstgrad) zu erlan­
gen, um im Verteidigungsfall sogar auf die disziplinarrechtlichen Befugnisse
eines Kommandierenden Generals hoffen zu dürfen. Nach den Planungen
des BND für den Kriegsfall hätte Gehlen – in Überhöhung der eigenen Rolle -
auf Augenhöhe mit den Inspekteuren der Teilstreitkräfte gestanden.385 Dabei
musste sein Schwager Seydlitz-Kurzbach nach einer kurzen Beschäftigung
mit den Ergebnissen der Mob-Herbstübung 1961 feststellen, dass die Vorbe­
reitungen teilweise naiv und leichtfertig gehandhabt worden seien. Im Ernst­
fall sei weder die Weiterarbeit des BND noch eine geordnete Evakuierung
des Personals sichergestellt. Vielmehr sei mit einer unvorstellbaren Panik zu
rechnen, weil praktisch auf keinem Gebiet die Vorbereitungen abgeschlossen
seien.386
In seinem Rundschreiben an alle Mitarbeiter zum Jahreswechsel 1962/63
ließ Gehlen nicht erkennen, dass größere Anstrengungen auf vielen Gebieten
notwendig sein würden, um den Dienst weiter voranzubringen.387 Er ließ auch

383 Vermerk zum Bundeswehrbeamtengesetz vom 4.3.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 46.
384 Schreiben Gehlens an Generalinspekteur Heinz Trettner vom 31.1.1964, BND-Archiv,
40365.
385 Siehe Armin Müller, Wellenkrieg, S. 161.
386 Seydlitz-Kurzbach an Gehlen, 24.8.1961, BND-Archiv, N 71/1, Blatt 215-217.
387 Rundschreiben Gehlens vom Dezember 1962, BND-Archiv, N 4/v. 11.

1044
jenes Mindestmaß an Führungsstärke vermissen, die erforderlich war, um die
durch die jüngsten Krisen verunsicherten Mitarbeiter in ihrem Selbstbewusst­
sein zu stärken und erkennen zu lassen, dass der Präsident beharrlich daran
arbeiten würde, die Arbeitsbedingungen des Dienstes zu verbessern und sein
Ansehen zu mehren. Nach einem allgemeinen Dank erwähnte er lediglich Rück­
und Fehlschläge, »die naturnotwendigerweise mit der Arbeit jedes Nachrich­
tendienstes verbunden sind«. Sie würden bei stets gleicher Einsatzbereitschaft
jedes Einzelnen »nur Randereignisse einer positiven Weiterentwicklung des
Dienstes sein«. Das war eine ziemlich gestelzte und armselige Aufmunterung
der mehr als fünftausend Mitarbeiter in und außerhalb der Pullacher Zentrale,
die ihren Präsidenten meist nicht einmal zu Gesicht bekamen.
Dabei stand sein Lebenswerk infrage, und sein persönliches Ansehen war
angeschlagen. Hinter den Kulissen der Bonner Politik war seine Meinung
kaum noch gefragt, zumindest was die höchste Führungsspitze betraf. Gehlens
Devise, einfach wie bisher weiterzuarbeiten, war in gewisser Weise »vernünf­
tig«. Doch eine positive Weiterentwicklung stand nicht in Aussicht. Auf den
87-jährigen Kanzler konnte er nicht mehr setzen. Dessen Tage waren gezählt,
und die Spiegel-Affäre hatte das Band des Vertrauens zwischen beiden zer­
schnitten. Dass der gesundheitlich angeschlagene Globke unter einem neuen
Kanzler weitermachen würde, war unwahrscheinlich. Als Nachfolger Adenau­
ers war Wirtschaftsminister Ludwig Erhard im Gespräch. Der populäre Vater
des »deutschen Wirtschaftswunders« wurde aber nicht nur von Adenauer
als ungeeignet für die Kanzlerposition angesehen. Fachlich hatte Gehlen zu
ihm bislang keinen Zugang gefunden. Wenig sprach also dafür, dass Gehlen in
Erhard für sich einen Hoffnungsträger sehen konnte, der ihm wieder die Türen
zum Palais Schaumburg, der Residenz des Bundeskanzlers, öffnen und auf den
Rat des BND-Präsidenten hören würde.
Das Jahr 1963 brachte die letzten Wochen der Kanzlerschaft Adenauers
und einen voraussichtlichen Übergangskanzler. Was Gehlen nicht ahnte und
später auch nicht wahrhaben wollte, war der Beginn des Entspannungszeit­
alters. Es begann im März mit einer Privataudienz des Schwiegersohns von
Chruschtschow bei Papst Johannes XXIII., von der Gehlen über seinen brü­
derlichen Residenten sogar mit einem Wortprotokoll unterrichtet wurde.388
Im Sommer ließ eine Grundsatzrede von Präsident Kennedy eine tiefgreifende
ostpolitische Kurskorrektur erkennen. In der Bundesrepublik setzten Sozialde­
mokraten und Liberale bald danach auf eine »neue Ostpolitik«. Damit verband
sich die Hoffnung auf ein Ende des Kalten Krieges und der ideologischen Kon­
frontation. Der alte Herr aus Rhöndorf gehörte jetzt schon der Vergangenheit

388 Franceschini/Wegener Friis/Schmidt-Eenboom, Spionage, S. 89-90.

1045
an, meinten viele. Warum nicht auch sein langjähriger Wahrsager aus Pullach?
Kein Wunder also, dass im BND besorgt die zahlreichen Presseberichte und
Gerüchte über eine Zusammenlegung der verschiedenen Nachrichtendienste
sowie eine mögliche Ablösung Gehlens registriert wurden.389 Dabei stand der
Prozess gegen Heinz Felfe erst noch bevor, dessen Verrat den BND professio­
nell bis ins Mark getroffen hatte. Für Reinhard Gehlen schien es wohl klüger
zu sein, die bevorstehende Abwehrschlacht um seine Person und die Zukunft
des BND aus der sicheren Deckung heraus zu führen, gleichsam als gelernter
Artillerist.
Auf seine spezielle Art reagierte er auch, als im Februar Antoine Argoud,
ein führendes Mitglied der Organisation de l‘armée secrète (OAS)390, der in
Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war, aus München
nach Paris entführt wurde. Während sich Bonn offiziell zunächst zurückhielt,
vergewisserte sich Gehlen, dass hinter der Tat nicht der befreundete SDECE
steckte, sondern Afrikaminister Jacques Foccart, der für de Gaulle die OAS
bekämpfte. Gehlen war beleidigt: »Das können wir bei aller Freundschaft uns
nicht gefallen lassen.« Über seinen Vertreter in Paris beschwerte er sich beim
französischen Geheimdienst und lieferte Informationen, die es ermöglichten,
den verantwortlichen Minister zu identifizieren.391
Eine unerlässliche Stütze blieb Kurt Weiß, trotz der Schwierigkeit, in die
er seinen Chef während der Spiegel-Affäre gebracht hatte. Das galt zum einen
für die heiklen Presseverbindungen, auf deren publizistischen Feuerschutz -
neben der Möglichkeit, Auslandsnachrichten zu gewinnen – der BND mehr
denn je angewiesen war. Zum anderen blieben die geheimen Sonderverbin­
dungen im Inland von besonderer Bedeutung, zu den Parteien, darunter auch
zur SPD-Opposition, und zu den Gewerkschaften. Weiß unterrichtete seinen
Chef außerdem regelmäßig über die Verbindungen in die osteuropäische Emi­
gration hinein. Dauerthema bildete die Subventionierung einer Zeitschrift,
an der sich – neben dem Bundespresseamt, dem Verteidigungsministerium
sowie dem Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen – auch der BND beteiligte.

389 Geschichte des BND, S. 109, BND-Archiv, N 6/3; siehe zum Beispiel Falsche Töne um
Mitternacht, Stern 31/1963 vom 4.8., S.69, mit Verweis auf die Felfe-Blamage. General
Wessel stehe als Nachfolger bereit, hieß es.
390 In der Endphase des Algerienkrieges hatte sich die OAS als geheime französische Unter­
grundarmee gebildet und durch einen Staatsstreich am 22. April 1961 in Algier die nord­
afrikanische Kolonie vergeblich dem Mutterland erhalten wollen.
391 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 10.12.1971, IfZ, ED 100-69-142. Offiziell bestritt
die französische Regierung ihre Beteiligung an der Entführung. Bonn forderte am Jah­
resende Argouds Auslieferung. Am selben Tage wurde er in Paris zu lebenslanger Haft
verurteilt. Angeblich hatten ihn deutschstämmige Fremdenlegionäre entführt; siehe
Argoud von Deutschen entführt, Zeit 2/1964.

1046
Chefredakteur war ein Vetter des neuen Verteidigungsministers Kai-Uwe von
Hassel. Gehlen schätzte ihn als eine absolut honorige, nationalbewusste Per­
sönlichkeit ein, der sich aber als Heimatvertriebener und lange in Polen tätiger
Journalist »oft nur schwer von der Vergangenheit trennen« könne. »Muß bei
voller Anerkennung seiner Prinzipien und positiven Einstellung zu Staat, Bun­
deswehr, BND immer wieder zur Berücksichtigung der Nachkriegs-Realitäten
veranlaßt werden.«392 So sprach der heimatvertriebene Schlesier Gehlen, für
den wahrscheinlich die Ansprüche der ehemaligen Volksdeutschen Vorkriegs­
polens unter den veränderten Verhältnissen kein besonderes Anliegen gewe­
sen sind. Dazu wurde er auch von der Bonner Staatsdoktrin des Beharrens auf
»Deutschland in den Grenzen von 1937« angehalten.
Fragen der Gesinnung standen für ihn an vorderer, aber nicht immer an
vorderster Stelle. Selbst sein Adlatus Weiß zeigte sich inzwischen vorsichti­
ger, wenn bei Kontakten NS-Belastungen auftauchten. Dann äußerte er starke
Bedenken und ordnete Überprüfungen an. Betraf es eigene Mitarbeiter, setzte
er sich für eine verdeckte Unterbringung und Weiterbeschäftigung ein – ganz
im Sinne seines Herrn: Ärger vermeiden. Auf der anderen Seite hatte Weiß
Berührung zu den Aktivitäten des »Halbjuden« Rolf Vogel, der als Leutnant der
Reserve vom Verteidigungsministerium beschäftigt wurde und angeblich stän­
digen Zutritt zu Adenauer und Globke hatte. Vogel, Jahrgang 1921, war Sohn
des Journalisten und KPD-Mitglieds Kurt Vogel und 1940 als »wehrunwürdig«
aus der Wehrmacht entlassen worden. Adenauer schätzte den Journalisten als
Kontaktmann zu israelischen Gesprächspartnern. Beim Eichmann-Prozess
wurde Vogel engagiert, um Globke zu entlasten.393 1963 begleitete er Strauß
bei seiner Israelreise. Oberstleutnant Trentzsch, Leiter der Gruppe Psycholo­
gische Kampfführung, empfahl eine vorsichtige Kontaktaufnahme mit Vogel,
obwohl eine Beziehung zum israelischen Nachrichtendienst zu vermuten sei.
Man habe keinen Zweifel an seiner nationalen Gesinnung und seinem großen
Engagement für Regierung und Bundeswehr. Vogel wolle offenbar als Journa­
list und Buchautor von den Bemühungen um eine Verbesserung der deutsch­
israelischen Beziehungen profitieren.394

392 Eintrag 9.-11.1.1963, BND-Archiv, N 10/10.


393 Klaus Wiegrefe: Kalter Krieg beim Eichmann-Prozess. Aktenklau für die Adenauer-
Republik, Spiegel Online vom 2.9.2010.
394 Eintrag 1963, BND, N 10/10. Der geschäftstüchtige Vogel betrieb seine Deutschland-
Berichte bis 1978, eines jener Bonner »Hofblättchen«, die erst Pressestaatssekretär
Klaus Bolling finanziell austrocknete. Vogels Bücher rezensierte Henryk M. Broder so:
»Wenn es einen Buchpreis für Geschichtsklitterung, Opportunismus und Speichellecke­
rei gäbe, ich würde nicht lange zögern, wen ich als Preisträger vorschlagen würde: den
Bonner Journalisten Rolf Vogel.« Zit. nach: Härte zeigen, Spiegel 49/1978 vom 4.12.

1047
Gegenüber solchen geschäftstüchtigen Konjunkturrittern entwickelte Geh­
len inzwischen einige Zurückhaltung. Julius Klein, der sich hervorragender
Beziehungen zu Dulles rühmte und mit seinem PR-Büro in Chicago für Ade­
nauer und Erhard arbeitete, machte angesichts seines Anliegens den Fehler,
dass er den BND wiederholt im Zusammenhang mit dem Fall Felfe und der
Beschäftigung von NS-belastetem Personal kritisierte. Klein berichtete der
BND-Zentrale von seiner Absicht, auf den israelischen Ministerpräsidenten
Ben-Gurion Einfluss zu nehmen, um dessen ablehnende Haltung gegenüber
der Bundesrepublik zu überwinden. Gleichzeitig teilte Klein mit, dass die isra­
elische Regierung weiterhin großes Interesse an allen Informationen über die
Entwicklung der Raketentechnik in Ägypten habe. Er schlug vor, in sein PR-
Büro einen BND-Mann auf Kosten von Pullach getarnt einzubauen. Gehlen
reagierte auf die intensiven Bemühungen von Klein vor allem deshalb skep­
tisch, weil sich Klein damit brüstete, an der Installation der Org auf US-Seite
maßgeblich mitgewirkt zu haben. Der Vorschlag wurde ignoriert.395
Bei einer großen Dienststellenleiter-Besprechung unter Vorsitz des Präsi­
denten waren Anfang des Jahres die relevanten Probleme und Aufgabenfelder
des Dienstes besprochen worden.396 Gehlen griff nur selten in die Berichte ein.
Klagen des für die Mobilmachungsübung im Herbst zuständigen Bearbeiters,
es mangele selbst den Dienststellenleitern an Motivation, veranlassten ihn
natürlich zu einer Intervention. Der Exgeneral ermahnte die Anwesenden, die
Vorsorge für den Ernstfall sei nun einmal notwendig, auch wenn sie für die
laufende Arbeit einen Zeitverlust bedeutete. Verzögerungen dürften freilich
nicht eintreten. Die Auslandsoperationen spielten in der Besprechung eine
große Rolle. Das galt besonders für die anlaufenden Aktionen im Kongo sowie
die Anbahnung nachrichtendienstlicher Kooperationen mit anderen afrikani­
schen Ländern. Außerdem galt die Aufmerksamkeit den Verbindungen nach
Süd- und Mittelamerika, wo sich die CIA verständlicherweise besonders an
einer Zusammenarbeit bezüglich Kubas interessiert zeigte. Der Ferne Osten
interessierte nur am Rande, obwohl das wachsende Zerwürfnis zwischen der
UdSSR und der Volksrepublik China auf eine Spaltung des Weltkommunismus
zusteuerte, was den politisch global denkenden Strategen Gehlen bewegte,
aber den Fernen Osten nicht zu einem wichtigen Aufgabengebiet für den BND
machte. Gehlen war davon überzeugt, dass Meldungen über sowjetische Span­
nungen mit China »reines Spielmaterial« waren, um von den Zielen der Sow­
jetunion in Europa abzulenken.397

395 Eintrag vom 25.4.1963, Besprechung Weiß – Gehlen, BND-Archiv, N 10/10.


396 Eintrag vom 18.1.1963, ebd.
397 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 10.1.1972, IfZ, ED 100-68-16.

1048
Der sich schrittweise intensivierende Vietnamkrieg der USA bildete insofern
eine Ausnahme, als Pullach sich berufen fühlte, gelegentlich Lagebeurteilun­
gen anzubieten. Eigene geheime Informationsquellen, womöglich unabhän­
gig von den befreundeten Amerikanern, konnte Gehlen für den Kriegsschau­
platz nicht anbieten. Gestützt auf seine eigenen militärischen Erfahrungen im
Zweiten Weltkrieg, ließ er sich zu Annahmen und Einschätzungen hinreißen.
Hinzu kamen Meldungen deutscher diplomatischer Vertretungen im asiati­
schen Raum sowie seine engen Kontakte zu den Franzosen. Als er im Oktober
1961 Critchfield in dessen neuer Funktion als Asienchef der CIA eine Reihe
von Berichten über die Entwicklung in Laos sandte, wiegelte dieser ab. Natur­
gemäß würden solche Berichte die zuständigen US-Dienststellen erst spät
erreichen, nicht ausreichend Quellenangaben enthalten sowie durch andere
Ereignisse überholt sein.398
Gehlen ließ sich nicht entmutigen. Er konnte annehmen, dass man sich
zumindest im Kanzleramt für seine Lagebeurteilungen interessieren wür­
de.399 So referierte er über die schwierige politische Situation der Amerikaner,
denen es nicht gelang, eine wirksame Alternative zu dem südvietnamesischen
Diktator Ngo Dinh Diem aufzubauen. Chancen für einen militärischen Sieg
im Kampf gegen die kommunistischen Guerilla gebe es nicht. Paris als ehe­
malige Kolonialmacht in Vietnam wolle wieder politisch aktiver werden. De
Gaulle habe einen Arbeitsstab eingesetzt, um eine politische Lösung analog
zur Indochinakonferenz von 1954, das heißt zur Neutralisierung des Konflikts
zu finden. Eine solche Lösung sei vermutlich unvermeidlich. Allerdings bleibe
offen, ob man sie unter Einbeziehung Moskaus und Pekings erreichen könne.
Näher als Peking lag für Gehlen Bonn. Und dort zeichneten sich für ihn
erste wichtige Veränderungen ab. Am 19. März 1963 wurde per Kanzlererlass
Heinrich Krone zum Vizepräsidenten des »Bundesverteidigungsrates zur
Koordinierung der Landesverteidigung im Rahmen der Gesamtplanung«
ernannt. Dieser Kabinettsausschuss stand bislang unter dem Vorsitz des Kanz­
lers. »Papa Krone«, wie ihn Kritiker innerhalb der CDU nannten, sicherte dem
Kanzler, der seinen Rücktritt für den Herbst 1963 angekündigt hatte, einen
gewissen Einfluss auf die Tagespolitik seines künftigen Nachfolgers. Krone,
der seine Position später unter Kanzler Erhard halten konnte, entwickelte

398 Marshall (Critchfield) an Gehlen, 25.10.1961, BND-Archiv, N 13/20.


399 Vermerk Gehlens für Globke betr. Beurteilung der Lage in Süd-Vietnam, 18.9.1963,
BND-Archiv, 1163/2, Blatt 89-93. Er war der Meinung, dass die Amerikaner die Sache
falsch anfassten. Man hätte von Anfang an einen langen Partisanenkrieg verhindern
müssen, zum Beispiel durch den Einsatz von drei Luftlandedivisionen gegen das nord­
vietnamesische Hauptquartier; Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 3.12.1971, 112
ED 100-69-127.

1049
daraus eine Schaltstelle mit erheblichem Einfluss, sodass ihn die Presse sogar
als »Super-Gehlen« bezeichnete.400 Nach dem Kanzleramt stand dann mit
dem Minister Krone eine weitere Hierarchieebene über dem BND-Chef, für die
Macht- und Entscheidungsbefugnisse nicht streng und berechenbar festgelegt
waren. Krone hätte sich den BND am liebsten direkt unterstellt, was auch Rai­
ner Barzel, der im Dezember 1963 zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion
gewählt wurde, unterstützte.
Doch das Kanzleramt leistete weiterhin Widerstand, weil man eine Beschä­
digung des Ansehens des neuen Kanzlers Erhard befürchtete. So konnte Geh­
len zwar anlässlich eines Treffens mit Krone und dem Pensionär Globke dar­
über sinnieren, wie die Ergebnisse seines Dienstes am besten in Bonn in den
politischen Entscheidungsprozess eingespeist werden könnten, aber mehr als
eine Art von Betreuung durch Krone kam dabei für ihn nicht heraus.401 Aus
dem Blickwinkel von Gehlen hatte sich der Bonner Politik- und Bürokratie­
dschungel nicht wesentlich gelichtet, seitdem er sich vor mehr als zehn Jah­
ren aufgemacht hatte, um sich in Bonn eine mächtige Position als Berater des
Kanzlers zu verschaffen.
Dabei war er auf die politische Rückendeckung in Bonn mehr denn je ange­
wiesen. Der Prozess gegen Felfe, der – so Gehlen – »leider« öffentlich geführt
wurde,402 hatte im Juli 1963 zwangsläufig zu einem negativen Echo in den
Medien geführt. Nach der Spiegel-Affäre ließen sich kritische Geister nicht von
dem Vorwurf des Landesverrats gegen Felfe beeindrucken, sondern von den
Folgen der Personalpolitik des BND. Dass ehemalige Angehörige des Reichssi­
cherheitshauptamtes (RSHA) in Positionen gelangen konnten, um durch ihren
Verrat der Bundesrepublik schweren Schaden zufügen zu können, brachte
Pullach zwangsläufig ins Zwielicht. In einer dienstlichen Unterrichtung für
das Kanzleramt behauptete Gehlen zu seiner Entlastung, dass die scharfen
Presseberichte auf Machenschaften gegnerischer Dienste zurückzuführen
seien. Die Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsparteien erhielten von ihm
seine Interpretation zur Kenntnis. Darin wurde aus der Ermittlung und Über­
führung der Täter eine erfolgreiche Operation des BND. Es handle sich nicht
um kommunistische Überzeugungstäter, sondern das Motiv sei schlichte Geld­
gier gewesen.403 Gehlens Diffamierung der kritischen Presse überzeugte nicht

400 Christ und Welt vom 18.3.1966.


401 Eintrag vom 10.4.1964, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 282. Siehe dazu auch Dülffer, Krise,
Kap.I.
402 Gehlen, Der Dienst, S. 227.
403 Anlage zur dienstlichen Unterrichtung durch Gehlen vom Juni 1963, VS-Registratur
Bka, Bk 10218(105), Bd. 2; Persönliches Schreiben Gehlens an Globke mit einer Studie
über Entstehung und Verlauf des Falles Felfe, 5.7.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 59

1050
recht. Der Berichterstatter der New York Times meinte, es werde »in diesen
Tagen eine Legende und ein guter Namen zerstört, die 15 Jahre lang sorgfältig
gehegt worden sind: die Legende von der überlegenen Befähigung des Bundes­
nachrichtendienstes und der Ruf des Generals Gehlen«.404
Wie zur Bestätigung wandte sich Kanzler Adenauer in Sachen Gehlen an
den neuen US-Botschafter George C. McGhee in Bonn. Seiner Meinung nach
sei Gehlen ein Dummkopf und sei es immer gewesen. Nur weil CIA-Chef Allen
W. Dulles ein persönliches Interesse an Gehlen gehabt habe, hätte er sich als
Kanzler die ganzen Jahre mit ihm eingelassen. Der Fall Felfe habe nun erneut
Gehlens Dummheit und Inkompetenz bewiesen. Der US-Botschafter äußerte
als persönliche Meinung, dass die CIA wahrscheinlich ein historisches Inte­
resse an Gehlen gehabt habe und dass »utility« seine Nützlichkeit vielleicht
überlebt habe. Anschließend fragte McGhee bei der CIA nach, wie man dort
gegenwärtig Gehlen einschätze, und bat um sorgfältige Bearbeitung 405
CIA-Chef John McCone schickte dem Leiter Osteuropa David E. Murphy
nach Frankfurt die Einschätzung des Hauptquartiers, die allerdings nur zur
Unterrichtung des Botschafters gedacht war. Man sehe die Irritationen des
Kanzlers als Ergebnis einer breiten Pressekampagne seit der Spiegel-Affäre, die
sich gegen die Führung des BND durch Gehlen richte und zu einer fortschrei­
tenden Abkühlung der Beziehungen zwischen Adenauer und Gehlen geführt
habe. Man sei der Meinung, dass Gehlen eine gute Leistung beim Wiederauf­
bau eines deutschen Nachrichtendienstes gezeigt habe. Wie andere Bereiche
der westdeutschen Regierung habe er enorme Sicherheitsprobleme gehabt,
die durch die deutsche Teilung und die große Zahl Deutscher in sowjetischer
Gefangenschaft hervorgerufen worden seien. »Utility« habe es auf sich genom­
men, sich auf die Standards von Anstand und Würde zu verlassen, die im Allge­
meinen angemessen seien für Offiziere und Gentlemen einer vergangenen Zeit,
und habe in vielen Fällen frühere Berufskollegen und Untergebene beim Wort
genommen, wo man besser eine sorgfältige Überprüfung hätte durchführen
sollen. Die schärferen Sicherheitsmaßnahmen, die seit dem Fall Felfe galten,
hätten schon früher beachtet werden sollen. Man sollte aber berücksichtigen,
dass andere bundesdeutsche Einrichtungen ähnlich schwerwiegende Fälle
feindlicher Penetration erlebt hätten, wie in einem NATO-Geheimpapier vom
31. Juli 1961 diskutiert worden sei. Seit seiner Übernahme der Führung 1946 bis
zur Überleitung als BND 1956 habe Adenauer niemals die Fähigkeit Gehlens

(Studie nicht enthalten). Zu den Vorgängen siehe demnächst umfassend die geplante
Darstellung von Bodo Hechelhammer, dem Leiter des Historischen Büros des BND.
404 Zit. nach: Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 292.
405 Bonn an Director, 12.7.1963, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol
3_20F2, S. 31-32.

1051
zur Leitung der Org infrage gestellt. Die Entscheidung Adenauers, dass die Org
eines Tages der deutsche Nachrichtendienst werden solle, sei längst gefallen,
bevor Dulles 1953 Chef der CIA wurde. Die CIA arbeite mit »utility« seit 1949
zusammen und kenne sehr gut seine Fähigkeiten und Schwächen. Die Frage,
ob er Präsident des BND bleiben solle, sei allerdings eine rein deutsche Ange­
legenheit. Jede amerikanische Einmischung müsse vermieden werden, denn
das würde bekannt werden und Washington in eine peinliche Lage bringen.406
Der Bonner US-Botschafter hielt eine solche Hintergrundinformation für
unzureichend. Er wiederholte Adenauers Vorwurf, dass beide, Dulles wie auch
jüngst McCone, ihm versichert hätten, dass Gehlen über professionelle Fähig­
keiten auf dem Gebiet des Geheimdienstes verfuge. Der Botschafter verwies
darauf, dass der BND eine Schöpfung der CIA sei und die CIA sich deshalb nicht
aus der Verantwortung für die Sicherheitspannen des BND schleichen könne.
Jede Untersuchung gegen den BND werde die Rolle der CIA in der Vergangen­
heit enthüllen. Der Fall Felfe werde seiner Meinung nach ein Geheimdienstde­
saster enthüllen, und kein doppelzüngiges Gerede werde die Verantwortung
der CIA für die Organisation, Unterstützung und Führung der frühen Operatio­
nen des BND verbergen können. Der Botschafter war sichtbar verärgert und
kündigte an, seine Meinung dem State Department in Washington zu über­
mitteln.407
Vier Wochen später trafen sich der US-Botschafter und der Kanzler erneut
in der Causa Gehlen. McGhee kam zusammen mit Pleasants, der den Aufbau
der Org bzw. des BND aufseiten der CIA wesentlich begleitet hatte. Man habe
die Angelegenheit in Washington sorgfältig geprüft, erklärte der Botschafter.
Adenauers Zweifel an der Fähigkeit Gehlens teile man nicht. Bei ihm handle
es sich »um einen guten Mann von absoluter Integrität, der eine gute Organi­
sation aufgebaut habe [...] Die amerikanischen Herren hielten General Gehlen
für einen erfahrenen und fähigen Mann und hätten keinen Zweifel daran, dass
er seine Organisation auch weiterhin leiten könnte.« Adenauer wich daraufhin
aus, »seine Bedenken hätten sich nicht so sehr gegen Herrn Gehlen persönlich,
als vielmehr gegen die Organisation als solche gerichtet«. Dazu verwies er auf
die Verwendung ehemaliger Nazis, wie jetzt der Fall Felfe gezeigt habe. Man
hätte solche vermeintlich unentbehrlichen Leute nur für kurze Zeit beschäf­
tigen dürfen und dabei sorgfältig beobachten müssen. Stattdessen habe Felfe
zehn Jahre lang innerhalb des BND für die Russen spionieren können. Da frage
er sich doch, »ob er [Gehlen] intelligent sei. Die Vorfälle schienen ihm ein
Beweis dafür, dass er für die Leitung eines solchen Dienstes nicht geeignet sei.«

406 Director an Frankfurt, 12.7.1963, ebd., S. 34 – 36.


407 Bonn an Director, 15.7.1963, ebd., S. 37 – 38.

1052
Nach einem kurzen Überblick von Pleasants über die Geschichte der Org
und die Rechtfertigung für eine Beschäftigung von belastetem Personal, was
Adenauers Misstrauen schürte, räumte Pleasants auf Befragen ein, dass er
Gehlen erst kürzlich getroffen habe. Dann versicherte er, dass die jetzt getrof­
fenen Sicherheitsmaßnahmen als ausreichend gelten könnten.

Der Herr Bundeskanzler fragte, wie die amerikanischen Stellen mit der
Arbeit des BND zufrieden seien. Herr Pleasants sagte, wenn man einmal von
den Fällen absehe, welche die Gegenspionage berührten, so müsse er sagen,
dass der Bundesnachrichtendienst bei der Beschaffung und Auswertung
militärischer Nachrichten sowie auf dem Fernmelde- und Chiffriersektor
sehr gute Arbeit leiste und die Zusammenarbeit mit den amerikanischen
Militärdienststellen ausgezeichnet sei.408

Washington war also nicht bereit, dem Kanzler eine Handhabe zu geben, um
Gehlen zu entlassen. Die Kennedy-Administration hatte sich darauf verlegt,
das Gehlen-Problem als deutsche Angelegenheit zu behandeln, und ließ erken­
nen, dass man keine personellen oder organisatorischen Änderungen erwar­
tete. Der Botschafter erklärte, es handle sich um einen Rat, den ein Freund
einem anderen gebe, und er wolle betonen, dass man nicht an irgendeine Ein­
flussnahme denke. Weder die Beschäftigung von Exnazis noch andere persön­
liche Vorwürfe gegen Gehlen reichten aus, um die Amerikaner zu bewegen,
Gehlen fallenzulassen. Dabei war Pleasants 1951 einer der eifrigsten Befür­
worter einer Trennung der CIA von Gehlen gewesen. Was jetzt Washington
dazu veranlasste, dem angeschlagenen BND-Chef Rückendeckung zu geben,
muss angesichts fehlender Quellen offenbleiben. Zumindest eine ehrliche und
zutreffende Aussage hatte Pleasants übermittelt: das Lob für die Leistungsfä­
higkeit des BND im militärischen und technischen Bereich. Das hatte sich in
den letzten 15 Jahren nicht geändert. Dass Gehlens Hauptinteresse in dieser
Zeit aber auf dem Ausbau der politischen und wirtschaftlichen Aufklärung
gelegen hatte, deckten die Amerikaner mit wohlwollendem Schweigen zu.
Dabei deuteten alle Zeichen in der Bundesrepublik auf einen möglichen
Rückzug Gehlens hin. In einem Bericht des US-Militärs in Bonn an Washington
wurde auf deutsche Presseberichte verwiesen, nach denen Gehlen mit dem
Erreichen des 62. Lebensjahres (also in einem knappen Jahr) in den Ruhestand
gehen könnte. Als wahrscheinlicher Nachfolger werde bereits Gerhard Wessel
gehandelt. Man verfuge zwar selbst nicht über entsprechende Hinweise, aber

408 Aufzeichnung über das Gespräch des Bundeskanzlers mit dem US-Botschafter am
17.8.1963, VS-Registratur Bka, Az. 15100 (199), Bd. 1, Blatt 10.

1053
der laufende Prozess gegen Felfe in Karlsruhe werde die Gerüchte über eine
Demission Gehlens weiter verstärken.409
In Bonn zeigte sich die politische Führungsspitze nervös, zumal parallel
zum Felfe-Prozess die DDR in Ost-Berlin einen Schauprozess in Abwesenheit
gegen Globke durchführen ließ.410 Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion,
Heinrich von Brentano, den Gehlen offenbar mit seiner schriftlichen Stel­
lungnahme nicht überzeugt hatte, wandte sich an Kanzler Adenauer. Er bat
ihn dringend um die restlose Aufklärung des Falls Felfe, da sonst kein Ver­
trauen mehr zum BND möglich sein würde.411 Neben der Personalpolitik stand
schließlich auch die Frage im Raum, welches Ausmaß an Verrat Felfe tatsäch­
lich zu verantworten hatte. Ob die internen Ermittlungen des BND die volle
Wahrheit ans Licht bringen würden, konnte angezweifelt werden. Brentano
ging es um den möglichen Vorwurf in der Öffentlichkeit, dass das Kanzler­
amt seine Aufsichtspflicht gegenüber dem BND verletzt haben könnte. Damit
würden die Regierungspartei und auch der scheidende Kanzler selbst unter
Rechtfertigungszwang geraten. Dieser Vorwurf mangelnder Aufsicht muss aus
heutiger Sicht als berechtigt angesehen werden.
In der Opposition stellten Abgeordnete kritische Fragen. Heinrich Georg
Ritzel (SPD) wollte wissen, ob der Bundesregierung bekannt gewesen sei, dass
die ehemaligen Mitarbeiter des BND Heinz Felfe, Hans Clemens und Erwin
Tiebel Angehörige des RSHA gewesen waren. Das Kanzleramt übernahm bei
seiner Antwort den Standpunkt Gehlens,412 dass die drei keine Angehörigen
der Gestapo gewesen und nach 1945 freigesprochen bzw. entnazifiziert wor­
den seien. Ritzel gab sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden und kündigte
an, nach den Parlamentsferien Zusatzfragen zu stellen. Ob denn nicht eine
nochmalige Überprüfung durchgeführt wurde und keine Bedenken bestanden
hatten, ehemalige Angehörige des RSHA zu beschäftigen? Das hätte immer­
hin Adenauer daran erinnern können, dass er selbst noch vor einigen Jahren
gegenüber Gehlen im Vertrauensmännergremium in dieser Hinsicht größte
moralische Bedenken geäußert hatte. Doch Gehlen gelang es, den kritischen
Fragesteller im Bundestag zum Schweigen zu bringen.
Im Kanzleramt hofften Bachmann und Mercker darauf, dass Ritzel mit dem
Entwurf einer offiziellen Antwort veranlasst werden könnte, den Komplex
nicht ins Plenum zu bringen, gegebenenfalls müsste man mit Fritz Erler, dem

409 Fernschreiben (Juli 1963), ebd., Blatt 24.


410 Siehe Lommatzsch, Globke, S. 319.
411 Brief Brentanos an Adenauer vom 10.7.1963, zit. nach: Bachmann-Bericht für Mercker-
Kommission vom 15.10.1968, S. 9, VS-Registratur Bka, Az. 15100-1166/68.
412 Vertraulicher Vermerk für Globke betr. Beschäftigung politisch vorbelasteter Personen
im BND, 13.7.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 76-77.

1054
stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden, Fühlung aufnehmen.413 Gehlen
war flink zur Stelle und konnte bereits am nächsten Tag mitteilen, er habe mit
Erler gesprochen. Dieser habe zugesagt, entsprechend auf seinen Parteigenos­
sen Ritzel einzuwirken. Gehlen versäumte gegenüber Erler nicht den Hinweis,
dass in diesem Zusammenhang auch die Tätigkeit des Vertrauensmännergre­
miums zur Sprache kommen und kritisiert werden könnte. Erler wäre damit
selbst betroffen. Tags darauf teilte der BND mit, Ritzel habe zugesagt, seine
Sache noch nicht in der nächsten Fragestunde zu behandeln und dass er eine
Antwort im Plenum erst nach dem Kanzlerwechsel haben wolle.
Mit hohen Zuchthausstrafen für die drei Angeklagten, neben Felfe die BND-
Mitarbeiter Hans Clemens und Erwin Tiebel, war der Fall Felfe längst nicht
ausgestanden. So viel war sicher. Mochte Globke auch öffentlich versichern,
dass sich ein solcher Fall beim BND nicht wiederholen könne, die Gerüchte
über eine mögliche Frühpensionierung Gehlens ließen nicht nach.414 Den Ent­
wurf für eine Presseerklärung Globkes zum Fall Felfe hatte Gehlen verfasst.415
Wesentlicher Inhalt waren die Behauptung, dass sich der Schaden in Grenzen
halte, und eine Rechtfertigung der Personalauswahl im BND. Die Kontrolle des
BND sei gewährleistet. Der Dienst brauche »in entsagungsvoller Stille arbei­
tend, allseitiges Vertrauen«. Das hätte sich Gehlen zweifellos gewünscht, doch
die unangenehm kritischen Reaktionen in der Öffentlichkeit ließen sich mit
diesem weltfremden Idealbild nicht zum Schweigen bringen. Schließlich hatte
der Vorsitzende Richter bei der mündlichen Urteilsbegründung darauf ver­
wiesen, dass er zahlreiche Briefe erhalten habe, deren Verfasser meinten, im
BND sei vieles faul.416 Eine öffentliche und womöglich politische Diskussion
über die Reformbedürftigkeit des BND hätte für den Autokraten in Pullach das
Blatt endgültig wenden können. Immerhin erkannte auch Adenauer nach der
Lektüre von Prüfberichten Bachmanns, dass die politische Berichterstattung
des BND auf einem zu niedrigen Niveau war. »Ich glaube, dass Herr Gehlen
überfordert ist«, schrieb er an Globke.417
Auf einen publizistischen Befreiungsschlag konnte Gehlen hoffen, als ihn
Marion Gräfin Dönhoff, die Grande Dame des westdeutschen Journalismus,
um ein Interview für die angesehene Wochenzeitung Die Zeit bat. Die ostpreu­
ßische Gräfin hatte bereits in früheren Jahren die Belange der Org bzw. des BND
journalistisch unterstützt. Gehlen gewährte ihr ein mehrstündiges Gespräch.

413 Gespräch Bachmann – Mercker, Vermerk Ref. 5, 16.9.1963, VS-Registratur Bka, Az.
11208/3, Bd. 1, sowie die weiteren Vermerke hierzu.
414 Badische Zeitung vom 15.7.1963.
415 Persönliches Schreiben Gehlens an Globke, 22.7.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 73.
416 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 292.
417 Adenauer an Globke vom 1.9.1963, VS-Registratur Bka, Bk 15100(199), Blatt 89 – 88.

1055
Ihrer Bitte um die Freigabe für eine Veröffentlichung des Interviews wollte er
allerdings nicht entsprechen. Er zog es wie stets vor, in der Deckung zu blei­
ben. Dabei hatte er von der Dönhoff nichts zu befurchten, die ihre Absicht so
erklärte, dass sie »erläuternd und beruhigend Stellung zu nehmen« beabsich­
tige. Gehlen war vorsichtig genug, um sich zuvor das Einverständnis von Globke
zu holen.418 Er legte ihm dazu Teilstücke aus der Diskussion vor und bat um
Freigabe dieser einzelnen Informationen für den geplanten Artikel der Gräfin.
In dem Gespräch hatte Gehlen vehement Gerüchte über angebliche Macht­
kämpfe zwischen BND, BfV und ASBw zurückgewiesen. Sein Dienst stehe an
der »geheimen Front« zwischen Ost und West »im Abwehrkampf gegen den
Kommunismus«. Deshalb befinde er sich im Mittelpunkt östlicher Angriffe,
die aber immer wieder gescheitert seien. Dann zählte er seine Erfolge auf und
verwies auf die Bedeutung seiner Meldungen. Man gehe »wohl nicht fehl in
der Annahme, dass sich die maßvoll-ruhige Beurteilung der Bundesregie­
rung zu allen taktischen Winkelzügen der sowjetischen Deutschlandpolitik
(einschließlich der >Lage Berlin<) auch auf diese Meldungen des BND stützt«.
Gehlen verwies auf die fortlaufenden Aufträge der Ministerien, die regel­
mäßige Unterrichtung der Parteivorsitzenden, die Zusammenarbeit inner­
halb der NATO. Hinzu kämen »die besonderen Möglichkeiten des BND, die
Erfahrungen vieler Mitarbeiter in der Einschätzung östlicher Mentalität und
Vorgehensweise«.419
»Unbescheiden« beschrieb er die Arbeit in seiner Zentrale als ähnlich einem
wissenschaftlich arbeitenden Institut, weniger einer hohen militärischen
Kommandobehörde, viele Spezialisten, modernste Geräte. Unter den etwa
4000 hauptamtlichen Mitarbeitern seien 15 Prozent Soldaten und 12 Prozent
Akademiker. Das gegnerische MfS dagegen verfüge über 25.000 hauptamtliche
Mitarbeiter. Gehlen räumte Schwierigkeiten bei der Nachwuchsbeschaffung
ein. In der ersten Aufbauphase sei das Heranziehen bestimmter Spezialis­
ten aus der früheren Abwehr und ehemaliger Polizisten nicht zu vermeiden
gewesen. Das habe den BND aber nicht zum Sammelbecken von SS und SD
gemacht. Es handele sich um weniger als ein Prozent der Bediensteten.420

418 Persönliches Schreiben Gehlens an Globke, 20.7.1963, VS-Registratur Bka, Bk 10218(105)


Beiakte.
419 Ebd., Anlage, S. 4-5.
420 Gehlen betrachtete nur die Hauptamtlichen mit Stand 1963. Ehemalige Angehörige
von SS und SD fanden sich zumeist im Außenapparat, viele waren zu diesem Zeitpunkt
bereits wieder ausgeschieden. Nach neuesten Forschungen befanden sich unter den
Hauptamtlichen insgesamt 8,2 Prozent ehemalige Angehörige von Gestapo und SD,
Christoph Rass: Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes. Von den Anfängen bis
1968, Berlin 2016, S. 168. Tatsächlich hatte die interne Überprüfung zu diesem Zeitpunkt
157 BND-Mitarbeiter erfasst, siehe Nowack, Sicherheitsrisiko, S. 444-486.

1056
Gehlen nannte hier die gleichen Zahlen wie kurz zuvor in seinem dienstlichen
Bericht an Globke und behauptete, dass alle Möglichkeiten der Überprüfung
ausgeschöpft worden seien.
Zum Fall Felfe führte er aus, dass der vor Kurzem enttarnte Doppelagent
erst spät in der Zentrale verwendet worden und nur für ein sehr begrenztes
Teilgebiet zuständig gewesen sei. Die Sowjets hätten alles getan und geopfert,
um Felfe zu stützen. Zum Umfang des Verrats bestünden falsche Vorstellungen.
Die Leistungsfähigkeit des BND sei nicht beeinträchtigt. Es sei eine mühsame
Kleinarbeit gewesen, Felfe zu überführen. Dieser Erfolg für die Sicherheitsor­
gane des BND stehe aber außer Frage. Gehlen wiederholte im Wesentlichen,
was er in dem Entwurf für eine Presseerklärung Globkes bereits geschrieben
hatte. Dönhoff griff in ihrem Zeit-Artikel auch darauf zurück. Sie übernahm
damit teilweise Gehlens sachliche Halbwahrheiten und Verschleierungen, weil
sie seinen Einlassungen offenbar vertraute.
Um den »Mann im Zwielicht« dem Leser vorzustellen, folgte sie unkritisch
seinen biografischen Angaben und Deutungen. Vor allem zeichnete sie ein
ungewöhnlich sympathisches Porträt Gehlens, der doch im Mittelpunkt öffent­
licher Kritik stand, und bescheinigte dem Gescholtenen, dass er, von »Dunkel­
männern« umgeben, einer staatspolitisch notwendigen Tätigkeit nachgehe
und dabei in einem schmutzigen Gewerbe stets ein Ehrenmann geblieben sei.
Reinhard Gehlen, von dem es kaum ein Foto gebe, so schrieb sie,

könnte alles andere eher sein als ein General. Weder in Gesten, Gebaren noch
Diktion erinnert er an den Typ des in langer Zucht geprägten Offiziers. Er
ist vollständig gelöst, hat etwas Weltmännisches an sich – nicht im Sinne
agiler Gewandtheit, sondern im Sinne souveräner Gelassenheit, Unauffallig­
keit und Bescheidenheit [...] Irgendein Landedelmann – eher ein süddeut­
scher als ein norddeutscher -, würde man vielleicht denken, wenn man ihn
in einem Hotelfoyer sitzen sähe, das eine Bein lässig auf den Stuhl gezogen,
das andere darübergeschlagen; mit blondem, kurzgeschorenen Schnurrbart,
grauen Schläfen und einer hohen Stirn, die in eine Glatze übergeht. Freilich
könnte man ihn sich auch als Forscher in einem Labor vorstellen oder auch
im weißen Kittel des Chirurgen.421

Reinhard Gehlen mochte sich über den freundlichen Artikel der Gräfin freuen
und darauf vertrauen, dass er genügend Rückhalt auf der politischen Bühne
besaß, um die Krise durchstehen zu können. Adenauer freilich wollte ihn nicht

421 Marion Gräfin Dönhoff: Gehlens Geheimdienst. Der Mann im Zwielicht und die Männer
im Dunkeln, Zeit 30/1963 vom 26.7.

1057
so davonkommen lassen. Er bestellte Bachmann zu sich, der sich im Kanzler­
amt zum Kritiker Gehlens entwickelte, und teilte ihm seine eigenen Bedenken
über Missstände beim BND mit.422 Er habe das Vertrauen zu Gehlen verloren,
denn dieser habe ihn in der Spiegel-Affäre »angelogen«. Die Beschäftigung von
vielen Verwandten beim BND war für Adenauer ebenso ein Ärgernis wie die
Verwendung von ehemaligen SS-Angehörigen. Gehlen könnte gesichtswah­
rend in einem halben Jahr gehen. Der Kanzler beauftragte Bachmann, nach
Pullach zu fahren und selbst Erhebungen anzustellen. Dafür erhielt er vom
Kanzler jede Vollmacht – und drei Tage Zeit.423 Adenauer scheint ernsthaft
daran geglaubt zu haben, bei einer solchen Stippvisite könnten die internen
Geheimnisse seines Geheimdienstes durch einen Außenstehenden entschlüs­
selt werden. Dass er sich danach unzufrieden mit dem Bericht Bachmanns
zeigte, war nicht verwunderlich. Mercker erzählte Bachmann später, er habe
gehört, dass man in der Führung des BND laut darüber gelacht habe, wie sehr
es gelungen sei, ihn hinters Licht zu führen. Das betraf vor allem die Über­
prüfung des NS-belasteten Personals, wozu Adenauer Bachmanns Bericht als
unzureichend einschätzte. Hier waren weitere Überprüfungen notwendig. Für
den Kanzler stand fest: »Nach allem, was ich gelegentlich gehört habe, steht
der ganze Apparat auf einem zu niedrigen Niveau. Ich glaube, dass Herr Gehlen
überfordert ist.«424
Wenn Gehlen davon überzeugt war, dass in seinem BND alles zum Besten
stand, trotz der angeblich kleinen Affäre Felfe, dann war es aus dieser Sicht
konsequent, sich auf Maßnahmen zu beschränken, um das Innenleben des
Dienstes noch stärker gegen äußere Einblicke abzusichern. Das bedeutete
»Verwirrung und Verzeichnung des bisherigen Gliederungsbildes durch Wech­
sel der internen Tarnbezeichnungen und Wechsel von Decknamen«.425 Damit
schützte er sich in letzter Konsequenz auch selbst gegen innere und äußere
Kritiker. Wahrscheinlich hoffte er darauf, auf diese Weise »in entsagungsvol­
ler Stille arbeitend« in aller Ruhe seinen eigenen Ruhestand in den verblei­
benden vier Jahren vorbereiten zu können. Das erhoffte »allseitige Vertrauen«
mochte in großen Teilen des Dienstes und in der Politik noch vorhanden sein,
doch der Erosionsprozess schritt voran. Gehlen zeigte jedenfalls keine Nei­

422 Notiz zum 13.8.1963, Bachmann-Bericht für Mercker-Kommission vom 15.10.1968, S. 9,


VS-Registratur Bka, Bk 15100-1166/68, ebenso bei Hans-Peter Schwarz (Hg.): Konrad
Adenauers Regierungsstil, Bonn 1991, S.66-76.
423 Zu Bachmanns Inspektionsreise nach Pullach siehe Dülffer, Der Krise, Kap. I.
424 Adenauer an Globke, 1.9.1963, VS-Registratur Bka, 15100(199), Blatt 71. Siehe hierzu
auch Nowack, Sicherheitsrisiko, S. 88.
425 Vermerk über Auswirkungen des Falles Felfe auf Aufbauplanung und Organisation des
BND, 2.9.1963, BND-Archiv, 1532, Blatt 53-55.

1058
gung zu durchgreifenden Reformen. Eine von ihm selbst in Auftrag gegebene
Denkschrift seines Referenten Dr. Hansgeorg Neumann über organisatorische
Mängel ignorierte er. Dabei hatte Neumann vor der Ansicht gewarnt, Probleme
könnten durch Zuwarten reifen. Manche würden »beim Zuwarten in Fäulnis
übergehen«.426
Noch kaum spürbar zeigte sich dies auch, als der CDU/CSU-Fraktionsvor-
sitzende Heinrich von Brentano am 4. September 1963 eine Sitzung des Parla­
mentarischen Vertrauensmännergremiums einberief, um Gehlen anzuhören.
Im Kreis der Fraktionsvorsitzendenden des Bundestages unter Teilnahme
einiger Abgeordneter erhielt er damit Gelegenheit, seine Sicht der Dinge aus­
führlich vorzutragen und Nachfragen zu beantworten.427 Nach längerer Zeit, so
Brentano, solle die laufende Information des Parlaments zu Fragen des BND
wieder aufgenommen werden. Anlass sei der Fall Felfe. Dazu hatte sich Gehlen
drei Mitarbeiter für spezielle Fragen mitgebracht. Er begann die Präsentation
mit dem Bekenntnis, dass er sich nach britischem Vorbild die Verantwortung
für die sicherheitsmäßige Beurteilung einzelner Mitarbeiter persönlich vorbe­
halten habe. Sicherheitsanalysen dafür würden in seinem Büro von einigen
jungen Leuten gemacht. Außerdem gebe es noch drei Gruppen für personelle,
materielle und operationeile Sicherheit. Im Nachrichtendienst gebe es laufend
Verdachts- und Sicherheitsfälle, meist von geringer Bedeutung. Wäre dies
nicht der Fall, müsste das beunruhigen, weil es zeigen würde, dass der Gegner
sich nicht mehr für den BND interessierte oder dass er seine Leute schon gut
genug platziert hatte. Nach dieser allgemeinen Eröffnung übergab er für Ein­
zelheiten des Falls Felfe das Wort an den zuständigen Gruppenleiter Buttlar,
der ausführlich über 45 Minuten referierte.
Der Verdacht, so Buttlar, gegen Felfe sei bereits 1957 aufgekommen, 1959
hätten sich die Verdachtsmomente verstärkt, wegen der schwierigen Beweis­
führung und beschränkter Beobachtungsmöglichkeiten hätten sich die Ermitt­
lungen aber bis zum erfolgreichen Ende hingezogen. Das Schottensystem im
BND habe sich allgemein bewährt. Dadurch hätte Felfe nur beschränkten
Einblick gehabt. Er sei ein ehrgeiziger Opportunist gewesen und habe Verrat
aus finanziellen Motiven betrieben. Erich Ollenhauer interessierte sich für die
Frage, wie Felfe in den BND gekommen sei, und Fritz Erler, ob der Nutzen von
Felfe groß genug gewesen war, um seine braune Vergangenheit in Kauf zu neh­
men?

426 Denkschrift Neumanns an Gehlen, 5.3.1965, BND-Archiv, 103051. Siehe hierzu auch
Dülffer, Krise, Kap.I.
427 Bachmann betr. Sitzung des Parlamentarischen Vertrauensmännergremiums für Fra­
gen des BND am 4.9.1963, VS-Registratur Bka, Bk 6: 15205(1), Bd. 1. Siehe dazu auch
Dülffer, Krise, Kap. I.

1059
Hier griff Gehlen ein: Ja, man habe sich bei seiner Einstellung und in ande­
ren ähnlich gelagerten Fällen intensive Gedanken über das Gesamtproblem
gemacht, und er erläuterte ausführlich, dass man gewisse Leute brauche, um
in gefährliche Kreise hinein aufzuklären. Man habe das auch mit den Amerika­
nern abgesprochen. 1956 sei ein grundsätzliches Verbot, Personen mit beson­
ders brauner Vergangenheit in der Zentrale zu beschäftigen, aufgehoben wor­
den, weil man einen Verstoß gegen Grundgesetz befürchtet habe. Reibungen
mit dem BfV und dem ASBw leugnete Gehlen, bis auf die Zeit mit Verfassungs­
schutzpräsident John. Erler fragte nach Spannungen mit dem Verteidigungs­
minister. Gehlen antwortete: »Mein persönliches Verhältnis zu dem jetzigen
Herrn Minister ist in jeder Hinsicht gut.« Erler, Mende und andere brachen in
Lachen aus, da die Frage eigentlich auf Hassels Vorgänger Franz Josef Strauß
zielte. Nach diesem spaßigen Abschluss meinte Mende, die Verbindung des
Parlaments zum BND müsse wieder gestärkt werden. Die letzte Sitzung des
Vertrauensmännergremiums hatte vor fünf Jahren im Sommer 1958 (!) stattge­
funden. Gehlen machte den Vorschlag, doch öfter bei ihm in München zusam­
menzutreffen. Er habe zwar gewisse Verbindungen in Bonn gepflegt, aber
nicht den Eindruck erwecken wollen, »daß er sich an die Politik herandränge«.
Abgesehen von Erlers Frage wurde das Problem der NS-Belastung überhaupt
nicht weiter erwähnt, es herrschte also eine für Gehlen ausgesprochen freund­
liche Atmosphäre.
Ministerialdirigent Bachmann vermerkte im Kanzleramt einen Tag später
zur Glaubwürdigkeit der Aussagen Gehlens:428 Er selbst habe bei seinem Besuch
in Pullach vor zwei Wochen nichts davon erfahren, dass im Präsidentenbüro
eine Gruppe junger Leute Sicherheitsanalysen anfertige. Der Verdacht gegen
Felfe sei schon 1952 entstanden. Außerdem sei dieser trotz brauner Vergan­
genheit bereits 1953 in die Zentrale gekommen, Gehlen erwecke aber den Ein­
druck, dass sein Verbot, solches Personal in der Zentrale zu beschäftigen, erst
1956 aufgehoben worden sei. Der CDU-Abgeordnete Dr. Rudolf Vogel429 habe
nach bestehenden untergründigen SD-Verbindungen gefragt, deren Existenz
Gehlen verneinte, obwohl er, Bachmann, bei seinem Besuch in Pullach mehr­
fache Bestätigung durch den Vizepräsidenten Worgitzky erhalten habe, unter
anderem den Hinweis auf die Gruppe des ehemaligen hohen SS-Funktionärs

428 Zusatzvermerk Bachmanns vom 5.9.1963, VS-Registratur Bka, Bk 6: 15205 (1), Bd. 1.
429 Vogel war stellvertretender Vorsitzender des Bundestags-Haushaltsausschusses. Er
schrieb als Journalist im Dritten Reich NS-Artikel und antisemitische Propaganda. 1964
wurde er Botschafter bei der OECD in Paris, 1968 kurzzeitig Staatssekretär im Bundes­
schatzministerium. Erst Anfang 2017 wurde bekannt, dass Vogel 1954 die Flucht des NS-
Verbrechers Alois Brunner nach Syrien mitfinanziert hat; daher mag seine merkwürdige
Anfrage nach »untergründigen« SD-Verbindungen herrühren.

1060
Wilhelm Harster, der jetzt als Oberregierungsrat in Bayern verwendet werde.
Das Kanzleramt müsse dringend darauf achten, dass ihm nicht solche Zusam­
menhänge vorenthalten würden. Es sei ein typisches Beispiel dafür, dass der
BND aus politischen Erwägungen eine Auswahl unter den Meldungen treffe,
die dem Kanzleramt vorgelegt werden sollten. Worgitzky habe ausdrücklich
bestritten, dass der BND eine solche nachrichtendienstliche Politik betreibe.
Die Frage nach dem Verhältnis zu Franz Josef Strauß sei ein weiteres Beispiel
dafür, dass der BND Politik betreibe und dass er ein wichtiger innenpolitischer
Faktor geworden sei.
An anderer Stelle verstärkte Bachmann dieses Argument. Obwohl allein für
den Auslandsnachrichtendienst zuständig, sei der BND wegen der persönli­
chen Verbindungen Gehlens zu wichtigen Politikern und wegen seiner Presse­
verbindungen auch zu einem wichtigen innenpolitischen Faktor geworden.430
Das habe die Spiegel-Affäre deutlich gezeigt. Die zurückliegende Sitzung des
Parlamentarischen Vertrauensmännergremiums führe jetzt zu dem Eindruck,
dass alles in bester Ordnung sei, wenn der BND den Parlamentariern unmit­
telbar berichtet. Das sei ein Irrtum. Die Verantwortung gegenüber dem Par­
lament könne nur der Bundeskanzler übernehmen. Laut Kabinettsbeschluss
vom 11. Juli 1955 sei der BND dem Kanzleramt angegliedert. Das müsse geän­
dert werden, und zwar durch eine klare Unterstellung und Verstärkung der
Dienstaufsicht. Das seit 1956 zuständige Referat 5 brauche entsprechend der
Vergrößerung des BND zusätzliche Planstellen. Außerdem schlug Bachmann
vor, den im Beschluss von 1955 vorgesehenen Staatssekretärausschuss zu kon­
stituieren und hier die Chefs der Nachrichtendienste von Fall zu Fall hinzuzie­
hen. Der Vorsitz sollte beim Bundesminister für besondere Aufgaben Heinrich
Krone liegen.
Hier hatte also der im Kanzleramt zuständige Referent, ermutigt durch
Adenauers tief sitzendes Misstrauen gegen Gehlen, einen Weg aufgezeigt,
um Gehlens geschickte Art, die Bonner Politiker für sich einzunehmen, zu
durchbrechen und die politische Kontrolle des BND nicht länger schleifen zu
lassen. Gehlen, der sich im September 1963 auf den für ihn elementar wich­
tigen Kanzlerwechsel einstellte, ahnte offenbar nicht, was sich im Kanzler­
amt zusammenbraute. Die Spiegel-Redakteure Hermann Zolling und Heinz
Höhne, in Unkenntnis der Figur Bachmanns und gestützt auf die unveröffent­
lichte Schrift eines BND-Insiders, nahmen in ihrem 1971 veröffentlichten Buch
über den BND an, Gehlen habe sich angesichts des Kanzlerwechsels so sicher
gefühlt, dass er ernsthaft daran geglaubt habe, sich von der Kontrolle durch
das Kanzleramt befreien und sein eigener Herr werden zu können. Er wollte

430 Bemerkungen Bachmanns, VS-Registratur Bka, Bk 15205(1), Bd. 2.

1061
demnach erreichen, den BND zu einer selbstständigen obersten Bundesbe­
hörde und sich selbst zum Staatssekretär heraufstufen zu lassen.431
Hinter den Kulissen des Machtwechsels in Bonn liefen die Dinge in eine ganz
andere Richtung. Am 27. September sprach Adenauer noch einmal bei einem
abendlichen Gespräch mit Bachmann davon, dass er sich große Sorgen über
Gehlen und den BND mache. Der Fall Felfe demonstriere, dass es ein Fehler
gewesen sei, viele ehemalige SS-Leute zu beschäftigen, anstatt sie möglichst
schnell loszuwerden. Zu Gehlen habe er kein Vertrauen mehr, nachdem dieser
ihn im Fall Wicht belogen habe. Im Übrigen lägen ihm Berichte vor, dass die
Informationen aus Pullach nichts taugten, da sie aus Pressematerial zusam­
mengeschrieben seien. Zudem habe der Dienst auch gezielt Erkenntnisse nicht
ans Kanzleramt weitergegeben. Gehlen müsse als BND-Chef abgelöst werden.432
Bachmann nutzte die letzten Tage der Kanzlerschaft Adenauers, um Tatsa­
chen zu schaffen, und entwickelte parallel zu seinem Vorschlag für ein eigenes
Referat mit Zuständigkeit für den BND Vorstellungen zu dessen Reform. Seine
Monita: Gehlen nutze die unklare rechtliche Stellung des Dienstes, um sich
der Kontrolle durch das Kanzleramt zu entziehen. Mit Haushaltsmitteln werde
allzu großzügig umgegangen. Die Führungsschicht im BND sei rückwärtsge­
wandt, denn ihr Weltbild stamme noch aus der NS-Zeit, und sie sei unter­
würfig auf Gehlen ausgerichtet. Das erkläre auch, dass Aufklärungserfolge oft
übertrieben würden und man Schaumschlägerei betreibe.433
Bachmann erinnerte daran, dass die Org unter US-Regie für die Aufklärung
des Militärs des Ostblocks sowie dessen Dislozierung insbesondere in der SBZ
geschaffen worden sei. Die Aufgaben des heutigen BND würden sachlich und
territorial sehr viel weiter reichen. Als einziger deutscher Auslandsnachrich­
tendienst betreibe er nicht nur militärische Aufklärung gegen den Osten, son­
dern beschaffe militärische, politische und wirtschaftliche Informationen in
allen Teilen der Welt, die für die deutsche politische Führung von Interesse
sein könnten. Bachmann forderte deshalb eine größere Weltoffenheit der Füh­
rung und monierte, dass Gehlens Prinzip der internen Abschließung das Blick­
feld verenge. Hier sei ein vernünftiger Ausgleich notwendig. Hinzu komme das
Problem der Schwerpunktbildung. Weil der generelle Auftrag sehr weit gefasst
sei, müsse die politische Führung je nach Lage bestimmte Weisungen ertei­
len, um zu verhindern, dass sich der BND in seiner Arbeit verzettelt und sich
zwar bemüht, möglichst viel zu leisten, am Ende aber trotz großen Aufwands
nur geringen Nutzen erbringt. Durch geeignete Personalauswahl und institu­

431 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 293.


432 Zit. nach: Dülffer, Krise, S. 128-129.
433 Aufzeichnung Bachmanns, Ende Oktober 1963, zit. nach: ebd., S. 128.

1062
tionelle Sicherungen müsse erreicht werden, dass der BND unter den einge­
henden Meldungen keine unsachgemäße Auswahl treffe und besonders solche
Nachrichten weitergebe, die in ein bestimmtes Bild passen, also »Nachrichten­
politik« betreibe.434
Zu Bachmanns Vorlagen gehörte sein Vorschlag über einen Kabinettsaus­
schuss für Fragen des geheimen Nachrichtendienstes und der Sicherheit435 Es
gehörte zu den letzten Amtshandlungen Adenauers, am 2. Oktober 1963 einen
Beschluss des Kabinetts herbeizuführen, wonach im Kanzleramt ein besonde­
res Arbeitsgebiet BND geschaffen und ein Kabinettsausschuss für Fragen des
geheimen Nachrichtenwesens und der Sicherheit gebildet werden sollten. Hier
wäre der Präsident des BND »von Fall zu Fall zu beteiligen«, ebenso der Präsi­
dent des BfV und der Chef des Amts für Sicherheit der Bundeswehr. Adenauer
verband damit die Erwartung, so auch die Missstände im BND auszuräumen.
Der Kabinettsbeschluss wurde Gehlen, der völlig überrascht war, durch Staats­
sekretär Mercker fünf Tage später mitgeteilt.436
Es gehörte wohl zur widersprüchlichen Natur und Sprunghaftigkeit Ade­
nauers, dass er sich zur gleichen Zeit von einer Zeitungsmeldung alarmieren
ließ, wonach die USA angeblich mit sechs Milliarden Dollar langfristiger Kre­
dite von Moskau politische Zugeständnisse erkaufen wollten. Der Kanzler bat
um eine sofortige Stellungnahme des BND, die prompt erfolgte und lautete:
Es seien umlaufende Gerüchte. Moskau sei derzeit interessiert, die Embargo­
schranken zu durchbrechen.437 Die USA beabsichtigten aber nicht, einen grö­
ßeren Pauschalkredit an den Ostblock zu vergeben, abgesehen von Einzelab­
kommen zum Beispiel über US-Weizenverkäufe. Kennedy suche damit eine
breitere innenpolitische Basis für eine flexible Politik gegenüber der UdSSR.438

434 Bka 5-15101-858/63 geh. Aufzeichnung über den Bundesnachrichtendienst, 27.9.1963,


VS-Registratur Bka, 15100/64 Bd. 3.
435 Aufzeichnung über einen Kabinettsausschuß für Fragen des geheimen Nachrichtenwe­
sens und der Sicherheit, 27.9.1963, BND-Archiv, 1110, T. 2.
436 Mercker an Gehlen, 7.10.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 96-97. Siehe auch Dülffer,
Krise, Kap. I.
437 Das im Kalten Krieg von den USA gegenüber der UdSSR und ihren Verbündeten ver­
hängte wirtschaftliche Embargo strategischer Güter berührte massiv die wirtschaft­
lichen Interessen der westeuropäischen Volkswirtschaften, insbesondere der Bun­
desrepublik; siehe Peter E. Fäßler: Bonn und das strategische Embargo gegen die
Sowjetunion und ihre Verbündeten 1949-1958, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54
(2006), S. 673-700. Bonn hatte erst im Dezember 1962 – einem Beschluss des NATO-
Rats folgend – ein Embargo für den Export von Großrohren für den Bau von Gas- und
Ölpipelines in den Ostblock verkündet. Es hatte trotz schwerwiegender Folgen für den
Ost-West-Handel bis Ende 1966 Bestand.
438 Vermerke des BND, 8.10.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 98-100.

1063
Am 15. Oktober 1963 legte Adenauer wie angekündigt sein Amt als Bundes­
kanzler nieder. Mit ihm ging auch Globke in den Ruhestand. Eine Ära in der
Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik ging in würdevoller Weise zu Ende.
Es bedeutete nicht so sehr für den BND als für seinen Präsidenten einen tie­
fen Einschnitt, der sich bereits im Zusammenhang mit der Spiegel-Affäre ein
Jahr zuvor abgezeichnet hatte. Aber der Scherbenhaufen, den er angerichtet
hatte, war für Gehlen größer als er wohl ahnte. Am späten Nachmittag seines
letzten Tages vor der Übergabe an seinen Nachfolger Erhard ließ Adenauer
Bachmann zu sich kommen. Der alte Herr sprach von seiner großen Sorge
wegen des BND und trug Bachmann auf, sich weiter darum zu kümmern,
obwohl man es – so Bachmanns Warnung – »mit einem gewandten und star­
ken Gegner zu tun habe«.439 Dann telefonierte Adenauer mit Globke und bat
ihn, dessen Nachfolger Ludger Westrick nahezulegen, dass er Bachmann bald
empfangen und sich informieren möge. Westrick folgte der Empfehlung aller­
dings nicht.440
Einen Tag nach dem Amtswechsel übermittelte Präsident Gehlen in einem
persönlichen Schreiben an den neugewählten Bundeskanzler Ludwig Erhard
seine Glückwünsche. Dass er ganz undiplomatisch bei dieser Gelegenheit mit
einem dreisten Anliegen an den neuen Regierungschef herantrat, zeigt, wie
empört er über das letzte Vermächtnis von Adenauer gewesen sein muss. Der
Kabinettsbeschluss vom 2. Oktober zur Unterstellung des BND unter das Kanz­
leramt baue auf völlig falschen Voraussetzungen auf, und Gehlen bat darum,
die Durchführung des Beschlusses auszusetzen, bis sich der neue Staatssekre­
tär im Kanzleramt eingearbeitet habe. Und – nun konnte er es auf einmal: Er
bot seinen Rücktritt an!441
Gehlen zwang sich zu einem anthropologischen Optimismus, wie er auch
dem neuen Kanzler nachgesagt wurde. Zwei Tage nach seinem Schreiben an
Erhard trieb ihn das Bedürfnis, sich einmal mit einem engen Vertrauten auszu­
sprechen. Er nahm Herre im Anschluss an das Mittagessen im Speisesaal des
Hauses 37 spontan mit in sein Büro. Dort gab er ihm unter vier Augen einen
Überblick über seine eigene Situation sowie die des BND innerhalb der Bonner
Ministerialbürokratie. Herre war zu diesem Zeitpunkt Leiter der militärischen
Beschaffung und sollte im nächsten Jahr Resident in Washington werden.

439 Siehe zum Gespräch Adenauers mit Bachmann Dülffer, Krise, Kap. I.
440 Notiz zum 16.10.1963, Bachmann-Bericht für Mercker-Kommission, 15.10.1968, S. 11,
VS-Registratur Bka, Az. 15100-1166/68.
441 Schreiben Gehlens an Bundeskanzler Erhard, 16.10.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt
204-207, im Anhang mit einer ausführlichen Begründung seines Standpunktes. Die
Entwürfe zu diesem Schreiben enthielten sogar noch schärfere Formulierungen seiner
Rücktrittsdrohung.

1064
Er war also gleichsam Gehlens Verbindungsmann zu den Amerikanern bzw.
deren Vertrauensmann innerhalb des BND.
Es ist denkbar, dass Gehlen auf diese für ihn typische indirekte Weise auch
die Amerikaner auf seine politischen Schwierigkeiten aufmerksam machen
wollte. Herre nutzte seinerseits die Gelegenheit, auf die personelle Unterbe­
setzung seines Bereichs hinzuweisen. Gehlen zeigte für diese internen Sorgen
nur schwaches Interesse. Man müsse die Schwierigkeiten in Kauf nehmen, »bis
es wieder bergauf geht«. Dazu seien freilich bestimmte Voraussetzungen erfor­
derlich. Er schilderte seine Bemühungen, für den Dienst größere Spielräume
zu schaffen. Der Erfolg werde aber noch auf sich warten lassen. »Zur Zeit
scharfes Angehen des Zieles nicht möglich, da Wechsel des Bundeskanzlers
und Wechsel des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt.« Herre schloss dar­
aus: Man steige personell noch eine Weile ins Tal hinunter, sehe den Talgrund
wegen des Nebels noch nicht und wisse auch nicht, wie die Verhältnisse des
Aufstiegs jenseits des Tales seien. Gehlen stimmte der Beschreibung des Pro­
blems zu und bat ihn, dennoch »nicht den Mut zu verlieren«.442
Woraus er für sich selbst Mut schöpfte, ist schwer abzuschätzen. Wahr­
scheinlich vertraute er auf sein erprobtes Talent, Vorgesetzte für sich ein­
zunehmen, indem er sich als unentbehrlicher Fachmann, zurückhaltend,
bescheiden und mit vielfältigen Verbindungen zu präsentieren verstand. Er
achtete darauf, unbedingt den Eindruck zu vermeiden, sich aufdrängen zu
wollen, beschränkte sich auf die Darlegung von vermeintlichen Fakten, und
nur wenn er ausdrücklich dazu aufgefordert wurde, äußerte er auf Befragen
seine Meinung. Die neue Spitzenmannschaft, auf die er sich einstellen musste,
kam allerdings aus der ganz anderen Welt des Wirtschaftsministeriums.
Erhard galt, wie bereits erwähnt, als notorischer Optimist, der sich – anders als
die kulturpessimistische Stimmung um Adenauer, Krone und Globke – offen
gegenüber dem modernen, liberalen Zeitgeist zeigte.443 Die Welt des Militärs
und geheimdienstlicher Rankünen blieb ihm fremd, ebenso die skrupellose
politische Netzwerkarbeit seines Vorgängers. Die Spiegel-Affäre und der Fall
Felfe hatten das Image des BND in jüngster Zeit schwer ramponiert. Im Wirt­
schaftsministerium zweifelten Experten schon lange, ob man einen solchen
Geheimdienst wirklich brauchte. Mancher Wirtschaftsbericht des BND »hatte
die Fachleute eher erheitert als informiert«.444
Erhard als Kanzler und Ludger Westrick, der ehemalige Wirtschaftslobbyist,
als Staatssekretär des Kanzleramts, zeigten auch in Zukunft kein sonderliches

442 Aktennotiz Herres, 18.10.1963, BND-Archiv, N 2/v.3.


443 Schwarz, Die Ära Adenauer, Bd. 2, S. 319.
444 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 293.

1065
Interesse an einem politischen Instrument, dessen Loyalität und Verschwie­
genheit – wie sich in jüngster Vergangenheit gezeigt hatte – nicht tadellos
gewesen war. Die mangelnde Qualität der BND-Berichte und »ein fast aber­
gläubischer Horror vor Spionen« ließen Erhard auf Distanz achten. Er ordnete
an, den kleinen Verbindungsstab aus Pullach, der im Dachgeschoss des Kanz­
leramts residierte, zu entfernen. »Ich will mit diesen Leuten nicht unter einem
Dach sitzen.«445 Das für den BND zuständige Referat zog der neue Leiter der
Abteilung III, Ministerialdirektor Karl Hohmann, an sich. Er kam gleichfalls
aus dem Wirtschaftsministerium und kultivierte eine geringschätzige Mei­
nung über die Geheimdienstler: »Die tun auch nicht mehr als Journalisten.
Sie recherchieren so gut und so schlecht, wie Journalisten recherchieren.«446
Nachdem ihm die journalistische Vorkämpferin des politischen Liberalis­
mus, Gräfin Dönhoff, gerade einen freundlichen, öffentlichen »Persilschein«
geschrieben hatte, dürfte Reinhard Gehlen hoch erfreut gewesen sein, dass
ihm sein sozialdemokratisch gesinnter Verehrer Jochen Willke in der Illustrier­
ten Revue ein ähnlich verklärendes, zeitgeistgemäßes Image verpasste. »Ich
sprach mit Gehlen«, so betitelte er die Schilderung einer Begegnung mit dem
BND-Chef. Dieser zeige die unauffällige Eleganz eines Gentleman aus der
Londoner City. Er sei sympathisch, vielseitig interessiert, modern, humorvoll,
seine Antworten seien klar und energisch nach der Art eines geschulten Gene­
ralstäblers, der den Nachrichtendienst als wissenschaftliche Arbeit betrachte.
Sein Dienst arbeite im Inland im Rahmen der Gesetze und betreibe keine Tele­
fonüberwachung – das war eine klare Verdrehung der Wahrheit. Der Bürger sei
vor Übergriffen bei diesem Mann geschützt, mutmaßte Willke. Darüber hinaus
besitze er bereits klare Vorstellungen von einem Nachfolger in vier Jahren -
nach Erreichen der Altersgrenze. Es müsste natürlich unbedingt ein Fachmann
sein (also von ihm selbst ausgewählt), rechtzeitig berufen, damit er vom schei­
denden Präsidenten (!) eingearbeitet werden könne. Eine parteipolitische Aus­
wahl komme nicht in Betracht.447 Schließlich gelang es auch noch, zum Spiegel
einen neuen Draht zu spannen. Die Verbindung bewertete Gehlen positiv und
ließ sie mit aller Vorsicht weiterverfolgen.448
Man kann davon ausgehen, dass zumindest die Perspektive auf seine Pen­
sionierung ehrlich und in genau dieser Form ein wichtiges Anliegen gewesen

445 Zit. nach: Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 294. Zu den Informationen einer Sonderver­
bindung in Bonn, die über enge Verbindungen zu Erhard und Westrick verfugte, siehe
Dülffer, Krise, Kap. I.
446 Zit. nach: Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 293.
447 Voluntas [d.i. Jochen Willke], Ich sprach mit Gehlen, Revue 42/1963 vom 20.10. (auch
BND-Archiv, 2785).
448 Unterrichtung Gehlens durch Weiß, 20.4.1964, BND-Archiv, N 10/11.

1066
ist. So gesehen signalisierte der Abgang von Adenauer und Globke zugleich
auch den Beginn des Endes der Ära Gehlen, der sich offenbar vorgenommen
hatte, in den verbleibenden Jahren sein Lebenswerk zu stabilisieren und kei­
nesfalls vorzeitig aus der Hand zu geben. Vielleicht erklärt das eine gewisse
Ungeduld, die ihn bereits wenige Tage nach dem Regierungswechsel dazu
drängte, Erhard und Westrick für sein Anliegen zu gewinnen. Doch vergeb­
lich.449 Westrick ließ sich auch nicht dadurch beeindrucken, dass Gehlen ihm
einen Vermerk über ein Gespräch schickte, das er mit Hermann Schmitt-
Vockenhausen (SPD) geführt hatte. Die verfassungswidrigen Abhörpraktiken
des Verfassungsschutzes in Zusammenarbeit mit den britischen und ameri­
kanischen Geheimdiensten waren 1963 Gegenstand kritischer Presseberichte
und Enthüllungen geworden. Von der Bundesregierung wurde die Affäre her­
untergespielt. Innenminister Hermann Höcherl sagte: Beamte könnten »nicht
den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen«.
Das war Gehlen sicherlich aus dem Herzen gesprochen. Sein Gespräch mit
Hermann Schmitt-Vockenhausen galt zunächst dessen Funktion als Vorsit­
zender des Innenausschusses im Deutschen Bundestag. Der SPD-Parlamen­
tarier zeigte bei den von Gehlen beantragten Änderungen des Bundesper­
sonalvertretungsgesetzes viel Verständnis für die Besonderheiten des BND.
Schmitt-Vockenhausen leitete außerdem einen Untersuchungsausschuss des
Bundestags zur gegenwärtigen Telefon- und Abhöraffäre. Er bat nun bei die­
ser Gelegenheit den BND-Chef um genauere Informationen, um bei eventuell
aufkommenden Fragen von Kritikern jederzeit Gegenargumente zur Hand zu
haben. Dazu war Gehlen natürlich gern bereit. Das bot ihm anschließend Gele­
genheit, Westrick zu informieren und auf sich aufmerksam zu machen.450 Doch
Globkes Nachfolger hielt sich bedeckt. Er hatte sich anfangs über die hohen
Kosten von Pullach aufgeregt. Doch weiter reichte sein Interesse nicht. Gehlen
konnte nicht mehr darauf vertrauen, regelmäßig angehört und ins Vertrauen
gezogen zu werden.
Allein Minister Krone sah sich berufen, nacheinander Gehlen und dann
Bachmann einzubestellen, um die verschiedenen Positionen in der ungelös­
ten Frage der Unterstellung bzw. der Dienstaufsicht abzugleichen.451 Mercker
und Bachmann drängten darauf, ihren Einfluss auszuweiten und boten einem
höheren Beamten aus der Verwaltung des BND an, eine neugeschaffene Stelle

449 Schreiben Westricks an Gehlen, 23.10.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 221. Westrick
teilte mit, dass Gehlens Vorschläge eingegangen seien und geprüft würden. Man werde
dann später mit ihm über das Anliegen sprechen.
450 Vermerk Gehlens über die Besprechung am 24.10.1963, übersandt an Westrick am
4.11.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 222-224.
451 Eintrag 25.10.1963, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 239.

1067
im Kanzleramt zu übernehmen, was heftige Reaktionen von Gehlen auslöste.452
In dieser Situation hatte der BND-Chef, von amerikanischer Seite gedrängt,
anscheinend keine Lust, die noch offene Einladung zu einem weiteren Besuch
in die USA anzunehmen. Er verwies auf den Regierungswechsel in Bonn und
sah eine Möglichkeit erst in sechs Monaten, wenn die zu erwartenden Verän­
derungen besser erkennbar sein würden.453 Gehlen vertraute darauf, dass sein
Protest gegen den Kabinettsbeschluss und seine Forderungen nach einer Her­
auslösung aus dem Kanzleramt doch noch erfolgreich sein würden.
Seine Befindlichkeit und Erwartungen an diesem Scheitelpunkt seines poli­
tischen Lebens werden durch einen Bericht von James Critchfield beschrie­
ben, der ihn Ende November in seiner dienstlichen und häuslichen Umgebung
besuchte. Keiner der amerikanischen Partner kannte Gehlen so gut wie Critch­
field, und dieser war in der Lage, auch die Veränderungen im Vergleich zu den
frühen 1950er-Jahren wahrzunehmen, als Gehlen seinen Kampf um Bonn
aufgenommen hatte. Das gemeinsame Wochenende in München gab Critch­
field Gelegenheit, ausführlicher mit Gehlen zu sprechen, als das früher der
Fall gewesen war.454 In Gehlens Arbeitszimmer, dem ehemaligen Schlafzim­
mer Martin Bormanns, das sieben Jahre lang Critchfields Büro gewesen war,
sprach man über das sowjetische Engagement in Ägypten und die amerikani­
sche Einschätzung des deutschen Zugangs zu kritischen Zielpunkten, die für
andere europäische NATO-Partner ansonsten versperrt waren. Was Critchfield
von Gehlen über die Situation in Deutschland und Europa erfuhr, entsprach
im Wesentlichen den Informationen, die er von seinen eigenen Leuten hatte.
Bis 1956 habe Gehlen fast seine ganze Zeit und Energie darauf gesetzt, den
BND zu etablieren. Er habe sich keinen Urlaub und keine Freizeit gegönnt.
Seine Verantwortung als Familienoberhaupt habe er damals rigoros und effi­
zient auf die wenigen Minuten konzentriert, die er sich dafür freihielt. Als er
dann selbst München verlassen musste, so Critchfield, habe er Gehlen überre­
det, ihm sein Segelboot abzukaufen. Dieser hatte bislang keine Ahnung vom
Segeln, doch dann ruhte er nicht länger, bis er den offiziellen Segelschein des
Ammersee Yacht Klubs besaß. Außerdem kaufte er sich drei weitere Boote. Sie
wurden das Ventil für sein unbegrenztes Interesse an technischen Spielereien.
Er sei äußerlich in den vergangenen Jahren kaum gealtert. Er schien einen
ordentlichen Appetit zu haben, rauchte vielleicht einige Zigarren weniger und

452 Notiz zum November 1963, Bachmann-Bericht für Mercker-Kommission vom


15.10.1968, S. 12, VS-Registratur Bka, Az. 15100-1166/68.
453 Notiz vom 14.11.1963, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol4_10F2, S. 7.
454 Notizen Critchfields über seinen Field Trip vom 19.11. bis 2.12.1963, ebd., S. 8-9; Aus­
zug Gehlen und BND, ebd., S. 16-22.

1068
trank nach wie vor keinen Alkohol. Eine bemerkbare Schlaffheit erklärte Geh­
len selbst damit, dass er sich in seiner Jolle ein Bein verdreht habe. Er schien
inzwischen in dem kleinen Ort Berg Wurzeln geschlagen zu haben. Bis auf
einen Schäferhund als Wache seien keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen
erkennbar. Gehlen habe ihn entspannt und ohne die berühmte Sonnenbrille
zum Mittagessen in einem Restaurant eingeladen. Man habe ihn dort begrüßt
wie einen Vertrauten, und, angesprochen auf die Schönheit der Landschaft,
erklärte Reinhard Gehlen, er habe keinen anderen Wunsch, als bis zu seinem
Todestag hier zu bleiben.
Er sei von seinem Familienclan umgeben. Tochter Katharina mit ihren zwei
Kindern lebe in einem gemieteten Haus gegenüber, das normalerweise als Gäs­
tehaus der Familie genutzt werde. Sohn Christoph stehe vor dem Abschluss
seines Physikstudiums. Er sei frisch verheiratet mit der hübschen Tochter von
Georg Buntrock, der 1945 mit Gehlen die Tage in der Berghütte verbracht hatte.
Marie-Therese, die Zweitälteste Tochter, habe den Plan ihres Vaters, sie zur
Ausbildung in die USA zu schicken, vereitelt, indem sie einen »akzeptablen«
jungen Mann geheiratet habe. Unter dem Einfluss ihres Onkels Johannes sei
sie nach Schweden geschickt worden und habe dort ihr Dolmetscherexamen
gemacht. Der Neffe Peter, einst Sorgenkind, habe eine hoffnungsvolle Bundes­
wehr-Laufbahn begonnen. Critchfield bemühte sich bei diesem Besuch sehr
darum, zu der ältesten Tochter Katharina wieder ein entspanntes Verhältnis
zu finden. Der Fall ihres 20 Jahre älteren Mannes, gebürtig aus Breslau und
Ritterkreuzträger von 1942, hatte zu einer nachhaltigen Störung der Bezie­
hungen Gehlens zur CIA geführt. Reinhard Gehlen hatte 1962 vergeblich ver­
sucht, seinen Schwiegersohn Alfred Dürrwanger als Residenten in Washing­
ton zu etablieren. Dürrwanger war aber von amerikanischer Seite abgelehnt
worden, worauf Gehlen ihn nach Paris schicken wollte. Dass die Amerikaner
ihre Haltung den Franzosen steckten, hatte den BND-Chef zutiefst verärgert.
Seine Tochter habe sich in ihren antiamerikanischen Ressentiments bestätigt
gefühlt und gegrollt, wie Critchfield berichtete.
In seiner eigenen politischen Grundausrichtung nahm Reinhard Gehlen
dabei keinen Schaden. In dem Gespräch mit Critchfield äußerte er sich aus­
führlich zur Frage der NATO und über die Zukunft Europas. Er behauptete, seit
1942 die deutsche Niederlage vorhergesehen zu haben, ebenso die Herausbil­
dung des Konflikts der beiden Supermächte USA und Russland. So sei er ein
unerschütterlicher Advokat der atlantischen Gemeinschaft geworden, was für
ihn nach 1945 höchste Priorität gehabt habe. Die deutsch-französische Annä­
herung als Basis für eine Vereinigung Europas galt ihm als zweite Priorität. Der
dritte Schritt sei die schwierige Einbeziehung Großbritanniens in die europäi­
sche Familie. In der neu formierten bipolaren Welt würden die alten Natio­
nalstaaten aber an Bedeutung verlieren. Critchfield gewann den Eindruck,

1069
dass Gehlen in den vergangenen Jahren wieder stärker auf diese frühen Über­
zeugungen zurückgekommen sei. Es sei falsch, dahinter einen unveränderten
deutschen Nationalismus zu vermuten, der sich bloß dem Sturm gebeugt habe,
wie er seit dem Ersten Weltkrieg über Deutschland hinweggefegt sei. Vor weni­
gen Monaten habe ihm Gehlen erzählt, wie sehr ihn die Entwicklung der euro­
päischen Länder in den letzten 15 Jahren, ihre wirtschaftliche Erholung und
Stabilisierung sowie ihre Fähigkeit zur Eindämmung des Sowjetblocks beein­
drucke. Das hätte er sich in den dunklen Anfangsjahren des Kalten Krieges
nicht vorstellen können. Gehlen habe weder die enorme ökonomische Kraft
der heutigen Bundesrepublik noch die politische Stärke des von de Gaulle
geprägten neuen Frankreich vorhergesehen.
Gehlen sei ein Mann, der, während er sich ganz der Gegenwart widme, sein
Leben lang auf den Wind des Wechsels achte und von Zeit zu Zeit seinen Kurs
ändere. Auch wenn jetzt womöglich ein solcher Zeitpunkt wieder gekommen
sein sollte, wollte Critchfield nicht glauben, dass Gehlen gegenwärtig die atlan­
tische Gemeinschaft grundsätzlich infrage stellte. Aber er sehe die Welt auch
nicht mehr so wie in den frühen 1950er-Jahren und bewerte die Rolle der euro­
päischen Staaten neu. Gehlen habe vor dem Hintergrund der sowjetisch-ame­
rikanischen Entspannung und dem Aufkommen der sowjetisch-chinesischen
Rivalität die Wahrscheinlichkeit eines ultimativen Übereinkommens in Osteu­
ropa erörtert. Er hielt es für angemessen, den von ihm 1955 angeregten Kon­
takt mit den Sowjets durch Bonin sowie die sowjetischen Annäherungsversu­
che, die ihm über nachrichtendienstliche Kanäle gemacht worden seien, im
Hinblick auf eine deutsche Wiedervereinigung neu zu bedenken, die auf einem
blockfreien Nationalstaat ohne Rüstungsbeschränkungen basieren könnte.
Es sei vor allem die Berlinfrage, weniger die Frage der Sicherheit West­
deutschlands oder Westeuropas, die es erfordere, US-Divisionen in der Bun­
desrepublik zu stationieren. Ginge es nicht um Berlin, würden die Deutschen
wahrscheinlich bereit sein, die Sicherheit Westeuropas zu riskieren und die
Verantwortung für die Verteidigung aufzuteilen, bei einer drastisch reduzier­
ten US-Militärpräsenz, unter der Annahme einer fortbestehenden taktischen
nuklearen Fähigkeit in Europa. Anders als viele Offizielle in Bonn, so Critch­
field, erkenne Gehlen die Logik früherer Äußerungen Eisenhowers an, der
eine Neuverteilung der Elemente einer komplexen Verteidigung Europas vor­
schlug. Aber er selbst befürworte das nicht und habe die Hoffnung, dass die
USA wenigstens zwei Divisionen in Europa aus politischen Gründen belassen
würden.
Critchfield glaubte, dass Gehlen Deutschland und Europa am Beginn einer
neuen Periode sehe, in der die bisherigen besonderen Beziehungen zu den USA
ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte sein werden. Seine Dankbarkeit
für den einzigartigen US-Beitrag werde nicht verschwinden, aber die transat­

1070
lantische Bindung werde bei den alltäglichen Entscheidungen nicht mehr das
gewohnte Gewicht haben. Es sei auch Fakt, dass Gehlens hochgradige Domi­
nanz in der Intelligence ungebrochen bis auf das Kriegsende zurückgehe. Er
habe alle seine Gegenspieler innerhalb der NATO überlebt. In diesem Sinne sei
er heute der Doyen in der westlichen Intelligence Community. In den letzten
Jahren habe er seine Beziehungen innerhalb Europas ausgebaut, die Kontakte
zu den USA aber hätten sich abgeschwächt.
Der Abgang der Dulles-Brüder sowie Adenauers letzter Wunsch, noch die
deutsch-französische Aussöhnung zu erleben, und die anfängliche Indifferenz
der Kennedy-Administration gegenüber Deutschland hätten zur Erosion der
transatlantischen Orientierung Gehlens beigetragen. Nach seinem letzten
Besuch in Washington 1961 habe Gehlen seinem alten Freund John Boker in
New York erklärt, dass es schwierig geworden sei, miteinander zu kommuni­
zieren. Obwohl man über die Ernsthaftigkeit des Schadens streite, stehe außer
Frage, dass der Fall Dürrwanger im letzten Jahr ein Hauptfaktor geworden sei.
Grundsätzlich verstehe er ja die politische Weisheit der amerikanischen Posi­
tion in der Sache. Aber die Handhabung der Affäre und eine unvermeidbare
Bitterkeit in der Familie hätten nun einmal einen unglücklichen Schatten auf
sein Verhältnis zu den Amerikanern geworfen.
Sollte sich die deutsche Regierung entschließen, Gehlen mit einigen Gesten
der Anerkennung in den Ruhestand zu schicken, dann würde er in die Politik
gehen. Er sei dazu ganz sicher entschlossen, auch wenn er erst in drei Jahren
regulär gehen würde. Obwohl er sich keine Illusionen über den Charakter des
Gaullismus in Frankreich mache, sei sich Gehlen nicht sicher, ob Deutschland
nicht einer ähnlichen gaullistischen Bewegung um die Person von Franz Josef
Strauß herum erliegen könnte.
Critchfield konnte in den Gesprächen kein klares Konzept für ein künftiges
Europa heraushören. Gehlen habe aber wohl das Gefühl, dass der Zenit der
US-Präsenz in Europa in den frühen 1950er-Jahren gelegen habe und sich im
Zeichen der Entspannungspolitik weiter verringern werde. Ob Gehlen das nun
gut oder schlecht finde, sei für die amerikanische Beurteilung nicht relevant.
Die bestehenden Beziehungen zum BND beruhten auf einer Art von Sonder­
stellung der CIA. Die erheblichen Vorteile aus dieser Beziehung ergäben sich
aus der alltäglichen Zusammenarbeit und den vielfältigen Regulierungen und
Absprachen. Da die Mehrzahl der Männer im Stab des BND direkt in diese
Kooperation eingebunden sei, würden sie nach Überzeugung und Gewohn­
heit die nützliche und gewinnbringende Zusammenarbeit fortführen, und da
Gehlen wohl kaum an drastische Veränderungen denke, werde es wahrschein­
lich möglich sein, diese besonderen Beziehungen eine Weile fortzusetzen. Zu
versuchen, Gehlen persönlich in diese Kontakte zu verwickeln, wäre sicherlich
kontraproduktiv.

1071
Gehlen sei verunsichert und ängstlich hinsichtlich der Zukunft der euro­
päischen Entwicklung. Man sollte, so Critchfield, nachhaltige Anstrengungen
unternehmen, um über seine Aktivitäten und Gedanken auf dem Laufenden zu
bleiben und nicht zuzulassen, dass er in eine Position selbst auferlegter Isola­
tion rutsche. In seiner gegenwärtigen Gedankenwelt sei er ein verwundbares
Ziel für geschickte Operationen jener in Europa – besonders in Frankreich -,
die gerne die erkennbaren Trends in seinem Ausblick verstärken würden. In
den zwei kurzen Tagen der Begegnung habe ihn, Critchfield, beeindruckt, wie
viele hochrangige BND-Mitarbeiter sich gerade auf Dienstreise in Paris oder
London befanden.455 Es schien ihm, dass Gehlen selbst seit seinem letzten
Besuch in Washington häufiger in den beiden europäischen Hauptstädten
gewesen sei und keinerlei Interesse zeige, in absehbarer Zeit auch die USA
wieder zu besuchen.
Zusammengefasst urteilte Critchfield, bei seinem Wiedersehen mit Geh­
len sei dieser von einer schwindenden US-Präsenz in Europa ausgegangen, er
habe seine Verbindungen innerhalb Europas gestärkt und begonnen, sich aus
den speziellen Arrangements mit den USA zu lösen. Obwohl das hauptsäch­
lich politische Gründe habe, spiele aber leider auch die Verstimmung über den
Fall seines Schwiegersohns eine wichtige Rolle. Auf dem Felde der Sicherheit
lasse er nicht nach, immer stringentere Maßnahmen durchzusetzen. Obwohl
er sich irgendwie von den Amerikanern isoliert fühle und eine größere Nähe
zu Franzosen und Briten suche, sei er sich voll und mit Bedauern im Klaren
darüber, dass diese – wenn es hart auf hart komme – weder bereit noch in
der Lage seien, die Rolle zu übernehmen, die in der Vergangenheit die USA
gespielt hätten. Und zu seiner Persönlichkeit schrieb Critchfield: Obwohl er
ein freundlicher und geselliger Mensch sei, scheue er das repräsentative Leben.
Sein durchdringender und unbeweglicher Blick bei der Konzentration auf
einen Gesprächspartner habe ihm bei den Amerikanern, die ihn kennen, den
Namen »blue eyes« eingebracht.456
Zur gleichen Zeit erhielt die Stasi neue Informationen über ihren alten Geg­
ner in Pullach. Agent Otto Freitag, der 1955 ein Attentat auf Gehlen vorbereitet

455 Tatsächlich bemühte sich Gehlen in diesen Tagen darum, seine antibritischen Vor­
behalte zu überwinden und persönliche Kontakte zum britischen Geheimdienstresi­
denten in Bonn zu knüpfen. Durch laufende Kontakte von Gehlen und Weiß zu Arthur
»Dick« Franks, der schließlich zum Chef des britischen Geheimdienstes avancierte,
gelang es, die diffizilen Verbindungen zu den Briten entscheidend zu festigen; Vortrag
Weiß bei Gehlen, 8.6.1964, BND-Archiv, N 10/11.
456 So in einer biografischen Skizze, die Critchfields Bericht von 1963 zusammenfasste
und im Oktober 1966 für den neuen CIA-Chef Richard Helms angefertigt wurde: NA
Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_10F2, S. 53.

1072
hatte, berichtete, dass seine verheiratete Tochter in Berg, Gehlens Wohnort,
ansässig sei und eine stundenweise Beschäftigung als Sekretärin beim Fürsten
von Urach, Graf zu Württemberg, Liechtenstein und Monaco, aufgenommen
habe. Der in Auf wohnende Fürst unterhalte enge Beziehungen zu Gehlen. Die
Putzfrau des Fürsten arbeite nebenher auch bei ihm und bei einem Indus­
triellen, Coca-Cola-Fabrikanten und Nachbar Gehlens. Freitags Tochter habe
im Gespräch mit dem Fürsten erfahren, dass Herta Gehlen im Ort in der Öffent­
lichkeit ihren Mädchennamen von Seydlitz gebrauche, gleichsam als Deckna­
men. Gehlen sei dem Adel sehr zugetan und beteilige sich an Hilfsaktionen für
verarmte Adlige. Der Fürst sei Monarchist und glühender Antikommunist, der
den Weltkommunismus durch Krieg beseitigt sehen wolle. Mit seinem Anhang
strebe er danach, die Bundeswehrführung in die Hand zu bekommen und mit
seinesgleichen zu durchsetzen.457 Zumindest Gehlens Hang zum Adel, auch in
dienstlichen Zusammenhängen, ist offensichtlich.
Die interne Unterrichtung Gehlens über den Stand der politischen Aufklä­
rung durch Kurt Weiß am 22. November 1963 entsprach der wöchentlichen
Routine und gab dem Chef des BND einen Überblick über die laufenden Akti­
vitäten.458 Hier zeigte sich, was Critchfield mit der Lösung aus den ehemals
engen Verbindungen zur CIA meinte. Weiß berichtete ausführlich über die
eigenen Aktivitäten in Afrika sowie die Verbindungen zum pakistanischen und
dem argentinischem Nachrichtendienst. Man tauschte untereinander Infor­
mationen, organisierte den Besuch von Angehörigen der Partnerdienste, deren
Teilnahme an Ausbildungslehrgängen und die technische Unterstützung, die
der BND zu leisten vermochte. Aktuell zeigte der indonesische Verteidigungs­
minister General Abdul Haris Nasution großes Interesse daran, Gehlen auch
persönlich kennenzulernen. Hier kümmerte sich Weiß um den Empfang in der
Zentrale und das Briefing.
Beim Thema einer nachrichtendienstlichen Verbindung zu Saudi-Arabien
horchte Gehlen auf. Hier zeigte er großes Interesse im Hinblick auf die stra­
tegische Situation. Unvergesslich wird ihm das goldene Schwert des Königs
gewesen sein. Eine laufende Unterrichtung forderte Gehlen auch über die
Kontakte zum Bonner Verteidigungsministerium, denn es musste ihm daran
gelegen sein zu verhindern, dass nach dem Wechsel von Strauß zu Hassel unter
der neuen Führung die Zuordnung des militärischen Nachrichtendienstes wie­
der infrage gestellt werden könnte. Gehlen erwartete außerdem den Besuch
von Minister Krone, von dem er Unterstützung erhoffte, um den BND aus dem
Kanzleramt herauszulösen. Weiß sollte im Rahmen des Besuchsprogramms

457 Bericht Freitags, 2.12.1963, BStU, MfS, AIM, Nr. 16161-783, S. 118-121.
458 Notiz vom 22.11.1963, BND-Archiv, N 10/10.

1073
einen Vortrag über die Aktivitäten des Weltkommunismus und die sowjetische
Infiltrationsstrategie halten. Es war offenbar dieses Thema, mit dem Gehlen
Krone für sich einzunehmen hoffte. Schließlich nahm er sich vor, die Presse-
Sonderverbindungen zu inspizieren, und bat um eine Liste jener Journalisten,
die er durch einen persönlichen Empfang stärker auf die Linie des BND festle­
gen könnte. Am Ende dachte er auch daran, seinen fatalen Bruch mit Strauß
vielleicht dadurch zu heilen, dass er ihn in einem persönlichen Schreiben vor
dem saarländischen Regierungsdirektor Wilhelm Bodens warnte, der in der
Bundesgeschäftsstelle der CDU arbeitete und über undurchsichtige Verbin­
dungen nicht nur mit dem französischen Geheimdienst verfügte.459
Diese Revue von Themen, die Gehlen interessierten, wurde unterbrochen
von der Nachricht, dass US-Präsident John F. Kennedy in Dallas ermordet wor­
den sei. Sie veranlasste Gehlen zu einem sofortigen Kondolenztelegramm an
den Chef CIA.460 So gut kannte sich Gehlen inzwischen im amerikanischen
Regierungssystem aus, um zu wissen, dass mit der Amtsübernahme durch
Vizepräsident Lyndon B. Johnson kein grundlegender Wechsel der US-Politik
zu erwarten sei. Der fast gleichzeitige Wechsel an der Regierungsspitze in
Bonn und in Washington mag ihn dennoch ermutigt haben, seinen Vorstoß
für eine größere Unabhängigkeit des BND, und um damit gleichzeitig auch sein
Gewicht auf der internationalen Bühne zu erhöhen, innerhalb des deutschen
Regierungssystems zu forcieren.
Gehlen ließ seine Argumente für den Angriff gegen den Kabinettsbeschluss
zu einer Denkschrift für Westrick zusammenfassen und gründete darauf den
Vorschlag, dem BND den Status eines Ministeriums zu verleihen. Die bishe­
rige Unterstellung unter das Kanzleramt und die umfassende Prüfung durch
den Bundesrechnungshof (BRH) seien schwere Fehler der Vergangenheit. Er
bat darum, dass auch Bundesminister Krone ein Exemplar seiner ausführli­
chen Erörterungen erhielt.461 In einem weiten historischen Rückblick begrün­
dete er, dass die Auftragssteuerung und Berichterstattung des BND direkt
mit dem Kanzler, dessen Staatssekretär, dem Vorsitzenden des Kabinetts­
ausschusses für die geheimen Nachrichtendienste sowie dem Außen- und
dem Verteidigungsminister erfolgen müsse. Diese Gespräche könnten dem

459 Bodens war während des Zweiten Weltkriegs Offizier bei der Abwehr gewesen. Der stu­
dierte Volkskundler hatte vor dem Krieg 5000 Sagen vom Niederrhein gesammelt, ab
1950 arbeitete er als Saarreferent im Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen,
ab 1955 in der saarländischen Staatskanzlei sowie in der Bundesgeschäftsstelle der CDU.
460 Memorandum für Chef CIA, 22.11.1963, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol4_10F2, S. 15.
461 Schreiben Gehlens an Westrick, 5.12.1963, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 226-272. Siehe
hierzu auch Dülffer, Krise, Kap. I.

1074
BND von keiner anderen Behörde abgenommen werden. Die administrative
Ordnung innerhalb des BND sei außerdem nicht immer mit den Regelungen
des Kanzleramts vereinbar, das betreffe insbesondere eine zentrale Entschei­
dungsgewalt, die rasch Entschlüsse fassen könne, ohne Instanzenzüge ein­
halten zu müssen.
Die Überprüfungen durch den Bundesrechnungshof seien ständig gestei­
gert worden und seien eine Belastung für die Sicherheit. Die Mitarbeiter eines
geheimen Nachrichtendienstes seien außergewöhnlichen ideellen und mate­
riellen Einschränkungen unterworfen. Das verlange einen angemessenen
Ausgleich, der auch notwendig sei, um attraktiver für die zivile Nachwuchsge­
winnung zu werden. Um seinen Argumenten für eine herausgehobene Sonder­
stellung des BND im öffentlichen Dienst Nachdruck zu verleihen, schilderte er
die Verhältnisse bei anderen westlichen Nachrichtendiensten und beschwor
die Gefahr, dass ohne eine Besserstellung des BND nachrichtendienstliche
Erfolge nicht mehr erzielt werden könnten.
Gehlen schlug vor: Unter seiner Leitung sollte ein ständiges Sekretariat
eingerichtet werden, das den Kabinettsausschuss unterstützt. Es wäre an das
Kanzleramt anzugliedern, aber dem Staatssekretär unmittelbar unterstellt.
Dieses Sekretariat werde praktisch die gesamte Verantwortung für Adminis­
tration, Personal und den Haushalt des BND auf Ministerialebene überneh­
men, die Lagevorträge auf höchster Ebene durchführen und die Verbindung
zu den Ressorts halten. Der Bundesrechnungshof sei auszuschalten. Die Auf­
sichts- und Prüfungsfunktionen des Parlaments könnten durch eine laufende
Unterrichtung durch den BND bzw. Tagungen am Sitz der Zentrale des BND
wahrgenommen werden. Gehlen, der gelernte Generalstabsoffizier, hielt nach
der Analyse von Bachmann »seine Selbständigkeit für bedroht und begnügt
sich nicht damit, den Angriff abzuwehren, sondern versucht im Gegenangriff,
einen Teil des Staatsapparats in die Hand zu bekommen«.462
Bei solchen weitreichenden politischen Plänen und Ambitionen war sich
Reinhard Gehlen nicht zu schade, während des Besuchs eines CIA-Vertreters
in Pullach wenige Tage vor Weihnachten darüber zu klagen, dass er anders
als in der Vergangenheit kein Geld mehr für Weihnachtsgeschenke an seine
Leute beschaffen könne. Früher sei es ihm stets gelungen, den Präsidenten
des Rechnungshofes zu veranlassen, eine entsprechende Summe abzuzeich­
nen. Das gehe im Augenblick nicht. Deshalb bat er den Besucher, ihm eine
Quittung für den Empfang von 600 D-Mark zu unterschreiben, im Austausch
für 150 Dollar. Der verblüffte CIA-Mann unterschrieb die Quittung, die Gehlen

462 Vermerk Bachmanns vom 23.1.1964, VS-Registratur Bka, 15100 (64), Bd. 4, Blatt 52 – 58.

1075
als »Dr. Schneider« unterzeichnete und als Spende für ein Picknick in Pullach
deklarierte.463
In der Wahrnehmung der Fürsorgepflicht für seine Mitarbeiter ließ sich
Gehlen ungern übertreffen. Loyalität und Verschwiegenheit bekam man nach
seiner Erfahrung nicht geschenkt. Da konnte es auch nützlich erscheinen, das
Image des BND in der Öffentlichkeit zu verbessern und damit die Arbeitsfreude
zu erhöhen. Gehlen stimmte dem Vorschlag der ARD zu, in einer Fernsehdo­
kumentation Geschichte, Gegenwart und Bedeutung des BND einer breiteren
Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Federführung hatte der WDR, zu dem Pul­
lach unter anderen durch den stellvertretenden Chefredakteur August Hoppe
über gute Verbindungen verfügte. Fritz Erler hatte sich gegenüber Weiß für
die Seriosität der beiden verantwortlichen Redakteure Günther Müggenburg
und Ulrich Blank, der zugleich eine Sonderverbindung des BND war, verbürgt.
Für Aufnahmen in der Zentrale, dem Heiligtum des BND, gab Gehlen bis ins
Detail Anweisungen. Er selbst wollte unter allen Umständen außen vor bleiben
und nicht gefilmt werden.464 Die Dokumentation wurde unter dem Titel »Von
Fremde Heere Ost zum Bundesnachrichtendienst« gesendet und später von
Gehlen in seinen Memoiren als ein »Festpunkt in der Öffentlichkeitsarbeit des
Dienstes« bewertet.465
Besondere Aufmerksamkeit schenkte Gehlen seinem eigenständigen strate­
gischen Projekt, dem Aufbau einer größeren BND-Aufklärungsbasis im Kongo
(Operation »Liane«), mit Ausstrahlungen auf weitere afrikanische Länder
und zur Unterstützung prowestlicher Widerstandsgruppen und Politiker. Um
Bedeutung und voraussichtliche Kosten zu erläutern, lud er Mitte Januar 1964
den neuen Präsidenten des Bundesrechnungshofes nach Pullach ein. Der Ost­
preuße Volkmar Hopf war zuvor Staatssekretär im Verteidigungsministerium
gewesen, ein Mann also, den Gehlen nicht ignorieren, aber vielleicht für sich
einnehmen konnte. So ließ sich Hopf zwar von Gehlen dessen Standpunkt
erklären, dass durch die reguläre verwaltungs- und finanztechnische Überprü­
fung des BND durch eine außenstehende Stelle angeblich die Sicherheitslage
gefährdet werde,466 aber Hopf, der die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung auf
seine Fahne geschrieben hatte, ließ sich in dieser Hinsicht nicht beeindrucken.
Die Zeiten, in denen Gehlen den Amtsvorgänger Hopfs dafür gewonnen hatte,
allein und im Vertrauen auf den Präsidenten die Zahlen für die Sach- und Per­

463 Bericht über ein Gespräch mit Gehlen am 19.12.1963, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_vol4_10F2, S. 25 -26.
464 Unterrichtung Gehlens durch Weiß am 8.1. und 9.3.1964, BND-Archiv, N 10/11.
465 Gehlen, Der Dienst, S. 234 – 235.
466 Vermerk Gehlens über die Sicherheitslage des BND, 21.1.1964, BND-Archiv, 4324.

1076
Die BND-Druckerei in Leopoldville, Kongo, 1960er-Jahre (heute Sitz der kongolesischen
Nationalbibliothek)

sonalausgaben des BND zu prüfen, waren endgültig vorbei. Größte Zweifel


bestanden jetzt an der Rechtfertigung der Ausgaben im Kongo.
»Liane« galt als Prestigeprojekt des BND, das zwar eine enge künftige
Zusammenarbeit mit der CIA und dem britischen Nachrichtendienst in dieser
Region nicht ausschloss, wobei man aber erwartete, dass die Partnerdienste
die Leitfunktion des BND anerkannten. Dabei durften sie allerdings auch nicht
den Eindruck gewinnen, dass der BND sie nur teilweise informierte. Dem
BND war an einer Einfügung in die »europäische Interessenlage im Kongo«
gelegen.467 Gehlen hatte in der Anlaufphase 5,4 Millionen D-Mark eingesetzt,
die hauptsächlich in den Bau der Druckerei »Concordia« investiert wurden.
Nach zwielichtigen Grundstücksgeschichten ging das Geld freilich verloren.
Die Druckerei wurde verstaatlicht. Mit den eingeplanten Mitteln von sieben
Millionen D-Mark für den laufenden Betrieb ließen sich keine weiteren großen
Sprünge machen, um sich in der Konkurrenz der anderen großen westlichen
Geheimdienste profilieren zu können.
Auch Gehlens Initiative zu einer neuen Verankerung des BND im Regie­
rungssystem verlief letztlich im Sande. Zwar trafen sich Mercker, Westrick und

467 Besprechung Weiß mit Präsident Hopf in Anwesenheit von Gehlen, 15.1.1964, sowie
Unterrichtung Gehlens durch Weiß, 20.4.1964, BND-Archiv, 10/11.

1077
Bachmann im Januar 1964, um über Gehlens Denkschrift zu diskutieren, aber
Bachmann blieb bei seiner Einschätzung, dass sich Gehlen mit der vorgeschla­
genen Einrichtung einer neuen Führungsgruppe in Bonn lediglich der Kon­
trolle entziehen und seinen Einfluss auf das BfV und das ASBw ausbauen wol­
le.468 Das neugeschaffene Nachrichtendienstreferat im Kanzleramt wurde auf
Vorschlag von Bachmann von Oberregierungsrat Hans-Georg von Koester aus
dem Wirtschaftsministerium übernommen. Dieser schrieb anschließend nach
Pullach und kündigte seinen Besuch an. Er benannte führende Leute des BND,
die er sprechen wollte. Daraufhin verreisten einige von ihnen oder wichen
unter sonstigen Vorwänden dem Gespräch mit Koester aus. Mit einer erneuten
Rücktrittsdrohung erreichte Gehlen lediglich, dass die A-15-Planstelle vorläu­
fig nicht besetzt wurde.469 Koester konnte also nicht sofort befördert werden.
Im Kanzleramt drängte Bachmann wiederholt darauf, dass man Gehlen auf
seine Denkschrift eine eindeutige Antwort geben müsse. Er schlug vor, eine
Dienstaufsichtsordnung für den BND festzusetzen. Gehlen machte dazu nach
Aufforderung durch das Kanzleramt eigene Vorschläge. Koester verband damit
die Hoffnung, zu einem Kompromiss zu kommen: Das Kanzleramt legte eine
Dienstordnung fest und verzichtete dafür auf eine formelle Antwort auf das
Gehlen-Memorandum vom vergangenen Dezember, die nach Lage der Dinge
nur eine Ablehnung bedeuten konnte.
Reinhard Gehlen verlegte sich nun wieder darauf, sich durch konstruktive
Initiativen und Angebote bei Vorgesetzten ins Gespräch zu bringen, um seine
Isolation zu überwinden. Als der EWG-Ministerrat über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer verhandelte, führte er auftragsgemäß Gespräche mit den Chefs
der befreundeten westeuropäischen Nachrichtendienste, die fast alle Sorge
vor einer kommunistischen Unterwanderung durch italienische Gastarbei­
ter hatten. Frankreich wollte aber die Initiative für politische Vorkehrungen
möglichst den Deutschen überlassen.470 Hier brachte Gehlen den BND gern
ins Spiel und übernahm später auch die Absprachen bezüglich der türkischen
und griechischen Gastarbeiter, obwohl das Problem sachlich eigentlich zum
Aufgabenfeld des BfV gehörte.
Er zögerte auch nicht, eine als sehr zuverlässig eingeschätzte Quelle bzw.
»unbewußte Unterquelle« über die politischen Auffassungen von US-Präsident

468 Besprechung am 23.1.1964, Bachmann-Bericht für Mercker-Kommission, 15.10.1968,


S. 12-13, VS-Registratur Bka, Az. 15100-1166/68.
469 Notiz zum Frühjahr 1964, ebd., S. 14.
470 Aufzeichnung betr. Verhandlungen des EWG-Ministerrats vom 18.2.1964, BND-Archiv,
1163/2, Blatt 280-284. Die Lösung lag unter anderem in der Regelung, dass in einen
Betriebsrat nur gewählt werden durfte, wer mindestens drei Jahre im Lande gelebt und
gearbeitet hatte.

1078
Johnson, der sich im November 1964 zur Wahl stellen musste, als persönliche
Meldung über Mercker und Westrick an den Kanzler einzureichen.471 Es blieb
ohne Resonanz, denn Erhard hatte dazu ausreichend andere Informationen.
Stattdessen schaltete sich Minister Krone ein und sprach mit General Lang­
kau über Fragen und Sorgen des Dienstes, insbesondere die Verwertung der
Ermittlungen. Weder Erhard noch Westrick würden sich dafür interessieren,
teilte er mit. Wie zum Trost erwähnte er auch, dass nach seinen Informationen
Strauß, inzwischen Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, den
Kampf gegen Gehlen fortsetzen und sich einen persönlichen Informations­
dienst aufbauen wolle. Dieser versuche, einen seiner Männer ins Kanzleramt
zu bringen. Krone erklärte, er sei entschieden dagegen und werde das nicht
zulassen.472 Er bemühte sich durch die Einbeziehung von Gehlen und Globke,
der auch nach seiner Pensionierung als Berater für Adenauer tätig war, die
Frage der künftigen politischen Auswertung und Berichterstattung zu klä­
ren.473 Und er konnte sich vorstellen, den BND aus dem Kanzleramt herauszu­
lösen und sich selbst als Bundesminister für besondere Aufgaben zu unterstel­
len, eine mögliche Lösung, der Gehlen sofort zustimmte.474 Krone wurde drei
Wochen später zum Bundesminister für die Angelegenheit des Bundesvertei­
digungsrates berufen.
Mit Minister Krone war also zu reden, mit Staatssekretär Westrick entwi­
ckelte sich der Kontakt dagegen ziemlich zäh und förmlich. Als über die mögli­
che Freilassung und den Austausch des Agenten Günter Hofe mit der östlichen
Seite verhandelt wurde, eine Art Testfall, der auch für die Vorbereitung des
Freikaufs von DDR-Häftlingen benutzt wurde, wollte Westrick telefonisch von
Gehlen eine Einschätzung haben, ob mit der Freilassung von Hofe eine Sicher­
heitsgefährdung verbunden sei. Wer hätte das besser beurteilen können als der
BND-Chef? Doch Gehlen nahm einen förmlichen Standpunkt ein und erklärte,
dass nach gegenwärtiger Rechtslage eine verbindliche Stellungnahme des BND
nicht möglich sei. Auskünfte könnte nur der Generalbundesanwalt erteilen,
an den der BND alle Unterlagen abgegeben habe. Dann verfasste Gehlen eine
Vorlage für Westrick zur persönlichen Unterrichtung mit der Einschätzung,
dass er aus seinem laufenden Kontakt zur Bundesanwaltschaft schließe, diese
werde wohl eine vorzeitige Entlassung und einen Austausch von Hofe ableh­
nen, schloss sich aber aus politischen Gründen dem Standpunkt des Staats­
sekretärs an, dass die andere Seite gleichwertige Gegenleistungen erbringen

471 Meldung Gehlens an Westrick und Mercker, 2.3.1964, ebd., Blatt 285-294.
472 Gespräch vom 19.3.1964, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 277.
473 Eintrag vom 10.4.1964, ebd., S. 282.
474 Gespräch Krone – Gehlen, 25.6.1964, ebd., S. 305.

1079
müsste.475 Gehlen bemühte sich, ein Verhältnis zu Westrick aufzubauen, und
ließ Weiß eine Zusammenstellung der Berichte zur sowjetischen Deutschland­
politik und zur Lage in Berlin anfertigen, die er persönlich dem Staatssekretär
vortragen wollte.476
Westrick blieb bei seiner Zurückhaltung und ließ Bachmann gewähren. Die­
ser organisierte bereits die nächste Sitzung des Parlamentarischen Vertrauens­
männergremiums, um die Kontrolle des BND nicht wieder zu vernachlässigen.
Und Bachmann setzte die Themen: Als Resultat der Abhöraffare des Verfas­
sungsschutzes diskutierte man in Bonn einen festeren Rahmen für die Post-
und Telefonkontrolle (Ausführungsgesetz zu Artikel 10 des Grundgesetzes).477
Der Entwurf des Innenministeriums sah die Möglichkeit individueller Kon­
trollen vor, der BND hatte sich für eine Globalkontrolle ausgesprochen, ins­
besondere für den Postverkehr mit dem Ostblock. Bachmann schlug vor, die
Fraktionsvorsitzenden außerdem über das Projekt eines Forschungsinstituts
»Wissenschaft und Politik« zu unterrichten. Gehlen lag am Herzen, den Beför­
derungsvorschlag für Regierungsdirektor Ebrulf Zuber vorlegen zu können.
Zuber sei Offizier der Waffen-SS – aber nur im militärischen Einsatz – gewe­
sen. Seine längst fällige Beförderung sei zurückgestellt worden, weil die Ver­
wendung von ehemaligen SS-Angehörigen in jüngster Zeit öffentlich kritisiert
worden sei. Gegen Zuber lägen aber keine Vorwürfe vor, ein gleichwertiger,
unbelasteter Kandidat sei nicht verfügbar. Diesen heiklen Fall ließ Bachmann
sofort erledigen. Das Gremium stimmte der Beförderung zu.478
Die Sitzung am 24. April 1964 verstand Gehlen für sich zu nutzen, indem er
zunächst Wendland über die Leistungsbilanz des BND im vergangenen Jahr,
den Haushalt sowie die Personalplanung vortragen ließ. Demnach wäre der
personelle Aufbau bis etwa 1967/68 abgeschlossen. Gehlen ergänzte einige
Hinweise über die Schwierigkeiten der Personalbeschaffung und verstand es,
bei der anschließenden Befragung durch Erler, Krone und Barzel auszuwei­
chen, die etwas über das Meinungsbild, das der BND von konkreten politischen
Ereignissen erlangt hatte, erfahren wollten. Zum leidigen Problem der poli­
tisch belasteten Mitarbeiter Stellung zu beziehen, übernahm Gehlen selbst.
Er schilderte das Entlassungsverfahren und behauptete, dass man aus Sicher­
heitsgründen im Laufe der Jahre insgesamt 80 politisch belastete Personen
entfernt habe.

475 Vermerk Gehlens für Westrick, 5.4.1964, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 305-306.
476 Vortrag Weiß bei Gehlen, 8.6.1964, BND-Archiv, N 10/11.
477 Siehe hierzu ausführlich Dülffer, Krise, Kap. IV.
478 Schreiben Bachmanns an Gehlen vom 10.4.1964 sowie Vermerk vom 17.4.1964, VS-
Registratur Bka, Bk 7:15205(1), Bd. 2.

1080
Abschließend erhielt er Gelegenheit, die Hauptprobleme für die weitere
Arbeit des BND anzusprechen. Er nannte die sprunghafte technische Entwick­
lung, die dazu führe, dass der BND auf dem Gebiet der Fernmeldeaufklärung
trotz guter Erfolge zurückbleibe. Hier würden nur etwa 300 Personen beschäf­
tigt, während zum Beispiel die Briten 5000 einsetzten. Zweitens erwähnte er
die Gewinnung hochwertigen Nachwuchses und verwies auf die Bemühungen,
Kontakte zu Studenten zu bekommen, um sie für den Dienst zu gewinnen, was
in den angelsächsischen Ländern kein Problem sei. Dort würden die finanziel­
len Aufwendungen für den Geheimdienst im Vergleich zu den Verteidigungs­
ausgaben jedoch ungleich höher liegen als in der Bundesrepublik. Auf die Frage
von Erler nach der Personalvertretung gab sich das Gremium mit der Auskunft
zufrieden, es würden in den einzelnen Bereichen Vertrauensleute gewählt und
außerdem gebe es einen Briefkasten zur Entgegennahme von Beschwerden,
die von einem besonderen Referat bearbeitet würden. So erhalte er ein gutes
Bild vom Betriebsklima und Hindernissen in den Arbeitsabläufen.479 Die Sit­
zung hatte ein gewisses Nachspiel, weil sich CSU-Landesgruppenchef Strauß
darüber beschwerte, nicht separat zu den Fraktionsvorsitzenden eingeladen
worden zu sein. Bachmann war zu einer persönlichen Entschuldigung bereit
und versprach, Strauß zur nächsten Sitzung einzuladen.480
Während Bachmann die Fraktionsvorsitzenden mobilisierte, sich um
den BND zu kümmern, stellte Mercker die Weichen für eine Aktivierung des
Kabinettsausschusses für Fragen des geheimen Nachrichtenwesens und der
Sicherheit. Die Minister wollten sich Mitte Juni treffen, um einem Auftrag des
Bundestages Folge zu leisten, der zum Abschluss des Untersuchungsausschus­
ses für die Telefonabhöraffäre beschlossen hatte, dass die Regierung bis zum
1. Oktober 1964 Vorschläge für eine bessere parlamentarische Kontrolle der
Nachrichtendienste vorlegen sollte. Eine Kontrolle bestehe derzeit nur für den
BND durch das Vertrauensmännergremium und einen Unterausschuss des
Haushaltsausschusses. Mercker schlug vor, die parlamentarische Kontrolle
für das BfV und das ASBw ähnlich zu regeln, hauptsächlich durch eine Aus­
weitung des Vertrauensmännergremiums. Die Präsidenten der drei Dienste
sollten aber jeweils nur einzelnen eingeladen werden, und zwar nur, wenn es
um ihre eigene Institution gehe, denn es sei unerwünscht, dass sich die Nach­
richtendienste zusammenfinden.481

479 Kurzprotokoll der Sitzung des Parlamentarischen Vertrauensmännergremiums am


24.4.1964, ebd.
480 Vermerk von Ministerialdirigent Dr. Bachmann für Ministerialdirektor Dr. Mercker,
30.4.1964, ebd.
481 Entwurf von Mercker für Staatssekretär Westrick für ein Schreiben an die Bundesminis­
ter, 29.5.1964, VS-Registratur Bka, Bk7:15205(l), Bd. 2.

1081
Die nächste kurzfristig angesetzte Sitzung des Parlamentarischen Ver­
trauensmännergremiums fand in Pullach statt. Die Fraktionsvorsitzenden
des Bundestages kamen Gehlen also entgegen und beschränkten sich wie
gewohnt auf wenige Nachfragen, mit denen Gehlen in erprobter Weise umzu­
gehen verstand. Allein Oppositionsführer Erler brachte einige kritische Punkte
zur Sprache. So legte er Wert darauf, dass die geplante Stiftung »Wissenschaft
und Politik« nicht zum verlängerten Arm des BND werden dürfe, und er zeigte
sich besorgt darüber, dass die führenden Stellen im BND mit Herren »mili­
tärischer Provenienz« besetzt seien. Hier wiegelte Gehlen geschickt ab und
verwies – an der eigentlichen Frage vorbei – darauf, dass nur zehn Prozent
des BND-Personals Soldaten seien, um dann eilfertig zu betonen, dass er
sich intensiv um die Anwerbung von akademisch ausgebildetem Nachwuchs
bemühte.482
Nach dem Abendessen ließ Gehlen durch die verantwortlichen Herren
über die außenpolitische Aufklärung sowie die Entwicklung der Arbeit in der
Auswertung vortragen. Er selbst wies einleitend darauf hin, dass die Alliierten
ihre Aufklärungsarbeit in der »SBZ« eingeschränkt hätten, was die Bedeutung
der Arbeit des BND erhöhe. Dann berichtete Dethleffsen, dass bei der Auswer­
tung täglich 450 Meldungen eingingen, 70 Prozent davon beträfen militärische
Fragen, 20 Prozent politische Aspekte sowie zehn Prozent Fragen von Wirt­
schaft und Rüstung. Gehlen erläuterte die große Zahl militärischer Meldun­
gen dahingehend, dass die Endauswertung von der Bundeswehr (Führungsbe­
reich II) auf den BND übergegangen sei. Seine Unterabteilung für militärische
Auswertung unterstehe aber fachlich dem G-2 in Bonn.
Dann kam die Diskussion auf den Stand der Ostpolitik. Gleich nach seiner
Amtsübernahme hatte Kanzler Erhard die Idee verfolgt, eventuell auch eine
Einstandsvisite in Moskau zu machen. Im März hatte er seine Pläne öffent­
lich angekündigt, worauf das Auswärtige Amt massive Einwände erhoben
hatte. Außenminister Gerhard Schröder unterstützte die Empfehlung, allen­
falls eine Einladung Chruschtschows nach Bonn auszusprechen. Den Nutzen
eines Gipfeltreffens beurteilte er – anders als Erhard – als voraussichtlich
gering. Schröder taktierte vorsichtig, weil seine Gegner aus dem Umfeld von
Adenauer, Krone und Strauß Alarm schlugen, weil sie befürchteten, dass die
Viermächte-Verantwortung für ganz Deutschland ausgehöhlt werden könnte.
Erhard hatte sich dem Druck des nationalkonservativen Flügels in seiner Par­
tei nicht gebeugt. Nach einigen weiteren vorbereitenden Schritten schien ein
Besuch Chruschtschows in Bonn immer wahrscheinlicher zu werden.

482 Sitzung des Vertrauensmännergremiums am 6.7.1964, ebd. Zu den dort ebenfalls dis­
kutierten Aspekten der Postüberwachung siehe Dülffer, Krise, Kap. IV.

1082
In dieser Situation war für die Fraktionsvorsitzenden bei ihrem Besuch in
Pullach, in Anwesenheit auch von Minister Krone, die Frage nach der Einschät­
zung der sowjetischen Politik durch den BND naheliegend. Gehlen überließ
den Vortrag Dethleffsen. Dieser äußerte die Meinung, dass die Koexistenzbe­
mühungen des sowjetischen Staatschefs nicht als Zeichen für einen Übergang
zur Defensive zu werten seien. Auch der russisch-chinesische Konflikt werde
nichts daran ändern.483 Der gerade abgeschlossene Freundschaftsvertrag zwi­
schen der DDR und der UdSSR sei ebenfalls nicht als Defensivmaßnahme,
sondern als Basis für weitere Maßnahmen der auf die Spaltung Deutschlands
zielenden Politik Moskaus zu verstehen. Gehlen äußerte sich offenbar nicht
selbst. Es hätte ihn gezwungen, gegen die politischen Absichten des Kanzlers
zu argumentieren, zu dem er noch immer einen Zugang und die Möglichkeit
eines persönlichen Gesprächs suchte. So griff Krone ein und fragte nach der
Übereinstimmung von BND-Meldungen und Botschaftsberichten über die
Sowjetunion. Gehlen wollte sich auch nicht gegen die Diplomaten in Stellung
bringen lassen und wich listig auf die Antwort aus, der Nachrichtendienst
erfahre früher von neuen Situationen als die Botschaft – eine kühne Behaup­
tung, da er in Moskau keine Spitzenquelle hatte und der BND keineswegs die
erfahrensten »Kreml-Astrologen« beschäftigte.
Grundsätzlich gehörte Pullach zweifellos zu den Mahnern gegen eine Auf­
weichung der deutschen Ostpolitik, ohne freilich harte Fakten liefern zu kön­
nen. So musste eine Meldung für Mercker und Krone genügen, es bahne sich
eine sowjetische Kampagne gegen eine deutsche Beteiligung an dem von ame­
rikanischer Seite vorgeschlagenen Projekt einer multilateralen Atomstreit­
macht (MLF) der NATO an, das in diesen Tagen ohnehin vor dem Scheitern
stand.484 Während parallel dazu in Bonn letzte Hindernisse für den Chruscht­
schow-Besuch aus dem Weg geräumt wurden und der Termin auf spätestens
März 1965 verlegt wurde (der Vorbereitungsstab im Palais Schaumburg wurde
von Ministerialdirektor Karl Hohmann geleitet, der – wie bereits erwähnt -
nichts von Nachrichtendienstlern hielt), wagte es der BND-Präsident doch,
sich persönlich mit einer Meldung an den Bundeskanzler einzumischen. In
einer Aufzeichnung zum bevorstehenden Chruschtschow-Besuch beschrieb
er die Haltung der anderen westlichen Länder, die er teils als positiv, teils als
reserviert einschätzte. Gehlen verwies insbesondere auf den französischen
Staatspräsident de Gaulle, der die Initiative als störend empfinde, weil ihm

483 1962 hatte das lange schwelende Zerwürfnis zwischen Mao und Chruschtschow zum
endgültigen Bruch im kommunistischen Lager geführt. Als Mao 1964 behauptete, in der
UdSSR habe es eine Konterrevolution gegeben und der Kapitalismus sei wieder einge­
führt worden, wurden die Beziehungen zwischen beiden Staaten eingestellt.
484 Meldung vom 14.9.1964, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 330-332.

1083
»Chruschtschow gestürzt« titelt
der Spiegel am 19. Oktober 1964.

Bonn damit »zu früh in einer Richtung tätig zu werden scheint, in der er sich
selbst die Führerrolle in Europa zumisst«. Gehlen unterstützte damit gleich­
sam aus der Deckung heraus Mahner wie Krone und Adenauer. Die Meldung
sollte über Westrick an den Kanzler gehen485 – ob sie diesen Weg tatsächlich
ging, bleibt offen. Kanzler Erhard ließ sich davon offenbar nicht abhalten, das
Besuchsprojekt voranzutreiben.
Zwei Wochen nach dieser Vorlage Gehlens erhielt der Kanzler, der erst
wenige Stunden zuvor noch im Bundestag davon geschwärmt hatte, Chruscht­
schow den Wunsch des deutschen Volkes nach Wiedervereinigung vortragen
zu können, aus der Mappe des Bundespresseamtes die Nachricht, dass Nikita
Chruschtschow aus allen seinen Ämtern entfernt worden sei. Angeblich habe
Peking gegenüber Moskau verlauten lassen, dass man bereit sei, den bilatera­
len Streit zu beenden, aber nicht solange Chruschtschow im Amt sei.486
Der BND war ebenso unvorbereitet wie der Kanzler und wusste, entgegen
den vollmundigen Behauptungen Gehlens in der letzten Sitzung des Ver­
trauensmännergremiums, von den Vorgängen in Moskau nicht früher als die
Diplomaten. Natürlich hatte der BND – gleichlautend mit den Erkenntnissen
befreundeter Dienste – immer wieder einmal von wachsenden Spannungen

485 Meldung Gehlens für den Bundeskanzler, 28.9.1964, ebd., Blatt 337-340.
486 Siehe Erst mal schlafen, Spiegel 43/1964 vom 21.10.

1084
innerhalb der sowjetischen Führung berichtet und darauf verwiesen, dass Ale­
xander Scheiepin als möglicher Nachfolger Chruschtschows gehandelt werde.
In seinen Memoiren verwies Gehlen später darauf, dass selbst renommierte
»Kreml-Astrologen« nicht mit einer Troikalösung gerechnet hätten (Leonid
Breschnew als Parteichef, Nikolai Podgorny als Staatspräsident und Alexej
Kossygin als Ministerpräsident). Dass Chruschtschow von Hardlinern im
Kreml gestürzt wurde, widersprach freilich der Einschätzung von Pullach, die
seine Politik der friedlichen Koexistenz als bloße Tarnung interpretiert hatte.
Es war jedenfalls wieder eine verpasste Gelegenheit für den BND, durch wirkli­
che Aufklärungsergebnisse und realistische außenpolitische Lagebeurteilun­
gen in Bonn auf sich aufmerksam zu machen.
Gehlen sah keinen Grund, die Veränderungen in Moskau als mögliche Zei­
chen von innerer Schwäche der Sowjetunion zu sehen. Im Gegenteil: In einem
Brief an seinen alten Vertrauten Wessel, der nach seiner Zeit als Kommandeur
der Panzergrenadier-Brigade 2 in Braunschweig als deutscher Vertreter in den
Ständigen Militärausschuss der NATO gegangen war, äußerte er tiefe Sorge
über die Politik der USA. Gehlen erinnerte Wessel an ein Gespräch Ende 1942,
als er ihm erklärt habe, dass man den Krieg verlieren werde, nicht, weil man
ihn nicht militärisch gewinnen könnte, sondern weil man ihn mit der damali­
gen Führung verlieren müsste. Heute stelle sich die Frage, ob man den Frieden
gewinnen könne, da man einer weit überlegenen politischen Führung aufsei­
ten des Ostblocks gegenüberstehe. Er sei Realist und habe auch mit Heusinger
gesprochen, der nach seinem Abschied aus Washington über die Zukunft der
NATO sehr besorgt sei.487
Dazu passte eine Meldung, die Gehlen am nächsten Tag nach Bonn weiter­
gab. Es handelte sich um die Auswertung einer Studie der RAND Corporation
mit Vorschlägen zur Umgliederung der NATO-Verteidigung. Sie sahen einen
Umbau der gesamten Abwehrkräfte in Europa vor, mit der Umstellung der
Bundeswehr auf eine Berufsarmee mit nur noch acht Divisionen plus Miliz.
Es sollten drei starre Verteidigungszonen gebildet werden. Erst in der dritten
wären dann die US-Kräfte mit taktischen Atomwaffen stationiert. Man ver­
sprach sich dadurch erhebliche Einsparungen, die nicht zuletzt der amerika­
nischen Kriegführung in Vietnam zugutekommen würden.488
Hinsichtlich seiner eigenen Position setzte Gehlen darauf, seine Präsenz in
Bonn wieder zu verstärken. Weiß sollte sich darauf einstellen, in eiligen Fällen
eine Sofortreaktion mit kurzer Stellungnahme zu ermöglichen. Das Lagebüro
des Präsidenten sollte außerdem erheblich verstärkt werden und wichtige

487 Schreiben Gehlens an Wessel, 15.10.1964, BND-Archiv, N 1/138.


488 Meldung Gehlens vom 16.10.1964, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 334-336.

1085
Gerhard Wessel, Deutscher Militärischer Vertreter
im Militärausschuss der NATO, 1963/64

Berichte direkt erhalten, noch während die Auswertung daran arbeitete. Im


Augenblick vorrangig war die Vorbereitung eines Vortrags vor dem Kleinen
Haushaltsausschuss des Bundestages. Hier wollte Gehlen über die Ergebnisse
der Nachrichtenbeschaffung Ost referieren und einen Überblick über die Chru­
schtschow-Berichterstattung geben.489 Den Anstoß dazu hatte eine Meldung
gegeben, wonach sich Vizekanzler Erich Mende gegenüber FDP-Parteifreun­
den negativ über den BND geäußert habe, weil der Nachrichtendienst den
Sturz Chruschtschows nicht vorher angezeigt habe.490
Der Umsturz in Moskau hatte zu einer Nachfrage nach kompetenter Ein­
ordnung und Deutung in Bonn geführt. Da erinnerte sich mancher daran, dass
der BND vielleicht tatsächlich mehr wissen könnte als das Auswärtige Amt
oder Auguren im publizistisch-akademischen Bereich. So wünschte sich Ende
Oktober 1964 der FDP-Fraktionsvorstand dazu einen Bericht von Gehlen. Will
Rasner, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, sprach
sich gegenüber dem Kanzleramt strikt dagegen aus. Er wollte Gehlen auch
nicht vor seiner eigenen Fraktion auftreten lassen. Daraufhin redete Minister
Krone mit dem Kanzler, der die Genehmigung für einen Vortrag im kleinsten
Kreis erteilte. Gehlen erklärte sich bereit, vor der FDP-Spitze zu sprechen, aber
Krone wünschte sich einen Vortrag zunächst vor der Spitze der CDU/CSU-
Fraktion.491 Hier kamen vermutlich Vorbehalte zum Ausdruck, dass scharfe
Töne aus Pullach den Koalitionsfrieden zwischen Anhängern und Gegnern

489 Vortrag Weiß’ bei Gehlen, 26.10.1964, BND-Archiv, N 10/11.


490 Geheim-Meldung an Gehlen, 23.10.1964, BND-Archiv, N 13/21.
491 Vermerk Merckers vom 30.10.1964, VS-Registratur Bka, Bk7:15205(l), Bd. 2.

1086
einer neuen Ostpolitik stören könnten. Krone legte Gehlen darauf fest, dass er
als Minister für den Verteidigungsrat künftig über alle wichtigen Meldungen,
auch wenn sie nur für den Bundeskanzler bestimmt seien, orientiert werden
wolle. Gehlens Meldung über einen möglichen Strategiewechsel im westlichen
Bündnis hatte offenbar beim Kanzler einige Irritationen ausgelöst.492 Krone
legte Wert darauf, angesichts der Führungsschwäche an der Spitze den von
ihm geleiteten Verteidigungsrat zu stärken, worauf sich Gehlen einzustellen
verstand. So konnte Krone bald in seinem Tagebuch notieren: »General Geh­
len bringt mir mehr Informationen als irgend eine andere Stelle; er kommt
regelmäßig.«493
Gehlens nächster Auftritt in Bonn fand erst Mitte Dezember 1964 statt,
nachdem die geplante Sitzung des Vertrauensmännergremiums wegen viel­
fältiger Terminschwierigkeiten der Fraktionsvorsitzenden immer wieder ver­
schoben werden musste. Das Gespräch im Kleinen Kabinettssaal der Residenz
des Bundeskanzlers stand unter Zeitdruck. Die parlamentarische Kontrolle
der Nachrichtendienste wurde als Problem nur kurz gestreift, ebenso die im
Parlament diskutierte Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheim­
nisses nach Artikel 10 Grundgesetz. Gehlen hatte seinen Personalchef mitge­
bracht, der über die Entwicklung im BND referieren sollte, aber nur den Fall
Ebrulf Zuber vortragen durfte. Die Abgeordneten bestanden darauf, dass es
Angelegenheit der Bundesregierung sei, über Einzelfälle zu entscheiden. Auch
über das Institut »Wissenschaft und Politik« wurde kurz gesprochen, und dann
durfte Gehlen über den Fall Horst Schwirkmann berichten. Das Attentat auf
einen deutschen Techniker auf dem Boden der UdSSR hatte vor dem geplan­
ten Besuch Chruschtschows zu diplomatischen Verstimmungen geführt. Nach
Gehlens Meinung hatte der Vorgang aber keinen politischen Hintergrund, son­
dern es handelte sich um eine nachrichtendienstliche Problematik.494
Die Bonner Szene blieb für ihn also undurchsichtig und frustrierend. Seine
Position, dass der BND eine andere rechtliche Stellung beanspruchen könne
als Verfassungsschutz und ASBw, da er keine Staatsschutzbehörde im engeren
Sinne sei, setzte sich politisch nicht durch.495 Erfreuliche Abwechslung brachte
der Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombe in Mün­
chen, den Weiß im Hotel Bayerischer Hof abholte und zu Gehlen ins Pullacher

492 Notiz vom 25.11.1964, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 337.


493 Eintrag vom 6.5.1965, ebd., S. 367.
494 Sitzung des Vertrauensmännergremiums am 10.12.1964, VS-Registratur Bka,
Bk7:15205(l) Bd. 2. Siehe hierzu demnächst auch den UHK-Beitrag von Andreas Hilger:
Blick durch den Eisernen Vorhang; in: Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
495 Ein entsprechender Vermerk fand keine Resonanz, siehe Eintrag Frühjahr 1965, BND-
Archiv, 4324.

1087
Präsidentenhaus begleitete. Außerdem konnte sich Gehlen auf einen weiteren
Besuch des ihm wohlgesinnten Journalisten Jochen Willke freuen.496
Weiß meldete sich zu einer Dienstreise nach Südafrika ab. Im Auftrag von
Gehlen sollte er die Partnerschaft der Nachrichtendienste festigen und sich
insbesondere um Aufbau und Betrieb einer Basis zur Überwachung des Funk­
verkehrs am Kap bemühen, die vom Präsidenten als strategisch hochwichtige
Verbindung eingestuft wurde. Das Projekt sei mit dem Chef des Kanzleramts
abgesprochen und sollte ohne Einbeziehung der Deutschen Botschaft orga­
nisiert werden. Gehlen legte seinem Vertrauten ans Herz, jede politische Stel­
lungnahme zur umstrittenen Apartheidpolitik der südafrikanischen Regie­
rung zu vermeiden und engen Kontakt zum örtlichen BND-Residenten zu
halten. Der in Südafrika lebende pensionierte BND-Mitarbeiter Dingler, ein
erfahrener Abwehroffizier und ehemaliger Gefolgsmann von Baun, sollte zur
Zurückhaltung ermahnt werden. Bei dieser Gelegenheit kam auch eine Reihe
von problematischen Personalfallen zur Sprache, die Gehlen auf Weiß abschie­
ben und bei ihm beschäftigen wollte, um mögliche Klagen und Beschwerden
zu verhindern.497
Die von Gehlen persönlich geführte Sonderverbindung »Rotraut« sollte,
wenn er abwesend war, von Weiß betreut werden, dabei seien aber keinesfalls
andere Mitarbeiter einzuschalten. Der Präsident legte auf die Dame als eine
angeblich »hochrangige Auslandsbeziehung« immer noch großen Wert. Dem
Mitarbeiter »Michael Schaufler« (DN), dem intern mangelndes Engagement
vorgeworfen wurde, möge Weiß doch noch eine Chance geben, denn »Schauf­
ler« fühle sich »eng mit dem Dienst verbunden« – Gesinnung stand für Gehlen
eben im Zweifel vor Leistung, kein Einzelfall.498 Gehlens geheimer Spitzel in
der SPD-Führung (Ziegler) sollte künftig einen lukrativen Auslandsposten in
Südamerika erhalten. Der Chef kümmerte sich um jede Einzelheit und regte
eine Abdeckung durch die weltweiten Verbindungen des Deutschen Gewerk­
schaftsbundes an.499

496 Vortrag Weiß’ bei Gehlen, 14.12.1964, BND-Archiv, N 10/11.


497 Besprechung Weiß – Gehlen, 26.4.1965, BND-Archiv, N 10/12.
498 Unterrichtung Gehlens durch Weiß, 19.2.1965, BND-Archiv, N 10/12. Zwei Jahre später
erhielt Weiß intern die Einschätzung, dass der Regierungsoberamtsrat nicht für den
Auslandsdienst geeignet sei. Er wurde für den Archivdienst vorgeschlagen; Eintrag vom
18.1.1967, BND-Archiv, N 10/14.
499 Besprechung Weiß – Gehlen, 22.2.1965, BND-Archiv, N 10/12.

1088
6. Die Versuchung des Gaullismus (1965/66)

Das politische Bonn diskutierte seit Anfang der 1960er Jahre das Phänomen des
Gaullismus, der vor allem die Unionsparteien in Gaullisten und Atlantiker spal­
tete.500 Was war von der Vision zu halten, Deutschland möge sich Frankreich,
das ab 1960 zur Atommacht geworden war, anschließen und die Finanzierung
seiner Atombewaffnung mit übernehmen, um sich aus der Abhängigkeit der
USA zu lösen und Teil einer mächtigen europäischen Großmacht zu werden,
die zwischen Osten und Westen eine eigenständige Rolle spielen könnte? Kanz­
ler Ludwig Erhard und sein Außenminister Gerhard Schröder wollten alles
vermeiden, was die Brücke über den Atlantik erschüttern könnte. Altkanzler
Adenauer hingegen stand für jene Skeptiker, die voller Misstrauen gegenüber
Washington einen allmählichen Rückzug der USA aus Europa befürchteten,
zulasten der Deutschen und ihres Strebens nach Wiedervereinigung.
Doch wie stand es mit der französischen Haltung zur deutschen Wieder­
vereinigung? Bedeutete der Gaullismus nicht eine Zementierung des Sta­
tus quo auf lange Sicht mit der unrealistischen Hoffnung, in ferner Zukunft
könnte Moskau sich unter dem Druck des Konflikts mit China und sich
emanzipierender Satellitenstaaten zu Zugeständnissen bereitfinden? Es fiel
Gehlen offensichtlich nicht leicht, sich in einer Stellungnahme für Bundesmi­
nister Heinrich Krone und Altkanzler Adenauer zu einem klaren Standpunkt
durchzuringen.501 Der französische Staatspräsident de Gaulle habe zwar ein
klares theoretisches Gesamtkonzept, doch am Ende werde Frankreich einer
deutschen Wiedervereinigung wohl nur dann zustimmen, wenn den franzö­
sischen Sicherheitsinteressen Rechnung getragen werde und das Potenzial
des vereinigten Deutschland nicht die angestrebte Führungsrolle Frankreichs
in Europa beeinträchtige. Außerdem müsste Deutschland de Gaulles Euro­
pakonzeption anerkennen. Ideologisch war Gehlen zwar bei den Gaullisten,
politisch aber respektierte er die Weltmacht USA. Entscheidend für ihn war
in der aktuellen Diskussion, dass nach Äußerungen von Sowjetaußenminister
Andrej Gromyko bei einem Besuch in Paris deutlich geworden war, dass die
ostpolitischen Initiativen de Gaulles letztlich auf eine Zementierung der deut­
schen Teilung hinausliefen. In der Konsequenz rückte Gehlen daraufhin von
gaullistischen Positionen gänzlich wieder ab.502

500 Siehe dazu Tim Geiger: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und
innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958-1969, München 2008.
501 Stellungnahme Gehlens zur Frage der französischen Haltung zur deutschen Wiederver­
einigung, 24.2.1965, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 341-343.
502 Das berichtete sein Vertrauter Herre einem CIA-Vertreter, 3.6.1965, NA Washington,
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol4_20F2, S. 3-4.

1089
Er ließ sich aber weiterhin über die Einschätzungen von Franz Josef Strauß
informieren. In einem vertraulichen Gespräch habe dieser geäußert, so hieß es
zum Beispiel in einer persönlichen Unterrichtung für Gehlen, dass die Zeiten,
in denen die europäischen Interessen mit denen der USA völlig parallel liefen,
endgültig vorbei seien. Die Bundesrepublik dürfe sich nicht von der Mitbestim­
mung über Atomwaffen ausschließen lassen. Notfalls müsse man aus Existenz­
gründen Anschluss an die französischen Atomwaffen suchen und den Verzicht
von 1952 auf eine eigene Nuklearwaffenproduktion aufgeben, um sich sodann
einen neuerlichen Verzicht abhandeln zu lassen. Strauß schätze die Deutsch­
landpolitik der USA so ein, dass man zwar den Status quo erhalten, aber Bonn
langsam und systematisch nicht nur zu passiver Duldung des gegenwärtigen
Status, sondern zu »aktiver Bejahung« veranlassen wolle. Die Bundesrepublik
müsse daher in Zukunft »eine nur nach den deutschen Interessen ausgerich­
tete Politik treiben und ihr enormes Machtpotential viel stärker einsetzen.
Eine nationale Politik ist auch deswegen vonnöten, um stark aufkommende
nationale Ressentiments unter der Jugend abzufangen.«503
In Pullach wartete auf den Präsidenten ein Tagesgeschäft, bei dem er sich
hauptsächlich um jene Vorgänge kümmerte, die eine gewisse politische Bri­
sanz erwarten ließen. So hatte sich der BND inzwischen in geheime Waffenge­
schäfte eingeschaltet, einerseits um die internationale Szene besser beobach­
ten zu können, andererseits um militärische und wirtschaftliche Interessen
Bonns zu unterstützen. Der Verkauf ausgemusterter deutscher Düsenjäger
an Portugal, über den Gehlen pflichtgemäß das Kanzleramt unterrichtete,
gehörte dabei noch zu den harmlosen Aktionen, bei denen der BND auf Bitten
des Auswärtigen Amts behilflich sein konnte.504 Auch in anderen Fällen wuss­
ten die Diplomaten durchaus die Verbindungen zu fremden Nachrichtendiens­
ten zu schätzen, wenn es darum ging, Kontakte zu nutzen, falls die offiziellen
politischen Beziehungen gestört waren.
Das galt insbesondere für den Nahen Osten, wo die Bundesrepublik Anfang
März 1965 nach einem Staatsbesuch des DDR-Machthabers Walter Ulbricht
die Wirtschaftshilfe für Ägypten einstellte, eine bereits abgeschwächte Form
der Hallstein-Doktrin, mit der Bonn seinen Allvertretungsanspruch durchzu­
setzen versuchte. Die Doktrin war in Deutschland selbst inzwischen längst
umstritten, aber die strategischen Interessen gegenüber der führenden Nation
im arabischen Raum sprachen dafür, ein Abdriften Ägyptens in das prosow­
jetische Lager unbedingt zu verhindern. Da bedeutete die Verhaftung des

503 Vortragsnotiz 2164, 30.9.1965, BND-Archiv, N 13/21.


504 Schreiben Gehlens an Mercker, 7.3.1965, mit Abschrift eines Schreibens an den Staats­
sekretär des Auswärtigen Amts Karl Carstens, BND-Archiv, 1103/2.

1090
israelischen Agenten Lotz, der sich der Deckung des BND in Kairo bediente,
einen Paukenschlag. Der deutsche Resident Gerhard Bauch wurde ebenfalls
verhaftet, und es kostete Worgitzky einige Mühe, ihn aus dem Gefängnis frei­
zubekommen. Gehlen bestand darauf, dass Lotz zwar deutsche Papiere habe,
die ihm der BND beschafft hatte, er aber dennoch israelischer Staatsbürger
sei. Um ihn brauchte man sich also nicht zu kümmern, wohl aber um einen
Reporter des Magazins Stern, der in gefährlicher und provozierender Weise
zu dem Fall recherchierte. Gehlen erteilte den Auftrag, über eine bestimmte
Sonderverbindung auf den Mann einzuwirken.505 Auf Bitten des Auswärtigen
Amts bemühte sich Gehlen, die Verbindung zum saudi-arabischen Nachrich­
tendienst (»Salamander«) zu nutzen,506 um zu verhindern, dass bei der ange­
kündigten Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepu­
blik und Israel der arabische Raum eine antideutsche Position beziehen würde.
Bonn hatte vorsichtshalber bereits die Waffenlieferungen an Israel eingestellt.
Am Ende reagierten der Irak und Ägypten mit dem Abbruch ihrer Beziehungen
zur Bundesrepublik.507
Zur gleichen Zeit hatte die Absicht des Deutschen Bundestages, sich in
West-Berlin zu versammeln, zu heftigen Drohungen von östlicher Seite geführt.
In Bonn und Berlin kursierten Gerüchte über mögliche Zwischenfalle. Gehlen
hat sich in seinen Memoiren gerühmt, dass die Berichte und Einschätzungen
des BND dazu beigetragen hätten, dass die Abgeordneten das Risiko eingegan­
gen seien.508 Obwohl im Zusammenhang mit der Einstellung der Spiegel-Ver­
fahren in der innenpolitischen Debatte die Kritik am BND wieder lauter wurde
und auch ein möglicher Rücktritt Gehlens ins Gespräch kam, konnte er sich in
Pullach sicher fühlen. Prominente ersuchten um Gesprächstermine: Erzherzog
Dr. Otto und Erzherzogin Adelheid von Habsburg, Giselher Wirsing, Chefredak­
teur von Christ und Welt, der Verleger Franz Burda, Peter Boenisch von der Bild-
Zeitung, Staatssekretär Dr. Franz Heubl von der Bayerischen Staatskanzlei.509
Letzterer war es wohl, der Wünsche von Franz Josef Strauß überbrachte,
der BND möge zu bestimmten Journalisten Erkundigungen einziehen. Für
Gehlen war dies ein Signal, dass er sich eine Chance ausrechnen konnte, das
völlig zerrüttete Verhältnis zum CSU-Vorsitzenden zu heilen. Strauß stand
mit Adenauer, so meldete es der Spiegel, in einer »Kampffront gegen Kanzler
Erhard und Vizekanzler Mende, die sich einig sind in dem Ziel, eine Bundesre­

505 Vortrag Weiß’ bei Gehlen, 26.4.1965, BND-Archiv, N 10/12.


506 Vortrag Weiß’ bei Gehlen, 1.4.1965, ebd.
507 Siehe demnächst die UHK-Studie von Tilman Lüdke zum Mittleren Osten; in: Krieger
(Hg.), Globale Aufklärung.
508 Gehlen, Der Dienst, S. 241.
509 Vortrag Weiß’ bei Gehlen, 26.4.1965, BND-Archiv, N 10/12.

1091
gierung zu bilden, in der Strauß nicht Minister wird«.510 Aber der Bayer könnte
nach der Bundestagswahl im September 1965 wieder als Minister eine Bezugs­
größe bilden, auf die Gehlen Rücksicht zu nehmen hätte. Es musste ihm selbst
allerdings gelingen zu verhindern, dass nach der Verfahrenseinstellung der
Bundesanwaltschaft am 13. Mai 1965 die Rolle des BND bei der Spiegel-Affäre
wieder ins Gespräch geriet.
Als sich das Vertrauensmännergremium Ende Mai 1965 wieder zu einer Sit­
zung im Amtssitz des Bundeskanzlers treffen wollte – jetzt auch unter Anwe­
senheit von Strauß -, stand eigentlich das Einvernehmen über die Ergänzung
des Artikels 10 Grundgesetz und die mögliche Erweiterung des Gremiums auf
der Tagesordnung. Gehlen hatte sich vorbereitet, die Runde der Spitzenpoliti­
ker aller Bundestagsparteien darüber zu informieren, wie es um den Aufbau
des BND stand, welche Probleme die Arbeit in den Entwicklungsländern auf-
warf, wie die Wirtschafts- und Rüstungspolitik der UdSSR seit dem Sturz Chru­
schtschows zu beurteilen sei und schließlich auf die technische Entwicklung
im BND hinzuweisen, verbunden mit dem Vorschlag, die Zentralstelle für das
Chiffrierwesen in Mehlem zu besichtigen – ein rundes und harmonische Pro­
gramm. Doch es kam ganz anders. Minister Krone verwies auf die knappe Zeit
und stellte zur Diskussion, was in der Runde besprochen werden sollte. Daraus
entwickelte sich eine lange Diskussion zum Spiegel-Fall, der die Abgeordneten
mehr als alles andere interessierte.511
Rainer Barzel, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, wollte von Gehlen wis­
sen, ob der BND denn Auskunft geben könne, ob die jetzt außer Verfolgung
gesetzten Augstein und Ahlers die Geheimhaltung verletzt hätten oder nicht.
Oppositionsführer Fritz Erler (SPD) wünschte Auskunft über Verluste und Pan­
nen beim BND und hatte dann noch eine spezielle Frage, ob es denn stimme,
dass während der Störmanöver anlässlich der Sitzung des Bundestages am
7. April in Berlin sowjetische Fallschirmjäger 25 Kilometer von Berlin entfernt
gelandet seien, ohne dass der BND davon Kenntnis erhalten hätte. Hier konnte
Gehlen mit allgemeinen Bemerkungen ausweichen, nicht aber, als Strauß das
Spiegel-Verfahren zur Sprache brachte. Welche Fragen habe denn der BND vor
der Veröffentlichung der Titelgeschichte im Oktober 1962 vorab geprüft und
sei er überhaupt zuständig gewesen, über die Geheimhaltung zu entscheiden?
Außerdem sei von einem Machtkampf der Geheimdienste die Rede, was ihn
überrasche, denn die entscheidenden Stellen beim ASBw seien doch im Ein­
vernehmen mit dem BND besetzt worden.

510 Formierte Gesellschaft, Spiegel 40/1965 vom 29.9., S. 23.


511 Kurzprotokoll der Sitzung des Vertrauensmännergremiums, 20.5.1965, VS-Registratur
Bka, Bk7:152.05(l), Bd.3.

1092
In seiner Antwort erklärte Gehlen, dass ihm solche Behauptungen unbe­
greiflich seien. Der BND arbeite seit Jahren gut mit dem BfV und dem ASBw
zusammen. Dann ließ er sich darauf ein, einen ausführlichen Überblick über
seine Beziehungen zum Spiegel zu geben, denn er wusste, dass Strauß ihm
unterstellte, er habe mit dem Magazin gegen den Verteidigungsminister kon­
spiriert. Seit 1953 würden im Einvernehmen mit der CIA und dem Kanzleramt
gute Beziehungen zu den Hamburger Journalisten bestehen. Die Bundesregie­
rung habe mehrfach vorab erfahren, was der Spiegel plante, und man habe Ein­
fluss auf mehrere Publikationen nehmen können, insbesondere wenn es um
Material aus dem Osten ging. Im Juli 1959 habe der Spiegel unter Mitwirkung
des BND die Methoden des sowjetzonalen Staatssicherheitsdienstes beschrie­
ben, zur Täuschung des Gegners auch mit falschem Material.512 Stets habe
der BND verlangt, vor der Veröffentlichung den Artikelentwurf einsehen zu
können. Dem sei der Spiegel immer nachgekommen bis zum Artikel »Bedingt
abwehrbereit« 1962. Hier habe man den BND aufs Glatteis gelockt, um sich
notfalls exkulpieren zu können. Gehlen ergänzte: Er habe nur zu honorigen
Leuten in der Presse Beziehungen aufgebaut. Beim Spiegel sei das anders gewe­
sen. Zehn Jahre sei das immerhin gut gelaufen.
Strauß insistierte, dass der BND die Anfrage gar nicht hätte beantworten
sollen. Gehlen reagierte darauf mit der Behauptung, er persönlich hätte die
Beantwortung abgelehnt. Der vorliegende Fall sei als Panne zu betrachten,
der verantwortliche Beamte sei einer seiner besten Leute. Erler hakte nach,
ob Gehlen wegen der Beantwortung der Anfrage hätte verhaftet werden sol­
len. Dieser wich aus. Die äußerst peinliche Situation bei Kanzler Adenauer
am 12. November 1962 war ihm zweifellos in allen Facetten präsent. Dennoch
stellte er den Ablauf für ihn selbst günstiger dar: Er habe sich zu einem Vor­
trag beim Bundeskanzler angemeldet, und bei dieser Gelegenheit habe dieser
geäußert, dass der Spiegel wohl vom BND vorgewarnt worden sei. Adenauer
habe dann darum gebeten, eine Untersuchung durch die Bundesanwaltschaft
durchführen zu lassen, damit kein Zweifel am Dienst hängen bleibe. Gehlens
Intimfeind Günter Bachmann, der Mann Adenauers, nahm Gehlen sogar in
Schutz. Es habe nie eine Absicht bestanden, Gehlen zu verhaften. Heinrich
Krone notierte in seinem Tagebuch abschließend die Quintessenz, auf die
es ihm ankam: Gehlen habe eingeräumt, dass der BND Fragen militärischen
Inhalts des Spiegel beantwortet habe. Das sei eine »Panne« gewesen, da der
BND nicht kompetent sei, solche Auskünfte an die Presse zu geben.513

512 Gemeint ist der Artikel Deckwort Teutonenschwert, Spiegel 31/1957 vom 31.7., S. 16-20,
in dem über Fälschungen bei einer DDR-Kampagne gegen den Befehlshaber der NATO-
Landstreitkräfte Mitteleuropa General Speidel berichtet wurde.
513 Eintrag 20.5.1965, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 374.

1093
Wenige Tage später beschrieb Conrad Ahlers ausführlich und mit überzeu­
genden Details die Absicht Adenauers am 12. November 1962, Gehlen verhaf­
ten zu lassen.514 Das Vertuschungsmanöver mochte auf der politischen Bühne
geeignet sein, Gehlens beschädigtes Ansehen zu reparieren und die Wogen zu
glätten, die sein Verhältnis zu Adenauer und Strauß belasteten. Die Wahrheit
hatte er aber gegenüber den Spitzen des Parlaments, die ihn eigentlich kon­
trollieren sollten, verschleiert. Das bestätigte einer seiner führenden Mitarbei­
ter, als er von dem CIA-Vertreter in München auf den aktuellen Spiegel-Artikel
angesprochen wurde. Volker Foertsch bejahte, dass Adenauer die Absicht
gehabt hatte, Gehlen verhaften zu lassen. Adenauer und Strauß seien davon
überzeugt, dass Gehlen die Fakten zu dem Artikel im Oktober 1962 freigege­
ben habe, dabei habe Wicht tatsächlich den Artikel auf eigene Verantwortung
prüfen lassen, ohne Gehlen zu unterrichten. Dieser habe auch nichts mit den
illegalen Warnungen an den Spiegel vor drohenden Verhaftungen zu tun. Ange­
sprochen auf das landläufige Gerücht, Strauß verfuge über Abhörbänder aus
dem Spiegel-Büro, meinte Foertsch, die Einzigen im Verteidigungsministerium,
die über die Fähigkeiten dazu verfugten, seien das Amt für Sicherheit der Bun­
deswehr und das kleine Antikorruptionsreferat, die aber niemals von sich aus
eine Abhöraktion beim Spiegel unternehmen würden, und Strauß hätte weder
sie noch ein privates Detektivbüro damit beauftragt.515
Die CIA machte sich zu Recht Sorgen um Gehlen und seine nachlassende
Reputation, die einen reibungslosen Übergang zu einem Nachfolger gefähr­
den konnte. Ein Gesprächspartner von Herre in New York berichtete, Geh­
len habe wie üblich viel und wenig Bedeutsames zu erzählen gehabt. Herre
meinte jedenfalls, Gehlen unterstütze vorbehaltlos das Eingreifen der USA in
der Dominikanischen Republik516 und in Vietnam, und er frage, was er Kanz­
ler Erhard empfehlen könnte, um die amerikanische Position zu unterstützen.
Gehlen vertraue darauf, das Datum seines Abgangs selbst wählen zu können,
wenn ein geeigneter Nachfolger zur Verfügung stünde. Herre hielt es allerdings
für möglich, dass nach der Bundestagswahl im September 1965 ein uner­
wünschter Kanzler (Willy Brandt oder Franz Josef Strauß) das Entlassungsda­
tum vorziehen könnte. In einer handschriftlichen Notiz des amerikanischen
Gesprächspartners (möglicherweise Critchfield) hieß es, dass 50 Prozent der
Leute, mit denen er in Pullach gesprochen habe, auf die Zurruhesetzung Geh­

514 Conrad Ahlers, Der Hintergrund der Affäre, Spiegel 22/1965 vom 26.5., S. 4-7.
515 Bericht Chief Munich Base vom 17.6.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol4_20F2, S. 7.
516 Mit der Operation »Powerpack« begannen die USA am 28. April 1965 eine militärische
Intervention in der Dominikanischen Republik, um ein »zweites Kuba« zu verhindern.

1094
lens warteten. Im Allgemeinen aber sei die Stimmung wohlwollend.517 Es ent­
sprach der allgemeinen Erfahrung, dass ein Vorgesetzter, der nach fast zwei
Jahrzehnten seine Position in absehbarer Zeit abgeben muss, Rückhalt unter
den Untergebenen, vor allem unter den Jüngeren, verliert, zumal dann, wenn
der Chef in der Öffentlichkeit umstritten und nicht ausgeschlossen ist, dass der
»Neue« ein ganz anderes Kaliber sein könnte.
Gehlen aber geriet nicht nur durch eine solche fast unvermeidbare Konstel­
lation in die Rolle einer lame duck. Er reagierte schon seit Langem aus der fast
völligen Isolation seiner Zentrale bzw. meist nur aus seinem Präsidentenbüro.
Seine ausgeprägte Neigung, die Verantwortung für interne Pannen auf Unter­
gebene abzuschieben, monatelang – wie im Fall Felfe – den ganzen Dienst
nach Verdächtigen durchsuchen zu lassen und, anstatt seine Führung stärker
herauszustellen, Abschottung und Verwirrung der Zuständigkeiten sogar noch
zu verstärken, war kein geeignetes Mittel, das Vertrauen seiner Mitarbeiter zu
gewinnen. Er wirkte nicht mehr als der geheimnisumwitterte und erfolgreiche
Spionagechef, sondern mutete nicht wenigen offenbar wie ein müde geworde­
ner Mann Anfang 60 an, verbraucht und ruhebedürftig.

Die Mandarin-Allüren des alternden Präsidenten erzeugten ein Klima, das


Nachlässigkeit im Dienst, Leistungsabfall und ein bis dahin unvorstellbares
Günstlingssystem förderte. Der einst so unermüdliche Schreibtisch-Arbeiter
blieb immer mehr seinem Büro fern, er ging häufig in Urlaub – meist fuhr
er mit dem Wohnwagen (Schwimmen und Segeln sind seine Hobbies) auf
das Grundstück, das die Schwester seines Fahrers am Bodensee besaß. Akten
arbeitete er kaum noch auf. Er ließ sich zwar für das Wochenende von seiner
Sekretärin einen Koffer mit Akten vollpacken, aber der Koffer kam am Mon­
tag in der Regel ungeöffnet zurück.518

Je mehr er sich abschloss, desto stärker machte er sich abhängig von einem
kleinen Kreis vertrauter Mitarbeiter bzw. jenen, die trotz mancher Enttäu­
schung oder Demütigung zu ihm hielten, und sei es, weil sie selbst nur noch
kurze Zeit bis zum Ruhestand vor sich sahen. In einer solchen Situation war
es nicht verwunderlich, dass auch die interne Kritik an den 16 Verwandten, die
Gehlen im Dienst beschäftigte, anschwoll. Dass sein durch den Widerspruch
der CIA als Resident in Washington verhinderter Schwiegersohn über Monate
die Beziehungen zu den Amerikanern belastete, kennzeichnete die Bedeutung
eines Nepotismus, der über familiäre Fürsorge hinausging. Auch an vielen

517 Bericht für Chief Eastern Europe, 3.6.1965, ebd., S. 3 – 4.


518 Gestützt auf Aussagen von Insidern Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 293, 297-298.

1095
anderen im Dienst beschäftigten Verwandten ließ Gehlens Schwager, Brigade­
general Seydlitz-Kurzbach, kaum ein gutes Haar.
Nach einer Notiz der CIA würden viele derjenigen Militärs im BND, die
nicht befördert worden seien, kritisieren, dass Gehlen für Verwandte und die
höherrangigen Generalsstabsoffiziere immer noch einen passenden Posten
gefunden habe. Es sei aber zweifelhaft, ob sie über genügend Einfluss verfüg­
ten, um als »Jungtürken« bezeichnet zu werden – ob sie Gehlen also stürzen
könnten.519 Die CIA setzte selbstverständlich auf einen regulären Übergang,
der für Kontinuität auch und gerade im Hinblick auf die enge Verknüpfung des
BND mit dem amerikanischen Geheimdienst sorgen würde. Es gab Spekulatio­
nen, dass Wendland der Favorit für die Nachfolge sein könnte. Der zehn Jahre
jüngere Generalstabsoffizier hatte sich als Abteilungsleiter zu einem engen,
verlässlichen Mitarbeiter Gehlens entwickelt, der dem Präsidenten schnell und
selbstständig zuarbeitete. Von der Bundeswehr als Stabsoffizier übernommen
und zum BND kommandiert, machte Gehlen den Generalmajor dann 1967 zu
seinem Vizepräsidenten.
Ein politischer Wechsel in Bonn, vielleicht als Ergebnis eines gesellschaftli­
chen Wandels, wie er sich seit Anfang der 1960er-Jahre abzeichnete, wäre eine
Herausforderung für die Einflussmöglichkeiten der USA als Schutzmacht und
wichtigster Verbündeter der Bundesrepublik. Befreit von der Sorge, Präsident
Gehlen könnte auf seine letzten Tage die gaullistischen Kräfte im Lager des
deutschen Konservatismus nachhaltig unterstützen, luden die Amerikaner
ihn nach Wiesbaden ein, um sich beim Commander in Chief United States Air
Forces in Europe über die Fähigkeiten und Einschätzungen des wichtigsten
NATO-Partners zu informieren. Es sollten Informationen präsentiert werden,
die für Gehlen von besonderer Bedeutung sein würden.520 Dass er wieder stär­
ker an die Amerikaner heranrückte und sich vom Gaullismus verabschiedete,
sollte sich für ihn auszahlen.
Dass am 24. Juni 1965 nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit im Deut­
schen Bundestag zustande kam, um das Grundgesetz durch eine Notstands­
verfassung zu ergänzen, dürfte Gehlen als Bestätigung dafür gesehen habe,
unbedingt auf seinem Posten auszuharren und den Kampf um die Staats­
autorität – wie er es sah – fortzusetzen. Der Bundestag billigte die Notstands­
gesetze erst am 30. Mai 1968, kurz nach der Pensionierung Gehlens. Es muss
ihn zuversichtlich gemacht haben, dass ihn die konservative Regierung in

519 Handschriftliche Notiz, 23.6.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_


Gehlen_vol4_20F2, S. 9.
520 Notiz der Munich Liaison Base, 4.6.1965, ebd., S. 5. Um was es sich für Informationen
handelte, ist nicht bekannt. Es könnte sich um eine Einweisung in die militärstrategi­
schen Absichten und Fähigkeiten der Amerikaner gehandelt haben.

1096
dieser Situation nicht fallenließ und daher für ihn Aussichten bestanden, die
voraussichtlich letzten zwei Jahre seiner Dienstzeit unbeschädigt zu überste­
hen. Jedenfalls stärkte es offensichtlich eine gewisse Gelassenheit, trotz der
anhaltenden publizistischen Stürme. Drei Wochen nach der wichtigen Abstim­
mung im Bundestag schrieb er dem CIA-Repräsentanten für Deutschland und
bedankte sich – etwas spät, aber kurz nach dessen Versetzung gleichsam in
letzter Minute – für ein besonders schönes Weihnachtsgeschenk, das dieser
ihm im Dezember 1964 hatte überreichen lassen: einen hölzernen Häuptlings­
thron mit Löwenköpfen auf den Armlehnen aus dem alten westafrikanischen
Königreich Dahomey.521 Leider habe er die gesellschaftlichen Kontakte nicht so
pflegen können, wie er es geschätzt hätte. Aber es sei in den letzten zwei Jahren
nach der Spiegel-Affäre doch eine gewisse Erleichterung eingetreten.

Dafür gibt es einen Haufen anderer Schwierigkeiten, die Sie wahrscheinlich,


von Ihrem Schreibtisch aus gesehen, auch spüren. Immerhin sind wir bisher
mit allen Schwierigkeiten erfolgreich fertig geworden, und ich denke, daß das
auch in den kommenden Jahren der Fall sein wird, bis ich mein Amt einem
geeigneten Nachfolger übergeben kann.

Mit einem gewissen Stolz berichtete Gehlen, dass sein Sohn sein Physikdiplom
mit »gut« bestanden habe und im Dienst arbeiten werde, dass seine jüngste
Tochter Dorothee, die Psychologie studiere, einen vor dem Examen stehenden
jungen Studenten aus dem Fach geheiratet habe.

Damit ist der Ausverkauf beendet, und es wird in unserem Hause wohl recht
still werden, außer an den Wochenenden, wo wir die Kinder mit ihren Män­
nern – respektive Frauen – meist zu Gast haben, mit Ausnahme von Katha­
rina und ihrer Familie, die, wie Sie wissen, in Paris sind.522

Gehlen räumte ein, dass eigentlich schon längst wieder ein Besuch von ihm in
den USA fällig sei. Es hänge aber stark von den politischen Verhältnissen ab,
wann er eine weitere Reise antreten könne – das zielte auf die bevorstehen­
den Bundestagswahlen. Er selbst stellte sich schon seit Längerem darauf ein,
dass ein Wahlsieg der SPD wahrscheinlich sei.523 Wenige Tage vor der Wahl im

521 Telegramm der Munich Liaison Base, 9.12.1964, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol4_10F2, S. 152.
522 Schreiben Gehlens, 14.7.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol4_20F2, S. 12-13.
523 Bericht Munich Liaison Base über ein Gespräch mit Gehlen bei dessen Neujahrsempfang,
18.1.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol4_10F2, S. 162.

1097
September sprach der CIA-Vertreter in München mit Kurt Weiß über die Wahl­
aussichten und deren mögliche Folgen für den BND, die dieser gerade mit dem
Spitzenpersonal besprochen hatte. Weiß schätzte, dass die CDU erneut eine
Koalition mit der FDP eingehen werde. Selbst wenn die SPD gewinnen würde,
hätte das keine Auswirkungen auf den BND. Unter einer SPD-geführten Koa­
lition könnte sich seine Position sogar ein wenig verbessern, denn man habe
sich bisher sehr um die Pflege der Beziehungen zu SPD-Führern bemüht. Erst
jüngst hätten SPD-Bundestagsabgeordnete sehr viel Verständnis für die Pro­
bleme des BND gezeigt. Er glaube auch nicht, dass Gehlen von einer solchen
Regierung entlassen werde. Es gebe bei allen Parteien keine große Unzufrie­
denheit mit Gehlen und nicht den Wunsch, ihn zu ersetzen. Man habe auch
keinen starken Kandidaten für die Nachfolge. Gehlen werde wohl sein regu­
läres Pensionsalter erreichen und man werde ihm vermutlich sogar eine Ver­
längerung einräumen.524 Das war ausnahmsweise eine erstaunlich zutreffende
Prognose.
Beim Feind rechnete man allerdings damit, dass Gehlen wohl im Herbst
1965, also nach den Wahlen, bzw. im nächsten Frühjahr in Pension gehen
werde. Der Leiter der Abteilung Agitation im Ministerium für Staatssicherheit
bat den ersten Stellvertreter des Ministers, Generalleutnant Bruno Beater, um
Anweisung an die Hauptabteilung II, vor dem Abgang Gehlens alle verfügbaren
Materialien zusammenzustellen, die geeignet sein könnten, »in maßgeblichen
Zeitungen und Zeitschriften über die Person Gehlens und seinen Bundesnach­
richtendienst diffamierende Veröffentlichungen erscheinen« zu lassen.525 Die
Stasi wollte ihrem Gegner also einen entsprechenden Abschied bereiten. Doch
dafür war es noch zu früh.
Obwohl Kanzler Erhard intern stark kritisiert wurde und seine Regie­
rungsbilanz nicht überwältigend war, erhielten die Konservativen bei der
Bundestagswahl am 19. September 1965 eine große Mehrheit der Stimmen
(47,6 Prozent). Die SPD unter dem Kanzlerkandidaten Willy Brandt erreichte
beachtliche 39,3 Prozent. Durch die Fortsetzung der Koalition der Unionspar­
teien mit der FDP (9,5 Prozent) verfügte das zweite Kabinett Erhard über eine
bequeme Mehrheit im Bundestag. Nicht die Opposition gefährdete die neu
geschmiedete Koalition in der kommenden Legislaturperiode, sondern die auf
eine Ablösung Erhards zielenden Kräfte innerhalb der Regierungsparteien.
Schon bei der Regierungsbildung konnte Erhard seine Vorstellungen in der
eigenen Partei nicht mehr durchsetzen.

524 Notiz Munich Liaison Base, 7.9.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol4_20F2, S. 19.
525 Oberstleutnant Halle, Leiter Abteilung Agitation, Aktennotiz, 7.8.1965, BStU, MfS, HA
II, Nr. 41478, S.61.

1098
Kanzleramtsminister Ludger Westrick,
im Hintergrund Ludwig Erhard, auf dem
Spiegel-Titel 24/1966

Der CIA-Vertreter in München erlebte bei einem Essen mit Gehlen eine
überraschende Reaktion des BND-Präsidenten auf das Ergebnis der Bundes­
tagswahl. Auf die Frage, ob er denn mit dem Wahlausgang zufrieden sei, rief
Gehlen abrupt aus: Nein! Er habe auf eine Große Koalition gehofft. Der Ame­
rikaner vermutete, dass Gehlen gemeint habe, dann Dinge wie die Notstands­
gesetze und andere Maßnahmen leichter durchsetzen zu können, und dass er
eine starke Zentralregierung bevorzuge. Gehlen habe wohl das Gefühl gehabt,
die Erhard-Regierung lasse Pullach am langen Arm darben. Er habe jedenfalls
hinzugefügt, man werde den Kampf um eine ausreichende Finanzierung fort­
setzen.526 Im Gegensatz zur Adenauer-Zeit, als die Finanzen eine politische
Entscheidung gewesen seien, stünden sie bei Erhard unter fiskalischem Vorbe­
halt. Gehlen sei sich aber sicher, dass der Ausgang der Wahl keine wesentlichen
Änderungen für Pullach bringen werde.
Das sollte sich als zutreffend erweisen. Das zweite Kabinett Erhard kam
nach mühseligen Koalitionsverhandlungen mit der FDP im Oktober 1965
zustande und bei den für Gehlen wichtigen Positionen gab es keine Verände­
rungen: Heinrich Krone als Minister für Angelegenheiten des Bundesverteidi­
gungsrats blieb sein verständnisvoller Ansprechpartner, Ludger Westrick inte­

526 Bericht Chief Munich Liaison Base, 27.9.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol4_20F2, S. 22.

1099
ressierte sich als Chef des Bundeskanzleramts weiterhin nicht für den BND,
ebenso wie der Kanzler selbst. Während der Koalitionsverhandlungen traf
Gehlen zusammen mit seinem Vertrauten General Langkau Minister Krone.
Ihm berichtete er, dass nach einem Gespräch mit Franz Josef Strauß dessen
Verhältnis zum BND in Ordnung gebracht worden sei. Notiz des Ministers:
»Was hatte Strauß gegen Gehlen gewettert.«527 Zuvor war Krone von Conrad
Ahlers darüber unterrichtet worden, dass der Spiegel seinen Kampf gegen
Strauß aufgeben werde. Ahlers und Strauß wollten sich bei späterer Gelegen­
heit aussprechen. Minister im neuen Kabinett wurde der CSU-Chef allerdings
nicht. Das erleichterte sein Bemühen, Erhard vom Kanzlersessel zu verdrän­
gen, was auch Gehlen befürwortet haben dürfte, denn unter Erhard und West­
rick konnte er sich kaum Chancen ausrechnen, den Wechsel an der Spitze des
BND nach eigenem Gutdünken zu bewerkstelligen.
In diesen Tagen eskalierte die Lage in Indonesien, dem bevölkerungsreichs­
ten moslemischen Staat.528 Nach einem Umsturzversuch kam es zu einem
Gegenputsch von General Suharto. Unter seiner Führung folgten ein Massen­
mord an Mitgliedern der kommunistischen Partei und ein Völkermord an der
chinesischen Minderheit im Land. Dabei kamen bis zu einer Million Menschen
ums Leben. Gehlen rühmte sich später in seinen Memoiren, dass der BND die
Bundesregierung rechtzeitig über die sich zuspitzende Lage und die Mordan­
schläge der Kommunisten, denen auch einige besonders deutschfreundliche
Generale zum Opfer fielen, unterrichtet habe, was zeitgenössisch auch vom
Auswärtigen Amt bestätigt wurde.529 Dass es der indonesischen Armee »mit
Konsequenz und Härte« gelungen sei, die kommunistische Partei auszuschal­
ten, war nach seiner Überzeugung »in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug«
einzuschätzen.530 Und an anderer Stelle: »Um Überleben zu können, muß man
radikal vorgehen.«531 Der BND hatte daran insofern einen gewissen Anteil, als
er dem indonesischen Geheimdienst Ausrüstungshilfe gewährt hatte.
Bei den zahlreichen außenpolitischen Operationen und den politischen
Intrigen im Inland schien Gehlens Interesse für die Kernkompetenz des BND,
die Militäraufklärung gegen den Warschauer Pakt, sehr stark nachzulassen.

527 Eintrag vom 29.9.1965, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 412. Zum geheimen Treffen Gehlens
mit Strauß Notiz 3./4.9.1965, Taschenkalender Hans Langemanns, BND-Archiv, 220044.
Siehe Dülffer, Krise, Schlussbetrachtung.
528 Der Chef des indonesischen Nachrichtendienstes bestätigte die Einschätzung des BND,
dass mit einer Verstärkung des kommunistischen Untergrunds gerechnet werde; Kurt
Weiß an Gehlen pers., 10.11.1966, BND-Archiv, N 13/21.
529 Leiter Auswertung Ostblock, Aufzeichnung über die bei meinen Abschiedsbesuchen im
AA geführten Gespräche, 6.4.1966, BND-Archiv, N 13/21.
530 Gehlen, Der Dienst, S. 243.
531 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 23.12.1971, IfZ, ED 100-69-131.

1100
Das Verteidigungsministerium warf Pullach jedenfalls vor, es frage sich, ob die
militärische Aufklärung überhaupt »noch am Feind« sei.532 Kennzeichnend für
den inneren Zustand des BND, der anscheinend führungslos und immer noch
wie gelähmt auf den Wechsel an der Spitze wartete, war ein Gespräch, das Geh­
lens Schwager, General von Seydlitz-Kurzbach, mit einem CIA-Vertreter in der
»Brücke« führte. Seydlitz-Kurzbach hatte die Leitung der Personalabteilung
verloren, als er vor einigen Jahren der Höhergruppierung von Gehlens Vor­
zimmerdame widersprochen hatte. Jetzt arbeitete er im Bereich Nachrichten­
technik. Die CIA interessierte sich für einen Bundeswehrdeserteur aus diesem
Bereich. Seydlitz-Kurzbach nutzte überraschend die Gelegenheit für ein unge­
wöhnlich vertrauliches Gespräch mit einem ihm kaum bekannten CIA-Mann.
Es brannte ihm offenbar vieles auf der Seele, was er loswerden wollte. Über
seinen Schwager sprach er, wie der US-Agent notierte, mit großer Bitterkeit.533
Dabei spielte offenkundig auch eine Rolle, dass er einen angestrebten Posten
nicht erhalten hatte. Es sei zu hören gewesen, dass Gehlen befürchtet habe,
es käme dann wieder der Nepotismusvorwurf. Doch ganz überzeugen könne
das Argument nicht, weil Gehlen ansonsten sich sehr um seine Angehörigen
kümmere.
In der ersten Stunde des Gesprächs unterhielt man sich über persönliche
Dinge. Seydlitz-Kurzbach erzählte von seiner Kindheit in Schlesien, in einer
konservativen Familie, seinem Jurastudium, dem Eintritt in die Wehrmacht,
dem Dienst an der Ostfront und in Rastenburg. Er schien gut vernetzt gewe­
sen zu sein im Offizierskorps und warf mit prominenten Namen wie Keitel,
Speidel etc. nur so herum, als handle es sich um Kameraden im Nachbarzim­
mer. Er erzählte eine faszinierende kleine Episode, als Keitel wie ein Hund in
Rastenburg zu Hitlers Bunker lief, nachdem dieser ihn gerufen hatte. Sehr aus­
führlich sprach er dann von den kriminellen Exzessen des NS-Regimes und
den Schwierigkeiten seiner Generation, das eigene Handeln oder Nichthan­
deln den jungen Leuten heute zu erklären. Fast jeder in Pullach habe ihm, so
notierte der US-Agent, früher oder später einen langen Monolog zu diesem
Thema vorgetragen.
Nach zwei Stunden sei das Gespräch eigentlich beendet gewesen und man
wollte ins Büro zurückgehen, als Seydlitz-Kurzbach überraschend das Bedürf­
nis zeigte, über den Zustand von Pullach zu reden, ohne dass er dazu gedrängt
worden wäre. Der Schwager Gehlens sprach in erregter Weise und betonte
mehrfach, dass seine Anschauung von vielen anderen Offizieren in der Zen­

532 Streng geheimes Schreiben von Admiral Poser an den Präsidenten des BND, 20.10.1965,
BND-Archiv, 1082, Blatt 16.
533 Aufzeichnung vom 25.10.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh­
len_vol4_20F2, S. 28 (andere Fassung der Aufzeichnung S. 35).

1101
trale geteilt werde. Gehlen sei einfach ausgebrannt und für Pullach mehr eine
Last als Hilfe. Er stelle keine Programme auf, setze keine Ziele, delegiere keine
Autorität, verkaufe nicht das Produkt Pullach und verteidige die Organisation
nicht politisch, er mache nichts, was ein guter Chef des BND tun würde. Im
Gegenteil, er ignoriere diese Dinge und lasse die Organisation ohne Führung
und Zweckbindung treiben. Gehlen kümmere sich nicht um die wichtigsten
Probleme von Pullach und verschwende seine Zeit mit kleineren personellen
und organisatorischen Problemen. Er lasse keinen anderen in der Leitung Ent­
scheidungen zu wichtigen Dingen treffen, aber häufig zögere er selbst so lange,
dass die Dinge akademisch würden, bevor eine Entscheidung getroffen sei.
Gehlen erlaube, dass seine Abteilungsleiter und älteren Stabsoffiziere mach­
ten, was sie wollen, und über Kreuz arbeiteten. Er furchte Fehler sehr und habe
Angst, Risiken einzugehen. Er dulde keine abweichende Meinung und umgebe
sich nur mit Jasagern. Er bringe es nicht fertig, sich von alten Freunden und
Kumpanen zu trennen. Er sei schüchtern gegenüber den Bonner Politikern
und schaffe einen unvorteilhaften Eindruck von Pullach.
Seydlitz glaubte, dass Gehlens Abstieg mit der Legalisierung der Org 1955/56
begonnen hatte. Damals habe er dann eine große Zahl von Problemen zu lösen
gehabt, auf die er nicht vorbereitet gewesen sei. Er habe außerdem mit einem
großen Maß an Feindschaft in Bonn umgehen müssen und habe die Gewohn­
heit angenommen, sich sanftmütig gegenüber den Politikern zu verhalten.
Seit dieser Zeit habe er sich auf die politischen und administrativen Probleme
konzentriert und habe sich sehr bemüht, nach außen keine Unruhe zu stiften.
Besonders verbittert sei Seydlitz über die Position Pullachs in Bonn. Gehlen
gelange in der Regel nicht höher in der Hierarchie als bis zu Mercker. Gelegent­
lich treffe er Gerstenmaier und Krone, aber er habe keinen guten Zugang zu
ihnen. Adenauer habe während der Spiegel-Affäre kurz davorgestanden, Gehlen
zu feuern. Erhard habe Gehlen einmal empfangen und ihn anschließend igno­
riert. Westrick sei kühl und unfreundlich. Strauß rede nicht mit ihm, Schröder
sei frostig und Hassel nicht verfügbar, obwohl er, da er während des Krieges
als Leutnant in der Abwehr war, mit dem Geheimdienst durchaus vertraut sei.
Seydlitz-Kurzbach meinte, dass die Politiker keinen General auf dem Pos­
ten des BND-Präsidenten haben wollten, und Wessel würde den Job nicht
annehmen, auch wenn man ihm ein Angebot machen würde. Bei seinem letz­
ten Besuch in Washington habe er Wessel zwar nicht persönlich angetroffen,
von dessen Frau aber erfahren, dass er keinen Wert darauf lege, nach München
zurückzukehren. Sie sagte stolz, dass ihr Mann Aussicht auf den dritten Stern
habe und sich bessere Chancen in der Bundeswehr ausrechne als in Pullach.
Er sei speziell an Kielmanseggs Posten in Paris interessiert. Wendlands Aus­
sichten für die Nachfolge Gehlens seien gering, weil seine Karriere zu eng mit
ihm verbunden sei.

1102
Schließlich erwähnte er noch Gehlens Antiamerikanismus. Er sei niemals
wirklich proamerikanisch gewesen, und seine Distanz zu den USA habe sich
mit der Zeit verstärkt. Er habe dann zu glauben begonnen, dass es in der CIA
eine Clique gebe, die versuche, ihn zu Fall zu bringen. Alle Arten von Fehlern
schrieb er dieser Clique zu, die auch versuche, sein Ansehen in Bonn zu beschä­
digen. Gehlen glaube, dass diese Clique Adenauer veranlasst habe, ihn feuern
zu wollen. Seydlitz-Kurzbach konnte sich nicht genau erinnern, aber er glaube,
dass Gehlen sich sogar einmal bei Adenauer über diese Clique beschwert habe.
Er unterstellte jedenfalls, dass Gehlens antiamerikanische Haltung auch seine
gegenwärtige Position beeinflusste. Dass er ihnen nicht den Bericht über den
Bundeswehrdeserteur gegeben habe, sei Ausdruck davon.
Seydlitz-Kurzbach habe erregt davon gesprochen, dass die CIA wissen
sollte, was in Pullach wirklich los sei, und dass er es als eine Pflicht ansehe,
sie davon zu unterrichten. Der US-Agent war natürlich sehr überrascht, dass
Gehlens Schwager so vertraulich über diese Dinge sprach, glaubte aber nicht,
dass Seydlitz eine reguläre Quelle mit unvergleichbaren Informationen über
Pullach für die Amerikaner werden könnte. Er wollte ihm aber künftig aus­
reichend Gelegenheit geben, ihm, wann immer er etwas loswerden wolle,
davon zu erzählen. Wenn die Dinge irgendwann in Deutschland falsch lau­
fen sollten, werde er ein sehr nützlicher Kontakt für die CIA sein. Er scheine
sehr motiviert zu sein und den Mut zu eigenen Überzeugungen zu haben. Der
Amerikaner glaubte, dass seine Informationen im Großen und Ganzen wahr
waren. Auch andere wichtige Mitarbeiter hätten eine ähnliche Beschreibung
von den Schwierigkeiten in Pullach gegeben: DN »Brock« (Hans Peter Büch­
ler), DN »Sturm« (Helmut Schwenninger) und Dr. Klaus Ritter.
Seydlitz-Kurzbach mag ein eigenwilliger Kopf gewesen sein, der im fami­
liären Umfeld nicht immer Verständnis fand – die Beobachtungen und Ein­
schätzungen zu seinem Schwager wurden aber offenbar auch von anderen
Mitarbeitern im Dienst geteilt. Das schloss Wertschätzung von anderer Seite
nicht aus. Gehlens persönlicher Mitarbeiter berichtete bei einem Lunch dem
Chief of Station Germany der CIA, er habe an diesem Morgen Gehlen in sei­
nem Büro so gut aussehend angetroffen, wie seit Jahren nicht mehr: glücklich,
verspielt und sorgenfrei. Der Amerikaner traf dann Brigadier Sir Charles Spry,
der in Bonn einige Tage mit Gehlen verbracht hatte. Spry war Director-General
der Australian Security Intelligence Organisation. Man darf annehmen, dass
es dabei auch um die aktuellen Entwicklungen in Indonesien ging. Spry habe
sich jedenfalls voller Bewunderung über Gehlen gezeigt. Die Perspektive von
Down Under war eben eine andere als die vom Rhein. Doch auch in Bonn am
Rhein gab es unterschiedliche Bewertungen und Interessen, selbst im Verteidi­
gungsministerium. Gehlens Kontrahent, der Abteilungsleiter II im Führungs­
stab der Streitkräfte, Flotillenadmiral Günter Poser, der darum kämpfte, die

1103
militärische Aufklärung vom BND in die Streitkräfte zurückzuholen, war von
Verteidigungsminister Hassel gebeten worden, Gehlen davon zu überzeugen,
vorerst auf seinem Posten in Pullach zu bleiben.534 Im Kabinett Erhard wollte
man keine vorzeitige Diskussion über einen Nachfolger.
Es blieb die Besorgnis der Amerikaner, dass sich die negative Stimmung im
BND nicht nur gegen Gehlen, sondern auch gegen die CIA verstärken könnte.
Ihr Verbindungsmann Herre, der jetzt als BND-Resident in Washington agierte,
nahm sich vor, bei Gehlen ein offenes Wort gegen die ständigen »Brunnen­
vergiftungen« einzulegen. Er erinnerte sich daran, dass er selbst 1953/54 die
Auswertung mit großer Freude geleitet hatte, aber bereits damals mit interner
antiamerikanischer Stimmungsmache zu tun gehabt hatte. Wie oft habe er
damals Gehlen gewarnt und ihm helfen müssen, wenn sich herausstellte, dass
sich die »Brunnenvergifter« gründlich vergaloppiert hatten. Die Herren seien
aber offenbar noch immer am Werk. Er werde bei seinem nächsten mündli­
chen Meinungsaustausch mit Gehlen darüber sprechen. Schriftlich werde er
nichts unternehmen, weil er erfahrungsgemäß keinerlei Reaktion erhalten
würde. Er werde auch keine große Studie zu dem Thema anfertigen, sondern
sich darauf beschränken, immer wieder häppchenweise Informationen zum
Beispiel über den kommunistischen Einfluss auf die Anti-Vietnam-Demons­
trationen einzuspeisen, um auf diese Weise um mehr Verständnis für die ame­
rikanische Politik zu werben.535
Mit Misstrauen beobachteten die Amerikaner auch Gehlens neuerliches
Bemühen um intensivere Kontakte zu den Briten. Dass er Ende Oktober 1965
persönlich nach London reisen wollte, um seinen neuen ständigen Repräsen­
tanten einzuführen, galt als auffällig. Die CIA mutmaßte, dass die Briten sehr
an der Wahl eines Nachfolgers für Gehlen interessiert seien und über ihre Kon­
takte in Bonner Kreisen Wessel verhindern wollten, weil er der Kandidat von
Pullach und der Amerikaner sei.536 Die Fahrt Gehlens nach London reduzierte
sich in ihrer Bedeutung am Ende auf eine merkwürdige Geschichte, die die CIA
notierte. Der »Doktor« habe sich in London einen neuen Hut gekauft, da er
einen anderen Stil als den üblichen deutschen haben wollte. Nach einiger Zeit
habe seine Frau den Hut in die Reinigung gebracht, wo er gereinigt und wieder
in Form gebracht werden sollte. Dort allerdings wurde das englische Label ent­
fernt, durch ein eigenes ersetzt und die Form auf den deutschen Stil gebracht.
Der »Doktor« sei ein bisschen unglücklich gewesen, um das Mindeste zu

534 Memo Chief of Station Germany vom 28.10.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol4_20F2, S. 33.
535 Schreiben Herres vom 29.10.1965, BND-Archiv, N 2/7b.
536 Bericht Chief Munich Liaison Base, 29./30.10.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol4_20F2, S. 23.

1104
sagen.537 Gehlen selbst schätzte die »nette« Betreuung bei seinen britischen
Kollegen Stewart Menzies (ehemals Chef des MI6) und dessen Nachfolger Dick
White. Er traf sie in ihren Clubs und beneidete sie um diese einzigartigen Ins­
titutionen.538
Mehr als unglücklich blieb Gehlen über die gescheiterte Platzierung seines
Schwiegersohns in Washington. Sein Persönlicher Referent Klaus Eschenburg
berichtete dem Chief of Station Germany der CIA von der sehr starken Reak­
tion seines Chefs, der erst jetzt offenbar bereit sei, die Beziehungen wieder in
normale Bahnen zu bringen. Da habe »Jupiter« offenbar das Bedürfnis gehabt,
einige Blitze zu schleudern. Eschenburg riet dazu, einzuräumen, dass einiges
schiefgelaufen sei, aber nicht »in böser Absicht« gehandelt worden sei. Der
Amerikaner nahm sich vor, einen entsprechenden Brief an Gehlen zu schrei­
ben, und hoffte, dass bei einem geplanten Gespräch am 20. Dezember 1965
der Fall endlich bereinigt werden könnte.539 Denn Gehlen hatte inzwischen
durch eine Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen dafür gesorgt, dass der
Kontakt von BND-Mitarbeitern mit CIA-Angehörigen in der Sollner »Brücke«,
einer speziellen Begegnungsstätte der Amerikaner, eingeschränkt wurde.
Einige Tage später schaltete sich Kurt Weiß vermittelnd ein und erklärte
dem US-Vertreter, dass sich Gehlen über die gescheiterte Platzierung seines
Schwiegersohnes besonders deshalb aufgeregt habe, weil die Amerikaner ihm
nicht den Fall persönlich vorgelegt und stattdessen mit den Franzosen gespro­
chen hätten. Diese hätten sich dann gegenüber Gehlen ziemlich hämisch auf­
geführt, sodass Gehlen nach seiner Rückkehr aus Frankreich explodiert sei.
Aus den Reihen der antiamerikanisch eingestellten Offiziere sei er mit verstö­
renden Geschichten über die große Zahl von BND-Mitarbeitern vollgepumpt
worden, die in der »Brücke« mit den CIA-Vertretern verkehrten. Gehlen sei für
solche Verschwörungsgeschichten immer empfänglich gewesen und vertraue
gewöhnlich dem, der zuletzt mit ihm gesprochen habe. Weiß hoffte darauf,
dass die bilateralen Beziehungen keinen nachhaltigen Schaden leiden würden.
Dethleffsen habe zum Beispiel gegenüber Gehlen deutlich gemacht, dass er mit
seinem amerikanischen Gegenpart eng zusammenarbeiten müsse, um gute
Arbeit zu leisten. Dazu gehöre trotz Gehlens Anordnungen auch der direkte
Kontakt. Wie ernst war es also Gehlen mit seiner dramatischen Aufführung?
Auf einer Dinner Party des örtlichen CIA-Residenten erfuhr dessen Ehefrau
von Gehlens Frau Herta einiges über die künftigen Pläne ihres Mannes. Er habe
die Absicht, für die Schwiegertochter und seinen Sohn, die ihm sehr nahestan­

537 Unsignierte Notiz vom 10.12.1965, ebd., S. 42.


538 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 2.3.1972, IfZ, ED 100-69-55.
539 Notiz Chief of Station Germany von 9.12.1965, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol4_20F2, S.41.

1105
den, ein Haus in Pullach zu bauen. Dann könnte er nach seiner Pensionie­
rung in drei bis vier Jahren (!) mehr Zeit mit ihnen verbringen. Das stehe im
Widerspruch zu anderen Informationen, notierte der Amerikaner, dass Geh­
len niemals freiwillig seinen Posten aufgeben werde. Sollte er dazu gezwungen
werden, würde er mithilfe seiner noch aktiven Kameraden Pullach weiterdiri­
gieren (Prognose von Hans Peter Büchler). Gehlens Schwiegertochter sei die
Tochter seines Kameraden Buntrock, Chef der Sicherheitsabteilung. Von ihm
hieß es, er sei sehr antiamerikanisch eingestellt. Der Agent notierte, dass er
mit der jungen Dame in den letzten Jahren viele Gespräche gehabt habe. Sie
sei voller antiamerikanischer Vorurteile. Das habe sich erst in jüngster Zeit
etwas entspannt. Gehlens Sohn Christoph hingegen sei unproblematisch und
zuvorkommend.540
Am 20. Dezember 1965 sollte eigentlich die Versöhnung stattfinden. Der CIA-
Chef für Deutschland traf sich mit Gehlen in Pullach. Der »Doktor« erklärte
kühl, er habe den angekündigten Brief erhalten und nehme ihn zur Kenntnis.
Er wollte es also nicht dabei belassen. Er zeigte sich unverändert davon über­
zeugt, dass die CIA den Schwiegersohn-Fall zu seinem Nachteil benutzt habe,
und erläuterte die von ihm im Gegenzug angeordneten Beschränkungen hin­
sichtlich der Besuche in der »Brücke«. Es sei damit nicht beabsichtigt, den
Austausch von Material und Informationen zu beenden. Der einzige Zweck sei,
grenzüberschreitende Beziehungen zu regulieren. Er übergab eine Liste mit
Namen, die von der CIA jederzeit kontaktiert werden konnten – wenn es dafür
Gründe gab und die dienstlichen Gespräche in Pullach stattfanden. Dafür
erwartete Gehlen eine Gegenliste von autorisierten US-Kontaktpersonen für
die einzelnen Fachgebiete und kündigte an, dass eine Regulierung sozialer
Kontakte in Arbeit sei. Darüber wolle er frühestens im nächsten Monat dis­
kutieren.
Der Deutschland-Chef der CIA ließ sich nicht beeindrucken und erklärte
das amerikanische Interesse an der Durchleuchtung des BND. Ein intensiver
Kontakt und Austausch sei notwendig, weil die CIA die Möglichkeit haben
müsse, Pullach in einer gewissen Tiefe zu durchdringen. Das mache sie im
Rahmen ihrer Verantwortung gegenüber der großen aktiven US Intelligence
Community. Um diese Führungsrolle ausüben zu können, müsste man Ant­
worten auf viele Fragen haben und in der Lage sein, Urteile über die Arbeit von
Pullach abzugeben. Sollten die Kontakte zu weit beschnitten werden, würde es
»noticeable« Folgen für die deutsch-amerikanische Intelligence Community
haben. Unter dieser Drohung zeigte Gehlen Verständnis. Nach einem Essen
mit Gehlen fragte der Amerikaner, während er auf sein Fahrzeug wartete, den

540 Memo Acting Chief Munich Liaison, 13.12.1965, ebd., S. 48.

1106
anwesenden Wendland, was wohl nach seiner Meinung die Zukunft der »Brü­
cke« sei. Wendland erwiderte, es gebe keinen Zweifel, dass Gehlen solche Kon­
takte lieber innerhalb der BND-Anlage haben wolle. Das wäre vielleicht unbe­
quem und deshalb könne man sich vielleicht von Zeit zu Zeit in der »Brücke«
treffen. Man müsse in den nächsten Wochen sehen, ob das funktioniere, und
dann über die Zukunft der »Brücke« entscheiden.541
Gehlens Zorn über die Amerikaner schien sich allmählich doch zu verflüch­
tigen. Der CIA-Resident in München erlebte ihn Anfang Januar verständnisvoll
und aufgeräumt. Der »Doktor« erklärte, er habe Verständnis für die Notwen­
digkeit, jede mögliche Sicherheitslücke zu beachten, und sei deshalb dankbar
für jede entsprechende Information über seine Organisation. In diesem Falle
sei es für ihn persönlich aber schmerzlich gewesen, weil es sich um ein Fami­
lienmitglied handelte (den Schwiegersohn). Gehlen gab sich nach den Feier­
tagen gut gelaunt und plauderte über die vergangene Party bei dem Amerika­
ner.542 Ein großes Erlebnis dürfte für ihn und seine Familie die Einladung zum
Wiener Opernball am 17. Februar 1966 gewesen sein. Die DDR-Nachrichten­
agentur ADN meldete dazu, dass Bundespräsident Heinrich Lübke aus gesund­
heitlichen Gründen nicht teilnehmen konnte. Prominentester westdeutscher
Gast sei Reinhard Gehlen mit Familie, der bei dieser Gelegenheit seine Silber­
hochzeit feiere sowie die Verlobung seiner Tochter.543
Weniger erfreut dürfte er in diesen Tagen gewesen sein, als ausgerechnet
sein Intimfeind Achim Oster als Brigadegeneral der Bundeswehr zum Assistant
Chief of Staff des Militärischen Nachrichtenwesens im NATO-Hauptquartier in
Fontainebleau ernannt wurde.544 Der Empfang des Vorstands der Siemens AG
mag ihn dann ebenso abgelenkt haben wie weitere Gespräche mit Verlegern
und Journalisten.545 Seine gute Laune wollte er sich jedenfalls nicht verderben
lassen. So gab er sich mit der jährlichen Neujahrs-Party für die Munich Liaison
Base der CIA in seinem Präsidentenhaus mehr Mühe als in den Vorjahren.
Die Amerikaner fanden im Haus 37 eine sehr angenehme Atmosphäre vor,
der Raum war extra geschmückt, das Catering durch ein sehr gutes Restau­
rant geleistet, Wein und Champagner erster Güte. Auch hatte er wohl ange­
ordnet, dass alle seine wichtigen Leute anwesend sein sollten. Die amerikani­
sche Gruppe hingegen war sehr viel kleiner, da sich einige CIA-Mitarbeiter auf

541 Aufzeichnung Chief of Station Germany vom 20.12.1965, ebd., S. 44 – 45.


542 Unsignierter Kontaktreport, 5.1.1965, ebd., S. 54.
543 ADN-Meldung, 14.2.1966, BStU, MfS, ZAIG, Nr. 10182, S. 271. Die Angaben zur Familie
Gehlens waren eine Falschmeldung. Gehlen hatte 1931 geheiratet, von Silberhochzeit
konnte also 1966 nicht die Rede sein.
544 Notiz, Spiegel 4/1966 vom 17.1., S. 90.
545 Mitteilungen Weiß’ an Gehlen, 19.1.1966, BND-Archiv, N 10/13.

1107
Dienstreise befanden. Nach einer kurzen warmherzigen Ansprache gab sich
Gehlen Mühe, ein guter Gastgeber zu sein. Mit dem Chief sprach er offen über
den gegenwärtigen SDECE-Skandal in Paris,546 dann mit dessen Frau beim Din­
ner über eine Stunde lang über de Gaulle sowie die Absicht von US-Präsident
Johnson, die Verfassung zu ändern, um die Rassentrennung zu beseitigen.547
Schließlich wechselte Gehlen zu den anderen amerikanischen Gästen. Das Ver­
halten des Präsidenten, dem Geselligkeit und gesellschaftliche Verpflichtungen
gewöhnlich ein Graus waren, beeindruckte den Münchener Residenten. Der
Resident selbst plauderte mit Marie-Therese, Gehlens Tochter, die die Rolle der
Gastgeberin spielte. Die intelligente junge Frau arbeitete – natürlich – auch
beim BND, während ihr Mann in München Germanistik studierte. Da er gern
für eine Zeit an einer US-Universität arbeiten wollte, bot ihr Gesprächspartner
seine Hilfe an. Trotz des erfreulichen Kontakts berichtete dieser danach, leider
komme man an Gehlens Familie nicht recht heran. Der »Doktor« sei sehr eng
mit seinen Kindern verbunden. Wenn man zu einigen von ihnen einen guten
Kontakt hätte, könnte das einen positiven proamerikanischen Einfluss haben.
Abschließender Eindruck: Obwohl Gehlen gegen Mitternacht müde wirkte,
blieb er, bis der letzte Amerikaner gegangen war. Die Pullacher hätten sich von
ihrer besten Seite gezeigt. Es habe eine warmherzige, lebendige Atmosphäre
geherrscht. Gehlen habe sich wohl entschlossen, seine Zurückhaltung aufzu­
geben und zu zeigen, dass er weiter mit der CIA zusammenarbeiten wolle.548
Hinter der offiziellen Fassade blieben Risse im Gefüge des BND erkennbar.
Gehlens Generalskameraden äußerten sich eher zurückhaltend. Conrad Küh­
lein, Resident in Washington, meinte bei einer Dinner Party in seinem Haus
im heimatlichen Planegg zu den Amerikanern, dass sein Chef eine Reihe von
Schwachpunkten habe. Er selbst hoffe, dass ein neuer Präsident demnächst in
Pullach neue Ideen und notwendige Richtungsweisungen hineinbringe. Küh­
lein sah allerdings auch die Gefahr, dass es zu einer politischen Ernennung
kommen könnte. Ein unverständiger Nachfolger, der womöglich schwere Feh­
ler mache, könnte bei den Pullachern zu dem Wunsch führen, dass Gehlen
zurückkäme. Dieser würde dann im Vergleich wieder ganz gut dastehen.549

546 Am 29. Oktober 1965 war der Führer der marokkanischen Opposition Mehdi Ben Barka
in Paris von zwei Agenten des SDECE entfuhrt und ermordet worden. Obwohl der
SDECE offiziell nicht daran beteiligt war, wurde er am 23. Januar 1966 dem Verteidi­
gungsministerium unterstellt und die Führung ausgewechselt.
547 Johnson hatte bereits 1964/65 zwei historische Gesetze, den Civil Rights Act und den
Voting Rights Act, zur Beseitigung der Rassendiskriminierung durchgesetzt.
548 Bericht Chief Munich Liaison Station vom 21.1.1966, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_vol4_20F2, S. 56-57.
549 Unsignierter Bericht vom 2.2.1966, ebd., S. 58.

1108
Diese Konstellation innerhalb des Dienstes zeichnete sich seit Längerem ab.
In der Führungscrew hochrangiger ehemaliger Generalstabsoffiziere, die ihrem
alten Kameraden alles zu verdanken hatte, hoffte man darauf, dass einer von
ihnen die Nachfolge antreten würde, um den Generationswechsel abzufedern
und die noch in Amt und Würden befindlichen Kameraden in Ruhe bis zur
ihrer Pensionierung zu führen. Da Gehlen ein System eingeführt hatte, nach
Gutdünken ausscheidende höhere Mitarbeiter nominell mit einem Zuschlag
weiterzubeschäftigen, der die Differenz zwischen letztem Gehalt und reduzier­
ter Pension für einige Jahre ausglich, stünde für viele ein gleitender Abschied
aus einem stürmischen Berufsleben in mehreren Armeen und mindestens
einem Weltkrieg in Aussicht. Bei jüngeren Offizieren konnte die Perspektive
anders sein, vor allem, wenn sie es gewagt hatten, den »Doktor« zu kritisieren.
Der CIA Chief in München sprach mit der Ehefrau eines langjährigen Mitar­
beiters, der bis vor Kurzem Verbindungsoffizier zu den Amerikanern gewesen
war und nun als Militärattaché nach Saigon gehen sollte. Oberstleutnant Hans-
Ludwig Knortz (DN »Koller«) hatte, als Gehlen kürzlich seine internen Sicher­
heitsmaßnahmen gegen das Münchener CIA-Verbindungsbüro verkündete, mit
einer schriftlichen Stellungnahme vor den Folgen der Abschottung gewarnt.
Es sei zu einem lauten Streitgespräch gekommen, in dem ihm Gehlen auf dem
Höhepunkt die Frage an den Kopf warf: Sind Sie ein deutscher oder ein ame­
rikanischer Offizier? Ihr Mann sei völlig erschüttert nach Hause gekommen
und habe sich froh gezeigt, dass er nun raus sei aus dem Betrieb. Er wäre dann
jedenfalls nicht mehr unter Gehlens Überwachung.550 Bei einer Abschiedsparty
für Knortz ließ dieser gegenüber den Amerikanern durchblicken, dass ihn
Pullach zwar nach einem Jahr in Vietnam zurückhaben wolle. Er selbst aber
strebe an, länger zu bleiben, um auf diese Weise wenigstens Oberst zu werden.
Solange Gehlen in Pullach herrsche, wäre für ihn kein Vorankommen.551
Kurt Weiß, der treue Eckart Gehlens, fühlte bei den Amerikanern vor. Geh­
len habe die Absicht, bis zu seinem 65. Geburtstag in Pullach zu bleiben. Angeb­
lich wollte die Regierung seine Amtszeit verlängern, weil sie seine Fähigkeiten
und weltweiten Verbindungen schätze. Das wäre, so Weiß, die beste Lösung für
Pullach. Er räumte ein, dass wohl nicht alle in Pullach seine Freude über ein
Bleiben von Gehlen teilten. Gehlen, so bat er um Verständnis, sei durch den
Fall Felfe ein anderer geworden. Es habe ihn tief verletzt, denn Gehlen habe
Felfe vertraut und viel für seine Karriere getan. Als sich dann herausstellte,
dass Felfe ein KGB-Mann ist, sei sein Glaube an die menschliche Natur und die
Zuverlässigkeit seiner Mitarbeiter schwer erschüttert worden. Seit dem Felfe-

550 Notiz vom Chief Munich Liaison Station, 14.2.1966, ebd., S. 59.
551 Unsignierte Aufzeichnung vom 3.5.1966, ebd., S. 82.

1109
Fall sei Gehlen geheimnisvoll geworden und vertraue nur noch wenigen Leu­
ten. Was man jüngst von Gehlen gesehen habe, gebe einen falschen Eindruck.
Er sei vor wenigen Jahren ein besserer und kräftigerer Führer gewesen.552
Gehlens politischer Rückhalt in Bonn war schwer kalkulierbar, abhängig
von der Lebensfähigkeit des zweiten Kabinetts Erhard, möglichen Neuwah­
len und unerwarteten plötzlichen Rückschlägen in der nachrichtendienstli­
chen Arbeit. Ein weiterer Fall Felfe hätte die Existenz des BND kosten können,
zumindest ein abruptes Ende der Ära Gehlen. Das Parlamentarische Vertrau­
ensmännergremium für die Nachrichtendienste tagte in neuer Zusammenset­
zung, nicht wie von Gehlen angeregt in Pullach, sondern im Kanzleramt, weil
jetzt erstmalig Angelegenheiten des BfV diskutiert werden sollten. Minister
Krone, mit dem sich Gehlen bestens arrangiert hatte, führte zwar noch immer
den Vorsitz, doch seine politische Zukunft war höchst ungewiss.553 Und die
Besetzung der Leitungsstelle für den BND im Kanzleramt, die Gehlen für einen
von ihm ausgesuchten Mitarbeiter beanspruchte, blieb einfach offen. »Zwei­
fel an der Leistungsfähigkeit des Dienstes einerseits, mangelndes Interesse an
ihm andererseits« kennzeichneten die Haltung des Kanzleramts und damit
den mangelnden Gestaltungswillen der Politik.554
Umso wichtiger war es für Gehlens geplante Inszenierung, sich der Unter­
stützung der CIA zu vergewissern. Sie hatte ihm 1950 ins Kanzleramt geholfen
und musste ihm jetzt helfen, seinen Abgang wunschgemäß zu arrangieren.
Im Frühjahr 1966 zeichnete sich an der Spitze der CIA ein Wechsel von John
McCone zu Vizeadmiral William Raborn ab. Bevor dessen Ernennung zum
28. April wirksam wurde, lud ihn Gehlen bereits zu einem Besuch in Pullach
ein und erinnerte an den 20. Jahrestag des Beginns der engen nachrichten­
dienstlichen Zusammenarbeit555 – die er 1946 noch im Status des Kriegsge­
fangenen begonnen hatte. Gegenüber dem CIA-Chef in Deutschland versuchte
er schon einmal, sich in ein besseres Licht zu setzen, denn natürlich musste
er damit rechnen, dass sich der neue CIA-Chef, der bisher für die Marine die
Polaris-Raketen entwickelt hatte, zunächst einmal über den deutschen Gene­
ral intern informieren würde.556

552 Unsignierte Aufzeichnung vom 21.2.1966, ebd., S. 62.


553 Eintrag vom 2.2.1966, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 450: »Gehlen war bei mir.« Sitzung des
VMG, 8.2.1966, VS-Registratur Bka, Bk 15205, Bd. 2.
554 Dülffer, Krise, Kap. I.
555 Schreiben Gehlens an Admiral Raborn, 21.2.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol4_20F2, S. 62.
556 Gehlen hielt Raborn als CIA-Chef für einen Versager, der gegenüber seinen Untergebe­
nen als »Kommißknüppel« aufgetreten sei, siehe Gehlen im Interview mit Elke Fröh­
lich, 3.12.1971, 30.1.1972, IfZ, ED 100-69-120,100-68-135.

1110
So lud er also den Deutschlandchef, mit dem er zuletzt eine Entspannung
der Beziehungen besprochen hatte, zu einem Lunch in seinem Präsidentenge­
bäude ein. Zum Kaffee kam auch Wendland dazu, sein Organisationschef, der
auch als möglicher Nachfolger galt. Gehlen referierte über eine Krise und wie
sich der BND darauf eingestellt hatte – vermutlich handelte es sich um den
Fall Felfe. Die entsprechende Studie wollte Gehlen aber nicht aus der Hand
geben. Er empfahl seine Art des Krisenmanagements und verwies auf seine
sogenannten Steuerungshinweise, die im Dienst verteilt wurden. Der Amerika­
ner zeigte sich interessiert, ohne zu erwähnen, dass er eine Reihe dieser inter­
nen BND-Anweisungen seit Jahren von Herres Büro in Washington erhalten
hatte. Der anwesende Chef München fragte sich im Stillen, ob Gehlen wohl
wusste, dass auch er in München diese Papiere aus Pullach erhielt. Nachdem
sich Gehlen zurückgezogen hatten, sprach der CIA-Offizier mit Weiß über ein­
zelne Gebiete, auf denen BND und CIA häufiger und enger zusammenarbeiten
könnten. Unter anderem wurden einige Basen benannt, wo der deutsche und
der amerikanische Repräsentant Informationen über die dortige sowjetische
Gemeinde austauschen könnten. Schließlich ging es um schnellere und engere
Kooperation im Krisenfalle. Der Berichterstatter notierte sich nach den Infor­
mationen von Weiß, dass die amerikanischen Einschätzungen, wer vor Ort
Vertreter des BND sei, nicht immer zutreffend seien.557
Vizeadmiral William F. Raborn dankte für die Einladung Gehlens. Er würde
nichts lieber tun, aber die Weltangelegenheiten ließen es derzeit nicht zu, zu
verreisen. Er hoffte, es noch in diesem Jahr möglich machen zu können.558 So
blieb für Gehlen nach dieser freundlichen Abfuhr nur ein weiteres Gespräch
mit Minister Krone, der den alten Streit zwischen BND und BfV beizulegen
versuchte. Krone selbst gewann allerdings den Eindruck, dass der BND unter
dem Eindruck des Kampfes, den das Auswärtige Amt und andere Stellen gegen
den Aufbau seines Amtes führten, auf Distanz ging. In einem langen Gespräch
mit Gehlen und Langkau machte der Minister entsprechende Vorwürfe. Wie
er nicht anders erwartet hatte, gingen die beiden Generale in Deckung und
beteuerten die besondere Verbundenheit. »Jedenfalls weiß man in Pullach
jetzt noch besser Bescheid«, notierte Krone.559
Gegenüber dem Kanzleramt hielt sich Gehlen bedeckt. Der gegen seinen
Willen als neuer Referent für den BND im Kanzleramt installierte Koester
machte zur Einweisung formell eine Reserveübung beim BND. Flotillenadmiral
Poser im Verteidigungsministerium notierte dazu:

557 Aufzeichnung über das Gespräch am 1.3.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol4_20F2, S. 66.
558 Abschrift des Briefes von Raborn an Gehlen, 4.3.1966, ebd., S. 65.
559 Einträge vom 8.3. und 5.4.1966, Tagebuch Krone, Bd. II, S. 465 und S. 476.

1111
Ich bin überzeugt, daß es sich um eine großangelegte nachrichtendienstliche
Operation gehandelt hat, wie ich sie zum Zwecke der Täuschung mehr oder
weniger prominenter Besucher im BND selbst wiederholt erlebt habe.

Koester resignierte und wollte sich mit dem BND arrangieren. Günter Bach­
mann, Adenauers Speerspitze im Kanzleramt, verlor im August 1966 die
Zuständigkeit für den BND.560

7. Wann geht Gehlen? (1966-1968)

Angesichts der schwelenden Regierungskrise in Bonn und des Streits um die


finanzielle Konsolidierung des Bundeshaushalts hatte anscheinend niemand
in Bonn Interesse daran, den Fall Gehlen aufzugreifen und das Problem sei­
ner Nachfolge zu entscheiden, zumal General Adolf Heusinger gegenüber dem
Kanzleramt ausdrücklich versicherte, dass Gehlen »vertrauenswürdig und
integer« sei.561 Zum zehnjährigen Jubiläum des BND im April 1966 gab es, wie
Gehlen noch in seinen Memoiren bedauerte, keine »rauschenden Feste«. Statt­
dessen hätten sich Presseartikel gehäuft, die sich mit zukünftigen Organisa­
tionsformen der drei bundesdeutschen Nachrichtendienste befassten. Gehlen
räumte ein, dass es wohl auch einige Berufene, meist aber Unkundige gewe­
sen seien, die sich mit Vorschlägen zu Wort meldeten. Um den angeblichen
Kompetenzstreit der Dienste zu beenden, wurde eine Zusammenlegung vor­
geschlagen. Gehlen bedauerte es, dass »von Regierungsseite nur wenig gegen
diese zumeist törichten Behauptungen unternommen wurde«.562
Die CIA wurde aus den Gerüchten und Spekulationen auf deutscher Seite
nicht recht schlau. Das Münchener Verbindungsbüro registrierte mit erkenn­
barer Besorgnis, dass Gehlen und sein Vertreter Wendland häufiger über
die fehlende Offiziersgeneration sprachen, die im Krieg gefallen sei. Deshalb
müsse man darüber nachdenken, so die beiden, die Zahl älterer Offiziere aus­
zuweiten, die nach ihrer Pensionierung mit einem Vertragsverhältnis weiter­
beschäftigt wurden. Dem CIA-Offizier schien das ein Indikator dafür zu sein,
dass man damit rechnen müsste, statt eines schnellen Aufstiegs der jungen
Generation an die Spitze zu erleben, dass die Älteren so lange bleiben werden,
bis die Jungen müdes altes Blut sein würden.563

560 Bachmann-Bericht, 15.10.1968, S. 15, VS-Registratur Bka, Az. 15100-1166/68.


561 Vermerk Bachmanns vom 29.3.1966, zit. nach: Dülffer, Krise, S. 23.
562 Gehlen, Der Dienst, S. 244.
563 Aufzeichnung der Munich Liaison Base vom 5.4.1966, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_ vol4_20F2, S. 72.

1112
Von einem Informanten aus dem Dienst erfuhren die Amerikaner, dass Pul­
lach ziemlich genau in der Mitte zerfiel, zwischen denen, die ausgesprochene
Advokaten Gehlens seien, und denen, die sich über jedes seiner Worte das Maul
zerrissen (»pooh-poohed«). Dieses Gefühl durchdringe die gesamte Organisa­
tion und werde augenscheinlich von beiden Seiten sehr ernst genommen.564
In Pullach rechneten manche mit einer Rückkehr von Generalleutnant Leo
Hepp, dem früheren Chef der technischen Aufklärung, der 1956 zur Bundes­
wehr gegangen war. Die Techniker hatten schon früher darauf gehofft, dass
Hepp seine alte Abteilung wieder übernähme. Mit seinem aktiven Rang hätte
er damit aber den »Reservisten« Gehlen ausgebootet.565 Weiß, das Sprachrohr
Gehlens, behauptete in einem Gespräch mit dem Münchener CIA Chief, dass
der Chef von allen Bundestagsparteien gebeten worden sei, noch einige Jahre
zu bleiben. Worgitzky werde wegen seiner angeschlagenen Gesundheit nicht
wieder auf seinen Posten als Vizepräsident zurückkehren.566 Wendland werde
wohl die Aufgabe übernehmen. Der CIA-Mann verwies auf Gerüchte, dass die
Politiker in Bonn bereit sein könnten, nach Gehlen wieder einen Militär an die
Spitze zu stellen. Weiß gab sich sicher, dass notfalls auch sehr schnell einige
Militärs in Pullach in den zivilen Status wechseln könnten. Man kam dann auf
Heinrich Krone zu sprechen. Der Vorsitzende des Verteidigungsrates, so Weiß,
erhalte nur vom BND regelmäßig Informationen, sodass Pullach einen mäch­
tigen Verbündeten bekommen habe. Wegen seines hohen Alters sei Krone aber
wohl nicht länger als noch ein Jahr zu halten, und wenn Strauß den Posten
bekommen sollte, würde Pullach vor einem Bollwerk stehen.567 Da traf es sich
gut, dass Staatssekretär Westrick nach langem Zögern bereit zu einem Besuch
in Pullach war und erkennen ließ, dass er sich scheute, die volle Verantwor­
tung für den BND im Kanzleramt zu tragen. Sein Bestreben gehe dahin, nur
in Grundsatzfragen tätig zu werden und alles andere Gehlen zu überlassen.568
Gehlen vertraute offenbar darauf, dass am Ende alles in seinem Sinne lau­
fen würde – wenn nicht wieder etwas hochkäme, was seinen Ruf endgültig
beschädigen könnte. So reagierte er besorgt, als er von der Absicht des ZDF
erfuhr, einen Film über Heinz Felfe zu drehen, und wandte sich an den Bun­
desinnenminister. Die ZDF-Serie »Die 5. Kolonne« sei an sich positiv zu bewer­
ten und der Sender werde sicher die Wünsche des BND respektieren. Dennoch
wäre eine erneute Behandlung des Falles Felfe gerade im Fernsehen fatal. Denn
der BND habe zwar die Spätfolgen des Verrats überwunden, doch könnten wie­

564 Notiz über ein Gespräch mit DN »Moeller« vom 3.6.1966, ebd., S. 1.
565 Aufzeichnung über ein Gespräch mit Weiß am 20.4.1966, ebd., S. 73-74.
566 Worgitzky war 1965 schwer erkrankt, schied 1967 aus dem Dienst aus und starb 1969.
567 Aufzeichnung über ein Gespräch mit Weiß am 22.4.1966, ebd., S. 75-76.
568 Vermerk über die Schlußbesprechung am 17.5.1966, BND-Archiv, 1104, Blatt 41-42.

1113
der ernsthafte Bedenken über die Zuverlässigkeit des BND in der Öffentlichkeit
geweckt werden. Gehlen hatte zunächst daran gedacht, sich in diesem Sinne
an den ZDF-Intendanten Karl Holzamer zu wenden. Den Brief hatte er zwar
am Ende zurückgehalten, aber dem Innenminister zur Kenntnis beigelegt.
Darin stand als Bitte formuliert, von der Sendung Abstand zu nehmen. Bei
einem Besuch von ZDF-Vertretern in Pullach sei Gehlen bereit, persönlich die
Gründe darzulegen, vielleicht dem Chef der Hauptabteilung Dokumentarspiel
und einem von dessen Mitarbeitern.569
Zwei Jahre zuvor hatte Gehlen gegenüber Critchfield angekündigt, er werde
im Falle seiner Zurruhesetzung in die Politik gehen. Wie ernst es ihm wirklich
damit war, ist nicht leicht zu erkennen. Die aktive Parteipolitik war es wohl
kaum, die ihm vor Augen schwebte, denn ein temperamentvoller Auftritt in
einer Wahlversammlung oder einem Bierkeller war von ihm ebenso wenig
vorstellbar wie das Aushandeln von politischen Kompromissen in Hinterzim­
mern und Gesprächsrunden. Als Präsident des BND verfügte er über langjäh­
rige Erfahrungen mit der indirekten Beeinflussung der öffentlichen Meinung,
das lag ihm offensichtlich und war ihm im Laufe der Jahre mehr zur Lust als
zur Last geworden, auch wenn er innenpolitische Grenzüberschreitungen
als bloße Notwehr deklarierte. So suchte er Mitte Mai 1966 eine persönliche
Aussprache mit einem CIA-Vertreter, um mit ihm über den Zustand der deut­
schen Gesellschaft zu sprechen. Gehlen beklagte, dass die Deutschen weich
gegenüber dem Osten würden und zeigte dem Amerikaner Pressemeldungen
über die Humanistische Union, die er als eine Mischung aus Gutmenschen
und Dummköpfen bezeichnete. Für ihn war das eine der Organisationen, die
dabei waren, die Gesellschaft zu unterwandern, um dann mit dem Osten zu
verhandeln. Anlass für seine Aufregung war ein Flugblatt, das sein studieren­
der Schwiegersohn an der Universität München erhalten hatte und das sich
kritisch mit dem Entwurf der Notstandsgesetzgebung, insbesondere mit den
Regelungen zur Telefonüberwachung, auseinandersetzte.
Auch entsprechende Artikel von Hans Reiser in der liberalen Süddeutschen
Zeitung, die dieser in Abwesenheit seines Herausgebers publiziert habe, ergä­
ben ein völlig falsches Bild. Mit einem listigen Lächeln, so notierte der Ame­
rikaner, erklärte Gehlen, dass sich der BND zwar nicht mit innenpolitischen
Angelegenheit befasse, in solchen Fällen aber um Selbstschutz besorgt sein
müsse.570 Was das in einem solchen Falle bedeutete, erklärte sein Hinweis
auf den Herausgeber der wichtigen Tageszeitung. Er vertraute also auf sein

569 Schreiben Gehlens an den Bundesminister des Innern, 27.4.1966, BND-Archiv, 1163/2,
Blatt 348-349.
570 Notiz über das Treffen mit Gehlen und Wendland, 18.5.1966, NA Washington, RG 319,
Entry 134A, Reinhard_Gehlen_ vol4_20F2, S. 88.

1114
Netzwerk in Politik und Publizistik, so wie er auch auf den Rückhalt bei den
Amerikanern setzte. Ein sehr persönliches Schreiben von James Critchfield zu
seinem 64. Geburtstag war offensichtlich ernst gemeint. Sein früherer Aufpas­
ser und schärfster Kritiker war als Chief Near East and South Asia Division
inzwischen aus deutscher Sicht weitab vom Schuss und inzwischen wohl tat­
sächlich so etwas wie ein Freund geworden. Richard Helms, dem Gehlen zur
gleichen Zeit zur Ernennung zum Direktor der CIA gratulieren konnte, kannte
»utility« ebenso gut aus den ersten Jahren, und er hielt Gehlen nach wie vor
für einen »difficult general«, dessen BND durch östliche Geheimdienste so
penetriert sei, dass es jeden anderen Geheimdienst zerstört hätte.571 Gehlen
hingegen sprach ihm sein »besonderes Vertrauen« aus, vermutlich angeregt
durch ein länger zurückliegendes Schreiben von Helms, in dem dieser darauf
hingewiesen hatte, so lange er zurückdenken könne, hätten beide den Krieg
gegen den Kommunismus gemeinsam geführt, und es gebe keinen Verbünde­
ten in diesem Kampf, dessen Intelligenz, Ergebenheit und Integrität er mehr
bewundere.572
Der CIA-Mitarbeiter, dem Gehlen in Pullach das Schreiben für Helms über­
reichte, fand einen zuversichtlichen Mann vor, der über seinen bevorstehen­
den 65. Geburtstag sprach und hervorhob, dass man ihn gebeten habe, länger
zu bleiben. Eine Frist nannte er freilich nicht, kündigte aber an, dass er nicht
allzu lange bleiben werde, da der BND jüngere und tatkräftigere Männer in der
Führung brauche. Dann schnitt er noch seine Beziehungen zu Kanzler Erhard
an, die sich allmählich verbessern würden. Er hoffte, ihn zu einem Besuch in
Pullach bewegen zu können, wenn der Kanzler sein Sommerhaus in Tegern­
see besuchen werde.573 Dazu kam es zwar wieder nicht, aber Gehlen konnte
immerhin Gordon M. Stewart, der nach seiner Pensionierung Berater der US-
Botschaft in Bonn geworden war, nachmittags zum Tee in seinem Hause emp­
fangen. Stewart, der von seiner Ehefrau Peggy begleitet wurde, erlebte dort im
Kreis führender Mitarbeiter angeblich das glücklichste Zusammentreffen seit
1949 – eine freundschaftliche Geste, die den älteren Herren die Erinnerung an
stürmische Zeiten wachhielt.574
Die raue Gegenwart beschäftigte wenige Tage später die Dienststellenleiter
des Strategischen Dienstes bei einer Tagung in Pullach. Hatte man bei früheren

571 Siehe Schreiben von Critchfield an Gehlen, 10.5.1966, ebd., S. 84, sowie Schreiben
Gehlens an Helms, 24.6.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol5_10F2, S. 4. Helms, A Look, S. 90.
572 Helms an Gehlen, 1.5.1965, BND-Archiv, N 13/20.
573 CIA Contact Report vom 24.6.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol5_10F2, S. 5 – 6.
574 Schreiben Stewarts an Gehlen, 29.6.1966, ebd., S. 9.

1115
Gelegenheiten die »Pannenlage« diskutiert, so ging es nun um das Problem
der »Krippensetzer«. Gemeint war das Missfallen der Dienststellenleiter über
Zuweisungen von Personal durch die Zentrale, das nicht den Anforderungen
genügte. Es erwies sich als schwierig, dieses Personal zu verdrängen, weil Ein­
zelne den Schutz bestimmter Persönlichkeiten in der Zentrale genossen. Im
Hinblick auf Pressekontakte wurde an die Genehmigungspflicht erinnert und
mitgeteilt, dass der Präsident führende Journalisten der Bundesrepublik emp­
fangen habe und diese hätten sich so beeindruckt gezeigt, »dass sie ihre gesam­
ten Möglichkeiten für den Dienst zur Verfügung gestellt hätten«. Falsche und
entstellende Medienberichte seien inzwischen selten geworden. Nachholbe­
darf bestehe bei der Aufklärung West. Langsam, aber konsequent müsse auch
gegen die Verbündeten im Westen die militärische Aufklärung aufgebaut wer­
den. Ein entsprechender Auftrag werde in nächster Zeit erteilt werden – ob er
sinnfällig oder gar notwendig war, wenn es sich um Verbündete handelte, war
anscheinend nicht der Diskussion wert. Die interne Aufzählung der Defizite
zeigt, dass es nach der ursprünglichen Aufbauplanung für den BND um die voll­
ständige Abdeckung der Welt ging, die nachrichtendienstlich zu erfassen war.
Demnach war die Aufklärung in den sowjetischen Satellitenstaaten unvoll­
kommen. In Jugoslawien war kein einziger politischer V-Mann gewonnen
worden. Dafür war der Dienst in Österreich sehr stark vertreten. Als völlig
unzureichend abgedeckt sah man die USA, Frankreich, Großbritannien sowie
Vietnam, Japan und Pakistan an. Auch Irak, Syrien, Jemen und Saudi-Arabien
seien kaum abgedeckt. In Afrika fehle es an der Penetrierung der überregiona­
len Organisationen. In Lateinamerika sei man stark in den großen Ländern,
aber dort, wo es darauf ankomme, wie Kolumbien, Venezuela und vor allem
der Karibik, sei der BND schwach. Abschließend wurde noch einmal betont,
dass die militärische Aufklärung West erweitert werden müsse, da das Vertei­
digungsministerium durch seine Attaches nicht alle Lücken schließen könne.575
Es war dann Bundesverteidigungsminister Hassel, der die Initiative ergriff,
um die ungewisse Zukunft von Gehlen bzw. dessen Nachfolge zu klären. In
einem Brief an Kanzler Erhard wies er Anfang August 1966 darauf hin, dass
Gehlen im nächsten April das reguläre Pensionsalter von 65 Jahren erreichen
würde. Aus Gesprächen mit ihm wisse er, dass der Präsident nicht wesent­
lich länger bleiben wolle. Es müsse jetzt die Nachfolge geregelt werden, da
eine langfristige Vorbereitung des künftigen Präsidenten erforderlich sei.
Diese Vorstellung des Ministers lag durchaus im Interesse Gehlens, der eine
Einarbeitung seines Nachfolgers so verstand, dass er selbst noch für eine län­
gere Übergangszeit das Heft in der Hand behalten und auf Kontinuität ach­

575 Aktennotiz betr. Dienststellenleiter-Tagung, 6.7.1966, BND-Archiv, N 4/v. 11.

1116
ten konnte. Hassel benannte Generalleutnant Gerhard Wessel als besonders
geeignet und zählte die Stationen seines Werdegangs auf. Ihm sei ein »umfas­
sendes Verständnis für alle Fragen der Politik und der Kriegführung« beschei­
nigt worden. Er sei »klar, abgewogen und sicher im Urteil«. Hassel schlug vor,
Wessel im Frühjahr 1967 aus Washington zurückzuholen, damit er dann nach
einer längeren Vorbereitung im Frühjahr 1968 Nachfolger Gehlens werden kön­
ne.576 Erhard ließ sich drei Monate Zeit und beschied den Vorschlag erst am
28. November 1966 positiv, drei Tage vor seinem Rücktritt.577
Gehlen war zweifellos über den Vorschlag des Verteidigungsministers infor­
miert und begann, sich auf die Übergabe vorzubereiten. Zunächst nahm er
mit seinem designierten Nachfolger Verbindung auf, der in Washington beim
Ständigen Militärausschuss der NATO die Bundesrepublik vertrat. Es lag Geh­
len offenbar daran, Wessel auf seine eigene Lagebeurteilung einzustimmen.
Er habe, so schrieb er, 1960 bei der Aufbauplanung des BND den damaligen
Kanzler davor gewarnt, dass in den Jahren nach 1965 sich die politische Situa­
tion langsam verschärfen werde und sich bis zu einer Kriegsgefahr zuspitzen
könne. Dabei ging er davon aus, dass die USA nicht in der Lage seien, Politik
auf weite Sicht zu betreiben, sodass sich die Amerikaner zwangsläufig und von
den Russen so gewollt bei zahlreichen drohenden Krisenherden so festlaufen
würden, dass sie den Sowjets gegenüber nicht mehr volle Handlungsfreiheit
besäßen.
Das zeige sich jetzt im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg. Die deutsche
Politik hatte nach Gehlens Meinung verschiedene Kardinalfehler begangen. Sie
habe erstens übersehen, dass die Amerikaner nur eine amerikanische Politik
trieben, und zweitens sei der Vietnamkrieg politisch und militärisch falsch
geplant und durchgeführt worden, was er von Anfang an so gesehen habe, wie
Gehlen meinte. Die Russen wollten den Amerikanern damit die Hände bin­
den. Die Gestaltung der Vietnamoperation nach dem Gesichtspunkt der Eska­
lation sei, wie »wir auf der Kriegsakademie gelernt haben«, eine Sünde wider
den heiligen Geist der Kriegskunst. Wenn man Erfolg haben wolle, müsse man
klotzen. Die Russen würden es im geeigneten Moment anders machen als die
Amerikaner. Er habe keinen Zweifel am guten Willen der Amerikaner, wohl
aber daran, ob sie überhaupt zum »Klotzen« in der Lage wären.
Es sei seit Jahren vorauszusehen, dass im Jahre 1970 wahrscheinlich außer
einigen symbolischen Kontingenten keine US-Truppen mehr auf deutschem
bzw. europäischem Boden stehen würden. Darum sei die frühzeitige Erkennt­

576 Schreiben Hassels an Erhard, 9.8.1966, VS-Registratur Bka, Personalakte Reinhard


Gehlen.
577 VS-Registratur Bka, Personalakte Gerhard Wessel.

1117
nis wichtig, dass Europa innerhalb des Bündnisses in irgendeiner Form ein
Gegengewicht zu dem mächtigsten militärischen Faktor, den USA, aufbauen
müsse, um mitsprechen zu können. Deutschland könne dabei nicht die füh­
rende Macht sein. Wichtig sei ein enges Verhältnis zu Frankreich in Abstim­
mung mit den USA, die vor zwei Jahren selbst gesagt hätten, das sei der beste
Weg, um de Gaulle einigermaßen einzubinden.578 Da de Gaulle im März 1966
den Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration der NATO angekün­
digt hatte und daraufhin die Verlegung der europäischen Hauptquartiere des
Bündnisses von Frankreich nach Belgien erforderlich wurde (Umzug 1967),
komplizierte sich die militärpolitische Lage.
Gehlen hielt also in seinem außenpolitischen Vermächtnis an einer Politik
der Stärke fest, die Deutschland an die Seite der USA band, aber im Bündnis mit
Frankreich Europa zugleich zu einer eigenständigen Militärmacht einschließ­
lich Atombewaffnung entwickeln sollte. Erst wenn die Sowjetführung erken­
nen würde, dass sie Europa weder überrennen noch unterminieren könne,
sei damit zu rechnen, dass sie ihre aggressiven Ziele aufgibt. Nur aus einer
Position der Stärke könnte der Westen unter Umständen auf Verhandlungs­
angebote Moskaus eingehen und dann vielleicht auch die Wiedervereinigung
Deutschlands erreichen. Da Gehlen auf den Primat des Militärischen setzte,
hielt er nichts von Erwartungen, wie sie selbst innerhalb der Bundesregierung
bestanden, die UdSSR könnte durch den Konflikt mit Rotchina zu Kompro­
missen gedrängt bzw. durch einen Wandel durch Handel zu Zugeständnissen
verlockt werden.
Gehlens pessimistische Einschätzung der amerikanischen Außen- und
Sicherheitspolitik war wahrscheinlich weniger das Ergebnis einer nüchter­
nen Analyse der realen politischen Verhältnisse als vielmehr Ausdruck eines
gestiegenen nationalen Selbstbewusstseins. Nach dem Abschluss des Aufbaus
der Bundeswehr und gestützt auf das westdeutsche Wirtschaftswunder – das
freilich kurz vor seinem ersten Einbruch stand – erfuhr die Bundesrepublik
wachsende internationale Anerkennung und ein steigendes weltpolitisches
Gewicht. Die schwache Regierung Erhard freilich setzte auf den Vorrang der
Wirtschaftspolitik, zulasten nicht zuletzt auch der Verteidigungsausgaben und
damit auch des BND. So hatte Gehlen Anlass, in seinem Brief an Wessel zu
betonen, man dürfe sich von den USA nicht als »Satelliten behandeln lassen«,
sondern müsse nationale Politik auf der Basis der Gleichberechtigung betrei­
ben. Man solle dem großen Verbündeten nicht nachlaufen, vielmehr müsse
man den Eindruck erzeugen, dass dieser alles tun müsse, »um den kleineren
Verbündeten, der an der Front steht, bei der Stange zu halten«.

578 Schreiben Gehlens an Wessel, 10.8.1966, BND-Archiv, N 1/138.

1118
Gehlens Distanz zu den USA blieb der CIA nicht verborgen, und so drängte
CIA-Chef Helms, der seinen »Doktor« sehr gut kannte, auf einen baldigen
Besuch Gehlens, um sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. In
einem internen Papier wurde festgehalten, dass Gehlens letzte USA-Reise fünf
Jahre zurücklag und sich auf einen Tagesbesuch bei Allen Dulles beschränkt
hatte. Das sei gleich nach dem Mauerbau und kurz vor der Verhaftung von
Felfe gewesen. In den folgenden Jahren habe man ihn immer wieder eingela­
den, doch Gehlen habe es unpassend gefunden, die Einladungen anzunehmen.
Stattdessen habe er intensive Besuche bei den französischen und britischen
Partnerdiensten absolviert.579 Helms ließ ein förmliches Einladungsschrei­
ben verfassen, um Gehlen zu einem Besuch in den nächsten sechs Wochen
zu veranlassen. Bereits im Oktober werde Critchfield mit dem Chef der neuen
Europaabteilung der CIA Deutschland besuchen. Helms empfahl beide Geh­
lens Aufmerksamkeit. Er selbst sei wegen des Vietnamkrieges verhindert,
seinen geplanten Europatrip anzutreten, würde es aber begrüßen, so die dip­
lomatische Formel, wenn die langjährige und wichtige Verbindung beider
Dienste weiter vertieft werden könnte.
Der Brief sollte nicht wie üblich über die CIA-Schiene nach Pullach expe­
diert werden. Stattdessen sprach Helms mit Außenminister Dean Rusk und
verstand sich mit ihm darauf, dass man versuchen solle, durch den US-Bot­
schafter in Bonn die Einladung an Gehlen über Kanzler Erhard zu lancieren,
um ein erneutes Ausweichen des »Doktor« zu verhindern. Der Staatssekretär
im Kanzleramt Westrick, der selbst kurz vor seinem Rücktritt stand, erklärte
der amerikanischen Seite, der Kanzler habe in dieser Angelegenheit keine
besonderen Anliegen. So erhielt Gehlen schließlich das Einladungsschreiben
zehn Tage später doch direkt über die CIA-Schiene.580 Helms gab dazu Anfang
September die Instruktion mit, dass der Besuch von Gehlen eine weitgehend
politische Angelegenheit sei, denn es gehe darum, die langjährigen Bezie­
hungen mit ihm, die nicht immer sanft gewesen seien, jetzt, wo er vor seiner
Pensionierung stehe, in einer angenehmen Atmosphäre zu Ende zu bringen.
Er beabsichtige, so Helms, bei dieser Gelegenheit Gehlen auch zu verstärkter
Wachsamkeit und deshalb auch zu einer besseren Tarnung auf ostdeutschem
Gebiet aufzufordern. Und – was keiner auf deutscher Seite erfahren dürfe – die
Einladung an Gehlen sei bei einem Lunch von General Wessel angeregt wor­
den, der lange Zeit als Erbe Gehlens gegolten habe, ein Status, der inzwischen
aber durch seine lange Abwesenheit vom BND und durch den Rang, den er zwi­

579 Aktennotiz der CIA zu Gehlens Auslandsreisen, 26.8.1966, NA Washington, RG 319,


Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_10F2, S. 16.
580 Einladungsschreiben Helms’ für Gehlen, 1.9.1966, ebd., S. 17; Nachricht von Helms an
Resident Deutschland, 6.9.1966, ebd., S. 19; Director an Munich, 7.9.1966, ebd., S. 22.

1119
schenzeitlich im militärischen Establishment erreicht habe, verloren gegangen
sein könnte.581 Von dem Brief Hassels an Erhard wusste Helms also noch nicht.
Gehlen nahm spontan die Einladung des CIA-Chefs an, fügte allerdings
hinzu, dass er den Termin prüfen lassen werde. Er betonte die langjährige
persönliche Freundschaft zu Helms und freue sich darauf, sich mit einem
erfahrenen Profi frei über berufliche Dinge besprechen zu können. Er bat zu
entschuldigen, dass er nicht schon im Oktober kommen könne, aber in seiner
Position müsse er zunächst einmal durch Spähtrupps erkunden lassen, ob es
irgendwelche »Minenfelder« zu beachten gelte.582
Man sprach bei dieser Gelegenheit über die Rücktrittserklärung Westricks
am Vortag (allerdings sollte Westrick sein Amt dann noch bis zum Ende der
Kanzlerschaft Erhards ausfüllen). Dieser habe ihm vor wenigen Tagen erklärt,
so Gehlen, dass er es leid sei, Zielscheibe politischer Angriffe zu sein, wenn
es gar nicht um ihn selbst gehe. Die letzten Tage der Regierung Erhard hatten
begonnen. Gehlen kam dann auf sein Führungssystem zu sprechen. Er bevor­
zuge das Stabschefsystem und halte nichts von einem Deputy-System. Man
stelle sich einmal die Konfusion vor, die entstehen würde, wenn ein Deputy
von der Politik eingesetzt werde und dann nicht mit dem Chef zurechtkomme.
Ein Stabschef unterstehe dem Kommandeur und arbeite ihm zu. Er untersteht
dem Chef und wird von ihm eingesetzt.
Der CIA-Vertreter bat um Rat, was man tun könne, um die deutsche Bevöl­
kerung vom US-Engagement in Vietnam zu überzeugen. Gehlen und Wendland
meinten, sie hätten darüber bereits mit Weiß diskutiert. Gespräche und Konfe­
renzen würden nicht weiterführen. Notwendig sei eine Operation in die Presse
hinein. Das sollte aber nicht von der CIA ausgehen. Gehlen meinte in diesem
Zusammenhang, dass es eine groß angelegte kulturelle Unterwanderung
Deutschlands gäbe, und erwähnte insbesondere die Humanistische Union.
Das sei eine wachsende Bedrohung. Dem Osten stünden 200 bis 300 Millionen
D-Mark für Propaganda und kulturelle Infiltration zur Verfügung. Es hätten
einige Besprechungen auf Regierungsebene stattgefunden, wie man die Ein­
flussnahme bekämpfen könne. Ein Komitee sei gegründet worden, doch er
habe als Einziger einen Plan vorgelegt und das Gremium später wieder verlas­
sen, weil nichts vorangebracht worden sei.
Wendland berichtete, dass der BND nach dem Entwurf der Notstandsge­
setze, die wohl Ende des Jahres verabschiedet würden, die Telefonüberwa­
chung übernehmen werde. Gehlen fügte hinzu, dass es nützlich wäre, wenn der
CIA-Vertreter in Bonn bei jeder Gelegenheit unterstreichen würde, wie wichtig

581 Director an Germany Munich, 15.9.1966, ebd., S. 28-29.


582 Munich an Director Info Germany, 16.9.1966, ebd., S. 30 – 35.

1120
für die US-Regierung die Telefonüberwachung für die strategische Aufklärung
sei. Zu dem Gesetzentwurf habe es allerlei Bedenken gegeben, aber je mehr die
Leute in Bonn glaubten, dass die Alliierten daraus einen großen Gewinn zögen,
desto leichter würde der Weg sein.
An einem Punkt des Gesprächs erwähnte Gehlen, dass er aus Gründen der
Geheimhaltung spezielle Aufklärungsergebnisse nicht an das Auswärtige Amt
oder das Kanzleramt weiterleiten könne, wohl aber an das Verteidigungsmi­
nisterium. Gehlen habe dies zum ersten Mal angesprochen, dem CIA-Agenten
war es bereits bekannt. Der BND verberge manche dieser Informationen auch
in regulärem Material.
Inzwischen hatte sich Critchfield im Auftrag von Helms mit Generalleut­
nant Wessel bei einem Abendessen in Washington unterhalten, um sich einen
aktuellen Eindruck von dem designierten Nachfolger Gehlens zu verschaf­
fen. Die beiden hatten zwischen 1948 und 1952 in Pullach in engem Kontakt
gestanden, und Critchfield war damals sicher nicht verborgen geblieben, wie
groß die Spannungen zwischen Wessel und Gehlen gewesen waren. Zuletzt
hatten sie sich 1959 getroffen. Wessel kündigte an, dass seine Zeit in Washing­
ton im nächsten Frühjahr auslaufen werde. Seine weitere Verwendung sei noch
unklar (Erhard hatte sich ja noch nicht dazu geäußert). Mit dem Aufstand der
Generale in Bonn, einer Führungskrise der Bundeswehr, habe das aber nichts
zu tun.583 Aus einer Äußerung der Sekretärin von Wessel entnahm Critchfield
allerdings, dass Wessel wohl bereits davon ausgehe, nach München zu gehen.
In Pullach galt die Sache keineswegs als ausgemacht, solange der Kanz­
ler schwieg. Der Vorschlag des Verteidigungsministers war nicht sakrosankt.
Aus dem politischen Raum konnten Alternativen benannt werden. Brigade­
general Herbert Krause (DN »Reichlin«), Inspekteur und Kritiker Gehlens in
der Zentrale, hielt es in einem Gespräch mit dem CIA-Vertreter für möglich,
dass Gehlen sogar noch länger bleiben könnte. Der Agent kommentierte iro­
nisch, dass Gehlen doch in guter gesundheitlicher Verfassung und lebhaft sei,
was vermutlich daran liege, dass er auf sich achte, viele Pausen und länge­
ren Urlaub mache. Die häufigen Abwesenheiten des Chefs waren im Dienst
kein Geheimnis. General Krause aber nahm Gehlen in dieser Hinsicht sogar
in Schutz. Er arbeite hart wie immer, ohne Rücksicht auf sich. Oft nehme er
Urlaub, um im Hintergrund ohne Störungen seine Arbeit zu erledigen. Noch
immer kenne Gehlen jedes Detail in Pullach und achte auch auf Kleinigkei­
ten. Das mache es schwierig für Untergebene, ihn zu hintergehen. Gehlen habe
als Chef nur einen großen Fehler: Er möge es nicht, Leuten gegenüber Nein

583 Memo von Critchfield über Gespräche während eines Cocktailempfangs im Haus von
Herre am 31.8.1966, ebd., S. 25.

1121
zu sagen oder hart zu ihnen von Angesicht zu Angesicht aufzutreten. Wenn
Gehlen beobachte, dass einer seiner Führungsoffiziere Dinge betreibe, die ihm
nicht gefielen, dann bestelle er ihn nicht etwa in sein Büro, um ihm zu erklären,
was er anders machen sollte. Stattdessen mache er sein Missfallen auf vielfäl­
tige andere Weise kund, in der Hoffnung, der Betreffende würde schon merken,
was gemeint war, auch ohne direkte Konfrontation. Wenn der Offizier auch
nicht nach längerer Zeit bemerke, was gemeint war, dann nehme Gehlen an,
dass es sich um vorsätzlichen Ungehorsam handele, und explodiere am Ende.
Jeder der für Gehlen arbeite, müsse ständig auf die kleinsten Nuancen achten
und eine Menge Zeit darauf verwenden, herauszufinden, was Gehlen wirklich
wünscht. Der CIA-Gesprächspartner nahm in seinem Bericht an, dass Krau­
ses Schilderung ziemlich genau war. Er habe bereits von verschiedenen Seiten
gehört, dass Gehlen Schwierigkeiten habe, »Nein« zu sagen.584
Krause erklärte weiterhin, dass die Bundeswehr in einem miserablen
Zustand sei. Die Moral im Offizierskorps sei gering. Alle seien demoralisiert.
Gehlen und Wendland seien vorletzte Woche zu Konferenzen über Bundes­
wehrprobleme in Bonn gewesen. Die verschiedenen Bestrebungen zur Reorga­
nisation der Bundeswehr beträfen Pullach zwar nicht direkt, aber eine große
Zahl von Offizieren, die nach Pullach abkommandiert waren, und Gehlen
selbst wollten sicherstellen, dass Entscheidungen über sie nicht getroffen wur­
den, ohne sie zu konsultieren.
In der anschließenden Begegnung mit Weiß erfuhr der Agent, dass Geh­
len auf Wunsch noch zwei bis drei Jahre bleiben könnte. Wessel sei wohl aus
dem Rennen. Wendland, den Gehlen neuerdings ins Gespräch brachte, sei
noch dabei. Am Ende könnte es ein junger Politiker werden. Solange aus Bonn
kein eindeutiges Signal kam, wollte Gehlen offenbar auch nicht die Reise nach
Washington antreten. In seiner schriftlichen Zusage an Helms, die Herre über­
brachte, sagte er sein Kommen für November zu, ohne ein konkretes Datum
zu nennen und mit dem Vorbehalt, dass nichts passierte, was ihn zum Bleiben
zwänge. Die innenpolitische Situation in der Bundesrepublik sei nun einmal
labil. Ein möglicher Regierungswechsel würde ihn natürlich festhalten.585
In die wachsende Schar interner Kritiker reihte sich auch Oberst i. G. Harald
Mors ein, Haudegen im Krieg, im BND ein vielseitig begabter Nachrichten­
dienstler, Diplomat und hervorragender Menschenkenner, zeitweilig ein enger
Vertrauter und Hausnachbar Gehlens. Mors beklagte sich jetzt gegenüber dem
US-Agenten, dass ihn Gehlen für einige Zeit aus der Zentrale entfernen wolle.
Der »Doktor« habe ihm gesagt, er sei zu aktiv und verfüge über zu viele Kon­

584 Munich an Director Info Germany, 11.9.1966, ebd., S. 41.


585 Schreiben Gehlens an Helms, 22.9.1966, ebd., S. 48.

1122
takte, sodass er zu viele Dinge aufrühre. Dahinter stünden einige Zusammen­
stöße, die Mors mit Gehlen wegen dessen Bruder Johannes gehabt habe. Dieser
operiere in Rom außerhalb der Auslandsabteilung direkt unter dem Präsiden­
ten. »Giovanni« sei ein brillanter Mann, der eine glänzende wissenschaftliche
Karriere in Aussicht gehabt habe. Stattdessen sei er ein Dilettant und Herum­
treiber in der italienischen Hauptstadt geworden. Dabei habe sein Mangel an
Disziplin Mors beträchtlich gegen ihn aufgebracht.586
Die Verärgerung von Mors hatte freilich auch eine persönliche Seite. Die
kürzliche Beförderung von Gehlens Schwager Seydlitz-Kurzbach zum General
sei auch ein Motiv. Mors habe davon ausgehen können, auf seinem eigenen
Dienstposten General zu werden. Als Brigadegeneral Lothar Metz (DN »Mer­
tens«), sein Vorgänger, wegen Dienstunfähigkeit pensioniert wurde, sei dessen
Planstelle aber in einen anderen Bereich transferiert worden, sodass Gehlen
dann seinen Schwager darauf setzen konnte. Mit dieser Art von Nepotismus
hätten die Pullacher seit Langem leben müssen. Und Mors erzählte weiter: Er
habe ja vieles mit Gehlen erlebt. Gehlen habe ihn 1950 gerufen, weil er ihn
unbedingt in Paris brauche. Tatsächlich sei er dann aber erst 1960 dorthin
gekommen. Als dann 1962 Washington Gehlens Schwiegersohn Dürrwanger
nicht als BND-Repräsentanten akzeptierte, sei die Tochter zu ihrem Vater
gelaufen und habe gesagt: Papa, du hast uns einen Auslandsposten verspro­
chen. Und Gehlen habe geantwortet: Ja, ich weiß, was möchtest du? Die Ant­
wort sei Paris gewesen, und so musste Mors weichen und landete wieder in der
Tretmühle von Pullach.587
Gehlen muss gespürt haben, dass selbst seine Führungsgehilfen auf Dis­
tanz gingen bzw. sich auf die Nach-Gehlen-Zeit einzustellen begannen. Ob ihm
bewusst war, dass bei nachlassender Loyalität die Neigung entstehen konnte,
sich über dienstliche Interna unbefugt gegenüber Außenstehenden zu äußern,
Duchstechereien von Informationen trotz rigider Geheimhaltungsvorschriften
zu riskieren, ist fraglich. In seiner selbstgewählten Isolierung mag er sich in
dieser Hinsicht Illusionen gemacht haben. Enttäuschung, Frustration und Ver­
ärgerung bei einzelnen Mitarbeitern ließen ihn vermutlich eher kalt. In zwei
Jahrzehnten als Chef einer großen Behörde hatte er sich eine harte Schale zule­
gen müssen, auch wenn er sich oft bemüht hatte, bei Einzelnen, die ihm nahe­

586 Den gleichen Eindruck gewann ein CIA-Vertreter dieser Tage in Rom in einem ausführ­
lichen Gespräch, in dem Johannes Gehlen sich als bloßen Briefträger für seinen Bruder
bezeichnete und freimütig über seine Familie sowie seine technische Ausstattung für
die Verbindung mit Pullach plauderte; siehe Bericht für Chief Europe, 1.6.1966, ebd.,
S. 90-92.
587 CIA-Notiz vom 4.10.1966, ebd., S. 55 – 56, 59. Gehlens Nachfolger Wessel ließ Dürrwan­
ger später aus Paris abziehen, nachdem dieser eine Sekretärin unsittlich belästigt hatte.

1123
standen, und wo es ihm angebracht erschien, zu helfen und zu fördern. Wenn
jemand die Gunst des Chefs verloren hatte, drohte allenfalls zeitweilige »Ver­
bannung« Auf der Straße konnte keiner so leicht landen. Wer aus politischen
Gründen gehen musste, wurde großzügig abgefunden. Auf dem Klageweg um
eine Abfindung zu ringen, blieb die Ausnahme, die Gehlen natürlich tunlichst
zu vermeiden trachtete.
Auch in der Agonie der letzten Monate seiner eigenen Dienstzeit, deren
definitives Ende im Herbst 1966 noch immer nicht festgelegt war, war er im
laufenden Betrieb natürlich mit Problemen konfrontiert, die seine Stellung­
nahme bzw. Entscheidung verlangten. Das reichte von der Gefährdung eines
Überläufers, dem trotz deutscher Bemühungen ein möglicher Mordanschlag
von sowjetischer Seite drohte und für den auch die Amerikaner keine Mög­
lichkeit sahen, ihm einen sicheren Aufenthalt zu verschaffen,588 bis zu Anfra­
gen des Kanzleramts, ob Gehlen empfehlen könne, dass Kanzler Erhard mit
dem sowjetischen Botschafter Semjon Zarapkin spreche. Das konnte Geh­
len selbstverständlich als Zeichen seiner Anerkennung als einer der besten
Kenner der sowjetischen Politik betrachten. Erhard hatte sich lange um eine
Verbesserung der Beziehungen zu Moskau bemüht und dazu das Gespräch
mit Ministerpräsident Kossygin suchen wollen. Mit der »Friedensnote« vom
25. März 1966 war Adenauers »Politik der Stärke«, die in Gehlen einen vehe­
menten Befürworter gefunden hatte, erstmals zaghaft infrage gestellt wor­
den, um mit dem Ostblock ins Gespräch zu kommen. Die Regierung Erhard
hatte sich in einer ausführlichen Friedensbotschaft an alle Staaten, zu denen
die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhielt, sowie – das war
ungewöhnlich – auch an die Staaten des Warschauer Pakts (mit Ausnahme
der DDR) gewendet. Darin bekundete sie das Interesse an einer gesamteuro­
päischen Friedenspolitik. Und die Lösung des Konflikts mit dem anderen
deutschen Staat sah sie nicht mehr als Vorbedingung für Gespräche mit den
osteuropäischen Staaten an.589
Paris und Washington schienen eine solche Initiative zu unterstützen, und
deshalb hielt es Erhard im Herbst 1966 für zweckmäßig, ein vorbereitendes
Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter zu führen. Bisher hatte er eine
Unterhaltung mit Zarapkin hinausgezögert. Gehlen empfahl, der Kanzler
möge sich gegenüber dem Botschafter rezeptiv verhalten und mögliche mas­
sive Angriffe des russischen Diplomaten in freundlicher Form zurückweisen.

588 CIA-Bericht über ein Gespräch mit Gehlen und Wendland, 10.10.1966, ebd., S. 61- 62.
589 Torsten Oppelland: Gerhard Schröder (1910-1989). Politik zwischen Staat, Partei und
Konfession, Düsseldorf 2002, S. 657-662; Rainer A. Blasius: Erwin Wickert und die Frie­
densnote der Bundesregierung vom 25. März 1966, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
43(1995), S. 539-553.

1124
Dann zeigte sich seine berufsbedingte Scheu vor präzisen Prognosen: Wegen
der sowjetischen Mentalität sei der Verlauf eines solchen Gesprächs nicht im
Voraus zu berechnen.590
Für einen solchen Schnellschuss brauchte Gehlen nicht die vielgerühmten
Kreml-Astrologen, zu denen er sich im Zweifel selbst zählte. Durch seine politi­
sche Prägung und Erfahrung zweifelte er sicherlich nicht daran, sich jederzeit
über die Weltlage äußern zu können. Fragte man ihn nach seiner Meinung,
konnte er seinen Gefühlen und Vorurteilen auch einmal freien Lauf lassen.
In Anwesenheit seines Stellvertreters und möglichen Nachfolgers Wendland
äußerte er sich gegenüber einem CIA-Vertreter freimütig und kritisch über
Robert McNamara, den US-Verteidigungsminister, über Präsident Johnson und
Kanzler Erhard. Gehlen war nicht nur ein bekennender Kritiker der zögerlichen
amerikanischen Kriegführung in Vietnam, sondern sah auch die Probleme, die
aus der Forderung Washingtons nach einer Erhöhung der deutschen Zahlun­
gen für die US-Stationierungskosten in Westdeutschland entstanden. Auf eine
Anfrage von Staatssekretär Carstens im Außenministerium bestätigte Gehlen,
dass für die Stationierung der sowjetischen Truppen in der DDR seit 1959 von
Ost-Berlin offiziell keine Stationierungskosten mehr gezahlt wurden.591 Damit
erschien die amerikanische Forderung in einem düsteren Licht. Nicht nur die
Opposition sah darin eine indirekte deutsche Mitfinanzierung der Kosten für
den Vietnamkrieg. Kanzler Erhard wollte nach dem Misserfolg in den Verhand­
lungen mit den USA die zusätzlichen Belastungen des Bundeshaushalts über
Steuererhöhungen finanzieren, was zum Rücktritt der FDP-Minister seines
Kabinetts und zum Verlust der Mehrheit im Bundestag führte.
Als sich das Gespräch mit dem CIA-Vertreter Vietnam zuwandte, bot Geh­
len an, Material in die deutsche Presse zu lancieren. Dass er sich damit jen­
seits seiner Zuständigkeit in die Innenpolitik einmischte, war ihm offenbar
kein Gedanke wert. Er folgte einer langjährigen Routine. Wendland verwies
lediglich darauf, dass man es nicht einfach breit streuen könne, sondern gezielt
und persönlich bestimmten Presseleuten – als angeblich exklusiv – übergeben
müsse. Als man sich aus den klandestinen Ebenen wieder auf die Höhe der
Weltstrategen erhob, warnte Gehlen den amerikanischen Gesprächspartner
davor, dass Moskau wegen der Spannungen mit Rotchina an Entspannung in
Europa bzw. mit dem Westen interessiert sein könnte. In Europa sei die UdSSR
jedoch unverändert offensiv eingestellt. Deshalb müsse man allen östlichen
Verlockungen widerstehen. Die sogenannte »Neue Linke«, die sich in der Bun­
desrepublik als außerparlamentarische Opposition zu formieren begann, hielt

590 Fernschreiben Gehlens ans Kanzleramt, 20.10.1966, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 357-358.
591 Fernschreiben Gehlens an Carstens, 9.11.1966, BND-Archiv, N 2/7a.

1125
Gehlen für keinen bedeutsamen politischen Faktor – seine Einschätzung sollte
sich bald ändern.592
Wo alles gefährdet schien und zu wanken begann, sollte »sein« BND ein
Bollwerk gegen die Bedrohung durch den Weltkommunismus bleiben, auch
über seinen bevorstehenden Abschied hinaus. Eine der größten Bedrohungen
für den Dienst, wie er ihn geschaffen hatte, lag in seiner Sicht zweifellos in
einer verstärkten politischen Kontrolle. In den letzten Jahren war es ihm gelun­
gen, Adenauers Vermächtnis bezüglich einer Reform des BND zu unterlaufen.
Flotillenadmiral Günter Poser, dem in der Nachfolge Wessels die Aufsicht über
das ASBw sowie das Militärische Nachrichtenwesen unterstand, setzte im
Verteidigungsministerium hartnäckig darauf, das Gehlen-Konzept eines inte­
grierten politisch-militärischen Nachrichtendienstes infrage zu stellen. Ohne
die militärische Komponente hätte der BND seine singuläre Rolle in Bonn
nicht spielen können. Und Poser setzte offensichtlich auf den Abgang Geh­
lens, um eine Neuverteilung der Zuständigkeiten durchzusetzen. Er beklagte
ein Nachlassen der militärischen Berichterstattung des BND und war der Mei­
nung, dass das Feindlagebild seit 1961 nur noch »bedingt zuverlässig« sei, was
Gehlen scharf zurückwies.593 In einem Brief an Wessel betonte Poser besonders
die noch immer nicht gelungene Zusammenführung der militärischen Aus­
wertung im BND mit einer Zentralauswertung in der Bundeswehr. Bei Wessel
als designiertem Nachfolger Gehlens war Poser damit freilich an der falschen
Stelle, denn Wessel konnte bei aller Distanz zu Gehlen nicht daran interessiert
sein, als künftiger BND-Chef den bedeutsamsten Teil des Dienstes in andere
Hände zu geben. Dazu war er selbst zu sehr geprägt von der früheren Gemein­
samkeit mit Gehlen und verbunden mit den älteren Generalstabsoffizieren
des BND, auf deren Loyalität er gerade in einer absehbaren Übergangsphase
angewiesen sein würde.
So schickte Wessel eine Abschrift des Briefes von Poser an Gehlen, mit dem
Kommentar, dass ihm selbst immer unverständlicher werde, was Poser eigent­
lich wolle. Denn dieser torpediere alle seine Bemühungen, den deutschen
Intelligence-Beitrag im integrierten NATO-Bereich entsprechend zur Geltung
zu bringen. Er sehe sich gezwungen, diese Frage dem Generalinspekteur der
Bundeswehr zur Entscheidung vorzulegen.594 General de Maizière freilich

592 CIA-Bericht über ein Gespräch mit Gehlen und Wendland, 10.10.1966, NA Washington,
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_10F2, S. 61-62.
593 Vermerk Gehlens für den Vortrag beim Staatssekretär im Verteidigungsministerium
zur Situation des militärischen Nachrichtenwesens, 3.8.1966, BND-Archiv, 1082,
Blatt 66-78.
594 Schreiben Wessels an Gehlen, 11.10.1966, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 167. Poser wurde
1969 Abteilungsleiter beim Internationalen Militärstab der NATO und übernahm die

1126
Auf dem Spiegel-Titel 36/1966:
Bundeswehrchef Heinz Trettner
und Luftwaffenchef Werner Panitzki

ging an das Problem nur sehr zögerlich heran, da er sich bereits darauf fest­
gelegt hatte, Poser zum Chef des Führungsstabes der Streitkräfte zu machen.
Wessels eigene Verwendung und Zukunft stand im Zusammenhang mit einer
Führungskrise in der Bundeswehr, die als »Aufstand der Generale« verstan­
den wurde.595 De Maizière hatte den Generalinspekteur und damit höchsten
Soldaten der Bundeswehr Heinz Trettner abgelöst, der im August 1966 wegen
Differenzen mit der politischen Führung zurückgetreten war. Dieser hatte sich
unter anderem gegen den Zutritt der Gewerkschaften zu den Kasernen aus­
gesprochen. Verteidigungsminister Hassel ernannte daraufhin als Nachfolger
Trettners – einem ehemaligen hochdekorierten Frontoffizier – den bisherigen
Inspekteur des Heeres, Ulrich de Maizière, einen, ähnlich wie Gehlen, anpas­
sungsfähigen und stillen Vertreter der ehemaligen Operationsabteilung.
Erst mit dem Rücktritt von Trettner kam die Frage der Nachfolge von
Gehlen richtig in Gang. Wessel war erst seit Kurzem in seiner Washingtoner

Leitung des Intelligence Centers. 1973 quittierte er aus Protest gegen die deutsche Ost­
politik unter Willy Brandt seinen Dienst. Mit einer Studie über die Militärmacht Sowjet­
union eröffnete er 1977 eine umfangreiche Publikationsreihe.
595 Zu den Einzelheiten siehe John Zimmermann: Führungskrise in der Bundeswehr oder
»Aufstand der Generale«? Die Rücktritte der Generale Trettner und Panitzki 1966; in:
Die Luftwaffe zwischen Politik und Technik, hg. von Eberhard Birk et al., Berlin 2012,
S. 108-123.

1127
Verwendung. Die übliche Dreijahresfrist für einen solchen Posten war noch
längst nicht abgelaufen. Danach käme er für drei verschiedene Verwendun­
gen in Betracht, eine Spitzenposition in der Bundeswehrführung oder in der
NATO – oder als Präsident des BND. Durch die Generalskrise waren seine
Chancen in der Bundeswehrführung gestiegen. Dem Angebot des Ministers
Hassel für die Nachfolge Gehlens hatte er sich aber nicht entziehen können.
In einem Gespräch mit Critchfield betonte Wessel, dass er in den vergangenen
Jahren nichts unternommen habe, um nach Pullach zurückzukehren, obwohl
ihm Gehlen in einem langen Brief versichert habe, er sei immer sein Kandi­
dat für die Nachfolge gewesen. Seine Frau, so Wessel, sei ohnehin gegen eine
Rückkehr zum BND und habe sich an das ungezwungene Leben in Washing­
ton gewöhnt. Critchfield berichtete Helms aus diesem Gespräch, dass er
Wessel für einen guten Kandidaten halte, der unabhängig sei und sicherlich
nichts von den Gesprächen, die er mit ihm führte, an den BND weitergegeben
habe.596
Angesichts der sich zuspitzenden Krise in der Regierungskoalition und
der offiziell noch nicht geklärten Nachfolge für Gehlen ergriff die Journalistin
Marion Gräfin Dönhoff die Initiative. Sie hatte Gehlen zuletzt nach den Felfe-
Kalamitäten publizistisch unterstützt und bat über den im BND verfemten, jet­
zigen Spiegel-Mitarbeiter Wicht, ihren persönlichen Kontakt mit Weiß erneu­
ern und Gehlen in München treffen zu können.597 Sie dachte dabei vermutlich
an die bevorstehende Pensionierung Gehlens, der nach ihrer Einschätzung
ein besseres Bild in der Öffentlichkeit verdiente. Dem entsprach sie dann zwei
Jahre später, als es so weit war, mit einem Zeit-Artikel.598
Gehlen blieb auch selbst bemüht, seine publizistischen Hilfstruppen zu för­
dern und zu verstärken. Da kam ihm das Angebot des Historikers und Publi­
zisten Gert Buchheit sicher recht, enger mit dem BND zusammenzuarbeiten.
Im Zweiten Weltkrieg Offizier im Kommandostab des Militärbefehlshabers in
Frankreich, dann Hitler-Biograf, wollte er sich künftig als Pensionär mit der
Geschichte der Geheimdienste beschäftigen. Gehlen versprach eine monatli­
che Ergänzung zur Rente von 500 D-Mark sowie freundliche Rezensionen, für
die der Dienst sorgen würde. Noch im selben Jahr erschien Buchheits Buch
über die Geschichte der militärischen Abwehr, das viele Jahre als Standard­
werk galt und den Gehlen-Mythos auffrischte.599

596 Bericht Critchfields für Helms, 25.10.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol5_10F2, S. 74 -75.
597 Bericht für Weiß von Wicht, 27.10.1966, BND-Archiv, N 10/13, Blatt 130.
598 Marion Gräfin Dönhoff: Der Mann ohne Gesicht, Zeit 17/1968 vom 26.4.
599 Klaus Wiegrefe: Gekaufte Geschichte, Spiegel 3/2013 vom 14.1., S. 52; Gert Buchheit: Der
deutsche Geheimdienst. Geschichte der militärischen Abwehr, München 1966.

1128
Der offene Ausbruch der Regierungskrise in Bonn Ende Oktober 1966 gab
Gehlen den Anlass, seine geplante Reise nach Washington auf das nächste
Frühjahr zu verschieben. In einem Brief an CIA-Direktor Helms bemühte sich
Gehlen, den Eindruck zu verwischen, es könnte für ihn eine willkommene
Gelegenheit zur Absage gewesen sein.600 Man habe ihm gesagt, dass er wohl
zwei bis drei Jahre länger bleiben müsse. Er sei aber bestrebt, seine Nachfolge
rechtzeitig zu regeln. Die Leitung sollte in jedem Falle ein Offizier oder Beam­
ter übernehmen, der mindestens 15 Jahre Erfahrung im Nachrichtendienst
habe. Damit baute Gehlen schon einmal der Möglichkeit vor, dass bei einer
sich abzeichnenden Großen Koalition in Bonn die bisher oppositionellen
Sozialdemokraten eine zivile Spitze des BND verlangen könnten.
Gehlen versicherte dem CIA-Chef nachdrücklich, dass die mehrfache Ver­
schiebung des USA-Besuchs keinen Anlass zu politischen Spekulationen auf
amerikanischer Seite geben solle. Ihm sei klar, dass mancher ihn für einen
Gaullisten halte, der auf Distanz zu den USA bedacht sei. Es lag ihm daran zu
unterstreichen, dass sich nichts an seiner Grundüberzeugung geändert habe,
dass die politische Vereinigung Westeuropas als Teil der atlantischen Gemein­
schaft im gemeinsamen Interesse liege. Vieles, was de Gaulle versuche, ent­
spreche diesem Konzept, manches könne er aber auch nicht billigen, betonte
Gehlen. Critchfield als bester Kenner Gehlens bei der CIA erklärte, dass nie­
mand an den politischen Hintergründen der Terminverschiebung zweifle. Er
teilte Helms mit, dass Gehlen damit rechne, dass sich die Lage Anfang 1967
beruhigen werde und ein Besuch im Februar passend sein könnte. Critchfield
aber nahm den Terminvorschlag nicht ernst. Er sei zwar von Gehlen nicht
autorisiert, diesen Punkt zu erwähnen, aber es habe Gehlen doch sehr irri­
tiert, dass man zur Anbahnung eines Reisetermins den diplomatischen Kanal
benutzt habe. Die Nachfrage des US-Botschafters bei Westrick im Kanzleramt
habe ihn darauf aufmerksam gemacht. Herre habe in diesem Zusammenhang
Gehlen versichert, dass er in seinen fünf Jahren als BND-Resident in Washing­
ton nicht ein einziges Mal erlebt habe, dass der CIA-Chef den Außenminister
zu den Top-Level-Kontakten der Agency einschaltete.601
Der CIA-Stationsleiter in München sprach Mitte November 1966 mit Geh­
len. Es war wieder die übliche Tour d’Horizon, die Gehlen nutzte, um auch
persönliche Meinungen und Interessen von sich zu geben. Den Amerikaner
irritierte natürlich, dass der Präsident des BND abfällige Bemerkungen über
den US-Verteidigungsminister McNamara machte und ihn als kühlen, maschi­

600 Director Info Bonn, 28.10.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh­
len_vol5_10F2, S.65,68.
601 Memo von Critchfield für Director CIA, 9.11.1966, ebd., S. 77-78.

1129
nenhaften Denker bezeichnete, der die Bodenhaftung verloren habe. Gehlen
bemerkte offenbar, dass er über das Ziel hinausgeschossen war, und »flüs­
terte«, dass er die Bemerkung nicht so gemeint habe, wie es geklungen habe.
Der Agent schrieb in seinem Bericht, dass Gehlen die Ressentiments gegen
McNamara vermutlich im Bonner Verteidigungsministerium oder im Auswär­
tigen Amt aufgeschnappt habe. Dann zeigte Gehlen einige Bücher vor, darun­
ter das Produkt der Pullacher Produktion zur Bekämpfung des Weltkommu­
nismus Ost-West-Begegnung in Frage und Antwort. Er war geschmeichelt, dass
der Amerikaner Interesse signalisierte, und verwies anschließend auf ein Buch
über die Exzesse der Roten Armee in seiner schlesischen Heimat bei Kriegs­
ende 1945, auch das ein vom BND unterstütztes Projekt.602
Die Diskussion zielte aber hauptsächlich auf die Situation in Bonn, wo
das Ende der Regierung Erhard kurz bevorstand. Gehlen ging ganz in seinem
innenpolitischen Interessenfeld auf. Bei der bevorstehenden Wahl in Bayern
werde die FDP, die in Bonn die Regierung gesprengt hatte, alles verlieren. Er
verdammte stark die Wiedergeburt eines Neonazismus in der NPD und des­
sen Unterstützung speziell von Vertretern der jüngeren Generation.603 In den
letzten Jahren habe seine Organisation sehr genaue Akten zu den wichtigs­
ten Organisatoren und Unterstützern der NPD angelegt. Nachforschungen
hätten gezeigt, so seine Rechtfertigung gegen den möglichen und berechtig­
ten Einwand, dass es sich hier um das Aufgabenfeld des Verfassungsschutzes
handelte, dass wichtige Unterstützer der Partei von der sowjetischen Ideolo­
gie geprägt seien. Daher könnten sie von den Sowjets für ihre Unterwande­
rungsstrategie benutzt werden. Gehlen nannte einige von ihnen in Bayern, die
Verbindungen zu den Sowjets hätten. In diesem Zusammenhang verwies er
auch auf die Unruhen im italienischen Südtirol, wo deutschtümelnde Rechts­
terroristen Sprengstoffanschläge verübten. Hinter den Aktionen vermutete er
sogleich den Einfluss Moskaus, das mit raffinierten Methoden ebenso bemüht
sei, den sowjetischen Einfluss im Mittleren Osten auszubauen.604
Er begrüßte es, dass in Deutschland alles auf eine Große Koalition hinaus­
laufe. Das sei für die Annahme der Notstandsgesetze sehr günstig. Sein eigenes

602 Memo des Stationsleiters München, 17.11.1966, ebd., S. 80-82, sowie ein weiterer
Bericht vom 17.11.1966, ebd., S. 85-89.
603 Gehlen lag damit ganz auf der Linie des Spiegel, der diese Entwicklung in der Titelge­
schichte in Nr. 49 am 28.11.1966 beschrieb.
604 Aktennotiz der CIA über Aussagen einer Quelle zu einem Gespräch mit Gehlen,
21.11.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_10F2, S. 108.
Gehlen meinte später, dass die deutschen Rechtsradikalen weitgehend von den Sowjets
finanziert würden; siehe Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 4.1.1972, IfZ, ED 100-
68-178.

1130
Kanzler Ludwig Erhard »auf Abruf«,
Spiegel-Titel 43/1966

Verhältnis zu Franz Josef Strauß sei entspannt. Ein großer Freund des Bayern
sei er nicht. Man müsse ihn eben nehmen wie er sei. Der CSU-Chef habe sich in
den letzten zwei Jahren erheblich weiterentwickelt und sich mit Wirtschafts­
fragen befasst. Er verstehe etwas von Finanzen und der Verteidigung und sei
gereift. Es sei ein Irrtum von Willy Brandt, in ihm einen Gaullisten zu sehen.
Auch Strauß sei davon überzeugt, dass Deutschland und Frankreich Zusam­
menarbeiten müssten, aber nicht gegen die USA. Es sei gut, dass die USA auf
diese Weise darauf aufmerksam gemacht würden, dass die NATO nicht ordent­
lich funktioniere. Alle US-Militärs, die nach Europa kommen, hätten schnell
diesen Standpunkt eingenommen. Er selbst habe kürzlich mit Herbert Wehner
gesprochen. Dieser habe gemeint – und wer kenne die Kommunisten besser
als er -, es gebe keinen Anlass, mit der Sowjetunion über das Deutschlandpro­
blem zu reden. Wenn Moskau das wolle, werde es von sich aus die Initiative
ergreifen, aber erst, wenn es Deutschland von allen anderen isoliert habe. Und
dann, so Gehlen, werde man unterhalb des sowjetischen Hemds »the cloven
hoof of the devil« (den gespaltenen Huf des Teufels) sehen.605
Die CIA war in dieser Endphase der Ära Gehlen sehr daran interessiert, nicht
nur etwas über mögliche Nachfolgekandidaten in Erfahrung zu bringen, son­

605 Memo Munich to Bonn, 17.11.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh­
len_vol5_10F2, S. 86 – 87.

1131
dern die Stimmung und Strömungen innerhalb des BND besser einschätzen
zu können. In einem Kontaktbericht über ein Gespräch mit Hans Peter Büch­
ler (DN »Brock«), Resident in Den Haag, wurde dieser mit der Einschätzung
wiedergegeben, Pullach sei bankrott wie immer. Das werde sich nicht ändern,
solange Gehlen an der Spitze sei. Er sehe Gehlen alle drei Monate, wenn er
seinen Besuch in München mache. Beim letzten Mal sei er erschrocken gewe­
sen, wie schnell Gehlen altere. Dieser sei darum besorgt, nicht als Strohmann
der Amerikaner zu gelten, und die Positionen, die er gelegentlich einnehme,
dienten nur dazu, zu zeigen, dass er keiner sei. Es hänge von der Größe des
Publikums ab: Vor einer größeren Zahl von Deutschen betone er gern und laut,
dass er keine amerikanische Marionette sei, unter vier Augen mit dem US-
Verbindungsoffizier spreche er dann anders. Büchler meinte, Gehlen werde so
lange im Dienst bleiben, wie noch ein Atemzug in seinem Körper sei. Er habe
sogar den kranken Worgitzky als Vizepräsident behalten, um ein Aufkommen
der Nachfolgefrage zu verhindern. Gehlen habe kürzlich gute Beziehungen zum
baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger, der am
1. Dezember Nachfolger von Erhard als Kanzler werden sollte, aufgebaut und
zu Dr. Hans Berger, dem früheren Botschafter in Den Haag, der jetzt Leiter des
Präsidialbüros sei,606 ebenso zu seinem alten Feind Strauß. Seine guten Bezie­
hungen zu Heinrich Krone seien abrupt in den letzten Tagen der Regierung
Erhard abgebrochen, weil Krone versucht habe, eine Reihe von Pullacher Offi­
zieren zu überreden, für ihn zu arbeiten. Mors werde nach Spanien gehen, da er
seinen Hass auf Gehlen in Pullach so laut hinausposaunt habe, dass sogar die
Putzfrauen es mitbekommen hätten und Gehlen ihn hinausgeworfen habe.607
Anscheinend blieb Gehlen das gesteigerte Interesse der CIA an seiner
Person nicht verborgen, denn er ließ um die Identifizierung eines Fahrzeugs
mit USAREUR-Kennzeichen bitten, das sich auffällig lange in der Umgebung
seiner Wohnung aufgehalten hatte. Der zuständige CIA-Agent notierte dazu,
dass Gehlen extrem empfindlich gegenüber einer möglichen Überwachung sei
und jedes Mal solche Anfragen stelle, wenn sich Fahrzeuge längere Zeit in sei­
ner Umgebung aufgehalten haben. In einem anderen Falle habe ihm Gehlen
erklärt, mehr in Sorge denn in Angst, er wisse, dass die CIA ihn schon einmal
überwacht habe.608
Ende November 1966 lief die formale Bewilligung der Verlängerung seiner
Amtszeit problemlos im Bundespersonalausschuss durch. Der Chef des Kanz­
leramts begründete den Antrag damit, dass für die »souveräne Führung des

606 Hans Berger war seit 1965 Chef des Bundespräsidialamts.


607 Kontaktbericht vom 17.11.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh­
len_vol5_10F2, S.83-84.
608 Munich an Frankfurt Info Director, 22.11.1966, ebd., S. 94.

1132
komplizierten Instruments« derzeit kein vergleichbarer Nachfolger für den
Präsidenten zur Verfügung stehe609 – was insofern korrekt war, als Wessel noch
in Washington gebunden war und man von einer längeren Einarbeitungsphase
in Pullach ausgehen konnte. In der turbulenten Situation in Bonn beim Schei­
tern von Erhards Kanzlerschaft hatten auch die Fraktionsvorsitzenden der
Bundestagsparteien, die sich routinemäßig zu einer Sitzung des Parlamenta­
rischen Vertrauensmännergremiums trafen, wenig Interesse an der Nachfolge
Gehlens. Dieser hielt einen Vortrag über die Bearbeitung und Bewertung von
Meldungen, zu Nachwuchsfragen, berichtete zum deutschen Verhältnis zu den
USA und zu Frankreich. Dann kam es doch zu einer Diskussion, die öffentliche
Kritik am BND aufgriff. Gehlen war gezwungen, die ungewöhnlich umfangrei­
che Beschäftigung von Familienangehörigen zu rechtfertigen und Maßnahmen
zur Verhinderung von Nepotismus zu beschreiben. Die SPD-Vertreter drangen
darauf, bei Personalentscheidungen den Personalrat stärker zu beteiligen. Mit
dem »Kummer«-Briefkasten allein sah man die Mitbestimmung der Beschäf­
tigten nicht ausreichend gesichert.610
Fünf Tage später erklärte Ludwig Erhard seinen Rücktritt als Bundeskanz­
ler. Nachfolger Kurt Georg Kiesinger (CDU) bildete – wie Gehlen erwartet und
erhofft hatte – eine Große Koalition mit den bisher oppositionellen Sozial­
demokraten. Willy Brandt wurde Außenminister, der bisherige Amtsinhaber
Gerhard Schröder übernahm das Verteidigungsressort. Kai-Uwe von Hassel
wurde als Vertriebenenminister abgeschoben. Heinrich Krone, bisher wich­
tigster Ansprechpartner Gehlens, wurde nicht wiederverwendet. Gehlen, der
zu Kiesinger bereits einen persönlichen Kontakt aufgebaut hatte, fand sich
also gegenüber der politischen Spitze in einer wesentlich veränderten Situa­
tion. Auch im Kanzleramt gab es einen Wechsel. Westrick, zu dem Gehlen nie
ein vertrauensvolles Verhältnis gefunden hatte,611 war ausgeschieden. Neuer
Staatssekretär wurde der Rüstungsmanager Werner Knieper.
Auch wenn es schon lange nicht mehr das enge Verhältnis wie zu Zeiten
Globkes war, das Gehlen mit dem Kanzleramt verband, auf den jetzt zuständi­
gen Referenten Koester glaubte er sich verlassen zu können. Dieser legte Kanz­
ler Kiesinger bei seinem Amtsantritt ein Memorandum vor, in dem er den BND
vorstellte und betonte:

609 Antrag Chef Bundeskanzleramt an Bundespersonalausschuss, 24.11.1966, VS-Registra­


tur Bka, Personalakte Gehlen.
610 Aufzeichnung über die Sitzung des Vertrauensmännergremiums am 25.11.1966, VS-
Registratur Bka, Bk 152 05, Bd. 2.
611 Später urteilte Gehlen milde über Erhard und Westrick. Sie seien gutwillig und ihm
gegenüber sehr anständig gewesen; siehe Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich,
31.1.1972, IfZ, ED 100-68-164.

1133
Werner Knieper (rechts im Bild) wird von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zum Staats­
sekretär ernannt, 1966.

Der Umfang der beim BND vorhandenen Erkenntnisse und seine geheim­
dienstlichen Möglichkeiten machen ihn zu einem auch innenpolitisch bedeut­
samen Machtinstrument, das deswegen keinem anderen Politiker als dem
Regierungschef selbst unterstellt sein sollte.

Das vom BND übermittelte Lagebild durchlaufe nicht den Filter der Ressorts
und biete daher eine unabhängige politische Entscheidungsgrundlage. Der
BND sei die größte einheitliche Bundesbehörde, deren Rechtsstellung im
Behördenaufbau umstritten sei, derzeit sei er gegen Gehlens Einwendungen
formell dem Kanzleramt unterstellt. Die Praxis aber zeige, dass man den BND
nicht wie andere nachgeordnete Behörden behandeln könne, auch wenn er
angesichts seiner politischen Bedeutung nicht die Stellung einer den Bundes­
ministerien gleichgeordneten obersten Bundesbehörde erhalten könnte. Geh­
len sei einverstanden, die Rechtsfrage offenzulassen und dem BND eine den
tatsächlichen Erfordernissen entsprechende Stellung einzuräumen. Die in
Vorbereitung befindlichen »Allgemeinen Richtlinien für den BND« sollten das
künftig regeln.612

612 Vorlage vom 1.12.1966 und Entwurf vom 25.7.1967, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 375-380.

1134
Als Gehlen selbst bei seinem ersten mündlichen Vortrag mit Kanzler Kiesin­
ger sprach, verwies er auf seine anstehende Pensionierung im April 1967 und
schlug vor, dass er spätestens im Frühjahr 1968 in den Ruhestand treten sollte,
um seine Nachfolge nicht in den folgenden Bundestagswahlkampf hineinzu­
ziehen.613 Dazu bedurfte es freilich noch der Zustimmung des Kabinetts, die
vor allem aufseiten der SPD geklärt werden musste. Der Fraktionsvorsitzende
Fritz Erler hatte Gehlen stets respektiert und ihm den Rücken freigehalten. Er
war aber bei der Regierungsbildung bereits so schwer krank, dass der jüngere
Helmut Schmidt die Geschäftsführung der Fraktion übernehmen musste. Erler
starb drei Monate später, ein schwerer Verlust sicher auch für Gehlen, der auf
den ehemaligen politischen Häftling im Dritten Reich gesetzt hatte.
Das sporadische Verhältnis zu Helmut Schmidt blieb beiderseits spröde
und distanziert. Schmidt bediente sich – sofern sie ihm brauchbar erschie­
nen – der Informationen aus Pullach, aber Reinhard Gehlen blieb ihm äußerst
suspekt.614 Im Koalitionspoker wollte niemand eine rasche Entscheidung für
eine Verlängerung der Amtszeit bzw. die Nachfolge Gehlens erzwingen, auch
die SPD nicht. Es hatte sich nach dem Regierungswechsel ein enttäuschter
Angehöriger aus der BND-Zentrale bei einem SPD-Bundestagsabgeordneten
des Innenausschusses gemeldet, um sich über die Arbeitsbedingungen in Pul­
lach zu beschweren. Das betraf insbesondere den Nepotismus von Gehlen.
Er könne 32 Familienangehörige von ihm benennen, die auf der Gehaltsliste
von Pullach stünden, und sei bereit, im Innenausschuss dazu auszusagen.
Die SPD habe aber beschlossen, so die Informationen der Amerikaner, nichts
während der gegenwärtigen politischen Reorganisation der Regierung zu
unternehmen.615
Nach Kenntnis der Amerikaner hielt man im Bonner Verteidigungsminis­
terium vorerst die Absicht zurück, die militärische Auswertung aus Pullach
ins Ministerium zu ziehen – bis nach der Pensionierung Gehlens.616 Erst dann
würden wohl die Karten neu gemischt werden können. Wessel als wahrschein­
licher Nachfolger, so glaubte offenbar Admiral Poser, wäre hier vermutlich auf­
geschlossener als der verstockte Gehlen. Der neue Verteidigungsminister Ger­

613 Gehlen, Der Dienst, S. 248.


614 Interview des Autors mit Helmut Schmidt am 17.2.2011. So wurde Gehlen zum Beispiel
darüber unterrichtet, dass Schmidt Meldungen über sowjetische Truppenverlegungen
aus der »SBZ« an die chinesische Grenze gegenüber Medien für glaubwürdig hielt und
dabei angab, »er werde sich sofort beim BND danach erkundigen«; Persönliche Unter­
richtung Gehlens, 25.7.1966, BND-Archiv, N 13/21.
615 Fernschreiben Director Info Germany, 6.12.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol5_10F2, S. 102.
616 Bericht des Verbindungsoffiziers USAREUR in Bonn, 2.12.1966, ebd., S. 128.

1135
hard Schröder, bisher ambitionierter Außenminister, dürfte sich für Reinhard
Gehlen nicht sonderlich interessiert haben, dessen Gutachten und Stellung­
nahmen schon in der Vergangenheit im Auswärtigen Amt mit großer Skepsis
gelesen worden waren.
In seinem Rundbrief anlässlich des Jahreswechsels formulierte Gehlen im
Dezember 1966, also vor Beginn des letzten Jahres seiner Dienstzeit im BND,
seinen Gruß an die Mitarbeiter mit nüchternen, altbackenen Worten. Es sei
eine »für uns alle bewegte und ernste Zeit. Entscheidungen von weittragender
politischer Bedeutung sind gefallen, andere Fragen stehen noch im Raum und
verlangen eine Lösung.« Und er beschwor die »altbewährte unermüdliche Ein­
satzbereitschaft und aufopfernde Pflichterfüllung«, die im vergangenen Jahr
wieder zu guten Leistungen geführt habe.617 Gerade die Jüngeren dürften sich
mehr Schwung von dem »Alten« erwartet haben oder hatten bereits resigniert
und hofften auf einen baldigen Neubeginn im BND.
Auch die amerikanischen Partner hatten sich längst auf den bevorstehen­
den Wechsel in Pullach eingestellt. Ihr Verhältnis zu Gehlen blieb geprägt von
der Dankbarkeit für seine Verdienste in der Vergangenheit und einer inzwi­
schen gewachsenen Distanz zu einer »lame duck«, die begonnen hatte, selbst­
bezogen in Erinnerungen zu schwelgen. Der Chef der Münchener CIA-Verbin­
dungsstelle erlebte Gehlen bei der Weihnachtsparty. Während seiner kurzen
Ansprache habe dieser den Chief Germany, der ihm direkt gegenüber am Tisch
saß, mehr auf Deutsch als Englisch angesprochen. Er habe sich für die enge
Zusammenarbeit und Freundschaft bedankt. Sie habe es möglich gemacht,
auch von Zeit zu Zeit unterschiedlicher Meinung zu sein, in einigen Fällen
sogar sehr ernsthaft. Zur politischen Lage meinte Gehlen, er sei angesichts
der anstehenden großen Probleme stets für eine Große Koalition gewesen. Er
sprach seinen Dank auch im Namen seiner Ehefrau aus, die seit vielen Jahren
zum ersten Male wieder bei einer solchen Veranstaltung anwesend war. Im
Laufe des Abends schien Gehlen die Feier zu genießen. Während seine drei
anwesenden Mitarbeiter mit ihren Frauen gegen Mitternacht einander ansa­
hen und darauf warteten, dass einer das Signal für die Abreise gab, machte
Gehlen keinerlei Anstalten dazu und erzählte eine Reihe von Kriegserinne­
rungen, unter anderem das Lob Heusingers, der ihm bestätigt habe, dass der
Krieg gegen Jugoslawien sein Krieg gewesen sei, den er mit zwei, drei Gehilfen
an einem 24-Stunden-Tag vorbereitet habe. Gehlen und seine Frau hätten das
Haus dann erst gegen 1.30 Uhr verlassen.618

617 Rundbrief Gehlens vom Dezember 1966, Kopie in der Beschreibung seines Nachlasses,
BND-Archiv, N 13.
618 Bericht über die Weihnachtsparty, 21.12.1966, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol5_10F2, S. 104-105.

1136
»Verräter im Führerhauptquartier«
titelt der Spiegel am 16. Januar 1967.

Die Erinnerung an die Vergangenheit nahm bei Reinhard Gehlen, je näher


der Tag seiner Verabschiedung rückte, einen wachsenden Platz ein, aller­
dings nicht im Sinne einer kritischen Reflexion, dafür fehlte ihm in Pullach
ohnehin die Zeit. Eventuelle Erwartungen seiner Umgebung und Gesprächs­
partner, die von ihm als Zeitzeugen an höchster Stelle Aufklärung erhoffen
mochten, musste er enttäuschen, weil sich seine Erinnerungen an den Krieg
immer stärker verhärteten. Dem Autor Sven Steenberg, der ein Buch über die
Wlassow-Bewegung schreiben wollte und auf deutscher Seite selbst zu den
ehemaligen Aktivisten gehört hatte, konnte er kaum mit konkreten Hinwei­
sen dienen, wohl aber mit der für Gehlen sicheren Erkenntnis: »Nach meiner
Auffassung – abgesehen von der Frage, ob man den Krieg hätte beginnen sol­
len – war der Feldzug gegen Russland durchaus zu gewinnen, wenn man ihn
politisch geführt hätte mit dem Ziel, eine freies und demokratisches Russland
zu schaffen, aber nicht mit dem Ziel, das russische Volk zu vernichten.«619 Mit
dieser fragwürdigen Meinung wollte er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch
nicht an die Öffentlichkeit treten.
An Gespenster der Vergangenheit, die für Gehlen gleichwohl immer noch
unter den Lebenden weilten, erinnerte ein Schreiben, dass Gehlen von Wil­
helm Ritter von Schramm erhielt. Der Militärschriftsteller, ehemals in der

619 Schreiben Gehlens an Steenberg, 9.3.1967, BA-MA, MSg 2/17810.

1137
Wehrmachtpropaganda tätig, arbeitete an einem Buch über Verrat im Zwei­
ten Weltkrieg. In diesem Zusammenhang hatte er sich auch mit Gehlens
Lieblingsfeind, der ominösen »Rote Kapelle«, befasst. Alarmiert durch eine
große Titelgeschichte des Spiegel, die über den Sowjetspion Rudolf Rößler
berichtete, der als Agent Moskaus während des Zweiten Weltkriegs in der
Schweiz galt und deshalb dort 1945 sowie 1953 (wegen Spionage für die Tsche­
choslowakei) verurteilt worden war, wollte Schramm mit Gehlen über seine
Vermutung sprechen, dass Hans Oster der eigentliche Verräter gewesen sei,
der Informationen von Canaris an die Schweiz gegeben habe. Gehlen, bei dem
Schramm mit dieser Story, die auch vom Spiegel kolportiert wurde,620 offene
Türen für seine Spekulationen fand, begrüßte die Recherchen. Im Verrats­
fall Rößler hätten »unberufene Sensationsjäger und Geschäftemacher soviel
Unsinniges an die Öffentlichkeit gebracht«. Seit Gehlen die »Rote Kapelle«
1956 zur Chefsache gemacht hatte und die Recherchen eingestellt worden
waren, glaubte selbst in Pullach kaum noch jemand an dieses Gespenst.
Gehlen betonte jetzt, dass sein eigener Dienst ganz durch die Gegenwarts­
aufgaben ausgelastet sei. Es bleibe dem Historiker überlassen, entsprechend
weitläufige Forschungen zu unternehmen. Er selbst würde sich aber gern
gelegentlich mit Schramm darüber unterhalten, weil sie immer noch für die
Gegenwart bedeutsam seien621 – so ganz wollte Gehlen also nicht von der
Geschichte lassen. Noch als Pensionär setzte er mit privaten Mitteln die
Suche nach verdeckten Topspionen fort.
Ob damit eine von Gehlen angeordnete Sammlung von Hinweisen auf »Ost­
kontakte« des Spiegel im Zusammenhang stand, die in diesen Tagen von Kurt
Weiß vorgelegt wurde, muss offenbleiben. Sehr viel handfester waren Meldun­
gen von Weiß, die Gehlen Freude gemacht haben dürften. So hatte der kongo­
lesische Ministerpräsident Tschombe bereits eine finanzielle Unterstützung in
Höhe von 500.000 D-Mark erhalten, und nach Abstimmung mit der Bundesre­
gierung war vorgesehen, zusätzlich 350.000 D-Mark durch den BND weiterzu­
reichen.622 Des Weiteren ließ der Sultan von Yogyakarta Grüße und Geschenke
übermitteln,623 ein später Dank für die Unterstützung bei der Bekämpfung des
kommunistischen Aufstands in Indonesien. Ob Gehlen damit ähnlich wert­

620 Lucy contra OKH, Spiegel 12/1954 vom 17.3., S. 20-27, Schweizerische Eidgenossen­
schaft contra Lucy, Spiegel 14/1954 vom 31.3., S. 29 – 33. Der exildeutsche Publizist Röß­
ler mit Kontakten zum linkskatholischen Milieu sowie zur Militäropposition im Dritten
Reich belieferte im Krieg die Alliierten und die Sowjetunion.
621 Schriftwechsel Gehlens mit Ritter von Schramm vom 7.12.1966 und 16.1.1967, BA-MA,
N 633/3.
622 Notiz vom 18.1.1967, BND-Archiv, N 10/14.
623 Vortrag von Weiß bei Gehlen, 30.1.1967, ebd.

1138
Willy Brandt und Günter Guillaume (im Hintergrund links) bei einer Betriebsversammlung
der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke in Helmstedt, April 1974

volle Preziosen mit nach Hause nehmen konnte wie bei der Entgegennahme
des goldenen Schwertes vom saudischen König, ist nicht bekannt.
Der geheime Krieg, den er in seinem Verständnis noch immer mit der
UdSSR führte, nahm ihn als ein Hauptmotiv seines Lebenswerkes immer wie­
der gefangen und regte ihn mehr denn je dazu an, die Rolle des Mahners vor
sowjetischer Desinformation und Unterwanderung zu spielen. Dem Leiter der
Münchener CIA-Basis erklärte Gehlen seine großen Sorgen. Es war aber letzt­
lich das bekannte Lied von den angeblichen Versuchen, Agenten in einflussrei­
chen Positionen westlicher Regierungen zu platzieren (von dem Aufstieg des
DDR-Agenten Günter Guillaume an die Seite von Willy Brandt wusste Gehlen
zu diesem Zeitpunkt noch nicht), der Penetration linker und rechter Parteien
sowie des Schürens von Gegensätzen im Westen.
Während die Amerikaner einigermaßen besorgt die wachsende außerpar­
lamentarische Opposition der Studentenbewegungen in der Bundesrepublik
beobachteten, zeigte sich Gehlen in dieser Hinsicht gelassen. Die Ausnutzung
von Studenten, Gewerkschaften und anderen Gruppen sei ein traditionelles
Instrument im Ost-West-Konflikt. Er vertraute darauf, dass es mit der Verab­
schiedung der Notstandsverfassung vorangehen werde, und sagte dem CIA-
Agenten zu, ihm demnächst einen Auszug aus dem Anhang über die Kontrolle
der Fernmeldeverbindungen übermitteln zu können, die für die Amerikaner
von besonderer Bedeutung war. Zu dem Streit in der Bundesrepublik über
einen möglichen Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag, über den auf inter­
nationaler Bühne verhandelt wurde, hatte Gehlen seine eigene Meinung. Er
glaube, dass ein Beitritt die friedliche Nutzung der Atomkraft in Deutschland

1139
behindern werde. Er wäre zudem ein ernsthaftes Hindernis bei der Bildung
einer europäischen Atomstreitmacht, die für die Gewährleistung der Sicher­
heit Westeuropas wichtig sei. Außerdem mache ihn und andere Verantwortli­
che in der Bundesrepublik das weltweite Engagement der USA, insbesondere
in Südostasien, besorgt. Es bestehe die Gefahr, dass die Amerikaner deswegen
auf Veränderungen in Europa nicht reagieren könnten. Versöhnlich stimmte
ihn die Nachricht, dass Critchfield zu einem Besuch nach München kommen
wolle. Sein ehemaliger amerikanischer Chef und Aufpasser war für Gehlen
bereits zu einer sentimentalen Erinnerung geworden. Critchfield, so meinte
er, habe damals einen exzellenten Job gemacht und sei in Pullach sehr beliebt
Er selbst sah freilich keine Möglichkeit, der ein halbes Jahr zurückliegenden
Einladung von CIA-Chef Helms zu einer USA-Reise nachzukommen. Seine
Gegner in der neuen Regierung hinderten ihn angeblich daran, längere Zeit
wegzubleiben.624
Die Verknüpfung der ungeklärten Nachfolgefrage mit dem Andauern öffent­
licher und interner Kritik an den Verhältnissen im BND machte ihm selbst­
verständlich am meisten zu schaffen. Die Erfolgsaussichten für seine Absicht,
mit der Parole Kontinuität in den Ruhestand zu treten, schwanden rapide.
Ein Artikel von Spiegel-Verlagsleiter Hans Detlev Becker in der einflussrei­
chen Wochenzeitung Die Zeit machte kurz vor seinem 65. Geburtstag, zu dem
eigentlich sein Abschied anstand, auf das Dilemma aufmerksam. Der aktuelle
Wechsel an der Spitze des BfV habe »personelle Integration und Kontinuität«
bewirkt, schrieb Becker, zu dem Gehlen ein langjähriges gutes Verhältnis hatte.
Die Verlängerung um ein Jahr mache den »alleinigen Schöpfer des Bundes­
nachrichtendienstes« zum Präsidenten auf Abruf. Gehlen sei eigentlich nicht
ersetzbar. Ein adäquater ziviler Nachfolger sei nicht in Sicht. Die Ära des von
Generalstabsoffizieren geprägten BND neige sich aber dem Ende zu. Umso
bedenklicher erscheine die Bonner Indolenz gegenüber den personellen, orga­
nisatorischen, rechtlichen und operativen Problemen der Geheimdienste.625
Wenn Gehlen »Gegner« in der neuen Regierung sehen wollte, die ihn
zwängen, unbedingt in Pullach präsent zu sein, hoffte er wohl darauf, solche
Widerstände persönlich überwinden zu können. Damit hätte er freilich seine
längst geschwundenen Einflussmöglichkeiten in Bonn überschätzt. Eine nicht
unwichtige Rolle spielten bei dem ganzen Vorgang natürlich die Amerikaner,
deren Schöpfung der BND war und die ein erhebliches Interesse daran haben
mussten, einerseits die Kontinuität enger partnerschaftlicher Beziehungen

624 Memo des Chief Munich Liaison Base über das Gespräch mit Gehlen, 9.3.1967, NA
Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen vol.5_20F2, S. 7-8.
625 Hans Detlev Becker, Gehlen – Chef auf Zeit, Zeit 10/1967 vom 10.3., S. 3.

1140
zwischen CIA und BND zu bewahren, andererseits den nicht unberechtigt in
die Kritik geratenen deutschen Dienst zu ertüchtigen, unter veränderten poli­
tischen Verhältnissen »moderner« zu werden und aus den Schlagzeilen zu ver­
schwinden. Dass hinter der Fassade freundlichen Wohlwollens die CIA Gehlen
als verbraucht betrachtete, steht außer Zweifel. Und auch aus ihrer Sicht stand
mit Wessel ein geeigneter Nachfolger in Bereitschaft. So blieb die SPD als neue
Regierungspartei mit ihrem Anspruch auf grundlegende Reformen beim BND
und eine Spitzenposition mit einem Nichtmilitär zu besetzen.
Es werden wohl aus dieser Ecke die CIA Informationen eines »Bonner
Offiziellen« erreicht haben, der davon ausging, dass auch die US-Regierung
unterrichtet werden würde. Der BND, hieß es hier, habe erhebliche interne
Schwierigkeiten. Jüngere Stabsangehörige beklagten, dass Gehlen seit der
Felfe-Affäre dazu neige, sich mit den alten Kameraden von FHO und nahen
Verwandten zu umgeben. Diese Form des Nepotismus und das damit verbun­
dene Missmanagement hätten die Moral des mittleren Führungskorps stark
beeinträchtigt.626 Zu dessen Unzufriedenheit hätten Stabsmitarbeiter Bonner
Parlamentarier eingeschaltet, und Staatssekretär Friedrich Schäfer vom Bun­
desratsministerium habe Staatssekretär Knieper vom Kanzleramt über die
Missstände unterrichtet. Nach einer ersten Überprüfung habe Knieper Kanzler
Kiesinger informiert, der Gehlen am 14. März nach Bonn beordert habe. Dane­
ben versuche Admiral Poser, die militärischen Elemente des BND ins Vertei­
digungsministerium zu holen. Die Sorge Kiesingers sei es, einen geeigneten
Nachfolger für Gehlen zu finden. Vize Wendland und Abteilungsleiter Dethleff­
sen seien auf ihren Gebieten zwar fähig, aber nicht umfassend genug, um die
Präsidentenposition auszufüllen. Wessel gelte zwar als möglicher Kandidat, sei
aber nach seiner Berufung in den Ständigen Militärausschuss in Washington
erst einmal weg vom Fenster.627
Für die Amerikaner kam auch ein anderer in Betracht. Admiral Poser hatte
seinen Besuch in Washington angekündigt. Dort hielt man es für möglich,
dass wegen der Schwierigkeiten Gehlens mit der Kiesinger-Regierung Poser

626 Im Hintergrund arrangierte Gehlen zu diesem Zeitpunkt die Unterbringung seiner


Nichte Christine, der Tochter von Johannes. Sie sollte abgedeckt durch eine Tarn­
firma des BND als Korrespondentin für Magali von Brentano arbeiten, eine Nichte des
früheren Außenministers Heinrich von Brentano (siehe Vortrag Weiß bei Gehlen am
10.3.1967, BND-Archiv, N 10/4). Magali war eine gute Bekannte und Bewunderin von
Gehlen, die in dritter Ehe einen Priester geheiratet hatte und deshalb aus Rom geflüch­
tet war. Jetzt langweilte sie sich in Bonn und wollte wieder nach Rom zurück. Dort lag
die Verbindung mit Christine Gehlen nahe. Siehe hierzu auch Franceschini/Wegener
Friis/Schmidt-Eenboom, Spionage.
627 CIA-Report vom 15.3.1967, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol5_10F2, S. 135-137.

1141
Chef des BND werden könnte. Gehlen werde von vielen in Bonn kritisiert, und
Poser sei bestrebt, den militärischen Teil aus Pullach herauszulösen. Deshalb
könnte er vielleicht ein Kompromisskandidat sein und verschiedene Richtun­
gen zufriedenstellen.628 Für den immer wieder diskutierten Besuch Gehlens
in Washington hatte man inzwischen keine konkreten Vorbereitungen mehr
getroffen.629 Hier glaubte vermutlich niemand mehr daran, dass der alte BND-
Chef seine Zusage im letzten Jahr seiner verlängerten Dienstzeit noch einhal­
ten würde.
In Pullach sprach der CIA-Vertreter mit Oberst Rudolf Graeber (DN »Peter­
sen«). Wie gewöhnlich, so notierte der Agent, habe dieser nicht sehr freundlich
über seinen Chef gesprochen. Auf die Frage, ob die gegenwärtige Verlängerung
Gehlens erneut verlängert werden könnte, meinte Graeber, er fürchte es, hoffe
es aber nicht. Gehlen sei eine »lame duck«. Die gegenwärtige Situation sei völ­
lig untragbar. Die Verlängerung sei notwendig gewesen, weil die neue Regie­
rung nicht die Zeit aufgebracht habe, einen Nachfolger zu finden. Eine wei­
tere Verlängerung wäre für den Dienst eine Katastrophe. Solange die höheren
Beamten damit rechneten, dass Gehlen in den Ruhestand geht, könne dieser
keine effektive Führung leisten. Von seinem Eindruck als Chef des Stabes der
Beschaffung könne er sagen, dass Gehlen nicht mehr das Kommando habe,
zumindest operationell. Weil im Apparat innere Auseinandersetzungen und
Positionskämpfe stattfänden und eine effektive Führung fehle, sei sie dem Ver­
waltungschef in die Hände gefallen, der vorher für die Finanzen zuständig war.
Deshalb funktioniere in Pullach nur noch die Bürokratie.
Zum Nachfolgeproblem hatte Graeber keine Informationen, sondern
nur Meinungen. Als der Amerikaner den Namen General Wessel fallen ließ,
meinte Graeber, unglücklicherweise sei dieser nicht mehr Kandidat. Er hätte
sich gewünscht, dass Wessel den Job vor fünf Jahren bekommen hätte, dann
wäre der Schweinestall gründlich gesäubert worden (»he would have cleaned
that pigsty thorougly«)«. Am besten wäre es, wenn einer von auswärts käme,
denn einer aus der Organisation wäre zu sehr mit Gehlens Machenschaften
verbunden oder würde sich die Feindschaft seiner Kollegen zuziehen, wenn
er etwas grundlegend ändern würde. Nur ein Außenseiter könnte seine eigene
Politik machen. Über zehn Prozent der höheren Beamten und Offiziere, die
sich Hoffnungen auf den höchsten Posten in Pullach machen, seien selbst
bereits so alt, dass sie nur noch wenige aktive Jahre vor sich hätten. Ein Neuer
sollte mindesten fünf Jahre Zeit haben. Nehme man einen sehr jungen Mann,

628 Memo Chief European Division für Deputy Director Plans, 23.3.1967, NA Washington,
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_20F2, S. 6.
629 Schreiben Vice Admiral Rufus Taylor, US-Navy Deputy Director, an Rear Admiral E.B.
Fluckey, Director of Naval Intelligence, Department of the Navy, 27.3.1967, ebd., S. 10.

1142
hätte dieser mehrere Dutzend ältere, hochrangige Mitarbeiter unter sich, was
zu einem großen Handikap werden könnte. Dieser Punkt werde in Pullach auf
allen Ebenen diskutiert und – so Graeber – seine Meinung repräsentiere einen
Konsens der großen Mehrheit von Offizieren, die sich keine Hoffnungen auf die
Spitzenposition machen könnten.630
Diese Riege älterer Offiziere, die Gehlen nun einmal repräsentierte, war
den Amerikanern ohnehin ein Dorn im Auge. Die CIA hatte zum Beispiel gro­
ßes Interesse, eine bessere Quellenbeschreibung seiner Agenten zu erhalten.
Solange Gehlen im Amt sei, so die Reaktion von General Krause, Inspekteur
des BND, werde er sich auf eine formelle Zusammenarbeit bei den Operationen
beschränken. Alles andere würde auf eine Mauer der älteren Offiziere stoßen,
die höchst sensibel wegen der früher dienenden Funktion der Org seien. Sie
wollten die neu gewonnene Unabhängigkeit aufrechterhalten, auch wenn das
unproduktiv sei. Krause nahm an, dass die CIA eine Menge wichtiger Informa­
tionen über die UdSSR und den Ostblock habe, die aber Pullach nicht erreich­
ten – bis man sich über eine grundlegende Änderung in der Zusammenarbeit
verständigt hätte, was aber unter der gegenwärtigen Führung in Pullach nicht
möglich sei.631
Aus Washington kamen freundliche Glückwünsche zu Gehlens 65. Geburts­
tag, zugleich mit der Bestätigung für ihn, dass man seine Verlängerung
begrüßte, aber man erinnerte auch an das von ihm zugesagte Treffen in den
USA.632 Wessel hielt sich bei diesem Anlass respektvoll zurück. Man hätte es
Gehlen nicht verdacht, wenn er an diesem Tage die Leitung nach 22 Jahren
abgegeben hätte. Umso größere Achtung und Dankbarkeit rufe Gehlens Ent­
schluss hervor, in dieser Zeit ungewisser innerer und äußerer Entwicklungen
die Verantwortung weiterhin zu tragen.633
Staatssekretär Knieper, der als Chef des Kanzleramts Gehlens Vorgesetz­
ter war, erinnerte in seinen Geburtstagsgrüßen daran, dass er selbst Geh­
lens Tätigkeit zum ersten Male begegnet sei, als er gegen Kriegsende Dienst
im Wehrmachtführungsstab geleistet habe. Obwohl Gehlen Knieper für eine
»Null« hielt,634 betonte er in seinem Antwortschreiben, dass nach 1945 eine
Gemeinschaftsarbeit von Persönlichkeiten geleistet worden sei, »die dem alten
deutschen Beamtentum bester Prägung und dem deutschen Offizierskorps

630 Chief Munich Liaison Base an Chief Europe, 27.3.1967, ebd., S. 15-16.
631 Bericht Munich über ein Gespräch mit Brigadegeneral Herbert Krause, 17.5.1967, ebd.,
S. 30-31.
632 Chief Europe an Chief Munich Base, 30.3.1967, ebd., S. 12-13.
633 Entwurf eines Schreibens von Wessel an Gehlen, 30.3.1967, BND-Archiv, N 1/138,
Blatt 166.
634 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 23.12.1971, IfZ, ED 100-69-136.

1143
Reinhard Gehlen im Ordensschmuck, 1967

entstammten«. Er hoffe sehr, »daß es trotz aller politischen Aufweichung in


der Bundesrepublik gelingen wird, wie auch in anderen Spitzenbehörden so
im Bundesnachrichtendienst den Standard zumindest im Bereich der höheren
Beamten und der dem Dienst angehörenden Offiziere zu halten«. Bei dieser
unbescheidenen Selbsteinschätzung wollte er immerhin einräumen, dass es
im BND vielfältige Probleme gebe, deren Lösung wohl eine ganze Zeit brau­
chen werde.635 So viel versöhnliche Erinnerung mag Knieper dazu ermutigt
haben, bereits mit Blick auf die Verabschiedung übers Jahr das Bundesver­
dienstkreuz mit Stern und Schulterband zu beantragen, eine Stufe höher als
es bei Ministerialdirektoren üblich war. Zur Begründung hieß es dann später,
dass Gehlen im unermüdlichen Einsatz seine Dienstpflichten tadellos erfüllt
habe. Gehlen erhielt in den nächsten Monaten eine Reihe weiterer Orden im
Rahmen der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit, so den Orden Tadj
Homayoun, Stufe 2, vom iranischen Schah, und vom Präsidenten der Somali­
schen Republik das Komturkreuz des Ordens vom Somalischen Stern.636
Auch Gehlen selbst hatte seine Verabschiedung bereits im Blick, als er durch
Kurt Weiß einige Journalistenbesuche vorbereiten ließ. Es galt offenbar, seinen

635 Schreiben Kniepers an Gehlen vom 3.4.1967 und Antwort Gehlens vom 6.4.1967, VS-
Registratur Bka, Personalakte Gehlen.
636 Siehe Urkunden vom 9.6. und 12.12.1967, ebd.

1144
Ruf in der Öffentlichkeit zu verbessern. Er schätzte Willke, blieb gegenüber
Henri Nannen, dem Chefredakteur des Stern, aber sehr skeptisch und sah ein,
dass die Ablehnung eines Besuchstermins schwierig sein würde. Ähnlich uner­
wünscht, aber schwierig abzuweisen war Werner Friedmann, der Chefredak­
teur der Süddeutschen Zeitung. Kritisch sah Gehlen auch den Chefredakteur
der Illustrierten Quick Heinz van Nouhuys, dem er gleichwohl einen baldigen
Termin gewährte. Ansonsten hatte Weiß wieder erfreuliche Botschaften aus
Indonesien und von der Verbindung »Rotraut«, der jungen Dame aus Schwa­
bing.637 Er bewertete den bereits erwähnten Artikel von Hans Detlev Becker
in der Zeit ebenso positiv wie das Interesse des Spiegel, den ehemaligen BND-
Mitarbeiter Adolf Wicht für die eigene Auslandswerbung zu beschäftigen.638
Der Tod von Konrad Adenauer am 19. April 1967 hat Gehlen allem Anschein
nach nicht sonderlich bewegt. Stattdessen sprach er lange mit Herre, um dem
CIA-Chef einige Botschaften überbringen zu lassen. Die Nachfolge für die
BND-Präsidentschaft sei noch nicht entschieden, auch nicht, ob es ein Insi­
der oder ein Außenseiter sein solle. Im Büro von Kanzler Kiesinger finde ein
Machtkampf über die Kontrolle des BND statt. Die Kontrahenten seien wohl
Bachmann und Baron zu Guttenberg, der als frisch ernannter Parlamentari­
scher Staatssekretär im Bundeskanzleramt offenbar nicht ausgelastet sei.639
Dabei spiele Knieper als Chef des Kanzleramts eine zunehmend konstruktive
Rolle, um die Nachfolgefrage endlich zur Entscheidung zu bringen. Knieper
vergewisserte sich, dass Verteidigungsminister Schröder den Vorschlag seines
Vorgängers aufrechterhielt. Da Vize Wendland an anderer Stelle in der Bun­
deswehr nicht verwendbar sei, käme ein gleichzeitiger Wechsel in der zwei­
ten Position des BND nicht in Betracht640 – damit war aber das Anliegen der
SPD blockiert. Knieper machte den Vorschlag, dass der Kanzler selbst Gerhard
Wessel empfangen sollte, um sich einen eigenen Eindruck von dem Kandida­
ten zu verschaffen. Zugleich wies er auf die neueste Meldung des Spiegel hin,
wonach die SPD offenbar den Leiter des Verfassungsschutzamtes Hamburg
Günter Redding und den Botschafter Swidbert Schnippenkötter als ziviles
Spitzenduo ins Gespräch bringen wolle.
Die CIA-Führung gab intern die Anweisung, dass sich die Münchener
Außenstelle nicht in die Nachfolgediskussion in Pullach einmischen sollte.

637 Vortrag Weiß bei Gehlen, 6.4.1967, BND-Archiv, N 10/14.


638 Vortrag Weiß bei Gehlen, 10.4.1967, ebd.
639 Memo zum Gespräch mit Herre, 25.4.1967, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol5_20F2, S. 25, und Fernschreiben des CIA Chief Europe über ein
Gespräch mit Herre, 28.4.1967, ebd., S. 27-29.
640 Schreiben Kniepers an Staatssekretär Carstens, 24.4.1967, VS-Registratur Bka, 151 02,
Bd. 18, Wessel, Gerhard.

1145
Gespräche darüber seien zu vermeiden. Wenn BND-Angehörige von sich aus
Informationen und Meinungen abgäben, solle berichtet, aber nicht diskutiert
werden, weil das ein falsches Bild abgeben könnte.641 Die ganze leidige Ange­
legenheit und das Dahindümpeln einer Entscheidung in Bonn wurden Anfang
Juni 1967 durch ein internationales Großereignis vorerst in den Schatten
gestellt. Mit einem Präventivkrieg vernichtete die israelische Armee innerhalb
von sechs Tagen die Armeen von drei arabischen Nachbarländern. Es war ein
Blitzkrieg, wie ihn Gehlen im Mai 1940 selbst erlebt hatte. Die auch für ihn
sicherlich aufregenden militärischen Ereignisse trafen ihn nicht völlig unvor­
bereitet. Anders als während der Suezkrise rund zehn Jahre zuvor war der BND
relativ gut darüber informiert, was sich im Nahen Osten anbahnte. Mit ihrer
gewagten Prognose, die den Ausbruch des Krieges fast auf die Stunde genau
festlegte, standen die erfahrenen Auswerter in Pullach in der westlichen Intel­
ligence Community allein. Eine Woche vor Kriegsausbruch antwortete Gehlen
auf eine entsprechende Frage von Abgeordneten im Haushaltsausschuss, man
habe zwar keine eindeutige Meldung, aber die Israelis würden wohl am nächs­
ten Montag angreifen.642 Die CIA verließ sich auf die Hoffnung von US-Außen­
minister Rusk, der darauf setzte, den Ausbruch eines Krieges verhindern zu
können. So konnte Gehlen später in seinen Memoiren voller Stolz berichten,
dass CIA-Chef Helms durch den BND besser unterrichtet gewesen sei als durch
seinen Außenminister.643 Vier Wochen nach dem Sechstagekrieg präsentierte
Gehlen dem Chef des Kanzleramts eine ausführliche Auswertung des bisheri­
gen Verlaufs der Nahostkrise aus interner israelischer Sicht.644
Die für Gehlen eher peinliche Nachfolgefrage kam freilich rasch wieder auf
den Tisch. Der Spiegel präsentierte Wessel als den vermutlichen Nachfolger,
nicht ohne zuvor – in gewohntem Verfahren – dem BND kurzfristig Einblick
in den Artikelentwurf gewährt zu haben, was zu einigen Korrekturen führte.
Der Artikel beschrieb das Verhältnis zwischen Gehlen und Wessel unkritisch
und als harmonisch. Für Gehlens »Kronprinzen« stelle vor allem die SPD ein
Hindernis dar, die sich noch nicht festgelegt habe und lieber einen Zivilis­
ten an der Spitze des BND sehen würde als »einen Militär aus der Schule des
Generals«. Gehlens Hoffnung könnte womöglich aber noch scheitern, da zum
1. April nächsten Jahres Graf Kielmansegg aus Altersgründen seinen NATO-
Posten als Oberbefehlshaber Europa-Mitte verlassen werde. Im Augenblick
sei Generalleutnant Albert Schnez Favorit für die Nachfolge, gegen den aber

641 Chief Europe an Munich, 23.5.1967, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard
Gehlen_vol5_20F2, S. 33.
642 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 23.12.1971, IfZ, ED 100-69-131.
643 Gehlen, Der Dienst, S. 246-247; Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 299 – 300.
644 Aufzeichnung vom 13.7.1967, BND-Archiv, 1163/2, Blatt 361-374.

1146
Gerhard Wessel als neuer BND-Chef, 1968

politische Vorwürfe wegen seines Verhaltens im Krieg diskutiert würden. Als


möglicher Kandidat für diesen militärischen Spitzenjob stehe Gerhard Wessel
an zweiter Stelle!645
Nach dem Erscheinen des Artikels, in dem Wessel als »alter Kamerad«
bezeichnet wurde, traf der neue Chief Munich Base der CIA zum ersten Male
mit Gehlen zusammen. Der Amerikaner erlebte den »Doktor« in aufgeräumter
Stimmung. Er richtete Grüße von seinem Chef Helms aus und erinnerte noch
einmal an die Einladung nach Washington. Dann überreichte er als Geschenk
aus Vietnam drei gerahmte Lagekarten und eine Landkarte Indochinas. Geh­
len sagte, als Ex-G-2 und gegenwärtiger Chef des BND werde er das Geschenk
zu schätzen wissen und bat um eine informelle Unterrichtung über die Lage in
Südostasien. Der Chief zögerte, weil er nicht auf dem neuesten Stand sei. Dann
kündigte »utility« an, dass er nach seinem Urlaub gern eine Tour d’Horizon
mit ihm machen wolle, denn er habe das Gefühl, dass die US-Regierung jüngst
einige außenpolitische Fehler gemacht habe.
Mit Nachdruck betonte Gehlen, dass für ihn Wessel der beste potenzielle
Nachfolger sei. Horst Wendland sei zwar auch geeignet, aber nur, wenn Wes­
sel anderweitig verwendet werden sollte. Der Amerikaner registrierte, dass
der anwesende Wendland sein Haupt in Schweigen hüllte und keine Spur von
Enttäuschung zeigte. Er war Enttäuschungen gewohnt. So hatte er nach dem
Ausscheiden von Worgitzky die Arbeit des Vizepräsidenten übernommen,

645 Hinter Stacheldraht. Bonn/Gehlen-Nachfolger, Spiegel 31/1967 vom 24.7., S.26-27;


siehe Aktennotiz der CIA, 24.7.1967, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol5_20F2, S. 34.

1147
ohne Ernennung, und war zum neuen Mittelpunkt der BND-Führung gewor­
den. Er kümmerte sich um Personal und Organisation, war zur Klagemauer
frustrierter Beamter und als »Papa Wendland« die einzige Hoffnung der Jün­
geren geworden.646 Für Gehlen aber war er letztlich nur Spielmaterial bei der
Regelung seiner Nachfolge. So klagte Gehlen darüber, dass der jüngste Spiegel-
Artikel nur dazu diene, Wessel mit demselben militärischen Touch zu verun­
glimpfen, mit dem das Wochenmagazin oft genug auch ihn und Pullach verse­
hen habe. Dazu diene auch die Behauptung, Wessel sei ein strenger Katholik,
wo er doch in Wirklichkeit ein Protestant ist. Damit solle nur die SPD gegen
ihn aufgebracht werden.
An diesem historischen Punkt der ersten Nachfolge in der Spitze, so Geh­
len, sollten die Kandidaten des Dienstes nicht oberflächlich als Militärs ein­
gestuft werden. Wendland zum Beispiel sei zwar Generalmajor, tatsächlich
habe er aber eine zivile Beamtenkarriere in Pullach gemacht. Alle Oldtimer,
er selbst eingeschlossen, sollten ungeachtet ihres militärischen oder zivilen
Dienstgrades als Zivilisten betrachtet werden, die ihren Dienst in Pullach von
1946 bis 1967 geleistet hätten. Sie hätten in dieser Zeit als Zivilisten gearbeitet
und gelebt, über einen längeren Zeitraum denn zuvor als Soldaten. Deshalb
sei Wendland ein geeigneter Vizepräsident. Dann kam Gehlen auf einen ent­
scheidenden Punkt: Er wünschte sich für diese Sicht der Dinge gegebenenfalls
die solidarische Unterstützung der US-Botschaft gegenüber dem Kanzleramt,
nicht im Augenblick, aber der Zeitpunkt dafür könnte kommen. Schließlich
sprach er die NS-Vergangenheit von Schnez an. Wendland habe sich die Akten
angesehen und sei seit dreißig Jahren eng mit ihm befreundet. Schnez habe
keine engen Beziehungen zur NSDAP gehabt. Gehlen unterstützte auf Empfeh­
lung Wendlands die mögliche Ernennung von Schnez zum NATO-Oberbefehls­
haber Europa-Mitte, weil dann ein Hindernis für die Ernennung von Wessel zu
seinem Nachfolger beseitigt wäre.647
Gehlens neuer CIA-Kontaktmann in München sprach am nächsten Tag mit
Admiral Poser, der nach amerikanischer Kenntnis ebenfalls als Nachfolger für
den BND-Chefposten im Gespräch war. Poser bestätigte zwar, dass er tief in
die Nachfolgediskussion verwickelt sei, sich aber doch keine Chancen mehr
ausrechnete, zum Zuge zu kommen, denn er sei der Meinung, der BND müsse
gründlich reorganisiert und strenger kontrolliert werden. Der Kanzler bevor­
zuge Wessel, müsse aber warten, da die SPD nicht mitziehe und offenbar auf

646 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 300.


647 Memo Chief Munich Base über das Treffen mit Gehlen am 1.8.1967, NA Washington,
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_20F2, S. 40 – 44. Schnez wurde von den Nie­
derländern abgelehnt und im Oktober 1968 Inspekteur des Heeres. Den NATO-Posten
übernahm Jürgen Bennecke.

1148
Schnippenkötter setze, der eine Katastrophe wäre.648 Swidbert Schnippenköt­
ter hatte sich nach einer steilen Diplomatenkarriere als stellvertretender Lei­
ter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt mit Fragen der Ostpolitik befasst
und war dann vor zwei Jahren Beauftragter der Bundesregierung für Fragen
der Abrüstung und Rüstungskontrolle geworden.
Der Regierungspartner SPD tat sich also schwer, eine Alternative zu Gehlen
bzw. einen kongenialen Vize für Wessel zu finden. Dieser nutzte die letzten
Tage seiner Anwesenheit in Washington, kurz vor der Verlegung des Ständigen
Militärausschusses nach Brüssel, um – vermittelt durch Herre – das Gespräch
mit Critchfield zu suchen. Es war fast zwei Jahrzehnte her, dass er den CIA-
Mann in Pullach als harten Kritiker Gehlens kennengelernt hatte. Als derzeiti­
ger Chief der Near East and South Asia Division gab ihm Critchfield zunächst
ein Briefing über den sowjetischen Einfluss auf den Nahen und Mittleren Osten
nach dem Ende des Sechstagekrieges. Dann brachte Wessel sein persönliches
Anliegen vor. Kanzler Kiesinger habe ihn zu einem Treffen eingeladen. Er wolle
sich vorher selbst Gedanken über die Rolle des BND machen und bat um Infor­
mationen über die Stellung und Organisation der CIA, auch darüber, welche
Unterstützung die CIA in den letzten 15 Jahren bei der Regelung der deutschen
Verhältnisse geleistet habe. Wessel wurde bei diesem Gespräch durch Herre
unterstützt, denn er ging davon aus, dass der Kanzler sich umhören werde, wie
Wessels Standing in Washington sei, ohne natürlich mit einzelnen amerikani­
schen Beamten zu reden.649
Offenbar war Helms nicht abgeneigt, über seine Kanäle die Kandidatur
von Wessel zu unterstützen, denn je länger sich das Verfahren hinzog, desto
größer konnte die Gefahr werden, dass an der Spitze des BND zukünftig ein
unliebsamer politischer Kandidat für Unruhe sorgen würde. So fragte der
Chief Europe bei einem Gespräch mit Herre, was man denn tun könne, um der
deutschen Regierung den Standpunkt zu erklären, dass man auf einen Profi
als Nachfolger von Gehlen hoffe. Überraschend schnell meldete sich Gehlen
zu Wort. In der Forderung nach einer im Nachrichtendienst erfahrenen Spitze
glaubte er seinen stärksten Trumpf zu haben. Über Herre ließ er ausrichten,
er würde eine Intervention der CIA begrüßen. Man solle aber keinen Namen
nennen und umso stärker betonen, wie wichtig es sei, dass der Kandidat über
langjährige Erfahrungen im Intelligence-Bereich verfügen müsse. Damit käme
niemand vom BfV in Betracht650 – eine klare Spitze gegen den Hamburger Ver­

648 Bericht Chief Munich vom 2.8.1967, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol5_20F2, S. 46.
649 Memo Critchfields für Director CIA vom 9.8.1967, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol5_20F2, S. 47-49.
650 Memo Chief Europe vom 10.8.1967, ebd., S. 50-51.

1149
fassungsschutzmann Redding, den der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bun­
destag und Hamburger, Helmut Schmidt, favorisierte. Herre setzte hinzu, dass
die CIA auf die Spitzen der SPD einwirken möge. Der Chief Germany werde
wohl am besten wissen, wo man in Bonn ansetzen müsse.
Vielleicht gab es einen Zusammenhang mit dem Schreiben von Außen­
minister Brandt, zugleich Vorsitzender der SPD, an Kanzler Kiesinger zu Ver­
teidigungsminister Schröders offiziellem Vorschlag zur Nachfolge Gehlens.
Brandt verwies auf Vorbehalte seiner politischen Freunde, dass die Aufgabe
an der Spitze des BND im Zeichen der Entspannungspolitik nicht zwangsläu­
fig von einem Militär ausgefüllt werden müsse. Man möge auch über andere
Kandidaten nachdenken. Doch selbst wollte er offiziell keinen Vorschlag
machen. Damit ist vermutlich die Chance verspielt worden, die Nachfolge
Gehlens gänzlich anders zu regeln.651 Kiesinger ließ sich mit seiner Antwort
Zeit. Erst drei Monate später schrieb er Brandt, dass er inzwischen mit Wessel
gesprochen habe. Grundsätzlich stimme er Brandt zu, dass es kein Militär sein
müsse, aber Fachkompetenz sei unabdingbar. Das spreche für Wessel, und er
sei besorgt über die öffentliche Diskussion, die das innere Gefüge des BND
beeinträchtige.652
In diesem Geschacher hinter den Kulissen spann Gehlen nach dem Ein­
druck des Kanzleramts auch eine Intrige gegen seinen alten Widersacher Gün­
ter Bachmann, dem der kürzlich verstorbene Adenauer aufgetragen hatte, den
BND in den Griff zu nehmen. In einem Artikel der Tageszeitung Die Welt vom
15. August 1967 hieß es, es sei ein offenes Geheimnis in Bonn, dass ein Mitar­
beiter des früheren Bundeskanzlers, gemeint war Bachmann, der noch kein
ihm zusagendes neues Betätigungsfeld gefunden habe, sich mit dem Wunsche
trage, die Nachfolge Gehlens zu übernehmen.653 Im Kanzleramt war man ver­
ärgert, weil Gehlen zwar bestritt, den Artikel lanciert zu haben, doch glaubte
man ihm offenbar nicht und hielt eine Beteiligung des BND an der öffentlichen
Diskussion für mehr als stillos.654
Ein Stasi-IM im Umfeld von Gehlen berichtete dieser Tage nach Ost-Ber­
lin, dass Gehlen im kleinen Kreis seine Abneigung gegen die amerikanische
Lebensweise zum Ausdruck gebracht habe.

651 Schreiben Brandts an Kiesinger, 16.8.1967, VS-Registratur Bka, 151 02, Bd. 18, Wessel,
Gerhard.
652 Schreiben Kiesingers an Brandt vom 15.11.1967, ebd.
653 Gehlen gab später an, er habe damals auf nachrichtendienstlichem Wege gehört, dass
Koester Bachmann den Posten angeboten habe; Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich,
16.11.1971, IfZ, ED 100-69-248.
654 Notiz vom 16.8.1967, VS-Registratur Bka, 151 02, Bd. 18, Wessel, Gerhard.

1150
Er kenne die USA sehr gut und habe sie von einem bis zum anderen Ende
schon bereist. Die Amerikaner sind wie die Russen; sie sind ständig zusam­
men; sie verstehen sich gut und das ist deshalb so, weil sie vieles gemeinsam
haben. Die Amerikaner und Russen haben jeder ihr Ideal. Die Amerikaner
haben das Ideal der Demokratie. Sie wollen ihre Vorstellungen von Demo­
kratie anderen Ländern aufzwingen. Portugal z. B. könne gar nicht so eine
Demokratie wie Amerika haben. Hier in Deutschland wollen sie das gleiche
machen. Gehlen meinte, daß wir hier in Westdeutschland zu viel Demokratie
haben. So kann es nicht weitergehen, denn die Amerikaner hatten die Gefahr
des Kommunismus niemals vor ihrer Tür und wir haben sie nach dem Krieg
sehr dicht gestreift.

Er bewundere den portugiesischen Diktator Salazar, weil dieser es verstanden


habe, Portugal von der Gefahr des Kommunismus zu befreien, ohne dass es
wie in Spanien zum Krieg gekommen sei. Die Bundesrepublik sei deshalb in
der Pflicht, Portugal zu helfen. »Er ziehe das Mittelalter Portugals der Zivilisa­
tion des 20. Jahrhunderts der USA vor.« Dann drückte er seine Bewunderung
für Israel aus.

Er frage sich immer, weshalb dieses Volk – das 2000 Jahre gelitten hat – heute
in der Lage sei, der ganzen Welt gegenüber standzuhalten. Dies sei ein außer­
ordentliches Phänomen.655

Im Dienst und in der Öffentlichkeit äußerte sich Reinhard Gehlen nicht so


offenherzig, aber in seinem Verhalten zeigte sich, wie sehr seine Führungskraft
dahinschwand.
Gehlen gab sich große Mühe, Wessel auf seine Linie zu bringen. Er begann
damit, sich auf seine angedachte Rolle als Berater des künftigen Präsidenten
einzustellen, und schrieb an Wessel, der sich noch immer in Washington auf­
hielt, er würde sich gern einmal mit ihm über die Lage aussprechen.656 Offen­
bar teile er die Sorge, dass die USA nicht in der Lage sind, Politik auf weite Sicht
zu machen. Er, Gehlen, habe schon 1960 bei der Vorlage der BND-Planung für
den Bundeskanzler darauf hingewiesen, dass sich nach 1965 die politische
Krise bis zu einer Kriegsgefahr zuspitzen könnte. Die deutsche Politik habe
gegenüber den USA Kardinalfehler begangen. Man habe nicht verstanden, dass
die USA nur amerikanische Politik betreiben. Der Vietnamkrieg sei von den

655 HVA-III/B, Information über einige Äußerungen des BND-Präsidenten Gehlen zur west­
lichen Demokratie, 18.9.1967, BStU, MfS, HA II, Nr. 41478, S. 97. Die Quelle sei teilweise
überprüft. Die Information könne aber nicht ausgewertet werden, hieß es dort.
656 Schreiben Gehlens an Wessel, 10.8.1967 (Entwurf), BND-Archiv, N 1/138.

1151
Amerikanern falsch geplant und durchgeführt worden. Im Jahr 1970 würden
nur noch wenige symbolische US-Kontingente auf dem europäischen Konti­
nent präsent sein. Deshalb sei es notwendig, Europa als Gegengewicht zu den
USA zu entwickeln. Deutschland könne natürlich nicht die führende Macht
sein und sei auf das Verhältnis zu Frankreich angewiesen.
Man dürfe einem großen Verbündeten wie den USA nicht einfach nachlau­
fen, sondern müsse alles tun, um die kleineren Bündnispartner bei der Stange
zu halten. Es gehe gegen die deutsche nationale Würde, wenn man bei den
aktuellen Erpressungsversuchen von amerikanischer und britischer Seite
nicht so reagierte wie die Franzosen.657 Die Lage sei zurzeit völlig verfahren.
Er könne kein Rezept für die Außenpolitik geben und sei, Gott sei Dank, dafür
auch nicht zuständig. Aber man müsse im militärischen Rahmen alles tun, um
die NATO zusammenzuhalten, und dürfe sich von den Amerikanern nicht als
Satellit behandeln lassen. Das sei keine antiamerikanische Einstellung, es gehe
um eine nationale deutsche Politik, die sich in eine größere westliche Kon­
zeption auf dem Boden der Gleichberechtigung einpasst. Anderenfalls werde
bei einem Fortgang der heterogenen Entwicklung die übernächste Generation
in einem kommunistischen Gesamtdeutschland leben, es werde »eine solche
Entwicklung in den nächsten 20 Jahren mindestens am seidenen Faden hän­
gen«. Gehlen war also noch immer ein bekennender Anhänger des französi­
schen Staatspräsidenten de Gaulle, auf den er ausdrücklich verwies.
Einige Tage später meldete sich Wessel telefonisch aus Washington, aus
dem Büro Herres. Er fragte Gehlen nach der Verbesserungswürdigkeit des
BND, eine heikle Frage, auf die Wessel bei künftigen Gesprächen in Bonn und
im Hinblick auf die Amtsübernahme vorbereitet sein musste. Gehlen wich aus.
Aus seiner Sicht musste in Pullach im Großen und Ganzen nichts geändert
werden. Er sah die Probleme bei anderen. Das Kanzleramt, so meinte er, sei ein
»Saustall«. Man dürfe den BND nicht als nachgeordnete Behörde behandeln.
Das Verhältnis zum Bundestag sei in Ordnung – die parlamentarische Kon­
trolle hatte Gehlen ja stets erfolgreich abgewehrt bzw. in seine Bahnen gelenkt.
Im Hinblick auf den Verkehr mit befreundeten Diensten, so eine weitere Frage
von Wessel, sollte man nach Gehlens Meinung nicht lange fragen und unbe­
dingt vermeiden, sich schriftlich festzulegen. Hier brauche der Präsident des
BND Handlungsfreiheit. Er müsse sich auch den zweiten Mann aussuchen dür­

657 1967 erfolgte die Umstrukturierung der NATO im europäischen Rahmen, die durch
den französischen Rückzug aus dem militärischen Teil erforderlich geworden war. Die
britisch-amerikanischen Erwartungen auf einen größeren Anteil der Bundesrepublik
an den finanziellen Lasten kollidierten mit der Bonner Finanzreform zur Haushaltskon­
solidierung, mit der Strauß als neuer Bundesfinanzminister auf den konjunkturellen
Einbruch reagierte.

1152
fen. Für diese Position brauche es ein besonderes Vertrauensverhältnis. Dabei
wäre eine parteipolitische Zugehörigkeit nur hinderlich. Gehlen – inzwischen
gedanklich weit entfernt von der Frage der Reformbedürftigkeit des BND –
wiederholte seine Empfehlung: Wessel als Präsident, Wendland als Vizeprä­
sident. Wessel brauche natürlich nur drei Monate Einarbeitungszeit, fordern
sollte er aber grundsätzlich ein Jahr, außerdem eine Rangerhöhung auf die
Ebene eines Staatssekretärs. Der Bundesrechnungshof und ein Bundestags­
ausschuss seien bereits damit befasst. Daher brauche Wessel nichts selbst zu
veranlassen.658
Bei seiner Vorbereitung auf eine Begegnung mit Kanzler Kiesinger, der zwei
Tage später anlässlich eines Besuches in Washington ein Abendessen in der
Deutschen Botschaft geben würde, sprach Wessel auch mit Staatssekretär
Carstens, der ihm zusagte, sich zuvor auch noch einmal beim Kanzler für ihn
zu verwenden. Wessel erklärte, dass er »neigungs- und gefühlsmäßig lieber in
der Bw [Bundeswehr] bliebe, aus Pflichtgefühl jedoch die Nachfolge Gehlen
nicht ausschlagen würde«.659
Der parlamentarische Staatssekretär im Bundeskanzleramt Guttenberg
vermittelte bei dem Abendessen ein kurzes Gespräch des Kanzlers mit Wes­
sel. Dieser verwies darauf, dass er in vier Wochen in Bonn sein werde. Kiesin­
ger regte er, dass er sich dann bei ihm anmelden möge, damit man in Ruhe
sprechen könne. Wessel lernte bei dieser Gelegenheit Guttenberg persönlich
kennen, der ein großes Interesse an der Frage der Gehlen-Nachfolge zeigte.
Er teilte die Auffassung, dass die Spitzenposition unter Berücksichtigung der
fachlichen Kompetenz und dem Gesichtspunkt parteipolitischer Unabhängig­
keit besetzt werden sollte, verwies aber auf den Anspruch der SPD, über die
Besetzung der zweiten Stelle zu entscheiden. Wessel betonte, dass er nie par­
teipolitisch gebunden gewesen sei und dass er daher nicht verstehe, warum
ihn die SPD als Kandidaten der Union hinstelle. Wessel empfand Guttenberg
als sehr sympathisch. Dieser habe schon längere Zeit einen guten Kontakt
zu Langkau, weniger zum »Doktor«, der sich rarmache. Unterstützung fand
Wessel an diesen Abend auch bei dem Journalisten und Bundestagsabgeord­
neten Prinz Konstantin von Bayern (CSU). Der Prinz warnte davor, dass die
Zusammenarbeit des Dienstes mit dem Kanzleramt im Argen liege. Man sollte
eigentlich den BND wie das Bundespresseamt betrachten und einfach dem
Kanzleramt anhängen. Kanzleramtsstaatssekretär Knieper werde wegen sei­
nes gespannten Verhältnisses zu Kiesinger wohl gehen müssen. Carstens sei
der geeignete Nachfolger. Auch das Verhältnis des Kanzlers zu Verteidigungs­

658 Notiz über das Telefonat Wessel – Gehlen, 14.8.1967, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 204.
659 Aktennotiz Wessel, 14.8.1967, ebd.

1153
minister Schröder stehe auf dem Tiefpunkt.660 Anders als Gehlen in den frü­
hen Jahren hatte Wessel keine Probleme, direkt mit den einflussreichen Leuten
auf dem politischen Parkett zu sprechen. Er beherrschte den diplomatischen
Umgang und hatte Freude an gepflegter Geselligkeit. Was konnte er in der jet­
zigen Situation von Gehlen noch lernen?
Kiesingers parlamentarischer Staatssekretär Guttenberg erhielt nach sei­
ner Rückkehr aus Washington die Information, dass in letzter Zeit die Ost­
block-Korrespondenten in Bonn ein auffallendes Interesse am BND zeigten.
Sie gingen davon aus, dass der künftige Chef von Pullach wieder ein Berufssol­
dat sein werde, auch gegen das Intrigenspiel des Verteidigungsministeriums
und der SPD. Der BND genieße im Ostblock ein größeres Ansehen als zu Hause
und werde allen anderen westlichen Nachrichtendiensten als überlegen einge­
schätzt. Es sei dem BND gelungen, das westliche Meinungsbild über den Ost­
block maßgeblich zu beeinflussen, und es werde ständig nach Gehlen-Agenten
in den östlichen Sicherheitsapparaten gesucht. Die Spionagefurcht verstärke
sich dort sogar noch. Manche Journalisten wunderten sich über die Diskre­
panz zwischen der internen Einschätzung auf der östlichen Seite und der ver­
öffentlichten Geringschätzung des BND in der Bundesrepublik. Sie mutmaß­
ten, dass das schlechte Image des BND in der veröffentlichten Meinung in der
Bundesrepublik eine gezielte Tarnmaßnahme sein könnte.661 Vielleicht trifft
auch die Mutmaßung zu, dass diese auf dem Dienstweg als »Gelegenheitsinfor­
mation« deklarierte Meldung lanciert worden war, um Kiesingers wichtigsten
Berater mit einer für den BND und Gehlen schmeichelhaften Geschichte zu
beeindrucken. Im Hintergrund allerdings zeigte die Stasi wieder einmal ver­
stärktes Interesse an der Person Gehlens und stellte umfassende Recherchen
zum familiären Umfeld sowie über einige hauptamtliche Mitarbeiter des BND
an. Die Informationen waren sehr detailliert und deuten darauf hin, dass die
Stasi über eine Quelle in der nächsten Umgebung von Gehlen verfügte.662
Dass sich die östliche Propaganda an diesem Komödienstadel um die
Nachfolge Gehlens beteiligen wollte, war natürlich verständlich. Etwas pikiert
zeigten sich die Amerikaner, als eine ADN-Meldung aus Ost-Berlin behaup­
tete, CIA-Direktor Helms habe Bonn gedrängt, Gerhard Wessel zum Nachfol­
ger Gehlens zu ernennen. Ganz so plump waren die Amerikaner aber nicht
im Spiel, auch wenn die Einschätzung ihrer personellen Präferenz zutreffend
war. Washington war von Herre über Wessels Gespräch mit Kanzler Kiesinger

660 Notiz Wessels über die Gespräche am 16.8.1967, ebd., Blatt 199-202.
661 Notiz vom 1.9.1967, Nachlass Guttenberg, StA Bamberg, G 67/105, Blatt 229-230.
662 HVA III/B-205, Bericht »Einige Angaben über die Familie des Präsidenten des BND,
Reinhard Gehlen sowie über einige hauptamtliche Mitarbeiter des BND«, 28.9.1967,
BStU, MfS, HA II, Nr. 41478, S. 218-224.

1154
unterrichtet worden. Herre drängte nun, es sei wichtig, dass der US-Botschaf­
ter und andere in Bonn die Parole verbreiten würden, es wäre für die USA nicht
akzeptabel, wenn man für Pullach einen Außenseiter auswählen würde. Die
größte Gefahr für die Ernennung Wessels ginge, so Herre, vom SPD-Fraktions­
vorsitzenden Helmut Schmidt aus, der meine, es gebe durchaus Alternativen.
Herre und Wessel waren der Ansicht, dass, wenn die Widerstände zu stark sein
sollten, es besser wäre, die Entscheidung auf die lange Bank zu schieben und
Gehlen noch ein Jahr weitermachen zu lassen.663 Gehlen, dessen Sprachrohr
gegenüber der CIA Herre war, dürfte der Gedanke gefallen haben, wenn er
nicht sogar von ihm selbst stammte.
Am 30. September 1967 fand endlich das längere persönliche Gespräch
Wessels mit Kanzler Kiesinger statt. Dieser beklagte zunächst, dass er sich
bisher vom BND nicht ausreichend informiert fühle, und kam dann zu der
Frage, ob sich Wessel zutraue, das Amt zu übernehmen. Der Kandidat bejahte
natürlich und hörte dann vom Kanzler einige grundsätzliche Gedanken. Der
Dienst, so Kiesinger, solle umfassend und nicht nur über die kommunistische
Welt aufklären. Notwendig sei die Zusammenarbeit mit anderen nationalen
Informationsquellen zur gegenseitigen Ergänzung. Der BND müsse sich aus
der Parteipolitik heraushalten und nach Weisungen des Kanzlers Schwer­
punkte bilden können. Dazu sei ein enger persönlicher Kontakt zwischen dem
Kanzler bzw. seinem Staatssekretär und dem BND-Präsidenten unerlässlich.
Kiesinger bedauerte, dass er sich bisher nicht ausreichend um den BND habe
kümmern können. Und noch eines fügte er hinzu: Pannen, die unvermeidlich
seien, dürften nicht gegenüber dem Kanzler bzw. dem Staatssekretär vertuscht
werden. Dann wäre es besser, Änderungsvorschläge zu machen und offen vor­
zutragen.664
Kiesingers Vorstellungen deckten sich weitgehend mit Forderungen, wie sie
Gehlen bei jeder Gelegenheit vertrat. Des Kanzlers Erwartung aber, man möge
Pannen nicht vertuschen, durfte der scheidende BND-Präsident durchaus als
Kritik an seiner Amtsführung verstehen. Doch Reinhard Gehlen, der schon
zwei Kanzler im Amt überlebt hatte, war dadurch nicht zu beeindrucken. Ob
ein Vorfall zur Panne geworden war, die man nach »oben« melden musste,
entschied noch immer der Präsident selbst. In seiner Amtsphilosophie wurden
Sicherheitsfalle erst dann zu Pannen, wenn die Presse darüber berichtete und
sich nicht davon abbringen ließ, dass entsprechende Meldungen lediglich der
östlichen Propaganda zuzuschreiben seien.

663 CIA-Notiz zur ADN-Meldung vom 5.9.1967, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol5_20F2, S. 57; Memo über Äußerungen von Herre vom 5.9.1967, ebd.,
S.59-60.
664 Wessel an Gehlen, 30.9.1967, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 197-198.

1155
Wessel kehrte jedenfalls nach Brüssel mit der Gewissheit zurück, dass
der Kanzler seine Kandidatur unterstützte. Damit war für ihn schon fast
alles gewonnen. Unentschieden und politisch heikel blieb die Auswahl des
Vizepräsidenten. Wenn die SPD bei ihrem Anspruch blieb, wäre Gehlens
Absicht durchkreuzt, »seinen« Dienst in der neuen Zeit zu erhalten und
als Einflüsterer von Wessel weiterzudirigieren. Die CIA lavierte zurückhal­
tend und zögerte, eine Präferenz festzulegen oder gar bekannt zu machen.
Man zog es vor, die weitere Entwicklung auf deutscher Seite genauestens
zu beobachten.665 Der Verbindungsoffizier von USAREUR in Bonn war einer
der Ersten, der von der Besprechung Wessels mit dem Kanzler erfuhr. Eine
seiner Quellen wusste aber, dass Willy Brandt und Herbert Wehner noch
immer auf einen zivilen Kandidaten für den Präsidentenposten setzten und
den Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Hans-Jürgen Wischnewski
(SPD) vorgeschlagen hätten. Kiesinger habe Wessel gegenüber angekündigt,
er werde seine Ernennung in nächster Zukunft im Kabinett bestätigen las­
sen. Im Verteidigungsministerium jedenfalls würden bereits enge Freunde
von Wessel schon jetzt ihre eigene Karriere darauf einstellen, dass Wessel
nach München gehen werde. Zu ihnen gehöre Hans-Christian Pilster, bisher
Adjutant bei Admiral Poser, der gerade zum Brigadegeneral befördert wor­
den war. Er werde in wenigen Tagen als Chef die Militärische Auswertung in
Pullach übernehmen.666 Wessel selbst unterrichtete vier Tage später die CIA,
dass Gehlen eine offizielle Mitteilung erhalten habe, dass sein Dienst nicht
über März 1968 hinausreichen werde. Damit werde vermutlich ein Exodus
von »Oldtimern« aus Pullach einhergehen. Gehlens Bruder Johannes genieße
seinen Sonderstatus in Rom und werde wohl daran festhalten. Wessel gehe
nun sicher davon aus, dass er der Nachfolger Gehlens wird, dass ein ziviler
Politiker zum offiziellen Vizepräsidenten gemacht und Wendland als Stabs­
chef in der Zentrale bleiben werde.667
Dass die größere Regierungsfraktion und der Kanzler sich inzwischen defi­
nitiv auf Wessel festgelegt hatten und die SPD-Führung diese Entscheidung
akzeptierte, erklärt, weshalb bei der nächsten Sitzung der Arbeitsgruppe für
das geheime Nachrichtenwesen die ursprünglich vorgesehene Diskussion über
die Nachfolge Gehlens nicht stattfand. Es blieb bei routinemäßigen Berichten
des BND zur Durchführung der Post- und Fernmeldeüberwachung nach dem
Gesetz zu Artikel 10 des Grundgesetzes sowie des BfV über die Tätigkeit rechts­

665 Memo Chief of Station Germany an Chief Europe, 4.10.1967, NA Washington, RG 319,
Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_20F2, S. 67.
666 CIA-Bericht vom 4.10.1967, ebd., S. 73 – 74.
667 CIA-Bericht über ein Gespräch mit Wessel, 8.10.1967, ebd., S. 79.

1156
und linksradikaler Organisationen.668 Nur Gehlen war anscheinend noch nicht
korrekt ins Bild gesetzt worden oder hatte in diesem politischen Verwirrspiel
keinen Überblick mehr. Im Gespräch mit dem CIA-Chief München ging er
davon aus, dass er bis zum Frühjahr 1969 bleiben werde, denn eine definitive
Entscheidung über die Nachfolge werde erst Anfang des nächsten Jahres fal­
len. Und selbst wenn Wessel sein Nachfolger werden sollte, brauche dieser ein
Jahr Einarbeitungszeit, sonst würde zwischen ihm und dem Dutzend Spitzen­
kräften ein erhebliches Erfahrungsdefizit auftun und ihn von den Mitarbeitern
abhängig machen.
Hier wird der unterschiedliche Erwartungshorizont des scheidenden und
des kommenden Präsidenten sichtbar. Gehlen baute auf die älteren »Spitzen­
kräfte«, Wessel sah diese bereits auf dem Absprung. Wie sehr Gehlen seinen
politischen Einfluss überschätzte, zeigte die Bemerkung, die Initiative zu einer
möglichen weiteren Verlängerung seiner Amtszeit müsse vom Kanzler kom­
men. Er selbst werde sich bis zu seiner Pensionierung zurückhalten. Mit Weh­
ner habe er über die zweite Position gesprochen und ihn davon überzeugt,
dass Redding vom LfV in Hamburg nicht in Betracht komme, weil Erfahrungen
beim Verfassungsschutz nicht ausreichten, eine Führungsposition beim Aus­
landsnachrichtendienst zu übernehmen. Es ist zweifelhaft, ob Wehner dieses
Argument wirklich akzeptierte. Gehlen führte weiter aus: Würde es entgegen
allen Zusagen doch zu einem Kuhhandel (»horse trading action«) kommen,
würde er selbst in den politischen Ring steigen, um einen unpolitischen deut­
schen Nachrichtendienst zu erhalten, der von Offizieren gelenkt werde, die
nach ihrer Qualifikation ausgewählt wurden, nicht nach ihren politischen
Ansichten.669 Reinhard Gehlen als ein politischer Kämpfer im öffentlichen
Ring? Kaum vorstellbar, wahrscheinlich dachte er bei einer solchen Andro­
hung an ein Presseinterview.
Ende Oktober fand sich bei einem Empfang zum 70. Geburtstag von Hans
Speidel eine kleine Runde zusammen, in der Wessel mitteilte, nach seinem
letzten Telefonat habe Gehlen die Absicht, möglichst ein weiteres Jahr in
Pullach zu bleiben. Darauf reagierte Staatssekretär Knieper mit der Bemer­
kung: Wessel möge so schnell wie möglich nach München gehen. Er, Knieper,
blockiere bereits eine Reihe von personellen Vorschlägen Gehlens.670 Dieser
vermutete missliebige Kräfte nicht nur in der SPD und in den Medien, sein

668 Auszug aus dem Ergebnisprotokoll über die 9. Sitzung der Arbeitsgruppe vom
13.10.1967, VS-Registratur Bka, Bk 152 05, Bd. 2.
669 Bericht Chief Munich Base über ein Gespräch mit Gehlen, 13.10.1967, NA Washington,
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_20F2, S. 80-81.
670 Notiz Wessels über Gespräche beim Empfang des Generalinspekteurs, 30.10.1967, BND-
Archiv, N 1/138, Blatt 188.

1157
angespanntes Verhältnis zum Kanzleramt war für den »Doktor« ein beson­
ders schwieriges Hindernis. So schien es ihm wohl an der Zeit zu sein, für sei­
nen Nachfolger den »schlimmsten« Feind hinter den Kulissen zu entlarven. In
einem Vermerk Anfang November 1967 hielt er fest, dass Kanzleramtsmitarbei­
ter Günter Bachmann mehrfach Ursache für Schwierigkeiten des BND gewe­
sen sei – wohlgemerkt: aus Gehlens Sicht waren es keine Schwierigkeiten des
BND, die das Kanzleramt zum Eingreifen bewegt hatten.
Für ihn waren es lediglich Intrigen und Quertreibereien gewesen. So habe
Bachmann unmittelbar vor dem Kanzlerwechsel von Adenauer zu Erhard
in Abwesenheit von Staatssekretär Globke »eine vorübergehende, unbe­
rechtigte Verstimmung des Bundeskanzlers Dr. Adenauer aus Anlaß der
Spiegel-Affäre dazu benutzt, um in einem Kabinettsbeschluß eine Status­
änderung des BND einarbeiten zu lassen, die den BND zu einer nachgeord­
neten Behörde machen sollte«. Eine »vorübergehende, unberechtigte Ver­
stimmung« Adenauers – so ließ sich eine beschönigende Erinnerung an den
vermutlich peinlichsten Augenblick seines Lebens mit einem anschließen­
den persönlichen Erfolg verbinden. Denn Bachmanns Ziel sei es gewesen,
eine große Dienstaufsichtsabteilung für den BND unter seiner Leitung im
Kanzleramt zu errichten. Er habe dann aber Staatssekretär Westrick davon
überzeugt, die Durchführung auszusetzen und die Angelegenheiten des
BND einem anderen Referenten zuzuteilen. In der Folgezeit habe Bachmann
Material gegen den BND gesammelt und erst vor zwei Wochen einem leiten­
den Herrn im Bundespresseamt angeblich im Auftrag der CDU die Führung
des BND angetragen. Es heiße, er stehe auch in Verbindung mit einem Kreis
unzufriedener Obristen im BND. Derartige Praktiken, die Bestrebungen von
»mißvergnügten, zu Unrecht unzufriedenen Angehörigen des BND konspira­
tiv zu unterstützen, ohne dienstlich damit befasst zu sein, sind untragbar und
gefährden in hohem Maße die Sicherheit des Dienstes«, beklagte Gehlen.671
Damit schätzte er die Motive von Bachmann durchaus zutreffend ein und
zugleich nahm er für sich das Recht in Anspruch, den BND gegen eine stär­
kere Kontrolle durch das Kanzleramt zu schützen. Interne Kritik schätzte er
außerdem pauschal als unberechtigt ein.
Der »Doktor« war wohl vor allem deshalb alarmiert, weil nach seinen Infor­
mationen Bachmann von Reinhold Mercker herangezogen wurde. Mercker, der
mehr als zehn Jahre im Kanzleramt, dann als Staatssekretär im Ministerium für
die Angelegenheiten des Bundesverteidigungsrates auch für den BND zustän­
dig gewesen war, hatte den Auftrag übernommen, vorliegende Beschwerden
von BND-Mitarbeitern zu überprüfen. Als Karl Carstens zum 1. Januar 1968

671 Vermerk Gehlens betr. Bachmann, 9.11.1967, BND-Archiv, N 1/137.

1158
Staatssekretär Reinhold Mercker 1967 bei der
Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes
durch Kanzler Kiesinger

vom Verteidigungsministerium als beamteter Staatssekretär ins Kanzleramt


wechselte, bestätigte er den Auftrag an Mercker, der nun zusammen mit Minis­
terialrat Paul Raab, einem Vertrauten von Carstens im Auswärtigen Amt, und
Generalleutnant a. D. Alfred Zerbel672 in einer Untersuchungskommission den
Beschwerden nachgehen und Vorschläge für ihre Behandlung machen sollte.673
Die Entscheidung von Carstens, dem späteren Bundespräsidenten, zeigt, dass
er ahnte, welche Missstände Gehlen hinterlassen würde und dass ihre Offen­
legung für den Nachfolger eine unabdingbare Voraussetzung für einen Neuan­
fang bildete, einen Neuanfang, der auch nicht durch den steuernden Rat des
Altpräsidenten beeinträchtigt werden durfte.
Für Bundeskanzler Kiesinger konnte der Kontrast zwischen solchen Ein­
drücken vom Zustand des BND und Schreiben, die er Anfang November 1967
erhielt, nicht größer sein. Sein Staatssekretär Guttenberg berichtete von
einem Besuch des CIA-Chefs in der Bundesrepublik, Mr. Cline, der zur Wei­
tergabe an den Kanzler von dem Fall des sowjetischen Überläufers Jewgenij
J. Runge berichtete. Der deutschstämmige KGB-Oberstleutnant war jahrelang

672 Zerbel (Jg. 1904), zuletzt in der Bundeswehr bis 1964 Inspekteur des Heeres, hatte 1935
unmittelbar nach Gehlen die Kriegsakademie absolviert und war während des Krieges
neben Frontkommandos zeitweilig auch in Verwendungen im OKH gewesen.
673 Zur Mercker-Kommission siehe ausführlich Dülffer, Krise, Kap. II, sowie Bericht vom
24.7.1969, in VS-Registratur Bka, Bk 151 00 (193), Bd. 1 a-c.

1159
mit der Beschaffung von Geheimmaterial aus dem deutschen Auswärtigen
Amt beschäftigt gewesen, für die er Leonore Sütterlin engagiert hatte.674 Die
so beschafften Informationen seien vom sowjetischen Nachrichtendienst als
außerordentlich wichtig angesehen worden. Dieser Überläufer, so die Ein­
schätzung der CIA, entspreche in seiner Bedeutung dem Verrat der US-Atom­
geheimnisse nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion. Der Deutsch­
landchef der CIA habe sich sehr befriedigt über die gut funktionierende
Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden geäußert.675
Parallel zu der Nachricht über den außerordentlichen Erfolg der CIA erhielt
der Kanzler über Staatssekretär Knieper ein Schreiben von Reinhard Gehlen,
in Kopie auch an Guttenberg zur Kenntnis. Darin äußerte sich der noch amtie­
rende BND-Chef besorgt über die endlose Diskussion um die Stellenbesetzung
angesichts seiner bevorstehenden Pensionierung. Er wiederholte nachdrück­
lich seine Forderung, den Stellvertreterposten nur nach fachlichen Gesichts­
punkten und auf Vorschlag des BND-Präsidenten zu besetzen.676 Die Antwort
an Gehlen überließ Kiesinger Guttenberg. Dieser bestätigte lapidar, dass Geh­
lens Überlegungen bereits mehrfach Gegenstand von Gesprächen mit dem
Kanzler und seiner Umgebung gewesen seien.677
Gehlen stand auf verlorenem Posten. Da allerdings auch Wessel diese
Ansicht gegenüber dem Kanzler vertreten hatte, unternahm Kiesinger den
Versuch, Wendland vielleicht doch gegenüber dem Regierungspartner durch­
zudrücken. Der Kanzler hatte jedoch keine Veranlassung, sich seinetwegen auf
eine Koalitionskrise einzulassen. Horst Ehmke (SPD), Staatssekretär im Justiz­
ministerium, hatte nach Informationen der CIA erklärt, dass die SPD Wessel
als BND-Präsidenten akzeptieren würde, aber unverändert darauf bestehe, den
zweiten Mann bestimmen zu können. Angeblich, so der CIA-Bericht, sei Gün­
ther Nollau, der Vizepräsident des BfV, der aussichtsreichste Kandidat dafür,
weil er die Unterstützung von Wehner habe, während es zu Redding in der SPD
noch Vorbehalte gebe. Über den Vizepräsidenten, so der CIA-Bericht, habe der
Kanzler aber noch nicht entschieden.678 Wessel konnte den Ausgang des politi­
schen Ringens ganz entspannt im fernen Brüssel abwarten. Er schrieb Gehlen,
dass er sich mit seiner Frau gut eingelebt habe und sich dienstlich wie auch

674 Zu Einzelheiten siehe Spionage. Äußerst innig, Spiegel 44/1967 vom 23.10, S. 30-31.
675 Schreiben Guttenbergs an Kanzler Kiesinger, 3.11.1967, Nachlass Guttenberg, StA Bam­
berg, G 57/90, Blatt 75.
676 Schreiben Gehlens an Kiesinger, 4.12.1967, VS-Registratur Bka, 151 02, Bd. 18, Wessel,
Gerhard, im Entwurf auch in BND-Archiv, 1163/2, S. 387-390.
677 Guttenberg an Gehlen, 19.12.1967, Nachlass Guttenberg, StA Bamberg, G 67/96.
678 CIA-Bericht vom 5.12.1967, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol5_20F2, S. 90-91.

1160
privat sehr wohlfuhle.679 Durch den BND-Residenten bei der Brüsseler NATO-
Botschaft der Bundesrepublik werde er laufend unterrichtet.
Die Unruhe über die ungelösten Personalprobleme machte nicht nur den
alten General in Pullach betroffen, sondern auch einen einflussreichen jün­
geren CDU-Abgeordneten. Werner Marx, ehemaliger Journalist, zeitweilig
persönlicher Referent von Otto Lenz, dann Referent für Psychologische Krieg­
führung im Verteidigungsministerium sowie im Führungsstab der Streitkräfte,
seit zwei Jahren im Bundestag – also ein dem BND und Gehlen gegenüber
sehr wohlwollend eingestellter Mann -, wandte sich gleich nach den Weih­
nachtstagen mit einem Brandbrief an Kanzler Kiesinger. Er drängte auf eine
rasche Entscheidung in der Nachfolge Gehlens, denn ihm seien alarmierende
Nachrichten zugegangen, die in Kürze zu einem öffentlichen Skandal werden
könnten. Das würde die CDU, »deren Bundesvorsitzende seit fast 12 Jahren die
alleinige parlamentarische Verantwortung für den BND getragen haben und
tragen, mit voller Wucht treffen«. Das Bundespresseamt, so sein Vorschlag,
möge eine Erklärung abgeben, dass die Bundesregierung keine erneute Amts­
verlängerung für Gehlen in Betracht ziehe. Das wäre ein Zeichen zur Mäßigung
»für jene Persönlichkeiten, welche die notwendige Reform des Dienstes seit
Jahren mit Recht anstreben und nach langen, scheinbar vergeblichen Bemü­
hungen (und wegen eigentümlicher Vorgänge der letzten Zeit) jetzt die Flucht
in die Öffentlichkeit antreten möchten«. Es gehe auch um die Autorität des
Regierungschefs.680
Staatssekretär Knieper, der als eine seiner letzten Amtshandlungen den
Brief von Werner Marx an Ministerialrat Hans Neusel, den persönlichen Refe­
renten Kiesingers, weitergab, erklärte dazu, die Warnungen von Marx seien in
dem bekannten Unbehagen über den Führungsstil Gehlens begründet. Dieser
»kapselte sich immer mehr ab, läßt nur noch einige wenige Mitarbeiter an sich
heran und scheint nicht mehr die Kraft zu haben, Führungsimpulse zu geben
und integrierend zu wirken. Das führt dann zu gegenseitigen Verdächtigungen,
die – auch nach Prüfung durch den Generalbundesanwalt – nichts Greifbares
erbringen.« Die Zeit bis zur vorgesehenen Entlassung müsse »mit Anstand«
durchgehalten werden. Man müsse »versuchen zu verhüten, daß zwischen­
zeitlich aus Unmut, aus Gespensterfurcht oder falschem Ehrgeiz etwas pas­
siert. Umgekehrt kann man nicht dafür votieren, daß G., der sich hohe Ver­
dienste um den Aufbau des BND erworben hat, vorzeitig abgelöst wird.« Für
einen »Skandal« sah der Kanzleramtschef keine Anhaltspunkte. Es wäre psy­

679 Wessel an Gehlen, 21.12.1967, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 165.


680 Schreiben MdB Werner Marx an Bundeskanzler Kiesinger, 27.12.1967, VS-Registratur
Bka, 151 02, Bd. 18, Wessel, Gerhard.

1161
chologisch günstig, wenn klargestellt werde, dass keine weitere Verlängerung
in Betracht komme.681 So einfach fallenlassen oder brüskieren wollte man Geh­
len in Bonn also nicht. Daran hielt auch Kniepers Nachfolger Carstens fest.
Zum Jahreswechsel wandte sich Gehlen zum letzten Male in einem Mitar­
beiterbrief an seine Belegschaft. Er war geprägt von der Botschaft: Weiter so!
Der Aufbau des BND sei nach zwei Jahrzehnten zum Abschluss gekommen.
Seine Aufwärts- und Fortentwicklung gingen aber weiter. Vieles habe sich in
der Welt verändert. Die deutsche Politik habe dem ständig Rechnung tragen
müssen. Damit habe der Weg festgestanden, anfangs in Ungewissheit, später
bei eindeutiger Anerkennung »unserer Leistungen«. Auch künftig müsse es
Ziel der Arbeit sein, zu tun, »was Auftrag und Pflicht uns gebieten«.682
Trotzig sah er dem Ende seiner Dienstzeit entgegen. Gegenüber dem CIA-
Vertreter in München zeigte er sich fest überzeugt, dass der Kanzler ihn am
Ende bitten werde, noch ein Jahr länger zu bleiben. Die SPD werde Nollau nicht
durchsetzen können, weil es gegen ihn in und außerhalb von Pullach große
Widerstände gebe. Wendland, um dessen Position es jetzt noch ging, erklärte
ebenfalls, wenn man ihn übergehen würde, werde er in den Ruhestand gehen
und außerhalb des Dienstes noch andere berufliche Möglichkeiten haben – da
sollte er sich täuschen. Gehlen verband also mit dem Gerangel um den Stell­
vertreterposten Wendlands seine eigene nahe Zukunft. Er war sich sicher, dass
der Kanzler ein Verlängerungsjahr gewähren würde, und in dieser Zeit werde
man einen von allen Seiten akzeptierten zweiten Mann finden. Dann könnte
der Kanzler die gesamte Nachfolgeentscheidung öffentlich präsentieren und
er – Gehlen – werde sich so oder so auf die Beraterrolle zurückziehen.683 Am
selben Tag teilte Kiesinger dem Kabinett im fernen Bonn – im Einvernehmen
mit allen Mitgliedern – seine Entscheidung mit, dass er Gerhard Wessel zum
Nachfolger Gehlens ernennen werde. Für die Position des Vizepräsidenten gebe
es noch keinen entscheidungsreifen Vorschlag. Auf der Basis eines Berichts
von ihm, Nollau erfülle nicht die Sicherheitsbestimmungen des BND, habe der
Kanzler Nollau fallengelassen, teilte Gehlen stolz zwei Tage später der CIA mit.
Der Einzige, der nun noch infrage komme, sei Wendland684 – eine erfolgreiche
Intrige gegen den verhassten Nollau, aber eine falsche Schlussfolgerung.

681 Aktennotiz Kniepers vom 28.12.1967, ebd.


682 Mitarbeiterbrief Gehlens zum Jahreswechsel, Dezember 1967, BND-Archiv, Beschrei­
bung Nachlass N 13.
683 Munich an Director Bonn, 10.1.1968, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol5_20F2, S. 107-108.
684 CIA-Fernschreiben an Army und Navy mit einer Information des Verbindungsbüros in
München vom 12.1.1968 mit dem Hinweis, Gehlen lege Wert darauf, dass die Nachricht
unbedingt zurückzuhalten sei, bis ihr Inhalt offiziell verkündet werde; ebd., S. 109-110.

1162
8. Ein glanzloser Abgang (1968)

Es ist von einer gewissen symbolischen Bedeutung, dass Reinhard Gehlen


unmittelbar nach der Kabinettsentscheidung über seine Nachfolge mit dem
örtlichen CIA-Vertreter über seine weitere Zukunft sprach.685 Selbst seine Ehe­
frau wisse noch nichts von der neuen Entwicklung, erklärte er. Er begab sich
gleichsam wieder in den Schutz jener Weltmacht, die ihn als ehemaligen Wehr­
machtgeneral in der frühen Bundesrepublik protegiert und in Bonn platziert
hatte. Wenn Gehlen in den vergangenen zwölf Jahren als Präsident des Bundes­
nachrichtendienstes auch geglaubt hatte, als gleichberechtigter Partner der
Amerikaner selbstständig einen der größten Nachrichtendienste der westli­
chen Welt leiten zu können, so hatte er die Abhängigkeit von der Schutzmacht
USA niemals vollständig ablegen können und wollen. In dem politischen
Gerangel hinter den Bonner Kulissen um seine Nachfolge hatten sich die Ame­
rikaner weitgehend zurückgehalten. Gehlen, der seit der Felfe-Affäre politisch
und persönlich angeschlagen war, hatte in der quälenden Agonie der letzten
zwei Jahre noch weiter an Ansehen eingebüßt. Auch wenn ihm das keiner
offen sagte, alle Beteiligten schienen froh darüber zu sein, dass er endlich den
Weg freimachen würde für einen Neubeginn beim BND. Für Gehlen weckte die
bevorstehende Verabschiedung zwiespältige Erwartungen. Trotz verband sich
mit Eigensinn und Rechthaberei. Er wollte, dass man ihm Respekt als einem
der schärfsten Widersacher des Sowjetkommunismus erwies. Als Sieger wollte
er von der Bühne der Weltgeschichte abgehen. Was wogen dabei die in seiner
Sicht unberechtigten Meckereien innerhalb des Dienstes?
In seinem Gespräch mit dem Münchener CIA-Vertreter erklärte Gehlen,
Kanzler Kiesinger habe mit seinem Fingerspitzengefühl den richtigen Zeit­
punkt gewählt, um die Entscheidung im Kabinett durchzubringen. Damit sei
das Thema für längere Zeit ad acta gelegt. So sei auch Wendland als Vizeprä­
sident praktisch durch. Er selbst habe nicht die Absicht, die Szene zu verlas­
sen. Frühere Pläne, unter der Fahne der CSU eine politische Rolle anzustreben,
habe er zurückgestellt. In Pullach seien noch genug Probleme zu lösen, und
das sollte nicht mit neuen belastet werden, die entstehen würden, wenn er
nach seinem historischen Wirken nun zu einer politischen Figur werde. Und
für Washington hatte er die Botschaft: Vor Mai werde er wohl nicht den mehr­
fach geplanten USA-Besuch unternehmen können.
Der CIA-Agent berichtete, dass Gehlen zum ersten Male seit dem Sommer
1967 seine emotionale Belastung deutlich gezeigt habe und nach dieser Nach­
richt halb geschockt sei. Er habe ausgezehrt, betroffen und niedergeschla­

685 CIA-Bericht vom 12.1.1968, ebd., S. 111-114.

1163
gen ausgesehen. Aufseiten der CIA gab man sich in den nächsten Wochen
große Mühe, adäquate Geschenke für Gehlens Verabschiedung, zugleich sein
67. Geburtstag, zu finden. Dringende Informationsbedürfnisse der Bundesre­
gierungen liefen offenbar derweil an Gehlen vorbei, ohne dass sie ihn sonder­
lich berührten. Sein Vertreter in Bonn erhielt wichtige Fragen des Kanzlers
zur Politik des Ostens. Was stecke hinter den neuesten Brief des Kreml? Wo
liege die Risikogrenze bezüglich West-Berlins? Wer stecke hinter den Bonner
Vertretungen der Nachrichtenagenturen UPI und AP und mache womöglich
den Versuch, die deutsche Innenpolitik zu beeinflussen? Treffe es zu, dass
starke nordvietnamesische Verbände in Laos eingegriffen haben, oder sei der
Verdacht berechtigt, dass Washington mit solchen Meldungen lediglich den
amerikanischen Wähler zu beeinflussen versuche?686 Fragen über Fragen, die
für einen funktionierenden Auslandsnachrichtendienst eine große Herausfor­
derung darstellten und wo seine Einschätzung in Ergänzung zu anderen Infor­
mationsquellen der Bundesregierung gebraucht wurde.
Zwiespältig war der Eindruck, den Wessel von Gehlen bei einem Gespräch
in Bonn gewann. Gehlen beglückwünschte seinen Nachfolger zu dessen Ernen­
nung und behauptete, er habe ihn von jeher als seinen Nachfolger sehen wol­
len. Merkwürdig war seine Bemerkung, die Lage sei ähnlich der von Ende 1944,
als er FHO an Wessel übergeben habe. Sie spitze sich im Großen wie im Kleinen
kritisch zu, und man könne noch nicht übersehen, ob sie zu einer völligen Auf­
lösung oder zu neuen tragfähigen Formen führen werde. Dass der General sich
von Untergangsgefühlen gefangen nehmen ließ, wird Wessel überrascht haben.
Auf seine zahlreichen Fragen über Zustand und Zukunft des Dienstes erhielt
er keine klaren Antworten. Gehlen berichtete von den Eingaben des BND-Mit­
arbeiters Hans Maetschkes beim Kanzleramt. Dort habe man sich so unge­
schickt verhalten, dass er eine Vorlage beim Generalbundesanwalt nicht mehr
vermeiden könne. Auf seine Frage, welchen Einfluss denn der Präsident auf
unliebsame Personalaffären habe, erhielt Wessel keine Antwort. Es gab auch
keine klare Antwort auf die Frage nach dem Stand der Beschaffung. Wessel
hatte den Eindruck, dass sich Gehlen in letzter Zeit wenig darum gekümmert
hatte und nicht mehr informiert war, obwohl sie die Grundlage des Dienstes
war. Wessels Gesamteindruck war: Gehlen »klebt zweifellos am Dienst«, auch
wenn er sich nichts anmerken ließ.
Was diesen hauptsächlich beschäftige, sei das Ziel, die bloße Angliederung
des BND an das Kanzleramt zu erhalten, und die Anhebung der Position des

686 Fragen, die Dethleffsen bei seiner Besprechung in Bonn gestellt wurden, 19.1.1968,
BND-Archiv, 1163/2, Blatt 395; Antworten in der Aufzeichnung Degenhardts vom
25.1.1968, ebd. Blatt 398-399, gestützt auf eine Lagebeurteilung des Unterabteilungs­
leiters Politische Auswertung, BND-Archiv, 7350.

1164
Präsidenten auf die Besoldungsstufe 10, die einem Staatssekretär entsprach.
Gehlen verständigte sich mit Wessel darüber, dass es im April eine vierwö­
chige Einweisungszeit für den Nachfolger geben würde. Danach sollte er nur
noch nach Pullach kommen, wenn er gerufen werde. Für seine eigene nächste
Zukunft machte Gehlen einen überraschenden Vorschlag: Er bat darum, die
Geschichte des Dienstes schreiben zu dürfen, nicht im Sinne von Memoiren,
sondern in Form eines Werkvertrags und mit dienstlicher Unterstützung, um
die »einmalige Geschichte des Dienstes«, wie Wessel selbst es wiederholt
gefordert hatte, für die Nachwelt festzuhalten. Ob Gehlen zu diesem Ent­
schluss durch seinen Kontakt mit Ritter von Schramm angeregt worden ist
oder, aufgewühlt durch die drohenden Eingaben kritischer Mitarbeiter und die
Bildung der Mercker-Kommission, Zugriff auf die BND-Akten behalten und so
das künftige Bild des Dienstes bestimmen wollte, muss offenbleiben. Wessel
jedenfalls war im Moment über den Vorschlag erfreut, weil er glaubte, dann
jederzeit auf den Rat Gehlens zurückgreifen zu können, ohne Gefahr zu laufen,
dass ihm dieser in seine Amtsführung hineinreden würde. Außerdem könnte
er den Expräsidenten vielleicht für gewisse besonders heikle Sonderaufgaben
verwenden687 – eine Vorstellung, die Wessel schon bald wieder aufgab. Dafür
öffnete er mit diesem gentlemen’s agreement für Gehlen einen Zugriff auf die
wichtigsten Akten, was diesen bald zu dem Versuch veranlasste, wie 1944/45
Akten persönlich an sich zu bringen, zu verbergen oder als Mikrofilme in US-
Gewahrsam zu übergeben. Die Geschichte wiederholte sich also in gewisser
Weise – doch davon später.
Während Anfang 1968 im Hintergrund die vorliegenden Beschwerden von
kritischen Mitarbeitern des BND vom Kanzleramt umsichtig und verschwie­
gen geprüft wurden, begann nun zugleich die Intrigenwirtschaft der Hardliner
und Unterstützer Gehlens. Baron von Guttenberg, parlamentarischer Staats­
sekretär des Kanzlers, erhielt eine »Gelegenheitsinformation« zugespielt, die
von einem Abendessen Willy Brandts mit Journalisten in West-Berlin berich­
tete. Demnach hatte der SPD-Vorsitzende und Außenminister den BND hef­
tig kritisiert und erklärt, er schenke dessen Berichten keinen Glauben mehr.
Stets werde gemeldet, die SED befinde sich auf Kollisionskurs, einen Tag vor
dem Mauerbau aber habe der BND berichtet, es gäbe nichts Bemerkenswertes.
Diese peinliche Fehlleistung habe den BND aufgeschreckt und veranlasst, sich
alle vier Wochen ein Alibi zu verschaffen, indem man vor Machenschaften der
SED warne.688

687 Notiz über die Besprechung Wessels mit Gehlen, 14.1.1968, BND-Archiv, N 1/138,
Blatt 185-187.
688 Notiz für Guttenberg, 2.2.1968, Nachlass Guttenberg, StA Bamberg, G 67/96.

1165
Wenige Tage später erhielt der Staatssekretär eine weitere anonyme »Gele­
genheitsinformation«, die sich auf eine sehr starke Quellengefahrdung berief.
Danach hätten am 5. Februar in der »SPD-Baracke« Gespräche zur Besetzung
des Vizepräsidentenpostens im BND stattgefunden. Nollau käme nicht mehr
in Betracht. Redding werde nur von Schmidt propagiert. Am 7. Februar sei
dem SPD-Führungskreis von einem Vertrauten des Kanzlers mitgeteilt wor­
den, dass Kiesinger auf einen geeigneten Vorschlag warte. Die SPD solle einen
geeigneten Zivilisten benennen. Damit sei das Interesse der SPD-Führung wie­
der gewachsen, nicht zuletzt, weil Egon Bahr, der Leiter des Planungsstabes im
Auswärtigen Amt, nach einem Besuch in Pullach berichtet habe, der BND sei
zweifellos ein wichtiges Instrument. Man müsse dessen Möglichkeiten einfach
besser nutzen.689
Damit der Empfänger die Gefahr für die Regierungsmehrheit und den Kanz­
ler richtig einschätzen konnte, wandte sich BND-General Langkau an Gutten­
berg. Er legte ihm persönliche Aufzeichnungen über Informationen vor, die er
über angebliche Geheimgespräche der SPD mit der Führung der italienischen
Kommunisten hatte. Gehlen habe einen Bericht bereits erhalten. Ihm sei vor­
geschlagen worden, weitere Bestätigungen einholen zu lassen, bevor daraus
eine Vorlage gemacht werden könne.690 Guttenberg bestätigte dem General
zwei Monate später, dass zu den Gesprächen zwischen SPD und der kommu­
nistischen Partei Italiens (KPI) inzwischen eine Koalitionsrunde stattgefunden
habe, worüber er ihn bei seinem nächsten Bonnbesuch unterrichten werde.691
Im Hintergrund braute sich ein Skandal zusammen, der Gehlens eigenes
Ansehen innerhalb der Regierungskoalition vollends ruinierte. Sein Führungs­
verhalten war immer mehr Eingeweihten inner- und außerhalb des Diens­
tes zum Ärgernis geworden. Der altgediente Mitarbeiter Hans Maetschke
(DN »Marwitz«), ehemaliger Abwehroffizier und zuletzt Leiter der Gegen­
spionage in München, hatte seit 1966 mehrere Eingaben an das Kanzleramt
gemacht und sie auch im Dienst verbreitet, wie Gehlen meinte, mit einer Fülle
von Entstellungen und Verleumdungen. Maetschke hatte vor allem das Brach­
liegen der Gegenspionage des Dienstes als Ergebnis des Felfe-Falles beklagt.692
Dazu habe auch die Entlassung einer großen Zahl von Mitarbeitern beigetra­
gen, die aus Sicherheitsgründen aus dem Dienst entfernt wurden, wobei es
zu großen Ungerechtigkeiten gekommen sei. Maetschke machte darauf auf­
merksam, dass es sich um eine gezielte Einflussnahme des Gegners gehandelt

689 Notiz für Guttenberg, 8.2.1968, ebd.


690 Langkau an Guttenberg, 13.2.1968, ebd., Blatt 220-222.
691 Guttenberg an Langkau, 5.4.1968, ebd., Blatt 284.
692 Siehe Mercker-Bericht, VS-Registratur Bka, Bk 151 00 (193), Bd. la, S. 8-21, Anlagen in
Bd. lc. Siehe hierzu demnächst auch ausführlich Dülffer, Krise, Kap. II.

1166
haben könnte, und verwies, ebenso wie auch andere Mitarbeiter, auf den Ver­
dacht gegen Dr. Karl-Eberhard Henke, der »teilweise übersteigert intelligent«
sei. Er sei im Grunde genommen Pazifist.
Gehlen hatte demgegenüber auf eine entsprechende Anfrage des Kanz­
leramts Anfang 1967 erwidert, dass der Angriff gegen Henke »letztlich vom
sowjetischen Nachrichtendienst gesteuert sei« und Maetschke »unbewußt«
als Instrument benutze. Auf das Gerücht, Maetschke versammle eine Reihe
von Dissidenten in Pullach, um Gehlens Absetzung zu fordern, hatte dieser
die Gruppe sofort infiltrieren lassen.693 Vorsichtshalber ließ Gehlen zudem im
erheblichen Umfang selbst telefonische Dienstgespräche in der Zentrale über­
wachen. Sein eigener Schwager Seydlitz-Kurzbach sah sich davon betroffen,
der seine Auffassung festhielt, dass dieser interne Abhörskandal sowohl den
geltenden deutschen Gesetzen als auch den offiziellen Führungsgrundsätzen
»gröblich widerspricht«.694
Gehlen wies alle Angriffe gegen Henke zurück und wollte die Angelegen­
heit dem Generalbundesanwalt übergeben. Nach der Übernahme des Kanzler­
amts durch Staatssekretär Carstens Anfang 1968 und einer internen Anfrage
der mitregierenden SPD-Fraktion regte Gehlen an, den Fall durch eine interne
Kommission des BND untersuchen zu lassen. Carstens setzte dagegen dann
auf die im Mai berufene Mercker-Kommission – nach der Zurruhesetzung
Gehlens.695 Die Kommission hob später in ihrem Bericht hervor, dass die
Behandlung des Falles Maetschke durch Gehlen beweise, dass es unter seiner
Präsidentschaft nur mit dem Risiko schwerwiegender persönlicher und dienst­
licher Folgen möglich gewesen sei, Kritik an der BND-Führung zu üben, und
dass Gehlen versucht habe, die Untersuchung in seinem Sinne zu lenken. Die
gegen Henke erhobenen Beschuldigungen Maetschkes hätten sich größtenteils
als nicht substanziell erwiesen. Nach der Verabschiedung von Gehlen wurde
das Disziplinarverfahren gegen Henke eingestellt. Maetschke wurden ehren­
hafte Absichten bescheinigt. Er wurde befördert und erhielt in der Zentrale
einen neuen Dienstposten.
Wessel als Nachfolger Gehlens lag sehr daran, der Kommission die abseh­
baren Folgen eines möglichen Abschlussberichts zu verdeutlichen. Man war
sich in den Gesprächen einig darüber, dass Maetschke und seine Unterstützer
nicht grundsätzlich falsch lagen und dass viele Fehler im Dienst gemacht wor­
den seien. Die Ermittler verwiesen darauf, dass besonders der Führungsstil

693 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 17.12.1971, IfZ, ED 100-69-253.


694 Aktenvermerk Chef der Fernmeldeaufklärung betr. Telefonüberwachung in der Zen­
trale, 13.4.1967, N 71/7, Blatt 299.
695 Zur Kommission siehe auch Karl Carstens: Erinnerungen und Erfahrungen, hg. von Kai
von Jena und Reinhard Schmoeckel, Boppard 1993, S. 358-362.

1167
Gehlens kritisiert worden sei, »der das Herauswachsen aus einem Familienun­
ternehmen zu einer Bundesbehörde organisatorisch und personell nicht mehr
bewältigt habe«.696
Zu den Untersuchungsfallen gehörte etwa die skurrile Eingabe der Ober­
regierungsrätin Rosemarie Beyer, die sie seit Ende 1967 im Bundespräsidial­
amt zu Protokoll gegeben hatte.697 Beyer, Mitarbeiterin des BND, äußerte die
absurde Vermutung, dass in der Führungsspitze des BND eine »Rote Kapelle«
existiere, die den Dienst systematisch zerschlage. Sie beschrieb die bestehende
Vertrauenskrise unter den Mitarbeitern und belegte ihren Verdacht mit dem
Hinweis auf die Besetzung wichtiger Stellen des höheren Dienstes mit fach­
lich wie menschlich ungeeigneten Personen. Gehlen habe von den Missstän­
den gewusst, sei aber nicht der eigentliche Kopf der »Roten Kapelle«. Warum
er außerstande gewesen war, entscheidende Gegenmaßnahmen zu ergreifen,
sei ihr unbegreiflich. Die Kommission bestätigte dann zwar, dass der Dienst
unter unzureichender Effizienz und anderen Mängel gelitten habe. Der Feind­
verdacht von Frau Beyer ließe sich aber nicht erhärten.
Zeitgleich erfuhr auch die Stasi über ihren Spitzel im Umfeld von Gehlen,
dass mehrere hauptamtliche Mitarbeiter des BND in privaten Gesprächen
behauptet hätten, es gebe eine Gruppe, die intern gegen Gehlen intrigiere. Sie
und andere Mitarbeiter würden nur darauf warten, dass Gehlen zurücktrete,
weil dann personelle Änderungen zu erwarten seien und seine »Cliquenwirt­
schaft« aufhöre. Nach seinem Abtreten würden die wirklich befähigten Mitar­
beiter die begehrten Leitungsposten übernehmen können.

Viele junge Menschen im BND seien mit ihrer Arbeit unzufrieden, weil man
[sich] verpflichtet [habe] zum Kampf für Ideale und gegen den Kommunis­
mus, und dann fanden sie dort eine wohlinstallierte Clique von Leuten Geh­
lens, die alle guten Posten besetzt haben. Dort seien viele Leute, die nur Geld
verdienen wollen und die nichts weiter interessiert. Viele werden in Pullach
nur durch die guten Sporteinrichtungen und das Schwimmbad gehalten.698

Gehlen verbrachte die Monate Februar und März hauptsächlich damit,


Abschiedsbesuche in verschiedenen Ländern Europas diesseits des Eisernen
Vorhangs und am Mittelmeer zu machen. Die Vorbereitungen der Amerikaner
auf den von Gehlen immer wieder verschobenen Abschiedsbesuch in Washing­
ton verliefen zögerlich. Der Verbindungsoffizier der US-Navy in München,

696 Dülffer, Krise, Kap. II/2.


697 Mercker-Bericht, VS-Registratur Bka, Bk 151 00 (193), Bd. la, S. 161-170.
698 HVA III/B, Information über Gruppierungen im BND gegen den gegenwärtigen Präsi­
denten Gehlen, 19.9.1967, BStU, MfS, HA II, Nr. 41478, Blatt 96.

1168
Commander R. E. Bublitz, wandte sich an den Director of Naval Intelligence,
Vizeadmiral Rufus Taylor. Er bat ihn, zur Verabschiedung von Gehlen einen
Dankesbrief zu schreiben, den Bublitz gern an Gehlen persönlich übergeben
wollte. Taylor werde ihm sicherlich zustimmen, dass Gehlen eine einzigartige
Intelligence-Karriere in der westlichen Welt gemacht habe. Sein Weggang mar­
kiere einen Wendepunkt in der Bundesrepublik.699 Admiral Taylor antwortete
etwas pikiert, er komme zu dem Schluss, dass es unpassend wäre, ein solches
Dankschreiben zu formulieren, denn er könne sich nicht an eine große Unter­
stützung durch Gehlen erinnern. Man habe versucht, eine direkte Intelligence-
Verbindung zur Bundesmarine zu schaffen, was einigermaßen delikat gewesen
sei, weil der BND das militärische Nachrichtenwesen auch der Marine kon­
trolliere. Er habe deshalb nicht vor, irgendeine Notiz von der Verabschiedung
Gehlens zu nehmen.700
Wenige Tage vor Gehlens Zurruhesetzung war die Besetzung des Vizeprä­
sidentenpostens noch immer nicht geklärt. Sein Anspruch, dass der Präsident
seinen Vize selbst aussuchen müsste, war in jedem Falle politisch nicht durch­
setzbar. Das hatte auch der Kanzler akzeptiert. Da entdeckte das Kanzleramt
weitere Argumente, die aus ganz formalen Gründen gegen die von Gehlen
gewünschte Ernennung von General Wendland sprach. Wenn man Wessel aus
dem Dienstverhältnis eines Berufssoldaten entlasse und mit der Präsident­
schaft ins Beamtenverhältnis übernehme, werde er zugleich Disziplinarvor­
gesetzter aller Beamten im BND, damit auch eines beamteten Vizepräsiden­
ten. Disziplinarvorgesetzter der Soldaten bliebe dann – wie bisher – General
Wendland als ranghöchster Soldat im BND. Würde man Wessel wie alle ande­
ren Soldaten schlicht in den BND versetzen, bliebe er im Rechtsverhältnis eines
Soldaten, damit auch Disziplinarvorgesetzter der Soldaten. Der Vizepräsident
würde dann Disziplinarvorgesetzter aller Beamten. Am besten sei es, Wessel
zum Beamten zu machen, schon weil das wegen der höheren Altersgrenze
seine interne Position stärke.701
Zu seinem 66. Geburtstag am 3. April 1968 erhielt Reinhard Gehlen von
seinen alten CIA-Vorgesetzten Geschenke und Grüße. Der Ton war auffallend
herzlicher als der seiner derzeitigen deutschen Dienstherren. Als Erster hatte
sich Critchfield mit sehr persönlichen und emotionalen Grüßen gemeldet, die
vergessen machten, dass er noch 17 Jahre zuvor Gehlen in einem Showdown
hatte feuern wollen. Kein anderer Geheimdienstchef, so schrieb er, habe sei­

699 Bublitz an Taylor, 13.3.1968, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol


5_20F2, S. 135.
700 Taylor an Bublitz, 20.3.1968, ebd., S. 139.
701 Notiz für Staatssekretär Carstens, 25.3.1968, VS-Registratur Bka, 151 02, Bd. 18, Wessel,
Gerhard.

1169
nen Posten so lange eingenommen wie Gehlen, der sich völlig und total mit
seinem von ihm geschaffenen Dienst identifiziert habe. So werde es beim BND
vermutlich viele schwere Herzen geben, da er doch mit vielen Mitarbeitern so
verbunden gewesen sei, wie er selbst in den gemeinsamen Jahren in Pullach
gespürt habe. Gehlen werde sicher dem Dienst verbunden bleiben und sich
nun seinem Hobby, dem Segeln, stärker widmen können, schrieb Critchfield
wohlmeinend.702
Am 17. April fand ein Dinner von Old Boys der Intelligence Community in
Washington zu Ehren von Reinhard Gehlen statt. Critchfield nahm das zum
Anlass, hervorzuheben, dass er es als großen Beitrag zur Sicherheit des Wes­
tens und zur Erhaltung des Friedens betrachte, was Gehlen persönlich und
seine Organisation in jenen unsicheren Jahren nach Kriegsende geleistet hät­
ten. Damit seien die Fundamente einer Zusammenarbeit Deutschlands mit
den westlichen Staaten gestärkt worden. Es sei für ihn als Zeitzeuge eine groß­
artige Erfahrung gewesen.703 Gordon Stewart ließ Tom Lucid eine Einladung
an Gehlen überbringen, im nächsten Sommer mit seiner Frau (die »utility«
bisher niemals mit in die USA genommen hatte – denn es waren stets Dienst­
reisen gewesen) sowie dem Ehepaar Herre eine Zeit in Stewarts komfortablen
alten Cottage am kanadischen Lake of Bays zu verbringen.704
Kanzler Kiesinger hatte sich entschieden, Gehlen lediglich mit einem Tele­
gramm zum Geburtstag zu gratulieren und ihn dann später beim Ausscheiden
aus dem Dienst sowie bei der geplanten Verleihung des Bundesverdienstkreu­
zes kurz zu sprechen.705 Der so von seinem deutschen Dienstherrn spartanisch
geehrte Präsident konnte bei der Geburtstagsfeier in seinem Haus in Berg den
Münchener CIA-Vertreter begrüßen. Dieser überbrachte als Geschenk der CIA
ein Paar schwarze Lederkoffer sowie ein Leder-Schreibtisch-Set, worüber sich
Gehlen nach dem Bericht des Agenten sehr freute. In entspannter Stimmung
sprach der scheidende BND-Präsident davon, dass er seinen USA-Besuch
im September machen wolle und so viele alte Freunde wie möglich treffen
mochte. Er wolle auch einige Tage bei Herre verbringen. Gehlen hatte offenbar
noch nicht ganz realisiert, dass er nach seiner bevorstehenden Amtsübergabe
für die CIA nicht mehr wie früher ein »dienstlicher« Gast sein würde. So bat er
darum, wie in der Vergangenheit von einem CIA-Vertreter begleitet zu werden,
was man ihm aber aus finanziellen Gründen nicht versprechen konnte. Geh­
len erinnerte sich an die unerfreuliche Reise 1956 während der Ungarn- und

702 Critchfield an Gehlen, 29.3.1968, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh­


len_vol 5_20F2, S. 144.
703 Schreiben Critchfields, 17.4.1968, ebd., S. 163.
704 Stewart an Lucid, 1.4.1968, ebd., S. 145.
705 Schreiben Carstens an Gehlen, 2.4.1968, VS-Registratur Bka, Personalakte Gehlen.

1170
Suezkrise, als er nach seiner Ankunft in den USA umgehend nach Deutschland
zurückkehren musste. Deshalb sollte man ihm jetzt eine schnelle Schiffsver­
bindung beschaffen, am besten mit der »USS United States«, einem Luxusliner,
um auch die Schiffsfahrt genießen zu können.
Der Agent gewann den Eindruck, dass sich Gehlen wieder gefasst hatte
und sich darauf freute, seinem Nachfolger als Berater zur Verfügung stehen
zu können. Er habe die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik und star­
ken Allianz gegen die kommunistische Gefahr unterstrichen und in mehre­
ren Gesprächen unter vier Augen wiederholt, dass man ihn persönlich immer
zu den Sympathisanten der amerikanischen Deutschland- und Europapolitik
zählen könne. Gehlen hoffte, auf den bisherigen Wegen in Kontakt zur CIA blei­
ben zu können.706
Offiziell war Wessel im April 1968 bereits in Pullach, um von Gehlen ein­
gearbeitet zu werden. Das Kanzleramt hatte eine solche minimale Einarbei­
tung nicht ablehnen können, wollte aber auch durch diese Konstellation nicht
zulassen, dass Gehlen seinen Nachfolger aufs falsche Gleis setzte. So sorgte
Staatssekretär Carstens durch schriftliche Anweisungen an Wessel dafür, dass
dieser sich unverzüglich ans Werk machte, um den BND von den Erblasten der
Gehlen-Zeit zu befreien. So erhielt der »Noch«-Generalleutnant Wessel bereits
am 18. April 1968 ein persönliches Schreiben mit der Bitte, mit der bevorste­
henden Übernahme des Amtes folgende vordringliche Aufgaben zu lösen und
Vorgaben zu berücksichtigen.707

1.) Die gesamte Organisation zu überdenken, dabei insbesondere die Mehr­


gleisigkeiten zu beseitigen und einen neuen Organisationsplan mit dem
Kanzleramt abzustimmen. 2.) Für Beförderungen von Soldaten und Beamten
in Leitungspositionen ab A-16 die Zustimmung des Kanzleramts einzuholen.
Bei Ernennung, Versetzung und Entlassung von Soldaten ab dem Rang Major
sei ebenfalls die Zustimmung erforderlich, bevor die entsprechenden Anord­
nungen des Verteidigungsministeriums herbeigeführt werden. Das Kanzler­
amt behielt sich ebenfalls die Zustimmung vor für jede Weiterbeschäftigung
von BND-Mitarbeitern jenseits der Altersgrenze, was eine seltene Ausnahme
bleiben sollte. 3.) Wessel möge der bevorstehenden Wahl der Vertrauensleute
seine ganz besondere Aufmerksamkeit widmen. 4.) Carstens wollte laufend
über die Berichterstattung an andere oberste Bundesbehörden über Fra­
gen von grundsätzlicher Bedeutung unterrichtet werden. Jeglicher Schrift­

706 Bericht Base Munich, 12.4.1968, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh­
len_vol 5_20F2, S. 158-159.
707 Persönliches Schreiben von Carstens an Wessel, 18.4.1968, VS-Registratur Bka, Bk 151
00(181), Bd.l.

1171
verkehr solle über das Kanzleramt laufen. 5.) Carstens verlangte außerdem
eine schriftliche Unterrichtung über Verbindungen zu anderen Stellen.
6.) In gewissen Bereichen, vor allem bei der operativen Beschaffung und der
Gegenspionage, gebe es eine starke Unzufriedenheit. Mitarbeiter, die nicht
voll ausgelastet werden können, sollten entsprechend umgesetzt werden.

Und Carstens verwies auf die Bildung einer Kommission, die den wichtigsten
Beschwerden nachgehen solle. Das war – hinter dem Rücken von Gehlen –
nicht nur ein deutliches Misstrauensvotum gegen den scheidenden Präsiden­
ten, sondern auch ein starkes Signal vom neuen Chef des Kanzleramts, dass
er grundlegende Reformen im BND für notwendig hielt, und er ließ damit kei­
nen Zweifel daran, dass er die von Gehlens stets abgelehnte Unterstellung und
Kontrolle des BND durch das Kanzleramt durchsetzen wollte. Es war letztlich
eine Vorwegnahme des Votums der Mercker-Kommission, die Gehlens Füh­
rungsleistung als »nicht befriedigend« einstufte. Gehlen wurde das nie eröff­
net, aber er dürfte die Auswirkungen sehr bald bemerkt haben. Was bei der
bevorstehenden förmlichen Verabschiedung durch schöne Worte verschleiert
wurde, beschrieb er später in seinen Memoiren als betrübliche Erfahrung der
letzten Jahre, dass »einzelne höhere Beamte, die – nicht kundig der Notwen­
digkeiten des Dienstes – stets bürokratische Schwierigkeiten machten«.708
Das bezog sich nicht nur auf den verhassten Bachmann, sondern letztlich auf
die gesamte Führung des Kanzleramts seit dem Weggang von Globke.
Der bevorstehende Rückzug des »Doktor Schneider« ermutigte manchen
Kritiker, seinen bislang zurückgehaltenen Unmut deutlicher zu äußern. So
berichtete Gehlens Verbindungsmann in Bonn am 19. April 1968 direkt an
Wessel über ein Gespräch mit Staatssekretär Günter Diehl,709 dem Leiter des
Presse- und Informationsamts der Bundesregierung und stellvertretenden Vor­
sitzenden einer Reformkommission des Auswärtigen Amts. Dieser habe ihm
beim Mittagessen erklärt, dass die Beiträge des BND meistens sehr interessant
seien, aber eigentlich nicht dem entsprächen, was man von einem Nachrich­
tendienst erwarte. Man hoffe über Fakten informiert zu werden, stattdessen
würden im Allgemeinen nur Auffassungen Einzelner wiedergegeben, wobei es
aus Gründen des Quellenschutzes für den Abnehmer außerordentlich schwie­
rig sei zu beurteilen, welche Bedeutung diesen Ansichten beizumessen sei. Das
sei auch die Auffassung des Kanzlers, auf den Diehl einen großen Einfluss habe.
Auch der Präsident des Bundesrechnungshofes, mit dem Gehlen in frühe­
ren Jahren meist einvernehmliche und sehr großzügige, verständnisvolle Rege­

708 Gehlen, Der Dienst, S. 248.


709 Aktennotiz von Dethleffsen für Wessel, 19.4.1968, BND-Archiv, N 1/183.

1172
lungen gefunden hatte, zeigte sich plötzlich engherzig, wie Gehlen in seinen
letzten Diensttagen bemerkt haben wird. Er verlangte eine zeitliche Begren­
zung des geplanten Werkvertrags für die Geschichtsaufbereitung auf drei Jahre
und betonte, dass die bisher von Gehlen geführten Sonderverbindungen im
Laufe der Zeit auf den neuen Präsidenten oder einen von diesem bestimmten
Vertreter übergeleitet werden sollten.710 Das lag ganz auf der Linie des Kanz­
leramts, Gehlen nach Möglichkeit künftig vom BND fernzuhalten.
Gehlen musste damit rechnen, dass die offizielle Amtsübergabe an seinen
Nachfolger manchen – aus seiner Sicht – ärgerlichen Kommentar in der Presse
auslösen würde. So nutzte er die Chance, die ihm Gräfin Dönhoff mit ihrer
Anfrage zu einem Interview bot. So gelang es ihm wieder einmal, sich selbst
und seine Leistung ins rechte Licht zu rücken. Der Artikel in der renommierten
Wochenzeitung Die Zeit erschien wenige Tage vor seiner Verabschiedung und
wählte mit dem Titel »Der Mann ohne Gesicht« den Aufhänger, dass es von
ihm praktisch kein neueres Foto gebe. Für die Gräfin machte das Reinhard
Gehlen unbestritten zu dem Mann »mit dem höchsten Geheimniskoeffizien­
ten in der Bundesrepublik«, den nicht einmal die meisten seiner Mitarbeiter
jemals zu Gesicht bekommen hätten.711
Das ist aus heutiger Sicht schon eine irritierende Charakterisierung eines
Geheimdienstchefs. Gehlen selbst steuerte dazu zwei – wie er meinte – lustige
Anekdoten bei. So habe er mehrmals einen Studenten von Berg nach München
im Auto mitgenommen, der Medizin studierte und sich gelegentlich mit dem
Fotografieren beschäftigte. Eines Tage habe ein BND-Mitarbeiter, der eben­
falls in Berg wohnte, denselben jungen Mann am Ortsausgang als Anhalter
mitgenommen und von ihm erfahren, dass seine letzte Fotoreportage geschei­
tert sei, weil es ihm nicht geglückt sei, den BND-Chef Gehlen zu fotografieren,
obwohl er eine ganze Nacht neben dessen Haus auf einem Baum gesessen und
gewartet habe.
In einer anderen Anekdote schilderte Gehlen, dass er während einer Bahn­
fahrt im Abteil mit zwei Journalisten sowie einem unauffälligen Mann geses­
sen habe. Die Journalisten hätten darüber diskutiert, dass es doch möglich sein
müsse, Gehlen einmal irgendwo zu begegnen. Er habe dann schnell das Abteil
gewechselt. Zwei Tage später habe er eine Meldung in Händen gehalten, in
der jede Einzelheit der Konversation der beiden Journalisten festgehalten war.
»Der dritte Mitreisende war nämlich ein Herr des BND gewesen, der seinen
Chef nicht von Angesicht kannte« – notierte Gräfin Dönhoff, die sich an dieser

710 Notiz über eine Besprechung mit dem Präsidenten des Bundesrechnungshofes,
23.4.1968, BND-Archiv, N 13/v.2, Blatt 122.
711 Marion Gräfin Dönhoff: Der Mann ohne Gesicht, Zeit 17/1968 vom 26.4.

1173
Stelle nicht darüber wunderte, weshalb sich Gehlen damit brüstete, dass seine
Agenten im Inland offenbar auch Journalisten überwachten.
Man könne sich, so Dönhoff, kaum jemand Unauffälligeren vorstellen als
Reinhard Gehlen. Jeder könnte sich am Briefschalter an dem bescheiden wir­
kenden Mann vorbeidrängeln, ohne dass sich dieser beschweren würde. Er
wirke schüchtern, »aber gar nicht verkrampft, sondern vollständig gelöst und
vor allem nachdenklich, auch diplomatisch, dabei von einer Distanzierung, die
vielleicht sogar in Isolierung umzuschlagen vermag. Sicherlich ist er empfind­
lich, aber auch empfindsam.« Zur Sprache kamen im Interview die östlichen
Attentatsversuche, die Gehlen bewegt hätten, die Unauffälligkeit als perfekte
Tarnung zu wählen. Was Natur und Erziehung aus ihm gemacht hatten, wurde
also als eine Art von Selbstverteidigung deklariert.
»Sein Äußeres: Kurz geschorener Schnurrbart, graue Schläfen, hohe Stirn,
die in eine Glatze übergeht. Noch immer ist er schlank, nur wenig vom Alter
gezeichnet. Man könnte ihn sich gut in einem Labor vorstellen oder im wei­
ßen Kittel eines Chirurgen«, beschrieb Dönhoff den scheidenden BND-Präsi­
denten, der auf andere Gesprächspartner einen durchaus ungünstigeren Ein­
druck machte. Das völlige Fehlen von Charisma versuchte die wohlwollende
Journalistin mit dieser Beschreibung zu übergehen und durch den Hinweis auf
seinen ungeheuren Fleiß auszugleichen. Er habe sein ganzes Leben »um der
Sache willen« gelebt, behauptete sie, wieder einmal dem Anschein preußischer
Tugenden erlegen.
Dönhoff schilderte die bekannten Stationen seines Soldatenlebens, seine
Verbindung mit dem Widerstand, dann die Legende vom Gentlemen’s Agree­
ment mit den Amerikanern, schließlich seine angeblich unvermeidliche
Beschäftigung von Altnazis. Das sei ein Umstand gewesen, »unter dem Gehlen
selbst wahrscheinlich am meisten gelitten hat, denn seine politische Gesin­
nung war immer absolut untadelig«. Die ostpreußische Adlige konnte nicht
die Wahrheit wissen, wie sehr Gehlen die Entnazifizierung seines Dienstes
tatsächlich gebremst und blockiert hatte. Von einer »Selbstreinigung« konnte
kaum die Rede sein.712 Dönhoff war auch nicht in der Lage, seine angeblichen
Erfolge als BND-Präsident kritisch zu hinterfragen. Wie sie aber zu einem ihrer
Schlusssätze gekommen ist, bleibt ein Rätsel. Sie schrieb: »Wer ihn kennt, ist
vor allem über eines überrascht: daß ein Mann, dessen Metier es mit sich
brachte, daß er seit Jahrzehnten den Osten als potentiellen Gegner betrachten
mußte, sich so freigehalten hat von antikommunistischen Komplexen.« Geh­
len sollte es ihr in den nächsten Jahren mit drei Büchern vergelten, die sich in
antikommunistische Komplexe förmlich hineinsteigerten.

712 Siehe hierzu umfassend die UHK-Studie von Nowack, Sicherheitsrisiko, S. 414.

1174
Die Gräfin wäre sicher erstaunt gewesen, wenn sie erlebt hätte, wie sich
Gehlen im kleinen Kreise bei einem Abschiedsbesuch geäußert haben soll. Ein
Stasispitzel, der Zugang zu diesem engeren Kreis hatte, berichtete darüber,
dass Gehlen am Beispiel des Vietnamkrieges sowie der Verkehrsprobleme in
Frankreich seine Meinung erläuterte, der Westen sei bei der Lösung von Prob­
lemen immer im Nachteil, weil man vor Entscheidungen immer erst die Politi­
ker einschalte. Die freie Welt müsse sich in ihrem komplizierten Aufbau verän­
dern. Im Kommunismus würden die Probleme von den Nachrichtendiensten
erkannt und ohne Verzögerung über die Technokraten und Politiker sofort die
richtigen Maßnahmen eingeleitet (diese Vorstellung zeigt, dass Gehlen von
den Macht- und Entscheidungsstrukturen im Osten keine realistische Vorstel­
lung besaß). Im Westen, so Gehlen, müsse der Nachrichtendienst ein Teil der
Exekutive werden und die Politiker als Hemmschuhe zu sofortigem Handeln
zwingen können. Man müsse sich zu revolutionären Methoden entscheiden,
denn die Zeit sei sehr schnelllebig und jede verlorene Stunde bedeutet für den
Westen und die Freiheit der Menschen einen Verlust. Gehlen warnte vor den
»Dutschkes und Hippies«, von denen eine größere Gefahr ausgehe als viele
Menschen glaubten. Sie würden von vielen Jugendlichen gehört und diese
ablenken von den eigentlichen Problemen, für deren Lösung es praktisch
»nur noch den Nachrichtendienst und das ausführende Organ geben dürfe«.
Nur dann wäre ein schnelles Reagieren gewährleistet und die westliche Welt
erhielte wieder eine Chance.713
So kam dann der letzte Tag seines Dienstes für den Staat, der sich in sei­
nem Leben dreimal grundlegend verwandelt hatte, aber der Feind – darin
hatte Gräfin Dönhoff recht – war für Gehlen stets derselbe geblieben. Am
30. April 1968 versammelten sich die leitenden Mitarbeiter des BND, um ihrem
Chef die letzte Ehre im Dienst zu erweisen.714 Er war zuvor von Kanzler Kiesin­
ger mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik
mit Stern und Schulterband dekoriert worden. Die Laudatio in Pullach trug
der Chef des Kanzleramts vor und unterstrich mit dieser Geste die von Geh­
len immer wieder bekämpfte Unterstellung des BND. Er beschrieb Gehlens
Lebenslauf und Werdegang mit allen Legenden und Beschönigungen. Und
natürlich sprach Carstens davon, dass der scheidende Präsident »hervorra­
gende Dienste« geleistet habe, und überbrachte den Dank der Bundesregie­

713 HVAIII/B, Information, 12.3.1968, BStU, MfS, HA II, Nr. 41478, S. 99 -101. Die Quelle sei
teilweise überprüft, eine publizistische Auswertung sei zu ihrem Schutze nicht möglich,
hieß es.
714 Rede des Chefs des Bundeskanzleramtes anläßlich des Wechsels im Amt des Präsiden­
ten des Bundesnachrichtendienstes in München, 30.4.1968, BND-Archiv, N13/2, S. 2-5;
Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 304.

1175
rung – insoweit war die Genugtuung, die noch in Gehlens Memoiren spürbar
ist, berechtigt. Die angeblich »warmen Dankesworte« von Carstens hätten ihn
für die Schwierigkeiten der letzten Jahre seit dem Weggang Adenauers ent­
schädigt, schrieb er.715
Carstens nahm aber auch die heftige interne Kritik an Gehlens Führungs­
leistung unüberhörbar auf. Der Präsidentenwechsel eröffne »eine Chance, zu
einem neuen Arbeitsstil zu gelangen, einem Stil, der vielleicht etwas weniger
geheimnisbeladen ist, und der bis zu einem gewissen Grade die überkomme­
nen hierarchischen Strukturen durch das Zusammenwirken von Partnern
ersetzt«. Dass der Staatssekretär die überfällige Einordnung des Geheimdiens­
tes in die moderne Welt ansprach, mag nicht alle Anwesende erfreut haben,
aber unter ihnen befanden sich auch einige Kritiker des Altpräsidenten, die
auf Veränderungen unter dem Nachfolger hofften. Gehlen dagegen hatte in
seinem Interview mit Dönhoff als Herausforderung der Moderne lediglich den
verstärkten Einsatz von Computern ansehen wollen. Das reichte vielen nicht
aus. Dennoch empfanden nicht wenige großen Respekt vor der Lebensleistung
des Reinhard Gehlen. Durch ihre freiwilligen Spenden konnte ein Abschiedsge­
schenk überreicht werden: ein silbernes Teeservice und ein Notstromaggregat
für Gehlens Segelhobby.
Die Mehrheit der BND-Angehörigen bekam auch bei dieser Gelegenheit
den ersten Präsidenten nicht zu Gesicht. Ihnen dankte Gehlen in einem Rund­
schreiben, Papier, das geduldig den Dank für die geleistete Arbeit vermerkte
und mit einem wenig inspirierten, schon gar nicht herzlich formulierten
Appell endete. Der BND, so hieß es, möge Anschluss an die moderne techni­
sche Entwicklung halten und das Vertrauen auf seinen Nachfolger übertragen.
»Ohne Loyalität, Hingabe an die Sache und freiwillige Disziplin kann der Bun­
desnachrichtendienst nicht bestehen, dessen Aufgaben nur gemeinsam gelöst
werden können.«716
Sein früherer Vorgesetzter, der Chef der CIA, meldete sich anlässlich der
Verabschiedung ebenfalls nur mit einem Papier zu Wort. Natürlich war es
nicht die Gelegenheit, an frühere, teilweise heftige Meinungsverschiedenhei­
ten zu erinnern, sondern ein Augenblick freundlicher Diplomatie. Richard
Helms schrieb an Gehlen, dass seine Karriere ein Vorbild sei für die uneigen­
nützige Hingabe an Pflicht und loyalen Dienst für das eigene Land und die
freie Welt, die treue Einhaltung der Prinzipien von Freiheit und Recht. Gehlen
habe den Respekt aller gewonnen, die das Privileg hatten, in den vergangenen

715 Gehlen, Der Dienst, S. 248.


716 Rundschreiben Gehlens vom 30.4.1968, zit. nach: Beschreibung des Nachlasses, BND-
Archiv, N 13.

1176
zwei Jahrzehnten mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. Seine Visionen und
Anstrengungen hätten eine Organisation geschaffen, die wichtige Beiträge für
die westliche Welt geleistet habe. Er hoffe, dass Gehlens einzigartige Erfah­
rung und Weisheit auch künftig zur Verfügung stehen würden und dass er ihn
im Herbst persönlich Wiedersehen könne.717 Intern gab er die Parole aus, nach
dieser Abschiedstournee Gehlens die CIA-Beziehungen zu dem alten General
herunterzufahren.
Abseits dieser vordergründigen diplomatischen Bekundungen zeigte sich
Reinhard Gehlen keineswegs so gelassen, wie er gern vorgab. Dass Hans
Globke ihm einen liebenswürdigen Brief zukommen ließ und für die frühere
enge Zusammenarbeit dankte, veranlasste ihn zu einem ausführlichen hand­
schriftlichen Antwortschreiben.718 Er habe im Grunde nur seine Pflicht an der
Stelle getan, an die das Schicksal ihn gestellt habe, schrieb Gehlen an seinen
früheren Vorgesetzten. Globke habe stets Verständnis gehabt für die Schwie­
rigkeiten, denen ein Nachrichtendienst gegenüberstehe. Nach seinem Fort­
gang sei er aber gezwungen gewesen, »einen dauernden Abwehrkampf gegen
sachlich nicht gerechtfertigte Eingriffsversuche des Bundeskanzleramtes« zu
führen, während ihn die Parlamentsausschüsse und der Präsident des Bundes­
rechnungshofes bereitwillig unterstützt hätten. Ein Lichtblick sei in dieser Zeit
lediglich der hilfsbereite Dr. Mercker gewesen, während ihn die Herren Bach­
mann und Dr. von Koester »bezüglich der Auffassung ihrer Aufgabe schwer
enttäuscht« hätten.

Das alte deutsche Beamtentum, das nur die Sache und nicht die eigene Per­
son in der Erfüllung seiner Aufgaben sah, und das durch Sie und eine Reihe
von anderen älteren Persönlichkeiten in so vorbildlicher Weise noch reprä­
sentiert wurde, ist ja wohl im Aussterben begriffen. Es sollen dies keine ver­
bitterten, sondern die Tatsachen nüchtern sehenden Feststellungen sein, die
eben ein Zeichen der Zeit sind und sich auf allen Gebieten des staatlichen
Lebens irgendwie kundtun. Ich glaube nicht, daß es trotz des Verständnis­
ses des jetzigen Bundeskanzlers und seines Staatssekretärs unter den heu­
tigen Umständen noch möglich sein würde, einen qualitativ hochstehenden
Auslandsnachrichtendienst nur aufzubauen. Umso mehr rückt auch dies in
mein Bewußtsein, wie eng Ihr Name, die anfängliche Mitwirkung von Herrn
Gumbel und das Verständnis des verstorbenen Herrn Bundeskanzlers Dr.
Adenauer mit dem Aufbau unseres Dienstes verknüpft sind. Ich habe mich

717 Schreiben Helms an Gehlen, 30.4.1968, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol 5_20F2, S. 176.
718 Gehlen an Globke, 20.5.1968, BND-Archiv, N 13/20.

1177
von meiner Aufgabe, der ich mit Passion gedient habe, naturgemäß mit einer
gewissen Wehmut getrennt, bin mir aber immer darüber klar gewesen, daß
es gerade auf diesem Gebiet notwendig ist, rechtzeitig einem Jüngeren Platz
zu machen. Der Zukunft sehe ich nicht nur im Politischen mit einem gewis­
sen Pessimismus entgegen, sondern auch in Bezug auf die weitere Entwick­
lung des Dienstes, der – wenn die Vorstellungen mancher nicht fachkundiger
Persönlichkeiten sich verwirklichen sollten – aus rein sachlichen Gründen
sich gar nicht zum Besseren wird entwickeln können. Nun, mich geht das
alles nichts mehr an, ich bin aber dankbar für den Weg, den das Schicksal
mich geführt hat.

Im Kanzleramt wollte man den Gezeitenwechsel keineswegs gemütlich ange­


hen lassen. Mit der Aushändigung der Ernennungsurkunde zum Präsidenten
des BND erhielt Gerhard Wessel am 2. Mai 1968 den Entwurf einer Allgemeinen
Dienstanweisung, zu der er innerhalb weniger Tage Stellung beziehen sollte.
Auch damit wurde symbolisch die Rangordnung zwischen BND und Kanz­
leramt geklärt, und Wessel erhielt den Entwurf mit der Bitte um vertrauliche
Behandlung, weil damit gerechnet werden müsse, »dass Präsident Gehlen
unter Inanspruchnahme aller seiner Möglichkeiten gegen die Konzeption der
Allgemeinen Dienstanweisung vorgehen« werde.719
Das forsche Vorgehen des Kanzleramts dürfte Wessel in seinem neuen Amt
sofort derartig in Beschlag genommen haben, dass ihm nicht danach zumute
gewesen sein dürfte, sich auch noch mit den Pressereaktionen auf seine Amts­
übernahme zu beschäftigen. Die DDR-Presse jedenfalls schäumte. Wessels
Vorgänger Gehlen sei ein »pensionsreifer Gangster im Generalsrang«. Über
den neuen BND-Präsidenten hieß es: »Gerhard Wessel ist ein Verbrecher am
deutschen Volk und seiner Zukunft. Er ist ein Todfeind unseres Volkes« und
müsse unschädlich gemacht werden, bevor er seine Verbrechen ausführt.720
Nur zwei Wochen im Amt, nahm Wessel die ersten offiziellen Direktiven
von Staatssekretär Carstens entgegen. Er solle mit Gehlen lediglich vereinba­
ren, dass dieser eine Geschichte des Nachrichtendienstes schreiben werde,
und es ablehnen, ihn mit der Führung laufender Kontakte zu beauftragen.721

719 Entwurf der Allgemeinen Dienstanweisung für den Präsidenten des BND, 2.5.1968, VS-
Registratur Bka, Bk 15100/181, Bd. 1.
720 Pressemappe vom Mai 1968, darin ein Artikel von Helmut Seidel (ohne weitere Anga­
ben), BND-Archiv, N 1/138. Wer sich hinter dem Namen Helmut Seidel verbirgt und wo
der Artikel erschienen ist, ließ sich nicht klären. Die Kopie des Zeitungsartikels enthält
keine weiteren Angaben.
721 Vermerk über das Gespräch Carstens mit Wessel, 14.5.1968, VS-Registratur Bka, Bk
15100/181, Bd. 1.

1178
Es schien die größte Sorge des Staatssekretärs zu sein, dass Gehlen auf seinen
Nachfolger einen unheilvollen Einfluss ausüben und für kritische Pressereak­
tionen sorgen könnte. Wessel war noch nicht so weit, seinen alten Chef ganz
aus dem BND zu verbannen, aber er reagierte geschickt auf das Anliegen von
Carstens. Für eine Stellungnahme zu der neuen Dienstanweisung erbat er sich
mehr Zeit. Er kündigte die Berufung einer internen Ad-hoc-Gruppe zur Über­
prüfung der Organisation an. Eine weitere Gruppe werde Vorschläge über das
immer wieder kritisierte Berichtswesen machen, und eine dritte Gruppe solle
Verbesserungen im Verwaltungs- und Rechnungswesen vorschlagen, mit dem
Ziel, Einsparungen zu ermöglichen.
Wessel wies darauf hin, dass er einen Vortrag über Möglichkeiten und Gren­
zen des BND vorbereite und diesen möglichst in sechs Wochen im Parlamen­
tarischen Vertrauensmännergremium halten wolle. Er versprach außerdem,
sich zu einer im Kanzleramt eingegangenen Beschwerde hinsichtlich der Ent­
lassung von politisch belasteten BND-Angehörigen zu äußern und eine Liste
vorzulegen, mit Namen und Begründungen für die Weiterbeschäftigung von
Mitarbeitern nach Überschreiten der Altersgrenze. Anders als Gehlen in seiner
Sturheit reagierte Wessel beweglich und konstruktiv, um das Heft des Han­
delns in der Hand zu behalten und dem Kanzleramt zu signalisieren, dass er
die als notwendig erkannte Reform des BND in eigener Verantwortung voran­
treiben wollte. Damit reagierte er nicht zuletzt auf die Mercker-Kommission,
die bereits seit einigen Tagen das Innenleben des BND erforschte.
Wessel entwickelte vom ersten Tag an einen anderen Führungsstil als sein
Vorgänger. Nach seiner dreiwöchigen Einweisung legte er eine eingehende
Analyse von Auftrag, Gliederung und Personal des BND vor.722 Er beschrieb
die unübersichtliche und ineffiziente Gliederung der Zentrale mit sechs weit­
gehend selbstständigen Abteilungen und einer Vielzahl von Einzelstellen, die
am Präsidenten hingen. Die sei historisch aus dem persönlichen Führungsstil
Gehlens erwachsen und durch die sehr weitgehende Sicherheitsabschottung
innerhalb des Dienstes gefördert worden. Die bewusst unübersichtlich gehal­
tene Gliederung, Überschneidungen sowie die unmittelbare Anbindung zahl­
reicher Einzelstellen und Führungsaufgaben an den Präsidenten seien nicht
mehr zeitgemäß. Die gesamte Organisation müsse gestrafft und ihre Wirkung
erhöht werden.
Dann zeigte Wessel seine Absicht, um die ihm übertragene Position zu
kämpfen. Die Angliederung an das Kanzleramt sei nicht ideal, erlaubte er sich
anzumerken. Der Präsident des BND brauche vor allem in Personalfragen mehr

722 Notiz Wessels über die Lage des Bundesnachrichtendienstes, 22.4.1968, BND-Archiv,
N l/7.

1179
Handlungsfreiheit. Er beanspruchte, die in jüngster Zeit in Bonn aufgelaufe­
nen Personalprobleme im eigenen Hause zu lösen. Das Beamtenrecht biete
allerdings praktisch kaum eine Möglichkeit, sich von ungeeigneten Personen
und von »gewiegten Nörglern und Kritikastern«, die im BND bleiben wollen,
zu trennen. So würden Beschwerden »an Gott und die Welt« gehen und zerset­
zend wirken, weil ein gerichtliches Vorgehen aus Gründen der Geheimhaltung
meist nicht möglich sei. Ein weiteres Problem sei, dass wegen der ungünstigen
Altersschichtung in wenigen Jahren die Masse der Führungskräfte ausschei­
den werde, was für Jüngere allerdings die Aufstiegsmöglichkeiten verbessern
werde. Die Sicherheitslage sei undurchsichtig, der Fall Felfe noch nicht über­
wunden. Bei der Beschaffung sei die Quellenlage völlig unzureichend, bei den
Außenführungsstellen fehlten Impulse und die Gliederung nach Sachgebieten
statt nach geografischen Bereichen habe sich nicht bewährt.
Um die Beschaffung habe sich Gehlen in den letzten Jahren nicht mehr
gekümmert. Sein Lieblingskind sei der strategische geheime Meldedienst
gewesen. Die Vielzahl der von ihm geführten Sonderverbindungen sei nach
Wert und Leistung aber völlig undurchsichtig. Dagegen verfüge der BND für
hochwertige Nachrichten aus Ländern des Ostblocks praktisch über keine
Quellen in entsprechenden Stellungen. Seine Stärke liege in der Mosaikarbeit,
die zum Erstellen von Lagebeurteilungen aus kleinsten Einzelinformationen
geheimer, verdeckter und offener Herkunft führe – in dieser Hinsicht unter­
schied sich der BND kaum von FHO! Die Erwartungen an einen Nachrich­
tendienst entsprächen meist nicht den Möglichkeiten. Zu diesem Fehlurteil
hätten »der Schleier des Geheimnisvollen«, sogenannte Tatsachenberichte
oder Spionageromane mit Supermännern als Agenten und Versuche, auch
unerfüllbare Aufträge zu erfüllen anstatt sie von vornherein abzulehnen.
Von einem Nachrichtendienst Tatsachen statt Analysen zu fordern, zeige die
Unkenntnis der Möglichkeiten auf. In dieser Hinsicht sei für den BND jetzt
die »Stunde der Wahrheit« gekommen – was nach Wessels Meinung offen­
sichtlich für beide Seiten galt: für die Regierung und den von ihr abhängigen
Dienst.
Die vom Präsidenten angeordneten Überprüfungen in verschiedenen Berei­
chen brachten schnelle Ergebnisse und Vorschläge. So hieß es unter anderem
über das Meldewesen, es seien in der Vergangenheit zu viele Meldungen pro­
duziert und oft viel zu hoch eingestuft worden, weil sich angeblich eine Mel­
dung besser verkaufe, wenn sie als geheim hinausgehe. Das Auswärtige Amt sei
aber daran interessiert, dass von dieser Einstufung weniger Gebrauch gemacht
werde und mehr Sammelmeldungen abgegeben werden. Die Beurteilung eines
Referats bzw. Bereiches hänge bisher zu sehr von der Zahl der abgegebenen
Meldungen ab, was oft zu Doppelarbeit und unklaren Abgrenzungen führe –
ein Ergebnis der früheren Eingriffe Gehlens. Im Bereich der Sicherheit sehe

1180
es besonders schlimm aus. Deren Mitarbeiter seien inzwischen völlig lebens­
fremd. Die Fürsorge werde vernachlässigt. Abgeschlossenheit und Isolierung
brächten große seelische Belastungen mit sich, besonders für die jungen Mit­
arbeiter, die eine verständnisvolle Betreuung benötigten. Die Leiter müssten
mehr Kontakt zu ihren Untergebenen haben, seien aber bisher zu stark mit
anderen Aufgaben belastet, weil es keine Zentralabteilung gab.723
Die Devise von der »Stunde der Wahrheit« galt freilich nur bedingt für die
Aufarbeitung der Vergangenheit. Wessel ließ in dem mit Gehlen abgeschlosse­
nen Werkvertrag vorsichtshalber den Auftrag eng begrenzen.724 Der General
sollte innerhalb von drei Jahren eine »Materialsammlung zur Geschichte und
zum Aufbau des deutschen Auslandsnachrichtendienstes von 1945 bis 1968«
zusammenstellen sowie einen Erfahrungsbericht vorlegen. Dafür wurde ihm
ein Honorar von 30.000 D-Mark in Aussicht gestellt. Die Nutzungsrechte für
diese Material Sammlung sollten beim BND verbleiben. Gehlen bestand aus­
drücklich darauf, in einem besonderen Vermerk sein Recht festzuhalten, Erin­
nerungen zu verfassen und nach eigenem Ermessen zu nutzen. Eine klare
Trennung zwischen der personellen und materiellen Unterstützung des BND
für die Materialsammlung und Gehlens Memoiren wurde nicht festgelegt.
Wessel dürfte das später bereut haben. Wie wichtig für seinen Vorgänger die­
ses private Publikationsprojekt war, sollte sich bald erweisen.
Ende Juli 1968, knapp ein Vierteljahr nach seiner Amtsübernahme, besuchte
Wessel den Altpräsidenten in dessen Haus in Berg. Ihm lag daran, Gehlen von
seinen ominösen Sonderverbindungen zu lösen. Mit einiger Mühe gelang es
ihm bei dieser Gelegenheit, das Angebot Gehlens, selbst via Jugoslawien eine
Verbindung mit dem tschechischen Dienst zu knüpfen, abzuwehren. Ange­
sichts der dramatischen Entwicklung in Prag, wo sich eine reformkommunis­
tische Regierung bemühte, eine mögliche Intervention des Warschauer Pakts
zu verhindern, erklärte Wessel, dass er jeden Versuch einer Verbindungsauf­
nahme zurzeit für abwegig halte, denn man dürfe die Tschechen nicht in eine
schwierige Lage bringen. Auch Gehlens Bitte, von der Mercker-Kommission
persönlich angehört zu werden, konnte er nicht erfüllen.725
Der Altpräsident hatte inzwischen begonnen, persönliche Markierungen
für die Geschichtsschreibung zu setzen. Nach dem Interview mit Gräfin Dön­
hoff war Jochen Willke sein Gast in Berg gewesen. Der ihm verbundene Jour­
nalist veröffentlichte in der Illustrierten Neue Revue sowie in der Abendzeitung

723 Notizen Wessels nach Gesprächen mit der Mercker-Kommission, 25.7.1968, ebd.
Blatt 137, sowie Vorschläge zur Arbeit des BND, ebd., Blatt 143-151.
724 Vereinbarungen zwischen Wessel und Gehlen, 26.6.1968, BND-Archiv, N 13/v.2, S. 6-8.
725 Notiz über das Gespräch Wessels mit Gehlen, 22.7.1968, BND-Archiv, N 1/7.

1181
Anfang Juli 1968 eine gefällige Homestory.726 Auch er strapazierte die Metapher
vom »großen Unbekannten«, der sich nun zur Ruhe setze und seinen Spaß
daran habe, dass ihn die Nachbarn gegen ungebetene Besucher abschirmten.
Er habe einmal einen besorgten Anruf von der Apotheke erhalten, weil Fremde
nach ihm fragten. Die Polizei sei verständigt worden und habe ermittelt, dass
es BBC-Reporter waren, die sich im Ort verlaufen hatten und sein Haus nicht
fanden. Der unauffällige Mann, der Willke an dem weit geöffneten Gartentor
empfing, gab dem angeblichen Star der internationalen Geheimdienstszene
Gelegenheit zur Selbstdarstellung.
Der Journalist schrieb, dass er den General seit Jahren kenne und nicht
bestätigen könne, dass er – wie es in der Presse heiße – eine Art von Super­
mann sei, kein normaler Mensch, ohne Herz, reiner Verstand. Gehlen sei
vielmehr ein gutherziger Mensch, der gern andere um sich habe. Als Geheim­
dienstchef musste er manche kritische Entscheidung treffen, dennoch habe
er niemals Humanität und Ethik verleugnet. Er habe ein brennendes Interesse
an Psychologie sowie Psychiatrie und sei eine Art von Seelenheiler, wie ein
enger Freund erklärte, der mit Gehlen und Willke im Wohnzimmer am Tee­
tisch saß, während Herta Gehlen im Hintergrund blieb und den Tee servierte.
Memoiren zu schreiben, um die sich Verlage reißen würden – daran denke er
derzeit nicht, sondern er verfasse im Augenblick einen Erfahrungsbericht für
die Regierung. Er wolle mehr Zeit für seinen neuen Segler verwenden, den er
per Telefon gekauft habe. Voller Stolz führte Gehlen den Journalisten durch
sein bescheidenes neues Fertighaus, das er bezogen hatte, um den Altbau für
seinen Sohn und dessen Familie freizumachen. Bei dem Rundgang erinnerte er
sich an seine Besuche in den USA und scheute sich nicht, auch das Schlafzim­
mer zu zeigen, gegen den zarten Protest seiner Frau, die wie alle Hausfrauen
in zivilisierten Ländern meinte, es sei doch nicht aufgeräumt! Ein Fernsehgerät
sah Willke nicht und erfuhr von Gehlen, dass sich dieser keinen der üblichen
Spionagefilme ansehe, denn sie seien romantisch angelegt. In der Realität
stütze sich der Nachrichtendienst auf Elektronik und Statistik.
In einer neuen französischen Biografie über Le general gris heiße es, Geh­
len sei eine Mischung aus Intellektuellem, Realisten und Diplomaten. Er erin­
nere an einen britischen Kolonialoffizier und sei gekleidet wie ein führender
Bankbeamter.727 Das war ein netter Gruß der französischen Freunde. Der
US-Auswertungsoffizier kommentierte den Artikel von Willke lapidar: Einzig
bedeutsam sei, dass jetzt alle befreundeten und feindlichen Länder erken­

726 Jochen Willke: Reinhard Gehlen. Deutschlands geheimster Mann, Neue Revue vom
7.7.1968.
727 Alain Guérin: Le général gris. Comment le général Gehlen peut-il diriger, depuis 26 ans,
l’espionnage allemand?, Paris 1968.

1182
nen könnten, dass Gehlen bloß noch ein pensionierter General sei. Das abge­
druckte, erste seit 1944 veröffentlichte Foto sei bemerkenswert und verstärke
diese These.728 Willke fragte Gehlen abschließend, ob er eine Periode des Frie­
dens erkennen könne. Dieser reagierte »klassisch«: Wenn keine besonderen
Zwischenfalle passierten, könne er nur mit Ja antworten.
Im vertrauten kleinen Kreis in Bonn äußerte sich Gehlen nach Informatio­
nen der Stasi ganz anders. Dort bezog er sich auf seine Erwartung, weiterhin
als Berater der Bundesregierung tätig zu sein. So sei er zwei Tage nach Ostern
in Bonn gewesen und habe an den Beratungen der Regierung über die Studen­
tenunruhen teilgenommen.729 Nach seiner Meinung sei der Studentenaufruhr
durch den »Osten« verursacht worden.

Die Hauptschuldigen seien jedoch die Alliierten. Sie seien bestrebt, die Demo­
kratie Amerikas einfach auf die Bundesrepublik zu übertragen, was nicht
gehe. Die Mentalität der Deutschen wäre aber so geartet, daß sie keine Demo­
kratie gebrauchten. Sie benötigen lediglich eine starke Regierung. Er, Gehlen,
hoffe, daß die NPD diese starke Regierung eines Tages bilden werde und sich
zu der Partei entwickle, die die jetzige Demokratie abbaut und hart durch­
greift. Er wolle aktiv mitarbeiten, die NPD starkzumachen. Die Entwicklung
in der CSSR mache ihn besorgt. Es sei ein Manöver der Sowjetunion, um im
Kommunismus einen Präzedenzfall der Demokratie zu schaffen, der im Wes­
ten Beifall finde und nachahmenswert sei. Das kommunistische Lager hoffe
auf eine Linksentwicklung in Frankreich. Dafür gebe es große Chancen.730

Im Juni 1968 war Gehlen noch zuversichtlich, bei der bevorstehenden


Abschiedsreise in die USA zur CIA und zu alten Freunden Anfang September
gefeiert und gewürdigt zu werden. Die Ankunft in Washington war nach den
Absprachen am Wochenende des 7./8. September geplant und danach sollten
nach Auffassung der Amerikaner social events im Mittelpunkt stehen. Geh­
len wollte unbedingt im Haus des CIA-Chefs offiziell empfangen werden und
führende Figuren der Intelligence Community treffen, um mit ihnen in seiner

728 H.D.D. Snyder, Lt. USNR, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol
6_10F2, S.9.
729 Das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 hatte die größ­
ten Straßenschlachten ausgelöst, die man bis dahin in der Bundesrepublik erlebt hatte.
730 HVA/VII, Bericht über Äußerungen Gehlens, 30.5.1968, BStU, MfS, HA II, Nr. 41478,
Blatt 2-3. Während der Mai-Unruhen von Studenten in Frankreich herrschten in Paris
fast bürgerkriegsähnliche Zustände. Ein wochenlanger Generalstreik legte das ganze
Land lahm. Staatspräsident de Gaulle flüchtete mit einem Hubschrauber nach Baden-
Baden, um sich dort beim Oberkommandierenden der französischen Streitkräfte in
Deutschland der Unterstützung durch das Militär zu vergewissern.

1183
neuen Rolle als »Historiker« zu sprechen. Dafür plante sein alter Arbeitgeber
Kosten von 2500 Dollar ein – nicht opulent, aber für den gewünschten Begleit­
offizier würde es reichen. Herre würde am übernächsten Tag ein Essen in
seinem Haus mit ehemaligen »Pullachern« arrangieren, also den alten ame­
rikanischen Bekannten. Daran anschließen würde sich eine Fahrt Gehlens zu
den Niagara-Fällen und für einige Tage ein Aufenthalt in Herres kanadischem
Sommerhaus.731
Mitten in seinen Vorbereitungen zur Abschiedsreise in die USA und ver­
mutlich beunruhigt durch die laufenden Befragungen von Mitarbeitern durch
die Mercker-Kommission traf Reinhard Gehlen Anfang August 1968 ein schwe­
rer persönlicher Schlag. Kurz nach Mitternacht zum 2. August erhielt er die
Nachricht von einer Kollegin seiner ehemaligen Sekretärin und Geliebten, dass
Annelore Krüger nach dem Verlassen des Dienstes am späten Abend nicht in
ihrer Wohnung angekommen sei. Nach einer vergeblichen Suche ließ er eine
Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben. Kurz darauf traf in den frühen
Morgenstunden Fräulein Krüger nach einem längeren Fußmarsch in ihrer
Wohnung ein. Nach Unterrichtung über diesen Sicherheitsfall bat Präsident
Wessel Gehlen zu einem Gespräch.732 Dieser versuchte nach dem Eindruck
seines Nachfolgers, den Vorfall herunterzuspielen und ihn durch die Wechsel­
jahre zu erklären. Fräulein Krüger sei Ende des vergangenen Jahres bereits in
einer entsprechenden Behandlung in Göttingen gewesen und als völlig geheilt
entlassen worden.
Wessel brachte sein Erstaunen sehr deutlich zum Ausdruck, wie die »Ange­
legenheit« offenbar seit Jahren behandelt worden sei. Er ordnete ein ärztliches
Gutachten an und hielt dem Altpräsidenten vor, dass von ihm das weitere Vor­
gehen abhängig sei. Wessel bot an, Krüger in eine weit entfernte Außenstelle
zu versetzen, und forderte Gehlen, der die menschliche Verantwortung trage,
damit unverblümt auf, sein »Liebesverhältnis« aufzulösen. Drei Tage später
wurde Wessel darüber unterrichtet, dass es nur unter größten Schwierigkeiten
möglich gewesen war, Frau Krüger in eine Nervenklinik zu bringen. Gehlen
selbst sowie eine Reihe von anderen Mitarbeitern habe vergeblich vor ihrer
Wohnungstür auf sie einzuwirken versucht.733 Gehlen ließ Wessel darüber
informieren, dass er entschlossen sei, sein Verhältnis zu Fräulein Krüger »bis
zur letzten Konsequenz durchführen« zu wollen. Er beabsichtige die Schei­
dung bzw. Trennung von seiner Familie. Die Absage seiner USA-Reise konnte
ihm immerhin ausgeredet werden.

731 Memo des CIA-Residenten, 3.7.1968, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard.
Gehlen_vol 6_10F2, S. 3-4, sowie Meldung vom 30.7.1968, ebd., S. 10-11.
732 Notiz Wessels, 2.8.1968, BND-Archiv, N 1/7, Blatt 177-178.
733 Notiz Wessels, 5.8.1968, ebd., Blatt 179-180.

1184
Wessel zeigte sich entschlossen, Gehlen davon zu überzeugen, dass eine
»völlige Trennung« von seiner Geliebten im Interesse des Dienstes liege, denn
er befürchtete am Ende einen Selbstmord. Doch dieser ließ dem Präsidenten
mitteilen, dass sein Verhältnis »nicht eine verantwortungslose Liebelei, son­
dern eine ernste Angelegenheit sei«. Sie habe bereits 1947 begonnen, und »seit
diesem Zeitpunkt lebe er praktisch auch nicht mehr mit seiner Frau zusam­
men«. Er habe Fräulein Krüger die Ehe versprochen. Doch sie habe sein Ange­
bot vor Monaten zurückgewiesen. (Im Dienst kursierte später das Gerücht,
Gehlen habe sich von seinen geplanten Memoiren eine finanzielle Starthilfe
versprochen, um mit Annelore ein neues Leben beginnen zu können.)734
Gehlen entschloss sich, ein persönliches Gespräch mit Wessel zu suchen,
wenn der Krankheitsverlauf seiner Geliebten zu übersehen sei.735 Nachdem
zwei Wochen später ihre völlige Genesung festgestellt worden war, sprach
Wessel zunächst mit ihr. Eine Versetzung lehnte Frau Krüger strikt ab, was
Wessel akzeptierte. Sie erläuterte ihre Entschlossenheit, das Heiratsangebot
von Reinhard Gehlen nicht anzunehmen, und so hoffte Wessel darauf, dass
sie in der Lage sein könnte, positiv auf Gehlen einzuwirken, »dessen zuneh­
mende Alterserscheinungen nicht ausgeschlossen erscheinen lassen, daß er
durch Interviews usw. Dinge tut, die weder ihm noch dem Dienst nützlich sein
können«.736 Befragt nach möglichen finanziellen Schwierigkeiten Gehlens, ver­
mutete sie, dass sie auf den Bau des zweiten Hauses auf seinem Grundstück
zurückgehen könnten.
Wessel sagte ihr zu, dass er ihr helfen werde, wenn sie es gegenüber Gehlen
ablehnen würde, ihn bei seinen Auslandsabschiedsreisen zu begleiten. Anne­
lore Krüger wollte die gleichsam dienstlich angeordnete Trennung von Gehlen
anders verarbeiten und schlug vor, die »Historische Gruppe« außerhalb der
Zentrale in einem angemieteten Haus des BND in Bachhausen bei Berg unter­
zubringen. Wessel war es offensichtlich recht, denn so konnte er sich die für
Gehlen gebildete Arbeitsgruppe unter Leitung von Oberst Buntrock, zu der
auch Frau Krüger gehörte, sprichwörtlich vom Leib halten und dem Gerede
innerhalb des Dienstes keine Nahrung geben. Für die Ärzte stand außer Frage,
dass die Probleme von Frau Krüger wesentlich durch ihre persönlichen Kon­
flikte bedingt waren. Sie galt aber inzwischen als wieder dienstfähig und wurde
zunächst in Pullach weiterbeschäftigt.
Der ganze als Sicherheitsfall eingestufte Vorgang blieb vor der Öffentlich­
keit verborgen. Nur intern war das Liebesverhältnis des »Doktor« ein offe­

734 Information an den Autor durch Georg Meyer, Wiss. Direktor im MGFA und Verbin­
dungsmann des BND.
735 Schreiben Gehlens an Wessel, 9.8.1968, BND-Archiv, N 1/153.
736 Notiz Wessels, 23.8.1968, ebd.

1185
nes Geheimnis. Das doppelte Spiel Gehlens, insbesondere auch gegenüber
seiner eigenen Familie, lässt tief in seinen Charakter blicken. Aufgewachsen
hinter der brüchigen Fassade christlicher Ethik und bürgerlichen Anstands,
als Offizier einem besonderen Ethos verpflichtet, verletzte der Ehebruch mit
der Sekretärin zwar den Komment, blieb aber im Rahmen des gesellschaftlich
Akzeptierten, solange der äußere Anschein einer intakten Ehe gewahrt blieb.
Krieg und Zusammenbruch sorgten dafür, dass sich die Sittenstrenge lockerte.
Reinhard Gehlen hatte schon im Elternhaus gelernt, hinter einer Fassade zu
leben. Auch beim Militär spielte er seine Rolle, obwohl ihm das nach Neigung
und Temperament nicht leichtgefallen sein dürfte. Die Uniform diente ihm
als Tarnung, die stark ausgeprägte Anpassungsfähigkeit gab ihm Deckung in
einem Umfeld, in dem Offenherzigkeit und Charakterstärke zum Fall führen
konnten.
Nachdem er 1947 seine verborgene Liebesbeziehung zu Annelore Krüger
begonnen hatte, fand er sich offenbar leicht in dieses Doppelleben hinein.
Sein Geständnis, dass er seit damals praktisch nicht mehr mit seiner Ehefrau
zusammengelebt habe, lässt das Martyrium erahnen, in das sich Herta hin­
einfand, die ihren vier halbwüchsigen Kindern ein intaktes Elternhaus vor­
spielen musste. Seit sich ihr Mann auf den Ruhestand einstellte, dürfte die
Entfremdung noch zugenommen haben. Herta Gehlen fand offenbar Trost in
einem starken religiösen Engagement. Mitarbeiter des Dienstes sollen sie am
Starnberger Bahnhof als fleißige Helferin für die evangelische Mission gese­
hen haben. Doch eine Scheidung und damit der Zusammenbruch der mühsam
aufrechterhaltenen Fassade blieben ihr erspart, weil Annelore Krüger den Hei­
ratsantrag von Reinhard Gehlen ablehnte.
Zur selben Zeit stellte sich der »Doktor« dem bereits zitierten Interview
mit Marion Gräfin Dönhoff. Die letzte Frage lautete: »Was jemand, der bis zu
seinem sechsundsechzigsten Lebensjahr kein Privatleben hatte, nun eigentlich
tun wird?« Gehlens Antwort: Er wolle »sich endlich mehr seiner Familie – Ehe­
frau, ein Sohn und drei Töchter, widmen und seine drei Hobbys pflegen: Medi­
zinstudium, Segeln und lateinische Dichtung.« Dönhoffs Überschrift für den
Artikel, der vier Tage vor Gehlens Pensionierung erschien, traf, ohne dass sie
den privat-familiären Hintersinn gekannt haben dürfte, den Kern: »Der Mann
ohne Gesicht«.
Die große Rolle, die Annelore Krüger in Gehlens Leben über Jahrzehnte
spielte, rechtfertigt es, ihrer Biografie eine gewisse Aufmerksamkeit zu schen­
ken.737 Als Arzttochter am 17. März 1922 in der pommerschen Kleinstadt Köslin

737 Die folgenden Angaben stammen aus einem Lebenslauf von Annelore Krüger aus dem
Jahre 1961 für ihre Personalakte, BND-Archiv, Pl/5023. Eine kurze wohlwollende bio­

1186
geboren, legte sie Anfang 1940 die Reifeprüfung ab und besuchte nach sechs
Monaten beim Reichsarbeitsdienst eine landwirtschaftliche Frauenschule.
Anfang 1942 absolvierte sie eine Fremdsprachenschule in Dresden (Englisch,
Spanisch), um anschließend zu studieren. Doch sie wurde kriegsdienstver­
pflichtet, und man sagte ihr einen Auslandseinsatz zu, der sie vielleicht nach
Spanien fuhren könnte – jedenfalls nicht in den Osten, wo ihr künftiger Chef
den »Endsieg« erringen wollte. Nach einem kurzen Einsatz in der Buchhaltung
der Standortverwaltung im heimatlichen Köslin bestand sie die Eignungsprü­
fung zur Stabshelferin und wurde zu Fremde Heere Ost versetzt.
Dort arbeitete die 20-Jährige zunächst als Schreibkraft und half, eine Kartei
im Referat »Banden« aufzubauen, wechselte im Sommer 1943 für kurze Zeit
ins Vorzimmer Gehlens, kam dann zu den »Banden« zurück und ließ sich auf
eigenen Wunsch schließlich in das Referat »Feindpropaganda« versetzen, wo
sie selbstständig die englische Presse im Hinblick auf die Außenpolitik sowie
Meldungen der Funkaufklärung auswertete. Dann folgte die Versetzung ins
Referat Abwehr. Am Jahreswechsel 1944/45 vertrat sie zeitweilig den Referats­
leiter. Im März 1945 begleitete sie die von Gehlen nach Bayern verlagerten
Akten und erlebte das Kriegsende in einer Hütte in den Bergen. Zunächst in
US-Gefangenschaft, dann den Briten übergeben, arbeitete sie als Übersetzerin
in der Personalabteilung des »Bremen Port Command«. Mitte 1946 erhielt sie
als Chefsekretärin beste Empfehlungen, was ihr half, zum 1. Mai 1947 von der
Org übernommen zu werden. Dort wurde offenbar sofort der »Doktor« auf
die 20 Jahre jüngere Bürokraft aufmerksam, obwohl er mit seiner Familie im
Pullacher Dienstbereich wohnte und größte Probleme hatte, die Übernahme
durch die CIA zu erreichen.
Annelore Krüger wurde bald sein Mädchen für alles und enge Vertraute. Er
schätzte sie als stets einsatzbereite und passionierte Mitarbeiterin mit star­
ker Eigeninitiative, Zuverlässigkeit und absoluter Selbstständigkeit. Für ihn
besonders wichtig war ihre unbedingte Verschwiegenheit und, wie er in ihrem
Dienstzeugnis schrieb, ihr besonderer Sinn für die Erfassung des Wesentlichen.
Gehlen erreichte 1961 mit Unterstützung Globkes, dass die 39-Jährige aus dem
Angestelltenverhältnis heraus als Regierungsrätin übernommen wurde. Er
übertrug ihr pro forma ein eigens geschaffenes Referat für Sonderoperationen
und Auswertung beim Präsidenten. Sie erhielt damit Einblick in sein Arkanum
und verwaltete einen Teil dieser Akten. Als Hüterin des Vorzimmers vom Chef
erschien sie manchen Mitarbeitern als regelrechter Drachen, schnell erregbar
und ungeduldig. Sie wurde 1964 Oberregierungsrätin und leitete das Referat

grafische Skizze durch den Leiter des Historischen Büros des BND findet sich auch bei
Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 210-212.

1187
für spezielle Sicherheitsfragen des BND im Stabe des Präsidenten, das heißt,
sie hatte einen wesentlichen Einfluss auf die Organisationseinheit 85 zur Ent­
nazifizierung des BND. Sie führe mehrere ausgesuchte männliche Beamte des
gehobenen Dienstes »mit ausgleichender und kameradschaftlicher Bestimmt­
heit«, sie sei zielbewusst, gewandt und schlagfertig. »Ihr früher gelegentlich
zu scharfes Urteil ist mit zunehmender Erfahrung ausgewogener geworden«,
hieß es 1967 in einer Beurteilung.
Annelore Krüger entsprach also offensichtlich nicht dem Klischee der
unterwürfigen Sekretärin, die ihren Chef anhimmelte. Sie hatte in gewisser
Weise teil an seiner Machtfülle und ging damit selbstbewusst um. Gelegent­
lich nutzte sie das aus, um Reinhard Gehlen zu gängeln und zu bevormun­
den. Stand er »unter ihrem Pantoffel«? Obwohl »Alo«, so ihr Spitzname, nicht
dem zeitgenössischen Bild weiblicher Schönheit entsprach, blieb er ihr »treu«,
wenngleich er sich häufig darin gefiel, mit den anderen Sekretärinnen zu flir­
ten. Der Heiratsantrag kurz vor seiner Pensionierung war dann wohl so etwas
wie Torschlusspanik und Reaktion auf die Aussicht, den Rest seines Lebens
einsam am Starnberger See verbringen zu müssen, wo am gegenüberliegenden
Ufer einst König Ludwig einen mysteriösen Selbstmord begangen hatte. Bei
seinen häufigen Segeltörns auf dem See mag ihm manches dazu durch den
Kopf gegangen sein.
Als Vertreterin von Oberst Buntrock blieb Annelore Krüger – nach eigenem
Vorschlag – bis zur Auflösung der »Gruppe Bohlen« in Gehlens Nähe. Präsident
Wessel hatte dann noch einmal die Pflicht, sie peinlich zu befragen. Die Illus­
trierte Stern hatte 1974 behauptet, dass sie ein uneheliches Kind von Reinhard
Gehlen habe – vielleicht eine Verwechslung mit dem Kind ihrer Schwester.
Unter Diensteid erklärte die 52-Jährige, dass diese infame Behauptung unzu­
treffend sei, und erwirkte dagegen eine einstweilige Verfügung. Obwohl ohne
jegliche Vorkenntnisse, wurde sie sodann als EDV-Projektleiterin verwendet,
was sie offenbar erheblich überforderte und ihr schlechte Beurteilungen ein­
brachte. 1980, mit 58 Jahren, ließ sie sich wegen dauernder Dienstunfahigkeit
in den Ruhestand versetzen. Einen letzten Dienst leisteten ihr vermutlich ehe­
malige Angehörige des BND, als sie 2012 in aller Stille verstarb und ihre Woh­
nung in der Nähe des Grabes von Reinhard Gehlen leergeräumt wurde. So blieb
von ihr offenbar nicht viel mehr als ein blasses Foto aus ihrem ehemaligen
Dienstausweis.
Im August 1968, als der Fall Krüger den neuen Präsidenten zwang, sich in
die Familienverhältnisse seines Vorgängers einzuschalten, konnte Reinhard
Gehlen – vermutlich eher beiläufig – das Drama um seinen Cousin Arnold
Gehlen erleben. Der Philosoph wurde von Studenten scharf angegriffen.
Theodor Adorno und Max Horkheimer hatten seine Bewerbung nach Hei­
delberg erfolgreich hintertrieben, und in einer berühmten Fernsehdiskussion

1188
versuchte Arnold Gehlen mit distanzierter Kälte, Adorno als naiven Idealis­
ten darzustellen, während dieser Gehlen als gesellschaftspolitischen Rechts­
konservativen bezeichnete. Reinhard Gehlen dürfte sich von diesen intellek­
tuellen Auseinandersetzungen in seinen Besorgnissen über den angeblichen
moralischen Verfall im Lande bestätigt gefühlt haben. Die 1969 erschienene
letzte Monografie seines Vetters über Moral und Hypermoral formulierte einen
radikalkonservativen Widerstand gegen die Zeitläufte. Arnold Gehlen sah sich
als »Kommentator des Ruins«. Er befürchtete die Auflösung der Staatlichkeit
und wurde getrieben von der Angst vor dem Untergang. Dem stellte der Philo­
soph einen Extremismus der Ordnung gegenüber, der Herrschaft und Macht­
gebrauch legitimierte und die Institutionen des Staates »einwands-immun«
machen wollte, um sie so vor einer weiteren Destabilisierung zu schützen.738
Reinhard Gehlen hat offensichtlich ähnlich empfunden, was sein späteres
Verhalten als politisierender Pensionär beeinflusst haben dürfte. Über einen
intensiven Gedankenaustausch der beiden Vettern ist nichts bekannt.
Kaum schien der Fall Krüger einigermaßen geklärt, kündigte sich ein wei­
terer an, den sich Gehlen ebenfalls persönlich zurechnen lassen musste. Im
parteipolitischen Spiel um den Vizeposten zeichnete sich keine Entscheidung
ab. So wandte sich Wendland an Wessel und erklärte, sein Gesundheitszustand
sei so schlecht, dass er um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand bitte. Wes­
sel bat ihn, keine übereilten Entschlüsse zu fassen.739 General Wendland, der
vergeblich gehofft hatte, mit Gehlens Unterstützung Vizepräsident des BND -
oder vielleicht sogar Präsident – zu werden, schien aufzugeben. Er lehnte es
Ende September 1968 im Gespräch mit Wessel aus gesundheitlichen Gründen
ab, auch nur einen Teil seiner bisherigen Abteilung weiterzuführen, schon
aus »optischen Gründen« nicht. Eine Auslandsverwendung, zum Beispiel in
Washington, scheide ebenfalls aus. Eine Übernahme durch die Bundeswehr sei
auch nicht denkbar. Deshalb schlug er vor, seine Abteilung abzugeben und sich
auf die Wahrnehmung der Geschäfte des Vizepräsidenten bis nächsten April zu
beschränken. Dann könne er aus dem Dienst ausscheiden und sich eine geeig­
nete zivile Tätigkeit suchen, um einen finanziellen Ausgleich zu haben. Wenn
ihm das nicht gelinge, könnte er vielleicht gegen einen Honorarvertrag von
etwa 500 D-Mark monatlich seine langjährigen Erfahrungen dem Dienst nutz­
bar machen.740 Wessel machte spontan eine entsprechende Zusage, obwohl er
diese von Gehlen eingeführten Praktiken eigentlich abschaffen wollte.

738 Auf die Aktualität der Thesen Arnold Gehlens für die neue Partei eines »reaktionären
Konservatismus«, die Alternative für Deutschland, verweist Romain Leick: Das Reich
der Lüge, Spiegel 16/2016 vom 16.4., S. 116-120.
739 Notiz Wessels über ein Gespräch mit Wendland, 29.8.1968, BND-Archiv, N 1/153.
740 Notiz Wessels über ein Gespräch mit Wendland, 26.9.1968, ebd.

1189
Doch einige Tage später war es geschehen. General Wendland, der nach
Gehlens Absicht neben Wessel Garant für die Kontinuität des von ihm gepräg­
ten Dienstes sein sollte, setzte am 8. Oktober 1968 an seinem Schreibtisch mit
der Dienstpistole seinem Leben ein Ende. Am Selbstmord bestand auch nach
polizeilicher Untersuchung kein Zweifel, ebenso wenig am Motiv des schwer
enttäuschten und gekränkten Generals, der sich offenbar von seinem alten
Kameraden Gehlen im Stich gelassen fühlte. Nach außen wurde dieser Hin­
tergrund verständlicherweise nicht vermittelt, sondern mit medizinischen
Problemen verschleiert. Intern würdigte Wessel Wendlands Verdienste im
kameradschaftlichen Geiste.741 Umso mehr dürfte es ihn schockiert haben,
dass in der Presse prompt wilde Gerüchte kursierten, die eine Verratsaffäre
bzw. die Unterschlagung von Millionenbeträgen vermuteten.742 In seinen drei
Jahre später erschienenen Memoiren verlor Reinhard Gehlen über diesen tra­
gischen Ausgang einer Männerfreundschaft kein Wort. Dafür widmete er nach
der Schilderung seiner eigenen Verabschiedung den letzten Teil des Buches
einer politischen Abrechnung mit dem Kommunismus.
Gleich nach der Rückkehr von Frau Krüger an ihren Arbeitsplatz in Pullach
und gut eine Woche vor seiner Abreise in die USA schrieb Gehlen einen Brief
an US-General Sibert, dem ersten Verantwortlichen in der US Army, der ihn
1945/46 unter seine Fittiche genommen hatte. Er erinnerte an diesen Beginn
einer engen deutsch-amerikanischen Freundschaft, in die von amerikanischer
Seite eine Menge an materiellen und humanen Werten investiert worden sei.
Das werde sich auszahlen und von den Deutschen nicht vergessen werden.
Sibert, der um Unterstützung für eine eigene historische Arbeit zum Zweiten
Weltkrieg gebeten hatte, werde durch zwei Gehlen-Leute Hilfe erhalten. Geh­
len erklärte sich bereit, selbst ein Vorwort beizusteuern.743 Im Hinblick auf
seine USA-Reise waren die Wünsche Gehlens nun etwas konkreter geworden.
Er würde, teilte er den Amerikanern mit, im CIA-Hauptquartier gern einen
kurzen aktuellen Überblick über die laufenden Ereignisse in Europa erhalten
und mit einem führenden Experten für den Weltkommunismus sprechen.
Dabei sollte es um die sowjetische Subversion in der Welt unter besonderer
Berücksichtigung der Arbeiter, Studenten und anderer Demonstranten gehen.
Er plane für seinen Ruhestand, politische Essays zu verfassen und den Besuch
von Archiven, um eventuell seine Memoiren zu schreiben. Außerdem kündigte
er an, eine Reihe von Kopien seines Porträts mitzubringen, um sie einzelnen

741 Vorlage Wessels für Staatssekretär Guttenberg, 9.10.1968, sowie Entwurf der Würdi­
gung, ebd.
742 Notiz Wessels, 10.10.1968, BND-Archiv, N 1/7, Blatt 244.
743 Memo für Chief European Division, 3.9.1968, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 6_10F2, S. 20-22.

1190
Nachrichtendienstlern zu übergeben, mit denen er in den letzten zwei Jahr­
zehnten zusammengearbeitet hatte.
Präsident Wessel, der über die Reiseplanung auf dem Laufenden gehalten
wurde, schätzte das Vorhaben als Abschiedsreise ohne nachrichtendienstliche
Bedeutung ein. Gehlen durfte noch einmal mit falscher Identität reisen. Als
Ministerialrat »Dr. Richard Gebler« wagte er – wahrscheinlich wieder unter
Verwendung von Tabletten gegen die Flugkrankheit – den Flug nach Washing­
ton.744 Ursprünglich wollte er mit dem Schiff von New York aus zurückreisen,
brach die Reise aber vorzeitig ab und flog am 17. September nach München
zurück. Die Gründe für diesen Entschluss wurden auch Wessel nicht bekannt.
Vielleicht trübte der Aufenthalt im Ferienhaus Herres an den Großen Seen sei­
nen Sinn. Überliefert ist eine Begegnung mit Critchfield bei einer Segeltour
in der Chesapeake Bay. Trotz aller offiziellen Freundschaftsbekundungen trug
Gehlen dem Amerikaner, dem er letztlich die Übernahme in den Bundesdienst
verdankte, im Stillen noch immer nach, dass er die feindseligen Maßnahmen
des Army G-2 im Jahre 1955 gegen ihn unterstützt habe. Critchfield erfuhr spä­
ter, dass Gehlen 1968 in einem Schreiben an den BND mitteilte, er habe sich in
seinem Urteil über den Amerikaner geirrt. Dieser sei insgesamt aufrichtig und
habe die Org unterstützt.745
So erfreulich diese späte Meinungsänderung auch sein mochte, Gehlens
Gespräche in den USA führten nach seiner Rückkehr zu einem peinlichen
Nachspiel. US-General Sibert war kurz danach in München zusammen mit
einem gewissen Mr. Brown eingetroffen, einem ehemaligen britischen Jour­
nalisten, jetzt Ghostwriter für das geplante Buch von Sibert. Nach der Abreise
Siberts verursachte Brown erheblichen Aufruhr bei der örtlichen CIA-Vertre­
tung, weil er versuchte, einen ungedeckten Scheck beim US-Konsulat einzu­
lösen und das Hotel nicht bezahlen konnte. Brown, aufdringlich und wohl zu
sehr vom Oktoberfest geprägt, bedrängte auch Gehlen und bot ihm an, ihm
bei seinem Buch zu helfen, worauf es dem Pensionär nur mühsam gelang, den
Mann abzuwimmeln. Schließlich half die CIA bei der Rechnung, und nachdem
sich Gehlen Ende Oktober bei Sibert in Washington beschwert hatte, sprach
dieser intern von Gehlen nur noch als »Der Alte«.746
Für Gehlen war der Fall Brown letztlich nur eine Belästigung, die einen
Vorgeschmack davon vermittelte, worauf er sich als Privatmann mit dem

744 Notiz Wessels, 4.9.1968, BND-Archiv, N 1/7, Blatt 218,224.


745 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 230.
746 Schreiben Gehlens an Sibert, 18.10.1968, und Memo des CIA-Repräsentanten in Mün­
chen, 20.10.1968, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_10F2,
S. 48 – 49, 42 – 53; hier auch weitere interne Aufzeichnungen zu dem Fall, die zeigen,
welchen Ärger Brown ausgelöst hatte.

1191
Anspruch, eine bedeutende Persönlichkeit der Zeitgeschichte zu sein, außer­
halb der Schutzzone des BND einzustellen hatte. Viel schlimmeres Ungemach
drohte ihm freilich durch die interne Untersuchung der gegen ihn gerichte­
ten Beschwerden ehemaliger Mitarbeiter, die dazu führte, dass die Mercker-
Kommission im Auftrag des Kanzleramts den BND mit einer Gründlichkeit
überprüfte, wie das zuletzt 1948 Critchfield im Auftrag der CIA gemacht hatte.
Insgesamt wurden 51 Zeugen gehört und 80 Anhörungen durchgeführt. Geh­
len scheute sich nicht, Untergebene, die befragt worden waren, nach den Fra­
gen der Kommission und ihren Antworten auszuforschen, um sich auf das zu
erwartende »Sittengemälde« des BND einzustellen.747 Zu sehen bekam auch
er den späteren Mercker-Bericht nicht, weil man die Beschwerdeführer nicht
gefährden wollte. Das Ergebnis war so brisant, dass der Bericht für Jahrzehnte
nicht zugänglich gewesen ist. Behauptungen wurden durch Akteneinsicht
überprüft und Widersprüche geklärt. Im Zuge der Vernehmungen kamen
immer neue Vorwürfe zur Sprache, denen die Kommission nachging. Ande­
rerseits haben Angehörige des BND auch in manchen Fällen als Ergebnis eines
»mißverstandenen Korpsgeistes« keine Bereitschaft gezeigt, die Wahrheit zu
sagen. Gehlen selbst sollte nur die Möglichkeit erhalten, schriftlich zu Fragen
der Kommission Stellung zu nehmen.748
Während sich Gehlen über den lästigen Mr. Brown ärgerte, legte Minis­
terialdirigent Günter Bachmann, den er als seinen hartnäckigsten Ankläger
betrachtete, der Mercker-Kommission eine ausführliche Stellungnahme vor.
Darin verwies er darauf, dass er von 1955 bis 1966 im Kanzleramt für den BND
zuständig gewesen sei. Bis 1963 sei er mit Gehlen gut ausgekommen. Doch
dann seien Zweifel an der korrekten Führung des BND entstanden und er
habe im Auftrag Adenauers den Dienst stärker kontrollieren wollen. Doch die
Reformbestrebungen seien nach der Amtsübernahme durch Erhard nicht fort­
geführt und durch Gehlen von Anfang an bekämpft worden. Am 2. Januar 1968
habe Gehlen dann intern geäußert, dass es erhebliche sicherheitspolitische
Bedenken gegen Bachmann gebe. Dieser bat nun die Kommission, sie möge
den BND-Altpräsidenten auffordern, ihn zu rehabilitieren.749
Bachmann listete die seiner Meinung nach von Gehlen zu verantwortenden
Fehler und Schwächen des BND auf. Er prangerte ein mangelndes Aufkommen
an wirklich geheimen Informationen an. Oft würden die vielen offenen Quel­
len einfach als geheim eingestuft. Unter der alten Führung sei eine regelrechte

747 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 304.


748 Schreiben Guttenbergs an Carstens, 26.1.1968, Nachlass Guttenberg, StA Bamberg,
G 67/93, Blatt 270.
749 Ausarbeitung Bachmanns für Staatssekretär Dr. Mercker, 15.10.1968, VS-Registratur
Bka, Bk 15100-1166, Ordner 25.

1192
Nachrichtenpolitik betrieben worden, das heißt, je nach »Kunden« seien Mel­
dungen zurechtgeschneidert worden. Die Ostaufklärung werde vernachlässigt,
die Gegenspionage liege brach. Die an das Verteidigungsministerium geliefer­
ten Meldungen ergäben kein ausreichendes Lagebild mehr. Dabei werde die
militärische Vorwarnung immer bedeutsamer. Viele politische Meldungen
seien schon bei ihrer Abgabe erkennbar falsch oder manipuliert gewesen. Eine
Korrektur sei niemals erfolgt, und das Kanzleramt habe keine systematische
Auswertung vornehmen können. Das BfV habe noch 1966 mehrfach BND-
Meldungen moniert, bei denen aber keine Klärung erfolgen konnte, weil der
BND eine Aussprache abgelehnt habe. Auf wirtschaftlichem Gebiet seien die
vom BND vorgelegten Studien von den Fachleuten im Kanzleramt recht kri­
tisch betrachtet worden. Bei alledem erhebe der Dienst einen Anspruch auf
eine ungerechtfertigte Sonderstellung und habe seinen Etat in den letzten
zwölf Jahren verzehnfacht. Dabei sei dessen Höhe nur wenigen bekannt, was
Unterschlagungen und eine Misswirtschaft begünstige, bei der zum Beispiel
kostspielige Auslandsreisen als Wohlverhaltensprämien abgerechnet würden.
Die geförderte Beschäftigung von Familienangehörigen schaffe Abhängigkei­
ten der Mitarbeiter, weil dann bei mangelndem Wohlverhalten die Arbeit der
Ehefrau plötzlich nicht mehr benötigt werde.
Gehlen habe auf den Felfe-Fall mit massiver Propaganda die Aktion »Ret­
tet den Doktor« in Szene gesetzt sowie die Enttarnung von Felfe der Presse
als Meisterstück suggeriert. Vor Mitarbeitern habe er im Januar 1962 behaup­
tet, Felfe habe eine unbedeutende Rolle gespielt. Dann listete Bachmann im
Einzelnen auf, wie Gehlen Felfe gefördert habe, und verwies darauf, dass sich
Mitarbeiter über die Führung beschwert hätten. Auf sie sei erheblicher Druck
ausgeübt worden. Gehlen solle nach Behauptungen intern gesagt haben, dass
er aus taktischen Gründen seine Führungsstelle veranlasst habe, unbegründe­
ten Streit mit den Dienststellenleitern anzufangen. Es habe mysteriöse Todes­
fälle und Erkrankungen gegeben, Beschuldigungen und Diffamierungen, etwa
gegen einen Beamten des Auswärtigen Amtes, was dessen Minister Brentano
scharf zurückgewiesen habe. Das habe ihn an Gestapomethoden erinnert.
Bachmanns Liste mochte Fehler und Übertreibungen enthalten, doch im
Kern bestätigte sie jene Kritik, die aus dem BND selbst gegen Gehlen erho­
ben wurde. Als Präsident war er vielleicht nicht für alle Fehler persönlich
verantwortlich gewesen, doch er hatte nun einmal die Gesamtverantwortung
getragen und sie offensichtlich nur begrenzt wahrgenommen. Ob Wessel in
der externen Überprüfung des Dienstes durch das Kanzleramt eine hilfreiche
Unterstützung für seine eigenen Reformbemühungen sah, ist schwer zu sagen.
Sie half ihm jedenfalls insofern, als sie ein Ventil für »Gehlen-Geschädigte«
bot, und da die Mercker-Kommission sich ausdrücklich nur mit der Gehlen-
Zeit beschäftigte, konnte Wessel den Neuanfang betonen. Allerdings musste

1193
er mit Blick auf die Mehrheit insbesondere der älteren Mitarbeiter auch auf
Kontinuität setzen und den Dienst gegen möglicherweise ungerechtfertigte
Beschuldigungen verteidigen. Diesen Spagat auszuhalten, bedeutete für ihn
eine große Herausforderung, der er sich zu stellen hatte. Es kam bald die Frage
auf, ob seine Kraft ausreichte, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen.

Manchem Beobachter erschien der charmante, nach unten aber arrogant und
autoritär auftretende, nach oben – dem Kanzleramt beispielsweise gegen­
über – auf Ausgleich und Verständnis bedachte Präsident als zu schwach, zu
kompromißbereit, zu obrigkeitshörig.

Wessels Erwartung, die neue Linie innerhalb von zwei Jahren durchsetzen zu
können, erfüllte sich nach seiner späteren Einschätzung nicht. Der Prozess
dauerte länger.750
Eines der größten Hindernisse auf diesem Weg war die Abnabelung des
Dienstes vom Mythos des Gründers, der in dem für ihn schrecklichen Oktober
1968 – nach den Fällen Krüger und Wendland – darauf gehofft haben mag,
dass sich mit der nächsten Bundestagswahl 1969 das Blatt politisch wenden
würde. Reinhard Gehlen hielt außerdem noch immer an der Vorstellung fest,
dass sein Nachfolger ihn nach der peinlichen Befragung im Falle Krüger end­
lich – wie eigentlich verabredet – als Berater zu dienstlichen Fragen heranzie­
hen würde.
Nach dem Selbstmord von General Wendland, der anders als die Affäre Krü­
ger nicht geheim zu halten war, sprach Präsident Wessel mit Staatssekretär
Guttenberg. Von dem Angebot Kiesingers, ein Kondolenztelegramm an Frau
Wendland zu schicken, riet Wessel ab, denn der Kanzler sollte nicht exponiert
werden. Außerdem liefen noch die Untersuchungen zu dem Vorfall. Auch das
Angebot des ehemaligen Vizepräsidenten Worgitzky, eine Aussage über Wend­
land und den Dienst zu machen, lehnte Wessel ab, weil sich Worgitzky teil­
weise ungerecht von Gehlen behandelt fühle und daher seine Aussagen nicht
frei von Ressentiments sein würden. Er werde aber in den nächsten Tagen den
schwer kranken Worgitzky persönlich aufsuchen. Der Präsident zeigte sich
besorgt darüber, dass es zu einer Kettenreaktion von Selbstmorden im Dienst
kommen könnte. Er wies in diesem Zusammenhang auf den Fall Krüger hin
und unterrichtete den Staatssekretär eingehend über das Liebesverhältnis und
den Heiratsantrag Gehlens. Krüger sei eine der höchsten Geheimnisträgerin­
nen des Dienstes und der Fall berge eine erhebliche Gefahr für das Ansehen
des BND. Man sollte Krügers Dienstverhältnis lösen, ohne sie in den Selbst­

750 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 321.

1194
mord zu treiben. Wessel kündigte an, mit der Dienstärztin zu sprechen, um
über sie auf Gehlen einzuwirken, dass dieser selbst den Antrag auf vorzeitige
Versetzung von Frau Krüger in den Ruhestand befürworte. Wahrscheinlich
könnte man mit dem Angebot, einen finanziellen Ausgleich zu zahlen, eine
entsprechende Lösung erreichen. Guttenberg billigte das Vorgehen.751 Dazu
kam es aber zunächst nicht, und Annelore Krüger wurde, wie erwähnt, noch
bis 1980 im BND weiterbeschäftigt.
Dass Wendlands Selbstmord nicht einer längeren psychischen Erkrankung
entsprang, sondern eine momentane Kurzschlussreaktion auf das bedrü­
ckende Tauziehen um die Besetzung der Position des Vizepräsidenten war,
wurde Wessel auch von der Familie bestätigt. Dass er vor einem wenig rühmli­
chen Karriereende im Dienst stand, hatte ihn offenbar auch deshalb betroffen
gemacht, weil aus seinem Jahrgang in der Wehrmacht inzwischen etliche, wie
Ulrich de Maizière, Albert Schnez, Kai-Wilhelm Thilo und Jürgen Bennecke,
ihm vorgezogen worden seien. Im letzten Jahr seien in dem Jahrgang unter
fünf Todesfällen drei Selbstmorde gewesen752 – das mochte sich Wendland
zu Herzen genommen haben. Dann führte Wessel das angekündigte Gespräch
mit Gehlen und der Dienstärztin. Gehlen wies sofort jede eigene Verstrickung
zurück. Das Kanzleramt habe die von ihm betriebene Ernennung von Wend­
land nicht gewollt, aber der Kandidat habe schließlich selbst nicht mehr antre­
ten wollen. Von Depressionen bei Wendland habe er keine Kenntnis.
Auf die Frage von Wessel, was er denn im Zusammenhang mit dem Tod
unternommen habe, antwortete Gehlen: »Nichts, er beabsichtige aber, einen
Brief zu schreiben, sei nur bisher noch nicht dazu gekommen.« (!) Wessel bat
ihn nachdrücklich, der Frau Wendland einen Brief zu schreiben, weil diese
sonst den Eindruck gewinnen müsste, dass zwischen ihm und ihrem Mann,
der doch durch zwei Jahrzehnte einer seiner engsten Mitarbeiter gewesen sei,
wohl ernste Spannungen bestanden hätten. Wessel erklärte, dass er weitere
Selbstmordfalle unbedingt verhindern müsse. Ein möglicher Selbstmord von
Frau Krüger wäre ein Skandal. Er müsse deshalb erneut prüfen, ob und wie
sich der Dienst von ihr trennen könne. Er sei bereit, die Differenz zwischen der
verhältnismäßig niedrigen Pension und dem tatsächlichen Gehalt aus dienst­
lichen Mitteln auszugleichen. Gehlen antwortete: Sie sehen die Sache völlig
falsch. Fräulein Krüger sei völlig gesund, es bestehe überhaupt keine Gefahr
eines Selbstmords. Wessel fragte dann, ob er an der Heiratsabsicht festhalte,
was Gehlen verneinte, »da Fräulein K. nicht wolle«.

751 Notiz Wessels über den Vortrag bei Staatssekretär Guttenberg, 15.10.1968, BND-Archiv,
N 1/153.
752 Notiz von Wessel über Äußerungen des Schwagers von Wendland, 16.10.1968, ebd.

1195
Die Ärztin teilte nicht die Einschätzung Gehlens. Es sei zwar keine unmit­
telbare Selbstmordabsicht zu vermuten, aber man könne auch nicht absolut
sicher sein. Die von Wessel angeordnete Abnahme von drei Pistolen habe
Fräulein Krüger doch sehr bedrückt. Eine vorzeitige Zurruhesetzung könnte
negativ auf sie wirken. Deshalb sei davon abzuraten. Vielleicht sei eine »Ver­
setzung in den einstweiligen Ruhestand« besser, was die Möglichkeit einer
Rückkehr immerhin offenlasse. Wessel stellte fest, wenn Annelore Krüger im
Dienst bliebe, könnte er die Verantwortung nicht allein tragen und müsste den
Staatssekretär unterrichten. Worauf ihn Gehlen unterbrach und erklärte, wenn
Wessel so wenig bereit sei, Verantwortung zu tragen, dann sei der Dienst bald
dem Kanzleramt ausgeliefert und auf die Ebene einer Oberbehörde herunter­
gedrückt. Wessel erwiderte: Der Dienst sei bereits Oberbehörde, was Gehlen
aber bestritt. Wessel beendete das schwierige Gespräch mit dem Entschluss,
ein amtsärztliches Gutachten einzuholen. Ihm sei zwar gesagt worden, dass
kein Amtsarzt Fräulein Krüger dienstunfähig schreiben würde, aber es sei bis­
her noch nicht einmal der Versuch gemacht worden. Der Auftrag ging an die
Dienstärztin des BND, deren Gutachten ein halbes Jahr später vorlag. Als sie
den Raum verlassen hatte, wies Wessel Gehlen nochmals auf seine mensch­
liche Verantwortung gegenüber Fräulein Krüger sowie auf seine dienstliche
Verantwortung gegenüber dem BND hin.753
Der neue Präsident tastete sich in seinem Umfeld voran. Nach einem
Gespräch mit Staatssekretär Carstens, der als Chef des Kanzleramts sein
unmittelbarer Vorgesetzter war, notierte Wessel, es habe sich erstmalig gezeigt,
worauf ihn vorher bereits andere Persönlichkeiten, auch Gehlen, hingewiesen
hätten. Carstens sei zwar in der Form immer liebenswürdig und verbindlich,
scheue aber jede Verantwortung und suche immer Rückendeckung. Er würde
sich aber im Ernstfall nicht für den Dienst einsetzen.754 Es ist denkbar, dass
auch der Fall Krüger/Gehlen Gegenstand des Gesprächs gewesen ist und Cars­
tens nicht bereit war, Wessel in seinem Streben, Annelore Krüger aus dem
Dienst zu entfernen, zu unterstützen. Gehlen das Instrument der Sonderver­
bindungen aus der Hand zu nehmen, erwies sich ebenfalls als überraschend
schwierig.
Selbstverständlich sagte Martin Riedmayr, Präsident des Landesamts für
Verfassungsschutz in Bayern, Wessel, den seit zwei Jahrzehnten bestehenden
besonderen Kontakt zu Gehlen mit ihm weiterzuführen. Als dieser nach einer
Verbindung zu Herzog Albrecht von Bayern fragte, zeigte sich Riedmayr über­

753 Notiz Wessels über das Gespräch mit Gehlen und Frau Dr. Walter, 17.10.1968, BND-
Archiv, N 1/138.
754 Notiz Wessels, 12.11.1968, ebd.

1196
rascht. Er bestätigte, dass zwischen ihm, Herzog Albrecht und Gehlen seit vie­
len Jahren eine sehr enge und gute Verbindung bestand, und er konnte nicht
verstehen, dass Gehlen davon nichts seinem Nachfolger erzählt habe. Wessel
musste einräumen, dass ihm Gehlen praktisch weder Papiere noch Personen
übergeben habe.755 Das bestärkte ihn in seiner Absicht, das unzugängliche
Dickicht der Sonderverbindungen zu durchdringen und mit einem Kahlschlag
bei den fragwürdigen Kontakten Gehlens für Ordnung zu sorgen. Die Hüterin
dieses Geheimwissens und der Dossiers war Annelore Krüger – es erklärt, wes­
halb der neue Präsident die Besetzung seines Vorzimmers neu geregelt und
Krüger entfernt hatte.
Die alten Verbindungen Gehlens waren allerdings auch in diesen Tagen
noch außerordentlich nützlich. Hans Detlev Becker, auch als Verlagsdirektor
des Spiegel dem BND wohlgesinnt, leistete wieder einmal Schützenhilfe bei
Wessels drängendstem Problem. Als »einer der sachkundigen Geheimdienst-
Experten der bundesdeutschen Presse« warnte er öffentlich:

Dem BND weder Präsidenten noch Vizepräsidenten aus den eigenen Reihen
zugestehen, heißt das kollektive Selbstwertgefühl in vermeidbarer Weise
traumatisieren. Dem BND einen Vizepräsidenten aus dem BfV schicken, da
doch diese beiden Organisationen in einem natürlichen Konkurrenzverhält­
nis mit oft unerfreulichen Zuspitzungen leben, heißt Sprengstoff an innere
Vertrauensstrukturen des BND legen.756

Wenige Tage später befasste sich der Untersuchungsausschuss »Staatsschutz


und Spionageabwehr« des Bundestages in einer nicht öffentlichen Sitzung mit
der Frage der Geheimdienste. Gehlen war zu einer Anhörung geladen worden
und sollte vor allem zum Fall Felfe sowie zur Zusammenarbeit mit dem Ver­
fassungsschutz aussagen. An diesem Nikolaustag rechtfertigte er die eigenen
Ermittlungen gegen Felfe und behauptete wahrheitswidrig, dass er während
seiner Amtszeit keinerlei Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit dem BfV
gehabt habe. Auf Befragen bestätigte er, dass es keine interne Dienstanweisung
im BND gäbe: »Gott sei Dank!« Es genügte die generelle Weisungsbefugnis des
Bundeskanzlers und des Chefs des Kanzleramts. »Es war auch nützlich, wenn
der Bundeskanzler nicht über restlos alles Bescheid wusste, etwa über gewisse
Quellen.« Angesprochen auf den Selbstmord seines Stellvertreters Wendland,
verwies Gehlen auf eine »plötzliche Kurzschlußsituation«. Mit Enttäuschung
über dessen erfolglose Kandidatur für die Nachfolge habe das nichts zu tun.

755 Notiz Wessels, 14.11.1968, BND-Archiv, N 1/7, Blatt 276-277.


756 In der Welt am 28.11.1968, zit. nach: Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 325-326.

1197
Es kam auch die Nachwuchspolitik des BND zur Sprache, die wegen Anwer­
beversuchen unter Kieler Studenten in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt
hatte. Der Ausschussvorsitzende, Dr. Martin Hirsch (FDP), lieferte ihm mit der
Frage, »was zur besseren Aufklärung der Öffentlichkeit geschehen könne«,
eine Steilvorlage. Gehlen erwiderte,

man habe sich der mühsamen Aufgabe unterzogen, Journalisten, teilweise


durch entsprechende persönliche Aufklärung, mit den Aufgaben und der
Arbeitsweise des Dienstes vertraut zu machen. Dadurch habe man auch in
vielen Fällen Verständnis gewonnen. Professoren seien meist schwieriger zu
beeinflussen und von der Notwendigkeit der Anwerbung von Studenten für
späteren Einsatz zu überzeugen.757

Wessel, der am Heiligabend Geburtstag hatte, erhielt am Tag zuvor ein Glück­
wunschschreiben seines Vorgängers. Gehlen, seit acht Monaten außer Dienst,
schlug einen sehr persönlichen Ton an und überspielte damit seine Enttäu­
schung, dass sein Rat gar nicht mehr gefragt war – und natürlich auch die pein­
liche Befragung zur Affäre Krüger. Er gratulierte seinem Nachfolger, dass die­
ser seine bisherigen Runden mit Erfolg durchgestanden habe. Dann bemühte
er die gemeinsame Vergangenheit. Er übersandte ein Buch von Kurt Hesse,
der beiden gut bekannt war. Hesse war Militärschriftsteller und Lehrer für
Militärgeschichte an den Offiziersschulen des Heeres gewesen, derzeit außer­
planmäßiger Professor für ausländische Wirtschaftsfragen an der Universität
Marburg. Sein 1922 erschienenes Buch Der Feldherr Psychologos. Ein Suchen
nach dem Führer der deutschen Zukunft wurde wieder als Schulungsmaterial
der Bundeswehr benutzt.
Gehlen gab an, das nach dem Krieg auf den neuesten Stand gebrachte Buch
besonders zu schätzen.

Selbst wenn man dieses oder jenes nicht goutieren mag, so ruft es doch in
Erinnerung, daß wir damals in einer geordneten Welt gelebt haben, voller
Sinn und Idealismus. Wenn es auch töricht wäre, diese Welt in gleicher Form
wieder zum Leben erwecken zu wollen, so sollte man sich immerhin an vie­
les, was damals an wesentlichem Gedankengut eine Rolle spielte, zurücker­
innern. Wann wird es wohl gelingen, diesen Staat wieder in eine zwar neue,
aber doch auch festgefügte Ordnung hineinzuführen, in der wieder der Wille
dominant ist, nötigenfalls zu kämpfen und über die Interessen der eigenen

757 Vermerk über die Sitzung des 2. Untersuchungsausschusses am 6.12.1968, VS-Registra­


tur Bka, Bk 11300(6), Bd. 1, Blatt 93a- d.

1198
Person hinaus auch dem Staate zu geben, was des Staates ist. Mit anderen
Worten bedeutet das, eine weitverbreitete Entschlossenheit zu entwickeln,
die allgemeine Auflösung endlich zu bekämpfen und zu einer entsprechen­
den Staatsreform zu kommen. Ich furchte, der nächste Krieg wird uns – wenn
auch nicht morgen oder übermorgen – unvorbereitet überrollen.758

Der Pensionär schätzte also die Erinnerung an seine Leutnantsjahre, die ihm
im Rückblick als eine untergegangene, geordnete Welt erschienen, die »voller
Sinn und Idealismus« gewesen sei. Es dürfte die Erinnerung an militärische
Jugendjahre gewesen sein, in der relativ isolierten Kasernen- und Kasinowelt
der Reichswehr, in der die alte Tradition preußisch-deutscher Militärwelt wei­
terlebte, bevor sie von der Revolution des Nationalsozialismus pervertiert
wurde. Aus diesem sentimentalen Rückblick leitete er ein überholtes Staats­
verständnis ab, eine Sehnsucht nach dem starken Staat und einer »formierten
Gesellschaft«, wie sie damals auch Kanzler Erhard propagiert hatte, in Gehlens
Denken letztlich ein soldatisch geprägter Staat, der seinen Repräsentanten
und ihren Dienern Macht und Anerkennung verlieh.
Wessel antwortete im versöhnlichen Ton. Er habe im abgelaufenen Jahr viel
gelernt und versucht, den Dienst in Gehlens Sinne weiterzuführen und schritt­
weise an die Gesamtentwicklung anzupassen. Neben den üblichen Rückschlä­
gen habe es auch manche Erfolge gegeben. In nicht wenigen Fragen verstehe er
jetzt Gehlen besser und hoffe, dass dieser seine Maßnahmen im Lichte seiner
Situation verstehe. Gern werde er Anfang 1969 einmal in Bachhausen herein­
schauen, wo Gehlen täglich bei der »Gruppe Bohlen« auch mit Frau Krüger
zusammentraf, seine Memoiren diktierte und die Materialsammlung betreute.
Je tiefer er in den Dienst eindringe, desto mehr verstehe er die Notwendigkeit
einer »geordneten Materialsammlung für die Geschichtsschreibung«. Auch
über andere grundsätzliche Fragen würde er sich gern mit ihm unterhalten. Er
glaube, jetzt so weit zu sein, dass er Gehlens Ratschläge wirklich verwenden
und verwerten könne.759

758 Gehlen an Wessel, 23.12.1968, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 159-160.


759 Ebd., Blatt 163.

1199
9. Nachwirkungen: Entfremdung vom BND und Kampf
gegen die neue Ostpolitik (1968-1971)

Die Vorsätze des neuen Präsidenten, bei Wahrung der Kontinuität mögliche
Reformen höchst bedachtsam anzugehen, waren vielleicht durchaus ernst
gemeint. Manche von Gehlen hinterlassenen strukturellen und personellen
Problemfälle ließen sich aber gar nicht so einfach lösen, erst recht nicht, wenn
Wessel tatsächlich bereit gewesen wäre, dem Rat seines Vorgängers zu folgen.
Dieser suchte und fand selbst Zuspruch – auch außerhalb von Pullach. Geprägt
von der Erinnerung an die, wie er es empfand, einzigartige Zeit des deutschen
Blitzkriegs bot ein weiteres Treffen der Kameraden der ehemaligen Opera­
tionsabteilung im Generalstab des Heeres Gelegenheit, sich an vermeintlich
bessere Zeiten zu erinnern. Man traf sich unter dem Vorsitz von Adolf Heusin­
ger traditionell in Bad Godesberg zum Herrenabend (»dunkler Anzug«, »nas­
ses Gedeck«), dem am nächsten Tag eine Rheinfahrt »mit unseren Damen«
folgte.760 In diesem illustren Kreis gehörte Gehlen – neben jenen, die wie etwa
de Maizière noch in der Bundeswehr Karriere gemacht hatten – zu denen, die
es weit gebracht hatten. Andere, die im Krieg als junge Hilfsoffiziere gedient
hatten, kamen als Wirtschaftsvertreter angereist.
In diesen Tagen verfasste Gehlen erst ein Beileidsschreiben zum Tod von
Allen Dulles, der seinen Decknamen »The Gentleman« zu Recht getragen
habe,761 dann einen Geburtstagsglückwunsch an CIA-Chef Richard Helms. So
empfand er wohl einerseits eine gewisse Entspannung nach getaner »schwerer
Arbeit«, zu der er inzwischen langsam Abstand gewann. Aber andererseits fallt
auf, dass es ihm offenbar – wie es früher auch Wessel beobachtet hatte – unge­
wöhnlich schwerfiel, loszulassen. Gegenüber Helms deutete er sogar an, dass
er noch immer an eine neue Karriere in der Politik dachte.

Nachdem ich mich zur Zeit in der mehr passiven Rolle des Zuschauers auf
der politischen Bühne befinde, denke ich oft und gern an die langen Jahre
der Zusammenarbeit mit Ihrem Dienst aber auch Ihnen persönlich mit Dank
zurück. Es ist das doch eine einzigartige Sache gewesen.762

Für einen bereits mehrfach angeforderten Vortrag im Militärgeschichtlichen


Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg nahm er sich nun die Zeit, um
über »Erfahrungen aus 25 Jahren Nachrichtendienst« zu sprechen. Dazu bat

760 Rundschreiben Heusingers, 10.3.1969, BA-MA, N 643/40.


761 Gehlen an Helms, 4.2.1969, NA Washington, NWC-002745.
762 Gehlen an Helms, 28.3.1969, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol
6_10F2, S.66.

1200
er Wessel um die Überlassung einer Reihe von alten Dias und betonte eigens,
dass er keine Dinge erwähnen werde, die über die Einstufung »geheim« hin­
ausgehen. Eine Zustimmung des Kanzleramts sei also nicht notwendig.763 Für
diesen Zweck konnte er auch auf die laufende historische Aktenauswertung
für den BND zurückgreifen. Dass er das Kanzleramt dabei umgehen wollte,
lässt darauf schließen, dass er dort nicht mit Verständnis rechnete, wenn er
nun gleichsam in die Öffentlichkeit strebte, auch wenn es sich zunächst nur
um einen relativ geschlossenen Zirkel innerhalb der Bundeswehr handelte.
Vermutlich wollte er unbedingt vermeiden, sich in solchen Fällen an Auflagen
und Zustimmung zu binden, womöglich die Vortragstexte prüfen müssen zu
lassen.
Wessel legte ihm keine Steine in den Weg und blieb zunächst bei seiner
zurückhaltenden, aber nicht grundsätzlich ablehnenden Einstellung gegen­
über seinem Vorgänger. Mit den nepotistischen Verquickungen seines Vor­
gängers ging er noch immer relativ glimpflich um. Gehlens Halbbruder Johan­
nes, der es sich in Rom auf Kosten des BND hatte gut gehen lassen, stand aus
Altersgründen zur Verabschiedung an. Doch »Giovanni« dachte nicht an einen
Ruhestand. Der scheidende deutsche Botschafter in Rom, Hans-Heinrich Her­
warth von Bittenfeld, mit Reinhard Gehlen vertraut und befreundet, leistete
eine letzte Gefälligkeit. Er machte seinem Nachfolger, Rolf Otto Lahr, bisher
Staatssekretär im Auswärtigen Amt, mit »Giovanni« bekannt, der in Aussicht
stellte, auch künftig »besondere Informationen« zu liefern. Pullach hatte
akzeptiert, dass er als Quelle mit einigen Unterquellen weiterarbeiten dürfe.
Die bisherigen Zahlungen von ca. 300.000 D-Mark pro Jahr wurden allerdings
durch die Abschaltung von Informanten zunächst auf 120.000 D-Mark gekürzt.
Es war Kurt Weiß, der frühere Intimus des Altpräsidenten, dem auffiel, dass
es durchaus unzweckmäßig wäre, den Botschafter auf zwei Wegen zu unter­
richten, denn es gab auch eine »offizielle« Residentur des BND in Rom.764 Es
brauchte freilich noch ein Jahr, bevor der Konflikt eskalierte.
Als Walter Kienzle, Leiter der beiden Unterabteilungen Wirtschaft und Wis­
senschaft/Technik, sein Amt abgab, nutzte er die Gelegenheit, seine Nachfolge
zu kritisieren und auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam zu machen.
Keine wissenschaftliche Abteilung des BND, so führte er in einem Schreiben
aus, werde von einem Wissenschaftler geführt. Hier seien nur Generalstäbler
oder Managertypen gefragt. Es habe aber in den vergangenen Jahren auch Kri­
tik an den Wissenschaftlern selbst gegeben, wegen der oft schwer verständli­
chen wissenschaftlichen Berichterstattung. Wissenschaftler sollten durchaus

763 Schreiben Gehlens an Wessel, 5.5.1969, BND-Archiv, N 13/v.2.


764 Besprechungsnotiz von Weiß für Wessel, 24.2.1969, BND-Archiv, N 1/183.

1201
im modernen Nachrichtendienst eine führende Position einnehmen, müssten
dann allerdings auch Managerqualitäten mitbringen, was leider zu selten der
Fall sei.765 Zum Chef der Fernmeldeaufklärung ernannte Wessel 1970 Gehlens
Schwager, Brigadegeneral Seydlitz-Kurzbach.
Noch schwerer, sowohl für das interne Machtgefüge als auch für das poli­
tische Standing des BND, wog die Nichtbesetzung der Position des Vizepräsi­
denten. Es sei, so notierte Wessel im Juni 1966, im Verlaufe eines Jahres nicht
gelungen, einen Kandidaten zu finden, der die Zustimmung der drei Bundes­
tagsfraktionen findet. Das führe zu der Überlegung, ob man nicht, um die par­
teipolitische Neutralität zu erhalten und das Misstrauen wegen der angeblich
mangelhaften Unterrichtung der Parteien auszuräumen, einfach zwei Vize­
präsidenten ernennen sollte, um die beiden großen Parteien gleichmäßig zu
beteiligen. Es würde, so viel stand fest, eine Kehrtwendung des bisherigen
Kurses an der Spitze des BND bedeuten. Deshalb müssten Vor- und Nachteile
sorgfältig abgewogen werden. Der Kurs völliger parteipolitischer Neutralität
sei erfolgreich gewesen, solange Kanzler und Staatssekretär (Adenauer und
Globke) voll hinter dem Dienst gestanden hätten. Seit deren Weggang sei der
Dienst in den Misstrauensstrudel der Parteien gerissen worden. Symptom sei,
so Wessel, die Äußerung vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt ihm
gegenüber am 1. Mai 1968: »Ich brauche einen Mann in Ihrem Dienst, der mich
unterrichtet.« Außenminister Willy Brandt habe zu Henri Nannen, dem Chef­
redakteur der Illustrierten Stern, im Frühsommer 1969 gesagt, »der BND unter­
richtet ja nur den Kanzler, der dann damit seine eigene Außenpolitik macht«.
Wessel hielt dagegen, dass der BND parteipolitisch extrem neutral sei. Damit
sei letztlich keine Partei zufrieden. Der vom Bundeskanzler bestellte Präsident
des BND werde automatisch als Mann der CDU eingeschätzt, obwohl er selbst
keiner Partei angehöre und dies alle Parteien habe wissen lassen.766
Gehlen, der in seinen letzten Dienstjahren darum gekämpft hatte, die Aus­
wahl eines Vizepräsidenten allein dem Präsidenten zu überlassen, hätte die
Idee seines Nachfolger zweifellos nicht gefallen, diese Position widerstandslos
den Parteien zu überlassen und damit auch intern die Autorität des Präsiden­
ten zu schwächen. Gefallen hätte Gehlen aber immerhin an Wessels naiver
Selbsteinschätzung gefunden. Er selbst hatte ebenfalls nie einer Partei ange­
hört und sich deshalb stets als »neutral« betrachtet, ganz im Geiste der Partei­
enfeindlichkeit der Reichswehr in den 1920er-Jahren. Vielleicht wurde Wessels
Kurswechsel gegenüber dem Einfluss der Parteien auch von der Fertigstellung

765 Schreiben Kienzles an Wessel, 18.4.1969, BND-Archiv, N 1/7.


766 Notiz betr. Vizepräsident, 23.6.1969 [vermutlich von Wessel], BND-Archiv, Einleitung zu
Findbuch N 66.

1202
des Mercker-Berichts beeinflusst, der im Juli 1969, kurz vor der Bundestags­
wahl, dem Kanzleramt vorgelegt wurde.767 Die mangelhafte Führungsleistung
Reinhard Gehlens und die Reformbedürftigkeit des BND erschienen darin in
grellem Licht.
Gegenstand der Prüfung war ausschließlich die Ära Gehlen, was den neuen
Präsidenten schonte, weil er in dieser Zeit seinen Dienst in der Bundeswehr
geleistet hatte. Als einer der Ersten hatte Oberst a. D. Erich Helmdach interne
Beschwerden über Missstände im BND ans Kanzleramt gegeben. Er gehörte
bis 1963 zum BND und war zuletzt zuständig für dienstinterne Eingaben. Im
Namen einer Gruppe von »Reformern« beschrieb er das distanziert-gespannte
Verhältnis der Zentrale zu den Außenstellen sowie das persönliche Regime
Gehlens, bei dem für die Masse des Personals kaum Fürsorge des Chefs erkenn­
bar gewesen sei. Dafür sei allerlei Personal ohne Vorkenntnisse im engeren Zir­
kel um Gehlen beschäftigt worden. Die Aufklärung, das eigentliche Geschäft
des BND, sei immer stärker in den Hintergrund geraten. Analysen seien zum
großen Teil auf offenem Material aufgebaut worden, was man kaschiert habe,
um das Prestige des Dienstes zu befördern.
Aus dem Verteidigungsbereich hatten das Kanzleramt Eingaben von
Admiral Poser, die Staatssekretär Karl-Günther von Hase übermittelte, und
vom Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Josef Moll, erreicht. Sie bezo­
gen sich auf die mangelnde Effizienz des BND sowie Hinweise auf angebliche
Manipulationen von Meldungen und erhoben vor allem Kritik am Führungs­
stil Gehlens.
Die Kommission registrierte auch bei leitenden und früher leitenden Mit­
arbeitern eine »überraschend kritische Einstellung zu den Verhältnissen des
Dienstes« in den letzten Jahren der Ära Gehlen. Auffällig sei die »ziemlich ein­
hellige Kritik gegenüber der Amtsführung des früheren Präsidenten Gehlen
gerade bei seinen früheren engsten Mitarbeitern«.768 Fast alle Eingaben seien
vor allem durch den Leistungsabfall der Ostaufklärung in den letzten Jahren
ausgelöst worden. Es habe zwar objektive Schwierigkeiten, etwa durch den
Mauerbau, gegeben, dennoch sei es zweifelhaft, ob der Dienst alles getan habe,
was zur Überwindung der Schwierigkeiten notwendig war. Zu den Mängeln
in der operationeilen Führung sei die Gefährdung von Quellen und Mitarbei­
tern gekommen. Für die übersteigerten Sicherheitsanforderungen habe die
Zentrale zwar im Einzelnen gute Gründe gehabt. Es wirke sich aber ungünstig
auf die innere Verfassung des Dienstes aus, wenn sich »im Personal bis herauf
zu leitenden Persönlichkeiten der Eindruck festsetzt, dass es bei der obersten

767 Mercker-Bericht, 24.7.1969, VS-Registratur Bka, Bk 151 00 (193), Bd. la, S. 189-248.
768 Ebd., S. 190.

1203
Spitze an einer ausreichenden Risikobereitschaft fehlt«.769 Das müsse zur Resi­
gnation und Lähmung fuhren.
Gehlen habe zudem keine klaren Zuständigkeiten vergeben, offensichtlich
mit der Absicht, mehrere Stellen parallel arbeiten zu lassen. Das führte zu
einer starken Personalvermehrung, ohne die Qualität der Arbeit zu verbessern.
Der »Doktor« habe regelmäßige Besprechungen der Abteilungsleiter verhin­
dert und zunehmend den Kontakt zu den Fachabteilungen und Außenstellen
verloren. Wachsendes Misstrauen gegenüber der Führungsspitze und vielfache
Vermutungen, dass der Präsident durch »Teilen und Herrschen« den leiten­
den Mitarbeitern keine größeren Machtbefugnisse einräumen wollte, um die
eigene Position zu stärken, seien die Folge gewesen. Stattdessen habe er sich
darauf konzentriert, die ihm persönlich unterstellten, hochrangigen Sonder­
verbindungen zu fuhren, ohne dafür im Einzelnen Verständnis bei den leiten­
den Mitarbeitern zu schaffen.
Die Qualität der militärischen Aufklärung sei fragwürdig und könnte durch
die Verlegung des gesamten BND in den Raum Köln-Bonn erheblich verbessert
werden, denn eine Trennung der militärischen Auswertung von der sonstigen
Auswertung sei nachteilig. Besonders ungünstig sei die Entwicklung bei der
Gegenspionage. Hier fehlte nach dem Fall Felfe der Eindruck eines Neuauf­
baus. Gehlen habe Organisationsänderungen in Auftrag gegeben, dann aber
nicht durchgeführt. Die Personalführung wurde als autoritär bezeichnet: Sei­
ner Natur nach sei ein Nachrichtendienst durch straffe Disziplin zu führen,
was aber durch ein besonderes Vertrauensverhältnis zu kompensieren sei.
Für den Vorwurf der Korruption gebe es keinen eindeutigen Beweis, aber die
Führungsspitze müsse zu besonderer Vorsicht gemahnt werden, vor allem bei
Zuwendungen an außenstehende Persönlichkeiten.
Die Bevorzugung von Verwandten habe es tatsächlich bei Gehlen in großem
Umfang gegeben, was neben Vorteilen auch erhebliche Nachteile bringe. Einen
»besonders starken« dienstlichen Einfluss habe der Gehlen-Clan aber nicht
nehmen können.770 (Eine neue Studie zeigt, dass damals mehr als 21 Prozent
des Nachrichtendienst-Personals Verwandte im BND hatten.771)
Schwerer wog der Vorwurf der Unterdrückung von Kritik: Gehlen habe früh
erkannt, dass eine Institution für Eingaben geschaffen werden musste. Nach
Helmdach habe sie ihren Zweck aber nicht voll erreicht, weil der notwendige
Kontakt zum Präsidenten im Verlauf der letzten Jahre abgerissen sei. Der Ins­
titution sei auch später nicht die notwendige Autorität eingeräumt worden. So

769 Ebd., S. 195.


770 Ebd., S. 218.
771 Rass, Sozialprofil, S. 301.

1204
fehlte es an einem Ventil für Unzufriedenheit.772 Zusammenfassend urteilte die
Kommission, dass die innere Lage unter Gehlen »nicht befriedigend« gewesen
sei, und stellte fest, dass ein allmählicher Vertrauensschwund stattgefunden
habe.773
Den Eigenheiten Gehlens widmete sie einen eigenen Abschnitt. Die Kom­
mission sah seine Verdienste weniger im Organisatorischen als in seinen Füh­
rungsqualitäten, denn er genieße noch immer große Hochachtung bei vielen
Mitarbeitern, ja geradezu Verehrung. Die Mängel seien zumeist ein Ergebnis
des Vertrauensschwundes gewesen, der dem Fall Felfe folgte, weil sich Geh­
len persönlich stark betroffen gefühlt habe. Mitverantwortlich sei nach dem
Eindruck von Mitarbeitern das sogenannte Doktorgremium: Horst Wendland,
Annelore Krüger, Hans-Henning Crome, Volker Foertsch, Dr. Karl-Eberhard
Henke, Dr. Ludwig Bauer (Verwaltung), Dr. Karl Heinz von Franz (Personal),
Walrab Rudolf von Buttlar (Sicherheit). Diesen Führungsleuten sei eine große
unkontrollierte Machtfülle zugeflossen, weil der unmittelbare Kontakt des
Präsidenten zum Dienst immer schwächer geworden sei.
Die Mercker-Kommission schlug zwar weitergehende Reformen vor, for­
derte aber auch keine völlige »Entgehlenisierung«.774 Mit einer Ausnahme: der
kleine Kreis der engsten persönlichen Mitarbeiter Gehlens, was nicht zuletzt
die Entfernung von Annelore Krüger bedeutete. Und sie verlangte vor allem
natürlich eine Stärkung der Dienstaufsicht des Kanzleramts, die Gehlen stets
zu verhindern gewusst hatte. Dabei stützte sich die Kommission, wie Gehlen
befürchtet hatte, hauptsächlich auf die Aufzeichnungen von Ministerialdirek­
tor Dr. Bachmann.
Dem stellte er im Rahmen seines Werkvertrages eine »Kurze Zusammen­
fassung der aus den vergangenen Jahren sich ergebenden Erfahrungen« gegen­
über, die 1974 als Teil der Materialsammlung der »Gruppe Bohlen« an Wessel
übergeben wurde. Sein Erfahrungsbericht war eine Art Fürstenspiegel, der
seinem Nachfolger hilfreich sein sollte und jene Ratschläge enthielt, um die er
trotz früherer Ankündigungen Wessels am Ende doch nicht gebeten worden
war.775
Gehlen stellte die Führungsaufgabe heraus, für die der Leiter völlige Gestal­
tungsfreiheit brauche (Personaleinsatz, Organisationsform, Mitteleinsatz).
Deshalb sei die volle fachliche und persönliche Tauglichkeit des Leiters erfor­
derlich, ebenso das absolute Vertrauen des Kanzleramts und des Kanzlers. Der
notwendige Führungsstil unterscheide sich wesentlich von der Führung einer

772 Mercker-Bericht, 24.7.1969, VS-Registratur Bka, Bk 151 00 (193), Bd. la, S. 221-222.
773 Ebd., S. 231-232.
774 Ebd., S. 239.
775 Anlage 5 der »Materialsammlung«, BND-Archiv, 1163.

1205
Behörde oder einer militärischen Dienststelle. Nachrichtendienst sei Gemein­
schaftsarbeit. Er habe den Gebrauch von Decknamen selbst innerhalb der Zen­
trale angeordnet, nicht nur aus Gründen der Tarnung und Sicherheit, sondern
um durch die Nichtbenutzung von Diensträngen im Verkehr unter den Mitar­
beitern jede Art von Kastengeist zu verhindern. Das habe sich bewährt. Der
Erfolg des Nachrichtendienstes sei nur dadurch möglich, dass man aus seinen
Mitarbeitern das Beste herausholt. Dafür sei ein psychologisches Vorgehen
angebracht, kein militärischer Befehlsstil!
Zur Führungsmethode erklärte er, dass jeder Dienststellenleiter eine klare
Aufgabe haben müsse. Bei der Durchführung sei ein Eingreifen nur aus Not­
wendigkeiten der Sicherheit angebracht. Jeder Chef müsse »den Finger am
Pulsschlag des Dienstes dort haben« und wissen, »wo die Dinge nicht 100%ig
laufen«. Vorbedingung der Führung sei eine angepasste Organisation, die für
jeden Außenstehenden freilich unklar und unübersichtlich sein müsse. Auch
Doppelarbeit müsse innerhalb dieser Organisationsform für kurze Zeit mög­
lich sein, wenn der Leiter es wünscht. Keines der Teile dürfe autark sein. Zu
einem objektiven Resultat komme man nur, wenn es nicht von individuellen
Meinungen beeinflusst werde. Daher müsse es ein Wechsel- und Gegenspiel
zwischen Beschaffung und Auswertung, einen ständigen Wandel und Struk­
turveränderungen aus Gründen wechselnder Aufgaben und Schwerpunkte
geben. Oft werde es notwendig, die Organisationsform den unterschiedlichen
Persönlichkeiten entsprechend anzupassen.
Die Aufgabe der Führung sei es, stets etwas zu bremsen, damit keine Unruhe
im Gesamtapparat entstehe. Ob eine zentrale Zusammenfassung gleichartiger
Gebiete angebracht wäre, sei fraglich. Sicherheit müsse in jedem Falle vor der
Wirtschaftlichkeit stehen. Die Aufklärungsmethoden hätten sich gewandelt.
Früher habe man hauptsächlich Agenten eingesetzt, dann sei die technische
Aufklärung dazugekommen. Ebenso habe sich die Grenze zwischen offener
und geheimer Aufklärung verschoben. Ob es zweckmäßig sei, die verschie­
denen mit V-Leuten arbeitenden Aufklärungseinrichtungen auf die Dauer
unterhalb des Präsidenten unter eine zentrale Führung zu stellen, müsse die
Zukunft erweisen. Unbedingt sei aber der Ausbau der technischen Hilfsmittel
wie Satelliten voranzutreiben.
Die außenpolitische Aufklärung müsse man im Westen mit unbewussten
Quellen wie Politikern, Wirtschaftlern etc. leisten. Das dürfe unter keinen
Umständen über die Botschaften laufen. Auch der Vertreter des BND an der
Botschaft dürfe nicht über die im Gastland betriebene nachrichtendienstli­
che Arbeit unterrichtet sein. Über die Sicherheit schrieb Gehlen: Alle in sei­
ner Amtszeit getroffenen Maßnahmen hätten sich als zweckmäßig erwiesen.
Besonders wichtig sei es, dass die führenden Persönlichkeiten mit bestem
Beispiel vorangehen. Und zum Personal: wichtigste Aufgabe des Leiters sei

1206
die Auswahl. Bei der Operationsführung dürften keine Verbindungen aus der
Zentrale herausführen. Es brauche einen starken Riegel zwischen Außenorga­
nisation und Zentrale. Bei taktischen Operationen könne Personal des guten
Durchschnitts eingesetzt werden, für die strategische Aufklärung brauche
es Spitzenquellen und das beste Personal. Verbindungen im Inland und zu
Behörden seien notwendig, um den Auslandsnachrichtendienst zu unterstüt­
zen. »Nach meiner Ansicht hat sich das Netz der Inlandsverbindungen, das
lediglich der Anbahnung von auslandsnachrichtendienstlichen Operationen
dienen soll, in den erforderlichen Grenzen gehalten.«776 Verbindungen zu
befreundeten Diensten müssten durch den Chef selbst geschaffen und gehal­
ten werden. Dabei sei eine mehrseitige Zusammenarbeit abzulehnen.
Es folgte ein Rückblick zum Status des BND. In der Amtszeit Erhards sei
bereits die Herabstufung zur nachgeordneten Behörde vorgesehen gewesen.
Mit seiner Intrige habe sich Bachmann durch Bildung einer Dienstaufsichts-
Abteilung im Kanzleramt lediglich einen Aufstiegsposten zu verschaffen
gesucht. Er habe mit einem eigenen Memorandum dagegengehalten und sei
zum Rücktritt entschlossen gewesen, wenn dieser Kabinettsbeschluss in sei­
ner Amtszeit durchgeführt worden wäre. Zur Amtszeit Kiesingers bemerkte
Gehlen, dass Bachmann internes Beschwerdematerial gegen den BND gesam­
melt habe, ohne ihn zu unterrichten. Die Intrige von Maetschke gegen Henke,
der verdächtigt wurde, von Moskau gesteuert zu sein, sei mit dem Ziel erfolgt,
Gehlen zu Fall zu bringen. Dabei habe er bei Regierungsantritt von Kiesinger
selbst vorgeschlagen, spätestens im Frühjahr 1968 zu gehen, damit die Ausei­
nandersetzung um die Nachfolge nicht ins Wahljahr falle. Die Untersuchung
des Generalbundesanwalts in Sachen Dr. Karl-Eberhard Henke habe keinen
Verdacht auf Landesverrat erbracht. Die Untersuchungskommission, deren
Bericht allein an Wessel gegangen sei, müsse er grundsätzlich beanstanden
und stelle dagegen seine Materialsammlung über die Entwicklung des BND.
Der neue Präsident habe eine Umorganisation aufgetragen bekommen, die
unzweckmäßig sei. Man habe Wessel offenbar geraten, sich nicht Gehlens
Beratung zu bedienen. Der BND werde erst wieder erfolgreich sein, wenn an
der Spitze eine höchst fachkundige und erfahrene Persönlichkeit steht, die das
volle Vertrauen von Kanzleramt und Kanzler besitzt.
Der Mercker-Bericht blieb unter Verschluss. Gehlen konnte also weiter den
Eindruck verbreiten, dass die Beschuldigungen haltlos seien und Reformen
überflüssig wären. Doch im Kanzleramt gab Carstens genaue Anweisungen,
was sich alles im BND ändern musste. Es war Wahlkampfzeit und die Bundes­
tagswahl am 28. September 1969 führte überraschend zur Bildung der ersten

776 Ebd., S. 23.

1207
sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt, der am 21. Oktober zum ersten
sozialdemokratischen Bundeskanzler gewählt wurde. Als Chef des Kanzler­
amts wählte er seinen Vertrauten Horst Ehmke, bisher Bundesjustizminister.
Damit übernahm Ehmke auch die Verantwortung für die Auswertung des Mer­
cker-Berichts und den darin enthaltenen Reformauftrag. Das machte ihn zum
Hauptfeind Gehlens und der ihm verbundenen, beharrenden Kräfte im BND.
Einen Tag vor der Wahl des neuen Bundeskanzlers erhielt Gehlen überra­
schend – mit seinen Worten wie ein Blitz aus heiterem Himmel – eine Einla­
dung seines Nachfolgers, der sich nach einem Jahr erstmals mit ihm beraten
wollte. Einer der wichtigsten Punkte war die Besetzung der freien Stelle des
Vizepräsidenten. Nach dem Wahlergebnis musste damit gerechnet werden,
dass jetzt die SPD auf die Durchsetzung ihres Vorschlagsrechts dringen würde.
Gehlen riet dazu, die Frage um jeden Preis zu verschieben und den Posten vor­
erst im BND freizulassen, was für Wessel freilich als unrealistisch nicht infrage
kam.777
Auch in Washington fragte man sich wohl, wie sich Gehlen und der von
ihm geprägte BND auf die neue politische Situation einstellen würden, und
das gegenüber einem Kanzler Willy Brandt, der mit seiner Ostpolitik nach dem
Wechsel der US-Präsidentschaft Anfang 1969 von Richard Nixon und Henry
Kissinger zunächst sehr misstrauisch beobachtet wurde, weil sie einen neu­
tralistischen Kurs befürchteten. Für die von Gehlen stets geforderte direkte
Verbindung des BND-Präsidenten zum jeweiligen Kanzler ergab sich nun eine
Zeitenwende. Nach drei CDU-Kanzlern musste sich der BND zum ersten Male
an einem SPD-Kanzler orientieren, dessen Skepsis über die Leistungsfähigkeit
des Dienstes bekanntlich groß war.
Washington bat Ende 1969 den »Entdecker« Gehlens, General Sibert, um
eine Evaluierung der Persönlichkeit des Pensionärs vom Starnberger See.
Nachdem der CIA-Chef erst ein Jahr zuvor angeordnet hatte, die Beziehungen
der Agency zu Gehlen herunterzufahren, wird das erneute Interesse wohl nicht
nur historischer Natur gewesen sein. Die im Bonner Kanzleramt insgeheim
anlaufende Untersuchung von internen Vorwürfen gegen Gehlen könnte die
CIA daran erinnert haben, in welche peinlichen Umstände man im Jahr 1963
gekommen war, als Adenauer wissen wollte, warum die Amerikaner ihm die­
sen »Dummkopf« Gehlen aufgeschwatzt hatten. Oder wollte sich die Nixon-
Kissinger-Administration für den Fall rüsten, dass Gehlen darauf brannte,
nach den nächsten Wahlen und einem denkbaren Sturz von Kanzler Brandt
den BND zurückzuerobern? Gehlen schien jedenfalls nicht abgeneigt zu sein,

777 Auszug aus einem CIA-Bericht vom 24.10.1969, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol 6_10F2, S. 74.

1208
aber da der Zugang zu CIA-Akten der höchsten Ebene verschlossen ist, kann
man über den Grund für diese an sich harmlos klingende Evaluierung nur spe­
kulieren.
Sibert, selbst seit Langem im Ruhestand, unterzog sich der Aufgabe offen­
bar gern und nutzte die Gelegenheit, Gehlen eine positive Beurteilung zu
erteilen, auch wenn dieser ihm nur für kurze Zeit nach Kriegsende unterstellt
gewesen war. Sibert berief sich darauf, »Dr. Schneider« in den letzten Jahren
bei mehreren Gelegenheiten gesehen und gesprochen zu haben, zuletzt im Juni
des vergangenen Jahres. Er betonte, dass er eine hohe Meinung über Gehlens
politische und professionelle Integrität habe, weil es niemals eine Diskrepanz
zwischen dem, was er sagte, und dem, was er tat, gegeben habe. Sibert gab
sich überzeugt davon, dass Gehlens Hauptmotiv dafür, dass er den Kontakt
zu den Amerikanern gesucht hatte, seine starke antikommunistische Über­
zeugung gewesen sei sowie seine Wahrnehmung, dass nur die USA genügend
Kräfte mobilisieren könnten, um die weitere Ausbreitung des Kommunismus
zu stoppen.
Gehlen habe und hätte keine politischen Ambitionen gehabt wie frühere
politisch ambitionierte deutsche Generale. Als Ergebnis der Entwicklung der
Org, zu der eine große Zahl früherer Berufsoffiziere gehörte, darunter ein hoher
Anteil von Generalstabsoffizieren, habe sich »Dr. S.« in der Position befunden,
über großen Einfluss auf die Gründung der Bundeswehr zu verfugen, als viele
seiner Topoffiziere dorthin wechselten. Einen Versuch von Gehlen könne er
nicht erkennen, Einfluss jenseits der nachrichtendienstlichen Belange oder
durch seine Berichte auszuüben, die ein Teil des Hintergrundmaterials waren
für die politischen Entscheidungsträger, wenn sie sich der sowjetischen Her­
ausforderung stellten.
Es habe drei gute Gründe gegeben, mit den Berufsoffizieren in der Früh­
phase zusammenzuarbeiten. »Dr. S.« musste sehr misstrauisch sein gegenüber
den Operationen der von Baun geschaffenen Feldorganisation. Mit den frühe­
ren Berufsoffizieren verfügte er über zuverlässiges Personal, das ein Auge hatte
auf die Schattenhandlungen von Braun und einigen seiner Mitarbeiter. Der
zweite Grund für die Übernahme des militärischen Personals habe in seinen
technischen bzw. Stabsfähigkeiten gelegen. Und der dritte Grund lag darin,
dass die Bekanntschaften untereinander das Sicherheitsrisiko minimierten.
Der wiederholte Vorwurf des Nepotismus in der Org sei vor dem Hintergrund
der Schwierigkeiten zu sehen, überhaupt Personal zu rekrutieren. Nach Siberts
Meinung lag die Motivation Gehlens in der Sorge um die Sicherheit der Ope­
rationen.
In vielen Gesprächen mit Gehlen habe dieser es als sein Lebensziel bezeich­
net, einen effektiven Beitrag dafür zu leisten, das kulturelle Erbe des Westens
gegen den Kommunismus zu bewahren und zu verteidigen. Er habe von Zeit zu

1209
Zeit Zweifel daran gehabt, dass westliche Staatsmänner wirklich die Methoden
und Taktiken der sowjetischen Führer durchschauten, und das Misstrauen,
das er von westlicher Seite erfahren habe, habe ihn ermüdet. Dennoch habe
sich Gehlen nicht über die »freundliche« Infiltration seiner Organisation und
von deren Operationen (durch die CIA) beklagt. Das habe er stattdessen dann
gegenüber der CIA an Beispielen illustriert und erklärt, die freundschaftliche
Seite hätte doch die gleichen Informationen bekommen können, wenn man
ihn einfach gefragt hätte.
Die prowestliche Einstellung von »Dr. S.« basiere auf seiner Wertschätzung
des westlichen politischen Systems und des gemeinsamen Gegners. Wahrheits­
widrig behauptete Sibert, dass es die ganzen Jahre über nie einen Zweifel an
seiner prowestlichen und proamerikanischen Einstellung gegeben habe. Es sei
die Frage nach dem Einfluss früherer deutscher Militärs auf Gehlen erhoben
worden. Weder Schleicher noch Seeckt seien aber von Gehlen als vorbildlich
erwähnt worden. Seine Verdammung von Parteigeneralen wie Keitel sei heftig
gewesen. Er habe große Bewunderung für Halder empfunden und die Entlas­
sung von Blomberg bedauert – was weitgehend zutraf. Sibert nahm an, dass
die Wertschätzung Haiders auf dessen persönlicher Integrität und beruflichem
Können beruhte. Obwohl »Dr. S.« häufig als kühl und emotionslos bezeich­
net werde und wurde, habe er seine starke menschliche Seite kennengelernt.
Seine Fürsorge für die Angestellten habe ihn stets beeindruckt. Wahrscheinlich
käme sein starker Antikommunismus von dieser menschlichen Fürsorge her.778
Mit dieser positiven Beurteilung Gehlens hätte Sibert wohl kaum die Möglich­
keit gehabt, von einem Angebot des Spiegel-Korrespondenten in Washington
Gebrauch zu machen. Helmut Sorge bot dem US-General 2000 Dollar für einen
Artikel in dem deutschen Nachrichtenmagazin, in dem Sibert detaillierte
Informationen darüber enthüllen sollte, wie er Gehlen begegnet sei und wie
die US Army den deutschen General gefunden habe. Der Artikel sollte in die
geplante Spiegel-Serie über den BND einfließen.779
Wenn Gehlen von dieser – wenn auch verklärten – Wertschätzung früherer
amerikanischer Vorgesetzter erfahren hätte, wäre es vielleicht Anlass gewesen,
mehr Gelassenheit bei der Loslösung von seinem Berufsleben zu entwickeln.
Während seine persönlichen Verbindungen nach Pullach mehr und mehr
abrissen und er wohl sehr darunter litt, dass sein Rat nicht mehr gefragt zu
sein schien, klammerte er sich an den Gedanken, dass – wenngleich er den
Weg in die aktive Politik scheute – ihm vom Schicksal eine politische Mission

778 Evaluierung Gehlens durch Sibert, 1.12.1969, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 6_10F2, S. 69-70.
779 Sorge an Sibert, 20.3.1969, BND-Archiv, N 13/20.

1210
Willi Stoph, Vorsitzender des Ministerrates
der DDR, und Bundeskanzler Willy Brandt
auf dem Spiegel-Titel vom 23. Februar 1970

aufgetragen worden war: als Mahner vor der Heimtücke des Sowjetkommunis­
mus und seiner wissentlichen bzw. naiven Handlanger im Westen. Mit einer
ausführlichen politischen Lagebeurteilung wandte er sich an seinen Nachfol­
ger, ohne ihn von seiner pessimistischen Sicht überzeugen zu können. Es fehle
im Westen, auch in Bonn, an einer »Politik der Härte«, die »Konsequenz und
weit voraus durchgeführte Planung« erkennen lasse.780
Seine Scheu vor der Öffentlichkeit blieb, aber ebenso die Leidenschaft,
hinter den Kulissen Strippen zu ziehen. Als Kassandra vom Starnberger See
suchte er in seinem letzten Lebensjahrzehnt persönlichen Lebenssinn. Da er
die Staatsführung bei der sozialliberalen Regierung in falschen Händen und
mit ihrer Ostpolitik auf dem falschen Weg wähnte, scheute er nicht wie in
früheren Jahren vor möglichen Konspirationen mit seinen amerikanischen
»Freunden« zurück. Franz Josef Strauß warf in einem Spiegel-Interview der
neuen Bundesregierung vor, mit ihrer neuen Ostpolitik »den Ausverkauf der
deutschen Interessen« zu betreiben: »Ich bin kein Ostexperte, aber wir haben
den Eindruck – mehr will ich nicht sagen, um keine Indiskretion zu begehen -
daß man in Moskau ein ganzes Paket von politischen Forderungen in einen
Vertrag hineinarbeiten will.«781

780 Gehlen an Wessel, 15.10.1969, BND-Archiv, N 1/138.


781 »Ich bin kein Ostexperte«, Spiegel 9/1970 vom 23.2., S. 24.

1211
Parallel dazu äußerte sich der in seinem Selbstverständnis erfahrenste
deutsche Ostexperte in einem Schreiben an CIA-Chef Richard Helms. Vor dem
Hintergrund des Angebots von Kanzler Brandt für ein Treffen mit dem Vor­
sitzenden des Ministerrats der DDR Stoph übersandte Gehlen dem »Großen
Bruder« mehrere Zeitungsausschnitte mit Berichten über SPD-Treffen, Anlass
für ihn, um über den Zustand der Regierungspartei zu spekulieren. Ob sich
Helms über die persönliche Presseschau seines deutschen Expartners gewun­
dert hat? Den Brief hat er vermutlich nicht einfach ignoriert, auch wenn ihm
die düsteren politischen Prognosen aus Bayern nicht fremd gewesen sein dürf­
ten. Gehlen führte aus, dass die älteren SPD-Parteimitglieder zur freiheitlich­
demokratischen Grundordnung stünden. Es sei umso bemerkenswerter, dass
es in der Partei jetzt möglich sei, Ideen zu diskutieren, die kommunistischen
Ursprungs seien. Gehlen nahm an, dass der Münchener Stationsleiter der CIA,
Tom Lucid, bereits von mehreren Gesprächen berichtet habe, in denen er seine
Sorge über die Entwicklung dargelegt hatte. Er fürchte, dass sich Westeuropa
schon auf dem Weg zu einem jugoslawischen Kommunismus befinde. Natür­
lich werde die Entwicklung Schritt für Schritt vorangehen und vielleicht erst in
vielen Jahren an den Punkt gelangen, an dem Europa für den Westen verloren
gehen werde. Gehlen erinnerte sich an ähnliche Diskussionen mit Helms über
die Entwicklung in Frankreich und Italien. Nebenbei zeigte er sich verwundert
darüber, dass sich so viele junge Leute aus guten Familien von sozialistischen
Ideen anziehen ließen. Abschließend ließ Gehlen durchblicken, dass er doch
einiges von der CIA erwartete. Er hoffe, dass Helms die Absicht seines Briefes
richtig verstehe. Er wolle ihn nicht alarmieren, aber man sollte die Entwick­
lung ganz genau beobachten. Wenn Helms wieder einmal in Deutschland sein
werde, könnte man zusammen über die Sache diskutieren.782
Der Münchener Stationsleiter der CIA berichtete daraufhin zwei Wochen
später, dass der »Doktor« in einer sehr pessimistischen Stimmung sei. Er sei
nicht nur besorgt über die amtierende Regierung, sondern auch über den BND,
was weiter durch einen beiliegenden Brief ausgeführt werde.783 Der »Doktor«
meine, die Gespräche von CIA-Vertretern mit ihm seien sicher weitergege­
ben worden, aber seine Gefühle seien ja bekannt und daher wäre es wertlos,
jedes Mal darüber zu berichten. Lucid gab sich gelassen: Es gebe eigentlich
nichts Neues, außer dass nun eine linke Regierung in der Bundesrepublik an
der Macht sei. Nicht überraschend sei die Meinung des »Doktor«, dass sich
die führenden Männer der Regierung und der Regierungspartei im Laufe der

782 Schreiben Gehlens an Helms, 24.2.1970, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_
Gehlen_vol 6_10F2, S. 78-79.
783 Schreiben von Lucid in München an »Martin«, 9.3.1970, ebd., S. 80. Der Brief Gehlens
ist hier nicht freigegeben.

1212
Reinhard Gehlen mit seinem Hund Igor
im Boulevardblatt Quick 41/1971

Jahre angepasst hätten und wahrscheinlich gute Patrioten und loyale Bürger
der Bundesrepublik seien. Seine größte Sorge aber sei, dass so viele aus der
jüngeren Generation sich der radikalen Richtung zuwenden, zum Beispiel der
APO (Außerparlamentarischen Opposition). Der »Doktor« sehe gut aus und
habe keinen Grund zur Klage, außer über eine Thrombose, die ihn 40 Prozent
der linken Augenkraft koste. Er und sein Nachfolger seien sich nicht näher­
gekommen, seit man sie beide vor einem Jahr gesehen habe. Man könne mit
Gerd (Wessel) mitfühlen. Seit er in Bonn eine harte Zeit überstanden habe, sei
er wirklich »hin und hergerissen« (deutsch im Original).
CIA-Chef Helms blieb bei seiner Zurückhaltung gegenüber der innenpo­
litischen Debatte in der Bundesrepublik, wo die Auseinandersetzung der in
ungewohnter Opposition befindlichen konservativen Parteien mit der sozial­
liberalen Regierungskoalition an Schärfe zunahm. Als ihn Herre daran erin­
nerte, dass Gehlen am 3. April seinen 68. Geburtstag feierte, der alte Gent­
leman einsam sei und dankbar wäre, eine Art Erinnerung vom CIA-Chef zu
erhalten, erteilte Helms den Auftrag, ein solches Zeichen der Erinnerung zu
übermitteln.784 In seinem Dankschreiben für die von Herre übermittelten

784 Helms an Chief European Division, 1.4.1970, ebd., S. 82.

1213
Glückwünsche führte Gehlen aus, es sei sehr freundlich, dass sich Helms an
seinen Geburtstag erinnert habe, trotz seiner sicher zahlreichen Verpflichtun­
gen und Belastungen.785 Er schien also zu spüren, dass er als Pensionär für die
CIA-Spitze nicht mehr die Bedeutung hatte wie in seiner aktiven Zeit. Seine
Unterschrift zeigte ein leichtes Zittern.
Am Tag zuvor, am 5. Mai 1970, hatte sich wahrhaftig eine Zeitenwende
auch in Pullach vollzogen. Der BND lud auf Veranlassung des Kanzleramts
zu einer offiziellen Pressekonferenz nach Pullach ein, der ersten in seiner
Geschichte.786 Es war ein Schritt in die Öffentlichkeit, wie er von Gehlen
stets vermieden worden war, sicher auch als ein Zeichen dafür gemeint, dass
in Pullach ein neuer Geist eingezogen war, was dem bekannten Aufruf von
Kanzler Brandt »Mehr Demokratie wagen« entsprach. Staatssekretär Ehmke
hatte ganze Arbeit geleistet, um den Kurswechsel festzumachen. Ursprünglich
hatte es in SPD-Kreisen sogar den radikalen Gedanken gegeben, Wessel und
seine engsten Mitarbeiter abzulösen und den BND letztlich mit dem Verfas­
sungsschutz zusammenzuführen. Als Kanzler hatte Brandt solche Ressenti­
ments gedämpft. Ehmke sollte die notwendige Reform zusammen mit Wessel
betreiben. Die »Weichheit des Präsidenten« erlaubte es, die Alleinherrschaft
eines konservativen Chefs durch eine neue Führungsriege aufzubrechen. In
der militärisch geprägten Umgebung des Präsidenten übernahmen nun einige
zivile Experten sozialdemokratischen Zuschnitts Kommandopositionen. Die
bereits länger währende Suche nach einem zweiten Mann an der Spitze hatte
freilich zu einem »Stellungskrieg« in Pullach geführt, in dem Gehlen-Sympa­
thisanten das Gerücht streuten, Minister Ehmke habe den »dünnhäutigen«
Präsidenten abgekanzelt wie weiland Hitler seine Generale. Militärs im BND
fürchteten eine zeitweilige Lahmlegung der militärischen Aufklärung, wenn
Wessel gezwungen wäre zu gehen, weil dann fast alle führenden Offiziere den
Nachrichtendienst quittieren würden.787
Kanzleramtschef Ehmke musste handeln. Hans Detlev Becker kam als zwei­
ter Mann in Pullach ins Gespräch. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hätte
damit gleichsam die Kommandobrücke des BND besetzt. Schließlich fiel die
Wahl auf Dieter Blötz, Landesgeschäftsführer der Hamburger SPD.788 Das war
der gewünschte politische Gegenpol zum ehemaligen Berufsoffizier Wessel,
der die Personalentscheidungen Ehmkes stillschweigend akzeptierte. Neben

785 Gehlens an Helms, 6.5.1970, ebd., S. 84.


786 Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 232 – 233.
787 Siehe Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 327 – 329.
788 Dass die Wochenzeitung Die Zeit der Gräfin Dönhoff sogleich den Nichtfachmann und
Parteifunktionär Blötz attackierte, kann angesichts der früheren Verbindungen mit
Pullach nicht verwundern; siehe ebd., S. 330.

1214
der Bestallung eines Vizepräsidenten und der Ablösung von zwei Abteilungs­
leitern musste auch Kurt Weiß seinen Stuhl als Leiter der Abteilung Beschaf­
fung räumen. Es ist leicht zu verstehen, dass Gehlen am nahen Starnberger See
schockiert war und sein Lebenswerk in höchster Gefahr sah, als die neue Füh­
rungscrew von Ehmke bei der Pressekonferenz in Pullach präsentiert wurde.
Vor mehreren Hundert Mitarbeitern kündigte der Präsident einen behutsamen
Umbau des BND an, der Minister erklärte sich überraschend zum Schutzpa­
tron des Dienstes, forderte freilich auch eine »Erhöhung der Effektivität« und
die Konzentration auf die eigentliche Aufgabenstellung.
Wessel sah sich vor allem durch die Entscheidung für Blötz desavouiert.
Dennoch protestierte er nicht, er trat auch nicht von seinem Amt zurück, was
ihm vermutlich von Gehlen nahegelegt worden ist. Dafür könnte der unge­
wöhnliche Schritt Wessels sprechen, einen von Gehlen erhaltenen Brief einer
Schriftpsychologin zur Begutachtung zu übermitteln. Er war sich offenbar
des eigenen Urteils über seinen Ziehvater nicht mehr sicher. Ließ der nicht
überlieferte Brief Gehlens bei seinem Nachfolger womöglich den Verdacht auf­
kommen, dass der Altpräsident psychische Probleme haben könnte – so wie er
dessen ehemalige Sekretärin und Geliebte vor zwei Jahren bereits als dienst­
untauglich erklären lassen wollte?
Die anerkannte Münchener Grafologin Agnes Jacoby sah freilich in ihrem
Gutachten keine Anzeichen für eine gravierende Persönlichkeitsstörung. Ihr
Bild von Gehlen, dessen Identität ihr natürlich nicht aufgedeckt worden, aber
vielleicht doch bekannt war, bot keine großen Überraschungen. Der Verfasser
sei eine markante Persönlichkeit und gehöre zu jenen Menschen, die Selbstbe­
herrschung als Ideal ansähen, sie antrainieren und in ihrem Leben verwirkli­
chen. Sie erschienen kontaktwilliger als sie tatsächlich seien und könnten ihr
Verhalten absolut dirigieren, ohne Emotionen und mit zweckgebundener Ziel­
strebigkeit. Der Schreiber könne sich dabei sehr anteilnehmend und freund­
schaftlich geben. Er beherrsche alle Register gesellschaftlichen Verhaltens und
sei ein hochintelligenter Mensch mit einer »scharfen, das Wesentliche unmit­
telbar erfassenden Denkweise«, der gern die Fäden ziehe und hinter den Kulis­
sen agiere. Er sei nicht einfach zu durchschauen, kein gradliniger, eindeutiger
Mensch, für den der Zweck die Mittel heiligt. Es gehe ihm nicht ausschließlich
um persönliche Vorteile, aber man sollte ihn nicht für harmlos halten.789
Wessel scheint mit dem Gutachten nicht völlig übereingestimmt zu haben,
und er hatte auch Grund, sich in den nächsten Monaten über Gehlen zu wun­
dern. So gab er ein Jahr später eine weitere Schriftprobe an die Expertin. Sie
stellte nun fest, dass die neue Probe noch aggressiver geworden sei und es ihr

789 Graphologisches Gutachten, 7.7.1970, BND-Archiv, N 1/138, S. 8.

1215
viel von der »Tünche« mangelte, die als Ausdruck von Selbstbeherrschung
und Gewandtheit die frühere Schriftprobe auszeichnete. »Vor allem häufen
sich die Unaufrichtigkeitsmerkmale, von denen ich sagen möchte, dass sie
von schlauer Verdrehung (Intrige) bis zur vollen Unaufrichtigkeit reichen.« Der
Schreiber erwecke einen außerordentlich gespannten, eigensinnigen und aktiv
kämpferischen Eindruck, dessen kalter Zorn und Reizbarkeit sich anschei­
nend entladen mussten.790
Gehlens Ärger über die Veränderungen an der Spitze des BND und die aus
seiner Sicht allzu »lasche« Haltung seines Nachfolgers förderten seine miss­
trauische Natur gegenüber Fremden und ungewohnten Situationen. Während
sich der BND bald die Anerkennung der Regierung für wichtige Orientierungs­
hilfen für ihre Ostpolitik erwarb, fühlte sich Gehlen zunächst als selbsternann­
ter Historiker herausgefordert. Als der amerikanische Historiker David Kahn,
Spezialist für Kryptologie und militärische Aufklärung, ein Interview erbat,
weil er ein Buch über den deutschen Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg
schreiben wollte, wandte sich Gehlen, der von Bekannten gewarnt worden
war, an die CIA, um Kahn überprüfen zu lassen. Dort nahm man sich des Fal­
les an und gab Entwarnung. Bei dem arrangierten Hintergrundgespräch mit
Kahn zeigte sich Gehlen dann aufgeschlossen. Auf die Amerikaner machte der
»Doktor« den Eindruck eines gebrechlichen alten Mannes, der sich an sein
halb berufliches, halb freizeitbetontes Leben in einer angenehmen Umge­
bung angepasst habe. Er sei wahrscheinlich beeinträchtigt von seinen ernsten
Augenproblemen, aber ohne Bitterkeit, wie sich auch in seinen Briefen an die
Münchener Station zeige.791 Das Hauptquartier hatte Anweisung gegeben, die
Verbindung mit Gehlen auf niedrigem Niveau und durch gelegentliche soziale
Kontakte weiterlaufen zu lassen.
Dagegen war ein weiteres Papier, das der »Doktor« seiner Anfrage zu David
Kahn beigelegt hatte, extrem heikel. Dort teilte er mit, gehört zu haben, dass
der Spiegel eine Serie über die Org und den BND plane. Gehlen rechnete mit
scharfen Angriffen und gab an, privat mit Augstein gesprochen und ihn über­
redet zu haben, beanstandete Passagen wegzulassen. Für die amerikanische
Seite war nicht klar, ob Gehlen bereits gedruckte Auszüge gesehen hatte. Die­
ser schien aber zuversichtlich zu sein, die Sache unter Kontrolle zu haben,
sodass kein Schaden entstehen könne. Er habe mit Augstein auch über einige
Kommentare von Chefredakteur Günter Gaus gesprochen und ihn vergeblich
zu überreden versucht, dessen kritische Attacken zu stoppen.792

790 Schreiben von Agnes Jacoby an Wessel, 11.11.1971, ebd.


791 Memo Chief Munich für Chief European Division, 27.8.1970, NA Washington, RG 319,
Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_10F2, S. 90-91.
792 Internes CIA-Papier vom 24.7.1970, ebd., S. 85-86.

1216
Die Kontakte des Spiegel zum BND zur Vorbereitung einer größeren Serie
liefen bereits seit 1969, von Carstens gefördert, von seinem Nachfolger Ehmke
etwas zögerlich und kritisch begleitet.793 Wessel war natürlich eingeschaltet,
ebenso Vizepräsident Blötz. Weiß spielte weiter seine Rolle (nun als Leiter der
Schule des BND und nach seiner offiziellen Pensionierung von 1984 bis 1990
außerhalb des Stellenplans weiterbeschäftigt) und im Hintergrund Wicht,
mittlerweile Brigadegeneral d.R., der jetzt beim Spiegel arbeitete. Es fand
eine dichte Kommunikation statt. In Bonn und Pullach erwartete man eine
Erfolgsgeschichte des deutschen Auslandsnachrichtendienstes. Aber die Fer­
tigstellung der Serie, die immer umfangreicher wurde, zog sich in die Länge.
Als Gehlen schließlich mit dem Vorgang konfrontiert wurde, kursierten bereits
erste Texte, aber es konnte keine Rede davon sein, dass er die Fäden in der
Hand hielt. Völlig heraushalten konnte man ihn freilich nicht, denn zumin­
dest für die Vorgeschichte des BND war sein Wissen durchaus wertvoll. Wessel
schätzte darüber hinaus auch Gehlens Expertise für bestimmte Vorgänge der
1950er- und 1960er-Jahre, als er selbst in der Bundeswehr gedient hatte. Der
Altpräsident lehnte es allerdings ab, mit den beiden Spiegel-Autoren persönlich
zu sprechen.
Gehlen erhielt die Entwürfe einiger Folgen zur NS-Zeit zur Einsicht und
beurteilte sie im Großen und Ganzen als positiv. Er beharrte lediglich darauf,
dass er bereits 1938 auf kritische Distanz zur SS gegangen sei.794 Schließlich
arbeitete er unter größter Geheimhaltung an seinen eigenen Memoiren, was
ihn unter Zeitdruck setzte, denn die Spiegel-Serie, die ab 8. März 1971 wöchent­
lich erschien, sollte zeitnah auch als Buch erscheinen.
Das Hamburger Projekt war schon im Vorfeld schnell in den Sog der innen­
politischen Auseinandersetzungen geraten. Die Opposition witterte den Ver­
such der Sozialdemokraten, den BND parteipolitisch für sich auszunutzen, und
Wessel geriet in einen schwierigen Abwehrkampf gegen solche Vorwürfe. Es gab
sogar Gerüchte, dass seine Ablösung bereits im Kanzleramt besprochen wor­
den sei. Als Nachfolger sei der Chef des ASBw, Brigadegeneral Armin Eck, im
Gespräch, hieß es. Eine maßgebliche Rolle spielte der Vertreter der CDU/CSU-
Fraktion im Parlamentarischen Vertrauensmännergremium, Fritz Baier. Wessel
beschwerte sich bei ihm über die Lügen und Halbwahrheiten der Kampagne.
Gehlen selbst zeigte sich besonders erbittert über die 14. Folge, der er eine
bösartige Tendenz unterstellte, weil sie einige persönliche Angriffe gegen ihn
enthielt. Dabei ging es unter anderem um seinen Halbbruder Johannes, der als

793 Einzelheiten zum folgenden Abschnitt siehe bei Jost Dülffer: Pullach intern. Innenpo­
litischer Umbruch, Geschichtspolitik des BND und »Der Spiegel«, 1969-1972, Marburg
2015.
794 Gehlen an Wessel, 5.2.1971, BND-Archiv, N 1/72.

1217
Pensionär gegen die BND-Dienststelle in Rom intrigierte. Er pflegte, so wusste
man dort, zahlreiche Kontakte im Auftrag des »Doktor« und man konnte von
»Giovanni« erfahren, dass sein Bruder der festen Überzeugung sei, der jet­
zige Präsident werde bald abgelöst. Reinhard Gehlen stehe mit dem vorgese­
henen Nachfolger in engem Kontakt, und er rechne damit, später als Berater
nominiert zu werden.795 Die römische Dienststelle hatte gehofft, dass sich die
weiterbeschäftigte und verdeckt eingesetzte Nichte Reinhards Gehlens aus
den Ärgerlichkeiten mit ihrem Vater heraushalten würde, doch sie hielt zu
ihm und entwickelte »leider auch die gleiche charmant getarnte Neigung zur
Intrige«.796 »Giovanni« hatte damit gedroht, dass seine Tochter bei einer even­
tuellen Entlassung ordentlich auspacken würde. Die Kollegen in Rom hatten
den Eindruck, dass Johannes Gehlen ursprünglich über seine eigene Pensio­
nierung verärgert gewesen sei, nun aber in den Vordergrund stelle, dass er aus
vermeintlich politischen und nationalen Gründen weiter tätig sei.

Wer immer es hören will, dem sagt er, daß der jetzige BND ein williges Werk­
zeug der Sozis sei. Noch 5 Monate, dann seien seine Leute wieder am Zuge,
dann würden nicht nur einige MA des BND ausgewechselt. Dann würde
gründlich ausgemistet. Angeblich bereitet sein Bruder dies bereits mit dem
künftigen Leiter des BND vor. Das gibt seiner jetzigen Aktivität das Motiv des
nationalen Widerstandes.

Reinhard Gehlen sah sich mittlerweile wohl selbst als Teil eines »nationalen
Widerstands« und war wieder einmal bereit, in einer solchen Situation auf
seine Kontakte zu den Amerikanern zu bauen. So schickte er Anfang Novem­
ber 1970, noch vor der Veröffentlichung des ersten Teils der Spiegel-Serie,
einige Artikelentwürfe an Critchfield, mit Grüßen in alter Verbundenheit auch
an CIA-Chef Richard Helms. Er hatte recht mit seiner Vermutung, dass in der
endgültigen Fassung die Autoren keinerlei Kompromisse mehr machen wür­
den. Es sei schwierig gewesen, so schrieb Gehlen, an das Material heranzu­
kommen.797 Er habe in der Sache keinen Kontakt mit Präsident Wessel gehabt,
da seine Beziehungen zu ihm reserviert seien. Es werde von anderer Seite ver­
sucht werden, das Erscheinen des Artikels zu verhindern.
Seine eigene Person werde darin ganz gut behandelt, wahrscheinlich in dem
Wissen, dass er an der Geschichte des BND arbeite und deshalb der Verdacht
geweckt werden solle, er sei die Spitze der Indiskretionen. Anders könnte nicht

795 Treffbericht vom 31.7.1970, BND-Archiv, 150544.


796 Treffbericht vom 3.8.1970, ebd.
797 Gehlen an Critchfield, 5.11.1970, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh­
len_vol 6_10F2, S.92-95.

1218
erklärt werden, weshalb die erste Fassung zurückgezogen worden sei, in der
eine Menge bösartiger Bemerkungen über ihn gestanden hätte. Die Anregung
zu der Serie komme von Minister Ehmke. Er glaube nicht, dass die Motive, die
in der Serie genannt würden, die wahren seien. Es sei bedauerlich, dass Mitar­
beiter des Dienstes gezwungen gewesen seien, mit Ehmke und seinen neuen
Parteileuten zu sprechen, und er nehme an, dass die zitierten Quellen nicht
die einzigen Informanten gewesen seien – was wohl eine Anspielung auf einen
möglichen Einfluss des Ostens sein sollte. Die Serie enthalte einige geheime
Informationen, die zum Teil falsch seien, aber zugleich auch eine Verletzung
von NATO-Interessen darstellten. Da der neue Vizepräsident Blötz engen Kon­
takt zum Spiegel pflege, sei anzunehmen, dass die meisten Informationen über
ihn nach außen gelangt seien.
Die Absicht der Artikel scheine zu sein: Wessel lächerlich und unglaubwür­
dig zu machen, um den Weg für Nollau, den Protege von Wehner, an die BND-
Spitze zu öffnen oder einen anderen der SPD gefälligen Mann; die Quellen und
V-Leute des BND sollten erschreckt werden, damit sie »springen«; die Bezie­
hungen des BND zu den westlichen Diensten sollten unterbrochen werden,
vielleicht trotz aller Beteuerungen, um einen Wechsel von West nach Ost in der
Politik und im nachrichtendienstlichen Bereich vorzubereiten – was Gehlen
selbst mit drei Fragezeichen versah. Er wisse nicht, ob die Maßnahmen zur
Verhinderung der Artikel greifen würden, wenn nicht, sollte eine Intervention
der USA über diplomatische Kanäle bei Ehmke überlegt werden, insbesondere
weil NATO-Interessen berührt seien. Ein solches Vorgehen sollte aber nicht
erkennen lassen, dass es auf seine Besorgnisse zurückgehe.
Gehlens Brief löste aufseiten der Amerikaner einige Unruhe aus, da Gehlen
sicher zu sein schien, dass der Artikel doch noch verhindert werden könnte.
Die Münchener Station besorgte sich die Entwürfe und riet davon ab, aktiv zu
werden, und kontaktierte den zuständigen Mann beim BND für die Westabtei­
lung und die Beziehungen zu anderen Diensten. Die CIA beschloss also, sich
rauszuhalten.
Im Ergebnis mussten Wessel und der BND hinnehmen, dass der Spiegel in
der publizierten Fassung eine Reihe von Hinweisen des BND ignorierte. Da
aber Wessel nichts weiter unternahm, glaubte anscheinend Gehlen, bei sei­
nen eilig abgeschlossenen Memoiren ebenfalls wenig Rücksicht auf Geheim­
haltung nehmen und politische Zurückhaltung zeigen zu müssen. Wie sehr
er schon längst auf eine Art von politischem Partisanenkampf umgeschaltet
hatte, zeigte ein paralleler Vorgang Ende 1970. Der rechtskonservative Fernseh­
journalist Gerhard Löwenthal vom ZDF hatte Hans Weidemann, Journalist bei
der Illustrierten Stern, öffentlich beschuldigt, im Krieg als SS-Obersturmführer
für die Erschießung von italienischen Partisanen verantwortlich gewesen zu
sein. Offenbar wandte sich Löwenthal dann an Gehlen und bat um entspre­

1219
chende Nachweise. »Utility« bemühte sich um die Unterstützung der CIA. Dort
sah man die Notwendigkeit, ihm schon aus reiner Höflichkeit zu antworten,
obwohl nicht klar sei, was er eigentlich wolle. Entlastungsmaterial?798
Und das sei nicht alles. Gehlen wolle außerdem Material über den sowje­
tischen Marineaufbau im Mittelmeer, um es Dr. Wolfgang Höpker zu überge­
ben, der in der konservativen Zeitung Christ und Welt Alarm schlagen könne.
Und er habe empfohlen, den alten Bekannten Eric Waldman – jetzt als Pro­
fessor an der Universität von Calgary – anzuhören über die Unterwanderung
der Bundesrepublik durch den Osten. Gehlens Wunschliste gegenüber der
CIA war damit noch keineswegs abgeschlossen. Er teilte seine Absicht mit,
ein Buch des Sohnes von Vincenz Müller zu sponsern, dem Exkameraden aus
der Wehrmacht und späteren NVA-General, der nach Südafrika, Kanada oder
die USA emigrieren wolle. Gehlen bot weiteres Material über den Müller-Sohn
an. Außerdem bat er darum, Erica Glaser-Wallach über ein Interview mit dem
gegenwärtigen Kanzlerberater Leo Bauer 1950 in Ost-Berlin auszuhorchen.
Und er ließ seinen Verdacht durchblicken, dass Stern-Chefredakteur Henri
Nannen sowie sein Freund Weidemann Verbindungen zum Ostblock hätten.
Aufseiten der CIA versuchte man, die gewünschten Antworten hinauszuzö­
gern, und wollte sich bemühen, zunächst einmal herauszufinden, welcher
potenzielle Ärger aus Gehlens andauernden Aktivitäten für die amerikani­
schen Beziehungen mit Pullach erwachsen könnte.799
Für die Münchener Station bedeuteten die Anträge Gehlens eine Einmi­
schung in die bundesdeutsche Innenpolitik sowie im Fall Weidemann in ein
laufendes juristisches Verfahren. Die amerikanische Seite hätte dabei nichts zu
gewinnen. Man sollte Gehlen darüber informieren, dass kein Interesse der CIA
vorliege. Die anhaltende Flut von Anfragen beeinträchtige die Beziehungen
der Station zum BND, zumal die langjährigen Beziehungen Wessels zu Gehlen
eingefroren seien. Die guten persönlichen Beziehungen zu Wessel könnten es
erlauben, mit ihm über das Problem der Anfragen Gehlens zu sprechen. Aus
Höflichkeit sollte man zwar weiter gelegentliche Kontakte zu Gehlen halten,
aber nicht suchen. Es müsse ihm klargemacht werden, dass die CIA-Station
nicht in operative Dinge eingreifen könne, die Pullach interessieren. Man
müsse aufpassen, nicht in ein Kreuzfeuer zu geraten.800

798 Der Rechtsstreit mit dem ZDF führte zu einem Vergleich. Eine persönliche Verantwor­
tung für die Hinrichtung konnte Weidemann, ein Freund von Stern-Chef Henri Nannen,
nicht nachgewiesen werden; siehe ZDF/Stern. Knüppel und Sack, in: Spiegel 1/1971 vom
4.1., S. 52-54.
799 CIA-Bericht, 7.12.1970, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol6_10F2, S. 119-121.
800 Memo vom 9.12.1970, ebd., S. 123-127.

1220
Die CIA verständigte sich am Jahresende 1970 mit Wessel über regelmäßige
Aussprachen auch über sensible Bereiche, insbesondere über das andauernde
Bemühen des BND, seinen Platz in der Regierungsstruktur zu finden. Man
erörterte die bevorstehende Spiegel-Serie, wobei man sich darauf verständigte,
dass ein moderner Nachrichtendienst nicht in einer falschen Isolation leben
könne. Bezüglich Gehlens erläuterte die CIA, dass dienstliche Belange nur über
offizielle Kanäle besprochen würden, wünschte sich aber höfliche Kontakte zu
Gehlen als Ausdruck der freundschaftlichen Beziehungen in der Vergangen­
heit. Wessel erklärte prompt, dass Gehlen keinerlei Verantwortung für die Ope­
rationen Pullachs habe, und bat darum, dass die CIA dies bei der Verbindung
zu ihm berücksichtige. Die Amerikaner erklärten, sie hätten nicht die Absicht,
mit Gehlen dienstliche Dinge zu besprechen oder sich in Dinge einzumischen,
die Gehlen mit dem BND verbanden. Dann bemerkte Wessel, wohl auch um die
Gelegenheit zu nutzen, um seine speziellen Beziehungen zu Gehlen zu erläu­
tern: Er habe seit dem Zweiten Weltkrieg als Kollege unter Gehlen gearbeitet
und habe daher die engste berufliche Beziehung zu ihm. Er selbst sei jedoch
eine andere Sorte von Mann mit einem breiten Überblick und internationalen
Erfahrungen, deshalb werde er Pullach seinen eigenen Stempel aufdrücken.
Das mache seine Beziehungen zu Gehlen kompliziert. Auf die Bemerkung sei­
ner Gesprächspartner: »It’s hard to follow George Washington«,801 antwortete
Wessel: »That says it all.«802
Gehlens Nachfolger wandte sich – knapp zwei Jahre nach seiner Amts­
übernahme – zum Weihnachtsfest 1970 an die Mitarbeiter. Der BND sei seiner
Aufgabe gerecht geworden, zugleich betonte er die Vielzahl der Auffassungen
und Richtungen unter den Mitarbeitern in allen Bereichen des menschlichen
Denkens und Handelns. Darin liege eine große Stärke, »weil sie uns auf allen
Ebenen zwingt, mit den Problemen zu ringen und nicht leichtfertig Bewertun­
gen abzugeben«.803
Bei dieser Gelegenheit wurde zusammen mit drei anderen alten Kamera­
den Generalleutnant Leo Hepp verabschiedet, ehemals Leiter der Fernmelde­
aufklärung in der Org, der es in der Bundeswehr bis zum Kommandierenden
General des II. Korps gebracht hatte und nach seiner Pensionierung noch für
einige Jahre im BND beschäftigt worden war. Hepp erinnerte daran, dass die
führenden Mitarbeiter damals eine gemeinsame Grundlage in ihrer Erziehung,
Ausbildung und Erfahrung gehabt hätten. »Wir glaubten daran, dass es sich

801 George Washington war der erste Präsident der USA.


802 Bericht über das Treffen mit Wessel, 11.12.1970, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol 6_10F2, S. 129-137.
803 Weihnachtsgrüße Wessels an die BND-Mitarbeiter vom Dezember 1970, BA-MA,
N 704/26.

1221
lohne, sich im Rahmen der damaligen Org für die uns überlieferten Wertvor­
stellungen einzusetzen und wir waren bereit zum Dienen.« Materielle Vorteile
seien nicht entscheidend gewesen, sondern das Vertrauen in eine bessere
Zukunft. Mit dem Wandel der Zeit sei aber aus der Stärke Schwäche gewor­
den. »Die Zusammensetzung des Dienstes wurde zu einseitig, sozusagen mili­
tärisch kopflastig. Es hat lange, vielleicht zu lange gedauert, bis das geändert
werden konnte.« Über seinen Kameraden Gehlen verlor Hepp kein Wort.804
James Critchfield, Gehlens langjähriger amerikanischer »Aufpasser«, mitt­
lerweile dem ehemaligen BND-Chef in Freundschaft verbunden, traf Anfang
1971 einen alten Bekannten an, der, von seinen Erinnerungen an alte Zeiten
und politischen Obsessionen getrieben, sich im »nationalen Widerstand«
gegen die aktuellen politischen Veränderungen an eine neue Aufgabe klam­
merte. Der ehemalige General konnte offensichtlich seinen Ruhestand nicht
genießen, sondern bewegte sich in seiner ganz eigenen Welt von politischen
Intrigen und Verschwörungstheorien. Critchfield traf Gehlen in dessen Heim
in Berg. Dann fuhren sie zusammen nach Farchach, sieben Kilometer außer­
halb von Berg. Gehlen stellte sich darauf ein, das vom BND bezahlte Büro Ende
des Monats zu schließen, da sein Geschichtsprojekt am Jahresende ausgelau­
fen war. Er habe am Vortag Wessel getroffen, das fertige Manuskript übergeben
und mitgeteilt, dass er beabsichtige, ein Buch über die Geschichte des BND
zu schreiben. Frau »Kunze« sei erschienen, seine persönliche Sekretärin seit
30 Jahren. Hier hätten Gehlen und »Bohlen« zwei Jahre lang gearbeitet, zwei
junge Sekretärinnen die Schreibmaschinenarbeiten erledigt, wie Critchfield
notierte.
Es gebe ein Thema, das Gehlen sehr lange beherrscht habe: seine Sorge vor
der Unterwanderung der deutschen Gesellschaft durch Moskau. Die zentrale
Figur dabei sei Gustav Heinemann gewesen, der gegenwärtige Bundespräsi­
dent. Herbert Wehner habe auch eine prominente Rolle gespielt, obwohl Geh­
len zu ihm Ende der 1960er-Jahre eine enge Beziehung gepflegt habe. Gehlen
meinte, dass die Zeit der Großen Koalition Herbert Wehner verändert habe.
Nun porträtierte er ihn als das eigentliche Hirn hinter der Konspiration. Gus­
tav Heinemann blieb aber eine der Hauptfiguren. Einmal mehr ging Gehlen
die Geschichte durch. Wieder zitierte er den MI6-Bericht über die Verhaftung
Heinemanns in Wien während der Viermächtebesatzung, als dieser eine sow­
jetische Nachrichtendienst-Anlage mit einer großen Geldsumme in einer klei­
nen Tasche verließ. Nach Gehlens Meinung sei Heinemann mit dem Volksbund
für Frieden und Freiheit (VFF) verbunden gewesen und habe seine Finger in
der Bonin-Affäre sowie den Veränderungen in der National-Zeitung in Mün­

804 Rede Hepps, 9.12.1970, ebd.

1222
chen gehabt.805 Einmal sei er selbst zu Heinemann gegangen und habe ihm
erklärt, seine persönliche Sekretärin sei die frühere Sekretärin von Max Rei­
mann gewesen, dem Kommunistenführer, worauf diese verschwunden sei.806
Zurück zu Wehner, erwähnte Gehlen seine jahrelangen vergeblichen Bemü­
hungen, Zugang zu den Akten des schwedischen Prozesses zu erhalten.807
Seine neueste biografische Variante laute, dass Wehner mit der ersten oder
zweiten Frau von Ulbricht verheiratet gewesen sei. Er bezog sich auf Willy
Brandts vielfach öffentlich erwähnten Kontakte zur KPI, dort sei die Basis für
dessen Ostpolitik gelegt worden. Es drängte ihn, über die gegenwärtigen Ent­
wicklungen in der Bundesrepublik zu sprechen. Er glaubte, dass die SPD dabei
sei, die Sozialstruktur gründlich zu verändern, um einen neuen Klassenkampf
zu entfachen. Das Motto des radikalen Flügels sei Mitbestimmung und Mit­
besitz. Gehlens letztes Wort zu Wehner lautete, dass dieser bemüht bleibe,
Nollau zu installieren.
Zur Spiegel-Serie meinte Gehlen: Ehmke sei bemüht, den Mythos FHO zu
zerstören, um das Konzept eines transparenten modernen Dienstes durchzu­
setzen. Mit der letzten Fassung der Artikel könne er aber leben. Critchfield
fragte nicht nach. Er sagte lediglich, dass er gehört habe, Gehlen habe seine

805 Das waren besonders absurde Behauptungen Gehlens. Heinemann war 1945 Mitbegrün­
der der CDU und wurde von der britischen Besatzungsmacht 1946 als Bürgermeister in
Essen eingesetzt – das widerlegt den ominösen MI6-Bericht. Der VFF war eine von der
CIA bezahlte Speerspitze der extrem antikommunistischen Propaganda in Westdeutsch­
land, die Veränderungen in der National-Zeitung betrafen deren Kurswechsel unter Frey
ins rechtsradikale Lager. Bonins gescheiterte Kontaktaufnahme 1955 mit dem sowje­
tischen Geheimdienst war von Gehlen selbst unterstützt worden. Der Generalstäbler
Bonin – kurz vor Kriegsende noch Chef der Operationsabteilung im OKH – war als Mili­
tärplaner wegen abweichender Auffassungen im Amt Blank abgelöst worden und erar­
beitete eine alternative Militärplanung für ein neutralisiertes Deutschland. 1955 wurde er
wegen Illoyalität aus der Bundeswehr entlassen, weil er öffentlich für seine Ideen warb.
806 Gehlen vermied es, in seinen Memoiren Heinemann öffentlich anzugreifen und ihn
womöglich, wie David Irving es für die englische Ausgabe vorschlug, als Pazifisten zu
bezeichnen, obwohl es nach seiner Einschätzung wohl zutraf und er Heinemann als
eine zumindest »fragwürdige Figur« betrachtete; Gehlen im Interview mit Elke Fröh­
lich, 4.1.1972, IfZ, ED 100-68-178. Max Reimann war Fraktionsführer der KPD im ersten
Deutschen Bundestag, nach seiner Übersiedlung in die DDR 1954 Erster Sekretär der
KPD im Exil, die 1956 in der Bundesrepublik verboten wurde.
807 Wehner war 1941 von Moskau aus ins neutrale Schweden gereist, um im Parteiauftrag
der KPD von dort den kommunistischen Widerstand im Reich gegen das NS-Regime zu
organisieren. 1942 wurde er in Stockholm verhaftet und wegen Spionage zu einem Jahr
Zuchthaus verurteilt. Es heißt, er habe sich durch die Strafverfolgung seines Parteiauf­
trags zu entledigen versucht. Wehner wurde jedenfalls aus der KPD ausgeschlossen.
Nach eigenem Bekunden nutzte er die Zeit seiner Internierung, um sich vom Kommu­
nismus zu lösen.

1223
Publikationspläne geändert und wolle einen politischen Blockbuster heraus­
bringen. Gehlen wiegelte ab, betonte aber, dass er auf eine politische Wirkung
des Buches hoffe und dass es populär werde. Critchfield fragte, ob er es selbst
geschrieben habe und ob er glaube, dass sein Wort von der roten Gefahr popu­
lär werden könnte. Gehlen lachte und sagte, es werde keine Polemik geben
und er habe sich professionelle Hilfe für das Schreiben der gegenwärtigen
Version geholt. Er beschrieb die Gliederung von Der Dienst. Ein großer Teil
werde die sowjetische Strategie behandeln. Er meinte, dass das Manuskript
keine Attacken gegen die augenblickliche Regierung enthalte, aber jeder, der
zwischen den Zeilen lesen könne, werde erkennen, dass es die Weisheit der
gegenwärtigen Politik bezweifelt. Critchfield erlaubte sich die Frage, ob er sich
denn höheren Orts rückversichert habe. Gehlen meinte dazu, er habe Wessel
das Erscheinen des Buches angekündigt, der aber zeige kein Interesse.
Critchfield reagierte auf das Gespräch mit einer Mischung von Sorge und
Trauer. Gehlen sei ein Mann, dem es nicht gelinge, sich von der Politik des BND,
Deutschlands, Europas und der Welt zu lösen. Er sei so stark mit der europä­
ischen Politik verbunden wie vor 20 Jahren. Es gebe keine Veränderung in sei­
ner Weitsicht seit dieser Zeit. Ein großer Teil der Konversation sei eine Wie­
derholung des letzten Gesprächs gewesen. Anzeichen von Senilität seien aber
nicht zu erkennen. Gehlen sei einfach ein sturer alter Mann, der überzeugt sei,
recht zu haben. Es sei charakteristisch, dass er die Tantiemen seines Buches
entweder zugunsten jener verwenden wolle, die durch die Zusammenarbeit
mit ihm finanziell gelitten hätten, oder um die wenigen Operationen zu finan­
zieren, die er noch selbst durchführen wolle. Gehlen erwähnte Mortimer von
Zitzewitz, einen international agierenden Waffenhändler, der niemals Geld
vom BND genommen, aber viele Dienste geleistet habe. Die Bundesregierung
habe angeordnet, alle Beziehungen dieser Art zu beenden. Zitzewitz wolle sich
nach Spanien oder Frankreich absetzen.
Critchfield bestätigte, dass er schriftlichen Kontakt zu Waldman habe
und Kopien seiner zahlreichen Artikel und Vorträge über die »Rote Gefahr in
Deutschland« beitze. Gehlen sagte, durch seine Glaubwürdigkeit (als jüdisch­
amerikanischer Politikprofessor?) habe Waldman einen einzigartigen Zugang
zu vielen westdeutschen Zirkeln gehabt, einschließlich des SED-Westbüros.
Bei seiner Rückfahrt durch die Dunkelheit hatte Critchfield das Gefühl, dass
es das letzte dienstliche Gespräch mit Gehlen gewesen war. Die Zeit habe die­
sen »warrior of the Cold War« überholt. Wie die Geschichte über ihn urteilen
werde, sei ungewiss, sicherlich nicht als einen Mann, der Zweifel hatte.808

808 Memorandum for the records Critchfields, 20.1.1971, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_10F2, S. 138-141.

1224
Wenige Tage später sandte Gehlen seine Bemerkungen zum Manuskript
von Zolling über die Zeit bis 1945 an Wessel. Es sei insgesamt positiv zu bewer­
ten. Lediglich sein Verhältnis zum Nationalsozialismus sei falsch dargestellt.
Der Zeitpunkt seines Zweifels an dieser Bewegung habe mit der Fritsch-Affäre
zusammengehangen, über die er in Einzelheiten von Halder unterrichtet wor­
den sei. »Ein Staat, in dem das Recht nicht Recht bleibt, kann keinen Stand
haben.« Auch sein Verhältnis zu SS und SD sei in der Tendenz falsch darge­
stellt, wie Wessel selbst wisse. Seit der Fritsch-Affäre habe sich seine Auffas­
sung »über diese Brüder« nicht geändert, im Interesse »unserer Arbeit« habe
natürlich ein Modus Vivendi gefunden werden müssen. Blödsinnig sei der
Gedanke, er habe etwas mit dem Werwolf zu tun gehabt, das sei ein Märchen
und die nachträgliche Version von Schellenberg gegenüber dem britischen
Schriftsteller Hugh Trevor-Roper. Insgesamt handele es sich aber um eine gute
Arbeit. Er wolle seine selbst gewählte Zurückhaltung vorerst nicht aufgeben
und verzichte deshalb auf ein Gespräch mit Zolling.809
Mit dem Erscheinen der Spiegel-Serie änderte Gehlen seine Meinung grund­
legend und unterstützte die Bestrebungen des CDU-Abgeordneten Fritz Baier,
die angeblich landesverräterischen Enthüllungen des Magazins juristisch ahn­
den zu lassen.810 Die nachfolgende Publikation in Buchform beschleunigte die
Fertigstellung seiner eigenen Memoiren bzw. der damit beabsichtigten politi­
schen Kampfschrift. Wessel dürfte schon geahnt haben, was auf ihn zukom­
men würde. Hatte ihm der Spiegel bereits erheblichen Ärger mit der These
bereitet, dass der vorsichtig reformierte BND gleichsam als SPD-gesteuert
angesehen werden konnte, so trieb den Präsidenten jetzt zusätzlich die Sorge
um, dass sein Vorgänger an die Öffentlichkeit gehen werde, weil er glaube, sich
rehabilitieren zu müssen. Für diesen Fall versicherte er sich vorsorglich eines
Zeugen, »der bekunden kann, daß mein Vorgänger bereits vor oder mit mei­
nem Amtsantritt gegen mich eingestellt war«. Es sei der Schlusspunkt »unter
eine lange mich von Gehlen wegführende Entwicklung gesetzt. Wenn Gehlen
gut beraten wäre, würde er nicht in die Öffentlichkeit gehen.«811
Dabei musste Wessel freilich klar sein, dass dies eine verfehlte Hoffnung
war, denn der Altpräsident war beratungsresistenter als je zuvor. Ohne wei­
tere Vorwarnung setzte er gegen das Spiegel-Buch sein eigenes Buch, um die
Deutungshoheit über die Vergangenheit zu reklamieren. Eine Ankündigung
sandte er erst Anfang September 1971 an Wessel mit einem ziemlich anma­

809 Schreiben Gehlens an Wessel, 5.2.1971, BND-Archiv, N 13/2.


810 Dülffer, Pullach intern, S. 48 – 50. Der Generalbundesanwalt stellte die Ermittlungen im
Januar 1972 ein.
811 Notiz Wessels über ein Telefonat mit Dr. Oxenius, 14.6.1971, BND-Archiv, N 1/138,
Blatt 13.

1225
ßenden Schreiben. Er wisse, dass dieses Vorgehen Wessel sicher viel Arbeit
und Ärger bereiten werde. Aber er sei gezwungen gewesen, so zu handeln, um
sicherzustellen, dass das Buch nach Möglichkeit auch alle politisch Denken­
den erreiche.

Nur so konnte ich meiner geschichtlichen Verpflichtung genügen, auf das


Unheil hinzuweisen, in das wir mit unserer Ostpolitik hineinzumarschieren
im Begriffe sind, zumal ich weiß, daß die Offiziellen im gesamten westlichen
Ausland mit wenigen Ausnahmen der gleichen Auffassung sind, wie ich; nur
sagen sie es nicht laut und deutlich. Schon einmal waren wir in der Situation,
mit einer verfehlten Kriegspolitik sehenden Auges trotz aller Warnungen ins
Unglück mitgehen zu müssen. Diesmal sind wir mit einer verfehlten, falsch
verstandenen Friedenspolitik auf dem gleichen Wege. Einer muß das einmal
laut und vernehmlich sagen, damit uns nicht die Geschichte später den Vor­
wurf macht, nicht klar gewarnt zu haben. Sehen Sie mein Urteil, das ich Ihnen
am Anfang Ihrer Amtstätigkeit abgab, immer noch als pessimistisch an?812

Antwortentwürfe zeigen die Empörung Wessels, mit harter Hand dahinge­


worfen, am Ende aber wohl der Vernunft folgend verworfen. Für Gehlen stand
fest, die zwölf Jahre Dienst in der Bundeswehr hätten Wessel zu einem anderen
Mann gemacht. Wessel sei mit offenen Armen in Pullach empfangen worden,
habe aber seine Untergebenen schnell enttäuscht. Er sei ein hervorragender
»zweiter Mitarbeiter« gewesen und werde es immer bleiben, so Gehlen. Aber
es fehle ihm das Format für eine Führungsposition. Darin müsse man eigene
Verantwortung tragen.813
Wessel stand unter erheblichem Druck, wurde doch Gehlens Kampf gegen
die sozialliberale Ostpolitik durch ein Netzwerk von BND-Veteranen unter­
stützt, in dem Wolfgang Langkau, Gehlens enger Vertrauter, eine wichtige
Rolle spielte. Es war unter Leitung des ehemaligen BND-Mitarbeiters Hans
Christoph von Stauffenberg ein paralleler Nachrichtendienst entstanden, der
Politiker der konservativen Opposition mit Berichten versorgte, um die »freie
Welt im Abwehrkampf« gegen Moskau zu unterstützen.814

812 Gehlen an Wessel, 5.9.1971, ebd., Blatt 137-138.


813 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 17.12.1971, IfZ, ED 100-69-250.
814 Der sogenannte Stauffenberg-Dienst wurde erst 1982 aufgelöst; siehe dazu Stefanie
Waske: »Nach Lektüre vernichten!«. Der geheime Nachrichtendienst von CDU und CSU
im Kalten Krieg, München 2013.

1226
10. Misslungene publizistische Paukenschläge (1971-1974)

Gehlen hatte das Ereignis taktisch klug geplant: keine Mitprüfung des Manu­
skripts, wie sie selbst der Spiegel bei seiner Serie dem BND eingeräumt hatte,
daher auch kein möglicher Widerspruch; kurz vor der Auslieferung Auszüge
in der konservativen Tageszeitung Die Welt und in der Illustrierten Quick eine
wohlwollende, mehrteilige Story. Sie begann mit der Beschreibung, wie Geh­
len, nun nicht mehr inkognito, mit Ehefrau zum Landhaus eines alten Freun­
des nach Salzburg fuhr und am 10. September 1971 seinen 40. Hochzeitstag
feierte. Hier habe er sich von den Anstrengungen der vergangenen Tage erholt,
die zwei Tage später Schlagzeilen machten. Am Sonntag, dem 12. September,
meldete die New York Times, Gehlen habe seine Memoiren geschrieben und
darin Martin Bormann, den Chef der Parteikanzlei der NSDAP, als Agenten
Stalins enthüllt.
Während die Nachricht um die Welt ging, habe Gehlen gelassen im Alpen­
see nahe dem Landhaus seines Freundes geplätschert, berichtete die Illus­
trierte Quick. Gehlen, 69 Jahre alt, mit dem »sehnigen Körper eines durchtrai­
nierten Enddreißigers«, habe die Gewohnheit, jeden Morgen um sechs Uhr
schwimmen zu gehen, bei jedem Wetter. Zu Hause schwimme er in einer von
Schilf gegen fremde Blicke abgeschirmten Bucht mindestens zehn Minuten
lang, gehe dann erfrischt ins Haus zurück, wo ihm seine Frau den Frühstücks­
tee serviert. Der Bungalow sei eher bescheiden, Gehlen habe sich einen Raum
anbauen lassen als Arbeitsraum, die Wände voller Bücher und hinter dem
Schreibtisch die Totenmaske Friedrichs des Großen. »Er ist ein gläubiger evan­
gelischer Christ, war für seine inzwischen erwachsenen Kinder ein liebevoller
Vater, ein Mensch, der nur einen anderen Menschen wirklich verehrt – seine
Frau.«815 Die Quick-Journalisten schilderten den Mann mit dem »Tirolerhut«,
wie er sich selbst in der Rolle als Privatmann sehen wollte und seine Familie
ihn bis heute in Erinnerung zu haben scheint. Bei dem Bekenntnis zu seiner
»Verehrung« für Frau Herta dürfte sich Annelore Krüger während der Lektüre
der Illustrierten ihren Teil gedacht haben.
Die Bormann-Enthüllung, die für kurze Zeit Schlagzeilen machte, erwies
sich im Nachhinein als Rohrkrepierer. Der ehemalige Artillerist Reinhard Geh­
len hatte sich von dem PR-Coup offenbar viel versprochen. Die »Enthüllung«
war Teil eines Exposes, mit dem er eine US-Ausgabe vorbereiten wollte. Dazu
hatte er zunächst mit Julius Klein verhandelt, der aber die Hälfte der Tanti­
emen für sich verlangte. Als Volker Hansen, Besitzer des Verlages Hase und
Koehler, die New York Times für einen Vorabdruck gewinnen wollte, griff Geh­

815 Die Gehlen-Story, Quick 41/1971, S. 18.

1227
1971 erschienen Reinhard Gehlens Memoiren.

len ein, weil das Blatt – wie er meinte – mit der Veröffentlichung der Penta­
gonpapiere über den Vietnamkrieg816 gegen die nationalen Interessen der USA
verstoßen habe, und wandte sich an die Springer-Presse.817 Daraufhin brachte
die New York Times die Bormann-Meldung.818
Wessel reagierte höchst alarmiert. Das Landgericht Frankfurt am Mai bat
um eine Aussagegenehmigung für Gehlen, da es seit Jahren im Falle Bormann
ermittelte. Der BND-Präsident konnte sich natürlich nicht verschließen und
unterrichtete seinen Vorgesetzten, Kanzleramtsminister Ehmke. Konnte es
wirklich sein, dass Gehlen in seinen angekündigten Memoiren mehr über diese
alten Gerüchte, Bormann sei 1945 die Flucht aus Berlin gelungen und später
in Moskau gesehen worden, mitteilen würde? Wäre es dann nicht seine Pflicht

816 Der Friedensaktivist Daniel Ellsberg veröffentlichte 1971 in der New York Times geheime
Papiere des Pentagons und deckte damit die jahrelange Täuschung der Öffentlichkeit
über die Kriegsziele in Vietnam auf.
817 Gehlen unterstützte in diesen Tagen eine PR-Serie in der Illustrierten Quick für seine
Memoiren. Das Magazin veröffentlichte danach Geheimprotokolle über die Bonner Ver­
handlungen über die umstrittenen Ostverträge. Die Illustrierte Stern berichtete 1973,
Quick-Chefredakteur Heinz van Nouhuys sei ein Doppelagent (DN »Nante«), ein Fall,
der 14 Jahre lang vor Gericht nicht geklärt werden konnte. Der Verdacht liegt nahe, dass
Gehlen hier eine Parallele zum Fall der Pentagonpapiere gesehen haben könnte. Ob er
seine Finger im Spiel hatte, um über die Quick ein Gegenspiel zu inszenieren, bleibt
offen.
818 Memo Chief of Base to Chief of Station über ein Gespräch mit Weiß am 29.9.1971, NA
Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 38.

1228
gewesen, solche Erkenntnisse bereits in seiner aktiven Dienstzeit den Justiz­
behörden zur Kenntnis zu bringen? Ob Wessel die Gefahr erkannte, dass sich
Gehlen mit diesem PR-Coup blamieren könnte, bleibt offen. Verleger Hansen
war jedenfalls nicht bereit, dem BND kurzfristig ein Exemplar der Memoiren
zu überlassen. Auch Regierungssprecher Conrad Ahlers hatte sich vergeblich
bemüht. Eine Beschaffung des Manuskripts mit nachrichtendienstlichen Mit­
teln lehnte Wessel »erneut« ab. Das wäre illegal und ihm die Sache nicht wert.
Er unterrichtete den Minister über den Werkvertrag für Gehlen, der dem Alt­
präsidenten die Anfertigung von Memoiren freigestellt hatte, und schlug vor,
zum Inhalt des Buches keine Erklärungen durch das Kanzleramt abzugeben.
Ehmke zeigte sich entschlossen, »etwas gegen diese Art der Publikation
eines früheren Generals und ND-Chefs« zu unternehmen. Nach längerer Dis­
kussion gab es Übereinstimmung, das Erscheinen der Memoiren abzuwarten
und eine mögliche Klarstellung Ehmkes vorzubereiten. Die Runde im Kanzler­
amt war empört über das Gesamtverhalten Gehlens. Nach Wessels Eindruck
sei »damit auch das Bild des Offiziers und des BND unterschwellig negativ
beeinflußt«. Die SPD werde darin

den Beweis für ihre Behauptung sehen, daß der BND jahrzehntelang die Men­
talität des >kalten Kriegers« kultiviert habe und es deshalb höchste Zeit war,
Spitzenstellungen neu zu besetzen – wobei die Frage offen bleiben mag, ob
der Umfang der bisherigen personellen Veränderungen in der Spitze, von der
SPD her gesehen, ausreichend war.819

Gehlen suchte derweil wieder einmal die Unterstützung der CIA und wollte
einige Mitteilungen nach Washington übermitteln lassen, über die der BND
aber nicht informiert werden dürfe. Er hatte einen Fahnenausdruck seines
Buches bei sich, das zur Tarnung die Überschrift trug: »Lehmanns Erinnerun­
gen«. Gehlen berichtete von seinen Verhandlungen über die geplante US-Aus­
gabe und wie ihm die Bormann-Geschichte aus den Händen geraten sei. Ihm
lag daran zu versichern, dass er die Informationen über Bormann gesammelt
hatte, als er noch in US-Diensten stand. Er habe sie also damals entsprechend
weitergeleitet. Offensichtlich erhoffte er sich mit diesem Kontakt Unterstüt­
zung von der CIA.
In dem Gespräch rechtfertigte er außerdem die Anfertigung seiner Memoi­
ren und behauptete, dass die Bundesregierung die Publikation mit immer
neuen juristischen Barrieren zu verhindern trachte. Das werde aber nicht gelin­

819 Vermerk Wessels über ein Gespräch mit Ehmke, Ahlers und v. Wechmar, 14.9.1971,
BND-Archiv, N 1/183, Blatt 203-204.

1229
Das Boulevardblatt Quick veröffentlichte 1971 eine achtteilige Serie über Reinhard Gehlen.

1230
gen, weil er nur mit offen zugänglichen Informationen arbeite. »Dr. Schneider«
betonte, so die Aufzeichnung des CIA-Agenten, dass er Wessel keine Kopie des
Manuskripts übermittelt habe, weil sie dann über kurz oder lang bei Ehmke
landen würde. Ehmke sei aber über seine Absicht, Memoiren zu schreiben,
informiert. Mit der Welt-Serie habe er nichts zu tun, die könnten also schrei­
ben, was sie wollten. Er habe in seinem Text niemanden persönlich attackiert,
und er wolle sein Buch möglichst schnell publizieren, um damit den ungüns­
tigen Darstellungen in der Spiegel-Serie zu begegnen. Die letzten drei Kapitel
würden von der Gefahr des Weltkommunismus handeln, den Erfolgen der ver­
gangenen Jahre und einen Ausblick auf die 1980er-Jahre geben. Er glaube wei­
terhin daran, dass Herbert Wehner, Leo Bauer und Egon Bahr für die Ziele des
Ostblocks arbeiteten. In einem Postskriptum notierte der Amerikaner, Gehlen
scheine in bester Gesundheit und guten Mutes zu sein. Er habe doch keine
Kopie des Manuskripts übergeben, wie ursprünglich angekündigt.820
Das CIA-Hauptquartier sah keinen Anlass, sich in irgendeiner Weise in
die Publikation der Gehlen-Memoiren einzumischen. Man hatte sich bereits
ohne Wissen des Autors Einblick in das Manuskript verschafft. Es sei lang­
weilig, schwerfällig und enthalte nichts, was die Interessen der CIA berühren
würde821 – was sich vor allem auf Gehlens politische Ausschweifungen und
versteckte Angriffe gegen die deutsche Regierung bezogen haben dürfte.
Zunächst einmal war es aber an Gehlen, vor dem Untersuchungsrichter
im Landgericht Frankfurt seine Karten in Sachen Bormann offenzulegen. Die
Quick berichtete in ihrer Serie über Gehlen, er habe einen frischen, aufge­
schlossenen Eindruck gemacht, »intellektuell hervorragend am Ball« in fünf­
stündiger Vernehmung, Gehlen rauchte und trank nicht, blieb konzentriert.
Mit peinlicher Akribie habe sich der 69-Jährige an der Niederschrift des Pro­
tokolls beteiligt, formulierte und korrigierte.822 Mehr als eine Reihe von frag­
würdigen Indizien hatte er freilich nicht zur Klärung des Falles beizutragen. In
der Bonner Rundschau wurde auf Gehlens Versicherung hingewiesen, dass die
von ihm behauptete Verbindung zwischen Bormann und der »Roten Kapelle«
nicht auf eigener Erkenntnis beruhe, sondern auf amerikanische Quellen
zurückgehe. Nach unbestätigten Berichten werde fieberhaft nach dem Tage­
buch von Admiral Canaris gesucht, das sich in den USA befinden und Angaben
zu Bormann enthalten solle.823

820 Memo vom 17.9.1971, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_20F 2,
S. 23-24.
821 Fernschreiben vom 26.9.1971, ebd., S. 79.
822 Die Gehlen-Story, Quick 42/1971, S. 22.
823 CIA-Bericht über Meldungen in der westdeutschen Presse vom 24.9.1971, NA Washing­
ton, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 30.

1231
Das TV-Magazin Report München holte drei ehemalige Kollegen Gehlens
vor die Kamera, um sie zu dem Fall Bormann zu befragen. Sefton Delmer, ehe­
maliger Chef der psychologischen Kriegführung im britischen Außenministe­
rium, jetzt Journalist, antwortete mit Häme. Er hatte bereits 1952 eine Presse­
kampagne gegen die Organisation Gehlen ausgelöst. Delmer erinnerte sich
daran, dass er damals dem General im Vorzimmer von Globke begegnet sei,
und siehe da, Gehlen sei bereit gewesen, »mit diesem Erz-Deutschenfresser,
dem Sefton Delmer«, zu sprechen. Er selbst habe keinen Eindruck von Gehlen.
Die Bormann-Geschichte sei eine billige Groschengeschichte und sei »wirklich
zu Tode verhauen worden«. Ihn interessiere sie nicht im Geringsten. »Colonel
Passy« (KN André Dewavrin), ehemaliger Geheimdienstchef unter de Gaulle
im Zweiten Weltkrieg, wunderte sich über die merkwürdige Auffassung von
Geheimdienst, die Gehlen an den Tag gelegt habe, indem er seine eigene Regie­
rung nicht über seine Bormann-Informationen unterrichtet habe. Isser Harel
hingegen, früher Chef des israelischen Geheimdienstes, bescheinigte Gehlen
Kompetenz und Ernsthaftigkeit. Seine jetzigen Enthüllungen seien sehr wich­
tig und bedürften der intensiven Nachforschung.824
Sein PR-Coup zündete vor allem in den USA und half, für die englische
Übersetzung seiner Memoiren Aufmerksamkeit zu schaffen. Nach einem
Bericht von Publishers Weekly hatte sich die World Publishing Company um
die Weltrechte für die »German Spymaster’s Memoirs« beworben.825 Gehlen
sei eine der einflussreichsten, gefürchtetsten, brillantesten und erfolgreichsten
Figuren in der Geschichte der Spionage gewesen. Seine Memoiren würden eine
Fülle von bislang nicht zugänglichen Informationen zur Geschichte des Zwei­
ten Weltkriegs und des Kalten Kriegs offenbaren. Die Geschichte des Zweiten
Weltkriegs werde neu geschrieben werden müssen. Die Bormann-Story sei
nur eine von vielen höchst interessanten in dem Buch. James O. Wade, der
Cheflektor, habe sich schon seit einigen Jahren für die Erinnerungen interes­
siert und seinen Chef, Peter V. Ritner, den Lektor der Erinnerungen von Albert
Speer, informiert. Dieser habe sich dann einen Tag lang in Mainz Teile des
Manuskripts zeigen und von George Bailey, einem ehemaligen Geheimdienst­
offizier, studieren lassen, der die Memoiren als authentisch und sensationell
bezeichnet habe. Es seien dem deutschen Verleger schließlich 400.000 Dollar
angeboten worden. Der Sprecher der Bundesregierung, Conrad Ahlers, habe
Pressevertretern gegenüber erklärt, jede Enthüllung von vertraulichen Infor­

824 Report München vom 13.9.1971, Mitschnitt des Staatlichen Komitees für Rundfunk der
DDR, BStU, MfS, HA II/7, Nr. 41477, S. 140-142.
825 Publishers Weekly vom 27.9.1971, Kopie, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 36.

1232
mationen in den Memoiren würde die Sicherheitsinteressen der Bundesrepu­
blik verletzen.
Im Ergebnis habe der Hase-und-Koehler-Verlag eine Menge Material aus
dem Manuskript entfernen müssen, auch aus der Serie der Welt, die für die
Serienvermarktung der Erinnerungen 250.000 Dollar bezahlt habe. Weil die
westdeutschen Rechte aber nicht weltweit gelten, werde die englische Ausgabe
mehr Material enthalten. Das Buch werde zeigen, wie die US-Regierung über
das Schweinebucht-Debakel informiert gewesen ist, wie Gehlen, ein Freund
von Mosche Dajan, geholfen habe, den israelischen Geheimdienst aufzubauen,
wie die CIA davon abgehalten wurde, in den antikommunistischen Staats­
streich 1965/66 in Indonesien zu intervenieren, der mit der Abschlachtung
von 600.000 »Kommunisten« endete, warum Otto John in den Osten überge­
laufen sei, wie die Bundesregierung einen fünftägigen Informationsvorsprung
besaß, als Israel 1967 überraschend den Sechstagekrieg eröffnete, drei Wochen
Informationsvorsprung vor dem Bau der Berliner Mauer und sechs Wochen
vor dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968. Gehlen und
der Vater des Verlegers, Karl Ottomar Hansen,826 hätten während des Krieges
in Verbindung mit Canaris gestanden. Hansen habe elf Jahre in sowjetischer
Gefangenschaft verbracht und dann die Beziehung zu seinem alten Freund
wieder aufgenommen. Zusammen mit seinem Sohn habe er Gehlen ermutigt,
seine Memoiren zu schreiben.
Die CIA blieb informiert und erfuhr, dass der Text in der vorliegenden
Form nicht in größerer Form zu vermarkten sei. Man werde die ausländischen
Rechte nur erwerben, wenn Gehlen bereit sei, Zeit und Aufwand einzuset­
zen, um seine Memoiren dramatischer zu gestalten. Dafür werde man einen
Schreiber (das wurde dann David Irving, unterstützt von Elke Fröhlich) zur
Verfügung stellen, um mit Gehlen die Akten durchzugehen und notwendige
Veränderungen vorzunehmen. Gehlen sei grundsätzlich einverstanden. Da das
Buch wohl irgendwie erscheinen werde, liege es im Interesse der CIA, wenn
das mit einem kooperierenden Verlag geschehe.827 Die Gespräche Irvings mit
Gehlen flossen in die Rohfassung ein und wurden von dem General teilweise
wieder herausgestrichen.828

826 Karl Ottomar Hansen, als Major i. G. bei FHO unter Kinzel Sachbearbeiter Balkan, 1943
Oberst unter Gehlen, brachte es nach über zehn Jahren sowjetischer Kriegsgefangen­
schaft bis zum Generalmajor und Befehlshaber im Wehrbereich IV.
827 Memo vom 27.9.1971, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_20F 2,
S. 37-38.
828 Der Dialog zwischen Elke Fröhlich und Gehlen wird in zwei Ordnern im IfZ dokumen­
tiert: ED 100-68 u. 69.

1233
Der Chef des Kanzleramts, Horst Ehmke, hatte daher allen Grund, unter
Bezug auf den Spiegel-Bericht829 von Gehlen eine schriftliche Erklärung zu
verlangen, ob es zutreffe, dass er Amtsgeheimnisse preisgegeben, die Über­
wachung von Egon Bahr, Leo Bauer und Günther Nollau in seiner Amtszeit
angeordnet sowie Äußerungen über Wessel, Bachmann und Koester gemacht
habe.830 So hatte Gehlen Gelegenheit, im letzten Augenblick die englische
Übersetzung zu entschärfen und den Spiegel-Bericht zurückzuweisen. Doch
das Hamburger Magazin konnte nach dem Erscheinen der englischen Aus­
gabe seine Behauptungen anhand der von Gehlen korrigierten Druckfah­
nen nachweisen.831 Wessels interner Vorschlag, Gehlen noch einmal zu einer
dienstlichen Stellungnahme aufzufordern und diese als »Gegendarstellung«
zu veröffentlichen,832 wurde nicht umgesetzt – wahrscheinlich aus juristischen
Gründen.
Als die deutsche Ausgabe 1971 erschienen war, hatte sich Hermann Zolling
als einer der ersten Rezensenten mit der Konkurrenz seines Spiegel-Buches
auseinandergesetzt und vor allem die »weißen Flecken« betont, die Gehlen
bei den letzten Jahren seiner Amtszeit gelassen hatte.833 Er lobte ihn zwar für
seinen »Weitblick« bei Kriegsende, als es um die Zukunft Westdeutschlands
gegangen sei. Da habe Gehlen Weichen gestellt, »als von einer westdeutschen
Außenpolitik ernstlich noch nicht die Rede sein konnte«. Da dürfte Zolling
das Überlebensmotiv Gehlens doch etwas unterschätzt haben. Immerhin mit
Blick auf dessen Memoiren kam er zu einem klaren Urteil über Gehlen: »der
große Verschweiger und, was selbst im BND viele nicht gemerkt haben, der
große Schaumschläger«. Dafür verwies er unter anderem auf die Bormann-
Geschichte.
Parallel dazu nutzte Gehlen ein Interview mit Quick-Chefredakteur Wil­
fried Ahrens, um sein eigentliches Anliegen seiner politischen Kampfschrift
zu popularisieren. Er warnte davor, sich vom Kreml täuschen zu lassen. Der
Westen solle vielmehr »die von den Menschen im Ostblock bisher vergeblich
ersehnten Freiheiten eines demokratischen Rechtsstaates« offensiv vertreten
und die »Alternative der Freiheit in das kommunistische Lager tragen« – in
Verhandlungen, aber auch durch die Medien.

829 Ein Witz, Spiegel 38/1971 vom 13.9., S. 27-28.


830 Ehmke an Gehlen, undatiert [Sept. 1971], BND-Archiv, N 1/138.
831 Gehlens Bekenntnisse, Spiegel 23/1972 vom 29.5., S. 42-48.
832 Wessel an Bahr, 29.5.1972, BND-Archiv, N 1/138.
833 Was Gehlen verschwieg. Weiße Flecken in den Memoiren des ehemaligen BND-Chefs.
Ein Gespräch mit dem Geheimdienstexperten Hermann Zolling, Zeit 42/1971 vom
15.10., S. 8-9.

1234
Wer weiß denn schon, wie viele Jahrzehnte sich der Kommunismus als Staats­
ideologie im eigenen Bereich noch halten kann? Alle ideologischen Entwick­
lungen in der Geschichte haben ihr Ende gefunden und sind durch andere
abgelöst worden. Dabei hat das Freiheitsbedürfnis der Menschen immer eine
entscheidende Rolle gespielt. Wer weiß, was für Möglichkeiten die politische
Weltsituation in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren anbieten wird, wenn der
ganze Westen bis dahin gegenüber den machtpolitischen Bemühungen des
Ostblocks standhaft bleibt und in den Grundsatzfragen nicht weich wird.

Er setze auf die Jugend, die erkennen werde und teilweise schon erkannt habe,
dass der Kommunismus sehr viel weniger soziale Gerechtigkeit und Freiheit
anzubieten habe als die demokratische Staatsstruktur.834
Aus heutiger Sicht könnten diese Ausführungen Gehlens als maßvoll und –
vor dem Hintergrund des damals beginnenden Helsinkiprozesses, der 1975 zur
KSZE-Schlussakte und in langer Sicht schließlich zum Zusammenbruch des
Ostblocks führte – geradezu als politisch weitsichtig angesehen werden. Aber
zeitgenössische Kritiker erkannten den früheren Geheimdienstchef mit rasch
verblassendem Renommee als verdeckt operierenden »Kalten Krieger« gegen
die Ost- und Entspannungspolitik der sozialliberalen Regierungskoalition. In
der Süddeutschen Zeitung notierte Claus Heinrich Meyer, dass die vermeint­
liche Sensation Bormann rasch verflogen sei, auch die 16 Folgen Vorabdruck
in der Welt. Es sei kein Wunder, dass Axel Springers konservativ-bürgerliches
Vorzeigeblatt und Gehlen zueinander gefunden hätten, denn wenn das Buch
auch Der Dienst getitelt sei, handele es sich mehr um mühsam zu lesende
Anmerkungen zur gegenwärtigen Politik. Es sei wohl auch als Antwort auf die
Spiegel-Serie zu sehen, auf die ein Mann zu antworten versuche, der sich früher
bis zur Lächerlichkeit verborgen zu halten bemühte. Jetzt »kröpft Gehlen vor
allem einen militanten Anti-Kommunismus aus«. Seine Erinnerungen seien
ein »schreckliches Dokument«.
Theo Sommer schrieb in der Zeit: »Es ist immer ein peinlicher Anblick,
wenn ein Denkmal vom Sockel stürzt. Noch schmerzlicher ist, wenn eine Figur
von Format und Verdienst sich selber vom Podest sprengt.« Dieser Meinung
schloss sich Gehlens Nachfolger Wessel in seinem Tagebuch an.835 Der Text
zeige, wie Claus Heinrich Meyer meinte, dass man es

834 Wilfried Ahrens und Paul Limbach, Quick-Gespräch mit General a. D. Reinhard Gehlen.
Für unsere Kinder die Freiheit retten!, Quick 48/1971 vom 15.10., S. 36-41.
835 Theo Sommer, Ein Denkmal stürzt sich selbst, Zeit 41/1971 vom 8.10.; BND-Archiv,
N 1/33, Blatt 215.

1235
mit einem technokratischen Verstand zu tun habe, der, eingehüllt in das
mystische Gewand eines ehemaligen Geheimdienstchefs, höchst begrenzte
Einsichten vor uns ausbreitet und Veränderungen in der Welt nicht erken­
nen kann und von ihnen auch nichts wissen will. Kenner der Geschichte
des Bundesnachrichtendienstes glauben darum auch, dass diese natürliche
Begrenzung, das Unvermögen zu einem wirklich analytischen Auswerten von
Informationen, der schwerste Vorwurf sei, den man gegen die Gehlen-Ära
im Bundesnachrichtendienst erheben muß. Der Typus des verdienten Gene­
ralstäblers, den man innerhalb des Dienstes gar nicht so selten antreffen
konnte, war den Komplizierungen der politischen Verhältnisse, weil schlecht
gerüstet, nicht gewachsen. Und Gehlen, das zeigen seine Erinnerungen, war
ganz bestimmt nicht der Mann, der dies ändern wollte.836

Die CIA bemerkte in dem Teilabdruck der Welt einige bemerkenswerte Erläute­
rungen von dem Journalisten Rudolf Strauch, der genauer erklären wollte, was
Gehlen in seinem ziemlich schwachen und mit Material nur wenig gewürzten
Buchtext tatsächlich gemeint habe. Strauch nahm auf, was auch Gehlen jüngst
an Angriffen und Verdächtigungen gegen die politische Einflussnahme der SPD
auf den BND hinter den Kulissen verbreitet hatte, wobei sich Strauch haupt­
sächlich auf Fritz Baier stützte. Dieser wurde zitiert mit dem Hinweis, dass
Gehlen angesichts des Vorgehens der SPD-geführten Bundesregierung niemals
wie Wessel stillgehalten hätte. Als Quintessenz notierte die CIA-Station Mün­
chen: Die CIA werde in diesen Passagen als Vorbild gepriesen, wie ein effektiver
Geheimdienst organisiert werden könne, ohne parteipolitischen Einflüssen
ausgesetzt zu sein.837
Auf der anderen Seite der »Front« des Geheimdienstkrieges, in den Büros
der Stasi, fanden Gehlens Memoiren, die inzwischen auf der Spiegel-Bestsel­
lerliste Sachbuch Platz 1 erreicht hatten, besonders aufmerksame Leser. Nach
einer ersten Einschätzung enthielt das Buch nur wenige konkrete und neue
Erkenntnisse über den BND. Es setze hauptsächlich politische Akzente eines
Autors, der »unbedingt darauf bedacht ist, nicht einen einzigen Makel seiner
Laufbahn anhaften zu lassen«.838 Die Publikation sei Teil einer Kampagne der
Rechtspresse »gegen die kommunistische Weltbewegung und besonders gegen
die Friedenspolitik der SU«. In Teilen der westdeutschen Presse rege sich aber
inzwischen Enttäuschung über nicht erfüllte Erwartungen. Die Stasi nahm

836 Claus Heinrich Meyer, Gehlen – enttarnt, Süddeutsche Zeitung vom 16./17.9.1971.
837 Chief of Station to Chief Europe, 7.10.1971, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 82 – 83.
838 HA II/7, Bemerkungen und Überblick, 8.11.1971, BStU, MfS, HA II, Nr. 41477, S. 116-121,
hier S. 120; Einschätzung des Buches, 25.10.1971, ebd., S. 122-136.

1236
jedenfalls das Gehlen-Buch sehr ernst und beschäftigte sich über Monate
damit, diesem »Gipfelpunkt in der bisher erlebten antikommunistischen Hetze
der 70er Jahre« Paroli zu bieten.839 Dazu erforschte man unter anderem die
Geschichte und das Personal von FHO, um Ansatzpunkte zu finden, und man
schrieb – besonders fantasievoll – ein fiktives Kapitel der Gehlen-Memoiren,
das angeblich aus politischen Gründen aus der publizierten Fassung gestri­
chen worden sei. Es behandelte auf Grundlage allgemeiner Erkenntnisse die
Beziehungen des BND zum Nahen Osten und die Rolle von Altnazis im arabi­
schen Raum. Der Text wurde dann politischen Persönlichkeiten in Ägypten
und der afrikanischen Presse zugespielt.840
Nach wochenlangem Schweigen entwarf Wessel einen Brief an seinen Vor­
gänger. Es sei nicht überraschend, dass dieser das Erscheinen des Buches nicht
frühzeitig bekanntgemacht habe. Gehlen habe sicher damit gerechnet, dass er,
Wessel, von einer Veröffentlichung nach Form und Zeitpunkt abgeraten hätte.
Solange er in der Nachfolge Gehlens Präsident des BND sei, sei eine Stellung­
nahme von ihm zum Inhalt nicht möglich. Wessel glaubte aber, dass der von
Gehlen verfolgte Zweck eher durch gelegentliche Artikel zu aktuellen politi­
schen Fragen in »angesehenen seriösen Wochenschriften« erreicht werden
könnte. Der Dienst werde jetzt durch den Zeitpunkt und die Art der Veröffent­
lichung der Memoiren neuen erheblichen Belastungen ausgesetzt. Nachdem
die unerfreuliche Spiegel-Serie abgeklungen sei, bringe die Publikation Gehlens
das Gesamtproblem BND erneut in die öffentliche Diskussion.

Jene einflußreichen Kreise, die seit langem die These vertreten, daß der
Dienst sich seit jeher überwiegend aus kalten Kriegern zusammengesetzt
habe, werden sich durch Ihr Buch bestätigt fühlen. Der Dienst sei nunmehr
noch stärker Gerüchten, Verdächtigungen und Lügen aller Art ausgesetzt,
ohne sich wehren zu können. Mein ständiges Bemühen, die MA ausschließ­
lich ihrer Aufgabe zu verpflichten, sine ira et Studio an der Erstellung von
Entscheidungshilfen für Regierung und Opposition mitzuwirken und so den
Dienst als unbestechliches loyales Instrument unseres Staates zu erhalten,
wird wesentlich erschwert. Sie wissen, wie unendlich schwierig innere Füh­
rung im BND ist, Sie kennen die Ereignisse, die nach meiner Amtsübernahme
zur Bildung der Mercker-Kommission geführt haben.

Der BND müsse ein außerhalb der Partei- und Innenpolitik stehendes, integres
und loyales Instrument der politischen Führung sein, dessen Aufgabe nicht

839 Einschätzung des Buches, 20.10.1971, BStU, MfS, ZAIG, Nr. 11438, S. 145 -161, hier S. 150.
840 Text aus dem Jahr 1973 mit Vorbemerkung in BStU, MfS, HVA, Nr. 122, S. 1-14.

1237
sei, Politik zu machen, sondern nüchterne, objektive Entscheidungshilfen zu
geben. Diese Belehrung schickte Wessel dann doch nicht ab, weil er befürch­
tete, sie könnte von Gehlen in der Öffentlichkeit verwendet werden.
Stattdessen erhielt sein Vorgänger einen unverbindlichen Zwischenbe­
scheid für seinen Ankündigungsbrief vom 5. September. Auch der Entwurf
eines Briefes an Critchfield mit der Bitte um ein völlig unabhängiges Urteil zum
Buch wurde nicht abgeschickt.841 Man kann verstehen, dass Wessel in seiner
Sorge die bereits erwähnte zweite Schriftprobe Gehlens der Grafologin Agnes
Jacoby übergab und diese feststellte, dass der Briefschreiber seine »Tünche«
abgelegt habe. Sie verwies auf Merkmale der Unaufrichtigkeit und Anspan­
nung. Alterserscheinungen wiesen auf übermäßigen Stress hin und hinderten
ihn nicht daran, äußerst aggressiv aufzutreten, eigensinnig, aktiv kämpferisch
und voll kaltem Zorn gegen Anfeindungen zu sein. Sie schrieb von »nackter
seelischer Kälte« sowie »Unaufrichtigkeit und Verstellung«.842
Gehlen ließ über Kanäle der CIA 13 Exemplare von Der Dienst an vermeint­
liche amerikanische Freunde übersenden, darunter die Generale John Deane,
Edwin L. Sibert und Albert C. Wedemeyer sowie Henry Kissinger und Richard
Helms. Kissinger dankte dem CIA-Chef in einem kurzen Schreiben. »Gehlen
was most thoughtful to remember me, and you to help him in this way.«843
US-General Sibert lobte in einem Schreiben an David Irving Gehlen, der in frü­
herer Zeit »a great job« gemacht habe. Seitdem habe dieser viele Angriffe von
»Partisanen« über sich ergehen lassen müssen und habe es dennoch geschafft,
an der Oberfläche zu schwimmen. Dafür bewundere er ihn.844
Ansonsten hielten sich die Amerikaner bedeckt und vermieden es, ihrem
früheren »utility« Schützenhilfe zu leisten. Sie erfuhren, dass sich David Irving,
der die amerikanische Ausgabe der Gehlen-Memoiren betreuen sollte, nach
Kenntnisnahme des Manuskripts vom mageren Gehalt des Buches, das ver­
schiedentlich als »trash« bezeichnet worden sei, enttäuscht gezeigt habe. Das
Ergebnis könnte ein finanzielles Fiasko sein. Angeblich, so hieß es, würden
Gehlen oder sein Ghostwriter Wilfried Hertz-Eichenrode von der Zeitung Die
Welt bereits an Teilen von zwei weiteren Büchern arbeiten, Mein Leben und
Fremde Heere Ost – diese Publikationsideen Gehlens ließen sich später nicht
realisieren.845

841 Entwurf Wessels, 26.10.1971, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 141-143.


842 Schreiben von Agnes Jacoby an Wessel, 11.11.1971, ebd., Blatt 6-7.
843 Schreiben Kissingers an Helms, 18.11.1971, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 47.
844 Schreiben Siberts an Irving, 21.1.1972, IfZ, ED 100-69-317.
845 CIA-Bericht vom 10.11.1971, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol 6 20F 2, S.43.

1238
Dafür jubelte die Zeitung der US Army, Stars and Stripes, Gehlens Buch
bereits als kommenden Bestseller hoch und meldete, dass dieser einen Erfolg
gegen einen TV-Sender erzielt habe. Nachdem Gehlen ein Interview mit dem
eher linken Politmagazin Panorama abgelehnt hatte, waren heimliche Aufnah­
men von ihm von den Journalisten verarbeitet worden, gegen deren Ausstrah­
lung sein Rechtsanwalt Georg Romalka erfolgreich eine einstweilige Verfügung
erlangt habe.846 Der Exchef des BND wich Kritikern, wie nicht anders zu erwar­
ten, aus und konzentrierte sich darauf, seine selbst gewählte Rolle als Kas­
sandra vom Starnberger See auszubauen. Seine historischen Projekte traten
demgegenüber in den Hintergrund. Eine Rezension seiner Memoiren durch
einen seiner Lieblingsfeinde, Günther Nollau, Vizepräsident des BfV, mag ihn
geärgert, aber auch in seinen Verdächtigungen bestätigt haben.
Nollau hatte von einer »Verdienstvollen Selbstenthüllung« geschrieben und
Gehlens Behauptung widersprochen, das Handeln der sowjetischen Führer sei
von Ideologie geprägt. Er, selbst Autor mehrerer Bücher über Probleme des
Weltkommunismus, hatte die Meinung vertreten, dass in Moskau die Macht­
politik im Vordergrund stehe. Nollau urteilte über Gehlens Buch:

Diese kritische Beurteilung führt nicht dazu, die Memoiren als wertlos zu
bezeichnen. Im Gegenteil. Gehlen hat durch sie – auch durch den Schreib­
stuben-Stil, in dem er sie verfaßt hat – bewiesen, wes Geistes Kind er ist und
was von dem Nimbus zu halten ist, den er mit so bescheidener Substanz
aufgebaut hat. Geholfen hat ihm die unkritische Verehrung der Generalität,
früherer Verantwortlicher und großer Teile der Presse. Sich nun enthüllt zu
haben ist Gehlens Verdienst.847

In dem Gedankenaustausch mit dem Bundestagsabgeordneten Fritz Baier,


der die CDU/CSU-Fraktion im Vertrauensmännergremium vertrat, beklagte
Gehlen Anfang 1972, dass sich die politischen Aussichten in jüngster Zeit lei­
der nicht positiv entwickelt hätten. Die Idee eines Grundlagenvertrags mit
der »Zone« sei laienhaft übereilt und der Versuch, die Opposition zu über­
fahren.848 Er habe mit seinem Verleger Hansen über die Möglichkeit gespro­

846 Stars and Stripes vom 17.10. u. 13.11.1971, Kopie, ebd., S. 39,46. Stichpunkte zur Pano­
rama-Sendung, 15.11.1971, IfZ, ED 100-69-47.
847 Günther Nollau, Verdienstvolle Selbstenthüllung, Spiegel 45/1971 v. 1.11., S. 190-193.
848 Der »Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik« wurde am 21.12.1972
geschlossen. Er bedeutete eine Kehrtwende in der Deutschlandpolitik von der Hall­
stein-Doktrin einer internationalen Isolation der DDR zu einer Politik des »Wandels
durch Annäherung«.

1239
chen, einen Sonderdruck der letzten drei Kapitel der Memoiren in Heftform
und mit einem Vorspann der CDU/CSU herauszubringen. Die Kosten würden
bei 100.000 Exemplaren voraussichtlich 130.000 D-Mark betragen. Baier möge
doch einmal mit Rainer Barzel, den Fraktionsvorsitzenden, darüber sprechen,
ob man nicht den Text im Kampf gegen die Ratifizierung propagandistisch
verwenden wolle. Er versäumte nicht, Baier daraufhinzuweisen, dass die Süd­
deutsche Zeitung einen bösartigen Artikel gegen ihn veröffentlicht habe, um
ihn aus dem Vertrauensmännergremium zu entfernen. Ansonsten wünschte er
alles Gute für die Familie im neuen Jahr, »das für uns alle sicher entscheiden­
der sein wird, als manchen Mitbürgern bewußt ist«.849
Finanzielle Sorgen brauchte sich der Pensionär nach den lukrativen Ver­
lagsverträgen nicht mehr zu machen. Aber für die angedachten Broschüren
wollte er sein eigenes Geld nicht einsetzen. Seine frühere Absicht, einen Teil
des Gewinns für die Unterstützung von Zuträgern aus dem BND einzusetzen,
realisierte er durch die Überweisung von immerhin 10.000 D-Mark an eine Mün­
chener Stiftung, die einen seiner früheren Decknamen trug: Garner-Stiftung.850
Dafür drückte ihn die Sorge um die von ihm beiseitegeschafften Geheimakten
des BND. Er offenbarte sich einem Vertreter der CIA und erklärte, dass er über
eine beträchtliche Menge an klassifiziertem Material verfüge, dessen er sich
entledigen wolle. Die Geheimsachen einfach über Pullach wieder abzugeben
komme nicht in Betracht. Er wolle sie für eigene Referenzzwecke verfügbar
haben. Besonders sensibel seien Akten über verschiedene politische Akteure.
Gehlen glaubte, dass Pullach den Besitz dieser Akten missverstehen könnte
und befürchtete, sie könnten in unbefugte Hände fallen. Das Material ließe
sich am besten durch eine Kopierung auf Mikrofilm sichern. So fragte er den
Agenten, ob er ihm eine entsprechende Kamera leihen könnte. Nach der Ent­
wicklung des Films wäre er dankbar, wenn man ihm eine Kopie geben würde.
Wie zur Erklärung seines Vorhabens fügte er hinzu, dass er ziemlich besorgt
sei über die politische Entwicklung in Deutschland. Deshalb plane er den Kauf
eines Anwesens in Südportugal, um sich in einem Jahr dorthin zurückzuzie­
hen – mit dem Geld für seine Memoiren hatte er, wie bereits erwähnt, angeb­
lich eigentlich ein neues Leben mit Annelore beginnen wollen. Ein Refugium
am Atlantik war davon vermutlich als Idee übrig geblieben. Dem US-Agenten
erklärte er, dass Pullach keine Vorsorge für den Notfall mehr betreibe. Das sei
kriminell. So wolle er seine private Notfallplanung verfolgen. Die Münchener
CIA-Station nahm an, dass damit Gehlens Wunsch nach einem Mikrofilm

849 Schreiben Gehlens an Baier, 5.1.1972, ACDP, Nachlass Fritz Baier 01-729-060. Ich danke
Jost Dülffer für diesen Hinweis.
850 Aufzeichnung des Stiftungsvorsitzenden, 13.1.1972, BND-Archiv, N 13/v.2.

1240
seiner geheimsten Aktenschätze im Zusammenhang stehe. Obwohl Schwie­
rigkeiten mit Pullach entstehen könnten, wenn man Gehlens Akten verfilme,
sollte man der Bitte entsprechen – nicht offiziell und erst nach Rücksprache
mit Gehlen über den Umfang.851 Die Annahme des Angebots von Gehlen zur
Verfilmung gebe die Möglichkeit, wertvolle historisch und noch gegenwärtig
politisch bedeutsame Informationen zu erlangen und Zugang zu Daten, die
Gehlen seinem Nachfolger vorenthalten habe. Das Stationspersonal sollte
damit besser nicht befasst werden. Vielleicht könne man die Anwesenheit von
Critchfield bei seinem nächsten Europabesuch nutzen, um mit Gehlen Einzel­
heiten zu besprechen.852
Die von ihm ausgelösten publizistischen Wellen drohten Reinhard Gehlen
im Frühjahr 1972 zu überrollen. Dabei rechnete er doch mit bevorstehenden
politischen Umwälzungen und seinem persönlichen Rückzug nach Südportu­
gal. Dass ihn die Einladung von Peter V. Ritner, Lektor der US-Ausgabe seiner
Memoiren, zu einer PR-Tour durch die USA beglückte, kann bezweifelt werden.
Abgesehen von der für ihn strapaziösen Reise dürfte ihn die Aussicht, in dem
von Protesten gegen den Vietnamkrieg aufgewühlten Land öffentliches Aufse­
hen zu erregen, nicht sonderlich gereizt haben. Andererseits versprach Ritner
in seinem Einladungsschreiben, dass er Gehlens Buch zu einer von zwei oder
drei der größten Erfolgsausgaben des Jahres machen werde. Der Verlag werde
außerdem für jede Form der Bequemlichkeit sorgen. Es gehe lediglich um vier
oder fünf ernsthafte Zeitungs- und TV-Interviews, um ein Millionenpublikum
zu erreichen und damit den Verkauf entscheidend zu fördern.853
Gehlen fühlte sich offenbar geschmeichelt und sagte zunächst zu, allerdings
vorbehaltlich der Zustimmung der CIA. Außerdem wünschte er die Begleitung
durch seinen deutschen Verleger Hansen. In der CIA-Führung sah man keine
Probleme, solange der private Charakter der PR-Reise für die Öffentlichkeit
erkennbar sei und Gehlen nicht zur gleichen Zeit in den USA weile wie BND-
Chef Wessel, der Anfang Mai anreisen werde.854 Das Hauptquartier stimmte
dem Vorhaben zu. Dort hatte man inzwischen in einem Schnelldurchgang
heimlich die englische Version geprüft und festgestellt, dass sie gegenüber der
deutschen Originalausgabe fünf Prozent länger sei und eine Reihe von zusätz­
lichen Punkten enthalte, die in Deutschland wahrscheinlich für Bestürzung
sorgen würden. Dazu gehörten zusätzliche Details zu Bormann, die aber nicht
sensationell seien, abfällige Bemerkungen über BND-Vizepräsident Blötz, ver­

851 CIA-Memo vom 28.1.1972, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_


vol6_20F 2, S.62-65.
852 Memo vom 2.2.1972, ebd., S. 68.
853 Schreiben Ritners an Gehlen, 3.2.1972, ebd., S. 70.
854 Fernschreiben vom 7.3.1972, ebd., S. 72-74.

1241
steckte Anspielungen bezüglich Egon Bahr und Leo Bauer (nachdem Bahr
1968 Pullach besucht und ihm »sehr höflich« den Vorwurf gemacht hatte, er
sei ein Kalter Krieger, habe er – Gehlen – den Auftrag gegeben, ihm heimlich zu
folgen; die Überwachung habe berichtet, dass Bahr sich mit einem führenden
italienischen Kommunisten getroffen habe),855 sowie eine Beschreibung der
Bemühungen von Bundespräsident Heinemann um die Freilassung von Felfe,
Anklagen gegen Bachmann und ein Bedauern über die Regelung seiner eige­
nen Nachfolge. Es bleibe aber dabei, so das Resümee der CIA, dass man sich
nicht in die Publikation einmischen, auch nicht irgendeine Art von Freigabe
für die englische Ausgabe übernehmen wolle.856
In diesen Tagen verfolgte Gehlen, wie er dem Abgeordneten Fritz Baier
schrieb, den Meinungsstreit um die Ostverträge. Er könne nicht verstehen, dass
gerade die SPD das Risiko auf sich nehmen wolle, hatte sie doch bislang eine
harte Gegnerschaft zum Kommunismus gepflegt, wenn auch hinter einem täu­
schenden Lächeln verborgen. »Da muß doch mehr dahinter stecken« – oder
wie er es bei anderer Gelegenheit formulierte: »Ich kann es nicht beweisen,
aber die Ostverträge sind eine ganz schmutzige Sache.«857 Er sprach sogar von
einer »verbrecherischen Ostpolitik«.858 Man müsste unter allen Umständen,
wenn die Ratifizierung durchgehen sollte, dafür sorgen, dass die CDU nicht
für die kommende Entwicklung verantwortlich gemacht werden könnte. Es
bleibe dann nur die Hoffnung auf Wahlen im nächsten Jahr. Gehlen übersandte
zugleich die von ihm beschaffte Übersetzung eines von Baier gewünschten
Artikels in der kommunistischen Via Nuove, mit dem dieser offenbar die These
von einer Komplizenschaft der SPD-Führung mit den italienischen Kommu­
nisten untermauern wollte.859 Mit großer Genugtuung wird Gehlen in diesen
Tagen im Fernsehen verfolgt haben, wie an sieben aufeinanderfolgenden Sonn­
tagen ein Dokumentarspiel über die »Rote Kapelle« ausgestrahlt wurde, das
Franzosen und Italiener produziert hatten und auf eine Spiegel-Serie von Heinz
Höhne aus dem Jahre 1968 zurückging. Der Mythos lebte!
Daneben sorgte er sich um die Sicherung der von ihm versteckten Dienstak­
ten. Die CIA erfuhr von ihm, dass sein Material zehn Regalmeter umfasse und

855 Gespräch Gehlens mit David Irving, 17.11.1971, IfZ, ED 100-69-241.


856 Fernschreiben vom 10.3.1972, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol 6_20F 2, S. 75 – 77, 85-86.
857 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 8.1.1972, IfZ, ED 100-68-190.
858 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 17.12.1971, IfZ, ED 100-69-251.
859 Gehlen an Baier, 13.2.1972, ACDP, Nachlass Fritz Baier 01-729-060. Baier hatte inzwi­
schen auf Gehlens letzten Brief geantwortet. Eine Zustimmung zu dessen Vorschlag,
Barzel möge namens der CDU einige Kapitel aus Gehlens Memoiren in einer eigenen
Broschüre veröffentlichen, ist nicht bekannt.

1242
ohne Weiteres kopiert werden könne. Gehlen wollte es gern selbst zusammen
mit seiner Schwiegertochter abends kopieren.860 Es war am Vorabend seines
70. Geburtstages, für den eine Feier, neben einem Kreis von Verwandten, mit
zwei Freunden geplant war: Annelore Krüger und James Critchfield.
Besondere Freude dürfte es ihm bereitet haben, dass ihn der Amerikaner
erneut besuchte und Grüße aus Washington überbrachte. Dabei war Gelegen­
heit, über die PR-Tour und über die Hilfe der CIA bei seinem Aktenproblem zu
sprechen. Critchfield gewann den Eindruck, dass Gehlen am Ende wohl die
Reise in die USA absagen werde. Im Hinblick auf die gewünschte Kopierak­
tion versprach er Hilfe bei Dokumenten für die Memoiren und deren mögliche
Verfilmung. Washington war offensichtlich vorsichtig. Critchfield bemerkte im
Vergleich zu seinem letzten Besuch vor fünf Monaten, dass Gehlen frisch und
erholt – ja fünf Jahre jünger – aussah.861 Ob der alte General den Geburtstag
als eine Art Jungbrunnen empfunden oder sich wie früher mit Tabletten auf­
gefrischt hatte, blieb sein Geheimnis. Critchfield erlebte ihn auch bei späteren
Besuchen mit diesem, wie er es empfand, veränderten Wesen. Er sei freund­
lich, warmherzig und fast herzlich gewesen – wenn sich beide die gemeinsa­
men Erfahrungen zwischen 1948 und 1956 in Erinnerung riefen.

Eines Nachmittags, als meine Frau und ich bei den Gehlens zum Tee eingela­
den waren, ergriff er meinen Arm, zog mich neben sich auf das Sofa und bat,
uns beide zu fotografieren. Das war ein Gehlen, den ich zuvor nie so erlebt
hatte.

Wieso ihn Gehlen als Freund zu betrachten schien, blieb ihm freilich unerfind­
lich. 862
In diesen Tagen bewegte Gehlen der unerwartete Kontakt zu seinem frühe­
ren jüdischen Klassenkameraden. Nach fast 60 Jahren hatte sich Theodor Eck­
stein als David Even-Pinnah aus Haifa in Erinnerung gebracht,863 was zwischen
den beiden Pensionären, dem israelischen Schuldirektor und dem deutschen
Spionagechef, zu einem interessanten Briefwechsel führte. Anfangs noch etwas
steif und förmlich in der Anrede, gab sich Reinhard Gehlen höchst erfreut über
die Erinnerung an die Schulzeit in Breslau, den gemeinsamen Schulweg. Er
gab sich bescheiden – David hatte ihn als »weltberühmt« angesprochen. Er

860 CIA-Bericht über ein Gespräch mit Gehlen, 22.3.1972, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 90.
861 Fernschreiben vom 6.4.1972, ebd., S. 97-98.
862 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 230 – 231.
863 Schreiben Even-Pinnahs an Gehlen, 14.12.1971, Stadtarchiv Haifa, Nachlass Even-Pin­
nah, 1450.

1243
habe lediglich versucht, »an allen Plätzen, an die mich das Schicksal gestellt
hat, nach bestem Wissen und Gewissen meine menschliche Pflicht zu tun und
niemals gegen mein Gewissen zu verstoßen«. Es freue ihn, »dass das Schicksal
es mir gegeben hat, ein weniges auch für Israel zu tun«.864 Damit umging er das
naheliegende Thema des Holocaust. Indem er ein Exemplar seiner Erinnerun­
gen nach Haifa schickte, lenkte Gehlen das gemeinsam verbindende Thema
auf den Sowjetkommunismus mit dem Zitat des Zionisten Theodor Herzl: »die
Grenze des jüdischen Palästina ist die Grenze Europas«. Er habe, so schrieb
er, das Buch verfasst, weil er der Überzeugung sei, dass die neue deutsche
Ostpolitik auf einen sehr gefährlichen Weg führe. Er sei nicht grundsätzlich
gegen den Gedanken eines vorsichtigen Ausgleichs mit dem Osten, ohne die
Bindungen an den Westen zu gefährden. Doch die Art, wie diese Politik jetzt
verfolgt werde, erfülle ihn mit äußerster Besorgnis. »Und deshalb bin ich zu
dem Schluß gekommen, daß ich dieses Buch zur Aufklärung der deutschen
Öffentlichkeit schreiben und damit meine Zurückhaltung aufgeben mußte.«865
Doch Even-Pinnah reagierte darauf zunächst nicht. Zwar bemerkte er, dass
er der Beurteilung des Kommunismus und der Ziele sowjetrussischer Politik
völlig zustimme, verwies aber bei der Erörterung des Schicksals der Mitschü­
ler auf seine Cousine Edith Stein, die Nonne geworden war und in Auschwitz
ermordet wurde. Und er ging weiter, indem er unter Bezug auf Gehlens Buch
anmerkte, er habe von Jugend auf eine hohe Meinung vom moralischen Niveau
preußischer Offiziere der höheren Ränge gehabt. Daher würden ihn seit einem
Menschenalter die Fragen nicht loslassen: »Wie war es möglich, dass 1934 deut­
sche Generale den Mördern ihrer Kameraden von Schleicher und von Bredow
die Treue schworen?!866 Und ferner: Wäre der Krieg für Deutschland siegreich
ausgegangen – würde dann noch eine Reaktion auf das Verbrechen der Ermor­
dung von sechs Millionen Juden erfolgt sein?«867 Even-Pinnah räumte ein, dass
Gehlen 1934 als damals junger Hauptmann keine Möglichkeit gesehen habe,
»sich von allen seinen Vorgesetzten zu distanzieren«. Seine eigene Erschütte­
rung sei nach dem Krieg aber so groß gewesen, dass er nicht an Deutschland
denken konnte, »ohne damit die fürchterlichen Verbrechen zu assoziieren, die
im Auftrag der deutschen Regierung von sehr vielen Deutschen an meinen
nahen Verwandten, an meinem Volke und an der Menschlichkeit begangen

864 Gehlen an Even-Pinnah, 31.12.1971, ebd.


865 Ebd.
866 Im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches waren neben hohen SA-Führern auch die
Reichswehrgenerale Schleicher und Bredow von einem Killerkommando der SS ermor­
det worden. Dennoch war die Reichswehrführung damit einverstanden, nach dem Tod
von Reichspräsident Hindenburg die Armee auf Hitler zu vereidigen.
867 Even-Pinnah an Gehlen, 15.2.1972, ebd.

1244
wurden«. Es hätten viele Jahre vergehen müssen, bis sich seine Gefühle und
Gedanken in gewissem Maße normalisierten. Gehlens Angebot, zum freund­
schaftlichen »Du« der Kinderjahre zurückzukehren, nahm er nun auch gern an.
Vier Wochen später folgte ein Gratulationsschreiben zu Gehlens 70. Ge­
burtstag. Doch Even-Pinnah blieb vorerst ohne Antwort. So schickte er Geh­
len nachträglich als Geburtstagsgeschenk ein Klassenfoto, und seine Frau
wandte sich mit eigenen Briefen an Herta Gehlen. Schließlich meldete sich
der General Ende Juli 1972 wieder mit einem freundlichen Schreiben, in dem
er auf einen zwischenzeitlichen Klinikaufenthalt seiner Frau verwies. Dann
bemerkte er, dass er mit großem Interesse das Weltgeschehen verfolge, insbe­
sondere die »Unterwanderungsbemühungen des Kommunismus«. Im »freien
Westen« würden doch alle »in einem Boot sitzen«.868 In Haifa versuchte Frau
Even-Pinnah, den Kontakt zum deutschen Briefpartner ihres Mannes, der sich
inzwischen einer größeren Operation unterziehen musste, mit allerlei freund­
lichen Gesten aufrechtzuerhalten. Darauf reagierte Reinhard Gehlen schließ­
lich. Das Thema Krankheiten verband, ebenso die Erinnerung an gemeinsame
Zeiten. David nahm den politischen Faden wieder auf und lenkte die Aufmerk­
samkeit darauf, dass nach seiner Meinung Sowjetrussland zwar der gemein­
same Feind der westlichen Kulturwelt sei, aber die Araber »Todfeinde« Israels
seien. Warum unterstützten die Europäer diesen Feind?869
Die Frage nach der deutschen Haltung war für Gehlen schwierig zu beant­
worten. Der Dienst hatte unter seiner Führung eine zweigleisige Strategie ver­
folgt. Doch auch auf dieses Thema konnte und wollte sich Gehlen nicht einlas­
sen. Wieder wartete er mehrere Monate mit einer Antwort und wich dann in
seinem nächsten Schreiben auf Handwerkerprobleme aus, kündigte allerdings
an, sich während der Feiertage zum Jahresende zu einer Betrachtung der Welt­
politik »aufschwingen zu können«. Dazu ist es anscheinend nicht gekommen,
stattdessen schickte Reinhard Gehlen das Buch des Publizisten Hoimar von
Ditfurth Kinder des Weltalls nach Haifa, das ihn selbst fasziniert hatte, eine
leicht verständliche Einführung in die Naturwissenschaften, die allerdings – so
die gemeinsame Meinung der beiden Pensionäre – den Schritt zum Transzen­
dentalen versäumt habe. Dass David eingestand, nach seiner Ankunft in Paläs­
tina 1937 versucht zu haben, ein positives Buch über Preußen zu schreiben,
griff Reinhard gern auf und erzählte, dass er in seiner aktiven Zeit intern die
israelischen Soldaten als die »Preußen des Nahen Ostens« bezeichnet habe.870
Anhand des Preußenbuches von Hans-Joachim Schoeps verständigten sich

868 Gehlen an Even-Pinnah, 29.7.1972, ebd.


869 Even-Pinnah an Gehlen, 3.10.1972, ebd.
870 Gehlen an Even-Pinnah, 28.2.1973, ebd.

1245
beide schnell auf ein positives Preußenbild, das den Schrecken der NS-Zeit
zum Opfer gefallen sei.
Durch den wenige Monate später, im Oktober 1973, ausbrechenden Jom-
Kippur-Krieg fokussierte sich der Briefwechsel stärker auf die militärischen
Ereignisse und die Tagespolitik im Nahen Osten. Der nationalkonservative
Israeli und der rechtskonservative Deutsche kommentierten in ihrem weiteren
Briefwechsel die Friedensaussichten, und Gehlen verwies immer wieder auf
seine pessimistische Einschätzung der deutschen Ostpolitik. Dankbar war er
für Informationen Even-Pinnahs zum weiteren Schicksal von Wolfgang Lotz,
des israelischen Agenten, der die deutsche NS-Kolonie in Kairo ausgespäht
hatte und dessen Verhaftung Anfang der 1960er-Jahre den BND in erhebliche
Schwierigkeiten brachte.871 Sie verstanden sich in ihren politischen Anschau­
ungen immer besser, obwohl es nie zu einer persönlichen Begegnung kam.
Diese Aufgabe übernahm Gehlens Schwager Seydlitz-Kurzbach, mit dem Even-
Pinnah den politischen Gedankenaustausch auch nach Gehlens Tod fortsetzte.
Doch zurück zu Gehlens 70. Geburtstag im April 1972. In seinem Dank­
schreiben an CIA-Chef Helms für Geschenke und Glückwünsche beklagte
sich Gehlen, dass es in Deutschland viele Probleme gebe und dass er »etwas
besorgt« sei über die »ganze Entwicklung«.872 Wusste oder ahnte er, was sich
in Bonn zusammenbraute? Der Nervenkrieg um die Ostverträge schien sogar
Neuwahlen möglich zu machen. Die Opposition bemühte sich, mit allerlei
Planspielen die Regierungsmacht zurückzugewinnen.
Gut eine Woche nach der Geburtstagsfeier entschloss sich der Jubilar zu
einem ungewöhnlichen Schritt. Er schrieb seinem Nachfolger und lud ihn zu
einem Gespräch ein. Die letzten Tage seien doch aufreibend gewesen. Am
ersten Osterfeiertag die Verlobungsfeier der Tochter seines Schwagers, am
zweiten Feiertag sein eigener Geburtstag mit 32 Verwandten, am folgenden
Freitag dann die Beerdigung von Halder in München.873 Gehlens ehemaliger
Förderer war am 2. April im Alter von 88 Jahren gestorben und hatte als ehe­
maliger Generalstabschef des Heeres ein Begräbnis mit militärischem Geleit
erhalten.
Dass Gehlen – wenn auch vergeblich – einen Schritt auf Wessel zuging, war
vermutlich der Versuch, bei seinem Nachfolger den Ärger aufzufangen, der sich
durch die bevorstehende englische Ausgabe der Memoiren zusammenbraute.
Doch die New York Times hatte wieder einmal den Vortritt. Gerade war die eng­
lische Ausgabe des Buches von Zolling und Höhne unter dem Titel The Gene­

871 Even-Pinnah an Gehlen, 28.10.1973, ebd.


872 Gehlen an Helms, 16.4.1972, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol 6_20F 2, S. 104.
873 Gehlen an Wessel, 12.4.1972, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 127-128.

1246
Reinhard Gehlen nach der Beerdigungsfeier für Franz Halder in München, April 1972

ral was a Spy erschienen, ebenso die Biografie eines ehemaligen britischen
Geheimdienstlers mit dem Pseudonym »Cookridge« unter dem Titel Gehlen –-
Spy of the Century. Das meinungsführende liberale US-Blatt hatte einen ame­
rikanischen Ex-Geheimdienstoffizier gebeten, die beiden Bücher zu bespre­
chen. Unter dem Pseudonym »Christopher Felix« stellte dieser heraus, dass
es sich um die ersten Darstellungen zur Geschichte der Organisation Gehlen
handelte. Für »Cookridge« sei Gehlen trotz aller Kritik ein Held. Zolling und
Höhne hingegen bedauerten den Niedergang des BND, für dessen mangelnde
Effizienz Gehlen verantwortlich sei, obwohl sie ihm durchaus einen gewissen
Respekt zollten. Alle drei Autoren hätten aber wenig Ahnung vom täglichen
Geschäft im Nachrichtendienst und würden dessen Bedeutung für die große
Politik überschätzen.874
Mit Hinweis auf diesen Artikel schrieb Critchfield an CIA-Chef Helms, dass
beide besprochenen Bücher ziemlich armselig seien. Sie enthielten zahlreiche
Halbwahrheiten, und was sie beschrieben, sei entweder von der Materie her zu
kompliziert oder für das große Publikum nicht sensationell genug. Um seine
frühere Dienstaufsicht zu verteidigen, hob Critchfield den Vorwurf hervor, es

874 New York Times vom 16.4.1972, Faksimile, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 101-103.

1247
seien angeblich viele Exnazis im Dienst beschäftigt gewesen. Das wäre falsch.
Felfe sei der Einzige in der Zentrale gewesen, die anderen hätte man bei den
Außenstellen beschäftigt.875
Als dann kurze Zeit danach Gehlens englische Ausgabe erschienen war, ließ
die New York Review of Books alle drei Bände vergleichend rezensieren. Unter
dem Titel »Our Man in Pullach« kam der schottische Journalist Neal Ascher­
son zu einem sehr scharfen Urteil: »Gehlen was a political idiot.« Nur gut, dass
die USA ihn nur als Lieferant von Nachrichten benutzt hätten. Es sei schlimm,
sich vorstellen zu müssen, dass nach der Aufwertung des Dienstes 1956 man­
cherlei andere Informationen von »middle-aged gentlemen« ausgewertet wor­
den seien, deren Weltbild aus der Zeit des Dritten Reiches stammte und deren
Bewertung womöglich westliche Staatsmänner beeinflusst haben könnte.876
Gehlen blieb derweil in engem Kontakt mit dem örtlichen CIA-Vertreter,
weil ihm daran lag, seine beiseitegeschafften Dienstakten rasch zu verfilmen.
Als Abdeckung der Aktion nahm man intern die Legende, dass Gehlen auf
Anforderung seines New Yorker Literaturagenten einen Mikrofilm seiner
wichtigsten Unterlagen benötige, um ein mögliches Filmprojekt in den USA
zu unterstützen. Gehlen schlug vor, dass die CIA die Ausrüstung stellte und
der Techniker so lange blieb, bis er persönlich eingewiesen sei. Es sollten
zwei Kopien angefertigt werden, eine für das Headquarter, eine andere zur
Weitergabe an Gehlen. Die Station in München sollte keine Kopie zurückbe­
halten.877 Die amerikanische Seite bereitete sich zugleich auf das Erscheinen
der US-Ausgabe der Gehlen-Memoiren vor. Dazu erfolgte unter anderem eine
Auswertung der »Gehlen-Story«, die im Oktober und November 1971 in acht
Teilen als PR-Aktion in der Illustrierten Quick erschienen war. Dazu habe das
Boulevardblatt etwa 20 Freunde von Gehlen befragt und diesen selbst auch
interviewt. Weder CIA noch US-Regierung hätten Grund zur Klage. Nur an
einer Stelle würden diese erwähnt: in der Bildunterschrift zu seinem Haus,
mit dem Hinweis, er habe es mit einer 30.000-D-Mark-Hypothek finanziert
und gebaut, »nicht – wie oft behauptet – vom CIA«. Der Verfasser fügte hinzu,
es seien – falls ihn sein Gedächtnis nicht täuschte – lediglich 24.000 D-Mark
gewesen. Aber die CIA könne sich ansonsten nicht beklagen. Critchfield habe
berichtet, fügte er hinzu, dass Wessel, der Pastorensohn, darüber aufgebracht
gewesen sei, dass auf dem Titelbild zur letzten Nummer der »Gehlen-Story«
nicht weniger als zwölf Paar nackte Brüste sowie acht nur sparsam bedeckte
abgedruckt seien.

875 Critchfield an Helms, 18.4.1972, ebd., S. 105-106.


876 New York Review of Books vom 1.6.1972, Faksimile, ebd., S. 125-127.
877 Bericht vom 19.4.1972, ebd, S. 107.

1248
Doch dann geriet Reinhard Gehlen in höchste Bedrängnis. Am 27. April 1972
scheiterte der Misstrauensantrag der Opposition gegen Kanzler Brandt
im Bundestag, womit das konservativ-reaktionäre Intrigenstadl von BND-
Veteranen und Aktiven seiner Hoffnung auf eine Rückkehr der Gehlen-Zeit
beraubt wurde. Aber noch brisanter für Gehlen persönlich war eine Spätfolge
des Fotos von seinem Haus in dem Münchener Busenblatt. Die Ost-Berliner
Wochenschrift Die Weltbühne hatte, wie zuvor der Spiegel,878 den Hinweis auf
die fragwürdige Finanzierung seines Privathauses aufgegriffen und den Vor­
wurf erhoben, er habe sich 1956 im bundesdeutschen Staatsdienst ein Haus
am Starnberger See im Wert von 250.000 D-Mark von der CIA schenken las­
sen.879 Der DDR-Journalist Julius Mader stellte daraufhin beim Bundesdiszi­
plinaranwalt eine Anzeige wegen passiver Bestechung.880 Das Kanzleramt
befragte BND-Präsident Wessel, der mitteilte, es gebe zum Hauserwerb keine
Unterlagen im BND. Gehlen habe aber darin aber schon vor 1956 gewohnt.
Es sei wohl eine Gegenleistung für erwiesene Dienste gewesen, und – die aus
heutiger Sicht brisanteste Aussage dessen, der in den fraglichen 1940er-Jahren
Gehlens engster Vertrauter gewesen war: das Anwesen sei ehemals jüdischer
Besitz gewesen, der von den Amerikanern beschlagnahmt worden sei. 1972
wirkte der Verdacht einer möglichen »Arisierung« im Kanzleramt offenbar
nicht sonderlich bedrohlich, und so legte man den Vorgang zu den Akten, weil
das angebliche Geldgeschenk der CIA vor der Übernahme in den Bundesdienst
erfolgt und der Bundesregierung damals bekannt gewesen sei. Von passiver
Bestechung könne nicht die Rede sein.881
Das Verwirrspiel um sein Domizil am Starnberger See wurde damit nicht
beendet. War Reinhard Gehlen ein Arisierungsgewinnler? Gänzlich lässt sich
der Fall bislang nicht aufklären. Das Grundstück hatte dem bekannten bayeri­
schen Landschaftsmaler Richard Ritter und Edler von Poschinger (1839-1915)

878 Zolling/Höhne, Pullach intern, S. 20. Der Gehlen-Biograf »Cookridge« zog die fal­
sche Schlussfolgerung, dass Familie Gehlen bis 1956 in Pullach gewohnt habe, und
erzählte fantasievoll, CIA-Chef Dulles habe Gehlen 1955 eine Gratifikation in Höhe
von 250.000 D-Mark überreicht, mit der Auflage, sich dafür ein schönes Haus in den
bayerischen Alpen zu suchen. Das habe dann zu dem Kauf am Starnberger See geführt.
Die Geschichte ist frei erfunden oder geht auf unzutreffende Informationen zurück,
die der britische Exagent von Insidern erhalten hat. Cookridge, Gehlen, S. 308 – 309.
Vielleicht auch deshalb vermutete Gehlen in dem Buch des Briten Desinformationen
des KGB.
879 Artikel in der Weltbühne vom 11.4.1972, Kopie, VS-Registratur Bka, Personalakte
Gehlen.
880 Schreiben Maders vom 12.5.1972, ebd.
881 BKAmt, Az.: I/2-Pers 15102 – Ge4, vom 6.6.1972, VS-Registratur Bka, Personalakte
Gehlen.

1249
gehört.882 Der Erbe, sein Sohn Ludwig, verkaufte es 1935 weiter an Herwarth
von der Decken, der es auf den Namen seiner Ehefrau Elsbeth, geborene
Geilhausen, eintragen ließ. Die beiden ließen ein Haus im bayerischen Land­
hausstil errichten. Der kränkelnde Offizierssohn war wegen eines Herzfehlers
nicht in den Heeresdienst übernommen worden. Auch als Landwirt konnte er
sich nicht beruflich durchsetzen. Ein Verwandter, Georg von der Decken auf
Hohenlucht (1898-1945), diente zu dieser Zeit als 1. Adjutant von Generalfeld­
marschall von Blomberg. Reinhard Gehlen könnte ihn gekannt haben, ebenso
vielleicht Karl Ludwig von der Decken, ehemals preußischer Generalleutnant
(1855-1935) und späterer Lehrer am Militärreitinstitut in Hannover. Im Jahr
1942 verkaufte, wie bereits erwähnt, Elsbeth von der Decken den unbebauten
Teil des Seegrundstücks an Reinhard Gehlen, der den Besitz auf den Namen
seiner Frau ins Grundbuch eintragen ließ.
Warum der Schlesier Gehlen den Kauf im fernen Bayern tätigte bzw. warum
sich Elsbeth von der Decken zum Verkauf entschloss, ist nicht bekannt. Sie war
die Tochter des Oberingenieurs Richard Geilhausen und seiner Frau Marie,
geborene Pfefferle. Es ist denkbar, dass hier eine jüdische Abstammung vorlag,
die unter den Bedingungen von Krieg und Verfolgung Veranlassung gab, einen
Teil des wertvollen Grundstücks an einen höheren Stabsoffizier zu veräußern.
Ihr Mann befand sich an der Front. Warum Reinhard Gehlen diesen Grund­
stückserwerb auf den Namen seiner Frau abwickelte, ist ebenfalls unklar. Im
Ergebnis besaß er nun ein Hanggrundstück am Starnberger See, während seine
Familie bis Januar 1945 in einer Mietwohnung in Schlesien untergebracht war.
Nach der Flucht konnte er sie 1946 auf dem Pullacher Gelände unterbringen.
1949, nach Übernahme der Org durch die CIA, halfen ihm die Amerikaner, wie
bereits erwähnt, unter günstigen Bedingungen auch die obere Grundstücks­
hälfte an der Waldstraße 27 mit dem Landhaus zu erwerben. Die Familie von
der Decken hatte sich nach Rückkehr des Vaters aus französischer Kriegsge­
fangenschaft entschlossen, mit der einzigen Tochter nach München umzuzie­
hen. 1951 registrierte die CIA mit Interesse, dass sich Gehlen einen Hauskre­
dit bei der Bayerischen Vereinsbank beschafft hatte883 – vermutlich diente er
dazu, den Kredit bei der CIA abzulösen, denn Gehlen setzte zu dieser Zeit auf
eine unmittelbar bevorstehende Übernahme in den Bundesdienst. Da hätten
finanzielle Verpflichtungen gegenüber dem amerikanischen Geheimdienst zu
Schwierigkeiten führen können.

882 Für die folgenden Angaben danke ich dem Archiv der Gemeinde Berg und dem Familien­
verband von der Decken.
883 Notiz vom 1.4.1951, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol3_10F2,
S.20.

1250
Ein halbes Jahrhundert später behauptete James Critchfield, der die Wahr­
heit kennen musste, in seinen Memoiren, Gehlen habe mit seiner Unterstüt­
zung »ein bescheidenes typisch bayerisches Holzhaus in Berg am Starnberger
See« gefunden, »wofür er einen Kredit über 48.000 D-Mark (etwa 12.000 Dollar)
aufnahm. Für dessen Tilgung verwandte er einen beträchtlichen Teil seines
monatlichen Einkommens.« Dieses zinslose Darlehen der CIA sei bereits vor
der Gründung des BND getilgt gewesen. Nach seiner Pensionierung habe Geh­
len dann »ein kleines Fertighaus gleich hinter seinem Heim« errichten lassen,
in dem er mit Frau Herta bis zu seinem Tode lebte.884 In dem früheren Haus der
Familie von der Decken lebt Sohn Christoph mit Familie. Es bleibt die unge­
klärte Behauptung von BND-Präsident Wessel, dass es sich bei dem Haus um
jüdischen Besitz gehandelt habe, was den Erwerb eines Teilgrundstücks von
1942 in den Verdacht eines möglichen Arisierungsfalles rückt.
Reinhard Gehlen wird von dem Gespräch seines Nachfolgers im Kanz­
leramt vermutlich nicht erfahren haben. Solange in der Öffentlichkeit im
Zusammenhang seines Hauses von einem Geldgeschenk der CIA die Rede
war, konnte er sich seines schönen Besitzes in aller Ruhe erfreuen. So dürfte
er auch mit Befriedigung zur Kenntnis genommen haben, dass seine Absage
an eine PR-Tour durch die USA ihn tatsächlich vor größerer Unbill geschützt
haben dürfte. Das linke US-Politikmagazin New Republic reagierte mit höhni­
scher Ironie auf den ursprünglich angekündigten Empfang Gehlens durch den
Präsidenten der World Publishing Company anlässlich des Erscheinens der
englischen Ausgabe seiner Memoiren am 26. Mai 1972: Durstig – dann könne
man zu diesem Empfang gehen. Gehlen sei der Mann gewesen, der Hitler ver­
lassen habe, als alles verloren war, der zur CIA ging und ein altes Netzwerk von
SS- und Gestapoleuten reaktivierte, um die UdSSR zu unterwandern, der von
einer 300-Millionen-Dollar-Festung in Bayern aus agierte und darauf hoffte,
Amerika und Russland würden aufeinanderprallen, damit Deutschland wieder
aufsteigen könnte. Cocktails würden um 6 pm serviert.885
Die Absage Gehlens habe ihn wenig überrascht, kommentierte Critchfield
in einem Schreiben an Helms. Schon bei seinem Besuch in Berg habe er den
Eindruck gehabt, dass Gehlen eigentlich nicht entschlossen sei. Damit sei nun
auch die Einladung hinfällig, die Gehlen von der Military Intelligence Reserve
Officer Society in New York erhalten habe. Gehlens Erklärung, dass seine Frau
im Krankenhaus liege, genüge als Erklärung für die Absage.886 Dieser nutzte die
gewonnene Zeit, um sich durch einen CIA-Techniker in seinem Haus ausgiebig

884 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 202-203.


885 Social Note, New Republic vom 13.5.1972, Kopie, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 115.
886 Critchfield an Helms vom 15.5.1972, ebd., S. 116.

1251
über den Gebrauch der Technik informieren zu lassen, die er brauchte, um
seine geheimsten Aktenschätze auf einen Mikrofilm zu bannen.887
Zu diesen verborgenen Geheimakten dürften auch die Unterlagen über jene
hochrangigen deutschen Politiker gehört haben, die Gehlen in seinem verdeck­
ten Kampf gegen die Ostverträge jüngst denunziert hatte, erst hinter den Kulis­
sen, dann andeutungsweise in seinen Memoiren und jetzt in der erweiterten
englischen Ausgabe. Dem Magazin Spiegel lag ein Exemplar der ungekürzten
Rohfassung der Übersetzung vor, die man dem deutschen Publikum nicht vor­
enthalten wollte. Gehlen, so hieß es in dem Artikel »Gehlens Bekenntnisse«,
habe im Gespräch mit David Irving kräftig vom Leder gezogen, Namen und
Operationen genannt sowie gehässig über seinen Nachfolger gesprochen. Er
habe aber in letzter Minute einige brisante Passagen streichen lassen. Da aber
weltweit 20 Exemplare des Rohmanuskripts bei Verlagen, die bereits Rechte
angekauft hatten, kursierten, habe sich Gehlen eigentlich strafbar gemacht.888
Tatsächlich war Gehlen zunächst erschrocken gewesen, als er das lange Pro­
tokoll der Interviews mit Irving zu lesen bekommen hatte. Er habe, meinte
Gehlen gegenüber Irvings Mitarbeiterin Elke Fröhlich, ein sachliches Buch
geschrieben, um vor der Ostpolitik der Bundesregierung zu warnen. Deshalb
müsse er es ablehnen, dass aus dem Buch ein »Reißer« gemacht werde. Er
lege auf »Sachlichkeit großen Wert, damit meine Warnung ernstgenommen
wird«.889 Er sei auch gegen die Bormann-Geschichte gewesen. Es half ihm nicht
viel, auch nicht sein Argument, wonach der Osten sein Buch für »die gefähr­
lichste Publikation seit Jahren« halte. Den Russen sei die Veröffentlichung
»sehr unangenehm«.890
Eberhard Blum, ehemaliger Persönlicher Mitarbeiter Gehlens und später
BND-Chef, zu diesem Zeitpunkt in Washington, schrieb in einer Stellung­
nahme zum Spiegel-Artikel, man erkenne in dem Rohmanuskript den »zür­
nenden Doktor«. Daher dürfte der Text authentisch sein. Zu den erwähnten
Fällen Bahr, Bauer und Nollau konnte er selbst nicht viel beitragen.891
Politisch besonders heikel – nicht nur für die Amerikaner – war das
Bekenntnis, Brandts Berater und Staatssekretär im Kanzleramt, Egon Bahr,
bespitzelt und gegen Leo Bauer das FBI eingeschaltet zu haben. Der Chief of
Station Germany musste umgehend Bericht erstatten und die Zentrale ließ
sich eine Übersetzung des Spiegel-Artikels in sechsfacher Ausfertigung nach

887 CIA-Bericht vom 16.5.1972, ebd., S. 117.


888 Gehlens Bekenntnisse, Spiegel 23/1972 vom 29.5., S. 42.
889 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich am 26.11.1971, IfZ, ED 100-69-48.
890 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich am 3.12.1971, IfZ, ED 100-69-61.
891 Stellungnahme von Blum, 30.5.1972, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 118.

1252
New York senden.892 Präsident Wessel versicherte Bahr in einem persönlichen
Schreiben, dass die Angaben des Spiegel nicht der Wahrheit entsprächen, und
schlug vor, Gehlen möge vom Chef des Kanzleramts zu einer dienstlichen Stel­
lungnahme aufgefordert werden.893 Der Altpräsident dürfte wenig Lust ver­
spürt haben, ausgerechnet Minister Ehmke – nach seiner Meinung der wohl
größte Verderber des BND – Rede und Antwort stehen zu müssen. So versuchte
er, durch ein Telefonat mit Wessel die kitzlige Angelegenheit aus der Welt zu
schaffen.
Darin behauptete er, die englische Ausgabe sei offensichtlich unter Zeit­
druck entstanden. Aber er habe ständig alles, was kontrovers und strittig
gewesen sei, aus dem Rohmanuskript von Irving gestrichen. Wessel ließ sich
nicht beeindrucken und kündigte an, dass durch das Kanzleramt eine Stel­
lungnahme von Gehlen erbeten werde. Im Spiegel-Artikel würden angebliche
Zitate von ihm verwendet. Gehlen entgegnete: Der Spiegel habe das zurecht­
gebogen. Das wollte ihm Wessel nach seinen Erfahrungen mit der Spiegel-Serie
durchaus glauben, aber die Äußerungen zum Selbstmord von Horst Wendland
hätten ihn doch sehr betroffen gemacht, worauf Gehlen sehr verschwommen
in seiner Erinnerung auswich.894 Wessel ließ weitere Erkundigungen einziehen.
Sein Pressebeauftragter Dr. Werner Heyl sprach mit Eric Waldman, der sich
zuvor mit Gehlen unterhalten hatte. Dass Irving den »Doktor«, wie der Spiegel
meine, »an der Zunge« gezogen habe, sei falsch. Gehlen sei sich sicher, dass die
Werturteile meist vom Spiegel selbst stammten, vermengt mit Gesprächsauf­
zeichnungen Irvings, der über recht gute Beziehungen zu dem Magazin ver­
füge. Waldman legte Gehlen nahe, mit Wessel zu sprechen, um dem Vorwurf,
Amtsgeheimnisse verraten zu haben, entgegenzuwirken.895
Der Aufforderung Ehmkes, Stellung zu beziehen, konnte Gehlen schließlich
nicht ausweichen. Er bestritt, Geheimnisse an Irving preisgegeben zu haben,
und leugnete auch alle anderen Vorwürfe. Die Angaben des Spiegel seien größ­
tenteils unrichtig oder schief.896 Hinter verschlossenen Türen ließ sich das
leicht behaupten. Gehlen konnte froh sein, dass Ehmke aus der Stellungnahme
keinen öffentlichen Diskurs machte. Die öffentliche Reaktion auf die amerika­
nische Fassung seiner Memoiren war in den USA zurückhaltend bis ablehnend.
In der Chicago Sun-Times beschrieb sie der Rezensent K. S. Giniger als ein Werk
der Selbstrechtfertigung und des Antikommunismus. Allen Dulles habe ihm

892 Schriftwechsel, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_20F 2,


S. 118-124.
893 Wessel an Bahr, 29.5.1972, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 118.
894 Vermerk Wessels über den Anruf Gehlens, 2.6.1972, ebd., Blatt 109.
895 Vertrauliche Aufzeichnung von Heyl für Wessel, 4.6.1972, ebd., Blatt 106-108.
896 Gehlen an Ehmke, 7.6.1972, ebd., Blatt 111-113.

1253
einmal gesagt, dass die Publikation des Buches Sicherheitsinteressen verletzen
würde, und sein britischer Gegenspieler Major General Kenneth Strong habe
ihm zur gleichen Zeit erklärt, die Memoiren würden keinen Schaden anrich­
ten, weil Gehlen nichts erzählen könnte, was die angelsächsischen Geheim­
dienste nicht ohnehin schon wüssten. George Bailey habe in seiner Einleitung
zur englischen Ausgabe geschrieben, Gehlen sei ein Spezialist gewesen, um
die von ihm geschaffenen Institutionen zu schützen und zu erhalten. Er habe
zweifellos die eine von ihm geschaffene Organisation gerettet und beschützt.
Leider sage das Buch weniger über Gehlens Org aus als über die damaligen
Ideen, die zu deren Gründung führten.897
In der Book World der Washington Post zeigte sich der Rezensent im Ver­
gleich der drei neuen Bücher zum Thema (Zolling/Höhne, »Cookridge«, Geh­
len) enttäuscht von den Memoiren des angeblichen Superspions. Nachdem er
hauptsächlich das Werk von Zolling und Höhne beschrieben hatte, hielt er fest:
Es gehe bei der Geschichte um einen zeitgenössischen Helden, der weniger ein
Patriot als ein Geschäftsmann gewesen sei. Seine Loyalität habe nicht einem
Land oder einer Regierung gehört, sondern seiner Organisation, die er als sein
Eigentum betrachtet habe und für die er jene Ideologie wählte, die am besten
geeignet erschien, um sie aufrechtzuerhalten, einen kämpferischen Antikom­
munismus.898
Eine scharfsinnige und umfassende Analyse der Geschichte des BND in der
Ära Gehlen wurde Ende 1972 im BND geleistet, und zwar von Dr. Karl-Eber­
hard Henke. Im Auftrag von Präsident Wessel verglich einer der intelligentes­
ten Zeitzeugen des Dienstes das Buch von Zolling und Höhne und Gehlens
Memoiren, was er mit eigenen Erinnerungen verband.899 Henke sah die metho­
dischen und inhaltlichen Schwächen der Spiegel-Publikation, billigte Höhne
aber zu, Gehlens Prägung und Persönlichkeit richtig erkannt zu haben. Von
dem isolierten Militärmilieu der Reichswehr sowie später dem Selbstwert­
gefühl des Generalstabs geprägt, habe sich Gehlen nach 1945 in einer selbst
gewählten Isolation und Distanz zu seiner Umgebung bewegt. Kontaktarm
und fast schüchtern, »ein sehr schlechter Unterhalter, in zwanglosen Gesprä­
chen geradezu hilflos«, habe ihn Höhne treffend beschrieben. »Wer Gehlen

897 K. S. Giniger (President of Consolidated Book Publishers), Gen. Gehlen’s careful shift to
the Allies, Chicago Sun-Times vom 11.6.1972, Faksimile, NA Washington, RG 319, Entry
134A, Reinhard_Gehlen_vol 6_20F 2, S. 131.
898 Sanche de Gramont, Recollections of a Superspy, Washington Post Book World vom
2.7.1972, Faksimile, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol 7_10F 2,
S. 16.
899 Stellungnahme Dr. Henke an Präsident Wessel, 9.11.1972, BND-Archiv, N 1/61. Siehe
dazu auch Dülffer, Pullach intern, S. 78-80.

1254
Karl-Eberhard Henke

kennt, wird dem nur zustimmen können und sich quälender Situationen stum­
men Dasitzens mit Gästen entsinnen, in denen keine Bemühung etwas wie ein
Gespräch in Gang bringen oder halten konnte.« Die andere Seite kenne Höhne
wohl nicht, dass auch der entgegengesetzte Fall auftreten konnte, »in dem ein
selbstsicher strahlender oder ernster Gehlen vorzugsweise schwierige Situa­
tionen durch fast eleganten Redefluß und Verhandlungstalent beherrschte«.
Man könnte ihn als militärischen Nur-Fachmann charakterisieren, der auf der
anderen Seite ein geradezu leidenschaftliches Interesse für Naturwissenschaft,
insbesondere Medizin und Psychologie, entwickelte.
Für die Zeit nach 1948 sei die Darstellung von Zolling und Höhne durch
eine »grenzenlose Armut an qualifizierten Zeugnissen« geprägt. Hier würden
die Fehler und Schwächen in Gehlens Führungsstil nicht ausreichend durch­
leuchtet. Sein »Schotten-System« sowie die organisierte Desorganisation hat­
ten nicht nur die Leistungsfähigkeit des Dienstes gemindert und die Mitarbei­
ter demotiviert, sondern auf diese Weise seien wichtige Aufklärungsergebnisse
an der Auswertung vorbei direkt an Gehlen gelangt, der sie nach eigenem
Ermessen an Bonn weiterleitete. Henke analysierte ebenso die Schimäre der
»Roten Kapelle«. Zu dieser Hysterie im Kalten Krieg auf westlicher Seite habe
auch eine »Perversion des spezifisch nachrichtendienstlichen Denkens, das
dazu neigt, das Evidente für Schein zu halten, den nur das nachrichtendienst­
lich geschulte Auge zu durchdringen vermag, dem sich in den >Hintergründen<
die Realität erschließt, beigetragen, solchen Hirngespinsten eine vermeintli­
che Wirklichkeit zu verleihen«. Die durch den Fall Felfe ausgelöste Agonie
des Dienstes habe Gehlen nicht mehr überwinden können, in seiner starren
Denkweise sei er nicht imstande gewesen zu erkennen, dass sein Führungs­
stil Verhältnisse geschaffen hatte, die Felfes Aufstieg ermöglichten. In seinem

1255
Selbstverständnis schien er ein geschlagener König Lear zu sein, der mannhaft
die Angriffe gegen ihn durchstand. Damals hätte die Möglichkeit eines ehren­
haften Abgangs bestanden. Er habe sie nicht genutzt.
Tatsächlich hatte Reinhard Gehlen in den vergangenen zehn Jahren »durch­
gehalten«, mehr trotzig als betrübt, sich gegenüber Kanzlern und ihren Bera­
ter behauptet und einen vordergründig würdevollen Abschied erhalten. Sein
Einfluss auf den BND aber ging – entgegen seinen Erwartungen – schrittweise
verloren. Die übliche Einsicht eines Pensionärs blieb ihm in seiner isolierten
Halsstarrigkeit verwehrt. So klammerte er sich an die Hoffnung auf einen poli­
tischen Wechsel, um Pullach zurückerobern zu können. Den Kampf der kon­
servativen Opposition gegen die Ostverträge unterstützte er auf seine Weise.
Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt und der Ratifi­
zierung der Ostverträge durch den Bundestag im Mai wurde dann das Ergebnis
der Neuwahlen am 19. November 1972 ein weiterer Schock für ihn. Mit 45,8 Pro­
zent der Stimmen war die SPD erstmals stärkste Fraktion und die Regierung
Brandt bestätigt geworden. Das Jahr 1972 ging mit einer weiteren Enttäuschung
zu Ende, zumal seine Memoiren weder zu einem Bestseller noch zu einem in
der breiten Öffentlichkeit verstandenen politischen Signal geworden waren.
Die CIA ging mit ihrem früheren »utility« verständnisvoll um. Der neue
Chief of Base hatte einige Zeit gewartet, bis er nach der Bundestagswahl Geh­
len anrief und ein erstes Treffen verabredete. Er wollte vermeiden, dass der
Begegnung womöglich eine politische Bedeutung gegeben würde, denn er
hatte aus einigen Quellen in Pullach erfahren, dass Gehlen hinter den Kulis­
sen bereits Vorbereitungen getroffen hatte, um nach einem Unions-Sieg die
Weichen in Pullach wieder anders zu stellen. Das Treffen am Starnberger See
dauerte mehr als zwei Stunden. Der physische Eindruck sei überraschend
gewesen, berichtete er intern. Obwohl beweglich und hellwach, habe sich doch
Gehlens Alter von 70 Jahren gezeigt. Er habe ziemlich nostalgisch über die Ver­
gangenheit gesprochen, und es sei spürbar gewesen, dass er unglücklich war
wegen der Veränderungen in Pullach nach seiner Entlassung und wegen der
Maßnahmen seines Nachfolgers.
In einem langen Gespräch über die aktuelle westdeutsche Politik habe Geh­
len seine Besorgnis über den Linkstrend der gegenwärtigen Regierung ausge­
drückt. Er sprach mit Achtung von den konservativeren SPD-Politikern der
Vergangenheit wie Ollenhauer und Erler. Er habe Erler als einen seiner besten
Kontakte im Bonn der 1950er-Jahre beschrieben, der ein exzellenter Außen­
minister hätte sein können. Gehlen sei besonders besorgt über das Erstarken
der Jungsozialisten (Jusos) in der SPD und die Fähigkeit der Parteiführung, sie
unter Kontrolle zu behalten.
Er habe nur wenige Hinweise zu Pullach gegeben, aber deutlich gemacht,
dass er im Falle eines CDU/CSU-Wahlsieges die Politisierung des Dienstes, der

1256
von der SPD begonnen worden sei, beendet hätte. Der Amerikaner kündigte
an, dass man von Zeit zu Zeit daran interessiert sei, seine politischen Einschät­
zungen zu erfahren, und berief sich auf BKA-Chef Horst Herold, der Gehlens
Urteil sehr schätze, worauf Gehlen etwas verlegen reagierte.900 Die Klärung
der innenpolitischen Situation und der anerzogene Sittenkodex dürften Prä­
sident Wessel veranlasst haben, seinen Groll zurückzustellen und Gehlen zu
dessen Geburtstag Anfang April 1973 zumindest schriftliche Glückwünsche
und als Geschenk das Buch Das Abenteuer von Qumran zu übersenden. Geh­
len reagierte entspannt und gab an, erfreut zu sein, denn er habe sich seit den
1950er-Jahren, als erste Ergebnisse der archäologischen Sensation bekannt
geworden waren, besonders für das Thema interessiert.901
Wer in Pullach und Bonn angenommen haben sollte, der Alte vom Starn­
berger See würde sich endlich in seinen Ruhestand begeben, sah sich bald
getäuscht. Gehlen ließ nicht ab von der Idee, dass die Deutschen seinen poli­
tischen Ratschlag brauchten. Er stellte ein weiteres Buch fertig. Zeichen der
Zeit erschien 1973 wieder bei Hase und Koehler. Es wurde ebenfalls kein Best­
seller, aber als Mahner vor den Gefahren des Kommunismus hatte er durch­
aus sein, wenn auch schwindendes, Publikum. So nutzte er gern wieder die
Quick zu einem achtteiligen Vorabdruck, dort vorgestellt als noch immer
»einer der bestinformierten Männer der Welt«. So konnte er seine Analyse des
Jom-Kippur-Krieges einem größeren Publikum präsentieren. Er verneinte die
Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines Dritten Weltkrieges, wenn das Rüs­
tungsgleichgewicht erhalten bleibe. »Jedoch sind schwer berechenbare Kräfte
virulent, die eine solche Prognose gefährden könnten.902 Der Ostblock sei fest
in Moskaus Hand, behauptete Gehlen. »Die Knechtschaft der Bevölkerung
wird als etwas Zwangsläufiges hingenommen.« Die westlichen Einflüsse seien
dagegen gering und würden leicht abgewehrt, bestätigte Gehlen einmal mehr
seine fantasievolle Analysefahigkeit. Die schwachen Stellen des Ostens seien
die Wirtschaft und die sowjetisch-chinesische Konkurrenz. Die Zukunft des
Westens hänge »allein von den Nerven der Amerikaner ab«. Der Mangel an
öffentlicher Resonanz in der Bundesrepublik mag ihn veranlasst haben, der
CIA drei Exemplare seiner Zeichen der Zeit zu übergeben.903 Was mag Präsident
Wessel bewogen haben, Gehlen zum Geburtstag 1974 ein Buch über Psyche und

900 Bericht für Chief European Division über das Treffen am 17.1.1973, NA Washington,
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol7_10F2, S. 22-23.
901 Gehlen an Wessel, 4.4.1973, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 103.
902 General Gehlen: Zur Lage, Quick 43-50/1973 vom Oktober – November, hier in dem
Interview in Nr. 43.
903 Chief of Base vom 7.3.1974, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol7_10F2, S. 27.

1257
Gesundheit zu schenken? Vielleicht dachte er an die Erkenntnisse seiner Grafo­
login und das unverständliche Verhalten Gehlens in jüngster Zeit.
Aber neben den Zuständen, die er im BND hinterlassen hatte, geriet auch
sein Nimbus als Russlandkenner zunehmend ins Blickfeld seiner Kritiker und
unterminierte die Glaubwürdigkeit seiner Warnungen vor der Ostpolitik der
sozialliberalen Koalition. So weckte eine Studie des Historikers Hans-Heinrich
Wilhelm über die Prognosen der Abteilung Fremde Heere Ost erste fundierte
Zweifel an der Selbstdarstellung Gehlens, die ihm nach 1945 geholfen hatte,
als angeblich bester Kenner der sowjetischen Strategie eine zweite Karriere zu
machen. Der Spiegel stellte die Studie über Gehlens Fehlprognosen ausführlich
vor und betonte, dass Wilhelm dem General einen »erstaunlichen Mangel an
Realitätssinn« und »überhebliche Pauschalurteile« bescheinigt habe.904
Wieder einmal kam ein glücklicher Zufall Reinhard Gehlen zu Hilfe.
Wenige Tage nach dem ergebnislosen Kontakt mit der CIA und nach seinem
72. Geburtstag wurde in Bonn der persönliche Referent von Kanzler Brandt,
Günter Guillaume, als Stasiagent enttarnt. Anfang der 1950er-Jahre angewor­
ben, war er – parallel zu Felfe – systematisch aufgebaut worden, um innerhalb
der SPD in höchste Führungskreise aufzusteigen.905 Dieser Erfolg des Gegners
übertraf in seiner politischen Bedeutung die zehn Jahre zurückliegende Felfe-
Affäre des BND, die Gehlen damals einen Schlag versetzt hatte, von dem er
sich niemals wieder erholte. Der Fall Guillaume war jetzt dem BND nicht vor­
zuwerfen und betraf hauptsächlich den Verfassungsschutz, und damit seinen
Erzfeind Nollau. Ob Gehlen diese Niederlage seines ehemaligen Konkurrenten
genossen hat? Mehr dürfte ihn beeindruckt haben, dass sein immer wieder
kritisiertes Insistieren auf der Gefahr einer Unterwanderung der Bundesrepu­
blik nun auf unerwartete Weise als berechtigt erscheinen konnte, wenngleich
Gehlen den »Wolf im Schafspelz« eher unter den prominenten Namen in der
SPD-Führung vermutet hatte.
So schrieb Gehlen Anfang Mai 1974 an Wessel, bedankte sich für das
Geschenk zu einem Thema, das wie viele technische, medizinische und psy­
chologische Probleme eine wichtige Rolle im Nachrichtendienst spiele. Dann
kam er zu den neuesten Nachrichten: Der Fall Guillaume werde ihn wohl nicht
überrascht haben. Hoffentlich entdeckt man auch noch die anderen, die es
noch geben »muß!«. In Großbritannien würden sogar alle Minister jährlich
sicherheitsüberprüft. Wer prüft die hohen Persönlichkeiten hierzulande?906

904 Gehlens Fehlprognosen, Spiegel 53/1974 vom 30.12., S. 4, 34-37; Wilhelm, Prognosen.
905 Siehe ausführlich Eckard Michels: Guillaume, der Spion. Eine deutsch-deutsche Karriere,
Berlin 2013.
906 Gehlen an Wessel, 2.5.1974, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 89.

1258
Das war eine Anspielung auf Horst Ehmkes Ehe mit einer tschechischen Exi­
lantin, über die damals viel diskutiert wurde.
Mit großer Befriedigung dürfte Gehlen vier Tage später den Rücktritt von
Kanzler Brandt zur Kenntnis genommen haben. Doch der rasche Wechsel zu
Helmut Schmidt machte mögliche Spekulationen über ein Scheitern der SPD­
geführten Bundesregierung zunichte, und mit dem kühlen Hanseaten Helmut
Schmidt übernahm ein Mann die Regierung, zu dem Gehlen seit den frühen
1960er-Jahren keine engere Beziehung gefunden hatte. »Schmidt-Schnauze«
war genau der militärisch geprägte Typus, dem Gehlen auszuweichen pflegte,
der ihm gleichwohl imponierte. Als Kanzler ließ sich Schmidt – so mag es Geh­
len gesehen haben – zumindest nicht vom Osten einwickeln. Mit seinem harten
Kurs führte er die Bundesrepublik aus den Ölkrisen, widerstand der Herausfor­
derung durch den Linksterrorismus und setzte im engen Schulterschluss mit
den USA den NATO-Doppelbeschluss gegen heftigen Widerstand der Friedens­
bewegung durch. Das alles durfte Gehlen zumindest teilweise noch erleben.
Nach dem Rücktritt Brandts scheint sich Gehlen erleichtert gefühlt zu
haben, denn in einem Interview mit der dänischen Journalistin Mascha Micha­
elsen gab er sich Anfang Juli 1974 humorvoll und leutselig.907 Er kommentierte
die jüngsten Ereignisse, die er als Bestätigung seiner Sorgen ansah. Er selbst
sei nie Mitglied einer Partei gewesen und wolle auch heute nur etwas für sein
Land tun. Unter seiner Führung sei der Dienst nur im Ausland tätig gewesen.
Nie habe eine deutsche Regierung von ihm einen Bericht über innenpolitische
Angelegenheiten erhalten – ob er inzwischen selbst daran glaubte? Dreiste
Lügen seiner Kritiker seien es jedenfalls gewesen. Brandt habe gute Absich­
ten gehabt, sei aber Illusionen gefolgt, die er nicht kommentieren wolle. Er
bedauerte es, dass man nicht wie in Großbritannien den Nachrichtendienst
aus der Öffentlichkeit heraushalte. Fehler würden überall gemacht werden,
aber er könne von sich sagen, keinen einzigen fundamentalen Fehler gemacht
zu haben. Er widersprach den Vorwürfen, alte Nazis im BND beschäftigt, und
unter heftigem Lachen und Kopfschütteln bestritt er, sein Haus als Geschenk
von der CIA bekommen zu haben. In Abwesenheit seiner Frau, die einen Fri­
seurtermin hatte, sprach Gehlen mit Humor über die Arbeit des Nachrichten­
dienstes, die nicht im Stil von James Bond, sondern mit wissenschaftlichen
Methoden erfolge. Das Einzige, was ihn nicht befriedige, sei das Schicksal sei­
nes Landes. Die Gefahr des Kommunismus bleibe das größte Problem.
Dem nationalkonservativen Deutschland-Magazin gewährte er bald danach
ein weiteres Interview. Hier gab sich der Exgeneral ganz seriös und hochpo­

907 Politiken, Kopenhagen, 7.7.1974, englische Übersetzung für die CIA, NA Washington,
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol7_10F2, S. 31-35.

1259
litisch. Sein Gesprächspartner Helmut Bärwald, früher Leiter des Ostbüros
der SPD und Reserveoffizier der Psychologischen Kriegführung, war 1971 aus
Protest gegen die Ostverträge aus der SPD ausgetreten und hatte sich der CSU
zugewandt. Ehmke hatte herausgefunden, dass Bärwald »ein Maulwurf des
BND in der Bonner SPD-Baracke« gewesen war, und es wurde in diesen Tagen
bekannt, dass Bärwald als »Sonderverbindung SV-55207« vom BND, das hieß
aber jetzt von Gehlen, geführt wurde.908 Gehlen fand für seine Botschaft »Der
sowjetische Geheimdienst ist fast allgegenwärtig« in Bärwald einen geneigten
Zuhörer.909
Dabei wusste Gehlen nicht, wie recht er mit dieser Einschätzung hatte,
denn die Stasi sammelte unverändert Informationen aus dem familiären
Umfeld des Expräsidenten. In Ost-Berlin erfuhr man auf diese Weise, dass
Familie Gehlen am 24. Dezember 1973 gemeinsam den Weihnachtsgottes­
dienst in der kleinen Dorfkirche von Berg besucht hatte und es zu einem Zwi­
schenfall gekommen war. Ein Enkelsohn Gehlens fiel in der überheizten Kir­
che in Ohnmacht, was den Großvater dazu zwang, sich aus dem Hintergrund
der Gemeinde zu lösen und sich beim Bemühen um den Kleinen ins Blickfeld
der Versammlung zu begeben. Er sei in der Kirche, wie auch bei anderer Gele­
genheit in der Öffentlichkeit, als Herr »von« Gehlen angesprochen worden.910
Zwei Monate später, kurz vor der Enttarnung Guillaumes, gab – als hätte er
es geahnt – Generalleutnant Markus Wolf, Chef der Hauptverwaltung A im
Ministerium für Staatssicherheit der DDR, den Auftrag, zur »Durchführung
wirkungsvoller Maßnahmen gegen den BND« Interna zur Person Gehlens
sowie anderer leitender Personen zusammenzustellen.911 Mit Akribie und gro­
ßem Fleiß sammelte die Stasi die gewünschten Unterlagen für einen neuen
Schlag gegen den alten Gegner: die Aktion »Dschungel«. Neben den vorliegen­
den Spitzelberichten zu Gehlen griff man, soweit erkennbar, hauptsächlich
auf die Auswertung von Pullach intern und die aktuelle westdeutsche Presse­
berichterstattung zurück.
Im Kanzleramt, das jetzt von dem Verwaltungsexperten und SPD-Politiker
Manfred Schüler geleitet wurde, wuchs die Verärgerung über den Quälgeist
vom Starnberger See. Um zu überprüfen, ob dieser seinen Werkvertrag mit
dem BND genutzt haben könnte, um seine privaten Memoiren zu publizieren,
wurde Wessel gebeten, eine Durchschrift der Materialsammlung, die von der

908 Horst Ehmke: Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994,
S. 122; Hans-Dieter Bamberg: Die Deutschland-Stiftung e. V., Meisenheim 1978, S. 453.
909 Exklusiv-Interview, Deutschland-Magazin 4/1974 vom August/September.
910 Information Gehlen, 14.2.1974, BStU, MfS, HA II, Nr. 41478, S. 169-170.
911 Leiter HVA an Leiter HA IX betr. Maßnahmen gegen den BND, 22.2.1974, BStU, MfS,
HA IX, Nr. 5099, S.2.

1260
»Gruppe Bohlen« unter Leitung von Gehlen angefertigt worden war, zur Ver­
fügung zu stellen.912
Der Bericht umfasste 658 Blatt und enthielt zunächst eine Chronologie der
Gesamtentwicklung des BND, die von Frau Krüger bearbeitet worden war. Sie
hatte mithilfe von zwei Sekretärinnen die Durchsicht und Ordnung der Akten
nach verschiedenen Zwecken vorgenommen, Einzeldarstellungen der ver­
schiedenen Bereiche des Dienstes angeregt und eine Studie zur Entwicklung
des Fernmeldewesens beaufsichtigt. Buntrock (DN »Bohlen«) übernahm die
Federführung der »Leitausarbeitung« »Der Deutsche Bundesnachrichten­
dienst« in gemeinsamer Arbeit. Sie war der Rohentwurf für eine historische
Darstellung der Geschichte des Dienstes und brachte die Unterlagen »in einen
geistigen Zusammenhang«, ergänzt in regelmäßigen Besprechungen aus dem
Gedächtnis der Beteiligten. Gehlen konzentrierte sich auf die Bearbeitung
einer Zusammenfassung der Erfahrungen.

11. Guillaume-Affäre und Mercker-Bericht: das Ende


Gehlens (1974-1979)

Die Guillaume-Affäre zog den BND in Mitleidenschaft, weil sich die von Gehlen
gesteuerte Vergangenheitsaufarbeitung im BND dazu anbot, der SPD bei der
Bewältigung der Affäre Entlastung zu verschaffen. Die Wochenillustrierte Stern
hatte Informationen aus dem geheimen Mercker-Bericht von 1969 erhalten.
Ihre Ausgabe vom 3. Oktober 1974 enthüllte einige Auszüge, verwies auf den
ausgeprägten Nepotismus von Gehlen sowie auf die innenpolitischen Operatio­
nen des BND, in deren Rahmen, so hieß es, Journalisten Geld aus Pullach erhal­
ten hätten, das sie zudem nicht versteuert hatten. Die CIA erinnerte der Artikel
an das kürzlich geführte Gespräch mit dem Vizepräsidenten des BND, Dieter
Blötz (SPD), der eine Gegenoffensive gegen Gehlen angedeutet habe. Sie hielt
die Anspielung des Stern auf Journalisten für besonders bemerkenswert, das
ziele als Drohung mit dem Finanzamt vermutlich auf Quick-Chef Nouhuys. Man
wollte sich bemühen, mögliche Hintergründe des Artikels herauszufinden.913
Vizepräsident Blötz sagte kurzfristig eine geplante Reise nach Washington
ab, obwohl es um sehr wichtige Gespräche mit dem CIA-Management und der
NSA ging. Er sei dazu gezwungen, weil sich aus der parlamentarischen Unter­
suchung des Falles Guillaume politische Aufregung um die Geheimdienste

912 Übersendung Wessels, 14.8.1974, VS-Registratur Bka, Bk 15102 (107), Bd. 2, Beiheft 1-3;
BND-Archiv, 1163,1164.
913 Fernschreiben für Director Info, 3.10.1974, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein-
hard_Gehlen_vol7_10F2, S. 38-39.

1261
entwickle. Gehlen hatte bereits eine Vorladung zum 9. Oktober durch den
Untersuchungsausschuss des Bundestages erhalten. Aber er zog es vor, auf
Zeit zu spielen. Blötz räumte gegenüber der CIA ein, dass ein großer Teil der
Vorwürfe des Mercker-Berichts gegen Gehlen zutreffend sei, dass aber Wes­
sel mit Beginn seiner Amtszeit den BND modernisiert habe. Der Gehlen-Spezi
Langkau sei in den Ruhestand entlassen und die Unterlagen seines politischen
Apparats vernichtet worden. Es müsse allerdings befürchtet werden, dass
Kopien angefertigt worden seien, die jetzt Politikern und der Presse zugespielt
würden. Gewisse unzufriedene Elemente wären noch immer ein Leck im BND
und würden voreingenommene Informationen verbreiten. Er müsse in diesen
schwierigen Tagen Präsident Wessel unterstützen und werde sich direkt an
den CIA-Chef wegen einer Terminverschiebung wenden.914
Gehlen erkannte die Chance, die gegen ihn gerichteten Angriffe als bloße
Ablenkungsmanöver im Fall Guillaume abzuwehren und die Vorwürfe rundweg
zu leugnen. Das tat er in einem Schreiben an den Untersuchungsausschuss am
4. Oktober 1974915 sowie in einem Interview mit Ulrich Scholz, das zwei Tage
später in der Welt am Sonntag erschien. Hier verwies er darauf, dass er den
unveröffentlichten Mercker-Bericht auch noch nicht gesehen habe und von
den drei nachrichtendienstlichen Laien nur einmal befragt worden sei. Vorder­
gründig sei es um einen möglichen Sicherheitsfall im BND gegangen, aber
es hätten wohl auch noch andere Motive eine Rolle gespielt. Mit Nachdruck
bestritt er, dass der BND innenpolitisch tätig gewesen sei und Geheimdossiers
über deutsche Politiker angelegt habe. Es seien auch in seiner Zeit keine Akten
aus dem BND verschwunden – er mochte im Stillen glauben, dass sie in seinem
Haus sicher verwahrt waren. Vetternwirtschaft leugnete er ebenfalls. »Wenn
Verwandte in den Dienst aufgenommen wurden, dann auf Grund ihrer Qualifi­
kation, nicht aber wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen.« Wenn über
mangelhafte Einsatzfähigkeit des BND geklagt werde, müssten Intrigen und
Parteipolitik beseitigt werden – ein deutlicher Vorwurf an seinen Nachfolger.
Auf die Frage, ob er Überlegungen zustimme, den BND dem Verteidigungs­
ministerium zu unterstellen, verteidigte er sein altes Konzept eines selbststän­
digen Gesamt-Nachrichtendienstes und erklärte überraschend:

Ideal wäre es, den BND – wie in anderen großen Ländern – unmittelbar dem
Kanzler zu unterstellen, wobei die Führung des BND einem dafür geeigne­
ten SPD-Spitzenpolitiker übertragen werden sollte, der das unbedingte Ver­
trauen des Kanzlers genießt.

914 Information für Director Info, 3.10.1974, ebd., S. 40-42.


915 Erwähnt in: VS-Registratur Bka, 11300(12), Bd. 12, aber nicht enthalten.

1262
Interessant an der Einlassung Gehlens ist, dass ihm plötzlich die professionelle
Erfahrung eines Präsidenten und seine Parteilosigkeit nicht mehr wichtig war,
sondern die direkte Unterstellung unter den Kanzler. Zugang zur höchsten
Macht im Staate – das enthüllte sein ganzes berufliches Streben. Was bedeu­
tete schon dagegen die dienende Funktion des BND im demokratischen Staat?
Gehlens Erklärung war zugleich eine Absage an das Kanzleramt und an seinen
Nachfolger Wessel.
Dieses Interview in der Sonntagszeitung scheint ihn nicht sonderlich auf­
gebaut zu haben. Auf seinen besonderen Wunsch hin empfing er am selben
Tag einen CIA-Agenten, der ihn relativ gesund, aber in trüber Stimmung vor­
fand. Gehlen sei voller Bitterkeit gegenüber jenen, die – wie er meinte – seinen
Dienst zerschlagen wollten. Auf seine Bitte wurde ein Vermerk über das Tref­
fen angefertigt und ihm ausgehändigt, ohne dass der Zweck erkennbar war.
Der Amerikaner war jedenfalls erstaunt darüber, dass Gehlen eigentlich nichts
von ihm wollte, außer mit einem freundlichen Menschen über alte Zeiten zu
sprechen.916
Gleich am nächsten Tag traf er sich mit dem Chief of Station am Starnberger
See. Gehlen übergab ihm einen Stapel wichtiger Dokumente, mit denen seine
Falschaussagen vermutlich hätten widerlegt werden können. Dazu gehörten
Aufzeichnungen von Annelore Krüger über Gehlens Erinnerungen zur Befra­
gung von BND-Angehörigen durch die Mercker-Kommission; ein Brief von
Weiß an Gehlen vom Oktober 1967, durch den ein Treffen mit hochrangigen
deutschen Journalisten arrangiert wurde, die im engen Kontakt mit dem BND
standen; zwei Briefe, die den Versuch des Ostblocks zeigten, xxx (der Name ist
in dem CIA-Dokument geschwärzt) zu diffamieren, und ein Beispiel seien, wie
die östlichen Dienste versuchten, die deutschen Dienste zu verleumden. Die
Briefe seien von dem Dealer »Freischütz« kostenlos an Paul Limbach von der
Quick übergeben worden. Zum Gehlen-Paket gehörten außerdem Meldungen
des BND aus der Mitte der 1960er-Jahre mit Informationen über innenpoliti­
sche Operationen.917
Durch Vorlage eines amtsärztlichen Attests, das ihm Reiseunfähigkeit
bescheinigte, konnte Gehlen seinen Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss
weiter hinausschieben. Was ihn offenbar immer stärker beschäftigte, waren
nicht so sehr die persönlichen Vorwürfe, die sich auf die Vergangenheit bezo­
gen. Selbstzweifel oder Skrupel waren ihm ohnehin fremd, und wer wollte
ihm mit eindeutigen Beweisen seine Halbwahrheiten und Lügen widerlegen,

916 Bericht für Director Info, 6.10.1974, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Geh­
len_vol7_10F2, S.43.
917 Chief of Station for Chief European Division, 22.10.1974, ebd., S. 44.

1263
solange er seine wichtigsten Akten in seinem Heim versteckte? Der Grund
für seine Bitterkeit lag offenbar in der Diskussion über die Organisation des
BND. Es ging um sein Lebenswerk, wie er es sah, aber damit auch um sein
persönliches Bild in der Geschichte. »Geheimdienste lassen sich nicht wie
Behörden organisieren«, verkündete er sein Credo in einem Interview mit der
evangelisch-konservativen Wochenzeitung Deutsche Zeitung – Christ und Welt
am 18. Oktober 1974. Mit dieser scheinbar plausiblen Behauptung glaubte er
sich anscheinend gegen alle Vorwürfe gefeit.
Doch das Kanzleramt war dabei, Gehlen auf die Spur zu kommen. Der
Spiegel hatte von der Vermutung der SPD berichtet, dass vor der von Ehmke
angeordneten Aktenvernichtung alte BND-Kameraden auf Gehlens Wunsch
Kopien der Dossiers angefertigt und ins Ausland geschafft hätten.918 Im Vor­
feld der für den 19. November geplanten Zeugenvernehmung im Guillaume-
Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages forderte der Chef des
Bundeskanzleramts den Altpräsidenten auf, eine dienstliche Erklärung über
den Verbleib der Sonderkartei sowie der im selben Raum des BND aufbewahr­
ten Verfilmungen von 1962 nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst abzu­
geben.919
Gehlen kam dem Verlangen sofort nach, wohl auch, um seinen bevorste­
henden Auftritt, für den inzwischen die Aussagegenehmigung des Kanzler­
amts vorlag, in schriftlicher Form zu entlasten. Die Frage nach dem Schicksal
der Sonderkartei (den Dossiers zu einzelnen Politikern) nach seinem Aus­
scheiden könne er nicht beantworten. Er habe damals keinerlei Anweisung
zur Vernichtung gegeben, und ihm sei auch nicht bekannt, an wen die Kar­
tei weitergegeben worden sei, auch nicht, ob eine Verfilmung vorgenommen
wurde.
Gegen die Behauptung des Spiegel, er habe solche Unterlagen zeitweise
in seinem Privathaus aufbewahrt, habe er juristische Schritte eingeleitet.920
Wären damals Gehlens Kontakte mit der CIA bekannt geworden, hätte das zu
einem politischen und juristischen Desaster für ihn führen können – auch für
die CIA, die genau das befürchtete. Geschickt vermischte Gehlen die Fragen
nach der geheimnisvollen Sonderkartei und der Verfilmung von 1962, um zu
verschleiern, dass er sich heimlich eine Kopie aller wichtigen Akten des BND
angeeignet und offenbar ins Ausland verschleppt hatte.

918 Um Gehlens Dossiers, Spiegel 40/1974 vom 30.9., S. 22.


919 Schreiben Schüler an Gehlen, 13.11.1974, VS-Registratur Bka, Akte 5039, zu 113 00 (12)
Bd. 11 betr. 2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages – Guillaume, S. 8-9.
920 Schreiben Gehlens, 16.11.1974, ebd., S. 40 – 41. Siehe auch Gehlens Privatkartei, Spiegel
46/1974 vom 11.11., S. 22.

1264
Heute ist bekannt, dass die Sonderkartei mehr als 200 Personen betraf.
Die umfangreichste Akte galt Franz Josef Strauß!921 Gehlen benutzte sie in
einem speziellen Raum des Präsidentenhauses. Zugang hatte lediglich Anne­
lore Krüger, die auch nach Gehlens Ausscheiden den Bestand zunächst ver­
wahrte. Eine Übergabe durch Gehlen an Wessel fand nicht statt. Bald nach
seiner Amtsübernahme ordnete Wessel die Abwicklung der nicht auftrags­
gemäßen Unterlagen an. Ende 1969 informierte er dann das Kanzleramt und
ließ die Akten, soweit sie damals aufgefunden und zusammengestellt wer­
den konnten, vernichten.922 Es kann davon ausgegangen werden, dass Gehlen
einen Teil vor seinem Ausscheiden ausgesondert und in seinem Privathaus
versteckt hatte.
Am 19. November 1974 hatte Gehlen seinen großen Auftritt als Zeuge bei
einer Sitzung des Guillaume-Untersuchungsausschusses, die seinetwegen
ausnahmsweise im Bayerischen Landtag stattfand. Man gab ihm Gelegen­
heit, sich zunächst in längeren Ausführungen über seine frühere Tätigkeit
als Präsident des BND und die Eigenarten eines Auslandsnachrichtendiens­
tes zu äußern. Hier betonte er unter anderem, dass er die Verwendung von
Amtstiteln, einschließlich seiner eigenen Person, verboten habe, angeblich um
jeden Kastengeist auszutilgen – tatsächlich gehörte das zu seinen rigorosen
internen Geheimhaltungsmaßnahmen. Dann folgte die falsche Behauptung,
er habe der Bundesregierung nie Material über innenpolitische Zusammen­
hänge übermittelt. Die Fraktionsvorsitzenden hätten ihm stets besonderes
Vertrauen entgegengebracht, erklärte er und verwies auf die Sicherheitsbera­
tung für den Parteivorstand der SPD, zu der auch Inlandsermittlungen gehört
hätten – eine ziemlich dreiste Retourkutsche gegen die Regierungspartei, die
ihm jetzt Schwierigkeiten bereitete, zumal er den Umstand unterschlug, dass
er die SPD-Führung jahrelang ausspähen ließ.
Angesprochen auf den Mercker-Bericht leugnete Gehlen, dass es eine Ver­
trauenskrise im BND gegeben habe, erwähnte seinen Streit mit dem Kanzler­
amt und meinte, er hätte besser eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichen
sollen. Dabei war er es gewesen, der sich nach dem Abgang von Globke 1963
jahrelang erfolgreich gegen eine stärkere Dienstaufsicht durch das Kanzleramt
gewehrt hatte. Er sei jetzt 72 Jahre alt und habe keinen Ehrgeiz mehr (dabei

921 Das relativiert seine spätere Einlassung, er habe von Strauß immer viel gehalten. Von
allen Politikern, so Gehlen, sei er der fähigste und vitalste; Gehlen im Interview mit Elke
Fröhlich, 24.1.1972, IfZ, ED 100-68-156.
922 Siehe dazu im Einzelnen Bodo Hechelhammer: Die »Dossiers«. Reinhard Gehlens
geheime Sonderkartei; in: Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–
1968. Umrisse und Einblicke. Dokumentation der Tagung am 2. Dezember 2013, hg. von
der UHK, Marburg 2014, S. 81-90.

1265
setzte er im Hintergrund den Kampf gegen die Regierungspolitik fort). Ihn
treibe aber die Sorge um, dass die viele Arbeit, die in den Aufbau des BND
hineingesteckt worden sei, »völlig flöten« gehe.
Dann setzte er sich mit dem Vorwurf der Vetternwirtschaft auseinander.
Er wies darauf hin, dass es am Anfang notwendig gewesen sei, im Lager auch
die Ehefrauen als Sekretärinnen und Hilfskräfte zu beschäftigen. Er beschrieb
einzelne Fälle aus seinem familiären Umfeld, die er bereits in seinem Schreiben
vom 4. Oktober geschildert hatte. Darauf angesprochen, dass seine dienstli­
che Aussagegenehmigung festlege, dass er keine Personen aus der Arbeit des
Dienstes benennen dürfe, geriet er kurzfristig gedanklich ins Schleudern. Auf
sicherem Boden stand er wieder bei der Frage nach der Verfilmung von Akten
im Jahre 1962. Das sei für den Mob-Fall veranlasst worden. Was mit den Filmen
geschehen sei, müsse man seinen Nachfolger Wessel fragen. Ein Abgeordne­
ter wollte wissen: Wie konnte es passieren, dass nach dem Führungswechsel
der Nachfolger längere Zeit nicht über alle Außenstellen unterrichtet gewesen
sei? Gehlen erwiderte: Ihn habe damals der Staatssekretär Carstens gefragt,
wie lange eine solche Übergabe und Einweisung brauche. Er habe gesagt, ein
Jahr, es sei auch üblich, dass der alte Chef noch einiges vorübergehend weiter
regelt. Aber es habe geheißen, das gehe nicht, man müsse General Wessel so
schnell wie möglich aus Washington abberufen. Er habe erklärt, eine formale
Übergabe dauere vier Wochen, er wohne in der Gegend und stehe jederzeit zur
Beratung zur Verfügung. Wessel habe ihn aber niemals um Rat gefragt.
Die Kenntnis des Mercker-Berichts sei ihm verwehrt geblieben. Die darin
erwähnten Sonderverbindungen seien von ihm persönlich geführte Spitzen­
verbindungen gewesen. Die Unterlagen seien bei seinem Weggang vernichtet
worden. Ihm wurde vorgehalten, dass Wessel diese Sonderverbindungen als
weitgehend wertlos angesehen und abgeschaltet habe. Gehlen wich aus und
verwies darauf, dass er zwei Kandidaten für seine Nachfolge vorgeschlagen
hatte. Der Bundeskanzler habe sich dann für Wessel entschieden, obwohl
dieser neun Jahre außerhalb des BND gewesen sei.923 Deshalb habe er Wert
auf eine längere Übergangszeit gelegt. Es sei ein Fehler gewesen, die Sonder­
verbindungen abzuschalten. Solche Verbindungen müssten auf Vertrauen
aufbauen:

923 Die Rechnung Gehlens geht nicht ganz auf. Wessel war ab 1952 für drei Jahre im Amt
Blank für den G-2-Bereich, dann als erster Kommandeur des Amts für Sicherheit der
Bundeswehr bis September 1957 und anschließend bis 1962 als Unterabteilungslei­
ter II (Nachrichtenwesen) im Führungsstab der Streitkräfte im nachrichtendienstli­
chen Sektor des Militärs tätig gewesen. Danach übernahm er ein Truppenkommando
und wechselte schließlich zur NATO, bis er die Berufung zum Präsidenten des BND
1968 erhielt.

1266
Ich erwähnte schon die Ethik im Nachrichtendienst, was vielleicht komisch
klingt: Wenn Sie den Chef eines verbündeten Dienstes einmal belügen, dann
ist es aus. Man kann sagen: Tut mir leid, möchte ich Ihnen nicht sagen. Aber
wenn Sie ihn belügen, ist es aus.

Die Fragen zu Kurt Weiß und seiner Pressestelle, der durch seine Kontakte
auch innenpolitische Information erhalten habe, wimmelte er ähnlich ab.
Gehlen: Der hat mir manches erzählt. »Wo das hergekommen ist, das habe
ich nun nicht im einzelnen meist gefragt.« Er bestritt vehement eine gezielte
innenpolitische Aufklärung und verlegte sich auf die Schilderung einzelner
Episoden. Dabei erwähnte er zum Beispiel die Akte Grolmann. Gehlen: Er
kenne Helmuth von Grolmann von früher, der sei in der Operationsabteilung
gewesen und er habe ihn für einen vornehm denkenden und sehr ordentlichen
Charakter gehalten. Er sei auch mit dessen Frau aus schlesischer Zeit bekannt,
als sie noch nicht verheiratet waren und als damals diese nie völlig geklärte
Geschichte passierte (der Homosexualitätsvorwurf diskreditierte Grolmann,
sodass er das Amt des Wehrbeauftragten 1961 hatte aufgeben müssen). Des­
halb habe er die Akte geführt, denn er habe doch wissen müssen, ob er helfen
könne oder sich von ihm fernhalten musste. Er habe aber keine Aufträge an
seine Leute gegeben. Dass Grolmanns Privatleben ausspioniert worden sei,
habe sich wahrscheinlich von selbst ergeben, so seien die Leute erzogen. Er
nehme an, sein Bonner Vertreter habe im Kanzleramt nachgefragt. Auf den
Einwand, sein Vertreter Herr Langkau habe eine andere Begründung gegeben,
es habe sich nämlich um ein Sicherheitsrisiko gehandelt, deshalb habe der
BND das überprüfen müssen, gab Gehlen an, nichts Näheres zu wissen.924 Er
muss aber gewusst haben, dass der BND eigentlich nicht für die Überprüfung
von Parlamentariern zuständig war.
Gleich nach diesem schwachen Auftritt Gehlens erschien ein Interview
mit ihm in der SPD-nahen Münchener Abendzeitung.925 Unter der Überschrift
»Der General a. D. bangt um sein Lebenswerk« berichtete der Journalist Carl
Schmidt-Polex über seinen Besuch bei Gehlen in Berg, der besser informiert
gewesen sei als drei Bundeskanzler.
Gehlen gab sich besorgt über die vielen Offenlegungen in jüngster Zeit. Er
bestritt nicht die Existenz von Akten über Politiker, Wirtschaftsleute und Pro­
fessoren. Das seien vor allem Aktennotizen von Gesprächen gewesen. Außer­
dem enthielten sie Informationen über die Ostkampagnen gegen diese Leute,

924 Kurzprotokoll der 25. (nichtöffentlichen) Sitzung, 19.11.1974, VS-Registratur Bka, Bk


11300(12), Bd. 11, S. 1-153.
925 Münchener Abendzeitung vom 23./24.11.1974.

1267
worüber er rechtzeitig informieren wollte. »Delikate« Informationen hätten
ihn nicht interessiert. Gehlen verwies auf sein Vertrauensverhältnis zu Ade­
nauer, der misstrauisch gewesen sei. Es sei nicht der Dienst gewesen, der Ade­
nauer über die Vorliebe seines Vizekanzlers für Mulattenmädchen informiert
habe.926 1958 habe er Anweisung gegeben, die Personenakten in seinem Dok­
torhaus sicher zu lagern.
Gehlen sei 72 Jahre alt und mache einen überraschend frischen Eindruck,
trotz einer Marcumar-Kur zur Blutverdünnung, beschrieb ihn der Journalist.
Während des Interviews sei er in seinem Wohnzimmer auf und ab gegangen,
unter einem Foto des preußischen Generalstabschef Helmuth von Moltke und
einer Nachbildung des Schwertes von Karl V. – ob es nicht das goldene Schwert
aus den Händen des saudischen Königs gewesen ist? In diesem Zimmer lese er
viel, vor allem medizinische und naturwissenschaftliche Literatur. Der Kontakt
zu Pullach sei leider abgerissen. Der neue Stil beim BND sei ihm unverständ­
lich (offene Stellenanzeigen, Einträge im Telefonbuch). Gehlen verwahrte sich
gegen ehrenrührige Berichte, zum Beispiel zum Thema Waffenhandel.927 Man
habe nur beobachtet, nicht verdient, nichts sei geschehen, ohne andere Behör­
den zu informieren. Der BND habe früher einen hervorragenden Ruf gehabt.
»Ich habe den Dienst 1968 tadellos in Ordnung übergeben.« Den Vorwurf sei­
nes Nachfolgers, der BND sei die organisierte Desorganisation gewesen, halte
er für unglücklich formuliert. Ein Nachrichtendienst sei nun einmal keine
»Zivilbehörde«. Sein Buch Zeichen der Zeit werde in seiner Breitenwirkung
aus politischen Gründen gedrosselt. Er werde aber ein unbequemer Mahner
bleiben. Ostpolitik sei gut, aber ohne Illusionen, sagte der Mann, »der einmal
fast alle Geheimnisse kannte«.
Die Aussicht auf weitere peinliche Fragen im Guillaume-Untersuchungs­
ausschuss des Bundestages wird ihn in seinem halsstarrigen Selbstbewusst­
sein doch beeindruckt haben. Sein Überlebensinstinkt witterte Gefahr und riet
zur Vorsicht. Über seine Geliebte Annelore Krüger bat er um einen erneuten
Besuch des CIA-Agenten. Man traf sich in Frankfurt am Main. Der Amerikaner
spürte, dass der alte General einen Vertrauten suchte – bei dem er sicher sein

926 Gemeint war Franz Blücher, Vizekanzler 1949 -1957.


927 Der Spiegel hatte in der Ausgabe 47/1974 von der bevorstehenden Eröffnung eines Pro­
zesses gegen die Waffenhandelsfirma Merex berichtet. Der Verteidiger des Firmenchefs
Gerhard Mertins habe vor Gericht erläutert, die Geschäfte seien im Einvernehmen mit
dem BND zur Zeit des Kabinetts Erhard abgewickelt worden. Martins hatte daraufhin
Anzeige gegen Horst Ehmke erstattet, weil er bei seinen Aussagen vor dem Guillaume-
Ausschuss die Beteiligung des BND an früheren Waffengeschäften publik gemacht habe.
Die Staatsanwaltschaft Bonn stellte das Verfahren ein; siehe Mit Billetal und BND, Spie­
gel 47/1974 vom 18.11., und Datum: 16. Dezember 1974 Betr.: Staatsgeheimnis, Spiegel
51/1974 vom 16.12., S.3.

1268
Das Ehepaar Gehlen am 30. Januar 1975

konnte, dass sein größtes Geheimnis mit absoluter Verschwiegenheit behan­


delt werden würde. Gehlen erklärte, dass er in seinem Haus sichere Vorkehrun­
gen getroffen habe, um Bündel von Akten und Materialien vom BND aufzube­
wahren, die er für seine Forschungen brauchte. Eine Mikroverfilmung habe er
einer Person anvertraut (Bruder Johannes), eine Kopie einer anderen, der er
nicht mehr vertraue. In Frankreich gebe es zwei Schuhkartons voll mit Mikro­
filmen. Gehlen bat darum, dass die CIA die Kartons aus Frankreich zurückhole
und an sicherer Stelle verwahre. Der Agent vermutete, dass es sich um Mikro­
filme handelte, die vor Jahren für eine Evakuierung nach Spanien angefertigt
worden waren und die Gehlen von dort an sich genommen habe, als er den
BND verließ. Vermutlich handelte es sich um wichtige Korrespondenz aus den
Jahren zwischen 1946 und 1968. Auf die Frage, warum Gehlen gerade jetzt die
Verlagerung durchführen wolle, erklärte er, er sei besorgt, dass dieses Material
im Zusammenhang mit seinem Auftritt beim Guillaume-Untersuchungsaus­
schuss beschlagnahmt werden könnte.
Der Agent besorgte sich daraufhin zwei Schließfächer bei der Deutschen
Bank in München und wollte den Transport von Frankreich in den nächsten
Tagen durchführen. Gehlen gegenüber hatte er angekündigt, er werde einige
Beispiele aus dem Inhalt zum nächsten Treffen mitbringen, aber keinen Ver­
such machen, die Pakete zu öffnen, bis klar sei, was laufe. Der Amerikaner

1269
bat intern um Kommentare von jenen, die Gehlen und den BND kannten, ob
man jedes Risiko eingehen sollte, um diese Unterlagen einzusehen bzw. zu
kopieren.928 Das Hauptquartier wies daraufhin an, dass der Versuch unternom­
men werden solle, die Papiere in die Hand zu bekommen, weil es sich dabei
vermutlich nicht um Alltagsroutine handle, sondern um deutsche Personen­
informationen.
Bei der CIA wunderte man sich schon darüber, warum Gehlen im Zusam­
menhang mit der Guillaume-Affäre eine Beschlagnahme seines Materials
befürchtete, wenn es doch in Frankreich und Italien sicher verwahrt sei.
Warum es dann also nach München schaffen? Man habe Gehlen vor zwei Jah­
ren eine Kamera übergeben, weil er seine Unterlagen selbst kopieren wollte.
Dann habe man nichts mehr von ihm gehört. Vor einigen Monaten sei dann
die Ausrüstung zurückgegeben worden. Man sollte besser nicht versuchen,
in sein Material Einblick zu nehmen, denn es betreffe mit Sicherheit keine
aktuellen Operationen. Es könnte aber in der gegenwärtigen Atmosphäre der
Guillaume-Untersuchungen und der Presserecherchen über vergangene Akti­
vitäten des BND politisches Dynamit sein. Intern gab es außerdem Bedenken,
dass es sich um Material handeln könnte, mit dem ein verbitterter alter Mann
Zurückschlagen wolle gegen jene, die angeblich beabsichtigten, seinen Dienst
zu zerstören.929
Die CIA sorgte dafür, dass Gehlens Material schleunigst zusammengetragen
und sicher verwahrt wurde. Da Gehlen selbst keine Andeutungen über den
Inhalt gemacht hatte, rätselten die Amerikaner über den Vorgang und seine
Bedeutung. Sie waren offenbar besorgt, dass im Falle einer möglichen Haus­
durchsuchung bei Gehlen der Verdacht auf seine Kontaktleute bei der CIA fal­
len könnte.930
Die zögerliche Freigabe des Protokolls der Vernehmung Gehlens im Unter­
suchungsausschuss animierte den Spiegel zum Nachsetzen. Unter der Über­
schrift »Fleißige Familie« berichtete das Nachrichtenmagazin, dass der Aus­
schuss Einblick in die Vetternwirtschaft beim BND erhalten habe. Herbert
Rieck, seit 1970 Personalchef des BND, sei aus der Hamburger Hochschulver­
waltung gekommen und habe nicht schlecht gestaunt: Der Vater jagt Spione,
die Mutter schreibt seine Berichte, Söhne, Töchter, Schwiegersöhne sammeln
Zeitungsberichte oder tippen Schreibmaschine. Gehlen allein habe 16 Ver­
wandte in den Dienst gehievt. Ein Schwiegersohn sei gescheitert, ebenso
andere Verwandte wie »Giovanni«. Rieck sagte aus, er habe auch zahlreiche

928 Chief of Station für Director Info, vom 30.10.1974, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol7_10F2, S. 45 – 46.
929 Fernschreiben, 31.10.1974, ebd., S.48,51-52.
930 Chief of Station for Director Info, 1.11.1974, ebd., S. 36-37.

1270
Verwandte von anderen Gehlen-Getreuen an die Luft gesetzt, was schwierig
gewesen sei, weil sie sich in 15 Jahren Anrechte erdient hätten. Es handelte sich
insgesamt um rund 130 Fälle.

Viele wurden nur selten in der Dienststelle gesehen, andere zerschnippel­


ten ausländische Zeitungen und bereiteten sie zu neuesten BND-Meldungen
auf. Dafür kassierten die Agenten einschließlich ihrer teilzeitbeschäftigten
Verwandten noch mehr als nur Gehälter. Es fanden sich fingierte Hotel- und
Arztrechnungen, großzügig wurden Gefalligkeitshonorare gezahlt und Reise­
kosten-Zuschüsse vergeben.

Die ganze Wahrheit stünde im Mercker-Bericht, der liege aber unter Verschluss
im Panzerschrank des Kanzleramts.931
Die CIA blieb an den Dossiers interessiert, über die Gehlen möglicherweise
noch verfügte. Bei einem Treffen mit Herre am 19. Dezember 1974 wollte man
Hintergrundinformationen über die umlaufenden Presseberichte. Gehlens
ehemaliger Verbindungsmann zu den Amerikanern bestätigte, dass Gehlen
seit 1944 zusammen mit SD- und Abwehroffizieren der Meinung sei, dass die
Attentäter vom 20. Juli mit der »Roten Kapelle« identisch oder doch eng ver­
knüpft gewesen seien. Aufgrund von Funksprüchen aus der Schweiz habe man
Agenten identifizieren können, darunter Ernst Lemmer, später Mitbegründer
der CDU und Bundesminister. Bis heute sei Gehlen überzeugt, dass Lemmer
und Jakob Kaiser932 Sowjetagenten waren und der Topagent Martin Bormann
gewesen sei, der noch lebe und dem es in Moskau gut gehe.933 Nach Herre hät­
ten westliche Dienste anfänglich Gehlens Vermutung unterstützt, die Briten
aber als Erste ihre Meinung geändert, einige Jahre später auch die Franzosen.
Zu den Amerikanern sagte Herre nichts. In Verfolgung der Theorie Gehlens
habe der Dienst viele Jahre eine Fülle von Informationen über verschiedene
Politiker etc. gesammelt. Er selbst habe einige Jahre lang Akten über Wider­
ständler wie Hans Bernd Gisevius, Fabian von Schlabrendorff studiert, ebenso
»Rote Kapelle«-Informationen. Sein Eindruck sei gewesen, dass der sowjeti­
sche Nachrichtendienst in NS-Deutschland nicht sehr wirksam gewesen sei

931 Fleißige Familie, Spiegel 36/1974 vom 2.9., S. 24-25.


932 Jakob Kaiser war ein bedeutender Politiker der katholischen Zentrumspartei in der
Weimarer Republik, gehörte zum gewerkschaftlichen Widerstand gegen den National­
sozialismus und wurde zum Mitbegründer der CDU und Gegenpol zu Adenauer.
933 Dieser Unsinn ist längst widerlegt. Bormanns Leiche wurde im Dezember 1972 in Berlin
entdeckt. Durch DNS-Analyse wurde seine Identität 1998 endgültig bewiesen. Er war in
der Nacht zum 2. Mai 1945 bei einem Ausbruchsversuch in der Nähe des Lehrter Bahn­
hofs gescheitert und hatte eine Giftkapsel zerbissen.

1271
und wenig Beachtung in Moskau gefunden habe. Sowjetische Informanten
seien allenfalls in Randzirkeln des Widerstands zu finden gewesen.
Es sei Herre nicht gelungen, Gehlen von seinen Ergebnissen zu überzeugen,
obwohl die westlichen Nachrichtendienste diese teilten. Gehlen habe auch
nach der Gründung der Bundesrepublik Nachforschungen anstellen lassen.
Als dann in den 1950er-Jahren Globke Pullach besuchte, habe er sofort sein
eigenes Dossier mit sich genommen und angeordnet, dass Gehlen alle Dossiers
in der Zentrale unterbringt. Die angebliche Enttarnung Otto Johns habe Geh­
len in seinen Annahmen bestärkt, dass alle Anti-Nazi-Widerständler Sowjet­
agenten gewesen seien. Für eine gewisse Zeit sei die Org der einzige Nachrich­
tendienst für Inland und Ausland gewesen. Nach der Reorganisation des BfV
sei die Sammlung von Informationen zu Gehlens Theorie eine exklusive Ange­
legenheit für diesen selbst geworden. Als Wessel die Nachfolge antrat, habe er
kein Interesse für die Sammlung gezeigt, habe allerdings auch nichts zu ihrer
Zerstörung unternommen. Das könnte der größte Fehler seiner Karriere sein.
Auf die Frage, ob der Dienst auch in den späten 1960er-Jahren Informationen
über Bonner Politiker gesammelt habe, erklärte Herre, die Fälle Egon Bahr und
Herbert Wehner bildeten eine andere Kategorie. Wegen seiner kommunisti­
schen Vergangenheit sei das Dossier über Wehner noch aktiv.934
Die CIA war jetzt jedenfalls mit an Bord der Vertuschungsaktion. Der Agent
suchte Gehlen am zweiten Weihnachtstag auf und berichtete ihm, dass die
Materialien sicher in den Schließfächern seien. Er habe die Pakete aber anders
aufteilen müssen, um sie dort unterzubringen. Gehlen zeigte sich zufrieden.
Es seien die gesamten Unterlagen des Strategischen Dienstes. Wenn sich die
Dinge beruhigt hätten, sollte Fräulein »Kunze« ebenfalls Zutritt zu den Unter­
lagen erhalten. Die meiste Zeit sprach er über sein neues Buch, mit dem er
operative Erfolge enthüllen wolle, und bat um Kooperation. Er werde das
Material bereitstellen, der Agent solle größtenteils das Schreiben überneh­
men. Er werde im Februar eine Besprechung mit seinem Verleger haben und
sich dann an ihn wenden.935 Aus dieser Idee Gehlens wurde nichts. Und der
Münchener CIA-Agent hielt es angesichts des hohen Interesses der Presse für
besser, den Kontakt vorerst zu meiden.
Dazu trug auch Gehlens zunehmende Erkrankung bei. Annelore Krüger
berichtete Mitte März 1975 der CIA, dass er mit ernsthaften Prostataproblemen
ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. Die Operation solle zeigen, ob Krebs
vorliege. Dabei ließ sich der Agent von ihr bestätigen, dass es keine Regelung

934 Bericht für Director Info, 21.12.1974, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard
Gehlen_vol7_10F2, S. 60.
935 Bericht für Director Info, 14.1.1975, ebd., S. 64.

1272
für die Akten des Strategischen Dienstes für den Fall gab, dass Gehlen sterben
sollte oder nicht mehr aktiv wäre.936 Trotz des zutiefst gestörten Verhältnisses
zu seinem Vorgänger sandte Präsident Wessel Anfang April – comme il faut –
Glückwünsche zum Geburtstag. Als Geschenk hatte er das neueste Buch des
Historikers und Zeit-Journalisten Hansjakob Stehle, Die Ostpolitik des Vatikans,
ausgewählt – Stehle gehörte »zu den publizistischen Wegbereitern der Versöh­
nungspolitik Willy Brandts«.937 Es war wohl der vergebliche Versuch, Gehlen
von seiner halsstarrigen Obstruktionspolitik abzubringen. Dieser hatte gerade
im Rheinischen Merkur gegen den Vatikan gewettert, er glaubte, das »Ende des
geistigen Abwehrkampfes der Kirche gegen die atheistisch-kommunistische
Welt und deren Ideologie erkannt zu haben«.938
Das Geburtstagskind bedankte sich dennoch artig bei seinem Nachfol­
ger und bekannte, er kenne den Autor und seinen Standpunkt nicht, sei aber
neugierig. Persönlich vertrete er die Auffassung, dass »in allen Fragen, die
den Kommunismus angehen, ein absolut klarer, ablehnender Standpunkt
die Grundlage sein muß, vor allem, wenn die Dinge auf religiösem Gebiet lie­
gen. Dieses schließt cum grano salis die Suche nach einem zeitlich gebunde­
nen modus vivendi nicht aus.«939 Das klang an sich vernünftig, vielleicht der
lebensbedrohenden Situation Gehlens im Krankenhaus geschuldet.
Aber der General zeigte sich entschlossen, seinen politischen Kampf fortzu­
setzen. Dieses Mal über seine Ehefrau, die zugleich mitteilte, dass sich der Ver­
dacht auf Prostatakrebs bestätigt habe, bat Gehlen noch vom Krankenbett aus
um ein Gespräch mit dem CIA-Agenten, um über sein geplantes neues Buch
zu sprechen.940 Er habe kürzlich mit seinem Verleger konferiert, der ihn unter­
stützen wolle, das Buch zu veröffentlichen. Auf seine Frage nach seinen Akten
wurde ihm versichert, dass sie in Sicherheit seien. Er gab zu, dass sie noch in
seiner aktiven Dienstzeit im Büro von Fräulein »Kunze« verfilmt worden seien
und dass sie die entsprechenden Akten ausgewählt habe. Gefragt, was mit den
Akten geschehen solle, falls ihm etwas passierte, erklärte er lachend, dann
würde er sie dem CIA-Mann geben, damit er sie los wäre. Er fügte dann ernst­
haft hinzu, Fräulein »Kunze« wisse, dass der CIA-Agent sie habe und werde sie,
falls ihm etwas passierte, zurückziehen und vernichten. Genauso könnte es
vier Jahre später nach seinem Tode geschehen sein. Allerdings kann vermutet
werden, dass eine Kopie bei der CIA geblieben ist.

936 Bericht für Director Info, 13.3.1975, ebd., S. 66.


937 Nachruf in der Zeit 7/2015 vom 12.2., S. 2.
938 Zit. nach: Franceschini/Wegener Friis/Schmidt-Eenboom, Spionage, S. 94.
939 Gehlen an Wessel, 15.4.1975, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 86.
940 Bericht vom 28.4.1975, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_
vol7_10F2, S. 68-69.

1273
Reinhard Gehlen, 1975

Mitte Mai konnte der Agent berichten, dass er einen geselligen Besuch
bei Gehlen gemacht habe. Nach seinem Krankenhausaufenthalt sehe dieser
dünn, blass und schwach aus. Seine Rede sei zusammenhanglos gewesen,
aber immer jene attackierend, die den BND dahin gebracht hätten, dass es zu
Ende sei. Wenn er wieder zu Kräften komme, werde er sich um das neue Buch
kümmern, für das er noch nichts arrangiert habe.941 In den nächsten Wochen
musste der General aber vermutlich seine Aktivitäten drosseln und auf Scho­
nung bedacht sein.
Zwei Monate später, Mitte Juli, kam es zu einem weiteren Treffen mit »uti­
lity«. Er sei sichtbar älter mit Anzeichen einer gewissen Erholung von einer
sehr ernsten Krankheit, berichtete der Agent. Gehlen sei dünner geworden und
gehe sehr langsam. Dennoch bestand er darauf, ihn zum Abschluss bis zum
Gartentor zu begleiten. Der General sprach über seinen lange gehegten Ver­
dacht, dass eine sowjetische Verschwörung hinter allem Negativen stecke, was
in der westlichen Welt passiere. Er wollte den Agenten davon überzeugen, dass
auch hinter den Vorwürfen gegen den BND, innenpolitische Aufklärung betrie­
ben zu haben, letztlich der KGB stecke. Er zeigte sich besorgt darüber, dass die
politischen Ernennungen Pullach infiltriert hätten, und verwies darauf, dass
die Org damals Kontakte mit allen Parteien gehabt habe. Trotz des Verfalls
seiner physischen Kräfte sei Gehlen hellwach und sich der aktuellen Probleme

941 Bericht für Director Info, 15.5.1975, ebd., S. 70.

1274
bewusst gewesen. Der Agent zeigte sich beeindruckt von dessen Selbstdiszi­
plin. Zweifellos sei er eine Person passe, er bleibe aber eine Figur mit Kontak­
ten zu konservativen Kreisen. Deshalb sollte man die Verbindung zu ihm hal­
ten. Der Amerikaner gab ihm eine Kopie des Rockefeller Commission Report.
Parallel zu den Vorwürfen der Inlandsaufklärung durch den BND war in den
vergangenen Monaten auch in den USA ein ähnlicher Vorwurf gegen die CIA
erhoben worden. Die von US-Präsident Gerald Ford eingesetzte Kommission
bestätigte einige Missbräuche, diente aber wohl nach heutiger Erkenntnis vor
allem dazu, die CIA reinzuwaschen. Ähnliches hätte sich wohl auch Gehlen für
den BND gewünscht. Gegenüber dem Agenten betonte er abschließend, dass
er ein loyaler Freund der CIA bleibe und bereit sei, nach Kräften zu helfen.942
Damit verdrängte Gehlen, dass er eigentlich selbst Hilfe brauchte. Er lebe
zwar, wie der Agent berichtete, komfortabel in seinem bescheidenen, einfa­
chen Haus an einem wundervollen See, aber er leide offensichtlich unter einer
weitgehenden Isolation, in die er sich in seinem aussichtslosen politischen
Kampf selbst manövriert hatte. Seine Kontakte zu konservativen Kreisen und
vor allem seine Gesundheit erlaubten es nicht mehr, sich in das politische
Tagesgeschäft zu stürzen. Dieses Mal ohne seine Mitwirkung im Hintergrund
geriet er im Herbst 1975 noch einmal in einen Pressewirbel. Das Hamburger
Abendblatt berichtete über das angebliche Projekt einer Verfilmung der Geh­
len-Memoiren und geheime Geldgeber. Jungfilmer Erik Cotta (29), so hieß es,
plane für 18 Millionen D-Mark einen filmischen »Supercoup« über das Leben
des legendären Geheimdienstgenerals Gehlen, »gegen den alle Streifen über
James Bond 007 verblassen sollen«. Die Finanzierung sei gesichert, doch Ken­
ner der Branche hielten es für möglich, dass der »alte Fuchs vom Starnberger
See«, der bislang mit den raffiniertesten gegnerischen Agenten fertiggeworden
sei, sich diesmal wie ein Greenhorn überfahren ließ. Cotta habe bislang keinen
Film zustande gebracht und erklärt, dass ein großer amerikanischer Verleih
den Film verbreiten werde. Der Verleger Hansen erklärte, als Finanziers stün­
den die Rothschilds bereit. Cotta behauptete, er habe die Persönlichkeitsrechte
Gehlens gekauft und notariell abgesichert. Aus dem Umfeld der Familie aber
sei verlautet, der General wisse von der ganzen Aktion nichts. Cottas Behaup­
tung, das Projekt sei mit mehreren Nachrichtendiensten abgesprochen, werde
vom BND nicht bestätigt. Dort habe man die Befürchtung, dass mit Gehlen
einer dieser Nazi-Horrorstreifen gestrickt werden könnte. Verleger Hansen
habe die Filmrechte bereits weiterverkauft und Cotta angekündigt, es werde
der große Filmknüller des Jahres 1977.943

942 Chief of Station for Chief European Division, 12.8.1975, ebd., S. 71-72.
943 Hamburger Abendblatt vom 9.10.1975, Faksimile, ebd., S. 73.

1275
Das veranlasste den Chef des Kanzleramts, sich direkt an Gehlen zu wen­
den. Der BND sei wiederholt durch öffentliche Erörterung dienstlicher Vor­
gänge ins Gerede geraten, schrieb Manfred Schüler. Chefs der Nachrichten­
dienste und Mitarbeiter seien zu besonderer Verschwiegenheit verpflichtet
und zur Zurückhaltung bei politischer Betätigung auch nach Ausscheiden aus
dem aktiven Dienst. »Ich darf Ihnen diese Grundsätze in Erinnerung rufen.«
Nach dieser Ermahnung verwies er auf die Pressemeldungen zur Absicht, Geh­
lens Memoiren zu verfilmen. Sollte das zutreffen, wäre es nicht mit der Pflicht
zur Amtsverschwiegenheit zu vereinbaren. Die Frage sei außerdem, ob alles
Aktenmaterial aus seinem Werkvertrag zurückgegeben sei und ob sich noch
anderes in seinem Besitz befinde.944
Gehlen antwortete, er sei sich seiner Verpflichtungen bewusst und habe
sich stets daran gehalten. Wenn er in der Presse angegriffen werde, sei das
nicht seine Schuld. In seinen Memoiren seien nur Tatsachen verwendet wor­
den, die bereits vorher in der Presse bekannt gewesen seien. Dann kam der
Gegenangriff: im Gegensatz zur Spiegel-Serie »Pullach intern«, die amtlich
unterstützt worden sei und bisher streng geheime Dinge ausgeplaudert habe,
wie etwa die gemeinsamen deutsch-britischen Schnellbooteinsätze. Im Hin­
blick auf eine Verfilmung seiner Memoiren sei ihm nichts bekannt. Akten aus
seinem Werkvertrag habe er nicht mehr (Randbemerkung Bundeskanzleramt:
»u. andere?«). Er verfuge nur über einige persönliche Akten aus der Zusam­
menarbeit mit den Amerikanern vor Aufstellung des BND. Die betrachte er als
sein persönliches Eigentum (sic!).945
Schüler setzte nach. Durch eine interne Arbeitsgruppe ließ er vier Jahre
nach dem Ende von Gehlens Werkvertrag feststellen, dass alle Aktenanfor­
derungen der »Gruppe Bohlen« über den persönlichen Referenten Wessels
gelaufen waren. Das Kanzleramt hatte zum Schluss aber keinerlei Erkennt­
nisse über eine formelle Übergabe von Akten an Gehlen oder über deren Rück­
gabe, ebenso wenig darüber, ob er noch über Akten verfügte, die ihm zum
Zwecke der Studie übergeben worden waren. Die Gruppe sollte außerdem
prüfen, ob die dienstliche Materialsammlung womöglich eine Vorarbeit für
Gehlens privaten Dienst gewesen sei, was zumindest teilweise bejaht werden
konnte.946
Der Chef des Kanzleramts verfasste daraufhin ein geharnischtes Schreiben
an Gehlen. Man sei im Unklaren gelassen worden, ob er nicht doch in irgend­
einer Form an einem Film mitwirke. Die Aktenfrage sei auch nur zum Teil

944 Schüler an Gehlen, 8.10.1975, VS-Registratur Bka, Bk 15102(107), Bd. 1, Blatt 119.
945 Antwort von Gehlen, 16.10.1975, ebd., Blatt 121-122.
946 Erwähnt in Ref. 62 betr. Memoiren des Präs./BND a. D. Gehlen, 20.12.1977, ebd., Bd. 2,
Blatt 33.

1276
beantwortet. Habe er nicht noch andere Akten aus seiner Zeit als Präsident
des BND? Den persönlichen Besitzanspruch könne man nicht anerkennen.
Gehlen habe eine Auskunftspflicht und müsse Vertretern des BND Zugang und
Prüfung ermöglichen. Seine Behauptung hinsichtlich des Spiegel widerspreche
völlig den Tatsachen. Lediglich der Vorabdruck der Serie habe dem damali­
gen Kanzleramtschef und dem BND-Präsidenten zur Prüfung vorgelegen. Der
Spiegel habe auf ausdrückliche Warnung des Kanzleramtschefs vor rechtlichen
Gegenmaßnahmen auf die Veröffentlichung einer Reihe von Interna des BND
verzichtet.947
Gehlen wich aus, wie er das bei ernsthaftem Widerstand gewöhnlich tat. Er
teilte Schüler sein Bedauern mit, dass seine Antwort offenbar nicht befriedigt
habe, und kündigte an, dass er nach den Feiertagen zu allen gestellten Fra­
gen ausführlich antworten werde. Er werde zunächst Rücksprache mit dem
Verleger nehmen, der womöglich über Filmrechte verhandelt habe. Er könne
sich selbst jedenfalls nicht an Gespräche mit Cotta erinnern, und wie er zu sei­
ner »offenbar irrtümlichen Auffassung« zu »Pullach intern« kommen musste,
werde er dann auch ausführlich beantworten.948 Doch nun schaltete sich am
Jahresende Wessel persönlich ein. Nach einer Tasse Tee und einem kurzen
Gespräch über Familien und Kinder zusammen mit Frau Gehlen sprachen die
beiden einstigen Kameraden unter vier Augen. Reinhard Gehlen begann mit
der Behauptung, dass »offensichtlich noch immer Kräfte am Werke seien, die
ihn quasi verfolgten«. Damit meinte er namentlich seine früheren Aufpasser
im Kanzleramt Bachmann und Koester. Dann verwies er auf seinen Streit mit
einem Teil der Presse, insbesondere der Illustrierten Stern, gegen die er zu pro­
zessieren beabsichtigte. Wessel hielt dagegen, dass man auf solche »Pressege­
schichten« besser überhaupt nicht reagieren sollte. Man wisse doch, was man
von Stern, Quick oder Spiegel zu halten habe.
Dann sprach Gehlen den Briefwechsel mit dem Chef des Kanzleramts an
und erklärte, er verstehe überhaupt nicht, weshalb Schüler verärgert sei – viel­
leicht über seine Behauptung, die Spiegel-Serie sei amtlich unterstützt worden.
Wessel erinnerte seinen Vorgänger daran, dass er ihm bereits früher den Ver­
fahrensgang bei der Begleitung der Serie durch den BND geschildert hatte. Die
Verständigung mit Carstens und Ehmke, die Entwürfe zur Kenntnis zu neh­
men und Änderungen vornehmen zu können, sei das »kleinere Übel« gewesen,
weil so Schlimmeres verhütet werden konnte. Gehlen gab an dieser Stelle nach
und erklärte sich bereit, in seinem nächsten Brief an Schüler seinen Vorwurf
zu widerrufen.

947 Schüler an Gehlen, 12.12.1975, ebd., Blatt 123 -124.


948 Gehlen an Schüler, undatiert, Eingang Bka 28.12.1975, ebd., Blatt 125 -126.

1277
Schließlich sprachen beide auch über das Filmprojekt. Wessel bestätigte
den Eindruck, dass Gehlen in seiner bisherigen Stellungnahme »ein Herumge­
hen um den Kern« betreibe. Gehlen bestritt das und erklärte, dass er »zumin­
dest zunächst nicht die Absicht« habe, an einem solchen Projekt mitzuwirken.
Der wichtigste Streitpunkt war allerdings die Aktenfrage. Wessel versuchte Ver­
ständnis dafür zu wecken, dass der Chef des Kanzleramts von der Sorge getrie­
ben werde, was bei dem bevorstehenden Bundestagswahlkampf noch aus Geh­
lens Akten in die Öffentlichkeit gebracht werden könnte. Auch hier gab Gehlen
etwas nach und verständigte sich mit seinem Nachfolger über ein Verfahren,
um die von ihm verwahrten Unterlagen zumindest listenmäßig zu erfassen.
Dann verwies er darauf, dass er nun bald 74 Jahre alt sein werde und »derzeit«
keine Absicht habe, noch irgendetwas zu veröffentlichen – sollte es ein ernst
gemeinter Vorsatz gewesen sein, dann hat er ihn bald wieder umgestoßen.
Wessel gewann von Gehlens Gesundheitszustand einen ausgesprochen
negativen Eindruck. Nach Augenproblemen seit der Pensionierung, nach spä­
teren Herzbeschwerden und der jetzigen Operation sehe er sehr blass und
mager aus. Er habe gewisse Schwierigkeiten beim Sprechen und lebe vom Geis­
tigen her weitgehend »noch in den ihn wie ein Trauma verfolgenden Gedanken
geheimer Intrigen und Angriffe gegen ihn und den Dienst, die von den Sowjets
gesteuert« seien.949
Nach seiner Verständigung mit Wessel schrieb Gehlen erneut an den Chef
des Kanzleramts.950 Er teilte mit, dass sein Verlag keine Kontakte zur Cotta-
Filmgesellschaft, wohl aber zur Commerz-Film-GmbH habe. Er habe seiner­
zeit dem Verlag Hase und Kohler die ausschließlichen Werknutzungs- und
Verfilmungsrechte für sein Buch eingeräumt. Im Kern musste er also bestäti­
gen, dass es ein Filmprojekt gab, allerdings bestand Gehlen darauf, dass man
wegen einer persönlichen Mitwirkung nicht an ihn herangetreten sei. Hinsicht­
lich der Akten blieb er dabei, seine Unterlagen aus der Zeit der Zusammenar­
beit mit den Amerikanern vor Aufstellung des BND als persönliches Eigentum
zu betrachten. Wenn das Kanzleramt eine andere Rechtsauffassung vertrete,
möge es sie begründen, damit er seine eigene überprüfen könne. Unabhängig
davon sei er mit einer Sichtung der noch bei ihm vorhandenen wenigen Akten
einverstanden. Was Schüler noch nicht wusste: Er habe sich deshalb mit Wes­
sel in Verbindung gesetzt. In dessen Auftrag habe der Leitende Regierungs­
direktor Dr. Werner Heyl inzwischen 16 Leitzordner (Zeitraum 1946-1956),
außerdem elf Hefter mit dem Entwurf seiner Abschlussausarbeitung für den
Werkvertrag mit dazugehörendem Material angesehen. Allerdings hatte Geh­

949 Gesprächsnotiz Wessels über den Besuch bei Gehlen, 30.12.1975, BND-Archiv, N 1/81.
950 Gehlen an Schüler, 23.1.1976, VS-Registratur Bka, Bk 15102(107), Bd. 1, Blatt 127-129.

1278
len bei diesem Besuch darauf bestanden, die von ihm aufbewahrten Akten
der Vorläuferorganisation nicht an das Kanzleramt, sondern nur an den BND
abgeben zu wollen. Das sollte nach seinem Tode für alle aufgelisteten Unter­
lagen gelten.951 Es galt also nicht für alle. Gehlen blieb im Grunde bei seinem
Standpunkt, den Anspruch des Kanzleramts auf Herausgabe von Akten, die er
nur »treuhänderisch« aufbewahrt hatte und nicht juristisch als sein Eigentum
betrachten durfte, über die er aber seiner Meinung nach später »von Todes
wegen frei verfugen könnte«, abzulehnen.
Um seine kritische Äußerung zu »Pullach intern« zu erklären, behauptete
Gehlen, dass ihn damals ein leitender Mitarbeiter des BND in Bachhausen,
seinem Dienstsitz während der Abschlussarbeit nach dem Ausscheiden, auf­
gesucht und mitgeteilt habe, der Staatssekretär des Kanzleramts sei an mehr
PR für den Dienst interessiert, es solle daher eine Spiegel-Serie erscheinen. Der
Besucher regte damals an, Gehlen möge sich für ein Interview mit Zolling oder
Höhne zur Verfügung stellen, er selbst habe zu Zolling gute Verbindungen.
Gehlen habe aber abgelehnt. »Von Herrn Präsident Wessel habe ich [gerade]
zur Kenntnis genommen, dass das Zustandekommen der Serie nicht amtlich
unterstützt worden sei.« Nach dieser Mitteilung Gehlens bestätigte Schüler,
dass Wessel ihn über die Rückgabe der 16 Ordner unterrichtet habe. »Die
Sache ist damit abgeschlossen.«952 Sie ist bis heute nicht abgeschlossen!
Mit einem Rundbrief an alle Mitarbeiter zum 1. März 1976 erinnerte Präsi­
dent Wessel an die erste Manifestation eines deutschen Nachrichtendienstes
nach dem Krieg 30 Jahre zuvor, indem er an das angebliche Gentlemen’s Agree­
ment Gehlens mit US-General Sibert erinnerte. Vor 20 Jahren sei dann der BND
entstanden. Damit habe sich die ursprüngliche Idee verwirklicht (die er selbst
mitgetragen hatte). Wessel erinnerte an jene Mitarbeiter, die in Ausübung ihres
Dienstes die eigene Freiheit verloren hatten. Manche hätten sich in ihrer Arbeit
aufgerieben und die Gesundheit eingebüßt. »Ihre Opfer sind uns Vorbild und
Verpflichtung«. Jetzt beginne ein neues Jahrzehnt.953 Offenbar lag ihm daran,
einen endgültigen Schlussstrich unter die Ära Gehlen zu ziehen. An Gehlen
schrieb er, er habe aus verschiedenen Gründen Abstand davon genommen, am
1. April des 20-jährigen Bestehens des BND zu gedenken.954
Im Herbst des Jahres hatte Gehlen noch einmal Gelegenheit, sich an diese
frühe Phase der Org zu erinnern, in der er unter schwierigsten Bedingungen
seine wohl größten Verdienste erworben hatte. Das Militärgeschichtliche For­

951 Vermerk Dr. Heyl betr. Besuch bei General a.D. Gehlen am 19.1.1976, BND-Archiv,
N 13/2, Blatt 66.
952 Schüler an Gehlen, 17.3.1976, VS-Registratur Bka, Bk 15102(107), Bd. 1, Blatt 131.
953 Rundbrief Wessels, 1.3.1976, BND-Archiv, N 1/173.
954 Wessel an Gehlen, 29.3.1976, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 93.

1279
schungsamt (MGFA) der Bundeswehr hatte ihm einen Fragenkatalog zur Wie­
derbewaffnung geschickt. Über seine Antworten unterrichtete Gehlen sogar
seinen Nachfolger Wessel, mit dem er in dieser Phase eng zusammengearbeitet
hatte.955 Zum »Ruhestand« neigte der General trotz seiner gesundheitlichen
Belastungen keineswegs. So suchte er Zuspruch und Anerkennung in den Tie­
fen seiner Biografie. Vielleicht war das für ihn ein Weg versöhnlicher Erinne­
rung und des Rückzugs aus der Tagespolitik.
Er wandte sich an seinen alten Kameraden Leo Hepp. Ihm schrieb Gehlen
jetzt von einer neuen Idee. Die Arbeit des Ic-Dienstes im Zweiten Weltkrieg
sei bisher noch nirgends gewürdigt worden, sondern zum Teil von Ignoranten
aus politischen Gründen, etwa im Spiegel, mit unwahren Behauptungen ver­
unglimpft worden. Er habe lückenlos die täglichen Feindbeurteilungen und
die monatlichen großen Feindbeurteilungen von FHO in seinem Besitz, die er
während des Krieges als persönliche Akten geführt und später von den Ameri­
kanern zurückerhalten habe. Sein Verleger Hansen habe angeregt, daraus eine
Dokumentation zu machen. Das MGFA sei zur Zusammenarbeit bereit, aus
politischen Gründen könne er aber nicht selbst als Herausgeber auftreten –
eine kluge Einsicht. Gehlen bat Hepp, das zu übernehmen. Er habe doch in
Bundeswehr eine Spitzenposition erreicht.956 Auch dieses Unternehmen verlief
freilich im Sande.
Es war wohl ein Ausdruck dafür, dass sich die Beziehungen zu seinem Nach­
folger weitgehend entspannt hatten, als Gehlen sich vor dem Weihnachts­
fest bei Wessel meldete, für einige ihm zugänglich gemachte Orientierungen
dankte und ihm mit Glückwünschen zu dessen Geburtstag ein humoristisches
Buch übersandte.957 Als einige Monate später sein eigener 75. Geburtstag vor
der Tür stand, geriet er noch einmal in die Presse, allerdings mit Würdigungen,
die ihm nicht gefallen konnten. Ausgerechnet im Bonner Generalanzeiger vom
31. März 1977 erschien ein Artikel von Ulrich Kordt: Reinhard Gehlen – Geheim­
dienstler »ohne Gesicht«. Über den Mythos Gehlen sei mit dessen Memoiren
das Geheimnis gelüftet worden. Der ehemalige BND-Chef entspreche »eher
dem Durchschnittstyp eines Militärs«. Sein Mythos sei deshalb nur schwer
verständlich. Gehlen habe immer wieder behauptet, er habe mit FHO stets nur
treffende Analysen und richtige Vorhersagen erarbeitet, was einige Historiker
inzwischen bezweifeln würden. Später habe er für den BND Erfolge und Nieder­
lagen erlebt. Kordt gab zu bedenken, dass der Mythos Gehlen das Verständnis
für die Funktion eines Geheimdienstes in der Demokratie behindere.

955 Gehlen an Wessel, 4.8.1976, ebd., Blatt 79-85; zu der ausführlichen Befragung am
26.10.1976 siehe Protokoll im Nachlass Gehlen, BND-Archiv, N 13/2.
956 Gehlen an Hepp, 11.12.1976, BA-MA, N 704/26.
957 Gehlen an Wessel, 21.12.1976, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 77-78.

1280
Einige Tage später erschien am 2./3. April in der gleichfalls konservativen
Welt ein wohlwollender Artikel zu Gehlens Geburtstag, der immerhin andeu­
tete, dass seine historische Leistung umstritten sei. Sein Mythos aber bleibe
unverletzlich. »Cookridge« habe ihn als »Spion des Jahrhunderts« bezeichnet,
sein ehemaliger Chef Guderian habe ihn gelobt. Gehlen sei sogar als »Produkt
einer geistigen Schäferstunde zwischen Mata Hari und General Ludendorff«
bezeichnet worden. Kritik an der Persönlichkeit des Geehrten ließ der Arti­
kel nicht gelten. Der Preis seines Fertighauses sei doch bekannt, ebenso die
schlichte Machart der 1950 auf einer »Flüchtlingsmesse« in München preis­
wert erstandenen Möbel. Die öffentliche Meinung sei nach seiner Pensionie­
rung und seinen öffentlichen Auftritten umgekippt. Gehlen werde dennoch
»in die Geschichte eingehen als eine konservative, im guten Sinne preußische
Erscheinung: wenig reflektierend vielleicht, aber von achtbarer Konsequenz«.
So ganz nach seinem Geschmack dürfte die überschwängliche Verehrung
für ihn gewesen sein, die ihm »Die neue Nachhut« zum Geburtstag widmete.
Das interne Mitteilungsblatt für »abgeschaltete Mitarbeiter« des BND beschei­
nigte »Unserem Doktor«, der hohe Verdienste in Krieg und Frieden erwor­
ben habe, im Rückblick voller Stolz ein erfülltes Leben. Er sei der Schöpfer
eines autonomen Frontnachrichtendienstes, ohne die früheren Schwächen
von Abwehr und SD. Er habe durch die Analyse zahlloser, selbst unbedeuten­
der Miniinformationen eine zutreffende Lagebeurteilung geschaffen und die
Absichten des Feindes dargestellt. Nichts konnte ihn beirren, seinen Weg zu
gehen, seine Mitarbeiter und Archive dem Untergang zu entziehen. Er habe
einmalige Verdienste in einer Zeit der Non-Fraternisation, der Entmilitari­
sierung und Entnazifizierung erworben und dafür den höchsten Orden der
Bundesrepublik erhalten. Pannen und Rückschläge änderten nichts daran.
Falls Gehlen heute seinen Dienst nicht mehr wiedererkenne, möge dies bitter
sein, der Ruhm, der erste Präsident gewesen zu sein, bleibe. Der klein gewor­
dene Kreis der Mitarbeiter aus der ersten Stunde wünschte seinem verehrten
Chef ungebrochene Schaffenskraft. Noch sei nicht alles niedergeschrieben,
was sie für wichtig hielten. Der Dienst und Zeichen der Zeit sollten durch wei­
tere Beiträge zur Geschichtsschreibung ergänzt werden, dies wünschten sie
dem BND und sich.958 Das Heft ging dem Präsidenten Wessel anonym zu. Dar­
auf angesprochen, sprach Gehlen von einem »Dumme-Jungen-Streich«. Wahr­
scheinlich sei es eine gezielte Desinformation.959
Das hätte er einer weiteren wohlwollenden Würdigung sicher nicht unter­
stellt. Der rechtskonservative Publizist Alfred Schickei erhielt in der Frankfurter

958 Die Neue Nachhut, 1/77, BND-Archiv, N 54.


959 Notiz Wessels, BND-Archiv, N 1/138, S. 74.

1281
Allgemeinen Zeitung vom 4. April 1977 Raum, um Gehlen, der angeblich publi­
kumsscheuer sei als Greta Garbo, zu würdigen. Schickei schilderte die militä­
rische Laufbahn Gehlens und behauptete, dass Hitler schuld daran sei, wenn
die präzisen Ergebnisse seiner Arbeit bei FHO keine Früchte getragen hätten.
Nach seinem Abschied sei er in den Streit der Meinungen geraten. Doch für
Schickei war Reinhard Gehlen »der letzte große Patriot des deutschen Nach­
richtendienstes, auf jeden Fall der erfolgreichste deutsche Geheimdienstchef«.
Wessel hatte die Hoffnung gehegt, dass der in der »Neuen Nachhut« geprie­
sene Gehlen bereit sein könnte, sich genau an dieser Stelle mäßigend zu Wort
zu melden. Doch er sah sich getäuscht. Der Alte zeigte keine Neigung, sich
gegen die verklärende Sicht und die Verehrung ehemaliger Mitarbeiter zu wen­
den. So schrieb er Anfang Mai 1977, er habe mit der Aktion der »Nachhut«
nichts zu tun, billigen könne er sie nicht, weil sie dem Dienst schade. Er habe
sich die ganzen Jahre sehr distanziert zum Dienst gehalten, aber viele Besu­
cher hätten den Eindruck vermittelt, dass im gesamten Dienst durch partei­
politische Beeinflussung eine tief greifende Verunsicherung eingetreten sei.
Er selbst sei nie Mitglied einer Partei gewesen und habe stets auch mit der
SPD eng zusammengearbeitet. Schumacher, Ollenhauer, Erler, Ritzel und viele
andere hätten beim Aufbau des Dienstes mitgeholfen. Damals habe es auch
die SPD für notwendig erachtet, den Dienst von jeder parteipolitischen Beein­
flussung freizuhalten. Ich »habe mich während meiner Amtszeit stets strikt
daran gehalten« – ein klarer Vorwurf gegen seinen Nachfolger!960
Er reichte am nächsten Tag doch noch einige versöhnliche Zeilen nach,
mit freilich gebremster Empathie und dem Gestus des bislang verschmähten
Ratgebers. Er selbst habe ihn wegen des früheren Vertrauensverhältnisses als
Nachfolger vorgeschlagen und daher auch kein Interesse, ihm zu schaden, im
Gegenteil. Seit Jahren verfolge er die Entwicklung des Dienstes mit Sorge, wegen
des Hereintragens der Parteipolitik. Wenn Wessel eine persönliche Rückspra­
che wünsche, dann solle er doch einmal auf eine Tasse Tee vorbeikommen.
»Ich habe in meinem Alter keinen persönlichen Ehrgeiz mehr, bin aber gerne
bereit dazu beizutragen, daß bestehende Schwierigkeiten überwunden werden
und Klarheit über vorhandene Schwierigkeiten geschaffen wird.«961
Wessel hatte die Größe, über die Vorbehalte Gehlens hinwegzusehen, und
nahm das Gesprächsangebot an. Zwei Wochen später kamen die beiden Prä­
sidenten erneut zu einem Gespräch unter vier Augen zusammen. Im Ergeb­
nis verfasste Wessel eine ausführliche Stellungnahme zu Gehlens Vorwürfen.
Er habe den Eindruck, dass dieser falsch unterrichtet werde. Wenn es Klagen

960 Gehlen an Wessel, 5.5.1977, Nachlass Wessel, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 72.
961 Gehlen an Wessel, 6.5.1977, ebd., Blatt 73.

1282
gäbe, sollten sich die Kläger doch direkt an ihn wenden. Wessel rechtfertigte
die Einsetzung der Mercker-Kommission und bestritt bei vielen Fragen des
Personals und der Organisation, dass es politische Einwirkungen gegeben
habe. Es stimme nicht, dass er verboten habe, dass Mitarbeiter sich mit Geh­
len in Verbindung setzen. Die Neubesetzung der drei Spitzenstellen sei keine
Parteipolitisierung des Dienstes, und er habe deshalb auch keine Veranlassung
gesehen, sofort sein Amt zur Verfügung zu stellen. Er habe damals Gehlen um
Rat gefragt und dieser habe ihn zum Bleiben geraten. Vorzeitige Zurruheset­
zungen seien allein seine Entscheidungen gewesen, politische Gründe dabei
habe es nicht gegeben.962
Gehlen gab etwas nach, beharrte aber auf seiner Behauptung einer partei­
politischen Einflussnahme auf den Dienst und wollte die Schuld für die gegen­
seitige Entfremdung nicht auf sich sitzen lassen. Wessel habe ihm gegenüber
keinerlei rechtliche oder moralische Verpflichtung und brauche sich nicht zu
rechtfertigen. Seit dem Ausscheiden habe er selbst keinen detaillierten Einblick
in den Dienst. »Wenn die Dinge also so sind, wie Sie in Ihrem Brief schreiben,
dann ist ja alles gut.« In einem Punkt bleibe er völlig anderer Ansicht. Wenn in
einem Nachrichtendienst an entscheidende Schlüsselstellungen par ordre du
mufti zwei Parteifunktionäre gesetzt werden,963 die über keinerlei nachrich­
tendienstliche Erfahrungen verfügen, könne ihm kein Mensch einreden, dass
es nicht den Versuch einer parteipolitischen Einflussnahme darstelle, egal von
welcher Partei er komme. Wessel befinde sich außerdem im Irrtum, wenn er
annehme, dass er ihm gegenüber eine innerlich ablehnende Einstellung habe.
Die Anteilnahme an seiner Laufbahn und das Angebot der Beratung müssten
ihn eigentlich vom Gegenteil überzeugt haben. Er selbst habe den Eindruck
gehabt, »dass Sie, als Sie kamen, um den Dienst zu übernehmen, aus mir nicht
bekannten Gründen Ihrerseits mit mir nicht erklärlichen vorbehalten behaftet
waren«.964
Der Riss in dieser früheren Männerfreundschaft war seit fast drei Jahrzehn­
ten tief, der Groll des älteren Gehlen über die letzten Jahre ebenso. So gratu­
lierte er seinem Nachfolger zwar einige Tage später in einem Handschreiben
zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes, fügte aber zweideutig an: Damit
habe die Regierung wohl zum Ausdruck gebracht, »daß sie mit Ihren und den
Leistungen des Dienstes zufrieden ist«.965 Zumindest die Erinnerung an die

962 Wessel an Gehlen, 8.6.1977, ebd., Blatt 33 – 45.


963 Gehlen bezog das auf BND-Vizepräsident Dieter Blötz, zuvor Landesgeschäftsführer der
SPD in Hamburg, und Personalchef Herbert Rieck, zuvor Leitender Regierungsdirektor
der Hamburger Hochschulverwaltung.
964 Gehlen an Wessel, 2.7.1977, ebd., Blatt 27-28.
965 Gehlen an Wessel, 17.7.1977, ebd., Blatt 26

1283
gemeinsame Kriegszeit war unbeschädigt geblieben. So sandte Gehlen an
seinen damaligen engsten Mitarbeiter Wessel mit dem üblichen Geburtstags­
wunsch zu Weihnachten das im Jahr zuvor erschienene Buch des britischen
Militärhistorikers Albert Seaton Stalin as Warlord.966 Eigentlich hätte es für
Gehlen keine größeren Neuigkeiten enthalten dürfen, behauptete er doch
seit 1945, alle Schachzüge des großen Gegenspielers exakt vorhergesehen zu
haben.
Wenige Monate vor seinem Tod, im Sommer 1978, gaben die Glückwün­
sche zum 81. Geburtstag für Adolf Heusinger Gelegenheit, sich an die welthis­
torisch bedeutsamste und aufregendste Zeit seines Lebens zu erinnern, als er
1940/41 unter Heusinger in der Operationsabteilung an maßgeblicher Stelle
das »Unternehmen Barbarossa« mitplanen und steuern durfte.967 Einige Tage
zuvor hatte er von Leo Hepp, seinem ehemaligen Funkaufklärer, den Aufsatz
zugesandt bekommen, den dieser über »Enigma« verfasst hatte. Es war die
Reaktion auf eine sensationelle Enthüllung zur Geschichte des Zweiten Welt­
kriegs. Die Briten hatten bislang ihren größten nachrichtendienstlichen Erfolg
im Weltkrieg geheim gehalten, die Entschlüsselung der geheimsten deutschen
Chiffriermaschine während des Krieges. Natürlich waren Gehlen und Hepp
mit der Maschine vertraut. Sie wurde von der Org noch in der Nachkriegszeit
benutzt. Dass aber die Briten die höchsten deutschen Führungsentscheidun­
gen mitgelesen hatten, hätte Gehlen eigentlich als späte Erkenntnis veranlas­
sen müssen, seine Behauptung, Martin Bormann sei ein Spion Stalins gewe­
sen, kritisch zu hinterfragen. Das Leck im Führerhauptquartier war offenbar
Enigma gewesen, nicht Bormann.
So tauschten die beiden alten Generale zwar Erinnerungen an ihren frühe­
ren Lehrer für Fernmeldewesen Albert Praun aus, aber die Enigma-Geschichte
hielt Gehlen nicht von der Bemerkung zu einem aktuellen Zeitungsausschnitt
ab, er könne nur sagen, »dass sich wieder einmal erweist, dass der heutige
Staat an vielen Stellen von Stümpern geführt wird«.968 Ob er das auch vom
Führerstaat gesagt hätte, dem er bis zum letzten Tag des Krieges gedient
hatte?
Die Welt der Politik ließ ihn einfach nicht los. Das zeigte sich einige Wochen
später, als er einen Gastbeitrag in der Tageszeitung Die Welt schreiben durfte.
Darin plädierte er wie üblich für eine Politik der Härte gegenüber dem Osten,
die er als Realismus ansah, und für eine Stärkung der NATO. Aus sehr linken
Kreisen höre man das Schlagwort »Lieber rot als tot« und das Plädoyer für

966 Gehlen an Wessel, 20.12.1977, ebd., Blatt 24.


967 Gehlen an Heusinger, 22.7.1978, BA-MA, N 643/56a.
968 Gehlen an Hepp, 10.7.1978, BA-MA, N 704/26.

1284
Das Verschlüsselungsgerät
Enigma M4

eine »Finnlandisierung« Deutschlands. Gehlen warnte davor, dass der UdSSR


die Parole von der »Friedlichen Koexistenz« lediglich dazu diene, Westeuropa
in die Hand zu bekommen. Und dann drohe ein Atomkrieg durch die USA
sowie die völlige Zerstörung der Bundesrepublik. Wenn Westeuropa aber in
der NATO bleibe und sich anstrenge, gegebenenfalls massive sowjetische Pan­
zerangriffe an der Grenze aufzufangen, gäbe es im ungünstigsten Falle einen
atomaren Schlagabtausch zwischen den USA und der UdSSR unter Schonung
der Bundesrepublik, weil ein zerstörtes Industriepotenzial weder Ost noch
West nutze. Vorbedingung dafür sei eine Grenzabwehr unter Einsatz der Neu­
tronenwaffe.969 Man solle in den Verhandlungen mit dem Osten weiterhin Aus­
gleich und Frieden suchen, aber bei genügender Härte. Dann lasse sich ein
Atomkrieg vermeiden. Im Ostblock bahne sich langsame eine neue Entwick­
lung an, die allerdings sehr lange dauern könne. Gehlen empfahl Geduld und
ein wachsames Auge auf die Dritte Welt. Das Foto zum Artikel zeigte einen

969 Die Neutronenwaffe ist eine Wasserstoffbombe, die auf maximale Neutronenstrahlung
bei geringem Fallout optimiert wurde. Sie wurde bereits 1958 entwickelt, konnte sich
aber erst 1981 unter US-Präsident Ronald Reagan durchsetzen. Die ihr zugesprochene
Fähigkeit, als taktische Waffe Menschen zu töten, Gebäude und Kriegsgerät aber intakt
zu lassen, führte zu heftigen moralischen und politischen Diskussionen in der westli­
chen Öffentlichkeit. Siehe Kalter Krieg: Was wurde aus der Neutronenbombe?, Spiegel
Online vom 17.1.2016, abgerufen am 4.10.2017.

1285
lächelnden Reinhard Gehlen, wie er bisher in der Öffentlichkeit ganz selten zu
sehen gewesen war.970
In der damaligen sicherheitspolitischen Debatte vertrat der ehemalige BND-
Chef damit einen ganz unspektakulären, fast regierungsoffiziellen Standpunkt.
Nach dem Umbau des Kabinetts von Helmut Schmidt hatte Anfang des Jahres
Hans Apel (SPD) das Verteidigungsministerium übernommen. In der Sache
hätte er dem alten General wohl kaum widersprochen, aber in Regierungskrei­
sen und in großen Teilen der Öffentlichkeit als Persona non grata und »Kalter
Krieger« abgestempelt, konnte der 76-jährige Gehlen nicht erwarten, dass sein
Rat wirklich erwünscht war.
Der Artikel dokumentierte sein Bemühen, sich weitgehend anhand von Zei­
tungslektüre und eigenen Erfahrungen ein Bild von Gegenwart und Zukunft zu
machen, in dem Glauben, dass seine Mahnungen vor den Gefahren des Sowjet­
kommunismus Gehör finden könnten. Er nutzte damit seinen längst verbli­
chenen Mythos, um sich als politische Stimme von Bedeutung zu inszenieren.
Textfragmente entstanden in diesen letzten Monaten, die sich zu einem neuen
Buch zusammenfinden sollten. Es blieb eine unvollendete Arbeit, die erst post­
hum veröffentlicht wurde, gleichsam als eine Stimme aus dem Jenseits, die
ungehört verhallte.
Noch einmal berührten ihn Glanz und Bedeutung seines früheren Tätig­
keitsfeldes, als kurz vor Weihnachten 1978 die Amtsübergabe von Präsident
Wessel stattfand. Der Nachfolger wurde der Jurist Klaus Kinkel, mit 42 Jahren
so jung wie Gehlen bei Kriegsende. Er war der erste Nichtsoldat auf diesem
Posten, ohne Erfahrungen im Nachrichtendienst, und kam als bisheriger Leiter
des Leitungsstabes im Auswärtigen Amt quasi von der Konkurrenz, wie Gehlen
die Diplomaten früher eingeschätzt hatte.
Ob Gehlen darauf wieder zutiefst verbittert reagierte? Wenn, dann ließ er
sich das nicht anmerken. Immerhin war davon auszugehen, dass der exzellent
vernetzte Kinkel das uneingeschränkte Vertrauen von Kanzler Schmidt hatte
und damit den BND im politischen Entscheidungsprozess sehr viel besser
vertreten konnte als etwa Gehlen in den Jahren nach dem Abtritt Adenauers.
Wahrscheinlich hat Gehlen auch die Zeremonie besänftigt und geschmeichelt,
die er als Ehrengast in Pullach erlebte. Der zuständige CIA-Vertreter berichtete
darüber, dass die Anwesenheit von Gehlen einen großen Eindruck auf die alte
Garde gemacht habe. Sollte von dem scheidenden Präsidenten Wessel damit
eine versöhnende Geste beabsichtigt gewesen sein, war das nicht nur generös,
sondern entsprach dem althergebrachten Zeremoniell.

970 General a. D. Reinhard Gehlen: Nur eine gestärkte NATO kann den Frieden sichern, Welt
vom 14.10.1978.

1286
Dem Amerikaner fiel der ungewöhnlich große Aufwand bei der Übergabe in
Pullach auf. Alles war bestens arrangiert und sollte wohl zum Ausdruck brin­
gen, dass die Bundesregierung den BND keinesfalls als Stiefkind und die Mit­
arbeiter nicht als Parias betrachtete. Wenn auch der Kanzler verhindert war,
so schickte er doch den Chef des Kanzleramts Schüler mit dem Kanzlerflug-
zeug nach München. Die Symbolik sei durch die Anwesenheit der Spitzen der
Ministerialbürokratie und des Sicherheitsapparates verstärkt worden. Kinkel,
der sich bewusst gewesen sei, vor einem skeptischen Publikum zu sprechen,
das er gewinnen musste, habe zu Beginn seiner Rede selbstverständlich die
Verdienste von Gehlen und Wessel erwähnt. Am Ende der Zeremonie ging der
CIA-Vertreter auf Gehlen zu, der sich sehr langsam bewegte, und begrüßte ihn
warmherzig vor dem gesamten BND-Publikum.971 Es ließe sich dem Bericht
hinzufügen, dass mit dieser Amtsübergabe das 1949 von der CIA adoptierte
Findelkind des deutschen Generalstabs nicht nur erwachsen geworden war,
sondern sich auch emanzipiert hatte.
Vielleicht ist auch James Critchfield, der »Adoptivvater« von 1948/49, dabei
gewesen. In seinen Memoiren erwähnt er zumindest eine letzte Begegnung mit
Reinhard Gehlen in Berg Anfang 1979, als dieser vom Tode gezeichnet kaum
noch sprechen konnte. Nach einer halben Stunde und gelegentlichen kurzen
Gesprächen sei es still geworden. Gehlen habe die Augen geschlossen. Critch­
field drehte sich zu Herta um, die auf einem Stuhl am Fußende des Bettes saß,
und meinte, es wäre wohl Zeit zu gehen.

Mit immer noch geschlossenen Augen streckte Gehlen seine abgemagerte


Hand nach mir aus und flüsterte auf Deutsch: Warten Sie.« Nach ein oder
zwei Minuten öffnete er die Augen, wandte mir sein Gesicht zu und sagte mir
unter erheblichen Schwierigkeiten wiederum auf Deutsch: >Ehe Sie gehen,
möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie mir geholfen haben, den Traum
meines Lebens, den Dienst, zu verwirklichen.< Dann legte er sich zurück
und schloss die Augen. Ich nahm seine Hand, murmelte einige Worte des
Abschieds und ging.972

Wenige Tage später kam Reinhard Gehlen erneut ins Krankenhaus. Herta
Gehlen antwortete Wessel auf dessen Nachfrage zum Zustand ihres Mannes,
er lasse herzlich grüßen. Die Familie sei jeden Tag zur Pflege in der Klinik.
Man könne nur hoffen.973 Vier Wochen später erschien in der Bild-Zeitung ein

971 Bericht vom 22.12.1978, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_


vol. 7_10F2, S. 80-82.
972 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 230.
973 Herta Gehlen an Wessel, 15.2.1979, Nachlass Wessel, BND-Archiv, N 1/138, Blatt 20.

1287
Bericht über »Gehlens letzten Kampf«, der die Familie schwer erschütterte und
sie veranlasste, den Vater keine Minute mehr allein zu lassen. Der Reporter
berichtete einem Millionenpublikum von seinem unautorisierten Besuch am
Krankenbett. Gehlen habe Prostatakrebs und sei schon zweimal operiert wor­
den. Ein drittes Mal wäre aussichtslos. Seit sieben Wochen liege er im Münche­
ner Klinikum Großhadern. Er könne nur noch mühsam sprechen und essen,
habe 24 Pfund abgenommen. »Ich liege hier und kann nichts machen«, habe er
leise gesagt, »nicht mal lesen kann ich – ich bin fast blind. Es geht mir nicht gut,
ich bin sehr müde.« Oft würde der todkranke General dahindämmern, dann
wieder hellwach sein und über alte Zeiten sprechen. Jeden Tag sitze seine Frau
an seinem Bett, mit der er seit 48 Jahren verheiratet sei. Der alte General hoffe
noch immer, in sein Haus am Starnberger See zurückkehren zu können.974
Der schwere Kampf gegen den Krebs dauerte noch weitere drei Monate. Am
Abend des 8. Juni 1979 starb Reinhard Gehlen in seinem Haus in Berg. Die Vor­
bereitungen zu seiner Beerdigung brachten noch einmal Irritationen. Das Ver­
teidigungsministerium teilte dem Kanzleramt mit, dass bei Gehlen nur noch
die Bezeichnung »Generalmajor a.D.« gelten dürfe. Der durch Wehrübungen
erworbene Titel »Generalleutnant der Reserve« sei mit dem Erreichen der
Altersgrenze erloschen – formal sicher korrekt, aber Generalmajor war Geh­
len bereits im November 1944 geworden. Die Regelung, so konnte man es ver­
stehen, beseitigte mit einem Federstrich seinen dritten goldenen Stern und
seine zwanzigjährigen Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland.975 Als
Reinhard Gehlen vor längerer Zeit Anordnungen für die Beerdigung festgelegt
hatte, schien er es – wohl aus eigener Distanz zur Bundeswehr – fast zu ahnen.
Er wollte eine Beerdigung ohne Bundeswehr, stattdessen mit Beteiligung des
Kriegervereins, und angeblich konnte man ihm nur mühsam ausreden, sich in
seinem Wehrmacht-Generalsmantel ins Grab legen zu lassen. Der Lederman­
tel befindet sich heute im Fundus des Militärhistorischen Museums in Dres­
den. Der Befehlshaber im Wehrbereich VI genehmigte die Gestellung einer
Abordnung (Befehlshaber mit zwei Stabsoffizieren) sowie eine Ehrenwache
von sechs Stabsoffizieren sowie als Ordenskissenträger zwei Stabsoffiziere -
alle gestellt vom Amt für Militärkunde. Außerdem wurde der Einsatz eines
Musikkorps bewilligt. Hinsichtlich des Verzichts auf ein militärisches Geleit
respektierte man den Wunsch des Verstorbenen.976
Wichtig war Gehlen eine ökumenische Ausrichtung des kirchlichen Teils
der Trauerfeier. Seine protestantisch-kirchliche Prägung war nie sehr stark

974 Gehlens letzter Kampf, Bild vom 17.3.1979.


975 Telefonische Mitteilung des BMVg, 12.6.1979, VS-Registratur Bka, Personalakte Gehlen.
976 Fernschreiben des Befehlshabers im Wehrbereich VI, 12.6.1979, BND-Archiv, N 13/2,
Blatt 243-244.

1288
Reinhard Gehlens Sarg mit
Bundeswehr-Stahlhelm

gewesen, und drei Jahrzehnte im bayerisch-katholischen Milieu dürften auf


ihn, der kein ausgeprägter Kirchgänger gewesen ist, ein Stück abgefarbt haben.
Außerdem kam es vielleicht besser an, wenn man sich über die irdischen Bin­
dungen erhob.
Auf dem neuen Teil des Münchener Waldfriedhofs wurden am Vormittag
des 15. Juni 1979 vor rund 200 Trauergästen die Ansprachen gehalten, hierar­
chisch geordnet von Staatssekretär Dr. Schüler, Präsident Dr. Kinkel, Präsident
a. D. Wessel und Herrn Weiß für die Mitarbeiter des BND, eingerahmt durch
das kirchliche Zeremoniell. Das Bläserquartett spielte das alte Soldatenlied
»Ich hatt’ einen Kameraden«, und unter den Klängen des Chorals »Was Gott
tut, das ist wohlgetan« schloss sich dann der Vorhang.977
Präsident Kinkel hatte in einer Mitteilung an die Mitarbeiter hervorge­
hoben, dass der BND Gehlens »Lebenswerk« darstelle. »Seiner Tatkraft und
Persönlichkeit sei es zu verdanken, daß die nach ihm benannte >Organisation
Gehlen< als >Bundesnachrichtendienst< fortlebt.« Unter seiner Führung habe
der Dienst »Erfolge und Anerkennung« errungen.978
Kanzleramtschef Schüler schilderte sachlich die schwierige Aufgabe, die
der Verstorbene zu bewältigen gehabt habe, nämlich einen Nachrichtendienst

977 Programm der Trauerfeier in Nachlas Gehlen, ebd., Blatt 241.


978 Mitteilung des Präsidenten, 12.6.1979, ebd., Blatt 246.

1289
an die neu geschaffene staatliche Ordnung im Rahmen des Grundgesetzes
sowie an die sich entwickelnde offene Gesellschaft »heranzuführen«. Es sei
für ihn und seine Mitarbeiter sicher nicht immer leicht gewesen, zwischen
den nachrichtendienstlichen Notwendigkeiten und einer demokratischen
Wertordnung einen Ausgleich zu finden. Dieser Prozess sei seiner Natur nach
niemals beendet. Nach dieser auch auf die Gegenwart bezogenen Ermahnung
sprach er offen davon, dass Gehlens Bild nie ganz unumstritten gewesen sei,
um dann etwas versöhnlicher darauf hinzuweisen, dass es journalistisch sicher
reizvoll gewesen sei, einen Mann »im Dunkeln« zu beschreiben, dessen Wesen
und Wirken erst nach dem Erscheinen seiner Memoiren etwas bekannter
geworden sei. Er habe das schillernde Bild ertragen, weil ihm die Pflichterfül­
lung wichtiger gewesen sei, als Ausdruck einer Lebensform, die den Menschen
Gehlen geprägt habe.979 Ohne die Legende vom Gentlemen’s Agreement kam
der Chef des Kanzleramts bei dieser kurzen Würdigung auch nicht aus. Wie
sollte er auch die Wahrheit und den Verstorbenen besser kennen?
Das Gleiche galt für Präsident Kinkel, der darauf abhob, dass er nach seiner
Amtsübernahme Gehlen viermal begegnet sei, zuletzt im Krankenhaus. Dort
habe er einen von schwerer Krankheit gezeichneten Menschen angetroffen,
»interessiert, gütig; fast schon abgeklärt und entrückt«. Er sei voller Hoffnun­
gen gewesen und habe Pläne geschmiedet. Kinkel konnte sich bei der Würdi­
gung des Menschen und seiner Lebensleistung nur auf die Erinnerungen von
Mitarbeitern sowie den Lebenslauf stützen. Was er für staunenswert hielt, war
die Fähigkeit, die Loyalität so vieler Mitarbeiter an den Dienst und den Staat zu
binden und auf angeblich bewundernswerte Art zu motivieren. Freunde Geh­
lens würden seinen festen Willen rühmen, Lebensmut, Pflichtbewusstsein und
Ehrerbietung, ein »hochsensibler Mensch mit viel Herz und Gefühl«.
Kinkel ließ dieses einseitige und beschönigende Bild, wie es manche Vete­
ranen in ihrer Erinnerung trugen, nicht allein im Raum stehen. Es dürfe nicht
vergessen werden, »daß viel von dem, was Reinhard Gehlen tat und bewirkte,
nicht ohne zum Teil heftige Kritik blieb«. Die ihn besser kannten, würden sagen,
»daß immer schon ein Hauch von Einsamkeit um ihn war«. Er sei jedenfalls
ein Patriot gewesen, der versucht habe, sein Bestes für das Vaterland zu geben,
für Frieden und Freiheit. Das könne ihm niemand abstreiten. Er habe zu jenen
gehört, die wichtige Beiträge für die Entscheidungen der Bundesregierung
geleistet haben, und sei im In- und Ausland »ein geachteter Mann« gewesen.980

979 Ansprache Schülers, ebd., Blatt 252.


980 Ansprache Kinkels, ebd., Blatt 252-257. An den Entwurf von Dr. Eberhard Henke hat
sich der Präsident nur zum Teil gehalten. Seine Änderungen verstärkten vor allem
den sachlichen Ton der Ansprache; siehe Entwurf vom 15.6.1979, BND-Archiv, N 54,
Blatt 248-252.

1290
Im Gegensatz zu dem angemessenen sachlichen Ton des Präsidenten trug
Kurt Weiß für den »hochverehrten Doktor« mit starker Empathie seine Dan­
kesworte vor.

Sie haben uns, Ihren alten Mitarbeitern in einer verschworenen Gemein­


schaft, vor vielen Jahren, ja Jahrzehnten, nach dem Zusammenbruch unseres
Vaterlandes und seiner Wehrmacht, in der wir gedient und gekämpft haben,
die Hoffnung und schließlich den Glauben an eine bessere Zukunft wiederge­
geben. Sie haben es uns ermöglicht, aus tiefster Erniedrigung den Weg in ein
neues freies Deutschland zu sehen und mit Ihnen zu gehen. Wir sind Ihnen
gefolgt, durch alle Höhen und Tiefen. Sie waren uns Wegbereiter und Vor­
bild – damals, und Sie bleiben unser Vorbild – heute und immer.

Von Ehrfurcht und Dankbarkeit gegenüber »unserem noblen alten Chef«


sprach Weiß sowie vom »Ritter ohne Furcht und Tadel, dessen Leben dem
Dienst geweiht war, seiner Familie gehörte und auch uns«.981
Trotz der teilweise tief gehenden Konflikte mit seinem Vorgänger wählte
auch Expräsident Gerhard Wessel einen von der militärischen Kameradschaft
im Krieg geprägten, respektvollen Ton. Er leitete seine Ansprache mit dem
bezeichnenden Satz ein: »Wir stehen am Sarg eines deutschen Generals.« Das
»Einmalige« seines Lebens habe er nach dem Kriege im Aufbau des Auslands­
nachrichtendienstes gefunden. Während seiner militärischen Laufbahn habe
bis 1942 nichts darauf hingedeutet, »welche geschichtliche Aufgabe ihm das
Schicksal noch stellen würde«. Nicht »unter«, sondern »mit« den Amerika­
nern habe Gehlen den Dienst aufgebaut und der deutschen Regierung überge­
ben. Der BND sei »nächst den Streitkräften der wohl unmittelbarste Ausdruck
der Staatsräson«. Ihr habe sich General Gehlen verpflichtet gefühlt, ebenso
wie alle, die in diesem Dienst ihre Pflicht erfüllen, der »seine Aufgabe allein
darin sieht, der Staatsführung loyaler, uneigennütziger Entscheidungshelfer zu
sein« – war das eine versteckte Kritik an dem Politiker Gehlen?
Bevor das Nachdenken bei den Anwesenden dazu einsetzen konnte, sprach
Wessel über Gehlens Sorge vor der »Gefahr einer Unterschätzung sowjetischer
Absichten und Möglichkeiten«. Mit »seiner ganzen Kraft und mit heißem Her­
zen« habe sich General Gehlen dafür eingesetzt, dass die Verantwortlichen
in der Staatsführung diese Gefahren erkennen. Gegen unsachliche Kritik und
Verleumdung in der Öffentlichkeit habe er sich nicht wehren können, wie Wes­
sel – zu Unrecht – meinte. Man müsse »seinen Weg unbedingt in stiller selbst­
verständlicher Pflichterfüllung im Dienst für Staat und Volk und in Demut vor

981 Abschiedsworte von Kurt Weiß, 12.6.1979, BND-Archiv, N 13/2, Blatt 258-259.

1291
Gott gehen können. Diesen Weg ist General Gehlen gegangen.« Das war mit
sehr viel Empathie und nationalkonservativem Staatsverständnis formuliert,
mit Ehrfurcht vor dem, der »in den entscheidenden Jahren meines Lebens
mein Lehrmeister war«, wie Wessel betonte. Dessen historische Leistung sei
der Aufbau des deutschen Auslandsnachrichtendienstes. Mit diesem Werk
habe er sich »um das Vaterland aller Deutschen verdient gemacht«.982
Die Beisetzung erfolgte am nächsten Tag im kleineren Kreis auf dem
Friedhof in Aufkirchen. Bei Schnürregen sowie unter Böllerschüssen und den
Klängen von »Preußens Gloria« sowie »Ich hatt’ einen Kameraden« wurde
Reinhard Gehlen zu Grabe getragen. Wie die Presse berichtete, sei mit einem
prächtigen Kranz auch Dr. Gerhard Frey, Vorsitzender der rechtsradikalen
Deutschen Volksunion, vertreten gewesen und habe Gehlen als Kämpfer gegen
den Sowjetimperialismus gegrüßt. Ein nicht genannter Mitarbeiter aus Pullach
habe gemeint, es wäre wohl besser gewesen, den General unter Ausschluss der
Öffentlichkeit in einer Kaserne zu beerdigen.983
Für die Familie wird es sich bei dem berüchtigten Herrn Dr. Frey vermut­
lich um einen ungebetenen Trauergast gehandelt haben. Immerhin hatte der
Vater in seiner aktiven Zeit einiges unternommen, um Frey aus der Deutschen
Soldaten-Zeitung herauszudrängen und so das Abdriften des Veteranenblattes
in die rechtsradikale und antidemokratische Szene zu stoppen. Das war nicht
gelungen. In der Ausgabe vom 22. Juni 1979 allerdings pries das Blatt den ver­
storbenen Reinhard Gehlen und druckte einige frühere persönliche Briefe an
den Herausgeber ab, die den Eindruck erwecken konnten, der ehemalige BND-
Chef sei langjähriger Vertrauter des rechtsradikalen Pressezaren gewesen.984
Bei den Briefauszügen handelte es sich freilich um einen Schriftwechsel,
mit dem Gehlen offenbar nach seiner Pensionierung auf die Anbiederung
Freys geantwortet hatte. Dabei betonte er, dass er sich in der Öffentlichkeit
nicht parteipolitisch äußern könne. Er habe in der Vergangenheit stets dem
Ganzen gedient und könne sich auch jetzt nur wirkungsvoll äußern, wenn
er eine parteipolitische Neutralität »zumindest formal« in Anspruch nehme.
Gehlen hielt sich Frey damit auf Abstand, obwohl es offenbar eine persön­
liche Bekanntschaft auch der Eheleute gab. So viel wollte Gehlen in seinem
Schreiben Frey immerhin entgegenkommen: Bezogen auf ein Buch von Nollau,
seinem Hassgegner, wundere er sich, »was für merkwürdige Leute in der Zeit
nach dem Kriege zum Teil in leitenden Stellen bei deutschen Behörden es zu

982 Redemanuskript Präsident a. D. Wessel, ebd., S. 261-264.


983 Presseausschnitt »Böllerschüsse für Gehlen« (Münchener Abendzeitung), NA Washing­
ton, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol. 7_10F2, S. 95.
984 Die Pressereaktionen sind in seinem Nachlass enthalten, BND-Archiv N 13/2.

1292
etwas gebracht haben und noch dazu solche, die für die Sicherheit der Bundes­
republik verantwortlich sind«.
Für die Vermutung eines gleichgesinnten politischen Denkens reicht das
Schreiben nicht aus. Es dürfte eher ein Kennzeichen dafür sein, dass sich Geh­
len durch seine eigene publizistische Tätigkeit so sehr der Kritik ausgesetzt
hatte, dass ihm Zuspruch von welcher Seite auch immer gerade recht war.
Die Pressereaktionen auf seine Beerdigung fielen sehr zwiespältig aus.
Expräsident Wessel wunderte sich über eine kurze Notiz von Gräfin Dönhoff in
der liberalen Zeit, aus deren Feder doch 1963 und 1968 »ausführliche, mensch­
lich warmherzige Artikel« zu Persönlichkeit und Leistung von Reinhard Geh­
len erschienen seien. Jetzt begnüge sie sich, in einigen mageren Zeilen unter
der Überschrift »Stil verletzt« den Tod Gehlens zu kommentieren. Die Gräfin
verliere kein Wort zur geschichtlichen Leistung des Generals. Immerhin hatte
sie wieder einmal die alte Legende aufgewärmt, Gehlens Prognosen als Chef
FHO seien stets zutreffend gewesen, und der Vorwurf, so Dönhoff, er habe
Exnazis in der Org beschäftigt, treffe eher die Amerikaner. Nein, demontiert
habe sich Gehlen sehr viel später, meinte sie, indem er illegale Inlandsaufklä­
rung betrieben habe und ȟberdies Memoiren schrieb, die den Stil verletzen,
zu dem er erzogen war«. Der Sache nach dürfte ihr Wessel zugestimmt haben,
aber dieser fast verächtliche Schlusssatz ging ihm offenbar doch zu weit.985
Dass sein Nachfolger und früher Ziehsohn die gemeinsam verpflichtende
Soldatenehre verteidigte, dürfte Reinhard Gehlen, hätte er es noch erlebt,
sicher gefreut haben.986 Eine willkommene Bestätigung wären ihm auch die
Pressemeldungen gewesen, die kurz nach seiner Beerdigung davon berichte­
ten, dass BND-Vizepräsident Blötz wegen einer Affäre mit seiner Sekretärin
Frau Nelken gefeuert werden sollte. Für Gehlen war der ehemalige Hamburger
SPD-Funktionär wahrhaft ein rotes Tuch, Sinnbild für den parteipolitischen
Zugriff auf »seinen« Dienst. Blötz, der nur sehr kurz an dem Begräbnis von
Gehlen teilgenommen hatte, war bereits vom Dienst beurlaubt und schied
zwei Monate später aus dem BND aus. Die Feinde, die er sich gemacht hatte
und die sich meist zu Gehlens treuen Anhängern zählten, triumphierten.987

985 Schreiben Wessels an einen Mitarbeiter in Pullach, 19.6.1979, zu dem Zeit-Artikel vom
15.6.1979, BND-Archiv, N 1/137. Wessel gab diese Stellungnahme frei. Seine Replik
erschien im Münchner Merkur vom 25.6.1979, S. 5.
986 Dieter Krüger: Gerhard Wessel (1913-2002). Der Ziehsohn Gehlens an der Spitze des
BND; in: Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg, hg. von
Dieter Krüger und Armin Wagner, Berlin 2003, S. 264-283.
987 Geheimer Pressebericht der CIA vom 19.6.1979, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol. 7_10F2, S. 96.

1293
In der konservativen Springer-Presse fand Gehlen hingegen eine weit­
hin wohlwollende Würdigung. Mit dem Titel »Er fiel zweimal in Ungnade,
weil sein Wissen störte« meinte die Welt – in einem merkwürdig anmuten­
den Vergleich – in dem älteren Fall die Ungnade Hitlers, in dem jüngeren
Fall den vermeintlichen Kampf der SPD gegen Gehlen, nachdem er 1967 eine
Gruppe von Spitzenpolitikern bei heimlichen Gesprächen mit italienischen
Kommunisten in Rom ertappt habe. Während der Regierung Brandt sei dies
Anlass zu einer Kampagne gegen den BND wegen unzulässiger Inlandsaufklä­
rung gewesen. Die Welt erwähnte immerhin noch, dass Gehlen bis zuletzt an
einer Studie über die sowjetische Strategie gearbeitet habe. Anlass habe eine
Äußerung Herbert Wehners über die angeblich defensive Haltung der Russen
geboten. Gehlen habe sein Material von befreundeten westlichen Diensten
erhalten.988
Im Deutschland-Magazin pries Hans Klein Gehlen als »Hexer«, den er ein
Jahr zuvor in einem vierstündigen Gespräch interviewt habe. Dabei servierte
Frau Herta Filterkaffee und belegte Crackers,

während mein Blick das bieder-bürgerliche Interieur des Gehlen-Heims –


grün bezogene Sitzgruppe, Wohnzimmer-Buffet, Gummibaum, Fernseh­
apparat, Eßecke, Familienfotos, Fenstertür zum Balkon – erfaßte, während
der alte Herr aus seinen jungen Jahren erzählte [...] Und plötzlich wurde mir
bewußt, daß der gelassene Ruheständler mit den freundlichen grauen Augen
und den energischen, fast jugendlichen Händen

über die Anlagen für einen erfolgreichen Geheimdienstchef gesprochen hatte.


Vaterlandsliebe habe sein Weltbild geprägt und er sei »der einzige deutsche
General, der nach dem Zweiten Weltkrieg Geschichte« gemacht habe, hielt
Klein im Rückblick fest.989
Dass Gehlen vor seinem letzten Krankenhausaufenthalt die Idee eines wei­
teren Buches verfolgt hatte, steht außer Frage. Dafür Material ausländischer
Dienste erhalten zu haben, war eine kaum glaubwürdige Einlassung von ihm.
Naheliegender als solche Spekulationen war die vom Kanzleramt geforderte
und noch immer ausstehende Rückgabe seiner dienstlichen Unterlagen. Vier
Wochen nach Gehlens Tod meldete sich zunächst General a. D. Kühlein beim
Sohn Christoph. Er kam auf die Idee des Vaters zurück, eine mehrbändige
Dokumentation der Lageberichte FHO durch General Hepp herauszugeben,
dem Kühlein behilflich sein sollte. Der Sohn wollte hinsichtlich der Abgabe der

988 Heinz Vielain: Er fiel zweimal in Ungnade, Welt vom 11.9.1979.


989 Hans Klein: Das Geheimnis des »Hexers«, Deutschland-Magazin 7/1979, S. 11-13.

1294
Reinhard Gehlen am häuslichen Schreibtisch, 30. Januar 1975, postum abgedruckt in
der Welt vom 11. Juni 1979

Akten nicht kooperieren, deshalb erinnerte ihn Kühlein daran, dass er bereits
vor zwei Jahren eine umfangreiche Auflistung der vorhandenen Akten, die
»im Panzerraum an der rechten Wand in einem Regal« stünden, angefertigt
habe. Die Liste sei damals auch Grundlage einer Besprechung aller Beteilig­
ten, einschließlich des Vaters, gewesen. Bei dieser Gelegenheit habe der Gene­
ral gegenüber den Vertretern des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
der Bundeswehr zugesichert, dass er alle Unterlagen nach seinem Tode dem
Archiv überlassen werde.
Die Sache war aber seit Anfang Februar 1977 nicht vorangekommen und
die Akten lagen nach wie vor in Händen der Familie. Kühlein hatte sich inzwi­
schen mit der kritischen Studie von Hans-Heinrich Wilhelm beschäftigt und
sah ein, dass man die Thesen des jungen Historikers zunächst widerlegen
müsste. Doch der Verlag zog es vor, den Plan aufzugeben, weil der Interessen­
tenkreis für die FHO-Lageberichte doch zu gering sei.990 Die Beteiligten sahen
vielleicht ein, dass eine Veröffentlichung der FHO-Dokumente, die in Gehlens
Haus lagerten, die Zweifel an der angeblichen Unfehlbarkeit der Prognosen

990 Schreiben Kühleins an Christoph Gehlen, 11.7.1979, BND-Archiv, N 13/2, Blatt 206-207;
Schriftwechsel Kühleins mit Hepp, 10.8. und 30.9.1979, BA-MA, N 704/26.

1295
im Ostkrieg eher noch schüren konnte. Die Akten sind dann am Ende doch
ins Militärarchiv gelangt, ob vollständig, konnte auch Kühlein nicht sagen.991
Knapp ein Jahr später erfuhr die CIA, dass Gehlens letztes Buch, Verschluß­
sache, erscheinen solle. Die Familie habe die Manuskripte des Verstorbenen
zur Verfügung gestellt und dafür 150.000 D-Mark erhalten. Weil die Amerika­
ner befürchteten, dass darin Enthüllungen über prominente Politiker enthal­
ten sein könnten, wurde Frau Gehlen angerufen und ihr bedeutet, dass dies
Konsequenzen für die Reputation ihres Mannes haben könnte. Frau Gehlen
bestritt die Bedeutung der Schrift. Ihr Schwiegersohn sei der Hauptbetreiber
des Unternehmens.992 Kurz vor der Veröffentlichung der kleinen Schrift erhielt
die CIA Kenntnis davon, dass die Verlage Axel Springer, Quick sowie Hase und
Koehler interessiert seien, ebenso einige prominente CDU-Politiker, die sich
Informationen erhoffen, mit denen Schlüsselfiguren der SPD wie Wehner und
Bahr beschädigt werden könnten. Einige Teile des Textes stammten wohl von
Gehlen, andere wahrscheinlich von Quick-Journalist Paul Limbach, die dieser
aus Gesprächen mit Gehlen und anderen mithilfe des PR-Mannes von Franz
Josef Strauß, Hans Klein, angefertigt habe. Andere Teile würden von Kurt Weiß
stammen, dem früheren PR-Mann von Gehlen. Das Manuskript enthalte auf
180 Seiten hauptsächlich Polemik gegen das nachfolgende Management des
BND, gegen führende Sozialdemokraten, mit Lob für frühere nationalgesinnte
SPD-Leute wie Kurt Schumacher, des Weiteren Bemerkungen über die aktuelle
sicherheitspolitische Lage der Bundesrepublik und pessimistische Einschät­
zungen über die Fähigkeiten des freien Westens, sich gegen den sowjetischen
Expansionsdrang behaupten zu können.993 Die CIA hatte anscheinend wieder
einmal einen geheimen Zugriff erlangt.
Die Besorgnis der Amerikaner erwies sich als überflüssig. Die Verschlußsa­
che, die ein Jahr nach seiner Beerdigung, wie Gehlen in seinen letzten Lebens­
monaten gehofft haben mag, die Welt aufrütteln und vor Illusionen der sozial­
liberalen Ostpolitik warnen sollte, erwies sich als wirkungsloser Blindgänger.
Sie berührte weder die Regierungskoalition noch den BND und half auch nicht
der konservativen Opposition, die drei Jahre später wieder den Kanzler stellte.
Dieser von Gehlen lange ersehnte Machtwechsel in Bonn führte den BND nicht
wieder in alte Zeiten zurück und hob auch nicht Gehlens historische Bedeu­
tung wieder ins Licht. Das zeigte schon die Reaktion der Frankfurter Allgemei­
nen Zeitung auf die Verschlußsache. Das letzte Buch des früheren Präsidenten,
so hieß es, stehe spürbar unter dem »Gesetz des abnehmenden Ertrages«. Die

991 Notiz Kühleins vom Januar 1984, BND-Archiv, N 13/2, Blatt 174.
992 Bericht vom 21.5.1980, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen
vol. 7_10F2, S.98.
993 Bericht vom 16.7.1980, ebd., S. 99.

1296
von Gehlen zu Lebzeiten für möglich gehaltenen »Maßnahmen zur Einschrän­
kung seiner Verbreitung« seien ausgeblieben. Seine Beschwerden über die
Entwicklung des BND, die Rolle Horst Ehmkes und einiger Zeitschriften böten
kaum Neues. Nützlich sei allenfalls, dass Gehlen an die Desinformation des
sowjetischen Geheimdienstes erinnerte, die es wirklich gebe und der manche
Veröffentlichungen auch unbewusst unterliegen könnten.
Doch damit war es der wohlwollenden Würdigung genug. Es sei bedauer­
lich, dass Gehlen noch immer meine, das ungünstige Meinungsklima gegen­
über den Nachrichtendiensten sei eine spezielle deutsche Erscheinung. Die
CIA stehe unter viel stärkerem Sperrfeuer der Öffentlichkeit. Es gehe vielmehr
um das Aufeinandertreffen gesellschaftlicher Turbulenzen seit Gehlens Pen­
sionierung mit tiefgreifenden Veränderungen im Nachrichtendienst. Die »Bie­
dermeier-Spionage« sei passe, heute spiele Technik die entscheidende Rolle.
Es blieben freilich genügend Konflikte im Verhältnis Regierung, Öffentlich­
keit und Nachrichtendienste, die Gehlen in seiner Zeit »selten zu entschärfen
bemüht war«. Einschätzungen des Geheimdienstes hätten ihrer Natur nach
eine politische Komponente und enthielten neben der Einschätzung über die
Absichten anderer auch zugleich Empfehlungen für den eigenen Kurs. Das
stoße in Regierungskreisen häufig auf Widerstreben. »Zumal, wenn solche
Empfehlungen wie im Falle Gehlens mit einem Anspruch auf Befolgung vor­
getragen werden, der schon fast an eine Richtlinienkompetenz heranreicht.«
Einen solchen Ton ertrage keine Regierung; »den meisten Ärger, den Gehlen
erlebte, hat er sich selber eingebrockt«. Wenn Nachrichtendienste mit ihren
Analysen Entscheidungshilfen geben und zuweilen auf den Regierungskurs
korrigierend einwirken wollen, dann dürften es »Direktoren, Chefs und Prä­
sidenten nicht so machen wie der alte Gehlen«. Zudem seien seine Einschät­
zungen auch oft nicht zutreffend gewesen. Das zeige sich ebenso in seinem
dritten Buch.994
Nachdem diese kleine Schrift weder Aufsehen noch einen politische Sturm
entfacht hatte, wie ihr Verfasser erhofft hatte, war zum 25. Jubiläum des BND,
also zum 1. April 1981, zwei Jahre nach dem Tod Gehlens, der Abstand groß
genug, dass Präsident Kinkel deutlicher als zuvor die Schattenseiten des
BND-Gründers ansprechen konnte. Dazu verwies er auf die Organisations­
leistung des ersten Präsidenten, die schon im geheimen Mercker-Bericht des
Kanzleramts als ungenügend bewertet worden war. Gehlen habe mithilfe
eines eher klein bemessenen persönlichen Stabes zwölf Jahre einen Organis­
mus gelenkt,

994 Ernst-Otto Maetzke: Gehlen, Reinhard: Verschlußsache, FAZ vom 5.12.1980, S. 11.

1297
dessen Vielgliedrigkeit auch für die meisten Mitarbeiter fast undurchschau­
bar war und die sehr persönlichen Vorstellungen seines Präsidenten von den
besonderen Erfordernissen im Nachrichtendienst erkennen liess. Wahrung
der Sicherheit im nachrichtendienstlichen Sinne und der Geheimhaltung
standen für ihn klar im Vordergrund. Alle organisatorischen und Verwal­
tungsfragen wurden im Blick auf diese Grundnotwendigkeiten entschieden,
Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, wie sie sonst den Behördenaufbau
bestimmen, hatten sich ihnen unterzuordnen. Weder Freund noch Feind,
nicht der flüchtige und nicht der aufmerksame Beobachter sollte ein System
in der Gliederung des Dienstes erkennen; kein etwa eindringender gegneri­
scher Agent sollte vom Einzelnen, das ihm bekannt wurde, aufs Ganze, vom
Kleinen auf Grösseres schliessen können. Dergleichen wird dem zurückbli­
ckenden Heutigen vielleicht wenig überzeugend und sinnvoll und auf die
Dauer eher behindernd als nützlich erscheinen. Man wird aber gerechter­
weise bedenken müssen, daß vor 1956 wie danach der Kalte Krieg eine Rea­
lität und daß die damals für jede nachrichtendienstliche Arbeit im geteilten
Deutschland unabdingbare Sicherheit nur mit aussergewöhnlichen Mitteln
erreichbar war. Daß dieser zur Verwirrung des Gegners bestimmte Auf­
bau des BND und die rigorosen Sicherheitsbestimmungen das Eindringen
sowjetischer Agenten doch nicht haben verhindern können, gehört zu den
schmerzhaften Lehren, die Gehlen wie manchem anderen Nachrichtenchef
nicht erspart blieben.

Wessel als Nachfolger habe erkannt,

daß die zum System erhobene Systemlosigkeit im Aufbau des BND zu unnö­
tiger Doppelarbeit nicht nur führen konnte, sondern tatsächlich auch geführt
hat und daß die Undurchsichtigkeit der organisatorischen Verhältnisse und
der Aufgabenstellungen vielfach größer geworden war, als man beabsichtigt
hatte und tendenziell statt Wetteifer um die bessere Leistung zu fördern
parasitäre Elemente begünstigte, die zur gemeinsamen Gesamtleistung des
Dienstes wenig oder nichts beitrugen oder ihr sogar abträglich waren.995

Diese überholte und im Grunde unzureichende Führungsleistung war von


den Nachfolgern überwunden und der BND den veränderten Bedingungen der
Zeit – außenpolitisch der Entspannungspolitik, innenpolitisch der demokrati­
sierten Gesellschaft – angepasst worden. So konnte am Vorabend des Zusam­
menbruchs im kommunistischen Machtsystem bei einer internen Analyse

995 Entwurf einer Ansprache des Präsidenten, 21.2.1981, BND-Archiv, N 54.

1298
Inschrift auf Reinhard Gehlens Grabstein auf dem Friedhof in Berg: mit seinem Wehr­
machtsdienstgrad

eine bleibende Leistung der Org beschrieben werden, die erheblich zu dem
sich abzeichnenden Sieg im Kalten Krieg beigetragen hat. Die Feststellung
und Beurteilung der militärischen Lage, Hauptaufgabe und Spezialität der
Org unter Gehlens Führung, stellte sich für den Fachmann im Rückblick als
gelungenen Beitrag zur westlichen Sicherheit dar. In der heißesten Phase des
Kalten Krieges, zwischen 1948 und 1955, seien die Prognose im Ost-West-Kon­
flikt und die Angaben zum Umfang der sowjetischen Streitkräfte eine in der
Sprache nüchtern-sachliche und im Ergebnis behutsam vorgenommene, sta­
bile politisch-militärische Lagebeurteilung gewesen, frei von gefühlsbetonter
Über- oder Untertreibung. Das Ergebnis: Der UdSSR sei in diesem Zeitraum in
kurz- und mittelfristiger Perspektive keine Kriegsabsicht in Europa unterstellt
worden.996
Reinhard Gehlen hatte sich schon damals ganz auf seine politische Rolle
konzentriert und die militärpolitische Aufgabenstellung seinen Fachleuten
überlassen. Das bestärkte ihn in der Vermutung, der Sowjetkommunismus
setze nun vorrangig auf politisch-ideologische Instrumente, um den Vertei­
digungswillen des Westens zu schwächen und die angestrebte Weltherrschaft
mit einer Kombination aus militärischer Stärke und politischer Unterwande­
rung zu erreichen. Das war keine überraschende Erkenntnis und entsprach
weithin dem damaligen politischen Bewusstsein der bedrohten demokra­
tischen Staaten. Indem er sich auf die Rolle des Mahners vor den »finsteren

996 Studie für den Präsidenten Dr. Hans-Georg Wieck, 7.3.1989, BND-Archiv, 42507.

1299
Machenschaften« des Sowjetkommunismus versteifte, verkannte er den Wan­
del, der sich schrittweise seit den frühen 1960er-Jahren im Ost-West-Konflikt
durch die Entspannungspolitik anbahnte. In seinen letzten Lebensjahren
bewegte er sich in eine düstere Untergangsstimmung, zu einem Zeitpunkt, wo
der Zusammenbruch des Sowjetsystems und der Sieg des Westens im Kalten
Krieg unmittelbar bevorstanden. Es war seine letzte, entscheidende Fehlpro­
gnose!
Vermutlich wie erlöst überlebte Herta Gehlen ihren Mann um 14 Jahre, ganz
ihrem christlichen Glauben ergeben. Sie starb friedlich und unerwartet.

1300
Persönlichkeit, Führungsstil und Weltan­
schauung – Bemerkungen zur historischen
Bedeutung von Reinhard Gehlen

Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands


bemühte sich Eberhard Blum mehrfach um ein ausgewogenes Bild seines ehe­
maligen Chefs, zu dem er von 1953 bis 1961 als Persönlicher Referent ein enges
Verhältnis gehabt hatte. Nach einer Verwendung als Leiter der Personalabtei­
lung und einer Residentur in London hatte er nach Gehlens Pensionierung als
Abteilungsleiter Zentrale Aufgaben wesentlichen Anteil an der Reform des
BND, den er dann mehr als ein Jahrzehnt als Resident in Washington vertrat,
um schließlich selbst dessen Präsident zu werden (1982-1985). Neben Blum
verfügten nur wenige ehemals enge Mitarbeiter Gehlens über genügend Einbli­
cke, um sich ein fundiertes Urteil über den »Doktor« und dessen Führungsstil
bilden zu können. Es ist bemerkenswert, dass sich in den hinterlassenen Äuße­
rungen aus diesem Kreis neben Lob und Anerkennung häufig auch kritische
Einschätzungen finden, die sich auffällig ähneln.
In einem Vortrag in der Johns Hopkins University im Sommer 1991 beschrieb
Blum die von Gehlen selbst betriebene Mystifizierung, die eine Charakterisie­
rung seiner Persönlichkeit erschwere. Das Geheimnis um seine Person habe
ihn vor neugierigen Recherchen geschützt und sein Ansehen als Spionagechef
gestärkt. Aber diese Rechnung habe nicht aufgehen können, weil

die Diskrepanz zwischen Wahn und Wirklichkeit zu offenkundig wurde. Je


mehr sich die Vorstellung herausbildete, dass ein Nachrichtendienst sozusa­
gen omnipotent sein müsse, umso größer Enttäuschungen und Kritik, wenn
bei bestimmten Ereignissen die prognostischen Fähigkeiten nicht den hoch­
gespannten Erwartungen entsprachen.1

Gehlens unauffällige Erscheinung sei dem Bedürfnis nach Anonymität zustat­


tengekommen. Seine großen blauen Augen hätten den Besucher fasziniert,
die meist bräunlichen Anzüge blieben ohne Eleganz. Geschmack sei nicht
seine Stärke gewesen. Blum hob hervor, dass Gehlens gesamte Lebenshaltung

1 Eberhard Blum, Unvergessen – Persönliches und Zeitgeschichtliches, BND-Archiv, 2868,


S. 75. In anderer Form auch als Text vom Juli 1991: Reinhard Gehlen – Ein Porträt, BND-
Archiv 151659, hier auch die ähnlich verfasste Rede vom 10.5.1991 an der Johns Hopkins
University, auch abgedruckt u. d. T. Reinhard Gehlen – A Portrait, Foreign Intelligence
Literary Scene, 10 (1991) 5, S. 1-5.

1301
bedürfnislos gewesen sei: Tee ohne Blätter und Rührei als tägliche Büronah­
rung. Davon konnte er zufrieden leben. Nach einem Essen in der Männerrunde
habe er sich aber einen guten Wein und eine Zigarre gegönnt, »die er mit sicht­
lichem Behagen aufbereitete und mit kleinen puffenden Zügen in Gang setzte.
Was er haben wollte, das leistete er sich auch.«
Wenn die Chemie stimmte, konnte er mit Charme die Damen faszinieren.
Aber beim Umgang mit nicht vertrauten Personen habe er keine Gewandtheit
besessen. Die Gabe zum Small Talk fehlte ihm. Anders als CIA-Chef Allen Dul­
les, der mit seiner Bonhomie und seinem dröhnenden Lachen Mittelpunkt der
Runde gewesen sei, habe Reinhard Gehlen fast schüchtern gewirkt. Unter ver­
trauten Mitarbeitern konnte er aber gelöst aus sich herausgehen. Ausführliche
Kaffeerunden im Büro, wo die Sekretärinnen und seine persönlichen Mitar­
beiter lange zusammensaßen, blieben Blum in Erinnerung. Diskret und für­
sorglich habe sich der »Doktor« menschlicher Probleme in seiner Umgebung
angenommen.
Er habe ganz für den Dienst gelebt, »souverän über seine Zeit bestim­
mend«, auch über die seiner Mitarbeiter. Trennlinien zum Privatleben gab es
praktisch nicht. Gegen 22 Uhr blies er zum Aufbruch und nahm Koffer voller
Akten mit nach Hause – häufig seien sie aber unerledigt wieder zurückgegeben
worden. Bei seinem Arbeitsdrang habe er sich einen längeren Mittagsschlaf
gegönnt, der gegen 15 Uhr begann und erst nach 17 Uhr endete. Die »Früh- und
Feudalzeit«, wie Blum die frühen Jahre der Org bezeichnete, sei atmosphärisch
einmalig gewesen. Dann hätten schrittweise die bundesdeutschen Verwal­
tungsprinzipien der »selbstgesetzten diensteigenen administrativen Ordnung
ein Ende« gesetzt. Gehlen konnte und wollte diesen Wandel nicht hinnehmen.
Die allgemeine Entwicklung habe ihm aber Rückzugsgefechte aufgezwungen,
bei denen ihm konspirative Theorien auch nicht weiterhalfen.
Gehlen habe sich dann aus diesem Teil seiner Arbeit zurückgezogen und
den Ärger seinem loyalen General Horst Wendland überlassen. Zugleich ließ
in den letzten Jahren seine Präsenz in Bonn nach. Offener Lobbyismus sei ihm
schwergefallen. Er führte lieber reaktiv aus der Hinterhand, beschränkt auf
jene politischen Felder, die ihn persönlich faszinierten: den Ost-West-Konflikt
sowie die Bündnispolitik, insbesondere die Entwicklung in den USA und die
europäische Einigung durch Pflege seiner bilateralen Beziehungen. Es wurde
die Zeit meist sorgenvoller Gespräche mit seinen Sonderverbindungen, die
tendenziell Gehlens Neigung verstärkten, die Schwächen des Westens und die
sowjetischen Stärken überzubewerten. Dann kam die Entwicklung einer akti­
ven Ostpolitik der Bundesregierung. Mit Adenauer hätte das Gehlen faszinie­
ren können. Aber das Vorwärtsdrängen von Außenminister Gerhard Schröder
unter Kanzler Erhard habe ihn mit Sorge erfüllt, ebenso die Kulmination unter
Willy Brandt. Gehlens Rat sei dann nicht mehr gefragt gewesen, seine Rolle auf

1302
Berichterstattung beschränkt worden. Dabei bewegten ihn Konspiration und
Analyse, politische Intrige und Freude am Schachspiel (sein großes operatives
Talent aus OKH-Zeit). Gehlen habe mitmischen wollen!

Gewohnt, wohlwollend-fürsorgliche militärische Vorgesetzte zu haben,


durch das Geschick vor eine besondere Aufgabe gestellt, seine Fähigkeiten
bei der Durchsetzung seiner Zielvorstellungen erfolgreich erprobt, war er
nun, am Ende seines Berufslebens gerade dort, wohin er mit seinem Werk
heimkehrte, zum Fremden geworden.2

Im Mai 1998 traf der CIA-Mann James Critchfield im privaten Rahmen noch
einmal mit Gehlens Kindern zusammen. Er brachte auf den verstorbenen
Vater einen Toast aus

und schilderte ihnen in nachdenklichen und wohlüberlegten Worten auf


Deutsch, wie ich das Vermächtnis ihres Vaters beurteilte. Ich zollte ihm
Anerkennung dafür, dass er dem jetzt wiedervereinigten Deutschland einen
modernen und klar geplanten Nachrichtendienst hinterlassen hat, für den er
eine Vielzahl pflichtbewusster und begabter Mitarbeiter gewinnen konnte,
von denen er viele noch aus seiner Zeit beim deutschen Generalstab gekannt
hatte. In meinem Trinkspruch äußerte ich mich nicht dazu, dass er auch Feh­
ler gemacht hatte, sondern würdigte voll und ganz, dass er gefährliche und
schwierige Zeiten durchgemacht hatte. Mir lag daran, bei dieser Gelegenheit
seinen herausragenden Beitrag und seinen hingebungsvollen Dienst anzu­
erkennen, den er in den Jahren nach unserem ersten Zusammentreffen in
Pullach für Deutschland und mein Land geleistet hatte.3

Critchfields wohlwollendes Urteil beruhte im Wesentlichen auf der engen


Zusammenarbeit mit dem deutschen General in amerikanischen Diensten
zwischen 1948 und 1956. Die Entwicklung, die zur Gründung des Bundesnach­
richtendienstes führte, war ein gehöriges Stück eigenes Verdienst des Ameri­
kaners gewesen, der »utility« oft genug als eigenwilligen Kontrahenten erlebt
hatte. Als Präsident entrückte Gehlen dann gegenüber dem hochrangigen CIA-
Mann in eine angenehme Entfernung und zu einem Gegenstand sentimentaler
Erinnerung.
Sein Abgang von der politischen Bühne blieb glanzlos und widersprüchlich.
Gehlen, der sich bisher in der Anonymität wohlgefühlt hatte und die Öffent­

2 Blum, Reinhard Gehlen – Ein Porträt, S. 13-14.


3 Critchfield, Auftrag Pullach, S. 231.

1303
lichkeit scheute, glaubte sich nun berufen, sich im konservativen Mainstream
als Mahner gegen die sozialliberale Ostpolitik und als Gegner der Entspan­
nungspolitik zu profilieren. Seinen ursprünglichen Gedanken, sich dazu auch
öffentlich zur CSU zu bekennen, verwarf er schließlich. Eine Parteikarriere
hätte ihn natürlich noch stärker angreifbar gemacht. Die gewohnte Rolle des
angeblich unpolitischen Fachmanns lag ihm mehr. Aber es erging offenbar
auch kein Ruf des temperamentvollen Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß,
der den BND-Chef für einen Schauspieler hielt. Gehlen isolierte sich letztlich
mit seinen Interviews und politisch überspannten Publikationen sogar gegen­
über »seinem« BND. Im Schützengraben politischer Auseinandersetzungen
und im Meinungskampf verlor er seine Glaubwürdigkeit am Ende auch bei
jenen, die ihm früher Rückendeckung gegeben hatten. Dazu trugen seine Pro­
bleme bei, den zunehmend heftiger werdenden persönlichen Anwürfen stand­
zuhalten. Seit dem Fall Felfe 1961 war sein Ruf als angeblicher Meisterspion
dahin, seit der Spiegel-Affäre 1962 sein Ansehen im linken Lager lädiert.
Gehlens größtes Handikap blieben die nach außen dringenden internen
Vorwürfe zu seinem Führungsstil, die seinen Nachfolger Wessel zu einer
umfassenden Reform des BND veranlassten. Hinzu kam die in Pullach end­
lich verstandene Notwendigkeit, das alte Feindbild Sowjetunion zu entschär­
fen und auf die Entspannungspolitik des Westens auszurichten. Unter Gehlen
hatte der BND im Kalten Krieg eine scheinbar erfolgreiche »Frontaufklärung«
betrieben. Diese Aufstellung blieb zwar unverzichtbar, um den Helsinki-Pro­
zess der Vertrauensbildung in Europa abzusichern, aber das starre ideologi­
sche Feindbild bedurfte der Auflockerung. Das bedeutete auch ein Ende der
Einmischung des BND in die deutsche Innenpolitik, die Gehlen als vermeint­
lich gebotene Abwehr gegen die Gefahr einer kommunistischen Unterwande­
rung betrieben hatte – auch und gerade mit Rückendeckung früherer Bundes­
regierungen. Gehlen klagte später darüber, dass die Gespräche mit Adenauer
und Globke stets unter erheblichem Zeitdruck gestanden hätten. Er habe seine
Sache kurz und bündig vorgetragen, und Globke habe dann Ja oder Nein gesagt
bzw. gemeint, er sehe zwar ein, »dass dies oder jenes gemacht werden müsse,
er mich aber nicht decken könne und ich das in eigener Verantwortung tun
müsse«.4
Zehn Jahre nach seinem Tod brach das Sowjetimperium zusammen. Diesen
Triumph der neuen Ostpolitik hätte Gehlen niemals für möglich gehalten. Er
wollte den Sieg mit einer Politik der Stärke erreichen, und sie kam in gewis­
ser Weise zum Tragen, weil parallel zur Hochrüstungspolitik von US-Präsident
Ronald Reagan Helmut Schmidt und Helmut Kohl als Bundeskanzler den

4 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 16.1.1972, IfZ, ED 100-68-37.

1304
NATO-Doppelbeschluss durchsetzten, als Gegengewicht zur Entspannungs­
politik gegenüber dem Osten. Was Gehlen zur Zeit von Kanzler Willy Brandt
als innere Schwäche und Illusionismus verstehen wollte, hätte während der
nachfolgenden Kanzlerschaft von »Schmidt-Schnauze« vielleicht sogar seinen
Beifall gefunden: Verhandlungsbereitschaft bei einer klaren und konsequen­
ten Haltung gegenüber der militärischen Bedrohung durch Moskaus Raketen­
politik.
Nach seiner Pensionierung hatte Gehlen seinen Ruf als »Kalter Krieger«
gefestigt und sich in diesem Nimbus offenbar ganz wohlgefühlt, auch wenn
er den Begriff selbst ablehnte, weil er sich in einer beobachtenden Rolle sah
und Gegenaktionen gegen den Osten nach seiner Meinung kühl und rational
geführt werden müssten. Die letzte Entscheidung sei ohnehin Sache der Regie­
rung, wie er gegenüber der Historikerin Elke Fröhlich ausführte.5 Dass er sich
nicht als »Krieger« gesehen hat, war insofern konsequent, als er trotz seiner
militärischen Prägung nicht zum Kämpfer mit offenem Visier taugte. Ihm war
während des Zweiten Weltkriegs – abgesehen von dem polnischen Feldzug,
der für ihn ein »Spaziergang« gewesen ist – eine wirkliche Frontbewährung
bzw. der Einsatz als Kommandeur einer größeren Einheit erspart geblieben. Im
beginnenden Strudel des Untergangs zum General befördert, wurde er nicht
als Kommandeur einer Volksgrenadier-Division an die zusammenbrechende
Ostfront beordert, sondern verstand es geschickt, stattdessen seinen Übertritt
in US-Dienste sorgsam vorzubereiten.
Was er mitnahm, waren nicht nur die Kisten mit Unterlagen über die
Rote Armee und die Legende von seiner Unfehlbarkeit als Chef der Abteilung
Fremde Heere Ost (FHO), sondern auch seine jahrelange Erfahrung im Gene­
ralstab des Heeres. Das machte ihn zu einem herausragenden Generalstabsof­
fizier, der mit allen Schlichen vertraut war, die man in dieser Position brauchte,
um – nicht nur im Umgang mit der SS, der Partei und dem »Führer« – unauf­
fällig zu agieren und sich als Spezialist auf seinem Fachgebiet unentbehrlich zu
machen. Seine Dienstbereitschaft ging nicht so weit wie die Opferbereitschaft
und moralische Entschlossenheit seiner Kameraden des militärischen Wider­
stands. Er klammerte sich, bis zum letzten Tag funktionierend, im Untergang
des NS-Regimes an eine neue, stärkere Macht. Das sicherte ihm und vielen
seiner Generalskameraden berufliches Überleben und Zukunft.
Reinhard Gehlen konnte für seinen neuen Dienstherrn, die US Army, rasch
seine alte Truppe zusammentrommeln. Das betraf eine Zahl von General­
stabsoffizieren, die ihm – in ähnlicher Lage wie Gehlen – aus Idealismus oder
aus Berechnung folgten, die Dollarschecks und Privilegien der Besatzungs­

5 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 23.12.1971, IfZ, ED 100-69-138.

1305
macht für sich nutzten und dem »Deutschen Leiter« einer Hilfstruppe der
US-Militärspionage oft über viele Jahre die Treue hielten. Manche empfanden
Skrupel über den sehr frühen Wechsel der Fahne. Hier verstand es Gehlen, mit
der Beschwörung des alten bolschewistischen Feindbildes und der Hervorhe­
bung der angeblichen Professionalität von FHO die Reihen immer wieder zu
schließen und Zweifel auf amerikanischer Seite zu zerstreuen. Die Legende
vom »Gentlemen’s Agreement« mit US-General Sibert erwies sich als unent­
behrliche Lebenslüge für seine Position als vermeintlich »Deutscher Leiter«
eines angeblich rein deutschen Nachrichtendienstes.
In den von Wirren und von mancherlei drohenden Meutereien gezeich­
neten ersten Jahren hielt er durch, trotz erzwungener Kompromisse und oft
widriger Umstände, konspirierte und verteidigte geschickt vor allem seinen
Führungsanspruch, notfalls sogar mit Rücktrittsdrohungen. Bei harten Kon­
frontationen mit seinen amerikanischen Dienstherren gab er aber am Ende
stets nach. Sein Erfolgsmodell war die persönliche Bindung an eine ausge­
suchte Schar von ihm verpflichteten Generalstabsoffizieren. Es gelang ihm,
den internalisierten Führungsstil aus dem ostpreußischen Barackenlager des
OKH auf die Zentrale seiner Organisation in der Pullacher Waldsiedlung zu
übertragen. Auf vertraute Weise und in einer persönlich geprägten Umgebung
führte er mit dieser Zentrale und einer Handvoll Gehilfen seine von den Ame­
rikanern bezahlte Schattenarmee, um seinen Beitrag zu leisten, die Westzonen
Deutschlands vor einer befürchteten kommunistischen Übernahme zu schüt­
zen. Indem er seine Org als eine Art von Reservegeneralstab für die Wiederbe­
waffnung zur Verfügung stellte, machte sich Gehlen in Bonn und Washington
unentbehrlich.
Waren Gehlen und seine engsten Mitarbeiter zunächst durchaus bereit,
angesichts einer möglichen sowjetischen Invasion sogar in die USA auszuwan­
dern, konzentrierte sich der Exgeneral bald darauf, hinter die neue politische
Bühne zu schleichen und dafür zu werben, seine Org als künftigen deutschen
Nachrichtendienst in die sich herausbildende Bonner Republik einzubringen.
Gab es für die Bundesregierung unter Konrad Adenauer eine Alternative zu
Gehlen und seiner Offizierstruppe, die sich um Angehörige der alten »Abwehr«
des OKW sowie um erfahrene Spezialisten der Gestapo und des Reichssicher­
heitshauptamtes vergrößert hatte? Das von Gehlen propagierte Modell eines
einheitlichen Sicherheitsapparates in der Hand des Kanzlers schien zwar für
Adenauer in der Unsicherheit des Koreakrieges Vorteile zu haben, aber nach
der klaren Ablehnung durch die Alliierten bot Gehlens Organisation doch
immerhin die beste Aussicht, in Verbindung mit den Amerikanern die äußere
Sicherheit des gefährdeten Besatzungsgebiets mit deutschen Aufklärungsspe­
zialisten zu gewährleisten. Dennoch leistete man sich in Bonn zusätzlich den
Dienst des Friedrich Wilhelm Heinz, ebenfalls von Offizieren organisiert, als

1306
eigenständigen Beratungsapparat der Regierung. Doch der ehemalige Frei­
korpskämpfer und Feind der Weimarer Republik Heinz war – anders als Geh­
len – politisch nicht durchsetzbar. Das galt in anderer Weise für die Alternative
Gerhard Graf von Schwerin, da der ehemalige Panzergeneral – anders als Geh­
len – eine fatale Neigung hatte, sich in die Öffentlichkeit zu drängen und damit
den politischen Primat infrage zu stellen. Die vermutlich einzige Alternative
zu Gehlen wäre wohl Adolf Heusinger gewesen, der 1948 zeitweilig in Pullach
untergeschlüpft war und über alle positiven Eigenschaften verfügte, die es ihm
ermöglicht hätten, besser als Gehlen die Org in eine künftige bundesdeutsche
Sicherheitsstruktur einzubauen. Doch Heusinger nutzte die Chance, den Auf­
bau der Bundeswehr zu übernehmen.
Der Anfang der 1950er-Jahre bestehende organisatorische Wildwuchs in
der Org, den die Amerikaner verzweifelt einzudämmen versuchten, wurde
von Gehlen keineswegs als schwerwiegendes Problem angesehen. Er hielt
sich damit Möglichkeiten offen, auch auf eigene Faust in den Bonner Regie­
rungsapparat einzudringen und an den Amerikanern vorbei sein »deutsches
Standbein« zu kräftigen. Die von ihm geduldete autokratische Herrschaft der
Außenstellenleiter sowie die teilweise Unbotmäßigkeit dieser »Provinzfürs­
ten« gegenüber der Zentrale bot aus Gehlens Sicht nicht nur Nachteile. Die
Fragmentierung der Org erleichterte es ihm, die Verantwortung für das wech­
selhafte und riskante Spionagegeschäft zu delegieren. Dieser auch von den
Amerikanern beklagte Mangel an klarer Gliederung und Führung entsprach
einerseits Gehlens Prägung als truppenferner Generalstabsoffizier, der es
gewohnt war, die Sorge um die Kampfkraft der Truppe und die Einsatzrisiken
den nachgeordneten Truppenführern zu überlassen; andererseits erleichterte
er es ihm, größere Pannen zu ignorieren oder zu beschönigen und die Verant­
wortung abzuwälzen.6 Für ihn war es wichtig, dass auf diese Weise sein nur
schwer zu durchschauendes Netzwerk von persönlichen Loyalitäten die Org
zusammenhielt. Hinzu kam seine Fähigkeit, vermeintliche oder tatsächliche
Erfolge, die nach heutiger Kenntnis der Hintergründe nicht selten als fragwür­
dig einzustufen sind, zu überhöhen, damit die Mitarbeiter zu motivieren und
den Erwartungen seiner Auftraggeber entgegenzuarbeiten.
Solche Erfolgsgeschichten kolportierte Reinhard Gehlen noch in seinen
späteren Memoiren. Dabei verschwieg er, wie viel er in der Org-Zeit gerade
bei der SBZ-Aufklärung von der Abschöpfung anderer Organisationen pro­
fitierte, insbesondere den Ostbüros der Bonner Parteien. Dass er nicht der
einzige Nachrichtenlieferant der Amerikaner gewesen ist, sondern nur ein
Teil ihres umfangreichen Spionageapparats, blieb im Dunkeln. Erst jetzt wird

6 Beispiele siehe Heidenreich/Münkel/Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg, S. 152-161.

1307
auch erkennbar, dass sein persönlicher Einsatz auf den Gebieten, auf denen
die Org und der BND am leistungsfähigsten waren, der taktischen Fernmel­
deaufklärung, dem Aufbau der Bundeswehr und der militärischen Lagebeur­
teilung, offenbar eher zurückhaltend gewesen ist. Diese Leistungsstärke und
Verdienste verdankte er einer Reihe von engagierten und hochprofessionellen
Mitarbeitern, was es ihm ermöglichte, sich stärker um die politische Aufklä­
rung, die fragwürdigen innenpolitischen Aktivitäten und den Kampf in Bonn
um die Verteidigung seiner Herrschaftspositionen zu kümmern.
Sein persönlicher Auftritt gegenüber den Autoritäten der Bonner Republik
war geeignet, den Argwohn Adenauers und Schumachers vor politisierenden
Generalen à la Hans von Seeckt zu besänftigen. Adenauer und Globke waren
sich von Anfang an klar darüber, dass Gehlen kein »Canaris« sein würde. Als
Mann der Amerikaner schien er aber nützlich sein zu können, und geeignet,
die Balance als Diener zweier Herren auszuhalten.7 Seine Attitüde der Beschei­
denheit und Zurückhaltung schuf in Bonn Vertrauen. Gehlen präsentierte sich
in gewohnter Manier gegenüber Höhergestellten als geflissentlicher »Füh­
rungsgehilfe«, effizient, scheinbar ganz rational und sachorientiert. Innerhalb
seiner Organisation erwartete er von Untergebenen ein ähnliches Verhalten.
Das machte ihn empfindlich gegenüber Kritik und unaufgefordert vorgetrage­
nen Verbesserungsvorschlägen, die auf der Annahme beruhten, die Führung
habe Fehler gemacht und müsse handeln. Das betraf in der Frühphase vor
allem die ehemaligen Abwehroffiziere, die es gewohnt waren, oft unter hohem
persönlichen Risiko Nachrichten zu beschaffen. Gehlen als erfahrener Auswer­
ter musste diesen Teil des Geschäfts erst noch lernen, und so beobachteten
ihn die Mitarbeiter seines internen Konkurrenten Hermann Baun mit selbst­
bewusstem Argwohn. Siegfried Graber etwa beschrieb ihn als stets menschen­
scheu und knochentrocken, auch bei Gesprächen unter vier Augen, immer in
der Nähe einer Schreibtischkante, um sich gegebenenfalls abzustützen.
Gehlen scheute, als Grundzug seines Charakters, die persönliche Konfron­
tation um nahezu jeden Preis. Seine größte Schwäche, so erkannten die Ame­
rikaner schon früh, war ein Mangel an Mut in Personalsachen. Er vermeide
es, unangenehme Themen mit den betroffenen Personen zu erörtern, sondern
erreiche sein Ziel indirekt oder durch die Delegierung einer frontalen Attacke
an einen anderen.8
Konkurrenten schaltete er durch sorgfältig geplante Intrigen aus. Spürte
er Widerstand oder einen Meinungsunterschied bei Vorgesetzten, »feinfühlig«

7 Bericht über ein Gespräch mit Globke, 9.8.1951, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol l_20F3, S. 32.
8 Debriefing Critchfields für [unlesbar], 7.7.1952, NA Washington, RG 319, Entry 134A, Rein­
hard_Gehlen_vol l_20F3, S. 51.

1308
wie er in solchen Fällen sein konnte, wich er sofort aus.9 Das war die antrainierte
Attitüde eines gelernten »Führungsgehilfen« im früheren Generalstab. Dahin­
ter verbarg sich, wie manche es erlebten: ein arrogantes Geltungsbewusstsein
aus dem Hintergrund, ein selbstgefälliges »Renommieren, das schließlich zur
kalkulierten Lüge wird, die ganz zuletzt als Wahrheit geglaubt wird«.10
Feinfühligkeit »nach oben« galt gegenüber Amerikanern in der Frühphase
nur bedingt. Hier musste er seinen Stolz überwinden, notfalls sich auch anbie­
dern. Der Anpassungsdruck war enorm. Dennoch entwickelten sich die Ame­
rikaner zu seinen schärfsten Kritikern, weil Gehlen sich gegen eine strengere
Kontrolle durch die Besatzungsmacht mit allerlei Schlichen wehrte und im
Glauben, die Übernahme der Org durch die Bundesregierung stehe unmittel­
bar bevor, trotzig auftreten konnte und mit Rücktrittsdrohungen die CIA unter
Druck zu setzen versuchte. Wut und Enttäuschung lud er bei seinen engsten
Vertrauten, insbesondere bei Heinz Danko Herre, ab, dem es zufiel, Span­
nungen im Verhältnis zu den Amerikanern abzubauen. Als er Gehlen später
»auf den Wecker fiel«, wurde Herre als Resident in die USA abgeschoben, kein
unwichtiger Posten, aber in der jetzt vom Chef gewünschten Distanz.11
Allen negativen Eigenschaften Gehlens, die von den Amerikanern moniert
wurden, zum Trotz, wie sein Hang zur Selbsttäuschung, seine Besessenheit,
wenn es um mögliche Konkurrenten ging, die Bevorzugung von »Speichelle­
ckern« in seiner engsten Umgebung, sein Mangel an politischem Talent:12 Sie
schätzten am Ende die Nützlichkeit der Legende vom allwissenden Ostspion,
die Gehlen zu verbreiten verstand, und die Fähigkeit, seine heterogene Orga­
nisation über Rückschläge und Enttäuschungen hinweg zusammenzuhalten,
schließlich seine erfolgreiche Präsentation in Bonn, die eine günstige Aussicht
darauf öffnete, dass der künftige deutsche Geheimdienst als eine amerikani­
sche Schöpfung mit der westlichen Vormacht stets in besonderer Weise ver­
bunden bleiben würde.
Nach dem Einzug ins Pullacher Areal hatte Gehlen in seinem Dienstzim­
mer ein Abbild der Totenmaske von Friedrich dem Großen anbringen lassen.
Aber Graber erinnert sich wie viele andere, dass Gehlens Selbstdisziplinierung
durchaus Grenzen hatte. Strenge, Pünktlichkeit und andere Sekundärtugen­
den, die man dem Preußentum zuschreibt, standen bei ihm nicht unbedingt
an erster Stelle, obwohl er sich gern des Mythos bediente.13 Den »harten«

9 Erinnerungen Grabers, BND-Archiv, N 4/15.


10 Erinnerungen Grabers, BND-Archiv, N 2/20, S. 10 -11.
11 Seydlitz-Kurzbach, Stellungnahme zu offenen Fragen, 11.11.1991, BND-Archiv, N 71.
12 Memo von Pleasants und Critchfield, 19.4.1951, NA Washington, RG 319, Entry 134A,
Reinhard_Gehlen_vol l_20F3. S. 18-21.
13 Erinnerungen Grabers, BND-Archiv, N 4/15, S. 141.

1309
Soldaten bzw. Kommiss und Kasernenhof zu spielen, bereitete ihm sichtlich
Unbehagen. Ihm lag mehr der »weiche« Umgangsstil, wie er ihn in Stabs­
quartieren und Kasinos schätzen gelernt hatte. So konnte er sich, wenn es
ihm gefiel, großzügig und fürsorglich geben, aber auch »protestantisch gezü­
gelt und humorlos«.14 Selbst schätzte er sich nach Natur und Erziehung als
Gentleman ein, nicht als polternder Rabauke. Feinsinnig und gebildet wollte
er erscheinen. Dass er lebenslang damit kokettierte, er hätte auch Arzt oder
Wissenschaftler werden können, spricht für sich. Wenn er sich auf geheim­
dienstlich-diplomatischem Parkett bewegte, vermochte er mit zurückhaltend­
freundlichem Auftreten nachhaltigen Eindruck zu erzeugen. So war die bereits
1947 von Gehlen angeknüpfte Zusammenarbeit mit dem dänischen militäri­
schen Nachrichtendienst die erste Partnerbeziehung auf Augenhöhe. Dessen
Chef, Oberst Hans Mathiesen Lunding, ehemals im KZ Flossenbürg interniert,
hatte zwar ursprünglich Zweifel an Gehlen und der Beschäftigung von Exnazis
in der Org gehabt, veröffentlichte aber 1970 nach langjähriger Zusammenar­
beit in seinen Erinnerungen ein Loblied auf seinen deutschen Kollegen:

Ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit bekam, mit ihm zusammen zu
arbeiten, und ich lernte ihn sehr zu schätzen. Seine ausgeprägten mit­
menschlichen Eigenschaften, sein gradliniger Charakter und entwickeltes
offiziersmäßiges Verständnis von Ehre eignete ihn für seine gefährliche und
verantwortungsvolle Position, die er jahrelang innehatte – und die ihm viel
Respekt einbrachte. Über ihn kann rechtens gesagt werden, was ich über
Nachrichtendienstler zu sagen pflege: Man braucht ein hohes Maß an Moral,
um imstande zu sein, >unmoralisch< zu handeln.15

Einer, der Gehlen sehr viel besser kannte und einer seiner schärfsten inter­
nen Kritiker bereits von den ersten Tagen an gewesen ist – lange bevor in der
Endphase der Ära Gehlen das Kanzleramt kritische Stimmen im BND sam­
melte war Joachim von Seydlitz-Kurzbach. Er empfand wie viele andere
seinen Schwager als autokratisch, verschlossen und beratungsresistent. Im
Rückblick verwies er besonders auf die Rolle der Stellvertreter Gehlens. Vom
Alter her und von ihrer Position seien zunächst die Generale August Otto Win­
ter und Horst von Mellenthin eine Art von Stellvertreter gewesen. Praktisch
hätten sich ihre Möglichkeiten aber als sehr beengt erwiesen. Gehlen suchte
sich einen fähigen »zweiten Mann«, ohne eigene Ambitionen und Ehrgeiz, der
sich damit still abfindet, nicht in alle Überlegungen und Operationen des Chefs

14 Ebd., S.6.
15 Zit. nach Franceschini/Wegener Friis/Schmidt-Eenboom, Spionage, S. 213.

1310
eingeweiht zu sein.16 Als Gehlen dann den »Provinzfürsten« Hans-Heinrich
Worgitzky in die Zentrale holte und ihn offiziell auf diesen Posten setzte, habe
sich dieser bei Seydlitz-Kurzbach oft beklagt, dass er nicht wirklich an der
Leitung mitwirken durfte. Winter, Mellenthin und Worgitzky hätte sich Geh­
len ausgesucht, weil er darauf vertraute, dass sie loyal zu ihm standen und
keine Schwierigkeiten machen würden.17 Ein nur bedingt einsatzfähiger Vize
bedeutete aber zugleich, dass Gehlen eine Dauerbelastung auf sich nahm und
nur selten Urlaub machte. Schließlich folgte Wendland auf die Position und
erwarb in der Spätphase mit organisatorischem Geschick große Verdienste
um den BND. Er verfügte aber nur über geringe Menschenkenntnis und nahm
deshalb Gehlens Andeutung über seine mögliche Nachfolge allzu ernst. Sein
Selbstmord war die Konsequenz.
Mit den katastrophalen Rückschlägen in der Arbeit des BND Anfang der
1960er-Jahre brach nicht nur ein Generationskonflikt zu den jüngeren, aka­
demisch gebildeten Mitarbeitern auf, sondern auch innerhalb der Kriegsge­
neration, die sich teilweise um ihre Verdienste von einem hilflos agierenden
Chef betrogen fühlte. »Die Denaturierung der Org alten Angedenkens begann,
als das Vertrauen, das die Kriegsgeneration beseelte, zerbrach, als bloßer Ehr­
geiz schnelle Erfolge erzwingen wollte, als geheimes Wissen mit dem Willen
zu eigener Macht verknüpft und keine sittliche Konzeption für die geheime
Arbeit damals und für die Zukunft gefunden wurde.«18 So die Einschätzung
von Siegfried Graber.
Gehlens Verhältnis zu einer Personalvertretung war geprägt von einem auto­
ritären Patriarchat, wie er es aus seiner Reichswehrzeit gewohnt war. So hatte
er in der Org-Zeit zunächst den alten Abwehroffizier Walter Schenk zum Per­
sonalvertreter ernannt, nachdem dieser als Chef der Beschaffung 1951 abge­
löst worden war. In einem kleinen Zimmer habe er, wie Graber berichtet, als
Beichtvater für die Beschäftigten gewirkt, um die Atmosphäre zu entgiften und
die Arbeitslust durch väterlichen Zuspruch wieder zu erhöhen. Nach Schenk
wurde es Kurt Semper, ehemaliger Generalstabsoffizier im Kampfgeschwa­
der 200, der verzweifelt in seiner Loyalität zu Gehlen die undankbar-missliche
Aufgabe zu erfüllen trachtete. Er sei bedrückt gewesen, weil der Präsident nur
zeitlich knappe Vortragsgelegenheiten einräumte, wöchentlich eine Stunde,
wenn überhaupt. Änderungen seien ohnehin kaum zu erreichen gewesen. Nach
1956, als viele Mitarbeiter des Dienstes zur Bundeswehr wechselten, habe sich
erheblich Stoff für Unzufriedenheit und Unruhe angesammelt. Semper, der all­

16 Erinnerungen Kurt Weiß’, BND-Archiv, N 10/2, S. 25.


17 Seydlitz-Kurzbach 1992, BND-Archiv, N 71/2.
18 Erinnerungen Grabers, BND-Archiv, N 4/20, S. 55.

1311
seits geachtet und fürsorglich gewesen sei, habe einen aufzehrenden Kampf
um die Durchsetzung der Rechte des Einzelnen geführt, gegen eine Führungs­
gruppe, die mit falsch verstandenen Sicherheits- und Schweigeverpflichtungen
dem Nutzen des Nachrichtendienstes zu dienen glaubte, in Wirklichkeit aber
nur erreichte, dass Betroffene bei Stellen außerhalb Rat und Hilfe suchten. Den
Kampf um eine demokratische Personalvertretung führte dann der Nachfolger
»Kempf« (DN) fort, als Vertreter der Gewerkschaft ÖTV.19
Wenn Abteilungsleiter versagten bzw. Fehler machten, die den Chef gefähr­
deten, konnte er brüsk und abweisend sein. Er versetzte sie aus seinem Umfeld
und schuf notfalls eine neue Position, vorzugsweise im Ausland, um die Betrof­
fenen aus seinem Gesichtskreis zu entfernen. Fern der Zentrale durften sie
warten, bis der »Doktor« sie vielleicht wieder an sich heranließ. Kurt Kohler,
Leiter der Gegenspionage und Chef von Heinz Felfe, gehörte zu ihnen. Bereits
vor der Aufdeckung des größten Verrats im Dienst hatte Kohler den unwilligen
Präsidenten herausgefordert, weil Gehlen keine Neigung zeigte, bei der eigent­
lich notwendigen und vom Kanzleramt geforderten Abstimmung mit dem BfV
auf dem Feld der Gegenspionage genauere Vereinbarungen zu treffen. Gehlen
habe an dem scheinbar erfolgreich operierenden Felfe, der vom sowjetischen
Geheimdienst entsprechend geführt wurde, so viel Gefallen gefunden, dass er
sich mit ihm an Kohler vorbei besprach.
Als sich der Verdacht gegen Felfe erhärtete, blieb Kohler als sein Vorgesetz­
ter uninformiert. Gehlen war für ihn nicht mehr zu sprechen, und er bekam
zu hören, dass man ihn so schnell wie möglich loswerden wollte, um sagen
zu können, man habe den verantwortlichen Abteilungsleiter bereits aus dem
Verkehr gezogen. Tatsächlich wurde Kohler in den Auslandsverbindungsdienst
versetzt, wartete dort für drei Jahre auf die vorgesehene Kommandierung in
die Schweiz. Drei Briefe an den Chef blieben ohne Antwort, zwei davon hatten
Gehlen nicht erreicht, weil Kohlers Nachfolger die Weiterleitung verhinderte,
um Ärger zu vermeiden. Das Kanzleramt wies den Präsidenten schließlich an,
Kohlers Eingabe endlich zu beantworten. Gehlen lud Kohler vor, beschimpfte
ihn, weil er sich an das Kanzleramt gewandt hatte. Kohler, der bei den Unter­
suchungen zum Verratsfall Felfe nicht einmal angehört wurde, sollte ursprüng­
lich in die Niederlande versetzt werden, landete dann für sechs Jahre in Por­
tugal. Nach seiner Rückkehr traf er bei einem Empfang den pensionierten
Gehlen, der meinte, mit dem Einsatz in Portugal habe Kohler bewiesen, dass
er doch ein guter Nachrichtenmann sei. Kohler konnte sich nicht durchringen,
die angebotene Hand des »Doktors« zu ergreifen.20

19 Ebd., S. 57.
20 Erinnerungen Kohlers, BND-Archiv, N 17/1, S. 19-45.

1312
Die beste und umfassendste Charakterstudie zu Gehlen aus seinem dienst­
lichen Umfeld stammt von Harald Mors aus dem Jahr 1983. Es war »Ein kriti­
scher, aber dankbarer und nostalgischer Rückblick auf 18 Jahre unter, bei und
mit General Reinhard Gehlen«.21 Trotz der »Schatten«, die im Laufe der Jahre
auf seine Beziehungen zu Gehlen gefallen seien, verdiene der ehemalige Prä­
sident ein »gerechtes Bild«, dessen kontroverse Wertung bei einer derartigen
Persönlichkeit durchaus »normal« sei. Doch Mors ließ keinen Zweifel daran,
dass Gehlens Führungsstil eine schwere Bürde für den BND gewesen sei. Der
Zusammenhalt in den wilden Jahren der Org sei nicht ausschließlich sein Ver­
dienst gewesen. Er habe das Glück gehabt, dass seine Mitarbeiter, auch die
später Frustrierten, Enttäuschten, die zahlreichen ungerecht Behandelten,
die Schar der sogenannten Gehlen-Geschädigten, meist aus einer Institu­
tion stammten, in der Meckern als »der Stuhlgang der Seele« galt, in der man
»gehorsam, diszipliniert und opferbereit sich in den Dienst der gemeinsamen
Sache stellte«.22
Gehlen habe stets darauf bestanden, ein Leben lang »Soldat mit Leib und
Seele« gewesen zu sein. Doch ein typischer Offizier sei er nicht gewesen, meinte
Mors, eher ein Analytiker, aber kein Organisator, keiner, der seine Wege klar
definieren konnte, kein robuster Frontalkämpfer. Er habe unkonventionelle,
verborgene Pfade bevorzugt, undurchsichtige Konstruktionen, unbeobachtete
und unerwartete Seitenwege. Gängige konspirative Grundsätze der Ostaufklä­
rung habe er auch gern gegen einzelne seiner Leute angewendet, was zu Ver­
wirrungen führte und manchen treu ergebenen Mitarbeiter vor den Kopf stieß.
Seine Offiziere konnten seine »labyrinthischen Verfahrensweisen« nur schwer
nachvollziehen, gegenüber offenen oder versteckten Vorwürfen reagierte
er nicht selten einfach mit Gelassenheit.23 Sein unorthodoxer Führungsstil
habe allen Mitarbeitern zu schaffen gemacht. Er profitierte davon, dass die
militärische Ausbildung darauf abgezielt hatte, dass ein Generalstabsoffizier
nach preußischer Tradition eine abweichende Meinung zwar offen und mutig
vorzutragen hatte, dann aber den letztlich vom Vorgesetzten gegebenen Befehl
strikt ausführte. Gehlen konnte sich hinter dem Mantel »strikter Geheimhal­
tung«, »Quellenschutz«, »Tarnung vor dem Gegner«, »Rücksichtnahme auf
den Partner« zurückziehen und alle Wege offenhalten. Die Scheu vor klaren
Kompetenzabgrenzungen und Festlegungen, »impulsives Genie« und Kom­

21 BND-Archiv, N 19, zugänglich auch durch eine Kopie in CGC Box 4, zit. nach: Magnus
Pahl: Achtung Spione!; in: Pahl/Pieken/Rogg (Hg.), Achtung Spione! Essays, S. 20-29, hier
S. 23, Anm. 5. Zu Mors, Gehlens wichtigstem Verbindungsmann nach Paris für mehr als
ein Jahrzehnt, siehe demnächst Krieger (Hg.), Globale Aufklärung.
22 Ausarbeitung Mors, BND-Archiv, N 19, S. 4.
23 Ebd., S.6.

1313
promisse als gefürchteter Ausweg trugen oft dazu bei, Verhältnisse unüber­
sichtlicher zu machen, was Gehlen durchaus nicht scheute. Im Gegenteil, als
Mors ihm einmal den Plan zu einer organisatorischen Neuregelung vorlegte,
schien das Gehlen zunächst vernünftig zu sein. Als sich Mors dann aber nach
der Genehmigung zufrieden zeigte, dass nun endlich klare Verhältnisse herr­
schen würden, reagierte Gehlen überraschend: »Klare Verhältnisse? Ich will
keine klaren Verhältnisse!« Der Plan war damit gestorben.24 Gehlen glaubte
offenbar, dass er mit verschlungenen Befehlswegen der Einzige sein würde, der
den Überblick hatte, alle Fäden in der Hand hielt und die gegnerische Aufklä­
rung verunsicherte.
Mors beklagte nicht zuletzt den »unausrottbaren Nepotismus« seines
Chefs, der nicht erst durch öffentliche Vorwürfe nach dessen Pensionierung
für viele zu einer schwerwiegenden Belastung geworden sei. Diese »unerträg­
liche Vetternwirtschaft« sei der Grund dafür gewesen, dass er seine 15-jährige
enge Vertrautheit mit Gehlen verloren gab, dem er loyal gedient habe, »bis
Gehorsam Ehre nicht brachte«.25 Als er 1950 als neuer Mitarbeiter zum ersten
Male das Kasino in Pullach betrat, habe ihn eine ganz besondere Atmosphäre
gefesselt. Sein Begleiter habe zu jedem Namen erklärt: Artillerie-Regiment 18,
Fremde Heere Ost, Familienclan, um 27 Ecken verwandt, hoher verarmter Adel
aus dem Osten etc. Das Ambiente bestand aus

hinterpommerschem Adel, ostpreußischem Großgrundbesitz, baltischer


Schloßatmosphäre, schlesischem Garnisonskasino und der verschworenen
Gemeinschaft der nächtlichen Kognak- und Kaffeerunde im OKW-Füh­
rungsstab nach der Lagebesprechung bei Hitler! Ein Graf als Kraftfahrer,
eine Comtesse als Telephonistin, ein Prinz als Kurier ergänzten den Cocktail
ebenso wie die Tochter des Ministers X und der Sohn des Ministers Y, von der
Palette der ehemaligen Heeresgruppenchefs und Armee-Ic’s ganz zu schwei­
gen. Auch das Unterpersonal war vollkommen integriert, alte Frontsoldaten,
Burschen, Fahrer, eine prächtige Mannschaft und viele Damen, die schon als
Sekretärinnen in den hohen Stäben mitgearbeitet hatten. Flieger und Seebä­
ren waren anfangs in einer Minderzahl, das Heer in altpreußischer Prägung
und Erziehung bestimmte Ton und Umgang: man war >unter sich< und lebte
im verwobenen Netz tausendfältiger Querverbindungen landsmannschaft­
lichen, kriegsbedingten, waffen- oder jahrgangsmäßigen, verwandtschaft­
lichen Ursprungs (zu dessen vollständiger Entwirrung die 19 Dienstjahre
nicht ausgereicht haben!) unter der schützenden Glocke der Amerikaner,

24 Ebd., S. 11.
25 Ebd., S. 12.

1314
unberührt von Lebensmittelmarken, Trümmern, Wohnungsnot, Schwarz­
marktpreisen auf einer stacheldrahtumzäunten Insel, die sich aus dem Ges­
tern unversehrt in das Heute hinübergerettet hatte. Hinter der Anonymität
banaler Decknamen, die zu den Kronen auf den Wappenringen nicht passen
wollten, lebte und arbeitete hier eine einzigartige Gemeinschaft in einer ein­
zigartigen Atmosphäre an einer einzigartigen Aufgabe. Da die Sicherheits­
auflagen Kontakte nach außen auf ein Minimum beschränkten, wurde man
Mitglied einer Großfamilie und lebte darin in einer für die damaligen Ver­
hältnisse im geschlagenen und zerbombten Deutschland unvorstellbaren
Unbeschwertheit.«26

Zu den eigentümlichen Schwächen Gehlens rechnete Mors auch dessen Tab­


lettensucht. Leider

machte er von ihnen in dem ununterbrochenen Dienstbetrieb, in dem er sich


befand, reichlich Gebrauch: Pillen zum Durchhalten, Pillen zum Einschlafen,
Pillen zum Aufwachen, Pillen gegen beginnende Erkältung, Pillen, Pillen, Pil­
len! Seine engen Mitarbeiter amüsierten sich darüber mehr als es sie beun­
ruhigte, denn ich kann mich nicht erinnern, jemals gehört zu haben: >Der
Doktor ist krank.<27

Gehlens Hobby seien technische Erfindungen im Nachrichtendienst gewesen,


dafür fand er immer Zeit und – obwohl er sich für einen großen Menschenken­
ner hielt – für die Grafologie, der er sich bei der Einstellung neuer Mitarbeiter
und bei der Beurteilung ausländischer Gesprächspartner bediente. Er habe
auf eine Münchener Grafologin geschworen, bis sie in Ungnade fiel, weil sie
ein vernichtendes Urteil über seinen Schwiegersohn lieferte. Doch ein anderer
herangezogener Fachmann bestätigte es.
Wenn man Gehlen auch nachsagte, er sei trocken und humorlos gewesen,
so habe es doch Ausnahmen gegeben. Die Mittagsrunden im kleinen Kreis
unmittelbarer Mitarbeiter fielen unbeschwert und anregend aus, zumal dienst­
liche Erörterungen meist vermieden wurden. Bisweilen machte Gehlen sogar
Späße. Er hatte einmal den Schlüsselbund seiner Sekretärin mit allen Panzer­
schrankschlüsseln auf ihrem Schreibtisch liegen sehen und ihn an sich genom­
men, die Tischteilnehmer vorwarnend. Als »Alo« zurückkam und den Verlust
bemerkte, fing sie an zu suchen, fragte, wurde unruhig, verzweifelt. Gehlen
suchte ostentativ mit, vorwurfsvoll blickend, kroch auf dem Teppich herum,

26 Ebd., S. 13.
27 Ebd., S. 17.

1315
hob Sessel, rückte Schreibtische, von den anderen assistiert. Alle hatten – mit
Ausnahme von Gehlens Geliebter – großen Spaß.
Gehlen soll über ein unerschöpfliches Reservoir an kleinen Geschichten
und Wortspielen verfugt haben. Nie sei aber eine schlüpfrige Geschichte über
seine Lippen gekommen, auch nicht in der Männerrunde. Er sei nahezu prüde
gewesen. Auch schwarzer Humor habe ihm nicht gelegen. Mors berichtet von
dem ersten offiziellen Besuch in Paris, bei dem SDECE-Generaldirektor Boursi­
cot seinem deutschen Kollegen ein festliches Essen im Hotel Henri IV in Saint-
Germain-en-Laye gab. Ein Dutzend Abteilungsleiter saß um einen ovalen Tisch
in einem besonderen Salon. Gehlen und Mors waren die einzigen Deutschen,
Mors als Dolmetscher zwischen Gehlen und Boursicot sitzend. Kellner schwirr­
ten herum, erlesene Speisen und köstliche Weine wurden serviert, die Stim­
mung war gelockert. Boursicot, ein lebensfroher Gourmet und »Commandeur
de l’Ordre du Tatstevin«, bot mit überschäumendem Charme einen starken
Kontrast gegenüber dem (gallenkranken) Gehlen, der still und ohne sichtlichen
Genuss die kulinarischen Köstlichkeiten über sich ergehen ließ. Das Gespräch
entwickelte sich mühsam, jedes Mal, wenn ein Kellner vorbeikam, verstummte
Gehlen. Boursicot vermutete, sein Gast sei wohl verwundert über die Freizü­
gigkeit, mit der über dienstliche Interna in einem öffentliche Lokal gesprochen
wurde, dabei müssten nach Gehlens Überzeugung die Hälfte der Kellner doch
Agenten der Russen sein. Boursicot daraufhin zu Mors: »Sagen Sie Ihrem Gene­
ral, er könne hier ganz offen reden, im Anschluss an das Essen wird das gesamte
Personal erschossen!« Die Kellner waren Angehörige des französischen Nach­
richtendienstes und wurden bei solchen Gelegenheiten mitgebracht. Schallen­
des Gelächter auf französischer Seite während Mors übersetzte. Der Doktor sei
sich aber sekundenlang nicht schlüssig gewesen, ob er darüber lachen solle!28
Es habe, so Mors abschließend, allerdings auch unentschuldbare Nach­
lässigkeiten bei der Einhaltung von Sicherheitsregeln in Pullach gegeben, die
Gehlen geduldet habe. Für die Nonchalance der Offiziere, die Verschwiegenheit
für eine Frage der Loyalität hielten und wenig Verständnis dafür aufbrachten,
wenn ihre Aktentaschen am Tor kontrolliert werden sollten, Verwandte über­
prüft und die persönlichen Verhältnisse unter die Lupe genommen wurden,
hatte der »Doktor« offenbar ein gewisses Verständnis. Kritisch darauf ange­
sprochen, antwortete er nur ironisch mit einem freundlichen Lächeln: »Sie
wissen ja nicht, ob Sie nicht ständig observiert werden! Wenn Sie es merken
würden, wäre die Überwachung ja schlecht!«29 Er könnte dabei an die telefo­
nische Überwachungsanlage gedacht haben, mit der er zeitweise Gespräche

28 Ebd., S. 19.
29 Ebd., S. 23.

1316
seiner leitenden Mitarbeiter aufzeichnen ließ. Der laxe Umgang mit Sicher­
heitsvorschriften, beklagte Mors, habe dazu beigetragen, dass sich ein Ost­
agent wie Felfe zehn Jahre lang im Dienst bewegen konnte und Gehlen frühe
Warnungen überhörte. Felfe habe sich bei seiner Verhaftung in der Zentrale
so sicher gefühlt, dass er Anweisungen seiner Auftraggeber in der Brieftasche
bei sich trug. Im Widerspruch dazu trugen Anordnungen zur Verwendung
von verdeckten Kfz-Kennzeichen für alle Mitarbeiter, der häufige Wechsel der
Personalziffern und die Verwendung der Decknamen in allen Bereichen zur
Verwirrung und wachsenden Kritik bei. Gehlens Abschottungssystem habe
schließlich mehr zur persönlichen Abschottung gedient als zur Verwirrung
gegnerischer »Maulwürfe« und zudem den Dienst mit Doppelarbeit sowie
mangelnder Koordination belastet.
Die hervorstechendste Eigenschaft Gehlens, so Mors, sei Geduld gewesen,
was viele Mitarbeiter nicht verstanden, wenn unter Lebensgefahr von eige­
nen Agenten beschaffte Informationen so einfach ausländischen Diensten
zur Verfügung gestellt wurden, ohne Gegenleistungen zu verlangen, weil der
Chef darauf setzte: »niemals etwas verlangen, immer kommen lassen«. Dass
damit Vertrauen geschaffen werden könnte, war nicht unbedingt einsichtig.
Mit seinen häufigen Mahnungen zur Geduld habe Gehlen allerdings auch die
eigene Entschlusslosigkeit verdecken können und sein »taubes Ohr«, wenn
Dinge an ihn herangetragen wurden, die ihm unangenehm waren. Er sei sei­
nem Naturell nach kein Delegierer gewesen und wollte nach Möglichkeit alles
selbst entscheiden, überwachen oder oft selber machen. Mit dem Anstieg der
Aufgaben sei er deshalb bald hoffnungslos überfordert gewesen. Es sei schließ­
lich zum Glücksfall geworden, eine Entscheidung des »Doktors« zu erhalten.
Probleme schmorten oft wochenlang, der Betrieb wäre kollabiert, wenn nicht
General Wendland, jahrelang seine rechte Hand, und Eberhard Blum, getreuer
und unermüdlicher Chef des Präsidentenstabes, immer wieder Entscheidun­
gen auf eigene Verantwortung getroffen hätten. »Selbständigkeiten der unte­
ren Führung« wurden Voraussetzung dafür, dass der Laden lief, was Gehlen
aber eigentlich überhaupt nicht mochte, denn er fürchtete, dass Untergebene
zu groß werden könnten. Er neigte dazu, die Loyalität der Abteilungsleiter zu
unter- und deren Ehrgeiz zu überschätzen. Gehlen habe nicht begriffen, dass
einzelne Arbeitsgebiete inzwischen so groß und komplex geworden waren,
dass eine Delegierung von Vollmachten unumgänglich wurde. Außerdem seien
die Herren inzwischen erfahrene, routinierte Fachleute reifen Alters und arri­
vierter Dienstgrade geworden, die sich nicht darauf beschränkten, »dem Dok­
tor die Zunge herauszustrecken, wenn er eine Briefmarke anfeuchten will«.30

30 Ebd., S.26.

1317
Was hat Gehlen bei seiner Arbeit zum Aufbau des BND angetrieben, was
hat ihn motiviert, nach seiner scheinbar glänzenden Karriere als Berufssol­
dat die Wandlung zum Geheimdienstchef und Politiker zu vollziehen und sich
darin aufzureiben? Harald Mors, bei allem Respekt und aller Hochachtung,
die er trotz seiner kritischen Bemerkungen zu seinem Chef empfand, war sich
nicht sicher, ob Gehlen wirklich vom »vaterländischen Gewissen« und einer
»weitschauenden politischen Zukunftsvision« angetrieben wurde.31 Es mag
überraschen, Reinhard Gehlen, der für die Zeitgenossen und in seiner Selbst­
darstellung die Inkarnation des Kämpfers gegen die Sowjetunion und den
Weltkommunismus zu sein schien, ausgerechnet in seiner weltanschaulichen
Haltung kritisch zu hinterfragen. Seine drei im Alter verfassten Bücher, mit
denen er sich als antikommunistischer Mahner für eine breite Öffentlichkeit
zu inszenieren bemühte, waren womöglich mehr das Produkt gekränkter Eitel­
keit als die Offenbarung eines reflektierten politischen Credos, das sein Leben
bestimmt hat. Gehlen selbst hat nie behauptet, dass ihm der Kampf gegen den
Kommunismus ein prägendes Anliegen sei – vor 1945!
Sein Eintritt in die Reichswehr folgte keinem vorwiegend patriotischen
oder gar republikanischen Impuls. Aufgewachsen in einem bürgerlich-natio­
nalkonservativen Umfeld, zog es den Abiturienten dem Vorbild des Vaters ent­
sprechend in den Offiziersberuf – gleichwohl lockte ihn als Alternative auch
das Medizinstudium. In den Kasernen der Weimarer Republik bewegte er sich
in den prägenden ersten Berufsjahren in einem Umfeld, das dem Seeckt’schen
Leitbild des unpolitischen Soldaten folgte. Er hielt sich also fern von parteipo­
litischen Diskussionen. Demokratische Leitbilder blieben ihm offenbar fremd.
Stattdessen ging er gänzlich in seinen dienstlichen Bezügen auf und fühlte sich
offenbar in dem alten feudalen Gepräge seines Berufs aufgehoben und ange­
nommen. Er war ein angepasster, strebsamer junger Offizier, wie die meisten
seines Jahrgangs, orientiert am Preußentum damaliger Prägung, das heißt der
Verbindung sentimentaler Erinnerung an vergangene, scheinbar glanzvolle
Zeiten und deutsche Größe mit einer begrenzten Aufgeschlossenheit für die
Moderne und die Notwendigkeit neuer Antworten auf die Herausforderungen
der Zeit. Über allem stand eine offenbar auch von ihm nicht tiefer reflektierte
Reichsidee, in der dem Militär die Aufgabe zufiel, einen abstrakten Staatsge­
danken aus vordemokratischer Zeit durch die schwankenden politischen Ver­
hältnisse der Gegenwart zu erhalten und damit den Weg zu neuer Größe des
Reiches zu ebnen.
Reinhard Gehlen gehörte, soweit wir wissen, nicht zu jenen sich radikalisie­
renden Kräften auf der Rechten, die den Sturz der Republik erhofften und auf

31 Ebd., S. 3.

1318
eine starke Führerpersönlichkeit in einem autoritären Staat, womöglich einer
Art von Militärdiktatur setzten. Am Beginn seiner Generalstabsausbildung
stehend, hat er sich 1933 vermutlich wie die meisten seines Standes wenig
Gedanken darüber gemacht, was die Machtübernahme durch die Nationalso­
zialisten bedeutete. Der untergegangenen Republik weinte keiner von ihnen
nach. Dafür lockten glänzende berufliche Aussichten in der angekündigten
Wiederwehrhaftmachung und die Erwartung, dass in der künftigen »Volks­
gemeinschaft« der Offiziersberuf wieder den ersten Stand im Staate bilden
könnte. Ansehen und Karriere müssen den Eifer und die Identifikation mit
seiner geistigen Heimat, dem Militär, beflügelt haben. Und der junge Haupt­
mann wurde reichlich belohnt. Da bildeten leise Bedenken und Widersprüche,
denen er als »Führungsgehilfe« an der Spitze des Heeres seitens älterer Gene­
rale begegnete, anscheinend keinen nachhaltigen Anstoß, tiefer über Charak­
ter und Ziele des NS-Regimes nachzudenken. Der Führerkult dürfte ihn kaum
erfasst haben. In seinem nüchternen Arbeitseifer blieb dafür kaum Raum. Aber
er verstand, dass dem Heer mit der SS eine ernsthafte Konkurrenz erwuchs
und man sich mit diesen »Brüdern« arrangieren musste.
Der Krieg veränderte seinen Horizont erstaunlicherweise nicht wesentlich.
Als er unmittelbar an der Spitze des Heeres an Vorbereitung und Führung des
Ostfeldzuges mitwirkte, beflügelten ihn vor allem seine stark ausgeprägten
operativen Neigungen und Talente. Der Eindruck, dass durch Hitlers Eingriffe
der erfolgversprechende Plan »Barbarossa« gescheitert und damit der Sieg
verspielt worden sei, wurde zu Gehlens Trauma. Noch kurz vor seinem Tode
bekannte er sich zu der Auffassung:

Es war aber so, daß die ursprünglich strategische Konzeption eine gemischt
politische war, die bei richtiger militärischer Führung – und des Glaubens bin
ich auch heute noch – zu einem Erfolg des deutschen Ostfeldzuges geführt
hätte und auch gleichzeitig zur Schaffung eines demokratischen Rußlands.
Die immer wieder fehlerhaften Eingriffe Hitlers in die militärische Führung
sind der Grund für den Mißerfolg dieses Krieges, der meines Erachtens bei
anderer Politik nicht hätte geführt werden zu brauchen.32

Dennoch war für ihn die Sowjetunion 1941/42 lediglich ein militärischer Geg­
ner, die verbrecherischen Aspekte der deutschen Kriegführung blieben ihm
zweifellos nicht verborgen, aber sie schienen ihn nicht moralisch zu beküm­
mern. Es zählte nur der erhoffte Sieg. Dafür setzte er sich bis zur Erschöpfung
ein. Im Frühjahr 1940 hatte er bei dem Projekt Ostwall kurzzeitig unmittelbare

32 Schreiben Gehlens an Mrs. A. Howard, London, 16.9.1978, S. 2, BND-Archiv, N 13/20.

1319
Berührung mit den rassenideologisch motivierten Mord- und Versklavungs­
aktionen der SS gehabt. Es scheint, dass er auch ein Jahr später im Zeichen
von verbrecherischen Befehlen der Heeresführung auf eine innere Distanz
ging und sich ganz an seinen eigenen beruflichen Auftrag hielt. Kameraden
wie Stauffenberg und Tresckow, die durch den verbrecherischen Krieg und aus
moralischer Empörung zum Widerstand und schließlich zum Staatsstreich
motiviert wurden, folgte Gehlen nicht.
Die Übernahme der Abteilung Fremde Heere Ost bot eine eher zufällige
Erweiterung seiner beruflichen Perspektiven. Wäre Anfang 1942 der Posten
des Abteilungsleiters Fremde Heere West zu besetzen gewesen, Gehlen hätte
sicherlich diese Beförderungschance ergriffen und sein Leben wäre in gänzlich
anderen Bahnen verlaufen. Nicht auszuschließen, dass dann nach Kriegsende
aus ihm ein ordentlicher Doktor (med.) geworden wäre. Seine Ausrichtung auf
den östlichen Kriegsschauplatz blieb zwar weiterhin hauptsächlich von den
operativen Fragen bestimmt, aber mit der unausweichlichen Reorganisation
der Abteilung kam er zugleich auch zu einem tieferen Verständnis des »russi­
schen Problems«. Hier übernahm er von den wenigen Russlandkennern seines
Bereichs die tradierten und kulturell geprägten Klischees des älteren konser­
vativen Russlandbildes – antikommunistisch, aber nicht rassenideologisch im
Sinne des Nationalsozialismus. Über die Förderung der Wlassow-Bewegung,
aber nur so weit es ihm keinen Ärger einbrachte, vermochte er sich auch mit
der SS zu arrangieren, denn selbst Himmler war schließlich dafür, eine anti­
stalinistische russische Beffeiungsarmee aufzubauen, um so den Endsieg viel­
leicht doch noch erringen zu können.
Reinhard Gehlen, der den Krieg als ein Ringen von militärischen Potenzia­
len verstand, hatte ab 1942/43 vorausgesehen, dass Deutschland wohl am Ende
unterliegen würde. Er nahm die Niederlage gedanklich vorweg und richtete
sich später darauf ein, auf seinem Platz bis zur letzten Minute auszuharren
und die militärische Ostaufklärung als seine Mitgift in Händen zu behalten,
um dann nach einem gut vorbereiteten Plan die Seiten zu wechseln. Wenn
Deutschland am Boden lag und bedingungslos kapitulieren würde, bot nur
ein Übertritt auf die Seite der US Army für ihn die Chance, weiterleben und
-arbeiten zu können. Das Kalkül war gut durchdacht und begründet. Es wurde
die erfolgreichste Geheimoperation seines Lebens. Er war kein Anhänger des
Nationalsozialismus im ideologischen Sinne gewesen. Hitler hielt er als Ober­
befehlshaber für eine Fehlbesetzung, die Besatzungspolitik im Osten (gegen­
über den Russen) für politisch falsch. Sehr viel mehr grundsätzliche Kritik gab
es allerdings nicht. Von dem Berufsoffizier, der an höchster Stelle an der Pla­
nung und Durchführung von einzelnen Feldzügen beteiligt war, konnte man
nicht erwarten, dass er den Krieg an sich ablehnte. Er bedauerte lediglich man­
che Fehler und bewahrte sich wie die meisten Kriegsteilnehmer ein positives

1320
Bild der Wehrmacht und ihrer »Leistungen« – trotz des verbrecherischen Ver­
nichtungskrieges.
Für Gehlen bedeutete der 8. Mai 1945 keine persönliche Kehrtwende. Er
wollte Soldat bleiben, auch um den Preis, womöglich als Kollaborateur zu gel­
ten. Sein Motiv, auf diese Weise den Kampf gegen den Bolschewismus fort­
setzen zu können, sollte nicht überbewertet werden. Gehlen war mehr Über­
lebenskünstler als Idealist. Großer Voraussicht bedurfte es nicht, den Zerfall
der Anti-Hitler-Koalition vorherzusehen und sich an die stärkste Militärmacht
im Westen zu halten, die das Angebot des angeblich besten Kenners des bis­
herigen Verbündeten und künftigen Gegners unmöglich ausschlagen konnte.
Dahinter steckte kein Demokrat und Antifaschist. Sein Antikommunismus
war hilfreich, um die Gefahren aus dem Osten zu beschwören und seine Hilfe
anbieten zu können. Das machten viele Spezialisten des untergegangenen
Dritten Reichs und der Achsenmächte so. Um die US-Militärs zu überzeugen,
brauchte es nicht viel mehr, als einige unreflektierte politische Floskeln, wie
christliches Abendland, westliche Kultur, Freiheit und Individualismus gegen
Kollektivismus, zu betonen.
Mit der »Umerziehung«, die von den Besatzungsmächten betrieben wurde,
hatten Gehlen und seine unter dem US-Schirm arbeitenden Gefolgsleute nichts
im Sinne. Sie akzeptierten den neuen Arbeitgeber als stärkste Militärmacht,
nicht dessen Deutschlandpolitik, schon gar nicht die Kriegsverbrecherprozesse
und die Entmilitarisierung. Gehlen rechnete mit Jahrzehnten, bis Deutschland
als Großmacht wiederauferstehen könnte. In seiner Sicht bedurfte es lediglich
der Entfernung einiger radikaler Nazis und der Bestrafung von »wirklichen«
Verbrechern. Die Masse des Volkes aber galt ihm als Opfer des Krieges, nieder­
geschlagen und dumpf, anfällig womöglich für soziale Parolen linker Verführer.
Das Projekt der Demokratisierung und vor allem die mit der Durchführung
befassten ehemaligen Emigranten und Widerständler galten ihm als höchst
verdächtig. Sein Verständnis von Demokratie war vor dem Hintergrund der
Weimarer Erfahrungen nicht stark ausgeprägt, im Gegenteil, sie galt ihm als
Einfallstor für kommunistische Subversion. So nahm er zum Beispiel für sich in
Anspruch, den Amerikanern oft erklärt zu haben, dass der Föderalismus beim
Aufbau der Bundesrepublik zu weit getrieben worden sei. Er habe den Sinn
gehabt, »dass Deutschland schwach bleiben sollte«.33
Sein Verständnis für die amerikanische politische Kultur blieb trotz einiger
teils ausführlicher Besuche in den USA oberflächlich. Er betrat den amerika­
nischen Kontinent als staunender Tourist, beeindruckt vom Wohlstand der
breiten Bevölkerung und – vor allem – der Macht von Militär und Geheim­

33 Gehlen im Interview mit Elke Fröhlich, 4.1.1972, IfZ, ED 100-68-175.

1321
dienst. Ein General als Präsident (Eisenhower), FBI-Chef Hoover auf Kommu­
nistenjagd, CIA-Chef Dulles mit weltweit operierenden Einsatzkräften, das
war sicherlich imponierend. Und mit dieser Macht verbündet zu sein, stärkte
natürlich auch das eigene Selbstvertrauen und ließ sich in Bonn sowie auf der
europäischen Bühne bestens ausspielen. Die USA und die Rassenfrage, das
war für Gehlen offenbar kein persönlich bewegendes Thema. Das Aufbegehren
der Jugend und die Antivietnamkriegsbewegung dagegen bereiteten ihm Sor­
gen im Hinblick auf die innere Stabilität der Supermacht. Gehlen hatte nicht
den Eindruck, dass man von den Amerikanern lernen konnte, weder auf dem
Geheimdienstsektor noch in politischer oder kultureller Hinsicht. Es gab in
seiner Sicht eine gewachsene deutsche und abendländische Kultur, auch in
den Methoden der nachrichtendienstlichen Arbeit, und – abweichend davon -
eine spezielle US-Kultur. Man verfolgte gemeinsame Interessen, unterschied
sich aber grundlegend. Abgesehen von technischen Errungenschaften hielt er
nichts von einer Amerikanisierung des alten Kontinents.
Die Veränderungen im globalen Rahmen, wie Dekolonisierung und die
Bewegung der Blockfreien, führten, soweit erkennbar, in Gehlens Weltbild
lediglich zur Ausweitung des »Schlachtfeldes« in der Auseinandersetzung mit
dem Weltkommunismus. Für diesen Kampf vertraute er seinerseits mehr auf
den Einsatz »harter« Waffen als in die Stärke der westlichen Werte. Die Nieder­
werfung kommunistischer Aufstände und Machtbildung, ob in Indonesien
oder Vietnam, verstand er als notwendige Gegenwehr gegen die Expansion des
Weltkommunismus, um eine Schwächung des Westens, die am Ende auch das
Zentrum der Blockkonfrontation in Europa erfassen könnte, zu verhindern.
Nach der Stabilisierung der westlichen Verteidigungsgemeinschaft durch
die deutsche Wiederbewaffnung musste nach seiner zutreffenden Einschät­
zung damit gerechnet werden, dass die Moskauer Führung auf »weiche«
Instrumente der politischen Unterwanderung und Revolutionierung setzte.
Militärische Abschreckungsfähigkeit, politische und wirtschaftliche Stabilität
des Westens waren für ihn Grundvoraussetzungen für eine Politik der Stärke,
die den Gegner am Ende in die Knie zwingen würde. Wandel und Flexibilität
einer solchen Strategie, die sich Anfang der 1960er-Jahre andeuteten, missver­
stand er als Indizien der Schwäche. Der sich entwickelnden neuen Ost- und
Entspannungspolitik vermochte er nicht zu folgen, schon gar nicht nach dem
Rücktritt von Kanzler Adenauer, seiner langjährigen persönlichen Orientie­
rungsmarke. Warum der BND-Chef damals nicht auch ausgewechselt wurde,
bleibt ein ungelöstes Rätsel der Bonner Politik.
Gehlen klammerte sich nun umso stärker an sein altes Feindbild. Für den
Kampf gegen den Weltkommunismus, die scheinbar drohende Gefahr in wech­
selndem Gewände, suchte er fieberhaft nach akademischer Unterstützung, wie
seine Bemühungen um eine entsprechende Universitätsgründung zeigen. Von

1322
ihm selbst kamen keine neuen geistigen oder politischen Impulse. Er blieb dem
nationalkonservativen Umfeld verbunden, fand keinen Anschluss an wesent­
liche Elemente der Opposition wie die Liberalen und die Sozialdemokraten,
nacheinander Koalitionspartner der konservativen Regierungsparteien. Das
Ende der Kanzlerdemokratie, die ihm mehr als ein Jahrzehnt Rückhalt und
Freiräume gewährt hatte, führte Reinhard Gehlen in die persönliche Isolation,
den BND in die Agonie. Ein personeller und konzeptioneller Neuanfang war
unausweichlich, ein grundlegender Umbau.
Gehlens glanzloser Abgang von der politischen Bühne signalisierte auch
jenen notwendigen Abschied von maßgeblichen Vertretern der Kriegsgenera­
tion, deren historische Bewertung widersprüchlich ausfiel. Aus ihrer Verant­
wortung als Funktionselite des Dritten Reiches, als Täter, Mitläufer oder Opfer,
hatten sie sich nach 1945 als Aufbaugeneration der Bundesrepublik bewährt.
Reinhard Gehlen gehörte zu jenen, die sich von den Prägungen aus Kaiser­
zeit, Republik und Diktatur nur schwer zu lösen vermochten und sich nur
schrittweise, zögernd dem Gebot des Neuanfangs unterwarfen. Er und seine
Mitarbeiter in der Org und im BND wurden gebraucht, um der westdeutschen
Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit zu geben und den Gegner im Osten zu
verunsichern. Der Feind musste damit rechnen, dass er, sollte er sich zum Ein­
satz militärischer Mittel entschließen, den westlichen Gegner nicht überrum­
peln könnte. Mit dem ehemaligen Chef FHO und seiner von der CIA geführten
Org stand ihm, zusammen mit der leistungsfähigen US-Spionage, eine erfah­
rene Feindaufklärung gegenüber, die sicherlich in der Lage gewesen wäre,
einen größeren Aufmarsch der Truppen des Warschauer Pakts zu erkennen
und die für die Verteidigung Westeuropas notwendige Vorwarnzeit zu gewähr­
leisten. Der Beitrag Gehlens und des BND für die Abschreckungsstrategie des
westlichen Bündnisses ist in diesem Sinne durchaus bedeutsam gewesen.
Es war Gehlens persönliches Verdienst, weitergehende Ideen auf amerika­
nischer Seite zurückzuweisen, vor dem Hintergrund des Koreakrieges einen
möglichen Partisanenkrieg auf deutschem Boden bzw. schon in Friedenszei­
ten und im Spannungsfall gewalttätige Sabotage und Anschläge jenseits des
Eisernen Vorhangs zu organisieren. Ihm war ganz deutlich, dass die Auslösung
eines Volksaufstands bzw. von Sabotage- und Partisanenaktionen unverant­
wortlich wäre, solange der Gegner das eroberte Territorium uneingeschränkt
beherrschte. Erst wenn sich im Kriegsfall im Zuge einer militärischen Gegen­
offensive der Feind in Auflösung befindet und die eigenen Kräfte herannahen,
würde man Kräfte im feindlichen Hinterland ermutigen können, sich zu ent­
tarnen und in Aktion zu treten. Das war weder 1953 in Ost-Berlin noch 1956
in Budapest der Fall. Mit dieser Haltung hat Gehlen entscheidend dazu beige­
tragen, amerikanische Aktivitäten zu bremsen und damit die Bevölkerung in
beiden Teilen Deutschlands vor blutigen Abenteuern zu bewahren.

1323
Es erscheint auch deshalb nicht als angemessen, in Reinhard Gehlen einen
unbelehrbaren Nazigeneral im Sinne der Diffamierungen vieler Kritiker zu
sehen. Im Verständnis seiner Zeit, in Deutschland, aber auch bei den ehema­
ligen westlichen Kriegsgegnern, hatte er als Berufsoffizier eine respektable
Arbeit geleistet und schien durch die Anfechtungen des Dritten Reiches hin­
durch eine politisch wie juristisch »weiße Weste« behalten zu haben. Da er
sich nach 1945 als Mann der Amerikaner präsentieren konnte, galt er als poli­
tisch unverdächtig und für seine Aufgaben als beste Wahl. Von einem Geheim­
dienstchef erwartet in der Regel niemand, dass er sich als Motor der Demokra­
tisierung betätigt. Gehlen gehörte in der Frühgeschichte der Bundesrepublik
wohl eher zu den »Bremsern«, weil er mit seinem innenpolitischen Engage­
ment – meist im Auftrag des Kanzlers die Gefahr einer kommunistischen
Unterwanderung Westdeutschlands überschätzend, mit allen konspirativen
Mitteln gegen linke und antimilitaristische Kräfte agierte. Dabei blieb sein
rechtes Auge keineswegs blind. Zu seinen unstrittigen Leistungen gehört es,
mitgeholfen zu haben, Gefahren, die Ansehen und Sicherheit des Staates von
rechts bedrohten, einzudämmen. Der aus der Weimarer Republik bekannte
Sumpf republikfeindlicher, rechtsextremer Veteranen konnte sich nicht zu
einer ernsthaften Bedrohung für die junge Bundesrepublik auswachsen. Die
Org bzw. der BND hatten unter Gehlens Führung ein wachsames Auge eben­
falls auf das Naziexil, mit dem es jedoch zugleich manche Kumpanei gab. Hier
bewährte sich nicht zuletzt die Zusammenarbeit mit den Amerikanern und
den Israelis.
Von antisemitischen Grundeinstellungen ist Gehlen offenbar freigeblie­
ben, genauso wie von rassenideologischen Dogmen. Das Verhältnis zu sei­
nem jüdischen Klassenkameraden sowie Prägung in Elternhaus und Reichs­
wehr führten ihn – soweit erkennbar – nicht zu Einstellungen, die über die im
nationalkonservativen Milieu vorhandenen sozialen und religiösen Vorurteile
hinausgingen. Dass sich keine dezidierten antisemitischen Äußerungen Geh­
lens aus der Kriegszeit erhalten haben, muss natürlich nicht viel heißen. Dass
sein wichtigster Förderer beim Übertritt in amerikanische Dienste, Captain
Eric Waldman, ein jüdischer Emigrant aus Wien gewesen ist, war im Verhältnis
beider anscheinend nie ein Thema. Waldman hatte zeitlebens eine sehr posi­
tive Erinnerung an Gehlen.
Dem widerspricht auch nicht das einzige bekannte Zitat, das nach Antise­
mitismus klingt, als Gehlen 1948 intern in seiner Empörung über die Kriegs­
verbrecherprozesse vom jüdischen Einfluss in den US-Medien sprach. Dieses
Vorurteil könnte ebenso gut von seinen amerikanischen Kontrolloffizieren
stammen. Ganz sicher gab es unter seinen engeren Mitarbeitern auch anti­
semitische Stimmen. Doch die Haltung des »Doktors« war in dieser Hinsicht
anscheinend deutlich genug, um in Pullach kein antisemitisches und neonazis­

1324
tisches Milieu entstehen zu lassen. Gehlens späterer Briefwechsel mit seinem
ehemaligen jüdischen Klassenkameraden zeigt, dass seine Bewunderung für
Israel machtpolitisch-strategischen Einsichten entsprang. Dabei kann nicht
ausgeschlossen werden, dass ihn seine Abhängigkeit von den Amerikanern
dazu zwang, beim Thema Antisemitismus Vorsicht walten zu lassen.
Aber Gehlen ging weiter. Sein Bemühen um eine enge Zusammenarbeit mit
ausländischen Diensten bewirkte nicht nur im Falle Frankreichs einen wich­
tigen Beitrag für die deutsche Außenpolitik. Dazu gehört auch die schwie­
rige Anbahnung von Kontakten zu Israel, die nach längerem Anlauf dazu
geführt haben, dass der BND seit der Ära Gehlen bis heute eine starke und
vermittelnde Position im Nahen Osten einnimmt. Bei allen zeitweiligen Ver­
stimmungen auf beiden Seiten in den frühen Jahren der Org war es für die
westdeutsche Außenpolitik bei ihrem Streben nach Wiedererlangung der Sou­
veränität von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass Gehlen die Balance
zwischen deutschen und amerikanischen Interessen durchgehalten hat. Die
USA konnten sich durch sein Wirken darauf verlassen, dass der künftige deut­
sche Geheimdienst ebenso wie die Bundeswehr fest im westlichen Bündnis
verankert sein würde – und unter amerikanischer Kontrolle. Als sich Anfang
der 1960er-Jahre innerhalb der NATO eine größere Distanz zwischen Europa
und den USA öffnete, reagierte Gehlen verunsichert und suchte nach einem
neuen Orientierungspunkt für sein Weltbild. Das militärische und atomare
Potenzial der Amerikaner blieb aber für ihn unverzichtbarer Bestandteil in
der Auseinandersetzung des Westens mit dem Sowjetblock und Garant für die
europäische Sicherheit.
Sein zeitweiliges Kokettieren mit einem möglichen deutschen Gaullismus
unter der Leitfigur von Franz Josef Strauß hatte nicht lange Bestand. Nach
dem Abgang Adenauers veränderte sich die politische Landschaft der Bonner
Republik, und Gehlen hatte einige Mühe, sich zu orientieren. Ohne den Rück­
halt von Adenauer und Globke erodierte sein Zugang ins Zentrum der Macht.
Er konnte sich jedoch nicht entschließen, mit ihnen seinen Platz zugunsten
seines designierten Nachfolgers Wessel zu räumen. Die Agonie im BND, die
zunehmende Distanz zum Kanzleramt und sein mangelndes Geschick, zu den
nächsten Kanzlern und politischen Machern persönlich tragfähige Beziehun­
gen zu entwickeln, sorgten für eine immer stärkere Isolierung des BND-Chefs,
innerhalb des Dienstes sowie im Rahmen der politischen Entscheidungspro­
zesse der Bundesrepublik, schließlich auch gegenüber der US-amerikanischen
Intelligence Community, die ihn als lame duck erkannte, von den old boys durch
freundliches Schulterklopfen aufgemuntert. Nach seinem glanzlosen Abgang
schließlich gewährte man ihm in alter Verbundenheit und aus Gründen der
Fürsorge eine freundliche Aufmerksamkeit, und, wohl nicht ganz uneigennüt­
zig, Hilfe bei dem Verbergen von persönlichen Akten.

1325
In Gehlens Persönlichkeit waren Grenzen angelegt, die auch seine Loyalität
einhegten. Der gelernte militärische »Führungsgehilfe« war zwar stets bestrebt
gewesen, durch Fleiß und Eifer Vorgesetzten zu dienen und sich mit unermüd­
licher Pflichterfüllung möglichst von keinem übertreffen zu lassen. Aber dies
verband sich nicht mit einer bedingungslosen Loyalität. Wo es seinem Ehrgeiz
und Überlebenswillen oder persönlichen Neigungen diente, konnte er in den
Hintergrund abtauchen und sich bedeckt halten, um zugleich mit List und
Tücke sowie einer gehörigen Portion Skrupellosigkeit nach Auswegen suchen.
Reinhard Gehlen war intelligent und erfahren genug, um sein Verhalten gegen­
über Kritik und moralischen Anwürfen mit Sturheit zu behaupten und – wie
die Amerikaner früh erkannten – notfalls auch wie ein Gentleman zu lügen.34
Man wird diese keineswegs ungewöhnliche Veranlagung vielleicht auch auf
eine erste starke Prägung durch das Familiengeheimnis zurückführen können,
das für den damaligen Abiturienten und Offiziersanwärter ein Schock gewesen
sein muss und das heile Bild seiner geliebten Eltern zerstörte. Als junger Offi­
zier diente er einer Republik, die in seinem Umfeld meist nur Verachtung fand,
allenfalls hingenommen als Übergang zu einer Staatsform, die Deutschland zu
neuer Größe fuhren sollte. In der Wehrmacht lernte er die düsteren Seiten des
neuen Regimes kennen, sympathisierte mit stillen Kritikern und Aktivisten des
Widerstands, hielt sich aber von ihnen fern, als es ums Ganze ging. Er spielte
gegenüber der stärksten Säule des NS-Staates den regimetreuen Fachmann,
scheinbar voller Ideen, wie man den Endsieg doch noch erringen könnte. Hin­
ter dieser Maske bereitete er längst seine Flucht vor, um sich der stärksten Sie­
germacht anzudienen und sein Wissen über den bisherigen amerikanischen
Verbündeten Sowjetunion in den anbrechenden Kalten Krieg zwischen den
Siegermächten einzubringen.
Als »utility« musste er seinen neuen Herren vorgaukeln, dass die von ihnen
bereitgestellten Dollar-Millionen gut angelegt waren, um die amerikanischen
Aufträge im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner sorgfältig abzuarbeiten.
Gleichzeitig verfolgte er heimlich und meist auf eigene Faust sein Ziel, in deut­
sche Dienste zurückkehren und der mächtige Sicherheitsberater des Kanzlers
zu werden. Nur vier Jahre zuvor war er noch bereit gewesen, in die USA aus­
zuwandern, nun zeigte er sich 1950 sogar entschlossen, notfalls seine Männer
in Pullach im Stich zu lassen, um in der Sicherheit des deutschen Beamten­
tums das Bundesamt für Verfassungsschutz aufzubauen. Nachdem er sechs
Jahre später den Beamteneid als Präsident des BND leisten durfte, war er in die
innenpolitischen Intrigen bereits so tief verstrickt, dass er in der FDP-Krise des
Herbsts 1956 sogar den Gedanken wagte, bei einem befürchteten Regierungs­

34 Siehe S. 633 im ersten Teilband.

1326
wechsel in Bonn mithilfe der CIA den Widerstand gegen die Bundesregierung
zu organisieren.
Anfang der 1960er-Jahre liebäugelte er mit dem Gaullismus und einer größe­
ren Distanz zur Kennedy-Administration. Schließlich leistete er sich nach sei­
ner Pensionierung den Affront gegenüber seinem Nachfolger und dem Dienst,
auch mithilfe fragwürdiger Publikationen und darin enthaltener Interna die
Ostpolitik der sozialliberalen Koalition zu diffamieren. Erneut setzte er auf die
Hilfe der CIA, jetzt um den BND zurückzuerobern, dann um seine Dossiers
zu verbergen, deren Existenz er vor dem Guillaume-Untersuchungsausschuss
des Bundestages hartnäckig leugnete. Nicht zu vergessen schließlich die ihm
vorgeworfenen persönlichen Verfehlungen wie der hemmungslose Nepotis­
mus, sein fragwürdiger Haus- und Grundstückserwerb sowie sein langjähriges
außereheliches Verhältnis, das ihn zwei Jahrzehnte lang dazu veranlasste, im
Privatleben die Fassade des treusorgenden, wenngleich überarbeiteten Fami­
lienvaters und Ehemanns vorzutäuschen.
Gehlen und die Politik – es war für den General ein Drahtseilakt, für den
er nur wenig Talent und Erfahrung mitbrachte. Sein politisches Bewusstsein
blieb geprägt durch das Ende des Kaiserreichs und das Erleben der Weima­
rer Republik. Sein Vater, der leidenschaftliche Soldat, musste sich damals als
Leiter eines Schulbuchverlags mit der SPD-Regierung in Preußen arrangieren,
ohne sein Ansehen bei Standesgenossen und Offizierskameraden zu verlieren.
Der Sohn übernahm das autoritäre Staatsverständnis und eine gewisse Auf­
geschlossenheit für die soziale Frage. Er schätzte einen konservativen Patrio­
tismus und die militärische Wehrkraft. Das verband ihn schließlich wie viele
andere mit dem Nationalsozialismus. Von dieser Teilidentität der Ziele und
politischen Ideale ausgeschlossen war Gehlens Verständnis von der Bedeu­
tung des Rechtsstaates, das aber nicht zu seinen vorrangigen Interessenfel­
dern gehörte. Lebensmittelpunkt und Orientierung blieb das Militär, dessen
Nazifizierung er sich äußerlich unterwarf, so wie er zwar Berührung zum mili­
tärischen Widerstand hatte, dessen politische Ziele und entschlossenen Idea­
lismus er aber nicht teilte. Überzeugt davon, dass der Krieg verloren gehen
würde, da der »Führer« nicht auf den Rat seiner Generale hörte, ging es für ihn
1945 darum, sich einer anderen Macht anzudienen.
Einer »Amerikanisierung« setzte er sich nur in einem unumgänglichen
Maße aus. Die amerikanische Politik der »Umerziehung« lehnte er als über­
flüssig ab, ebenso die Kriegsverbrecherprozesse gegen Generalskameraden. Er
setzte dem die undeutliche Vorstellung eines »deutschen Weges« entgegen.
Ein demokratisches Staatswesen nach westlichem Vorbild war nicht in seinem
Sinne. Er musste sich aber ab 1949 den Entwicklungen in der Bundesrepublik
beugen und sich stärker in den unübersichtlichen politischen Raum begeben,
als ihm lieb gewesen ist. Die finanzielle und politische Absicherung seiner Org

1327
machte den Gang nach Bonn unumgänglich. Gehlen, der mit seiner bisherigen
Erfahrung als Auswerter militärischer Feindnachrichten immer stärker auch
in die politische Feindaufklärung und Spionageabwehr hineingeriet, entwi­
ckelte nun sein neues Lebensziel: zum einzigen nachrichtendienstlichen Bera­
ter des Kanzlers aufzusteigen. Er wollte nicht wie zuvor Canaris gegenüber
Hitler eine Stimme neben anderen sein, sondern eine unanfechtbare Einfluss­
position direkt neben der politischen Spitze einnehmen. Das allerdings wider­
sprach sowohl den Vorstellungen der Besatzungsmächte als auch Adenauers
und der sich herausbildenden neuen politischen Elite der Kanzlerdemokratie.
Gehlen allerdings verlor dieses Ziel niemals aus den Augen.
Er suchte dafür sogar Zugang zur Führungsspitze der SPD als der größ­
ten Oppositionspartei. Entscheidend für das fünfjährige Ringen um die Eta­
blierung der Org als BND blieb aber die Haltung des Kanzlers. Und für ihn
gewann Gehlen als nützlicher Zuträger auch von innenpolitischen Informa­
tionen große Bedeutung. Hier präsentierte sich Gehlen wie früher als fleißiger
Generalstabsoffizier im OKH nun als willfähriger Informant seines Kanzlers,
bereit, jeden auch noch so fragwürdigen Auftrag auszuführen. Dass Gehlens
antisowjetische Einlassungen den Kanzler negativ beeinflusst haben könnten,
ist zu bezweifeln. Sie bestätigten allenfalls die Vorurteile und Einschätzungen,
die der Kanzler ohnehin zusammen mit seinen akademischen ostpolitischen
Beratern teilte. Das Raunen seines Geheimdienstchefs über das feindselige
Wirken einer angeblichen »Roten Kapelle« führte nie zu handfesten Beweisen,
dürfte für den Kanzler aber einen gefälligen Anlass geboten haben, den eifri­
gen Gehlen auf seine politischen Gegner und Kritiker anzusetzen. Adenauer
hielt den Exgeneral offenbar für einen effizienten Technokraten und willfäh­
rigen Zuträger, bis sich im Zusammenhang der Spiegel-Affäre diese positive
Einschätzung in Luft auflöste. Nun war für den Kanzler der BND-Chef eher ein
unfähiger Dummkopf.
Da half es Gehlen auch nicht, dass er im Chef des Kanzleramts Hans Globke
über Jahre einen kongenialen Partner hatte. Über Globke konnte er das Ohr
des Kanzlers finden, auch wenn alle Bemühungen scheiterten, selbst zum per­
sönlichen Berater Adenauers aufzusteigen und sich als möglicher Staatssekre­
tär aus der Abhängigkeit von Globke zu lösen. Der Kanzler gewährte Gehlen
nur wenige Gelegenheiten der unmittelbaren Begegnung. Es scheint, dass der
rheinische Zivilist Adenauer den sich zurückhaltend gebenden preußischen
Generalstabsoffizier zwar in gewissem Maße respektierte, seine Nähe aber
letztlich nicht sonderlich schätzte. Gehlen wiederum sah sich durch die für
ihn unklare Distanz des Kanzlers und die nicht eindeutig bestimmte Position
seines Nachrichtendienstes in der frühen Bundesrepublik veranlasst, stärker
politisch zu agieren als seine Nachfolger und seine westlichen Kollegen. Seine
Erfahrung und Geschicklichkeit reichten allerdings nicht aus, um sich längere

1328
Zeit erfolgreich zu behaupten. Sein Bruch mit Adenauer verkleinerte seinen
politischen Spielraum in erheblichem Maße, und nur die marginale parlamen­
tarische Kontrolle sowie die Rückendeckung durch die konservativ geführte
Regierungskoalition verhinderten einen naheliegenden Rückzug des BND-
Chefs. Dieser nahm daraufhin eine trotzige Haltung ein und klammerte sich
an sein Amt. Er konnte und wollte nicht erkennen, dass seine Zeit abgelaufen
war und sein weiteres Wirken nur zu einer schrittweisen Selbstdemontage füh­
ren musste. Selbst die Große Koalition verzichtete auf einen Showdown und
gewährte ihm sogar einen über den Einschnitt der späten Pensionierung wirk­
samen Werkvertrag. Erst seinem früheren Vertrauten und Nachfolger Wessel
gelang es in einem mühsamen Ringen, den Altpräsidenten Gehlen aus dem
BND herauszudrängen.
Sein Bemühen, als Pensionär mithilfe von Illustrierten und politischen
Interviews Popularität zu gewinnen, blieb letztlich erfolglos. Seine drei Bücher,
in denen er die Ost- und Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition
attackierte, brachten ebenfalls nicht den Erfolg, den er sich gewünscht hatte.
Sein früherer Ruf als angeblicher Experte der sowjetischen Außenpolitik und
Militärstrategie verblasste schneller, als er wohl erwartet hatte. Ist er als Spio­
nagechef in seiner Zeit erfolgreicher gewesen als die Leiter anderer westlicher
Dienste – wohl kaum. Erfolge und Misserfolge hielten sich wie üblich in diesem
Geschäft die Waage. Zum Fall Felfe hatte er allerdings durch die ungewöhn­
liche Förderung des sowjetischen Doppelagenten selbst beigetragen. Trotz
spektakulärer Verluste an westlichen Agenten und der Erschütterung des BND
konnte der Osten keinen nachhaltigen Vorteil aus diesem Fall für sich ziehen.
Dessen Sicherheitsapparat und politisches System waren am Ende nicht erfolg­
reich. Für den BND verursachten der Fall Felfe und die nachfolgende Agonie
des Dienstes größeren Schaden durch Gehlens Führungsfehler und mangelnde
Anpassung an sich wandelnde innen- und außenpolitische Bedingungen.

Reinhard Gehlen, der General und Präsident, hat fürwahr keine gradlinige Bio­
grafie und Persönlichkeit aufzuweisen. Man erkennt in ihm in vielerlei Hinsicht
einen Vertreter der bundesdeutschen Aufbaugeneration, die nach mehrfachen
umstürzenden politischen und wirtschaftlichen Ereignissen sowie einem ver­
heerenden Krieg den Weg zu einem Neuanfang beschritt. Gehlen wollte daran
in verantwortlicher Position mitwirken. Sein Tätigkeitsfeld war die Sicherheit
dieses anfangs noch fragilen Wiederaufbaus, wozu Gehlen einen durchaus
wichtigen Beitrag geleistet hat – trotz aller Widersprüche und persönlichen
Fehlern. Insofern ist er eine wichtige historische Figur der Frühgeschichte der
Bundesrepublik, deren Bild viel zu lange von Mythen und Falschdarstellungen
geprägt war. Wie sich nunmehr gezeigt hat, ist Reinhard Gehlen als positiv
besetzte Traditionsfigur des BND wenig geeignet.

1329
Anhang

Quellen und Literatur


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Bundesarchiv-Militärarchiv
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Sachakten Reichswehr/Wehrmacht
RH 1/2088; RH 2/99, 390, 763, 766, 1220, 1325, 1473, 1980, 1984, 2047, 2088, 2091, 2092,
2142, 2445, 2453, 2533, 2548, 2558, 2564, 2565, 2581, 2586, 2601, 2732, 3097, 3099, 3100,
3218; RH 16/v. 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206; RH 20-18/40b, 41b,
45,46; RH 24-38/163; RH 31-I/v.40; RH 41/1189; RH 53-23/56; RHD 18/249, 250

Personalakten
Pers 6/12484; Pers 6/299982

Nachlässe
N 220/79, 80, 134, 175; N 222/81; N 257/1; N 629/7; N 633/3; N 643/40, 56a; N 704/26

Manuskripten-Sammlung
MSg 1/1422, 1428, 1430; MSg 2/ 3240, 3286, 4150, 12071, 14051, 17810

Bundesarchiv Berlin
Berlin Document Center
Personalunterlagen Reinhard Gehlen sowie NSDAP-Mitgliederkartei Familie Gehlen

BND-Archiv
Personalakten
P 1/1924, 126; V 1199(4)

1330
Nachlässe
N 1/1, 3, 4, 5, 6, 7, 33, 61, 72, 81, 137, 138, 153, 173, 183; N 2/1, 3, 7; N 4/1, 11, 14, 15, 20; N 6/2,
3, 12; N 8; N 10/1, 2, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14; N 11/1, 2; N 13/1, 2, 4, 7, 9, 20, 21, 23;
N 19/2, 3; N 22/1; N 23/1; N 44; N 46; N 54; N 66; N 71/1, 2

Sachakten
1082, 1103/2, 1104, 1110, 1111, 1112, 1113, 1137, 1163, 1164, 1172, 1173, 1223, 1532, 2785,
3134, 3141, 3192, 4310, 4311, 4312, 4313, 4314, 4315, 4316, 4317, 4318, 4319, 4320, 4321,
4322, 4323, 4324, 7350, 7357, 7361, 7685, 24854-OT, 33407, 40365, 42505, 42507

Digitalisate
100017, 100621, 104 054, 120127_0409, 120002_0427-437, 120299_458, 120299_0027-26,
122376, 122280_1666-1670, 122290_0336, 150544

VS-Registratur Bundeskanzleramt
Bk: 10200(8), Bd. 1; Bk: 10218 (105), Bd. 1, 2; Bk: 10218 (105) Beiakte; Bk: 10218/175,
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(12) Bd.ll
Personalakte Reinhard Gehlen
151 02, Bd. 18, Wessel, Gerhard

Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes


Nachlass Andor Hencke

BStU-Archiv
MfS, AIM, Nr. 16161-783; MfS, AIM, Nr. 16161-784; MfS, AIM, Nr. 16161-7825; MfS, HVA,
Nr. 122; MfS, HA II/7, Nr. 41477; MfS, HA II,Nr. 41478; MfS, HA II, Nr. 41478; MfS, HA III/
B-205; MfS, HA IX/11 FV 5/72, Bd. 9; MfS, HA IX-11, FV 5/72, Bd. 11, Teil 2; MfS, HA IX,
Nr. 5099; MfS, ZAIG, Nr. 10182; MfS, ZAIG, Nr. 11438

Archiv des IfZ München


Nachlass David Irving
ED 100-68-12, 18, 37, 40, 63, 73, 78, 79, 83, 90, 100, 156, 164, 178, 190
ED 100-69-5, 47, 48, 51, 52, 54, 55, 61, 95, 104, 117, 119, 120, 127, 131, 136, 142, 156, 219, 220,
227, 237, 239, 241, 248, 250, 251, 260, 261, 300, 303, 317

Zeugenschrifttum
ZS 406/5-29, ZS-406/14-1

National Archives Washington


RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_voll_20F3

1331
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol2_10F3
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol2_20F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol3_10F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol3_20F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol4_10F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol4_20F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_10F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol5_20F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol6_10F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol6_20F2
RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol7_10F2
SAIC/R
CIA, FOIA-ERR, Augsburg, Emil, vol. 3
CIA, FOIA-ERR, Heusinger, Adolf

Staatsarchiv Bamberg
Nachlass Guttenberg G 57/90, G 67/93, 96,105,

Archiv für Christlich Demokratische Politik


Nachlass Fritz Baier 01-729-060

Stadtarchiv Haifa
Nachlass Even-Pinnah 933, 1433, 1450

National Archives, Kew


KV 2-2862 Reinhard Gehlen 1945-1955
PREM 11/677
Ref.DEFE 41/119

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Abkürzungen
AA Auswärtiges Amt
Abt. Abteilung
ACDP Archiv für Christlich-Demokratische Politik
a.D. außer Diensten
ADN Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst
Afu Agentenfunker
Ag. Arbeitsgruppe
AGTS Agent General Top Secret
AHA Allgemeines Heeresamt
AK Armeekorps
AOK Armeeoberkommando
APO Außerparlamentarische Opposition
AR Artillerieregiment
Art. Artikel
ASBw Amt für Sicherheit der Bundeswehr
Az. Aktenzeichen
AZODNR Antikommunistisches Zentrum der Befreiungsbewegung der Völker
Russlands
BA Bundesarchiv
BA-MA Bundesarchiv-Militärarchiv
BDJ Bund deutscher Jugend
Bearb. Bearbeiter
BfV Bundesamt für Verfassungsschutz
Bka Bundeskanzleramt
BKA Bundeskriminalamt
BMW Bayerische Motorenwerke
BMVg Bundesministerium der Verteidigung
BPA Bundespresseamt
BRH Bundesrechnungshof
BStU Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheits­
dienstes der ehemaligen DDR
CIA Central Intelligence Agency
CIC Counter Intelligence Corps
CIG Central Intelligence Group
D-Chef Deutscher Chef (der Org)
Div. Division
DN Deckname
DNVP Deutsch-Nationale Volkspartei
Dok. Dokument
DSZ Deutsche Soldaten-Zeitung
EE Eastern Europe (Abt. der CIA)
E-Fall Emergency-Fall
EUCOM European Command

1349
EVG Europäische Verteidigungsgemeinschaft
EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
FAK Feldaufklärungskommando der Wehrmacht
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung
FBI Federal Bureau of Investigation
Fm Fernmelde
FHO Abteilung Fremde Heere Ost
Frhr. Freiherr
Fü S II Führungsstab der Streitkräfte, Abt. II
FWH-Dienst Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst
geb. geboren
GenKdo Generalkommando
GenStdH Generalstab des Heeres
geh. geheim
GI einfacher Soldat der US-Streitkräfte
G-2 Generalstabsbereich in der US Army und später in der NATO für
die militärische Aufklärung
GKdos Geheime Kommandosache
HA Hauptabteilung im MfS
HDv Heeresdienstvorschrift
HGr Heeresgruppe
HICOG High Commissioner for Germany
HL Heeresleitung
Hpt. Hauptmann
HQu Hauptquartier
HUMINT Human Intelligence
ICO Information Collection Organization
IfZ Institut für Zeitgeschichte, München
i.G. im Generalstab
IL Iljuschin
KGB Komitet gossudarstwennoj besopasnosti (Komitee für Staatssicher
heit der Sowjetunion)
KgU Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit
KPD Kommunistische Partei Deutschlands
KPI Kommunistische Partei Italiens
KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
KTB Kriegstagebuch
KVP Kasernierte Volkspolizei
MAD Militärischer Abschirmdienst
MC Military Committee
MfS Ministerium für Staatssicherheit
MGFA Militärgeschichtliches Forschungsamt
MHM Militärhistorisches Museum
MI5 britischer Inlandsgeheimdienst
MI6 britischer Auslandsgeheimdienst

1350
MID Berlin Military Intelligence Division der US Army
MLF Multilateral Force
Mob Mobilisierung
Mob-Fall Mobilmachungsfall
MOB Munich Operation Base
MfS Ministerium für Staatssicherheit der DDR
motDiv motorisierte Division
MSg Manuskripte-Sammlung
NA National Archives
ND Nachrichtendienst
NDPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands
NfD Nur für den Dienstgebrauch
NKWD Narodny Kommissariat Wnutrennich Del (Volkskommissariat
des Innern der Sowjetunion)
NOB Nachrichtenoffizier Berlin
NS Nationalsozialismus
NSA National Security Agency
NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NSFO Nationalsozialistischer Führungsoffizier
NTS Narodno-Trudovoj Sojus (Volksbund der Schaffenden,
russ. Emigrantenorganisation)
NVA Nationale Volksarmee
NWC Nazi War Crimes (Section der NA Washington)
NZZ Neue Zürcher Zeitung
Oberost Oberbefehlshaber Ost
OKH Oberkommando des Heeres
OKW Oberkommando der Wehrmacht
OMGUS Office of Military Government for Germany (US)
OpAbt Operationsabteilung
OPC Office of Political Coordination
OQu Oberquartiermeister
Org Organisation Gehlen
OUN Organisation Ukrainischer Nationalisten
OSS Office of Strategie Services
OTL Oberstleutnant
PAA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes
PG Parteigenosse (Mitglied der NSDAP)
PR Public Relations
PRO Public Record Office
Prop. Propaganda
PSK Psychologische Kriegführung
PzDiv Panzerdivision
(r) reitende
RAD Reichsarbeitsdienst

1351
RAND Research and Development Corporation (Denkfabrik der US-Streit
kräfte)
RGBl Reichsgesetzblatt
RgtKdr Regimentskommandeur
RHD Reich/Heer/Druckschriften
RSHA Reichssicherheitshauptamt
SA Sturmabteilung
SACEUR Supreme Allied Commander Europe
SAIC Seventh Army Interrogation Center
SBZ(D) Sowjetische Besatzungszone (Deutschlands)
SD Sicherheitsdienst der SS
SDECE Service de documentation extérieure et de contre-espionnage
sen. Senior
SHAPE Supreme Headquarters Allied Powers Europe
SS Schutzstaffel
StA Staatsarchiv
SV Sonderverbindung
T Truppenamt
TBH Tagebuch Herre
UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
UN United Nations
USAREUR US Army Europe
USFET United States Forces European Theatre
USNR United States Navy Reserve
UZ Unternehmen Zeppelin
VAR Vereinigte Arabische Republik
verw. verwitwet
VfK Verwaltung für Koordinierung (militärischer Nachrichtendienst
der NVA)
V-Mann Vertrauensmann
VMG Vertrauensmänner-Gremium
Vopo Volkspolizei/Volkspolizist
VS Verschlusssache
WASt Deutsche Dienststelle (ehern. Wehrmacht-Auskunftstelle) für
die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen
WEU Westeuropäische Union
WDR Westdeutscher Rundfunk
WFSt Wehrmachtführungsstab
WiRüAmt Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt
ZAIG Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS
z.b.V. zur besonderen Verwendung
ZDF Zweites Deutsches Fernsehen
ZMSBw Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft der Bundes
wehr
z.V. zur Verfügung

1352
Kurzbezeichnungen für Abteilungen in den Führungsstäben der Wehrmacht
Ia Führungsabteilung
Ib Quartiermeister-Abteilung
Ic Feindaufklärung und Abwehr; geistige Betreuung
Id Ausbildung
IIa 1. Adjutant (Offizier-Personalien)
IIb 2. Adjutant (Unteroffiziere und Mannschaften)
III Gericht
IVa Intendant
IVb Arzt
IVc Veterinär
IVd Geistlicher
IVWi Wehrwirtschaftsoffizier
V Kraftfahrwesen

1353
Bildnachweis

Autor und Verlag haben sich bemüht, alle Rechteinhaber zu ermitteln. Sollten weitere
berechtigte Ansprüche bestehen, möge sich der Betreffende bitte an den Verlag wenden.

akg images: S. 857


Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin: S. 269 (50058387, Bayerische Staatsbiblio­
thek, Heinrich Hoffmann), 313 (50089537, Heinrich Hoffmann), 378 (50107899), 943
(50054917, Heinrich Hoffmann)
BND-Archiv: S.48 (N 13/v.9), 60 (N 13/7), 63 (F-N 13/9), 68 (F-N 13/9), 69 (F-N 13/9),
70 (F-N 13/9), 77 (F-N 13/9), 120 (N 13/12), 267 oben (F-N 13/9), 290 (N 13/9), 407
(N 13/9), 428, 433 (N 46/2), 439, 442 (N 46/2), 443, 444 (N 46/2), 471, 490, 499, 500
beide (N 46/2), 503 (80104), 506, 508 (N 46/2), 547, 563, 564 (N 46/2), 565 (N 46/2),
577 (N 46/2), 580, 589 (N 46/2), 599 (N 46/2), 601 (N 46/2), 647 (90500), 659, 669, 716,
744, 745, 844, 845, 910, 914, 922 (N 13/7), 924, 959, 1027 (N 13/22), 1077 (90521), 1086
(N 46/2), 1144 (N 13/7), 1147 (N 13/2), 1247, 1255, 1285, 1289 (N 13/2)
Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege: S. 47 (Dok. Nr. 09105181, T. 001, Foto
Dieter Möller)
Bundesarchiv: S.49 (102-00287), 57 (102-11934), 87 oben (183-H03527), 88 (183-2007-
0703-50), 97 (183-H01757), 104 (183-H04143), 121 unten (B206, 6D49), 125 (B 206, GN
13-15A-34), 136 (183-H27722), 141 (183-H27722), 193 (GN13-16-37), 205 (1011-161-
0214-27 Habermann), 243 (GN13-08-11), 278 (1011-146-1547-17), 328 (1011-185-0118-
14), 351 (146-1976-130-53), 363 (GN13-08-24), 385 (101IIl-Alber-183-33, Kurt Alber),
634 (B245, Bild F078072_0004), 664 (B145, Bild P001503), 815 (B285, Bild 14676), 855
(183-25798-0007), 1038 (183-62927-0020), 1134 (B145, Bild F023682-0010A), 1159
(B145, Bild F027810-0025A)
Bundesarchiv-Militärarchiv: S. 132 (Nachlass Halder, NL 220/134), 147 (NL 220/134), 150
oben (NL 220/134), 150 unten (NL 220/134), 151 (NL 220/134), 158 (RH 20-18/40b),
163 unten (NL 220/134), 220 (NL 220/134), 221 (NL 220/134), 231 (146-1992-055-33
Mährlen)
Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen: S. 859 (MfS, AIM, Nr. 16161-78, Bd. 26,
S. 106)
Bundesregierung/Flink: S. 841 (Bild 11049)
Picture Alliance: S. 737 (Bildnr. 13082789 © picture-alliance/dpa/UPI), 1019 (Bildnr.
96588864 ©picture-alliance/AP/Schoelzel), 1041 (Bildnr. 2437943 © picture-alli-
ance/dpa/UPI), 1139 (Bildnr. 59966499 © picture-alliance/Fritz Rust), 1269 (Bildnr.
10775635 © picture-alliance/Sven Simon), 1274 (Bildnr. 14738315 © picture-alliance/
Sven Simon), 1295 (Bildnr. 16638071 © picture-alliance/Sven Simon)
Imperial War Museum, London: S. 409 (Public Domain)
Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden: S. 15, 163 oben, 622 (UPI/Süd-
deutsche Zeitung), 689 (Sammlung Heusinger)
Ullstein Bild: S. 87 unten (00002039), 123 (01058729), 610 (00174038)
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft der Bundeswehr, Potsdam: S. 62,
65,191 (05229-10), 340 (04487-21), 396 (06457-02)

1354
Michael Heinz: S. 637
Sammlung Rolf-Dieter Müller: S. 28 (beide), 33, 52,1299
Privatbesitz: S. 280
Edith Schneider-Sturm, Kreuttal: S. 249
Hans-Erdmann Schönbeck: S. 369, 399

Quick: S. 36 (Heft 42/1971, S. 20), 72 (Heft 41/1971, S. 14), 252 oben (Heft 45/1971, S. 36),
254 (Heft 44/1971, S. 38), 288 (H. 42/1971, S. 18), 1024 (Heft 42/1971, S. 19), 1213 (Heft
41/1971, S. 18), 1230 (Collage)
Der Spiegel: S.315 (39/1954, S. 13), 561 (47/1958, S.26), 616, 617, 860 (Titel Nr. 39/1954),
862, 907 (Titel Nr. 6/1956), 1084 (Titel 43/1964), 1099 (Titel Nr. 24/1966), 1127 (Titel
Nr. 36/1966), 1131 (Titel Nr. 43/1966), 1137 (Titel Nr. 4/1967), 1211 (Titel Nr. 9/1970)
Stern: S. 888 (7.4.1956, S. 57)
Welt am Sonntag: S. 42 (20.11.1955, S. 9), 219 (1.1.1956, S. 12)

Gehlen, Reinhard: Der Dienst. Erinnerungen 1942-1971 (Taschenbuchausgabe) Mün­


chen 1973, Bildteil nach S. 176: S. 121 oben, 176, 294,429,1228
Meyer, Georg: Adolf Heusinger, Hamburg 2001, S. 186: S. 252 unten
Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 3,6. Aufl., Leipzig und Wien 1909: S. 37
Der Zweite Weltkrieg in Bildern und Dokumenten, hg. von Hans-Adolf Jacobsen und
Hans Dollinger, Bd. II, München 1962: S. 246

https://ww2gravestone.com/: S. 541, 644


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NNAM.1996.488.120.026), 955, 970
https://ww2resource.wordpress.com/: S. 267 unten
www.Lexikon-der-Wehrmacht.de: S. 111,112
www.defense.gouv.fr: S. 685, 758

1355
Personenregister

Reinhard Gehlen wurde wegen häufiger Nennung nicht ins Register aufgenommen.
Kursiv gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Bildunterschriften.

Adam, Wilhelm 704, 104-106 Ascherson, Neal 1248


Adenauer, Konrad 16-18, 147, 258, 499, Attlee, Clement 617, 750
591, 593, 595 f., 600 f., 603, 606-608, Augstein, Rudolf 616 f., 616, 697, 767,
614, 621, 623-626, 628, 630, 633 f., 837 f., 861, 862, 962, 1012, 1026, 1033,
634, 635, 639, 643-647, 657-659, 664, 1038, 1040, 1092, 1216
668-676, 678-683, 686-688, 690-
692, 697, 701-704, 706-708, 710-716, Bachmann, Günter 1028, 1038, 1054 f.,
718, 721 f., 728f., 731-735, 737, 738, 747, 1058, 1060-1064, 1067, 1078, 1080 f.,
749 f., 753 f., 761, 763, 766, 772, 774- 1093, 1112, 1145, 1150, 1158, 1177,
776, 788, 797 f., 804, 808, 816, 818, 820, 1192 f., 1205, 1207, 1234, 1242, 1277
825 f., 831-833, 838, 840, 847 f., 850, Baessler (Major) 78
853, 856, 858 f., 861, 863, 865 f., 872, Bärwald, Helmut 1260
876-879, 881, 883, 886 f., 889, 895 f., Bahr, Egon 1166, 1231, 1234, 1242,
901-903, 905, 914, 919, 925, 927, 938 f., 1252 f., 1272, 1296
941, 950, 955, 960 f., 965, 971, 984, Baier, Fritz 1217, 1225, 1236, 1239 f.,
989, 991 f., 995, 997-1002, 1005-1007, 1242
1015-1021, 1023 f., 1026, 1030 f., Bailey, George 1232, 1254
1034-1038, 1040-1043, 1045, 1047- Bamler, Rudolf 45, 53, 355 f.
1049, 1051-1055, 1058, 1062-1065, Bandera, Stepan 966 f.
1067, 1071, 1079, 1082, 1084, 1089, Baranowski (Exilrusse) 506
1091, 1093, 1100, 1102 f., 1112, 1117, Barczatis, Elli 887, 888, 974
1145, 1158, 1176 f., 1202, 1208, 1268, Barka, Mehdi Ben 1108
1271, 1304, 1306, 1308, 1322, 1325, Barzel, Rainer 1050, 1080, 1092, 1240
1328 f. Bauch, Gerhard 908, 979, 1012, 1091
Adorno, Theodor W. 16-18, 147, 1188 f. Bauer, Leo 1220, 1231, 1234, 1242, 1252
Agartz, Viktor 982 Bauer, Ludwig 1205
Ahcene, Ait 942 Bauer, Ulrich 756
Ahlers, Conrad 1033 f., 1040, 1092, 1094, Baum, Anna 25 f.
1100, 1229, 1232 Baun, Hermann 253, 284, 310, 359, 376,
Ahrens, Wilfried 1234 383, 387-391, 400f., 405, 408, 423,
Aigner, Viktor von 46 431, 438 f., 439, 440-443, 445-448,
Albert, Ludwig 881 450 f., 454-464, 466-472, 475-485,
Albertz, Heinrich 672 487-490, 490, 491-499, 501 f., 504-506,
dAlquen, Günther 334 f. 509, 512, 514, 516 f., 521-526, 528, 530,
Altenhöner, Florian 309 533, 537, 541, 544 f., 558-560, 567 f.,
Antonescu, Mihai 188, 197, 200 578, 584-586, 603-605, 618-620, 671,
Apel, Hans 1286 695, 712, 806, 881, 908 f., 932, 1008,
Argoud, Antoine 1046 1088, 1308
Arnim, Sixt von 116 Baun, Ruth 391, 454, 498, 506, 525, 530
Arnold, Karl 850 Bayer, René 869

1356
Bayern, Albrecht Prinz von 554, 1196f. Blum, George 794
Bayern, Konstantin Prinz von 1153 Bodens, Wilhelm 1074
Beater, Bruno 1098 Boenisch, Peter 1091
Beck, Ludwig 89 f., 94-97, 99, 102 f., Boetzel, Friedrich 296, 405
107-110, 141, 166, 182, 301, 354, 357 Boker, John R. 428, 428-431, 434, 730,
Beck-Broichsitter, Helmut 624 733, 745, 1071
Becker, Hans Detlev 838, 860 f., 962, Bolling, Alexander Russell 745
1032-1034, 1140, 1145, 1197, 1214 Bolling, Klaus 1047
Bedell Smith, Walter 429, 432, 685, 698, Bonin, Bogislaw von 233, 784, 906, 907,
747, 761, 768, 769 f., 784-786, 789 f., 908, 1223
799, 801 Bormann, Martin 74, 239, 276, 287, 299,
Beer, Israel 976 353, 513, 1068, 1227-1229, 1231 f.,
Beitz, Berthold 979, 1012 1235, 1271, 1284
Ben-Gurion, David 976, 1003, 1030, 1048 Bossard, Samuel B. 497 f., 504, 892
Benda, Luise von 145, 149, 151, 162 Boursicot, Pierre 758, 759, 764, 805, 1316
Bennecke, Jürgen 1195 Bradley, Omar N. 569
Bentivegni, Franz Eccard von 182 f., 511 Brandt, Heinrich von 303
Benzinger, Alfred 442, 606 Brandt, Heinz 233, 236
Bercht, Rudolf 757 Brandt, Jürgen 874
Berg, Fritz 1015 Brandt, Willy 16, 38, 43, 940, 999, 1002,
Berger, Hans 1132 1040, 1094, 1098, 1131, 1133, 1139,
Berija, Lawrenti P. 908 1150, 1156, 1165, 1202, 1208, 1211,
Bevin, Ernest 646 1212, 1214, 1223, 1249, 1252, 1256,
Beyer, Rosemarie 1168 1258 f., 1273, 1294, 1302, 1305
Bismarck, Otto von 76, 302 f., 573 Brauchitsch, Walther von 103, 106 f., 135,
Bittenfeld, Hans-Heinrich Herwarth 136, 137 f., 142, 146, 148, 161, 165, 168 f.,
von 577, 606 f. 170 f., 174, 179, 192, 193, 206, 212, 215 f.,
Blank, Theodor 622, 668, 684-686, 688, 218 f., 223, 226, 438, 552
690, 701 f., 709, 715, 718-721, 726, 728, Braun, Wernher von 499
733 f., 739, 750, 752, 754 f., 757 f., 760, Bräutigam, Otto 584
763, 768, 773 f., 776, 783 f., 812 f., 817, Bredow, Ferdinand von 80 f., 1244
826-829, 831, 839, 846 f., 853, 878 f., Brennecke, Kurt 646 f.
889, 892 f., 905, 919 Brentano, Heinrich von 905, 965, 990 f.,
Blank, Ulrich 1076 1003, 1016, 1023, 1054, 1059, 1141, 1193
Blankenhorn, Herbert 606 f., 662, 670, Brentano, Magali von 1141
752, 873 Breschnew, Leonid I. 1085
Blaskowitz, Johannes 135, 137-139, 535 Brockdorf-Rantzau, Ulrich von 45
Bleidorn, Rudolf 47 f. Broder, Henryk M. 1047
Blötz, Dieter 1214, 1217, 1219, 1241, Brown (brit. Journalist) 1191 f.
1261 f., 1283, 1293 Bruce, David K. E. 938
Blomberg, Werner von 80, 89, 103, 141, Brüning, Heinrich 73, 850
1210, 1250 Brunner, Alois 1018, 1060
Blücher, Franz 607, 624, 668, 1268 Bublitz, R. E. 1169
Blum, Eberhard 843, 933 f., 980 f., 988, Buchheit, Gert 302, 1128
1252, 1301 f., 1317 Büchler, Hans Peter 1103, 1106, 1132

1357
Bucerius, Gerd 963 Critchfield, James H. 11 f., 504, 536,
Bulganin, Nikolai A. 922 546 f., 547, 553, 558, 561 f., 565, 570 f.,
Buntrock, Georg 300, 380, 405, 421, 679, 578-582, 584 f., 587 f., 591-593,
703, 1069, 1106, 1188, 1261 596 f., 600, 603-618, 620 f., 623-626,
Buntrock, Johannes 1069 628-631, 634f., 638f., 644, 657-661,
Buntrock, Marie-Therese 1069 665-667, 675-677, 682 f., 688-697,
Burckhardt. Jacob 406 700-705, 707, 709-711, 717f., 721, 723,
Burda, Franz 1091 725 f., 729 f., 733, 741 f., 744f., 749, 753-
Bürker, Ulrich 78 756, 758 f., 773-776, 784, 787, 789-793,
Burmeister, Hans-Werner 766 795 f., 798 f., 804-807, 810 f., 813, 816,
Burress, Withers A. 486 f. 827-831, 837, 842, 845, 848f., 852, 856,
Busch, Ernst 141, 329, 343 f., 347, 409 864-866, 874, 877, 881, 894, 897 f., 910,
Bussche, Axel von dem 849, 927 912, 924-926, 928, 934, 938-940, 958,
Butler (US-amerikan. General) 865 968, 971, 993, 1009, 1068-1072, 1094,
Buttlar, Walrab von 1039, 1059, 1205 1114f., 1119, 1121, 1128 f., 1140, 1149,
1169f., 1191 f., 1218, 1222, 1224, 1238,
Cabell, Charles P. 581 1241, 1243, 1247 f., 1251, 1287, 1303
Canaris, Wilhelm 45, 156, 185, 263, Crome, Hans-Henning 1019, 1205
297-300, 307-320, 332, 351, 389, 402, Cvetković, Dragisa 208
446, 530, 560, 602, 633, 643, 684, 708,
721, 754, 778, 1138, 1231, 1233, 1328 Dajan, Mosche 1233
Carstens, Karl 1016, 1125, 1153, 1158 f., Dalma, Alfons 1028 f.
1162, 1167, 1171 f., 1175 f., 1178, 1196, Danielli, Raymond 462
1217, 1266, 1277 Daniels (Schweizer Oberst) 808
Chamberlin, Stephen I. 505, 520, 531 Deane, John R. jr. 442, 458, 476 f., 487,
Chruschtschow, Nikita S. 897, 957 f., 970, 491-494, 499, 501-503, 507, 1238
972, 997, 1006 f., 1013-1015, 1018, 1023, Decken, Elsbeth von der 1250
1031, 1045, 1082 f., 1084, 1085-1087, Decken, Herwarth von der 1250
1092 Decken, Karl Ludwig von der 1250
Churchill, Winston S. 299, 350, 427, 562, Decken auf Hohenlucht, Georg von
750, 824, 1043 der 1250
Clark, Jack W. 980 Delmer, Sefton 764-766, 794, 807, 849,
Classen, Wilhelm 983 1014, 1018, 1232
Clausewitz, Carl von 89, 180 Dethleffsen, Erich 115, 610 f., 778, 1082 f.,
Clay, Lucius D. 520, 569, 575 f., 591 1141, 1164
Clemens, Hans 1017, 1054 f. Dewavrin, André 1232
Cline, Ray S. 1159 Dewitz, Curt von 47
Conant, James Bryan 850 Diehl, Günter 710, 990f., 1172
Conze, Werner 509 Dill, John Sir 85
Cookrigde, Edward H. (DN, siehe Edward Dingler, Hans-Jürgen 495 f., 501 f., 503,
Spiro) 506, 509, 517-519, 521-528, 532, 1088
Correns, Erich 855 Ditfurth, Hoimar von 1245
Cotta, Erik 1275, 1277 Dohnal, Kurt 477, 579
Courbière, Wilhelm René Baron de Dohrn, Klaus 1017
l’Hommede 115 f., 119, 120, 123 Dombrowski, Siegfried 951 f.

1358
Dönhoff, Marion Gräfin 17, 1055-1057, Erfurth, Waldemar 224 f., 394
1066, 1128, 1173-1176, 1181, 1186, Erhard, Ludwig 955, 971, 1045, 1048-
1293 1050, 1064-1067, 1079, 1082, 1084,
Dönitz, Karl 405, 408, 423 1087, 1094,
1091, 1089, 1098, 1099,
Döring, Wolfgang 906, 967, 1020 1099 f., 1102, 1104, 1115-1121, 1124f.,
Dostojewski, Fjodor M. 425 1131, 1132 f., 1158, 1192, 1199, 1207,
Dschingis Khan 367 1302
Dubois, René 935 Erler, Fritz 812, 840, 841, 865, 887, 949 f.,
Dufhues, Josef Hermann 1027 962, 967, 994, 999, 1007, 1054 f., 1059 f.,
Dulles, Allen W. 357 f., 381, 496, 499, 1076, 1080-1082, 1092 f., 1135, 1256,
745-747, 771, 789f., 801 f., 803, 818- 1282
820, 825 f., 829-831, 835 f., 840, 851, Eschenburg, Klaus 1039 f., 1105
856, 857, 876-878, 893-895, 897, 902, Esslinger (US-amerikan. Lieutenant) 507
910-912, 918-920, 922, 923-925, 927, Etzdorf, Hasso von 145, 284
933, 935 f., 938 f., 946, 965 f., 968, 992, Even-Pinnah, David (siehe Theodor Eck­
995, 997 f., 1002, 1004 f., 1009 f., 1015- stein)
1017, 1026, 1048, 1051 f., 1071, 1074,
1119, 1200, 1249, 1253, 1302, 1322 Fabiunke, Karl 46, 68
Dulles, John Foster 713, 716, 740, 771, Faisal II. (König von Saudi-Arabien) 996
800, 802, 811, 813, 818, 820, 824, 876 f., Fechner, Kurt 406
958, 961, 972, 1071 Felfe, Heinz 538, 749, 826, 845, 853,
Dürrwanger, Alfred 1069, 1071 f., 1095, 907 f., 967, 1017-1019, 1019, 1023 f.,
1123 1027, 1035, 1046, 1050-1052, 1054 f.,
1057-1060, 1065, 1095, 1109, 1113,
Eberlein, Gotthard 973 f., 981 1193, 1197, 1242, 1248, 1255, 1304,
Eberlein, Siegfried 973 1312, 1317, 1329
Eck, Armin 1217 Fellgiebel, Erich 279, 293
Eckardt, Felix von 927, 929 Ferenczy, Josef von 975
Eckstein, Ernst 38, 75 Fischer, Fritz 502, 533
Eckstein, Theodor (auch David Even- Fischer, Joschka (eigentl. Joseph
Pinnah) 34, 37 f., 40, 75, 1243-1246 Martin) 1021
Ehard, Hans 597 Foccart, Jacques 1046
Ehmke, Horst 1160, 1208, 1214, 1217, Foertsch, Friedrich 1026
1219, 1223, 1228 f., 1231, 1234, 1253, Foertsch, Hermann 117, 517, 570, 622,
1259 f., 1264, 1277, 1297 663, 669, 866, 932, 983, 986
Eichmann, Adolf 12, 756, 1000-1003 Foertsch, Volker 1019, 1040, 1094, 1205
Eikern, Ernst zu 389 Ford, Gerald 1275
Eisenhower, Dwight D. 349, 686, 688, Franco, Francisco 98, 511
698, 701 f., 739, 798, 818, 997, 1322 François-Poncet, Andre 688
Ekstrom, Clarence 884-886 Frank, Hans 138
Ellsberg, Daniel 1228 Franke, Herbert 251
Elvesfeldt, Harald Frhr. von 339 Franks, Arthur »Dick« 1072
Engel, Gerhard 108 Franz, Karl Heinz von 1205
Erdmann, Kurt Wilhelm Gustav 99 Freitag, Otto 858, 1072
Erdmann von Witzleben, Erwin 90 Freiwald (Sekretärin) 796

1359
Frey, Gerhard 983, 1223, 1292 451, 455
446, 448- f., 471, 485, 513,
Freyend, John von 517, 608 f. 541, 554, 560, 599, 767, 887 f., 898, 1073,
Fricke, Kurt 169 f. 1105, 1136, 1163, 1182, 1186, 1227,
Friedeburg, Hans-Georg von 408 f., 409 1245, 1251, 1259, 1269, 1273, 1277,
Friedmann, Werner 1145 1287 f., 1294, 1296, 1300
Friedrich II. (auch der Große, König von Gehlen, Johannes »Giovanni« 24-27, 29,
Preußen) 31 f., 201, 323 31, 40, 61, 101, 311, 448, 451, 489, 560,
Frieser, Karl-Heinz 314, 342 564, 564, 597, 611, 665, 756, 796, 808,
Fritsch, Werner 23, 103, 107, 141, 688 839, 852, 889, 1123, 1156, 1201, 1217,
Fröhlich, Elke 96, 119, 1233, 1252, 1305 1269
Fromm, Friedrich 68, 125, 370 Gehlen, Katharina Margarete 27, 57,
Füner, Herbert 432, 463, 470, 472 78-80, 109 f., 184, 214, 337, 339, 368-
370, 389 f., 401, 423, 433, 446, 448-451,
Gaedcke, Ludwig Heinrich »Heinz« 84, 455, 458, 471, 485, 513, 541, 554, 560,
92 862 f., 882, 898, 911, 940, 1097
Galloway, Donald 562 Gehlen, Katharine (geb. von Vaerne-
Gans Edler Herr zu Putlitz, Wolf­ wyck) 23-27, 30-32, 34f., 39-41, 50,
gang 856 417, 1069, 1326
Garbo, Greta 1282 Gehlen, Klara Elisabeth »Elsa« (geb.
Gaulle, Charles de 941, 946, 998, 1008, Kopp) 61, 74, 311 f.
1016, 1043, 1046, 1049, 1083, 1089, Gehlen, Luise 21-23, 30, 35
1118, 1129, 1183, 1232 Gehlen, Margarete (geb. Ege) 24, 35
Gaus, Günter 1216 Gehlen, Marie-Therese 27, 57, 175, 184,
Gehlen, Agda (geb. Torborg Paulson) 26, 214, 337, 339, 368-370, 389 f., 401, 423,
35, 100 433, 455,
451, 446, 458,
448- 471, 485,
Gehlen, Arnold 29 f., 35, 1004, 1188f. 513, 541, 554, 560, 898, 1108
Gehlen, Barbara 25 f., 35, 40, 311, 468 Gehlen, Max 21 f., 24, 27, 29, 35, 70
Gehlen, Caroline 29 Gehlen, Natalie 21 f., 35
Gehlen, Christine 1141 Gehlen, Peter Christian 390, 852
Gehlen, Dorothee 14, 27, 57, 214, 312, 337, Gehlen, Reinhard Christopherus 21-23,
339, 368-370, 389 f., 401, 423, 433, 446, 35, 61
448-451, 455, 458, 471, 485, 513, 541, Gehlen, Theodora 21, 35
554, 560, 898, 1097 Gehlen, Veronika (geb. Reichsfreiin von
Gehlen, Felix Christoph 14, 27, 40, 57, Wolff) 29
98, 109 f., 184, 214, 337, 339, 368-370, Gehlen, Walter Carlos von 311, 468,
389 f., 401, 423, 433, 446, 448-451, 859 f.
455, 458, 471, 485, 513, 541, 554, 560, Gehlen, Walther (Vater von Reinhard
862, 898, 1069, 1097, 1105 f., 1182, 1251, Gehlen) 21-27, 30-35, 39 f., 42 f.,
1294 f. 53, 59-61, 74, 97, 113, 311, 417f., 424,
Gehlen, Franz 21 1326 f.
Gehlen, Helene (geb. Markiewitz) 60 Gehlen, Walther (Bruder von Reinhard
Gehlen, Herta (geb. von Seydlitz-Kurz­ Gehlen) 25, 35, 40, 59, 61, 74, 97, 311,
bach) 26, 62, 70-72, 72, 77-80, 91, 390
97, 100 f., 109 f., 184, 214, 257, 311, 337, Geilhausen, Marie 1250
339, 364, 368-370, 389 f., 401, 423, 433, Geilhausen, Richard 1250

1360
Geist, Friedrich 933 Graeber, Rudolf 1142f.
Gempp, Friedrich 307 Gramsch, Walter 839
Gercke, Rudolf 187, 293 Grau, Wilhelm 754
Germani, Hans 951 Greiffenberg, Hans von 93, 123, 146, 147,
Gersdorff, Rudolf-Christoph Frhr. 167, 197, 228
von 323 Grobba, Fritz 950 f.
Gerstenmaier, Eugen 974, 984, 1041, 1102 Grolman, Helmuth von 182, 203-205,
Geyer, Hans Joachim 834 223, 671 f., 1267
Geyer, Hermann 99 Grolman (Frau von Helmuth von Grol­
Geylener, Johannes 21 man) 1267
Geyr von Schweppenburg, Leo 86 Groscurth, Helmuth 135, 166, 258, 286
Gieseking (Arzt) 354 f. Grossin, Paul 980
Gingold, Willi 853 Grotewohl, Otto 816, 887, 888, 974
Giniger, K. S. 1253 Gruschwitz, Max 41
Gisevius, Hans Bernd 1271 Guderian, Heinz 123, 127 f., 130, 141-144,
Glaser-Wallach, Erika 1220 154, 160, 226, 314, 337, 350, 359-363,
Globke, Hans Josef Maria 16, 147, 616 f., 365-368, 370 f., 373-375, 383, 386,
625, 635, 643, 646f., 657-660, 670f., 395, 397 f., 404, 406, 475, 602, 668,
675, 678, 683, 686, 688, 690, 702, 704, 679 f., 724, 843, 1281
706, 708f., 711, 715, 717-719, 726f., Guderian, Heinz Günther 502, 553
729-733, 735, 737, 737-740, 742f., 750, Guillaume, Günter 1139, 1258, 1260 f.
752-755, 758-760, 763, 766-768, 773, Gumbel, Karl 754, 1177
775, 783, 786, 788, 794, 796, 801, 807- Gundlach, Gustav 489
809, 811 f., 817, 820, 831, 839 f., 842, Guttenberg, Karl Theodor Frhr. von und
846-850, 853, 863 f., 875, 877, 879 f., zu 991, 1025, 1145, 1154, 1159 f., 1165,
884 f., 887, 892, 898, 902, 914, 929, 931, 1194f.
937, 939, 942-944, 947, 954, 956 f., 960, Gwinner, Wilem von 577
963 f., 969 f., 973, 983-987, 992, 995,
999, 1001-1003, 1009, 1017 f., 1025, Habsburg, Erzherzog Otto von 1091
1028, 1035, 1047, 1050, 1054-1057, Habsburg, Erzherzogin Adelheid
1064 f., 1067, 1079, 1158, 1172, 1177, von 1091
1187, 1202, 1232, 1265, 1272, 1304, Hain (Leutnant) 54
1308, 1325, 1328 Halder, Franz 95, 101-103, 106, 108-110,
Godin, Michael Frhr. von 511 f. 122-132, 135, 136, 137-149, 151,
Goebbels, Joseph 79, 281, 287, 374, 398 f. 151-154, 159-161 f., 164-168, 170 f.,
Goerdeler, Carl 357, 452 174-176, 176, 177-190, 192-198, 200-
Görgen, Hermann Mathias 991 221, 221, 222-224, 226-232, 234-237,
Göring, Hermann 239, 308, 324, 905 239-245, 247f., 250f., 255, 257-261,
Goschler, Constantin 630 271, 296, 298, 301, 324, 328, 348, 356,
Gottlieb (Uffz., Gehlens Fahrer) 121 413, 415-417, 428, 437, 475, 522, 553,
Graber, Rudolf 488 f. 622, 778, 869-871, 920, 984, 1210,
Graber, Siegfried 389-391, 451, 473, 475, 1225, 1246, 1247
477, 480, 484, 488, 492, 501, 518, 537, Hall, William E. 548 f., 553, 569, 571
547, 560, 606, 618, 953, 1008, 1308 f., Hallstein, Walter 925, 991
1311 Halter, Anton 477, 560

1361
Handy, Thomas T. 682 Herre, Heinz Danko 251, 252, 253, 273-
Hansen, Erik Oskar 93, 196 275 f., 278-283 f., 288, 379, 449, 454,
Hansen, Georg 309, 350, 380 470, 487, 495, 499, 505, 507, 518 f., 521 f.,
Hansen, Karl Ottomar 1233 524, 526, 533 f., 539, 564, 568, 571, 579,
Hansen, Volker 1227, 1229, 1233, 1239, 582-585, 587, 592, 596, 600, 601, 603-
1241, 1275, 1277, 1280 607, 609, 611-613, 617, 625, 628-631,
Hanstein, Jobst von 100 634-636, 638, 645 f., 658, 663, 665,
Harel, Isser 976 f., 1030, 1232 668 f., 673, 675, 677, 679, 682 f., 686 f.,
Harpprecht, Klaus 381 690f., 693, 698, 710, 717-720, 742-745,
Harster, Wilhelm 1061 745, 746-748, 755, 777, 787, 789, 830,
Hartmann, Christian 415, 417 848, 850-852, 867, 903, 927, 929, 932,
Hase, Karl-Günther von 926, 1203, 1296 958f., 959, 1008-1011, 1023, 1064f.,
Hasler (Obergefreiter) 44 1094, 1104, 1122, 1129, 1145, 1149f.,
Hassel, Kai-Uwe von 1047, 1060, 1073, 1154f., 1170, 1184, 1191, 1213, 1270 f.,
1102, 1104, 1116 f., 1120, 1127 f., 1133 1309
Hauffe, Arthur 203 Herre, Christa Margarethe (geb. von
Hauser (Major) 224 Wedel) 507
Hays, George P. 662 Hertel, Guido 940, 1011, 1028
Heim, Ferdinand 208 Herter, Christian A. 972
Heinemann, Gustav 607, 624, 630, 662, Hertz-Eichenrode, Wilfried 10, 1238
674, 678, 1222 f., 1242 Herwarth von Bittenfeld, Hans-Hein­
Heinz, Friedrich Wilhelm 636, 637, rich 606, 1201
642-645, 647, 662, 668, 670 f., 676 f., Herzl, Theodor 1244
679, 684, 688, 690, 692, 702, 705, 707, Heß, Rudolf 74
709, 714f., 717, 719-722, 726-729, Hesse, Fritz 990
732 f., 738, 744, 750, 754, 758, 760, 768, Hesse, Kurt 1198
810, 812, 825-827, 829, 831, 833, 839, Heubl, Franz 1091
842, 1306 f. Heusinger, Adolf 93, 150, 163, 181 f., 184,
Heisenberg, Werner 26 187-189, 193, 196-198, 202-209, 211-
Helmdach, Erich 78, 155 f., 1203 214, 216-220, 222f., 225-234, 236f.,
Helms, Richard 497, 504, 543, 644, 645, 239, 250f., 252, 258-261, 265f., 281,
693, 712, 714 f., 746, 819, 826, 1010, 286 f., 293 f., 324-326, 329-332, 337 f.,
1026, 1115, 1119-1122, 1128 f., 1146 f., 342, 348, 350-353, 356 f., 359, 361,
1149, 1154, 1176, 1200, 1212 f., 1218, 369, 403, 411 f., 427, 505, 506, 507, 514,
1238, 1246 f., 1251 517, 521, 525 f., 534, 539, 544, 554, 564,
Hencke, Andor 44 f., 308 568, 570, 577, 596, 598, 605 f., 608-610,
Hengeihaupt, Erich 379 616, 618, 620-622, 622, 623-625,
Hengl (DN, d. i. Roman Hönlinger) 479 630, 634-636, 638 f., 644, 646, 648,
Henke, Karl-Eberhard 1019, 1167, 1205, 657-664, 666-674, 679-690, 689, 692,
1207, 1254 f., 1255, 1290 694, 697f., 701 f., 705-707, 717f., 720f.,
Henselmann, Hermann 855 724, 726 f., 731, 734 f., 739, 743 f., 749 f.,
Hepp, Leo 789, 1113, 1220, 1222, 1280, 752, 754, 757f., 760, 762-764, 768, 774,
1284 783 f., 797, 812, 825-827, 833, 848 f.,
Herne, Jack 935 874 f., 878, 885, 929, 931, 963, 968, 987,
Herold, Horst 1257 1029, 1112, 1136, 1200, 1284, 1307

1362
Heuss, Theodor 609, 971 Hoffmeister, Edmund 361
Heydenreich, Ludwig Heinrich 168 Höhne, Heinz 10, 401, 951, 1061, 1242,
Heydrich, Reinhard 45, 200, 218, 306-308 1247, 1254 f., 1279
Heye, Hellmuth 796 Hohmann, Karl 1066, 1083
Heye, Wilhelm 35 Hollidt, Karl-Adolf 137
Heyl, Werner 1253, 1278 Holzamer, Karl 1114
Hiemenz, Horst 432, 472, 480, 630 Hoover, John Edgar 498, 708, 909, 935,
Hilger, Gustav 283 f., 358, 449, 472, 499, 1322
499, 584, 659 Hopf, Volkmar 1076
Hillenkoetter, Roscoe Henry 504 Höpker, Wolfgang 1220
Himmler, Heinrich 80, 133-139, 179, Hoppe, August 989, 1027, 1076
199 f., 205, 216, 276, 279, 287, 297 f., Horaczek, Johannes 384
306, 332-335, 367, 376-378, 380, 382, Horkheimer, Max 849, 1188
384-386, 395, 399 f., 402 f., 408, 720, Hoßbach, Friedrich 403
777, 1320 Hoth, Hermann 143
Hindenburg, Paul Ludwig Hans Anton Hoyer, Ernst 382
von Beneckendorff und von 67, 73, Hübner, Rudolf 402 f.
81, 195, 306, 460, 1244 Hudal, Alois 756
Hinrichs, Hans 432, 470, 472 Huefner, Donald G. 971
Hippius, Rudolf 388 Hundhammer, Alois 591, 596 f.
Hirsch, Martin 1198 al-Husaini, Faisal 559
Hirt, Arnold 24
Hirt, Ferdinand 24 Ira, Longin 440
Hitler, Adolf 9, 49, 69, 73, 76, 80, 82 f., 88, Irving, David 430, 1223, 1233, 1238, 1252 f.
90f., 98f., 102-105, 107-109, 114f., Irving, Frederick A. 581
118 f., 122 f., 125-133, 138-142, 146,
149, 152 f., 156 f., 159, 161 f., 164-166, Jacob, Alfred 124-126, 128, 130, 144
168, 170 f., 173, 175, 177-179, 181, 183- Jacobsen, Hans-Adolf 152, 165
186, 188-190, 192-194, 197-214, 216, Jacoby, Agnes 1215, 1238
219-223, 226, 230f., 233f., 237-239, Jacquier, Paul 1028
241, 243-245, 248, 250, 255, 258-261, Jaeger, Dr. Richard 886 f.
263 f., 266, 268, 271 f., 276-279, 281- Jahr, John 616
283, 285-287, 295, 298-300, 307, 310, Jobst (Oberstudiendirektor) 862
314, 315, 315-319, 323-333, 337-339, Jodl, Alfred 145, 204, 223, 259, 344, 373
343 f., 346-348, 351 f., 354, 356 f., 359 f., Johannes XXIII. 1045
365-368, 370, 372, 374-377, 381, 386, John, Otto 356, 691, 702, 720, 722, 732,
395, 397-399, 403, 407 f., 410, 412-414, 737, 739, 743 f., 756, 759, 793 f., 796, 811,
423, 425, 427, 438, 452, 472-474, 484, 825 f., 854, 855, 856, 864 f., 870, 874,
511, 543, 550 f., 577, 602, 680, 698, 701, 908, 961, 1060, 1233, 1272
800, 823, 1036, 1101, 1214, 1244, 1251, Johnson, Lyndon B. 1074, 1108, 1125
1282, 1294, 1319 f., 1328 Jonscher, Ernst 886
Höcherl, Hermann 1067
Höcker, Oskar 33 Kahn, David 1216
Hoegner, Wilhelm 543, 511 Kaiser, Jakob 1271
Hofe, Günter 853, 1079 Kalckreuth, Jürg von 377, 399, 630

1363
Kaltenbrunner, Ernst 381, 405 f. Kogon, Eugen 488
Kammhuber, Josef 905 Kohl, Helmut 1304
Kanayan, Drastamat 559 Kohler, Kurt 789, 1312
Kastner, Erich 404, 978 Kordt, Ulrich 1280
Kastner, Hermann 913-915 Kossygin, Alexej N. 1085, 1124
Katsch, Gerhardt 903 Köstring, Ernst-August 175 f., 176, 284, 674
Kauder, Richard 249, 249, 440 f. Krapf, Franz 1020
Keitel, Wilhelm 128, 133, 222, 281, 283, Krause, Herbert 1121 f., 1143
316, 345 f., 551, 1101 Krekeler, Heinz 875
Kempner, Robert Max Wassili 550, 575 Kretschmer, Alfred 603
Kennan, George F. 546 Kreuzwendedich von Monsterberg-
Kennedy, John F. 1008 f„ 1016-1018, Münkenach, Sylvius 34
1023, 1031, 1041, 1045, 1053, 1063, 1074 el-Krim, Mohammed Abd 559
Kent, Sherman 746, 810 Kröker, Thomas 344
Kessel, Friedrich von 927 Kroll, Gerhard 625 f., 688, 889
Kielmansegg, Johann Adolf Graf Krone, Heinrich 944, 1023, 1025, 1037,
von 645, 688 f., 689, 734, 750, 783, 825, 1041 f., 1049 f., 1065, 1067, 1073 f.,
865, 874, 927-929, 1102, 1146 1079 f., 1082-1084, 1086 f., 1089, 1092 f.,
Kienzle, Walter 1201 1099 f., 1102, 1110f., 1113, 1132f.
Kiersch, Walter 51 Krüger, Annelore 516, 577, 596, 638, 676,
Kiesinger, Kurt Georg 991, 1132 f., 1134, 710, 778, 902, 910, 932, 946, 952 f., 1019,
1135, 1141, 1145, 1149f., 1153-1156, 1184-1190, 1194-1197, 1199, 1205,
1159, 1160-1163, 1166, 1170, 1175, 1215, 1222, 1227, 1240, 1243, 1261,
1194, 1207 1263, 1265, 1268, 1272 f., 1315 f., 1327
Kinkel, Klaus 1286 f., 1289 f., 1297 Küchler, Georg von 154, 159
Kinzel, Eberhard 140, 155, 157, 166 f., Kühlein, Conrad 324 f., 416, 679, 848, 872,
176, 184, 187, 189, 206, 211, 223 f., 227, 932, 972, 981, 1010, 1108, 1294-1296
233-236, 239 f., 242, 248, 262, 303, Kuhn, Albin 1041
355, 408, 409, 409 f. Kühne, Georg 336
Kinzel, Walther 409 Kunze (DN, siehe Annelore Krüger)
Kirkman, Sidney 750 Küpper, Karl-Heinz lllf.
Kissinger, Henry 1208, 1238 Kutschin, Wadim W. 908
Klein, Hans 1294, 1296
Klein, Julius 1003, 1048, 1227 Lafont, Roger 689
Kleist, Ewald von 214, 329 Lahr, Rolf Otto 1201
Klemmer (Landesamt f. Verfassungs­ Lammers, Hans Heinrich 74
schutz Bremen) 805 Langkau, Wolfgang 45, 178, 628, 630,
Klepper, Otto 778 705, 710, 843 f., 889, 915 f., 932, 988,
Kluge, Günther von 69, 329 1019, 1079, 1100, 1111, 1166, 1226,
Knieper, Werner 1133, 1134, 1141, 1143- 1262, 1267
1145, 1153, 1157, 1160-1162 Laser, Paul 444
Knortz, Hans-Ludwig 1109 Laurenz, Karl 887
Koch, Erich 275 f. Leander, Zarah 448
Koester, Hans-Georg von 1078, llllf., Leeb, Wilhelm Ritter von 126, 179, 222,
1177, 1234, 1277 550

1364
Lehmann (Leutnant) 58 Ludwig II. (König von Bayern) 1188
Leibbrandt, Georg 281 Lumumba, Patrice 1007
Leiber, Robert 488, 564, 807, 889 Lunding, Hans Mathiesen 1310
Leikamp, Friedrich 952 f. Lütgendorf, Karl Frhr. von 432, 435, 470
Lemmer, Ernst 1271 Lüttwitz, Therese von 61, 446, 448
Lenin, Wladimir I. 168 Lutz, Hans 475, 993
Lenz, Hans 1020 Lutz, Oswald 475
Lenz, Otto 709, 727-730, 811, 813, 825, Luyken, Heinrich August 53
831 f., 895, 1161
Leonhard, Wolfgang 903 MacArthur, Douglas 699, 726
Lettow-Vorbeck, Elisabeth von 23, 71 Mackensen, August von 315 f., 337
Lettow-Vorbeck, Paul von 23, 71 Mader, Julius 984, 1000, 1249
Leuschner, Bruno 1006 Maetschke, Hans 1164, 1166 f.
Leuwerick, Ruth 864 Mai, Margot 796
Lex, Hans Ritter von 600, 628-630, Maizière, Ulrich de 178, 182, 253, 261,
634-636, 638, 660, 670, 691, 743, 903 927-929, 1126 f., 1195
Liddell, Guy 309 Malenkow, Georgi M. 801
Liebei, Willard K. 503, 507 f., 508, 513, Malikowski, Günter A. 1000
515, 518-521, 523 f., 527, 533, 534, 536, Malinowski, Rodion J. 1022
539, 541-543, 567 Manstein, Erich von 92-94, 96, 97, 103,
Liebmann, Curt 88 110, 113 f., 116, 123, 129-131, 247, 266,
Liechtenstein, Prinz von 554 288, 312-314, 316, 327-329, 331 f., 348,
Limbach, Paul 1263, 1296 416, 552, 598, 743, 780
Lindeiner-Wildau, Hanns-Gero 357 Manteuffel, Hasso Eccard von 623 f.
Lindemann, Fritz 81 Mao Tse-tung 801, 823
Lindemann, Georg 50 Mareks, Erich 116, 154, 159 f., 167 f.,
Lippolz, Stefan 1015 171-175, 183
Liss, Ulrich 62 Markert, Werner 509
List, Wilhelm 202 f. Marshall, George C. 503, f.
Lobedanz, Franz Walter 516 Martmez Campos, Carlos 721
Lobedanz, Reinhold 516 Martini, Winfried 963
Loßberg, Bernhard von 92, 100, 183, 230 Marx, Werner 1161
Löwenthal, Gerhard 1219 Mata Hari 305, 1281
Long, Tanja 462 Matzky, Gerhard 312, 675, 724
Loncarevic, Aleksandar 994 f. Maurach, Reinhart 509
Loringhoven, Wessel Frhr. Freytag McCloy, John J. 600, 603, 609 f., 624, 628,
von 351-353 668-671, 674-677, 701 f., 713, 716, 718,
Lossow, Hans-Ludwig von 521, 647, 670, 726, 734, 1015-1017
676, 707 McCone, John A. 1023, 1051 f., 1110
Lotz, Wolfgang 979, 1091, 1246 McGhee, George C. 1051 f.
Lovell, John Raymond 434 f. McNamara, Robert 1125, 1129f.
Lübke, Heinrich 984, 1107 Mellenthin, Horst von 45, 176, 511, 517,
Lucid, Tom 898, 912, 920 f., 946, 971, 570, 583, 608, 617, 622, 638, 668, 669,
1170, 1212 670, 697, 753, 755, 773, 789, 817, 833,
Ludendorff, Erich 304 f., 1281 972, 981, 1310 f.

1365
Mellies, Wilhelm 903 Nasir (Chef eines ägypt. Nachrichten­
Mende, Erich 906, 1027, 1060, 1086, dienstes) 979
1091 Nasser, Gamal Abdel 908 f., 965, 977, 979,
Mende, Gerhard von 207 996, 1007
Menderes, Adnan 999 Nasution, Abdul Haris 1073
Menzies, Stewart 1105 Natzmer, Otto von 202
Mercier, Marcel-Andre 560, 561, 564, Nehru, Jawaharlal 977, 996
597, 636, 685, 689, 721, 755, 805, 935 Nelken (BND-Sekretärin) 1293
Mercker, Reinhold 18, 956, 970 f., 1028, Neumann, Hansgeorg 1059
1035, 1054, 1058, 1063, 1067, 1079, Neusel, Hans 1161
1081, 1083, 1158, 1159, 1177 Ngô Dình Diêm 1049
Merten, Max 1001 Nicolai, Walter 304-307, 422
Mertins, Gerhard 1268 Niedermayer, Oskar Ritter von 279, 280
Mertz von Quirnheim, Albrecht 293 Nitschmann, Horst 892
Metz, Lothar 636, 949, 1123 Nixon, Richard 818, 1208
Meyer, Claus Heinrich 1235 Noeldechen, Ferdinand 116
Meyers, Franz 799 Noelle-Neumann, Elisabeth 999
Michaelsen, Mascha 1259 Nollau, Günther 947, 961, 985, 1160, 1162
Mielke, Erich 834, 860 1166, 1219, 1234, 1239, 1252, 1258,
Mikojan, Anastas H. 504 1292
Milch, Erhard 106 Nolte, Heinrich Eduard 144 f.
Model, Walter 140-141, 334, 347, 349 Noske, Gustav 53
Möhlmann, Helmut 932 Nostitz, Eberhard Graf von 548
Moll, Josef 1203 Nouhuys, Heinz van 1145, 1261
Molotow, Wjatscheslaw M. 178, 186, 188,
192, 194, 460 Oberländer, Theodor 509, 775, 849, 893,
Moltke, Helmuth James Graf von 199 984
Moltke, Helmuth Karl Bernhard von Obermayer, Albrecht 882 f.
(d.Ä.) 31, 213, 302, 416, 861, 1268 Ochsner, Hermann 178
Montgomery, Bernard Law 408, 409 O’Donnell, John 876
Mors, Harald 760, 1122 f., 1313-1318 Oehquist, Harald 226
Mossadegh, Mohammad 823 Ofstie, Ralph A. 883 f.
Mueller-Hillebrand, Burkhart 178, 293 Ogilvie, Karl 354
Muench, Aloysius Joseph 889 Ollenhauer, Erich 112, 672, 734, 744, 766,
Müggenburg, Günther 1076 786, 794, 795, 796, 863, 879, 1059, 1256,
Müller, Josef 709, 754, 784, 793, 895 1282
Müller, Vinzenz 984, 1220 Ondarza, Herbert von 68
Münchhausen, Georg-Heino Frhr. Opel (Familie) 491, 622
von 251 Oriola, Ralph Graf von 111
Murphy, David E. 1051 Oster, Achim 642 f., 647, 670, 673, 688,
Mussolini, Benito 91, 185, 319, 703 709, 715, 720, 734, 754, 781, 783, 831,
865, 874, 905, 927 f., 1107
Nagy, Imre 926 Oster, Hans 642, 781, 1138
Nannen, Henri 1145, 1202, 1220 Osterkamp, Herbert 336
Napoleon I. 166, 180 Oxenius, Friedrich Wilhelm 932

1366
Paget, Bernard Sir 85 f. Puttkamer, Hasso Frhr. von 145, 147
Panitzki, Werner 1127 Puttkamer, Karl Jesko von 318
Papen, Franz von 73
Pasch, August Wilhelm 909 f. Raab, Paul 1159
Patton, George S. 427 Rabenau, Friedrich von 22, 97, 402
Patzig, Conrad 585 Rabenau, Karl von 21 f.
Pauls, Rolf Friedemann 596 f. Raborn, William F. 1110 f.
Paulus, Friedrich 119f., 167, 181, 183- Raddatz, Karl 919
185, 187, 190, 192-194, 197 f., 202, 204, Radetzki, Waldemar von 333 f.
208, 219, 222, 235, 247, 259, 266, 285, Radke, Albert 284, 707, 720, 739
618, 871 Raeder, Erich 164, 169 f.
Peitsara, T. N. 226 Raiser, Hans 731
Pelckmann, Horst 1003 Rank, Arthur 778
Petschek (Familie) 985 Rapp, Walter H. 551
Pfannenschwarz, Ekbert 932 Rasner, Will 1086
Pfeiffer, Peter 623 Ratzinger, Joseph 488
Pferdmenges, Robert 1017 Rauch, Georg von 272
Philby, Harold Adrian Russell »Kim« 469 Rauff, Walther 604
Philippi, Alfred 208 Reagan, Ronald 1285, 1304
Philp, William R. 429, 442, 456, 542 f., Reber, Samuel 805
564-567, 569 Redding, Günter 1145, 1150, 1157, 1160,
Pieckenbrock, Hans 309, 511 1166
Pilster, Hans 1156 Reese, Mary Ellen 11
Pius XII. 489, 564 Reichenau, Walther von 71, 119 f., 214 f.
Pleasants, Henry 668f., 671, 723-727, Reimann, Max 1223
729, 928, 1052 f. Reinhardt, Georg-Hans 550 f.
Pleven, René 682 Reiser, Hans 1114
Pleyer, Barbara Rotraut 977, 975, 996 f., Renger, Annemarie 994
1088, 1145 Reuter, Ernst 708
Podgorny, Nikolai W. 1085 Ribbentrop, Joachim von 950
Polleck, Fritz 932 Ribière, Henri 655, 685, 689, 694
Poschinger, Ludwig Josef Ritter und Richards, George Jacob 581
Edler von 1250 Richter, Herbert 951
Poschinger, Richard Ritter und Edler Rieck, Herbert 1270, 1283
von 1249f. Riedmayr, Martin 630, 879, 1196
Poser, Günter 1103, 1111, 1126 f., 1135, Riggert, Ernst 967
1141, 1148, 1156, 1203 Ritgen, Udo 841
Praun, Albert 77, 296, 1284 Ritner, Peter V. 1232, 1241
Preuschen, Gerhard von 1003 Rittberg, Karl-Heinrich Graf von 346,
Preußen, Prinz Louis Ferdinand 358, 402
von 849 Rittberg, Gräfin von 402
Preußen, Wilhelm von 33 Ritter, Klaus 430, 756 f., 1029, 1103
Preußer, Arnold 62 Ritzel, Heinrich Georg 1054, 1282
Priwalow (sowjet. General) 280 Roeder, Manfred 732 f.
Prützmann, Hans-Adolf 384 Roeder von Diersburg, Frhr. 757, 162, 776

1367
Roenne, Alexis Frhr. von 271, 278, 281, Schenk, Walter 530, 532, 544, 596, 638,
284, 354, 402 661, 665, 1311
Roenne, Ursula Freifrau von 354 Schenk Graf von Stauffenberg, Claus 61,
Roger (DN, Gehlens Dolmetscher »Onkel 81, 178, 233, 253, 254, 272, 275, 277,
Jonny«) 542 279, 280, 281, 293, 323, 350-352, 356 f.,
Rohm, Ernst 80 377, 413, 577, 1320
Röhricht, Edgar 166 Schickei, Alfred 1281 f.
Romalka, Georg 1239 Schildknecht, Friedrich 269
Rommel, Erwin 85, 198, 202 f., 206, 291 Schlabrendorff, Fabian von 73, 80 f., 90,
Roos (Oberstleutnant) 224 f. 927 f., 1271
Roosevelt, Franklin D. 222 Schleicher, Kurt von 73, 80 f., 90, 1210,
Rösch, Augustinus 488, 726, 889 1244
Rosenberg, Alfred 83, 207, 275, 281 Schmid, Carlo 734
Rosenberg, Ethel 725 Schmidt, Arthur 167, 235
Rosenberg, Julius 725 Schmidt, Hans-Georg 275
Rosenstiel, (Major) von 178 Schmidt, Helmut 1034, 1040, 1135, 1150,
Rößler, Rudolf 1138 1155, 1166, 1202, 1259, 1286, 1304 f.
Rothschild (Familie) 1275 Schmidt, Norbert 797
Rotraut (DN, siehe Barbara Rotraut Schmidt-Polex, Carl 1267
Pleyer) Schmitt, Heinrich 453, 462, 467, 551
Ruffner, Kevin 16 Schmitt-Vockenhausen, Hermann 1067
Ruge, Friedrich 796 Schmückle, Gerd 969
Rundstedt, Gerd von 552 Schneemilch, Gerhard 61
Runge, Jewgeni J. 1159 Schneemilch, Hans-Dietrich 61, 517
Ruoff, Joachim 983 Schneemilch, Otto 61
Rusk, Dean 1023, 1119, 1146 Schnez, Albert 732, 735, 1146, 1148, 1195
Rust, Josef 879 Schnippenkötter, Swidbert 1145, 1149
Schoeller, Albert 432, 472
Sabri, Ali 979 Schoeps, Hans-Joachim 1245
Salazar, António de Oliveira 1151 Scholz, Ulrich 1262
Samjatin (sowjet. Oberst, ROA) 516 Schönbeck (Oberst) 364
Sauckel, Fritz 283 Schörner, Ferdinand 334, 870
Saud (König von Saudi-Arabien) 975 Schow, Robert A. 569
Sauerbruch, Peter 235 Schramm, Wilhelm Ritter von 318, 391,
Schäfer, Friedrich 1141 394, 1137 f., 1165
Schäffer, Fritz 776, 878 f. Schröder, Gerhard 847, 891, 954, 955,
Schaufler, Michael (DN) 1088 1082, 1089, 1102, 1133, 1135 f., 1145,
Scheibe, Fritz 404, 478, 493, 505, 526, 1150, 1153 f., 1302
679, 817 Schröder, Hans 950
Scheiepin, Alexander N. 1085 Schrübbers, Hubert 880, 886
Schellenberg, Roman 450 f., 932 f. Schubert, Albrecht 53 f.
Schellenberg, Walter 300, 306, 308, Schubert, K. (Ministerialdirektor) 1026
379-381-383, 385, 385-387, 389, 398, Schukow, Georgi K. 460
400, 406, 536, 713, 728, 777, 1225 Schulenburg, Friedrich-Werner Graf von
Schellhorn, Rudolf 948 der 284

1368
Schüler, Manfred 1260, 1276-1279, 1287, Skorzeny, Otto 382, 385, 385, 400 f., 405 f.,
1289 f. 703 f.
Schumacher, Kurt 574, 617, 671-673, 672, Slute, Benjamin 632
685-688, 704, 706, 712, 721, 726, 731, Smylowski, Boris Arthur Graf 401, 806
734, 740, 743, 747, 750, 763, 766, 794, Smirnow (sowjet. Oberst) 462
795, 809, 994, 1282, 1296, 1308 Smith, Truman 865
Schuman, Robert 564 Sommer, Theo 1235
Schütz, Hans 849 Sorge, Helmut 1210
Schwarz, Hans-Peter 1035 Speer, Albert 287, 324, 1232
Schweizer, John M. 928 Speidel, Hans 348, 564, 570, 596,
Schwenninger, Helmut 1103 608-611, 618, 622, 622-624, 636, 644,
Schwerin, Gerhard Graf von 609, 610, 661-663, 666 f., 669, 677, 684, 686, 688,
642-647, 658, 666, 668-670, 673-679, 689, 692, 697 f., 701 f., 706, 724, 731,
683-685, 688, 691 f., 704, 719 f., 728, 734, 739, 784, 865, 874, 963, 1101, 1157
777 f., 781, 840, 848, 850, 1307 Speier, Hans 777-781
Schwirkmann, Horst 1087 Sperl, Rudolf 61
Seaton, Albert 1284 Spiro, Edward 10, 45, 85 f., 1247, 1249,
Sedelnikow, Fjodor S. 906 1258, 1281
Seebohm, Hans-Christoph 984 Springer, Axel 1012 f.
Seeckt, Hans von 35, 52, 57, 94, 608, 618, Spry, Sir Charles 1103
1210, 1308 Staehle, Wilhelm 277
Seidel, Helmut 1178 Stalin, Josef W. 86, 97, 118, 125, 132, 160,
Seldte, Franz 105 167 f., 170, 174-176, 178, 184 f., 190, 222,
Selikowicz, A. 79 227, 230, 234, 238 f., 241, 247, 249 f.,
Semper, Kurt 1311 262, 264, 272, 313, 321, 326, 342, 345,
Seraphim, Peter-Heinz 509 360, 366 f., 371, 374, 378, 382, 395, 425,
Seydlitz-Kurzbach, Friedrich-Wilhelm 436, 448, 452, 460, 639, 657, 687, 748,
von 71, 73, 117, 291, 312 760-762, 797, 800,-802, 804 f., 807,
Seydlitz-Kurzbach, Joachim von 72, 352, 818, 820 f., 1284
401, 423, 500, 502, 514 f., 517, 522, 618, Stammberger, Wolfgang 1036, 1038 f.
773, 851, 902, 947, 953 f., 1009, 1044, Staschinski, Bogdan N. 1015 f.
1096, 1101-1103, 1123, 1167, 1202, Stauffenberg, Hans Christoph von 1226
1246, 1310 f. Steenberg, Sven 1137
Seydlitz-Kurzbach, Mete von (geb. Eich- Stehle, Hansjakob 1273
ner) 71 Stein, Edith 38, 1244
Seydlitz-Kurzbach, Walther von 46, 71 f. Steiner, Felix 548, 623, 766
Shaposhnikow, Boris M. 426 Steinmetz (Major) 99
Shimpkin, Dmitri 433 Stephani, Gertrud 887
Sibert, Edwin L. 429, 429, 440, 456, 468, Stephanus, Konrad 432, 470, 701, 784 f.,
476-480, 482-487, 496, 499, 501, 797, 869
503, 507, 520, 581, 602, 661, 694, 861, Stewart, Gordon M. 12, 624, 628, 632,
938, 1190 f., 1208-1210, 1238, 1279, 678, 711 f., 716-718, 737 f., 771, 791 f.,
1306 799, 891, 957, 993, 1010-1012, 1017,
Siewert, Curt 224 1021, 1115, 1170
Sima, Horia 871 f. Stewart, Peggy 1115

1369
Stieber, Wilhelm 302 f. Trettner, Heinz 1127
Stieff, Hellmuth 277 f., 278, 351 Trevor-Roper, Hugh R. 1225
Stoph, Willi 974, 1211, 1212 Trott zu Solz, Adam von 357
Strauch, Rudolf 1236 Trudeau, Arthur Gilbert 875 f., 877, 878
Strauß, Franz Josef 16, 783 f., 793, 812, Truman, Harry S. 505, 599, 686, 699, 788
839, 847, 849 f., 870, 873, 878, 893, 896, Truman-Smith (US-amerikan.
898, 919, 926, 931, 957, 969 f., 970, 975, Colonel) 462, 609
1020-1022, 1024-1026, 1030-1035, Truscott, Lucian K. 716, 723, 723, 726,
1037-1039, 1042, 1044, 1047, 1060, 1071, 729, 750, 765, 789, 805, 819, 828-831,
1073 f., 1081f., 1090-1094, 1100, 1113, 856
1131 f., 1211, 1265, 1296, 1304, 1325 Tschaikowski, Pjotr I. 279
Strong, Kenneth 91 f., 1254 Tschombé, Moise 1087, 1138
Strong, Le Roy 568 f. Tuchatschewski, Michail N. 97, 155
Strik-Strikfeldt, Wilfried 271 f., 280, 284, Turkul, Anton V. 440
333-335, 378, 384, 425 Twardowski, Heinz-Georg von 389
Stubenrauch (Major) 62
Stülpnagel, Heinrich von 86, 91, 183 Ulbricht, Walter 816, 870, 914 f., 958, 973,
Suharto, Haji Mohamed 1100 1013, 1223
Sukarno, Achmed 977, 996 Urach, Fürst von (vermutl. Eber­
Sütterlin, Leonore 1160 hard) 1073
Ulrich, Max 512, 560, 571, 597, 721, 755,
Taylor, Maxwell D. 610, 612, 1016 759, 801, 807
Taylor, Rufus 1169 Urban, Herbert 34, 41 f.
Tessenberg, Max Ritter von 397 Uthmann, Bruno von 265
Thedieck, Franz 903
Thielert, Oskar 253 f., 406 Vaernewyck, Peter von 290
Thilo, Karl Wilhelm 1195 Vandenberg, Hoyt Sandford 487, 505
Thoma, Wilhelm Ritter von 186 Vialon, Friedrich Karl 964, 1004
Thomas, Stephan 967 Viebig, Hasso 502
Thorwald, Jürgen (d. i. Heinz Bon- Vignon, Juan 721, 730
gartz) 273, 276, 687, 747 f., 892 Villalobar, Carlos de Saavedra y Ozores
Thun-Hohenstein, Ferdinand Graf Marques de 560
von 451, 560 Vogel, Kurt 1047
Thurn und Taxis, Franz Joseph Prinz Vogel, Rolf 1047
von 554 Vogel, Rudolf 1060
Tiebel, Erwin 1054 f. Voigt-Ruscheweyh (Hauptmann) 244
Tietze, Gustav-Adolf 492
Timoschenko, Semjon K. 247 Wade, James O. 1232
Tippeiskirch, Kurt von 155, 200 Waenker von Dankenschweil, Richard
Tito, Josip Broz 486, 639, 823, 836, 977 Ludwig 303
Todt, Fritz 104 f., 127 Wagner, Eduard 293
Trentzsch, Karl-Christian 982, 1047 Wagner, Gerhard 199 f., 409, 796, 885
Tresckow, Henning von 81, 92, 94, 182, Wala, Michael 630
218, 276 f., 323, 350, 351, 352, 356 f., Waldburg-Zeil, Erich Fürst von 489
413, 1320 Waldersee, Jürgen Graf 1020

1370
Waldersee, Gräfin (geb. Adenauer) 1020 461, 463-467, 471-474, 479 f., 486, 488,
Waldman, Eric 433, 433 f., 436, 442, 444, 491-495 f., 501, 505 f., 514, 517-519,
444, 451, 462, 470, 473, 476-479, 484 f., 521, 524-526, 533 f., 539, 543 f., 577,
492-494, 496, 500, 502 f., 506 f., 512 f., 588 f., 637 f., 647, 647 f., 659, 672, 679,
519, 524-526, 533 f., 542, 554, 560, 689, 698, 702, 705, 707, 720, 726 f.,
564-566, 601, 730, 733, 745, 832 f., 731, 733 f., 739 f., 744, 752 f., 755, 758,
1220, 1224, 1253, 1324 f. 763, 777, 782-784, 787, 800, 805,
Waldman, Jo-Ann 442, 500, 566 812 f., 817 f., 848, 874f., 905, 926, 934,
Walsh, Robert Legrow 504 f., 533 f., 538- 956, 988, 1026, 1053, 1085, 1086,
541, 547, 542 f., 547 f. 1102, 1104, 1117-1119, 1121, 1126,
Warburg, Eric (Erich) 570, 1017 1128, 1133, 1141-1143, 1145-1147,
Weberhauer (Major a.D.) 58 1147, 1148-1157, 1160, 1162, 1164 f.,
Wechini (DN, d. i. Emilio Lucchini) 935 1169, 1171 f., 1178-1181, 1184 f., 1188,
Weck, Johannes (Hauptmann) 421 1193-1202, 1205, 1207 f., 1211, 1213,
Wedel, Hasso von 275 1215-1222, 1224-1226, 1228 f., 1231,
Wedemeyer, Albert C. 1238 1234-1238, 1241, 1246, 1248 f., 1251 f.,
Wehner, Herbert 895, 960, 967, 1007, 1254, 1256-1258, 1260, 1262 f., 1265 f.,
1131, 1156 f., 1160, 1219, 1222 f., 1231, 1272 f., 1276-1284, 1286 f., 1289, 1291,
1272, 1294, 1296 1293, 1298, 1304, 1325, 1329
Weidemann, Hans 1219 f. West, Nigel 309
Weiß, Kurt 17, 757 f., 766, 845, 832, 839, Westphal, Siegfried 79, 84 f., 88, 90, 92 f.,
842-845, 860, 887, 904, 906-909, 182, 407
914 f., 920 f., 922, 927, 933 f., 947 f., 953, Westrick, Ludger 1064 f., 1067, 1074,
961 f., 965, 968, 973, 975, 977, 986, 1079 f., 1084, 1099, 1099, 1102, 1113,
988-990, 993-997, 1007, 1012 f., 1025- 1119f., 1129, 1133, 1158
1027, 1033, 1035, 1038, 1040-1043, Weyer, Willy 906
1046 f., 1073, 1076, 1079 f., 1087 f., 1098, White, Sir Dick 1105
1105, 1109, 1111, 1113, 1120, 1122, Whitman, Gert 701
1128, 1138, 1144, 1201, 1215, 1217, Wichmann, Herbert 518
1263, 1267, 1289, 1291, 1296 Wicht, Adolf 284, 291 f., 776, 1032-1035,
Weizsäcker, Ernst Frhr. von 152 f. 1037 f., 1040, 1042, 1094, 1128, 1145,
Weizsäcker, Richard von 325 1217
Wenck, Walther 386, 950 Wiesenthal, Simon 1002
Wendland, Horst 611, 675, 679, 698, 710, Wietersheim, Gustav Anton von 86,
810, 922, 932, 1080, 1096, 1102, 1107, 90-92
1113, 1120, 1122, 1125, 1141, 1145, Wilcke, Henning 756
1147f., 1153, 1156, 1160, 1162f., 1169, Wildermuth, Eberhard 623, 636, 666,
1189f., 1194f., 1197, 1205, 1253, 1302, 668
1311, 1317 Wilhelm II. (deutscher Kaiser) 21, 23,
Wendland, Ilse 1195 39, 75
Werner-Ehrenfeucht, Hans-Joachim 61 Wilhelm, Hans-Heinrich 11, 326, 348,
Wessel, Gerhard 257, 321-323, 337-339, 1258, 1295
341 f., 348-350, 352, 359, 361 f., 369, Wilke, Henning 517
370, 376, 387, 395, 400 f., 403-405 f., Willke, Jochen 972, 1066, 1088, 1145,
408, 430-432, 442-449, 451, 454-459, 1181-1183

1371
Winter, August Otto 94, 373, 404, 517, Woyrsch, Remus von 35
539, 584, 590, 596, 611, 661, 682, 687, Wüstefeldt (Major i. G.) 168
698, 710, 920, 926, 1310 f. Wyman, Willard G. 716
Winter, Hans 516 f.
Wirmer, Ernst 754 Yorck von Wartenburg, Ludwig
Wirsing, Giselher 975, 1091 Graf 618
Wirth, Joseph 850
Wischnewski, Hans-Jürgen 962, 1156 Zahir Schah, Mohammed 939
Wisner, Frank G. 746 Zákó, András 872
Witzei, Dietrich 400 Zarapkin, Semjon K. 1124
Witzleben, Hermann Job Wilhelm Zehrer, Hans 1012
von 82, 84 Zeitzier, Kurt 197, 237, 259-261, 264,
Wlassow, Andrej A. 272, 280f., 283-285, 266, 268, 279, 281-283, 287, 292-294,
316, 332f., 335, 377-379, 422, 687, 743 314-318, 325-327, 328, 329 f., 332 f.,
Wolf, Markus 1260 335, 337 f., 342, 344-348, 352, 412
Wolf, Thomas 563 Zerbel, Alfred 1159
Wolff, Karl 919 Ziegler, Siegfried 962, 1088
Wollenberg, Erich 834 Zinn, Georg August 738
Wollweber, Ernst 833 f., 837, 839, 842, Zitzewitz, Colestin von 285
854, 872 Zitzewitz, Mortimer von 1224
Worgitzky, Hans-Heinrich 71, 116, 178, Zolling, Hermann 10, 401, 951, 1061,
349, 616, 697 f., 767, 776, 832, 837 f., 844, 1225, 1234, 1247, 1254 f., 1279
844, 860, 908, 913, 916, 931 f., 979 f., Zuber, Ebrulf 1080
986, 996, 1012, 1038 f., 1041 f., 1060 f., Zylander, Wolfdietrich Ritter
1091, 1113, 1132, 1147, 1194, 1311 von 372

1372
Der Autor

Rolf-Dieter Müller, Jahrgang 1948, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und


Pädagogik in Braunschweig und Mainz, 1981 Promotion, 1999 Habilitation, 1979-2014
wissenschaftlicher Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Frei­
burg i. Br., später des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der
Bundeswehr in Potsdam, zuletzt leitender wissenschaftlicher Direktor; Honorarpro­
fessor für Militärgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2014 im Ruhe­
stand, seit 2011 Mitglied der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der
Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968; zahlreiche Publikationen zur
Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die in viele Sprachen übersetzt wurden.

1373
Band 1

Christoph Rass
Das Sozialprofil
des Bundesnachrichten­
dienstes
Von den Anfängen bis 1968

368 Seiten
ISBN 978-3-86153-920-9
40,00 € (D); 41,20 € (A)

Band 2

Gerhard Sälter
Phantome des
Kalten Krieges
Die Organisation Gehlen
und die Wiederbelebung
des Gestapo-Feindbildes
»Rote Kapelle«

560 Seiten
ISBN 978-3-86153-921-6
50, 00 € (D); 51, 40 € (A)

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Band 3

Ronny Heidenreich
Daniela Münkel
Elke Stadelmann-Wenz
Geheimdienstkrieg
in Deutschland
Die Konfrontation von
DDR-Staatssicherheit und
Organisation Gehlen 1953

464 Seiten
ISBN 978-3-86153-922-3
45,00 €(D); 46,35 €(A)

Band 4

Sabrina Nowack
Sicherheitsrisiko
NS-Belastung
Personalüberprüfungen
im Bundesnachrichtendienst
in den 1960er-Jahren

528 Seiten
ISBN 978-3-86153-923-0
45, 00 € (D); 46, 35 €(A)

www.christoph-links-verlag.de
Band 5

Armin Müller
Wellenkrieg
Agentenfunk und Funk­
aufklärung des Bundesnach­
richtendienstes 1945-1968

416 Seiten
ISBN 978-3-86153-947-6
45,00 € (D); 46,35 €(A)

Band 6

Agilolf Keßelring
Die Organisation Gehlen
und die Neuformierung
des Militärs in der Bundes­
republik
512 Seiten
ISBN 978-3-86153-967-4
50, 00€ (D); 51, 40€ (A)

www.christoph-links-verlag.de

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